Bildung, Wissenschaft, Politik: Instrumente zur Gestaltung der Gesellschaft. Christian Brünner zum 72. Geburtstag 9783205792864, 9783205789444

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Bildung, Wissenschaft, Politik: Instrumente zur Gestaltung der Gesellschaft. Christian Brünner zum 72. Geburtstag
 9783205792864, 9783205789444

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Studien zu Politik und Verwaltung Herausgegeben von Christian Brünner · Wolfgang Mantl · Manfried Welan Band 104

Werner Hauser, Andreas Thomasser (Hg.)

Bildung, Wissenschaft, Politik Instrumente zur Gestaltung der Gesellschaft Christian Brünner zum 72. Geburtstag

2014 Böhl au Verl ag Wien · Köln · Graz





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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das am Schutzumschlag verwendete Porträt von em. o. Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner wurde von Frau Caterina C. Hauser geschaffen.

© 2014 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H., Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Herbert Hutz, Drasenhofen Satz  : Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: BALTO print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU. ISBN 978-3-205-78944-4





Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Werdegang und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1. Lebenslauf em. o. Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner. . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.2. Studierenden-Reportagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1.3. Christian Brünner, in: Richfield High School/Minnesota (ed.), Fifty years of „Reflections“. Class of 1960, Minnesota 2010. . . . . . . 1.4. Meldungsbuch/Christian Brünner. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Inauguration/Abend-Einladung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6. Editorial von Rektor Christian Brünner zur 1. Ausgabe des Magazins „UNIZEIT“ 0/1988. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7. Der Mensch, der mein Leben für immer verändert hat (Babak Bahadori). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8. Brief an die Erstsemestrigen von Rektor Christian Brünner vom September 1985. . . . . . . . . . . . 1.9. Ansprache von Rektor Christian Brünner anlässlich der Erneuerung akademischer Grade am 1. 6. 1988. . . . . . . . . . . 1.10. Grußworte von Rektor Christian Brünner. . . . . . . . . . . . . . . 1.11. Christian Brünner, Gott in der Verfassung? . . . . . . . . . . . . . . 1.12. Christian Brünner, Vom Glanz und Elend der Universität . . . . . . . 1.13. Christian Brünner, Konzept für ein musisches Zentrum an der Karl-Franzens-Universität Graz. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.14. Christian Brünner, in: Austrian Remembrances of the International Visitor Leadership Program (ed.), 70 Years of People to People Exchanges, Vienna 2010/11. . . . . . . . 1.15. Christian Brünner, in: Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin (Hrsg.), Homöopathie. Integration in das Gesundheitssystem? Tagungsbericht der Enquete der Steiermärkischen Landesregierung/Gesundheitsressort vom 12. 3. 1998. . . . . . . . . . 1.16. Newsletter / Space Law July 2002. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1.17. Paragraphen im Himmel (Norbert Swoboda). . . . . . . . . . . . . . 80 1.18. Das Gesetz der Sterne (Gerhild Kastrun). . . . . . . . . . . . . . . . 83 1.19. Auf leisen Sohlen (Maria Clodi) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

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Inhalt

1.20. Christian Brünner als akademischer Lehrer (Mimo Hussein). . . . . . . 90 1.21. Zu Herzen geht, was von Herzen kommt (Katharina Kolaritsch). . . . . 99 2. Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2.1. Christian Brünner und die Bildung. Ein Themenaufriss (Werner Hauser). 2.2. Christian Brünner, Zehn Begegnungen – ein Zeichen gutnachbarlicher Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Christian Brünner, Effektivität und Effizienz der Universität – ein verwaltungswissenschaftliches und verwaltungspraktisches Anliegen .. . 2.4. Christian Brünner, Gedenkjahr 1988 aus der Sicht der Karl-Franzens-Universität Graz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Christian Brünner, Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben . . . 2.6. Christian Brünner, Gefragt ist die Vielfalt an Hochschul­typen. Plädoyer für die Gründung von Fachhochschulen. . . . . . . . . . . 2.7. Christian Brünner, Die Unterscheidung zwischen strategischen und operativen Organen – ein Grundgedanke der Reform. . . . . . . 2.8. Christian Brünner, Wissenschaftsreform . . . . . . . . . . . . . . . 2.9. Christian Brünner, Ein neuer Weg der professionellen Qualitätssicherung: der Fachhochschulrat.. . . . . . . . . . . . . . 2.10. Christian Brünner, Plädoyer für eine freimütige Diskussion des freien Hochschulzugangs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11. Christian Brünner, Universität – nicht nur Kader- und Wissenschafts­schmiede, sondern auch Stätte der Wahrheitssuche und Bildung. . . . 2.12. Christian Brünner, Vorwort .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.13. Christian Brünner, Die Universität – eine Stätte der Bildung für möglichst viele junge Menschen. Ein Plädoyer. . . . . . . . . . . 2.14. Differenzierung und Diversifizierung des österreichischen Hochschulsektors: Angebotserweiterung oder soziale Segmentierung? (Elsa Hackl). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.15. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft (Ulrike Plettenbacher). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3.1. Interview mit em. o.Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner. . . . . . . . .

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Inhalt

3.2. Christian Brünner, Vorwort (Auszug). . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Christian Brünner, Planung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Christian Brünner, Verbände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Christian Brünner, Verwaltungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . 3.6. Christian Brünner, Korruption und Kontrolle – eine Einleitung (Auszug). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Christian Brünner, Verwaltete Bürger im Daseinsvorsorgestaat. . . . . 3.8 Christian Brünner, Anforderungen an eine „Geometrie“ der Staatsgewalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.9. Christian Brünner, Selbstbeschreibung der Abteilung für Verwaltungswissenschaften, Umweltrecht und Geschlechterbeziehungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.10. Christian Brünner, Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftliches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.11. Christian Brünner, Rechtlich-politische Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.12. Christian Brünner, Zu erwartende Veränderungen im Bereich der Justiz betreffend New Public Management, Haushaltsrecht und Budget (Auszug). . . . . . . . . . . . . . . . . 3.13. Christian Brünner, Indroductory Remarks . . . . . . . . . . . . . . 3.14. Christian Brünner, Religion im säkularen Staat . . . . . . . . . . . . 3.15. Christian Brünner, Ist ein absolutes Bettelverbot grundrechtswidrig? .. 3.16. „Kontrolle im politischen System“ (Johannes Andrieu).. . . . . . . . 3.17. The United Nations Global Compact in Theory and Practice (Caterina C. Hauser). . . . . . . . . . . . . 3.18. Verbrechen darf sich nicht lohnen – Die Entwicklung der vermögensabschöpfenden Maßnahmen im Österreichischen Strafrecht (Konrad Kmetic). . . . . . . . . . . . . 3.19. Beschränkungen im öffentlichen Raum – Bekämpfung der „urbanen Unordnung“. Am Beispiel der Bettelverbote (Georg Königsberger). . . 3.20. Public Management (Margit Kraker). . . . . . . . . . . . . . . . . 3.21. Die religiös motivierte Beschneidung (Hannes Mayer). . . . . . . . . 3.22. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Arbeitsrecht in der Rechtsprechung des EGMR (Katharina Pabel). . . . . . . . . 3.23 Minderheiten zwischen Recht und Politik – am Beispiel des Kärntner Ortstafelkonflikts (Jürgen Pirker). . . . . . 3.24. A New Approach Towards Outer Space “Democratisation”? Legal, Political, and Economic Issues Concerning Small Satellite Missions (Anita Rinner). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.25. Grundrechtsschutz gegenüber Umweltbeeinträchtigungen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Altes und Neues zu Art. 8 EMRK (Gerhard Schnedl). . . . . . . . . 3.26. Space Law vs. Gravity. An essay on the necessity of interdisciplinary understanding exemplified by the case of orbital debris (Alexander Soucek) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.27. Vielfalt in Unternehmen. Zum Verhältnis von Anti­‑ diskriminierungsrecht und Diversity Management (Silvia Ulrich). . . .

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4. Politik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.1. Christian Brünner als humanliberaler Homo politicus (Andreas Thomasser). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.2. Christian Brünner, Gedanken zum Krieg. . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Christian Brünner, Kriegslogik statt Neutralität? . . . . . . . . . . . 4.4. Christian Brünner, Technikfolgenabschätzung. . . . . . . . . . . . . 4.5. Christian Brünner, Traditionelle soziale Verhaltensmuster korrigieren.. 4.6. Rede von Prof. Brünner zur Regierungsvorlage mit der das Universitäts-Organisationsgesetz geändert wird, insbesondere zur Gleich­behandlungsproblematik gem. § 106 a Universitäts-Organi­sa tions­gesetz, am 24. 3. 1993, St. Prot. NR 12832, 109. Sess. XVIII. GP... 4.7. Rede von Prof. Brünner zur Regierungsvorlage: Bundesgesetz über Fachhochschul-Studiengänge (FHStG) am 5. 5. 1993, St. Prot. NR 13595, 117. Sess. XVIII. GP.. . . . . . . . . . . . . . . . 4.8. Christian Brünner, Neutralität ohne Eigenschaften – ein Irrtum!. . . . 4.9. Rede von Prof. Brünner zur Regierungsvorlage: Bundesgesetz über die Organisation der Universitäten (UOG 1993) sowie zu der von ihm und Dr. Khol überreichten Petition Nr. 9 betreffend ein Notprogramm für die Universitäten am 20. 10. 1993, St. Prot. NR 15384, 133. Sess. XVIII. GP.. . . . . . . . . . . . . . . . 4.10. Christian Brünner, Zum Weinen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.11. Christian Brünner, Standort und Perspektiven. . . . . . . . . . . . . 4.12. Christian Brünner, Gentechnik – Segen oder Fluch?.. . . . . . . . . 4.13. Christian Brünner, Die Hand in die Höhe.. . . . . . . . . . . . . . 4.14. Christian Brünner, Parteien(demokratie) im Umbruch – „hohe Zeit“ für das freie Mandat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.15. Antrag von Prof. Brünner und anderen im Steiermärkischen Landtag betreffend die Einbeziehung von Vertretern der slowenischen Volks­-

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Inhalt

gruppe der Steiermark in den bestehenden Volksgruppenbeirat für die slowenische Volksgruppe vom 16. 4. 1996, XIII. GP., Einlagezahl 130/1... 4.16. Vorlage der Steiermärkischen Landesregierung zum Antrag von Prof. Brünner und anderen betreffend die Einbeziehung von Vertretern der slowenischen Volksgruppe der Steiermark in den bestehenden Volksgruppenbeirat für die slowenische Volksgruppe aus 1997, XIII. GP., Einlagezahl 130/6. . . . . . . . . . . . . . . . . 4.17. Rede von Prof. Brünner zu dem von ihm und anderen eingebrachten Antrag im Steiermärkischen Landtag betreffend die Erlassung eines Landesgesetzes über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern und die Herstellung der Geschlechterparität im Landes- und Gemeindedienst sowie zu der entsprechenden Regierungsvorlage der Steiermärkischen Landesregierung, dem Gesetz über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern und die Förderung von Frauen im Bereich des Landes (Landes-Gleichbehandlungsgesetz), vom 10. 6. 1997, St. Prot. Stmk LT 1586, 20. Sess. XIII. GP. . . . . . . 4.18. Rede von Prof. Brünner zu Anträgen betreffend die Novellierung der Geschäftsordnung des Steiermärkischen Landtages vom 1. 7. 1997, St. Prot. Stmk LT 1728, 21. Sess. XIII. GP.. . . . . . . . . . . . . . . 4.19. Rede von Prof. Brünner zu den Dringlichen Anfragen der Grünen und Liberalen an Frau Landeshauptmann Klasnic und an Herrn Landeshauptmannstellvertreter DDr. Schachner-Blazizek im Steiermärkischen Landtag betreffend Bedarfszuweisungen an die Gemeinden vom 15. 2. 2000, St. Prot. Stmk. LT 5294, 65. Sess. XIII. GP... 4.20. Rede von Prof. Brünner zu dem von ihm und anderen eingebrachten Antrag im Steiermärkischen Landtag betreffend die Durchforstung des Landesrechtes auf behindertendiskriminierende Bestimmungen sowie zum entsprechenden Bericht des Sozial-Ausschusses über die ­entsprechende Regierungsvorlage infolge des gegenständlichen Antrages vom 11. 4. 2000, St. Prot. Stmk LT 5479, 67. Sess. XIII. GP... 4.21. Christian Brünner, Zukunftsorientierte Landesverfassung . . . . . . . 4.22. Christian Brünner, Das „F“ des Anstoßes . . . . . . . . . . . . . . . 4.23. Christian Brünner, Filzokratie unterm Steirerhut .. . . . . . . . . . . 4.24. Christian Brünner, Concluding Remarks. . . . . . . . . . . . . . . 4.25. Christian Brünner, Plädoyer für eine gesamthafte, systemische Analyse, Diskussion und Bewertung des Wahlrechts. . . . . . . . . . 4.26. Christian Brünner, Demokratiepolitischer Sündenfall. . . . . . . . . 4.27. Spannungsverhältnisse bei der Beteiligung an Projektgenehmigungsverfahren (Thomas Neger). . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.28. Die Zukunft des Parlamentarismus. Einige ganz unverbindliche Notizen (Alfred J. Noll). . . . . . . . . .

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5. … und ein Märchen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christian Brünner, Es ist, was es ist … . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981 6.1. Tätigkeitsprofil Christian Brünner. . . . . . . . . . . . . . . . . . 983 I. Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983 II. Schwerpunkte des beruflichen Interesses und Engagements . . . 1004 III. Tätigkeiten auf internationaler (europäischer) Ebene . . . . . . 1008 IV. Funktionen und Ämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1009 V. Ehrungen bzw. Preise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 VI. CV-Executive Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1014 VII. Lehrveranstaltungsangebot (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . 1021 VIII. Aktivitäten im Bereich des Weltraumrechts und der Weltraumpolitik 2001–2013 . . . . . . . . . . . . . . . 1023 6.2. Quellenverweis/abgedruckte Publikationen. . . . . . . . . . . . . . 1027 6.3. Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1032 6.4. Kurz-Lebensläufe/Autoren/-innen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035



Vorwort

Der kürzlich emeritierte akademische Lehrer und national sowie international überaus anerkannte und geschätzte Rechtswissenschafter o. Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner feiert am 12. 2. 2014 seinen 72. Geburtstag. Dieses Datum wurde (vor geraumer Zeit) zum Anlass genommen, um im zeitlichen Umfeld dazu die vorliegende Publikation zu gestalten, durch welche die umfassenden Aktivitäten Christian Brünners gewürdigt werden sollen. Dabei wird insbesondere auf die zentralen Hauptbereiche seines schaffensreichen Berufslebens eingegangen, indem die ­Themenfelder „Bildung“, „Wissenschaft“ sowie „Politik“ thematisiert werden. Im Einzelnen werden dabei in jedem der genannten Bereiche zentrale Tätigkeitsfelder von Christian Brünner in der Form dargestellt, dass zum einen einschlägige Schriften bzw. Dokumente aus seinem Werk und zum anderen Fachbeiträge von jüngeren, Christian Brünner verbundenen Autorinnen und Autoren, welche auf die von ihm bearbeiteten Themenfelder Bezug nehmen, abgedruckt werden. Zu Beginn der einzelnen Kapitel finden sich – gewissermaßen in Hin­ führung auf die jeweiligen Sach- bzw. Themenbereiche – einleitende Beiträge der Herausgeber bzw. (beim Kapitel „Wissenschaft“) ein kürzlich von den Heraus­ gebern mit Christian Brünner geführtes Interview. Den angeführten drei Kapiteln ist das Kapitel „Werdegang und Leben“ voran­ gestellt, welches zunächst einen Lebenslauf Christian Brünners enthält; daran anschließend finden sich zwei Reportagen, welche kürzlich Studierende des an der FH JOANNEUM situierten Fachhochschul-Studienganges „Journalismus und Public Relations“ mit Christian Brünner erstellt haben. Abgerundet wird dieses Kapitel durch drei sehr persönlich gehaltene Statements von ehemaligen Studierenden, welche darüber berichten, wie sie „ihren“ akademischen Lehrer Christian Brünner „erlebt“ haben. Bereits die skizzierte „Architektur“ des vorliegenden Werkes macht klar, dass es sich dabei um eine „unkonventionelle“ Festgabe handelt; dementsprechend werden Leben und Werdegang von Christian Brünner überdies auch durch in das Buch eingefügte (teilweise sehr persönliche) Fotos und Dokumente illustriert. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass die im Buch abgedruckten Beiträge von Christian Brünner grundsätzlich unverändert übernommen wurden (das heißt ins-

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Vorwort

besondere, dass keine Adaptierungen in Hinblick auf die sogenannte „neue Rechtschreibung“ vorgenommen wurden) und dass – dem liberalen Wesen Christian Brünners entsprechend – den einzelnen Autorinnen und Autoren bei der (formalen) Gestaltung ihrer Beiträge völlig freie Hand gelassen wurde. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiges Werk nicht entstehen kann, ohne die Mitwirkung und Hilfe von vielen. In diesem Sinne bedanken sich die Herausgeber insbesondere bei den Autorinnen und Autoren der einzelnen Fachbeiträge, bei den großzügigen Fördergebern, bei Christian Brünner selbst, der zahlreiche Texte und selbstverständlich auch die abgedruckten Fotos und Dokumente zur Verfügung gestellt hat, und ganz besonders bei Frau Barbara Schweiger, welche das gegenständliche Buchprojekt mit der ihr eigenen außerordentlichen Akribie begleitet und unterstützt hat. Die Herausgeber intendieren mit dem vorliegenden Werk die exemplarische ­Illustration eines im besten Wortsinn außerordentlichen Gelehrten und ideal­ typischen humanliberalen Gestalters, um damit insbesondere auch künftigen Generationen ein nicht leicht erreichbares Vorbild vor Augen zu führen. Darüber hinaus erhoffen sich die Herausgeber freilich auch, dass sich der solcher Art gewürdigte Rechtsgelehrte und akademische Lehrer Christian Brünner über die ihm gewidmete Festgabe freuen möge. Graz, im Herbst 2013 Werner Hauser

Andreas Thomasser



1. Werdegang und Leben



1.1. Lebenslauf em. o. Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner Persönliche Daten: Name: Dr. iur. Christian Brünner Geburtsdatum: 12. Februar 1942 Geburtsort: Mürzzuschlag Staatsbürgerschaft: Österreich Kinder: 2 Söhne: Heinz-Christian, geb. 1969, Bernd, geb. 1971

Ich als ...

Abbildung 1: Baby im Alter von einem Jahr (Kunst­photograph Böhm)

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 2: Pfadfinder im Alter von 13 Jahren (privat)

Abbildung 3: Einjährig-Freiwilliger 1967/ 1968 bei einer Winteralpinübung (privat)

Abbildung 4: Nationalratsabgeordneter in der Säulenhalle des Parlaments (k. K.)



1.1. Lebenslauf

Abbildung 5: Hobbykoch (privat)

Abbildung 6: Globetrotter am Krater des Vesuvs anlässlich der Teilnahme am International Astronautical Congress in Neapel 2012 (privat)

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1. Werdegang und Leben

Schulbildung: 1948–1952 1952–1953 1953–1959 1959–1960 9. Juni 1960 24. Mai 1961 1961–1966 11. März 1966

Volksschule Mürzsteg 1. Klasse Hauptschule Krieglach Bundesrealgymnasium Bruck an der Mur Richfield Highschool, Minneapolis, Minnesota USA, (Stipendium des American Field Service) amerikanische Matura mit Erfolg Reifeprüfung am Bundesrealgymnasium Bruck an der Mur mit ausgezeichnetem Erfolg Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Graz 3 Semester Englisch am Dolmetschinstitut der Universität Graz Promotion zum Doktor der Rechtswissenschaften

Abbildung 7: Geburtshaus von Christian Brünner in Mürzzuschlag, ehemals Wärterhaus am Osttor der alten Stadtmauer, mit einem Verlies unterm Keller, aufgenommen zwischen 1905 und 1910 (privat)



1.1. Lebenslauf

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Abbildung 8: Das Schulhaus Mürzsteg samt Wohnung, gezeichnet in einem Brief des fünfjährigen Christian Brünner an die Großmutter 1947 (privat)

Abbildung 9: Klassenfoto der 1. Klasse der Volksschule Mürzsteg mit Christian (in der letzten Reihe, „Christl“ beschriftet) sowie der Klassenlehrerin Frau Hilde Kadleczek und dem Direktor der Schule Christian Brünner, dem Vater, 1947 (k. K.)

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 10: Bundespräsident Karl Renner und seine Gattin haben die Schüler/ Innen, darunter Christian Brünner, erste Reihe Dritter von links, und Lehrer/Innen der Volksschule Mürzsteg, einmal im Jahr zu Kuchen und Keksen ins Jagdschloss Mürzsteg eingeladen, 1949 (k. K.) Abbildung 11: Christian Brünner bei einem Wandertag während der Mittelschule, 1958 (privat)



1.1. Lebenslauf

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Abbildung 12: Christian Brünner und Klassenkollegen/Innen der 8.a des BRG Bruck/ Mur auf einer Party im Haus der Eltern/Mürzzuschlag, Herbst 1960 (privat)

Abbildung 13: Christian Brünner auf einem Ball der Katholischen Hochschuljugend im alten Steirerhof, Graz 1962 (k. K.)

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 14: Christian Brünner bei der Sommerhochschule Tanzenberg der Katholischen Hochschuljugend, 1962 (privat)

Abbildung 15: Christian Brünner bei der Promotion zum Dr. iuris in der Aula der Karl-Franzens Universität mit Anton Tautscher, Rektor, Gunther Wesener, Dekan, und Joseph Wegan, Promotor, am 11. 3. 1966 (Foto Gasser)



1.1. Lebenslauf

Abbildung 16: Christian Brünner mit der Promotionsurkunde (privat)

Abbildung 17: Christian Brünner im Kreis seiner Familie mit Eltern und Geschwistern, 1976 (privat)

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 18: Christian Brünners zwei Söhne, Heinz Christian und Bernd, Mitte der 1980er Jahre (privat)

Abbildung 19: Christian Brünner mit seinen zwei Enkeln, Michael und Jasmin, anlässlich der Emeritierungsfeier in der Aula der Karl-Franzens Universität am 17. 6. 2010 (Foto Gasser)



1.1. Lebenslauf

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Abbildung 20: Christian Brünner und seine Geschwister bei der Feier des 90. Geburtstages der Mutter am 15. 8. 2013 (privat)

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Berufsweg: ab 1. Juni 1964

ab 1. Juni 1966 7. 3. 1966–4. 1967 3. April 1967/1968

April–Okt. 1968

ab Oktober 1968

1. 5. 1975– 30. 9. 1978

3. Juni 1976

1. Werdegang und Leben

Stelle als wissenschaftliche Hilfskraft (halbtägig) am Institut für Zivilrecht, Zivilprozeß- und Arbeitsrecht der Universität Graz (Vorstand: Univ.-Prof. Dr. Viktor Steininger) Vertragsassistent (halbtägig) an diesem Institut 3 Monate beim Landesgericht für Strafsachen (Graz) 4 Monate beim Bezirksgericht für Zivilrechtssachen (Graz) 6 Monate beim Landesgericht für Zivilrechtssachen (Graz) Einberufung zum Österreichischen Bundesheer, Ableistung des ordentlichen Präsenzdienstes als EinjährigFreiwilliger (April 1971 Ernennung zum Leutnant der Reserve) Fünfmonatige Tätigkeit bei einer Versicherungsgesellschaft (Erste Allgemeine Schaden- und Unfallversicherung, Filiale Steiermark) Universitätsassistent am Institut für Allgemeine Staatslehre und Österreichisches Verfassungsrecht der Universität Graz (Vorstand: Univ.-Prof. Dr. Gustav E. Kafka; nach dessen Tod im Jänner 1974 Vorstand: Univ.-Prof. Dr. Ludwig K. Adamovich) Universitätsassistent (über eigenen Wunsch) am Institut für Wirtschaftsverfassungsrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht der Universität Graz (Vorstand: bis Oktober 1976 Univ.-Prof. Dr. Karl Korinek), derzeit vereinigt mit anderen Instituten zum „Institut für Österreichisches, Europäisches und Vergleichendes Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre“ Verleihung der Lehrbefugnis als Universitätsdozent für Österreichisches Verfassungsrecht, Österreichisches Ver­waltungsrecht, Allgemeine Staatslehre und Verwaltungslehre vom Professorenkollegium der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, vorbehaltlich der Genehmigung durch den zuständigen Bundesminister; 13. September 1976 Genehmigung durch den Bundesminister für Wissenschaft und Forschung



seit 1970 seit SS 1969

SS 1972–1984

1.1. Lebenslauf

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Forschungs-, Publikations- und Vortragstätigkeit (siehe Schriftenverzeichnis unter Anhang 1) Lehrveranstaltungen an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät bzw. Rechtswissenschaftlichen sowie Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz Lehrbeauftragter (Universitätslektor) der Philosophischen Fakultät, jetzt Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz

zeitweise Lehrveranstaltungen an der Technischen Universität Graz seit WS 1975/76

seit SS 1984

Lehraufträge, betreffend Vorlesung und Seminar „Einführung in die Politikwissenschaft“, an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Steiermark dieselben Lehraufträge an der Pädagogischen Akademie der Diözese Graz-Seckau

zeitweise Vortragender an der Steirischen Verwaltungsakademie seit 1968

1969–1974 1971–1973 1977–1978 1979–1984

Tätigkeit in der Hochschul-(Universitäts-)Verwaltung – Verwaltungsagenden im Bereich eines Instituts – Schriftführer bei der Disziplinarkammer für Hochschullehrer an der Universität Graz – weitere Funktionen in der Universitätsverwaltung: Vertreter des Mittelbaus im Akademischen Senat der Universität Graz, im Fakultätskollegium der Rechtswissenschaftlichen Fakultät dieser Universität und in der Studienkommission dieser Fakultät Organisation der wissenschaftlichen Kontakte zwischen den Juridischen Fakultäten Ljubljana und Graz Vorsitzender des Dienststellenausschusses für Hochschullehrer an der Universität Graz Stellvertretender Vorsitzender der Bundeskonferenz des wissenschaftlichen Personals (Wien) leitende Funktionen in Disziplinarsenaten für die Hochschulen Graz und Leoben – Vorsitzender des Senates VII (1979–1982) – Stellvertretender Vorsitzender des Senates IV (1983)

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1969–1976

1969–1978

1977



mit Wirkung vom 1. 10. 1978

mit Wirkung vom 1. 2. 1980



1980 (einige Jahre)

für das WS 1983/84:

1. Werdegang und Leben

– Vorsitzender des Senates IV (1984) Director of Admissions for European Students of GrazCenter (Sommerhochschule amerikanischer Colleges und Universitäten in Graz, im Rahmen des Studienprogramms der ACUIIS Inc.) verschiedene hochschulpolitische Funktionen, zuletzt (1976–1978) Vorsitzender des Assistentenverbandes an der Universität Graz Reihung auf dem Vorschlag, betreffend die Besetzung des Dienstpostens eines Ordentlichen Universitätsprofessors für Staatsrecht, Verwaltungslehre und Österreichisches Verwaltungsrecht, an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck tertio et aequo loco mit Univ.-Doz. DDr. Heinz Mayer (Wien) Reihung auf dem Vorschlag, betreffend die Besetzung des Dienstpostens eines Ordentlichen Universitätsprofessors für Öffentliches Recht, an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz primo et aequo loco mit Univ.-Doz. Dr. Bernd-Christian Funk (Wien) Ernennung zum Außerordentlichen Universitäts­profes­ sor für Österreichisches Verfassungsrecht, Österreichisches Verwaltungsrecht, Allgemeine Staatslehre und Verwaltungslehre an der Universität Graz Ernennung zum Ordentlichen Universitätsprofessor für Öffentliches Recht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz; Institut für Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre Leiter der Abteilung für Verwaltungswissenschaft, Umweltrecht und Recht der Geschlechterbeziehungen an diesem Institut Prüfungskommissär für Wirtschaftsverwaltungsrecht an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz Wahl zum Stellvertretenden Institutsvorstand durch die Institutskonferenz des Instituts für Völkerrecht und ­Internationale Beziehungen (für die Zeit des For-



1978–1982

1981–1987

1983

1984–1988 1985–1990

seit 1989 für die Studienjahre 1983/84, 1984/85 für die Studienjahre 1985/86,1986/87 für die Studienjahre 1987/88,1988/89 1989/90 1985–1990

1.1. Lebenslauf

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schungssemesters des amtierenden Institutsvorstandes Univ.-Prof. Dr. Konrad Ginther) Mitglied der beim Landeshauptmann von Salzburg Dr. Wilfried Haslauer eingerichteten Salzburg-Kommissionen (Kommission IV: Bürgerbeteiligung) Leiter des Ausschusses Abwassergebühren (gemeinsam mit Adolf Rausch) und Mitglied des Ausschusses Rechnungswesen des Österreichischen Wasserwirtschaftsverbandes (ÖWWV) Vorsitzender der von Landeshauptmann Dr. Josef ­Krainer eingesetzten Kommission „Kontrolle im sozialen Wohnbau“ Leiter des Rechtsausschusses des ÖWWV zuerst kooptiert, dann gewählt in den Hauptausschuss des ÖWWV, nunmehr ÖWAV (Österreichischer Wasser- und Abfallwirtschaftsverband) Mitglied des Leitungsausschusses der ÖWWV (nunmehr ÖWAV-)Fachgruppe „Recht und Wirtschaft“ Wahl zum Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz (1982/83 Prädekan) Wahl zum Rektor der Universität Graz Wiederwahl zum Rektor der Universität Graz (1989/90 Prorektor) Bau- und Raumbeauftragter der Universität Graz Beauftragter des Akademischen Senats der Universität Graz für – EG, Osteuropa, Afrika – International Association of Universities (IAU) – Programm International Management of Higher Education (IMHE) (Hochschulmanagementprogramm im Rahmen des Centre for Educational Research and Innovation [CERI] der OECD)

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für die Studienjahre 1985/86,1986/87 für die Studienjahre 1987/88,1988/89

1987/88 seit 1985

Juli 1987–1991 mit Beschluss vom 10. Juni 1987–1994

1990–1992

5. 11. 1990– 6. 11. 1994

1. Werdegang und Leben

Wahl durch die Österreichische Rektorenkonferenz zum zweiten Stellvertretenden Vorsitzenden Wahl durch die Österreichische Rektorenkonferenz zum Vorsitzenden (erstmalig in der Geschichte der Österreichischen Rektorenkonferenz wurde der Rektor einer Universität außerhalb von Wien zum Vorsitzenden gewählt) Vorsitzender der Rektorenkonferenz der Arge Alpen-Adria Aktivitäten in Gremien, aufgrund der Tätigkeit als Rektor der Universität Graz und als Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz Leiter des Außeninstituts (Transfer- und Kontaktstelle) der Universität Graz Bestellung durch das Kollegium des Landesschulrates für Steiermark zum Mitglied mit beschließender Stimme des Kuratoriums der Pädagogischen Akademie des Bundes in Steiermark Zuerst Mitglied des Executive Comittee, dann (1991/ 92) Stellvertretender Vorsitzender von Trace (Trans Regional Academic Mobility and Credential Evaluation Information Network), Paris Wahl in den Nationalrat als Parteiloser auf der Liste der ÖVP im Wahlkreis Steiermark; Stellvertretender Vorsitzender der Parlamentsausschüsse Wissenschaft und Enquetekommission „Gentechnologie“; Mitglied der Parlamentsausschüsse Verfassung, Justiz und Unterricht

November 1990– Oktober 1994 Wissenschaftssprecher der ÖVP und Vorsitzender des Fachausschusses Wissenschaft der ÖVP September 1992– Oktober 1994 Parlamentarischer Referent der ÖVP für den Bereich Volksgruppen 1990–2009 Vorstandsvorsitzender der APS (Ausbildungspartnerschaft Hochschule/Wirtschaft Südösterreich im Rahmen­des EG-Programms Comett, nunmehr European ­Pro­grammes for Technologies & Training)



1988

16. 3. 1991– 23. 6. 1995 1995–2000

1.1. Lebenslauf

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Gründung des David-Herzog-Fonds an der Universität Graz; seither Mitglied des Kuratoriums des David-Herzog-Fonds Präsident des Österreichischen Akademikerbundes Abgeordneter zum Steiermärkischen Landtag und Klub­ obmann des Liberalen Forums in der Steiermark

November 1999– Oktober 2000 Obmann des Kontrollausschusses des Steiermärkischen Landtags 2001–2009 Vorsitzender des National Point of Contact Austria, European Centre for Space Law (ECSL) im Rahmen der European Space Agency (ESA), Paris seit 2002 Mitglied des Kuratoriums des Rechtskomitees LAMBDA (RKL) seit 2003 Mitglied des Boards des ECSL, Paris 2004–2006 Stellvertretender Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der Österreichischen Qualitätssicherungsagentur AQA, Wien seit 2004 Experte der NGO „Human Rights Without Frontiers“, Brüssel 2005–2007 Mitglied der Akkreditierungskommission ACQUIN (Akkreditierungs-, Certifizierungs- und Qualitätssicherungs-Institut), Deutschland seit Dezember 2005 Präsident von FOREF (Forum for Religious Freedom Europe), Wien seit Februar 2006 Corresponding member des Editorial Board des Journals „Croatian Public Administration“, Zagreb seit 2006 Mitglied des IISL (International Institute of Space Law), Paris 2006–2012 Stellvertretender Vorsitzender der wissenschaftlichen Steuerungsgruppe der Österreichischen Qualitätssicherungsagentur AQA, Wien seit September 2007 Mitglied des Universal Peace Federation’s Global Peace Council, New York seit 2008 Vorsitzender/Mitglied von Evaluierungsexpertenteams in Universitätsakkreditierungsprozessen der KAA (Kosovo Accreditation Agency), Prishtina, Kosovo, und

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2008–2010

2009

2009

2010/2011

2012

1. Werdegang und Leben

der PAAHE (Albanian Public Accreditation Agency for Higher Education), Tirana, Albanien Wissenschaftliche Begleitung des Projekts Berufungsmanagement der AQA/Österreichische Qualitätssicherungsagentur Mitglied der Arbeitsgruppe „Neuordnung der externen Qualitätssicherung im Hochschulbereich“ des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung Wahl zum Corresponding Member der Sektion 4 Social Sciences der IAA (International Academy of Astronautics) Mitglied des Entwicklungsteams zur Umstellung des Diplomstudiums des Studienganges Fahrzeug­ technik auf das zweistufige System Bachelor/Master, FH ­JOANNEUM GmbH Graz Wahl zum Member der Sektion 4 Social Sciences der IAA (International Academy of Astronautics)



1.2. Studierenden-Reportagen

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1.2. Studierenden-Reportagen1

Der Blick nach vorne Maria Wild

Wenn Christian Brünner auf sein berufliches Leben zurückblickt, sieht er sich selbst in verschiedenen Rollen: als Wissenschaftler, als Rektor, als Politiker. Ein Leben als stete Vorwärtsbewegung. Christian Brünner steht in der Aula der Karl-Franzens-Universität in Graz. In diesem Raum war er schon unzählige Male – und doch scheint er immer wieder aufs Neue beeindruckt zu sein. Die zwölf Meter hohen Decken, der edle Parkettboden, der rote Teppich. Die Größe des leeren Festsaals verleiht jedem Wort einen Nachhall, es herrscht eine würdevolle Atmosphäre. An den Wänden hängen die Porträts aller ehemaligen Rektoren der Universität, zu denen auch Brünner zählt. Vor seinem eigenen Bild verweilt er, betrachtet es voller Stolz, aber auch mit Wehmut, denn: „Die schönste Zeit meiner Berufslaufbahn war die Zeit als Rektor.“ Der Blick auf sein jüngeres, gemaltes Ich lässt ihn an die Vergangenheit denken. Da sitzt er, im Anzug, den Blick nach vorne gerichtet. Hinter ihm hängt ein Gemälde, dessen Symbolik für Brünner von großer Bedeutung ist. Er selbst hat dieses Motiv, dieses Bild im Bild, ausgewählt, um das auszudrücken, was seine Zeit als Rektor geprägt hat. Sein Büro steht in starkem Kontrast zur prachtvollen Aula. Es ist im Gebäude der Rechts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität untergebracht, das nicht annähernd den historischen Glanz des Hauptgebäudes Anmerkung von Mag. Thomas Wolkinger: Die Porträts von Andreas Lackner und Maria Wild entstanden im Wintersemester 2012/13 im Rahmen der Lehrveranstaltung „Projektarbeiten: Reportage“ im Studiengang „Journalismus und PR“ an der FH JOANNEUM GmbH in Graz. Eine Gruppe von fünf Studierenden befasste sich im dritten Semester intensiv mit Leben und Werk von Christian Brünner und hatte anlässlich mehrerer Treffen auch die Möglichkeit, diese Vorrecherchen um persönliche Gespräche mit Christian Brünner zu erweitern. Nach einer zusätzlichen inhaltlichen Vertiefung zum Thema Personenreportage anhand klassischer Positionen des Journalismus (Gay Talese u.a.) verfassten die Studierenden erste Entwürfe, die dann in mehreren Schritten in der Lehrveranstaltung redigiert und entwickelt wurden. Aus den fünf derart entstandenen journalistischen Porträts haben wir schließlich zwei, die wir für besonders gut geeignet hielten, zum Abdruck ausgewählt. 1



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1. Werdegang und Leben

widerspiegelt. Es stammt aus einer anderen Ära, beeindruckt auf andere Art. Erbaut nach den Plänen des Architekten Günther Domenig, repräsentiert das Gebäude die modernen Seiten der Universität. Tradition und Innovation, vereint auf einem Campus. Brünners Büro selbst ist ein kleiner Raum, der seinen Zweck erfüllt. Es ist mit vom Boden bis zur Decke reichenden Aktenschränken vollgestellt, ein Fenster bietet Ausblick auf ein grünes Haus mit rotem Ziegeldach, es ist nebelig. Christian Brünner sitzt an seinem Schreibtisch, auf dem sich Bücher stapeln. Er ist leger gekleidet, sein Blick ist streng, wach. Er beginnt zu erzählen, seine Gesichtszüge entspannen sich, in seine Augen tritt ein Leuchten. Einige Anekdoten aus Christian Brünners Leben verleiten ihn selbst zum Schmunzeln. Dann lächelt er, kaum merklich, in seinen grauen Vollbart. Andere Episoden wiederum stimmen ihn ernst oder traurig. Er erzählt von seinem Leben, das voller Höhen und Tiefen war. Von einem Leben, in dem es nie eine Phase des Stillstands gab, in dessen Mittelpunkt immer der Blick nach vorne stand. „Ich gehöre zu den Menschen, von denen man sagt, dass sie von der Wiege bis zum Grab nur in der Schule waren“, sagt Christian Brünner. Er tut es mit einem Augenzwinkern und bereut nicht, dass er die akademische Laufbahn eingeschlagen hat. Sofort nach seinem Studium der Rechtswissenschaften in Graz nahm er einen Assistenzjob an der Karl-Franzens-Universität an. Er wurde zum Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht, zum Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und schließlich hatte er von 1985 bis 1989 das Amt des Rektors inne. In dieser „schönsten Zeit seiner Berufslaufbahn“ sei es ihm gelungen, viele seiner Ideen und Visionen umzusetzen, sagt er. Brünner war als Rektor innovativ, er verfolgte ehrgeizig seine Ziele, wollte verändern und gestalten. Nicht mit „diktatorischen Mitteln, sondern durch Kooperation und Diskussion“, wie er betont. So führte Brünner ein Büro für Auslandsbeziehungen und eine PR- und Marketingabteilung ein – zwei Stabsstellen, die noch heute existieren und wesentlicher Bestandteil der Universität sind. Aber er hatte auch mit Widerstand zu kämpfen: „Salopp gesagt, bin ich jeder Kurie in meiner Amtszeit sicher mindestens einmal auf die Zehen gestiegen.“ Trotzdem wurde Christian Brünner als Rektor für eine zweite Periode wiedergewählt – mit einer Mehrheit von nur sieben Stimmen. Brünner stellte sich auch anderen Wahlen. Obwohl ihm seine akademische Karriere immer besonders am Herzen lag, wagte er ein politisches Intermezzo. Eine neue Herausforderung, durch die sich sein Leben plötzlich in eine etwas andere Richtung bewegte, und eine Phase mit vielen Umbrüchen, die das berufliche Leben von Christian Brünner prägten. Seine „gesunde Neugier“ habe ihn schon immer in viele Dinge einfach „hineingestoßen“, erzählt er. In die Politik, zuletzt aber auch in weniger nahe liegende Bereiche wie die Astrologie, die Homöopathie



1.2. Studierenden-Reportagen

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oder die Lebensberatung. Mehr durch Zufall, sagt er, sei er 1990 als Kandidat für den Nationalrat aufgestellt worden und schließlich als Wissenschaftssprecher der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) auch in diesen eingezogen. Ein glücklicher Zufall, denn für Christian Brünner hatte der Politikerberuf durchaus seine Reize. Und doch hat er mit der Politik jetzt abgeschlossen. Brünner sagt, er sei müde. Die Politik habe ihm alles abverlangt, sowohl physisch als auch psychisch. Die Lehrtätigkeit hingegen sei immer das gewesen, was ihn wirklich erfüllt habe: „Die Arbeit mit den Studierenden hat mir von Anfang an Freude gemacht.“ Er ist mittlerweile emeritiert und von der Lehre entbunden, trotzdem hält Christian Brünner noch Vorlesungen. Zum Beispiel an der FH JOANNEUM Gmbh. An diesem Tag sitzen angehende Fahrzeugtechniker in den Reihen des Hörsaals, Brünner schreitet vor ihnen auf und ab und vermittelt seine Inhalte mit ausgeprägter Gestik. Seinen Vortrag unterstützt er mit Bildmaterial – klassisch – auf Overheadfolien. Brünner ist ein Professor der alten Schule. Er stellt eine Frage – es herrscht Stille. Langsam lässt er seinen Finger über die Anwesenheitsliste gleiten, geht die Namen der Student/inn/ en durch und blickt plötzlich auf: „Kaiser?“ Der junge Mann stottert, er hat keine Antwort parat. Brünner fordert alle zur Mitarbeit auf, jeder soll bei der Sache sein. Disziplin ist ihm wichtig. Auch er selbst sei immer diszipliniert gewesen, um seine Ziele zu erreichen, erzählt er anderntags in seinem kleinen Büro. Die stete Vorwärtsbewegung in seinem beruflichen Leben ging dabei zulasten des privaten Umfelds. Schon als Jugendlicher widmete sich Brünner mehr der Karriere als seinem Privatleben. „Was meine Berufslaufbahn angeht, gab es eigentlich nie echte Durchhänger. Nur manchmal die Frage, ob ich mich richtig entschieden habe“, sagt Brünner. Diese Erkenntnis scheint ihn weder positiv noch negativ zu berühren. Er weiß, dass sich bei ihm Arbeit und Leben nie richtig die Waage hielten – die Life Work Balance schlug immer in Richtung Work aus. Er erinnert sich an ein Gespräch mit einer Assistentin, in dem es um seine Freizeit ging. Sie erklärte ihm, dass seine „Hobbys“ Reisen und Lesen gar keine echten Hobbys seien. Brünner reise nämlich nicht um des Reisens willen, nicht um andere Kulturen kennenzulernen oder sich einmal eine Auszeit von der Arbeit zu nehmen. Er besuche schlicht Symposien und Kongresse in anderen Ländern. Damals brachte er nicht die Energie auf, daran etwas zu ändern. Mittlerweile ist Christian Brünner nachdenklicher: „Heute spüre ich die Konsequenzen.“ Damit meint er seinen kleinen Freundeskreis und die Tatsache, dass es ihm hin und wieder an Kommunikation fehlt. Das ist etwas, das er im Nachhinein anders machen würde. Und sei es nur, sich eine Kartenrunde aufzubauen. Manchmal, wenn Brünner das Bedürfnis nach Gesellschaft hat, besucht er sogar eine katholische Messe: „Diese Gemeinschaft der Gläubigen, die hat schon

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1. Werdegang und Leben

etwas für sich.“ Aufgewachsen in einem katholischen Elternhaus, hat sich seine Einstellung zur Religion über die Jahre gewandelt. Er hält nicht viel von der Bindung an Konfessionen, würde sich auch nicht direkt als religiös bezeichnen. Christian Brünner ist spirituell. Der katholischen Kirche hat er offiziell den Rücken gekehrt: Er ist ausgetreten, weil die Kirche darauf beharrt, dass Frauen nicht zu Priesterinnen geweiht werden dürfen und weil Geschiedenen die Kommunion verweigert wird. Außerdem stört ihn die Einstellung der Kirche zur Sexualität. Die Gleichstellung der Frau liegt ihm besonders am Herzen, nicht nur in der Kirche. Er nennt in Gesprächen stets die weibliche und die männliche Form eines Wortes, als wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Die Begründung ist eine einfache: „Sprache prägt. Sprache schafft Realität!“ Stellt man die Frau im Gespräch also dem Mann gleich, werde dies automatisch auch in der Gesellschaft passieren, ist Brünner überzeugt. „Ich habe den Journalisten damals immer die gleiche Antwort gegeben, wenn sie wissen wollten, warum ich in der Politik bin“, sagt er und lächelt. Bei dem Gedanken an Interviews und Schlagzeilen gerät er noch immer ins Schwärmen. Christian Brünners Gründe, warum er sich einst in der Politik versucht hat, sind folgende: „Erstens: Ich gestalte gerne. Zweitens: Ich stehe gerne im Rampenlicht. Drittens: Ich habe eine erotische Beziehung zur Macht.“ Und das sind auch jene Gründe, die ihn nach seiner Zeit als Nationalratsabgeordneter in den steirischen Landtag führten. Als Mandatar für das Liberale Forum (LIF) konnte er zwischen 1995 und 2000 im Landtag „Prozesse anstoßen“, er genoss die Macht, etwas verändern zu können. Doch diese währte nicht ewig. Die Enttäuschung war groß, als der Wiedereinzug in den Landtag im Jahr 2000 schließlich misslang. Das LIF bekam 1,11 Prozent der Wählerstimmen – nicht einmal mehr ein Drittel der Stimmen der vorigen Wahl. Ein niederschmetterndes Ergebnis: „Ich bin emotional komplett abgestürzt.“ Brünner, der immer so gerne im Rampenlicht stand, erinnert sich schweren Herzens an das obligatorische Interview nach der ersten Hochrechnung: „Das war keine schöne Minute. Oder waren es zwei? Aber länger hat der Journalist damals eh nicht mit mir gesprochen.“ Danach habe man sich in der Parteizentrale gegenseitig „beweint“, gesteht Brünner, aber er lacht dabei. Er hat die Geschehnisse dieser Zeit überwunden. Nicht zuletzt dadurch, dass er den Blick nach vorne gerichtet hatte und den beruflichen Stillstand umging, indem er sich sofort wieder der Lehre widmete, für die er auch als Politiker immer noch Zeit gefunden hatte. Am Tag nach jener schicksalshaften Wahl stand Christian Brünner im Hörsaal und unterrichtete seine Studierenden. Für ihn war es eine „therapeutische Hilfe“, die Distanz zur Politik schuf. Das Weltraumrecht ist Brünners neuestes Projekt. Anstatt sich zur Ruhe zu setzen und zu genießen, was er erreicht hat, sucht er sich neue Aufgaben – und



1.2. Studierenden-Reportagen

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wieder verschlägt es ihn in ein völlig anderes Fachgebiet. Ein Zufall brachte ihn dazu, sich für das Recht im All zu interessieren und es auch zu lehren. Der Weltraum selbst faszinierte ihn schon länger. Als Wissenschaftssprecher im Nationalrat erlebte er den Start des Projekts „Austromir“ live mit, und noch heute gerät er ins Schwärmen, wenn er von diesem beeindruckenden Moment spricht. Für ihn ist die Erforschung des Weltraums der nächste logische Schritt, seit die Erde nur noch wenige Geheimnisse zu bieten habe. Brünner sagt, es liege in der Natur des Menschen, etwas Neues entdecken zu wollen. Eine Aussage, die wohl gerade auch auf den Menschen Christian Brünner zutrifft. Auch sein Porträt in der Aula der Karl-Franzens-Universität erzählt viel über Brünner persönlich. Das „Bild im Bild“ zeigt eine Landschaft, das Blau des Himmels und das Grün der Wiesen sind die dominierenden Farben. Im Vordergrund steht ein hochgewachsener Baum mit ausladendem Blätterdach, umringt von verblühtem Löwenzahn. Der Baum ist fest verwurzelt und trotzt Wind und Wetter. Er wirkt beinahe unverwüstlich. Ringsum die Pusteblumen, deren Schönheit mit einem einzigen Windstoß vergeht, aus dem aber gleichzeitig Neues entsteht. In der Volksschule hatte Brünner ein Federmäppchen mit dem Aufdruck „Wissen ist Macht“. Seine berufliche Karriere ist seither geprägt vom Streben, über das eine das andere zu erreichen. Dafür hat er gelernt und gearbeitet, Prioritäten gesetzt und Privates vernachlässigt. Rückschritte und Enttäuschungen schreckten ihn nicht ab – eher spornten sie ihn an, etwas Neues zu versuchen, eine andere Richtung einzuschlagen. So hat Christian Brünner viel Wissen aus verschiedenen Fachgebieten angehäuft, er sieht sich als „Mittler zwischen den Disziplinen“. Auch in Zukunft wird er sich nicht einfach zurücklehnen und die Hände in den Schoß legen. Es gibt noch genügend Bereiche, in denen er sich versuchen kann, denn: „Die Welt ist mehr als das, was wir kausal mit unseren Messinstrumenten feststellen können.“

Die Macht des Gestaltens Andreas Lackner

Christian Brünner genießt es, als Gestalter im Rampenlicht zu stehen. Der Zug zur Macht hat ihn über die Jahre begleitet – auch wenn die Bühnen sich gewandelt haben. An diesem Nachmittag fällt die Bühne eher bescheiden aus. Christian Brünner hält im Hörsaal 1 an der FH JOANNEUM Gmbh eine Vorlesung über Wirtschaftsund Arbeitsrecht für Studierende der Fahrzeugtechnik. Eine Overheadfolie, die hinter ihm an die Wand projiziert wird, dient als Kulisse. Erst spricht er über ein Thema,

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1. Werdegang und Leben

das ihm sichtlich am Herzen liegt. Er erläutert seinen Zuhörern, dass er maßgeblichen Anteil daran hatte, dass das Bettelverbot in der Steiermark als verfassungswidrig aufgehoben wurde. Studierende, die die Akademische Viertelstunde nicht nur vom Hörensagen kennen, verpassen seine Erläuterungen über die Menschenrechte, von denen laut Brünner auch das Recht auf Betteln erfasst werde. Sie begeben sich dadurch auch der Möglichkeit, den Menschen Christian Brünner besser kennenzulernen. Sie bekommen nicht mit, wie der sonst eher ruhige und besonnene Vortragende viel Begeisterung in seine Stimme legt, dabei mit knappen Gesten jedem Wort noch mehr Nachdruck verleiht. Brünner brennt für das Thema, über das er gerade referiert. Trotzdem wahrt er, ganz Autorität, eine angemessene Distanz zu seinen Zuhörer/inne/n. Um die ungeteilte Aufmerksamkeit der Studierenden zu haben, hält Brünner kurz inne, bevor er seine Einführung beendet: „Bitte entschuldigen Sie mich, falls ich während der Vorlesung angerufen werde. Es könnte sein, dass mich Journalisten zum Thema Bettelverbot befragen.“ Eine elegante Entschuldigung für bevorstehende Telefonate, aber auch ein kleines Indiz dafür, dass er es genießt, ein gefragter Mann zu sein. Christian Brünner hat bereits in seiner Kindheit darauf hingearbeitet, beruflich erfolgreich zu sein. Die Prioritäten waren klar gesetzt: Nach dem Credo „Wissen ist Macht“ stand immer das Lernen im Mittelpunkt seines Interesses. Die logische Konsequenz: stets gute Noten, dafür nur wenige gute Freunde. Stark geprägt hat ihn seine Zeit in den USA, die er ab 1959 an der Richfield Highschool in Minneapolis verbracht hat. Der Jugendliche Christian Brünner hat damals gemeinsam mit Austauschkollegen aus verschiedenen Ländern studiert und im Amerika der späten 1950er-Jahre auch erlebt, wie sich Diskriminierung auf eine Gesellschaft auswirken kann. „Diese Ereignisse waren die Basis für meine Vorurteilsfreiheit und haben meinen Horizont geöffnet“, bilanziert er über diesen prägenden Teil seiner Jugend. Dieser Lebensabschnitt war es, der in ihm den Wunsch geweckt habe, sich mit dem Völkerrecht zu beschäftigen. Seine Sinne für die Politik waren zu dieser Zeit aber noch nicht geschärft: „Ich weiß nicht einmal, ob ich bei einer republikanischen oder demokratischen Gastfamilie gewohnt habe.“ Umso genauer kann er sich aber an ein politisches Ereignis erinnern, das ein paar Jahre zuvor stattgefunden hatte. Als am 15. Mai 1955 der österreichische Staatsvertrag durch die Vertreter der vier Besatzungsmächte und Leopold Figl unterzeichnet wurde, saß Christian Brünner gemeinsam mit seinem Vater vor dem Radio und verfolgte die Berichterstattung. Da er die Tragweite dieses Ereignisses damals noch nicht in seiner Gänze erfassen konnte, war es wohl vor allem der Gefühlsausbruch des sonst eher besonnenen, strengen Vaters, der auch in Chris-



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tian Brünner Emotionen freisetzte. Unter Tränen hörten die beiden, wie die berühmten Worte „Österreich ist frei“ über den Äther gingen. Mit dieser Anekdote gelingt es Christian Brünner, seine Zuhörer im Hörsaal 1 zu fesseln. Die wenigen Studierenden, die zuvor noch in leise Gespräche mit dem Sitznachbar vertieft waren oder ihre Blicke auf der Suche nach Abwechslung durch den Raum schweifen ließen, fokussieren nun alle den Vortragenden. Auch die vereinzelt geöffneten Notebooks werden nach und nach zugeklappt. Sie wirken neben der Overheadprojektion ohnehin fehl am Platz. Brünner nutzt die Aufmerksamkeit für eine kurze Fragerunde. Er möchte von seinen Zuhörer/inne/n wissen, was sie sich von der Vorlesung des Vortages gemerkt haben. Mittlerweile hat er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Als Christian Brünner in etwa im Alter der Studierenden im Hörsaal 1 war, wollte er seinen Plan, Völkerrecht zu studieren, verwirklichen. Da diese Disziplin im Rahmen eines Studiums der Rechtswissenschaften angeboten wurde, entschied er sich für diesen Weg. Ein akademischer Weg, der ihn bis zum Vorsitz der Österreichischen Rektorenkonferenz führte. Es wäre nicht so weit gekommen, hätte er sich 1968 für ein lukratives Jobangebot bei einer Bank und gegen die Fortsetzung seiner akademischen Karriere als Vertragsassistent entschieden. „Natürlich war die Anstellung bei der Bank verlockend. Aber ich habe mich unter anderem aus Prestigegründen für den Verbleib an der Universität entschieden“, erklärt Brünner. Gut 15 Jahre später beginnt für ihn die schönste Zeit – zumindest im Rahmen seines universitären Wirkens. Als Rektor war es ihm möglich, zu gestalten und zu verändern. Vor allem mithilfe von Dialog und Kommunikation, wie er immer wieder betont. Er sah diesen Posten nie als Ehrenamt oder Bonus für langjähriges akademisches Engagement, sondern als Managementjob: „PR und Marketing waren mir damals schon sehr wichtig. Ich habe mich immer als Generaldirektor eines Großunternehmens mit 30.000 Studierenden und 2.500 Mitarbeiter/inne/n gesehen. Trotzdem hatte ich nur eine Sekretärin.“ Er verstand sich auch als Reformer, der einen guten Ruf bei den Studierenden genoss, aber einen schweren Stand bei vielen Professoren hatte: „Ich war sicherlich nicht der Kandidat der Professor/inn/ en. Ich bin damals jeder Kurie einmal auf die Zehen gestiegen“, sagt Brünner. Im Hörsaal 1 werden die Studierenden ein wenig unruhig. Einige von ihnen haben sich wieder ihren Notebooks zugewandt. Es ist schwierig zu sagen, ob das Nachlassen der Aufmerksamkeit daran liegt, dass Christian Brünner gerade ein wenig über seine politische Karriere gesprochen hat. Aber als ehemaliger Politiker gibt er sich gesprächsbereit und stellt eine Pause in Aussicht: „Wir gehen vorher nur noch auf diesen Punkt ein, aber ich bitte Sie, sich ein wenig zu beteiligen.“ Als Beweggrund, sich der Politik zu verschreiben, verweist Brünner vor allem auf die Tatsache, dass es ihm möglich war, zu gestalten und festgefahrene Struk-

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1. Werdegang und Leben

turen zu ändern. Über die beiden anderen Motive für das Einschlagen seiner Politkarriere spricht er angenehm ehrlich: „Ich stehe gerne im Rampenlicht der Öffentlichkeit, und außerdem hat mich die erotische Beziehung zur Macht schon immer fasziniert.“ Der Einstieg in die Politik sei aber keineswegs vorherzusehen gewesen, seit durch Zufall zustande gekommen, wie Brünner betont. 1990 hatte die Steirische Volkspartei die Idee, ein Bürgerkomitee einzusetzen, das eine geeignete Person für einen sicheren Listenplatz nominieren sollte. Im Rahmen der Suche nach einem Kandidaten wurde Christian Brünner kontaktiert und gefragt, ob ihm eine passende Person einfallen würde. Er schlug sich selbst vor und ebnete sich damit den Weg in die Politik. In den folgenden vier Jahren als Nationalratsabgeordneter der ÖVP hat er sich nicht nur Freunde gemacht und sich mehr als nur einmal exponiert. Als Folge seiner oft sehr liberalen Einstellung und seines Rüttelns an festgefahrenen Strukturen innerhalb der Partei – etwa als seine Änderungsvorschläge zum Gentechnikgesetz parteiintern auf taube Ohren stießen und er daraufhin eigenmächtig einen Änderungsantrag einbrachte – wurde er 1994 an nicht mehr wählbare Stelle gereiht. Brünner, der immer parteiunabhängig war, steht auch im Nachhinein zu diesen Entscheidungen: „Wenn ich etwas nicht mit mir selbst vereinbaren konnte, habe ich es einfach nicht gemacht.“ Damals konnte er der „Droge Politik“ noch nicht entsagen. Er setzte seine politische Karriere beim Liberalen Forum (LIF) fort und zog 1995 in den steiermärkischen Landtag ein. Mit der politischen Machtausübung war es weitgehend vorbei, das Gestalten in bescheidenerem Rahmen aber möglich. Allerdings verlief auch diese Zeit in den späten 90er-Jahren alles andere als friktionsfrei. Ein paar Tage nach der Vorlesung im Hörsaal 1 erzählt Christian Brünner in seinem Büro an der Rechts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz über die Konflikte innerhalb des Liberalen Forums. Dabei wirkt er ungewohnt wortkarg. Seine eben noch freundlichen Gesichtszüge nehmen eine etwas härtere Kontur an. Er wählt seine Worte mit viel Bedacht, wenn er über das Zerwürfnis mit Margit Keshmiri spricht. Die Auskunft darüber fällt sehr kurz aus, über die Details will Brünner heute nicht mehr reden: „Einiges kann man sowieso nachlesen.“ Außerdem wäre es unfair, über Keshmiri zu sprechen, weil sie sich in Abwesenheit ohnehin nicht verteidigen könne. Schnell wechselt Brünner das Thema. Er erörtert die oft falsche Außenwirkung, die Politiker erzeugen und thematisiert die Stressfaktoren, denen er in dieser Zeit ausgesetzt war. Zwei Gründe, die mit dazu beigetragen haben, dass er dieses Kapitel seiner Laufbahn mittlerweile abgehakt hat. Bevor er sich nach diesen unbequemen Punkten wieder in die Komfortzone begibt, lässt er sein politisches „Waterloo“, den 15. Oktober 2000, noch einmal Revue passieren. Er schildert den



1.2. Studierenden-Reportagen

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Moment, an dem der verpasste LIF-Einzug in den steirischen Landtag Gewissheit wurde und spricht über den anschließenden Auftritt in der Öffentlichkeit. Für Brünner war das einer der wenigen Augenblicke im Rampenlicht, der für ihn negativ konnotiert ist. Vielleicht hat dieser Tag die Gewissheit gebracht, dass es nicht nur mit dem politischen Einfluss, sondern auch mit der Möglichkeit, zu gestalten, vorbei war. Erst nach diesem Tag war es Christian Brünner endgültig möglich, der Politik zu entsagen. Ein bitterer Nachgeschmack bleibt: das Gefühl, wenn Macht zu Ohnmacht wird. Aber Christian Brünner nahm dieses Debakel nicht als Grund für eine Auszeit oder als bequeme Ausrede für einen Leerlauf. Bereits am nächsten Tag stand er wieder im Hörsaal vor seinen Studierenden. „Die Lehre war für mich immer die Möglichkeit, Abstand zur Politik zu gewinnen. Umgekehrt war das nie so.“ Mehr als zehn Jahre danach entsteht immer noch der Eindruck, dass die Universität für ihn ein Ort der Zuflucht ist. In seinem kleinen Büro, in dem Ordner und Bücher überproportional viel Platz einnehmen, in ihrer Masse eher bedrücken als beeindrucken, erzählt er von den vielen Leidenschaften, die er in seiner Laufbahn zusätzlich entdeckt hat. Eine davon ist das Weltraumrecht. Christian Brünner spricht gerne über diese Disziplin. Wenn er darüber erzählt, entsteht der Eindruck, dass er am liebsten jedes noch so winzige Detail im Kopf seiner Zuhörer/innen verankert wissen möchte – kein Vergleich zur etwas unterkühlten Art, wenn er auf politische Konflikte angesprochen wird. Ein Ereignis, das er besonders lebhaft wiedergibt, ist der Weltraumflug von Franz Viehböck im Jahr 1991. Damals war Brünner gemeinsam mit einer Abordnung österreichischer Politiker in Kasachstan, um dem Start der Sojus TM-13 beizuwohnen. Fast genauso spannend wie der Kampf der Rakete gegen die Schwerkraft war der medial nicht mit so viel Aufmerksamkeit beachtete Kampf des Christian Brünner um einen guten Tribünenplatz, den er auch gegen den kasachischen Präsidenten zu verteidigen wusste. Es sind Anekdoten wie diese, die eine besondere Strahlkraft haben, die Brünner als Menschen zeigen, der sich gerne in der ersten Reihe präsentiert und dazu auch seine Ellbogen einsetzt, wenn es die Situation erfordert. Die Opfer, die er gebracht hat, um seine Karriere auf so vielfältige Art voranzutreiben, geraten dadurch fast in Vergessenheit. „Ich hatte nie viele Freunde“, erklärt er, „und auch Beziehungen gehen daran zugrunde.“ Je höher er die Karriereleiter hinaufkletterte, desto geringer war die Anzahl der Nachrichten, die ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen wurden. „Meine Work Life Balance hat damals nur aus Work bestanden, das würde ich im Nachhinein ändern.“ Nach dem Gespräch über Politik und Weltraumrecht folgt ein kurzer Spaziergang, der in einem Raum endet, der das genaue Gegenteil von Christian Brünners

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1. Werdegang und Leben

kleinem Büro ist. Die Aula der Universität ist ein Ort, den er mit positiven Erinnerungen in Verbindung bringt. Hier hat er in seiner Zeit als Rektor über 5.000 Studierenden zur Promotion gratuliert. Eine Tätigkeit, die ihm neben dem täglichen Austausch mit ihnen besondere Freude bereitet hat. Die Aula ist auch der Ort, an dem alle bisherigen Rektoren der Karl-Franzens-Universität auf Gemälden verewigt wurden. Das Porträt von Christian Brünner ist unschwer zu erkennen. Es zeigt ihn im Anzug und mit feierlicher, ernster Miene. Am linken oberen Rand des Gemäldes wurden auf seinen Wunsch ein Baum und eine Pusteblume verewigt. „Die Blume steht einerseits für Schönheit, andererseits symbolisiert sie auch die Vergänglichkeit“, erklärt er. Die Leuchtkraft des Porträts ergibt sich aber auch aus der Autorität, die Brünner auf dem Gemälde ausstrahlt. Es zeigt ihn in einer Position, in der er sich gerne sieht. In einer Position, die er nicht einfach nur um der bloßen Macht willen gerne innegehabt hat, sondern vor allem, um gestalten zu können.



1.3. „Reflections“

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1.3. Christian Brünner, in: Richfield High School/Minnesota (ed.), Fifty years of „Reflections“. Class of 1960, Minnesota 2010, 72 My self-conception as an American Field Service student in the USA was to be an Austrian ambassador. This kept me away from falling in love during my school year. At the end of the year 1,524 AFS students from all over the world, scattered all over the States, mounted buses and travelled to Boston for a wonderful get together for four weeks – and on the bus I fell in love with a wonderful Chilean girl. Yet, the love story was over quickly due to those much too short four weeks, and after a few letters we lost track of each other. Thirty years later we met again, this time in Europe, where she, her husband and her children had found a new home. After prison and a death sentence they could escape the brutal Pinochet-Regime. The year in the USA was one of the most stamping periods in my life. I widened my horizon, I experienced as a value a more pluralistic society than Austria was but at the same time discrimination against black people – they were hindered to vote in some States – as a violation of human dignity. I consciously realized how important understanding between people – nations and races – is. All this led me to my profession as a lawyer with a social-scientific approach to law and as a university teacher with the conviction that education is an effective task against narrow-mindedness, intolerance and tutelage. I got married and divorced, have two sons and two grand children, was rector (president) of my university and chairman of the Austrian rectors’ conference, was member of the National and of the Regional Parliament, and – born in the sign of Aquarius, an air sign – I got engaged in space law matters a few years ago. Let me say thank you: to my parents, especially to my mother who encouraged me to go abroad; to my host family Fiers and their friends’ family Borne; to my teachers and class mates in RHS and in my Austrian High School. By the way the latter helped me to finish two school years in one after my return so that I could graduate with my Austrian class mates.

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 21: Christian Brünner und seine Familie am Bahnhof Bruck/Mur vor der Abfahrt in die USA, Sommer 1959 (privat)

Abbildung 22: Christian Brünner bei seiner Gastfamilie, Fiers, in Richfield, Minneapolis, Minnesota, Sommer 1959 (privat)



1.3. „Reflections“

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Abbildung 23: Christian Brünner erhält einen Award der Junior Chamber of Commerce verliehen (for outstanding achievement in writing and speaking on the importance of initiative and self-reliance to the american way of life), 1959 (privat)

Abbildung 24: Christian Brünner im Kreis seiner Familie nach der Rückkehr aus den USA, Krieglach, Sommer 1960 (privat)

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1. Werdegang und Leben

1.4. Meldungsbuch/Christian Brünner

Abbildung 25 und 26: Christian Brünners Meldungsbuch mit der Inskription als Student der juristischen Fakultät der Universität Graz am 10. 10. 1961 (privat)



1.4.Meldungsbuch/Christian Brünner

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Abbildung 27: Stich der Universität Graz (Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek)

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1. Werdegang und Leben

1.5. Inauguration/Abend-Einladung



1.5. Inauguration/Abend-Einladung

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Abbildung 28: Inauguration von Christian Brünner als Rektor; Übergabe der Kette der Universität durch Prorektor Heinz Mitter am 30. 10. 1985 (Foto Fischer)

Abbildung 29: Inauguration von Christian Brünner als Rektor; Übergabe des Zepters der Universität durch Prorektor Heinz Mitter am 30. 10. 1985 (Foto Fischer)

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 30: Christian Brünner tragt sich in die Bild-Chronik der Universität Graz am 30. 10. 1985 ein (Foto Fischer) Abbildung 31: Künstlerische Darstellung anlässlich der Inauguration von Christian Brünner als Rektor durch Studierende der Fakultät für Architektur der TU Graz im Rahmen der von Michael Kocher geleiteten Lehrveranstaltung „Grundlagen der Gestaltung und des Entwerfens“ vor dem Hauptgebäude der Universität Graz am 30. 10. 1985 (Foto Fischer)



1.5. Inauguration/Abend-Einladung

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Abbildung 32: Uni-Cafe am Abend der Inauguration von Christian Brünner zum Rektor der Karl-Franzens Universität: Lesung von Barbara Frischmuth, Franz Innerhofer und Adolf Muschg, Musik André Jeanquartier und seine Jazz-Band am 30. 10. 1985 (Stuhlhofer Wolf )

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 33: Christian Brünner als Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz bei der Eröffnung des Techniker-Circles im Musikvereinssaal in Wien 1989 (k. K.)

Abbildung 34: Königin Sofia von Spanien begrüßt Christian Brünner als einen der Rektoren anlässlich des Treffens der Europäischen Rektorenkonferenz in Madrid/Spanien vom 22. bis 24. 10. 1986 (Dalda, Madrid)



1.5. Inauguration/Abend-Einladung

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Abbildung 35: Empfang des Bundespräsidenten anlässlich des Papstbesuchs in Österreich; Johannes Paul II., Kurt Waldheim und Christian Brünner als Vorsitzender der Rektorenkonferenz 1988 (Jungwirth)

Abbildung 36: Verabschiedung von Christian Brünner als Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz durch die Mitarbeiter/Innen des Generalsekretariats in Wien im Sommer 1989 (privat)

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 37: Rektorenporträt von Christian Brünner in der Aula der Universität Graz, gemalt von Josef Bramer (privat)

Abbildung 38: Kardinal Franz König als Schirmherr bei einer Veranstaltung von Pro Oriente unter anderem mit Christian Brünner, Generalsekretär Alfred Stirnemann, Bundesminister für Unterricht a.D. Theodor Piffl-Percevic in den 1970er Jahren (k. K.)



1.6. Editorial zur 1. Ausgabe von UNI-ZEIT

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1.6. Editorial von Rektor Christian Brünner zur 1. Ausgabe des Magazins „UNIZEIT“ 0/1988, 2 Seit meinem Amtsantritt als Rektor wünsche ich mir eine Universitäts-Zeitung. Ich freue mich, daß ich meinen Wunsch mit UNI-ZEIT in einem ersten Schritt umsetzen kann, und ich wünsche UNI-ZEIT, daß sie von Ausgabe zu Ausgabe mehr „Zeitung“ wird. Eine Zeitung dient der Information: Was rührt sich an der Universität, in den 6 Fakultäten und 110 Instituten, Kliniken und besonderen Universitätseinrichtungen? Was entscheiden die über 70 Organe, die das UOG einrichtet? Was tun die rund 2.800 Bediensteten, und wer sind sie? Welche Leistungen werden in Forschung und Lehre für Studenten, Absolventen und an der Universität Interessierte, für das Wissen der Zeit, für Gesellschaft, Wirtschaft und Arbeitsleben erbracht? Wer schaut über den Zaun seines Faches, seines Arbeitsplatzes, der rationalen Dimension, der nationalen Grenzen? Eine Zeitung ist aufregend und macht neugierig. Sie bedient sich aller journalistischer Darstellungsformen, der Nachricht und der Glosse, des Berichtes und des Kommentars, der Reportage und des Interviews. Sie bezieht Position. Sie kritisiert. Sie hat Humor (Apropos: Wer schickt uns die erste Karikatur?). Sie ist „handlich“. Sie hat Pfiff, und ihre Redakteure haben Freiheit. Eine Zeitung fordert heraus. Sie löst Widerspruch und Zustimmung aus. Sie provoziert zu Diskussionen und zum Gespräch. Und – sie braucht die kritische Zuneigung ihrer Leser. Um diese kritische Zuneigung und darum, sie auch zum Ausdruck zu bringen, bitte ich Sie.

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1. Werdegang und Leben

1.7. Der Mensch, der mein Leben für immer verändert hat

Babak Bahadori in: Ulrich/Schnedl/Pirstner-Ebner (Hrsg.), Funktionen des Rechts in der pluralistischen Wissensgesellschaft. FS Brünner, Wien/Köln/Graz 2007, 211 bis 224

Selbst wenn es bald 25 Jahre her sind, kommt mir der 31. Oktober 1983, an dem ich zum ersten Mal den österreichischen Boden betreten habe, wie gestern vor. Nach Jahrzehnten kann ich mich immer noch ganz genau an all meine Emotionen, alle optischen, akustischen als auch olfaktorischen Eindrücke dieses ersten Tages erinnern. Wenn ich meine Augen zumache und an jenen Tag denke, habe ich immer noch den Geruch von frisch geröstetem Kaffee, die olfaktorische Visitenkarte Wiens für Erstbesucher, in meiner Nase. Ich bin am Flughafen gestanden, neben mir zwei riesige Koffer, die angeblich sogar meinem Großvater auf seiner Pilgerreise nach Mekka gedient hatten, hinter mir meine Heimat, in der damals ein erbitterter Krieg tobte, vor mir die absolute Ungewissheit. Als die ersten Redeschwalle in Deutsch durch die Lautsprecher tönten, hatte ich endgültig das Gefühl, auf einem fremden Planeten zu sein. Was aber viel stärker war, war das Gefühl, dass die Menschen rund um mich herum mich als Alien betrachteten, was mich – retrospektiv gesehen – heute überhaupt nicht mehr wundert. Ich stand nämlich da, kaum sechzehnjährig, in einer für die frühen Achtziger modernen Gesellschaft Europas, in einem altmodischen Anzug, unfähig mit der Außenwelt zu kommunizieren. Was dieser Hilflosigkeit und der unendlichen Scheu gegenüber den großen blonden Nordländern stark entgegenwirkte, war das starke Pflichtbewusstsein meiner Familie und meiner Heimat gegenüber. Ich wusste ganz genau, dass meine Eltern finanziell große Opfer brachten und dabei fast die Grenzen der wirtschaftlichen Machbarkeit erreichten, um ihrem Kind eine akademische Ausbildung im Ausland zu ermöglichen. Genau das, nämlich der Besuch einer österreichischen Universität und Abschluss einer akademischen Ausbildung, wurde vom ersten Moment an zu jener Besessenheit und Treibkraft, die mir die unendliche Stärke auf diesem schweren, steinigen Weg gab. So muss es jedes Jahr Tausenden von jungen Menschen gehen, die, besessen von der Sehnsucht, die akademische Erleuchtung in einer der altehrwürdigen, etablierten westlichen Universitäten zu erlangen, den europäischen Kontinent betreten.



1.7. Babak Bahadori, der Mensch, der mein Leben für immer verändert hat

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Es ist bedauerlich, dass in den letzten Dekaden der österreichischen Innenpolitik dieser ganz wichtige und brisante Punkt bewusst oder unbewusst völlig untergegangen ist. Für die Normalbevölkerung ist jeder Ausländer ein reiner Wirtschaftsflüchtling, der nach Europa kommt, um ein Traumleben voller Handys, MP3-Player usw. zu führen. Dass es immer noch Hunderte und Tausende Jugendliche aus nicht europäischen Ländern gibt, die mit dem Wunsch herkommen, sich ein akademisches Wissen und moderne Qualifikationen anzueignen (oder es zumindest versuchen), darüber redet keiner. Oberflächlich betrachtet ist diese Menge numerisch ja nicht signifikant, daher ist es auch völlig egal, ob wir ausländische Studenten an unseren Universitäten haben. Oder nicht? Ganz im Gegenteil, die Praxis der letzten Jahre hat gezeigt, dass man den Zugang jener wissbegierigen Menschen zu den Universitäten immer weiter erschwerte. Genauer betrachtet hat eben diese kleine elitäre Gruppe aufgrund ihrer Fähigkeiten und Talente und offenen Einstellung allen Kulturen der Welt gegenüber das Potenzial, eine enorme positive Hebelwirkung auf interkulturelle Beziehungen zwischen verschiedenen Ländern, Kulturkreisen und Religionen zu entfalten. Diese multikulturellen Akademiker sind nicht nur geschätzte und unverzichtbare Fachkräfte, sowohl für ihre Heimatländer als auch für ihre Gastländer, sondern in meinen Augen eine der größten Hoffnungen, als Friedensbotschafter in einer gefährlichen Zeit der zunehmenden Feindseligkeit zwischen Orient und Okzident wieder Verständnis und Friedensbrücken aufzubauen. Jeder ausländische Student, der mit Erfolg eine österreichische Universität absolviert, wird automatisch zum Botschafter zwischen der Tradition der österreichischen akademischen Toleranz auf der ganzen Welt. Und jedes Mal, wenn so ein Wissenssuchender an bürokratischen Hürden in Österreich zerschellt, wird nicht nur eine menschliche Existenz zerstört, werden nicht nur potenzielle akademische Errungenschaften destruiert, die später der Menschheit nicht mehr zugutekommen können, sondern es wird die Welt eines weiteren Friedensbotschafters aus Österreich beraubt. Genau das wäre dann um ein Haar mein Schicksal geworden. Ich wüsste nicht, wo und wovon ich heute leben würde, gäbe es Christian Brünner nicht. Um das näher zu erläutern, müsste ich mit meiner Lebensgeschichte wieder dort anfangen, wo ich aufgehört habe. Nach meiner Ankunft in Wien ist es mir trotz aller finanziellen und sonstigen Schwierigkeiten gelungen, innerhalb von ca. zweieinhalb Jahren in Wien zu maturieren. Ob es auf mein Talent zurückzuführen war oder auf den unermüdlichen Einsatz all meiner damaligen Lehrer und Lehrerinnen im Bundesrealgymnasium auf der Schmelz, es sei dahingestellt. Der Moment, in dem ich mit einem österreichischen Reifezeugnis an der Wiener Universität auftauchte, um für einen Studienplatz für Humanmedizin anzusuchen, hätte der schönste Moment meines Lebens werden sollen.

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1. Werdegang und Leben

Das Gegenteil war der Fall. Kein roter Teppich, keine Schar von Bewunderern, die mich gefragt hätten, wie ich es geschafft habe, trotz der Sprachbarriere so schnell zu maturieren. Statt dessen ein völlig desinteressierter Beamter am Schalter, der einfach die Nase rümpfte, mir meine Papiere wieder zurückschmiss und in einem nasalen Wiener Beamtendeutsch erklärte: „Junger Mann, es schaut nicht gut aus. Nach dem geltenden Hochschulgesetz müssten Sie vier Jahre vor Ablegung der Reifeprüfung ununterbrochen eine österreichische Schule besucht haben, um eine sogenannte Inländergleichstellung zu bekommen. Da Sie aber zu schnell waren und es in zwei Jahren geschafft haben, werden Sie gesetzlich so behandelt, wie der Inhaber eines ausländischen Reifezeugnisses. Was aber bedeutet, dass Sie den Nachweis erbringen müssen, in Ihrem Heimatland bzw. im Ausstellungsland Ihres Reifezeugnisses zum Medizinstudium zugelassen zu sein. Da aber das Ausstellungsland Ihres Reifezeugnisses Österreich ist, beißt sich die Katze eben in den Schwanz. Blöde Situation, nicht wahr?“ Was ich beschreibe ist bei Gott nicht eine Szene aus einem neuen Kabarett von Alfred Dorfer, sondern die bittere Realität. Ich habe das nicht geglaubt und trotzdem um einen Studienplatz angesucht. Mein Ansuchen wurde, wie eben erwähnt, mit der gleichen Begründung abgelehnt. Ich habe Berufung eingelegt und mich in meiner Verzweiflung an die Volksanwaltschaft gewandt, um jedes Mal zu hören: „Tut uns furchtbar leid [was ich bis zum heutigen Tag auch glaube, dass es der Fall war], aber die Gesetze sind eben manchmal so kompliziert.“ Bald erfuhr ich, dass es in jenem Jahr mindestens fünfzig Leidensgenossen von mir gab. Und eines Tages brachte uns einer von diesen verzweifelten Maturanten die frohe Botschaft, dass in Graz ein neuer Wind wehe: Ein neuer Rektor, der in die Zukunft schauen kann, der auf die Internationalität seiner Universität großen Wert legt. Der, statt mit dem Strom zu schwimmen und auf Ausländern herumzutrampeln, versucht, allen klarzumachen, dass die Studenten von heute die internationalen Botschafter der österreichischen Universitäten von morgen sind. Christian Brünner, wie wir alle gut wissen, war nie ein Mann der Lippenbekenntnisse. Er hat nicht nur den Mut, gegen den Strom zu schwimmen, sondern auch die Kraft, seine Reformideen umzusetzen. So ist es geschehen, dass unsere gesamte Generation an der Grazer Universität zum Studium zugelassen wurde. Ich kann nach zwanzig Jahren die unbeschreibliche Freude und das unendliche Hoffnungsgefühl, welche(s) ich erlebte, als ich zum ersten Mal den Zulassungsbescheid von Prof. Brünner in Händen hielt, noch immer nicht in Worte fassen. Wir waren die Ersten, aber diese Tradition hat sich während des Rektorats von Christian Brünner jahrelang fortgesetzt. Es hat sich langsam bei all jenen Menschen, die von Christian Brünner ein neues Leben, eine neue Zukunft bekommen hatten, eingebürgert, dass sie sich alle als „Brünners Kinder“ bezeichneten.



1.7. Babak Bahadori, der Mensch, der mein Leben für immer verändert hat

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Heute, nach zwanzig Jahren, glänzen „Brünners Kinder“ als Elite der medizinischen Wissenschaft von Graz bis zur Harvard University und Mayo Clinic. Eine Liste von Errungenschaften und Leistungen von „Brünners Kindern“ zu führen, würde den Rahmen jeder Zeitschrift sprengen. Was aber meine Wenigkeit (wohl bemerkt einer der leistungsschwächsten dieser Generation) angeht, so habe ich nach dem Ende des Studiums meine Facharztausbildung aus Innerer Medizin auf der Grazer Universitätsklinik absolviert, welche später durch eine Additivfachausbildung aus Gastroenterologie und Hepatologie ergänzt wurde. Durch einen Wink des Schicksals bin ich beruflich ausgerechnet im Geburtsort von Christian Brünner, in Mürzzuschlag, angekommen, wo ich als Oberarzt in dem dortigen Landeskrankenhaus tätig bin und gleichzeitig die Stoffwechselambulanz leite. Durch die langjährige Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Stoffwechselkrankheiten ist es meiner Gruppe gelungen, unser Spital mit mehreren ausländischen Forschungszentren zu affiliieren. Was für mich aber einen persönlichen Höhepunkt darstellt, ist eine bevorstehende große Zusammenarbeit mit den Universitäten meines Heimatlandes Iran, mit denen es bereits seit zwei Jahren eine Kooperation bezüglich Betreuung und Behandlung von komplizierten Krankheiten (Giftgasopfer etc.) gibt. Und das Schönste bei meiner Arbeit ist, dass, wann auch immer ich Hilfe, fachmännische Unterstützung und Rat brauche, es mich nur einen Telefonanruf kostet, denn überall auf der Welt, bei jedem Fachgebiet sitzt ein „Brünners Kind“, das mir unbürokratisch und sofort zu Hilfe eilt. Für uns alle, nach so vielen Jahren, dient Christian Brünner mit seinem beispiellosen Pioniergeist, seiner Toleranz und seinem grenzenlosen Respekt vor humanitären Werten als großes Vorbild für unser Leben und Schaffen.

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1. Werdegang und Leben

1.8. Brief an die Erstsemestrigen von Rektor Christian Brünner vom September 1985

in: Grazer Universitätsreden: Christian Brünner, Vom Glanz und Elend der Universität. Bericht über die Amtszeit als Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz in den Jahren 1985 bis 1989 sowie als Prorektor und Raum- und Baubeauftragter im Jahre 1989/90, Graz 1990, 187 bis 188 LIEBE ERSTSEMESTRIGE!

Mit der Immatrikulation werden Sie auch Mitglied der Karl-Franzens-Universität und nicht nur Nutzer einer Forschungs- und Bildungsanstalt. Diesen Korporationsaspekt, der aus der mittelalterlichen Universität stammt, bringt das UOG, das ist das Gesetz, das die Organisation der heutigen Universität regelt, zum Ausdruck, wenn es vom Zusammenwirken der Angehörigen der Universität spricht. Als Rektor dieser Universität begrüße ich Sie herzlich. Ihren Erwartungen stelle ich meine Wünsche zur Seite: – Ich möchte, daß Sie diese Universität, die auf eine 400jährige Geschichte zurückblickt, als die Ihre in Besitz nehmen. Nutzen Sie das Lehr- und Bildungsangebot der Universität. Fordern Sie uns mit ihrem Wissensdrang. Pochen Sie darauf, Antworten auf Ihre Fragen zu bekommen. Halten Sie Ihre Kritik nicht hinter dem Berg. Seien Sie unbequem im guten Sinn des Wortes; das Schlimmste, was ich mir an einer Universität und im Umgang mit Studenten vorstellen kann, ist Grabesstille. – Ich möchte, daß Sie nicht nur den kognitiven, den Wissensbereich pflegen. Erweitern Sie auch Ihre emotionalen Dimensionen. Engagieren Sie sich im Bereich der Hochschülerschaft, der Kultur, der Politik, der Religion, der Kunst. Beschäftigen Sie sich mit der Frage, was oder wer denn der Mensch ist und welchen Sinn Ihr Leben hat. Ich wünsche Ihnen für Ihre Universitätsjahre Kraft, Ausdauer und Freude. Wahrscheinlich werden auch Ihr Studium und Ihr Leben nicht von Fährnissen verschont bleiben. Ich möchte Sie ermuntern, sich allen Schwierigkeiten zu stellen. Fragen Sie sich mitunter auch, ob Sie für das von Ihnen gewählte Studium oder überhaupt für ein Studium geeignet sind. Diskutieren Sie das, was Sie bewegt, mit Freunden und – sofern Sie Vertrauen haben – auch mit uns Universitätslehrern. Suchen Sie aber immer nach Lösungen, die Ihnen entsprechen, und vermeiden Sie Entscheidungen, die Sie lediglich treffen, um anderen oder der Gesellschaft zu entsprechen.



1.9. Ansprache anlässlich der Erneuerung akademischer Grade

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1.9. Ansprache von Rektor Christian Brünner anlässlich der Erneuerung akademischer Grade am 1. 6. 1988

Verehrte Jubilare! Die Aufgabe, aus Anlaß der feierlichen Erneuerung Ihrer Doktorgrade ein paar Worte zu sprechen, ist eine ambivalente. Einerseits freue ich mich, zusammen mit den Herren Dekanen und dem Herrn Prorektor im Namen dieser Universität ein sichtbares Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung für Sie setzen zu können, für Sie, die Sie 50 Jahre lang Ihre Aufgaben als promovierte Universitätsabsolventen in Staat und Gesellschaft mit Engagement und unter Opfern erfüllt haben. Andererseits fühle ich mich unsicher, wenn ich bedenke, daß ich zu der Zeit, als Sie den Doktorgrad erwarben, noch nicht geboren war. Der Tag, an dem Sie vor 50 Jahren promoviert haben, war – wie für alle Promovenden – einer von vielen Orientierungspunkten auf Ihrem Lebensweg, mag das damals bewußt oder unbewußt gewesen sein. Sie konnten auf eine Studienzeit zurückblicken, die mit einem besonders glanzvollen Lebensabschnitt in der über 400jährigen Geschichte unserer Universität zusammenfällt. In Ihren Studienjahren haben hier hervorragende Professoren geforscht und gelehrt. Ihre Studienzeit war aber auch schon berührt durch die Stürme jener Zeit, ausgelöst durch destruktive politische Aktivitäten und Entscheidungen in Staat und Gesellschaft. Nährboden dafür waren fundamentalistische Ideologien, tödliche Intoleranz, zerstörerischer Irrationalismus und das Schweigen derer, die gesehen haben und gesehen haben mußten, welches Fanal auf diesem Nährboden heranwächst. Zwischenstufen auf dem Weg in den Untergang waren in Österreich die Beseitigung der Demokratie und der Bürgerkrieg, der Untergang selbst war dann Folge der faschistisch-nationalsozialistischen Herrschaft. Auch die Universität blieb damals von all dem nicht unberührt, und auch an ihr feierten Ideologisierung und Irrationalität fatale Siege. Schon während des Einmarsches deutscher Truppen in Österreich, also noch am Vormittag des 12. März 1938, sind Professoren außer Dienst gestellt worden, die dem neuen Regime nicht genehm waren. In den Tagen, die dem Einmarsch folgten, wurde nahezu die gesamte Führungsgarnitur der Universität ausgetauscht. Der dann amtierende Rektor telegrafierte den jubelnden Dank an Hitler, daß die Universität „jetzt als südöstlichste deutsche und Grenzlanduniversität unmittelbar teilhaben ... dürfe am glücklichen Wirken des deutschen Volkes.“ Zur gleichen

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1. Werdegang und Leben

Zeit rollte die Verhaftungswelle auch über die Universität hinweg. Eine Reihe von Professoren und anderen Universitätsangehörigen wurde verhaftet, darunter Otto Loewi mit seinen beiden Söhnen. Ich freue mich, daß heute drei Kinder unseres Nobelpreisträgers, Frau Anna Weiss, Herr Guido Loewi und Herr Viktor Loewi, dieser als unser Jubilar, anwesend sind. In mehreren Siebungsdurchgängen wurden – sieht man von der Theologischen Fakultät ab, die im April 1939 überhaupt aufgelöst worden war – rund 17 % des Lehrkörpers, darunter 25 % der Professoren, entlassen. Unter ihnen befanden sich drei Nobelpreisträger, Otto Loewi, Viktor Hess und Erwin Schrödinger. Und auch unser Jubilar, Herr Dr. Gustav Singer, der wissenschaftliche Hilfskraft im Institut von Herrn Prof. Otto Loewi war, mußte die Universität verlassen. Ende März 1938 begannen auch die Maßnahmen zur Erfassung der jüdischen Hörer an den österreichischen Universitäten. Ihre Promotion – bei der die Mediziner einen bedingungslosen Verzicht auf Ausübung des Berufes für das Reichsgebiet unterschreiben mußten – war einer eigenen Prozedur unterworfen. Die Promotion für jüdische Hörer war nicht öffentlich. Die Kandidaten durften keine Einladung zur Promotion aussenden. Die akademischen Funktionäre trugen keine Talare. Der Pedell nahm ohne das Universitäts-Zepter teil, Ansprachen hatten zu entfallen. Manchen von ihnen, wie z.B. unserem Jubilar, Herrn Prof. Dr. Helmut Bader, wurde das Doktorat überhaupt verweigert, obwohl er alle dafür erforderlichen Prüfungen abgelegt hatte. Studenten und Absolventen sind darüber hinaus auch aus politischen oder religiösen Gründen drangsaliert worden. Unser Jubilar, Herr Dr. Rudolf Ruthensteiner, mußte sich über die Hintertreppe beim Rektor unter vier Augen die Promotionsurkunde abholen, weil er fürchtete, wegen seiner proösterreichischen Tätigkeit als Mitglied der katholischen österreichischen Studentenverbindung Carolina von der vor der Universität postierten SA festgenommen zu werden. Die 1938 aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen vorgenommene Dezimierung der Studentenschaft an der Universität Graz war jedenfalls gravierend. Die Zahl der Studierenden sank vom Wintersemester 1937/38 bis zum Sommersemester 1938 von 2.015 auf 1.422. Der einzige größere Bombentreffer an der Universität zerstörte 1945 das Arbeitszimmer Ludwig Boltzmanns; Boltzmann war einer der bedeutendsten Wissenschafter, die je an der Universität gelehrt haben. Herr Prorektor, Prof. Dr. Heinz Mitter, hat in seinen Promotionsreden zu Recht darauf hingewiesen, daß dieser Bombentreffer symbolischer Schlußpunkt für die Mißachtung des Geistes war, die in den Jahren vorher erfolgt ist. Es ist bedrückend, feststellen zu müssen, daß die Hochschulen und die Wissenschaft im alten Österreich und in der Ersten Republik einen maßgeblichen Bei-



1.9. Ansprache anlässlich der Erneuerung akademischer Grade

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trag zu einem Geschehen geleistet haben, welches in die totale Mißachtung der Menschenwürde und des Geistes gemündet hat. Man spricht immer wieder von den sogenannten kleinen Leuten, die arbeitslos und hungrig im Nationalsozialismus den einzig möglich scheinenden Ausweg gesucht hätten. Legitimierenden und aktiven Anteil an jenen destruktiven Nährböden hatten jedoch Universitätslehrer und Studierende, dies gilt auch für die Universität Graz. Und es ist für mich auch bedrückend, feststellen zu müssen, daß sich an den Hochschulen nur da und dort eine vernehmbare Stimme der Kritik, der Warnung, des Widerstandes erhoben hat. Alles das sage ich nicht, weil ich mich für gescheiter, moralisch höher stehend oder mutiger betrachte. Ich anerkenne, daß jede Epoche, jede Generation, jede Entscheidungssituation Aspekte hat, die hic et nunc weder reproduzierbar noch gedanklich-emotional nachvollziehbar sind; daß Menschen auch durch die Zeit geprägt werden, in der sie leben; daß heroisches, nonkonformistisches Verhalten zwar leicht besungen, aber schwer gelebt werden kann. Keine Epoche, keine Generation, kein Mensch kann sich aber dem Urteil nachfolgender Generationen entziehen. Dieser Sachverhalt gilt auch für uns, die wir heute in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen und die wir Mütter und Väter sind, gegenüber den uns nachfolgenden Generationen. Heute muß man nüchtern das, was geschehen ist, analysieren. Man muß über die Vergangenheit informieren, auch darüber, daß einem das Hemd des eigenen Lebens und Fortkommens näher war als der Rock der Kritik und des Widerstandes. Man muß verlangen, daß diejenigen, die damals Entscheidungen getroffen haben, nichts beschönigen, nichts uminterpretieren und Verantwortung tragen für das, was getan oder unterlassen worden ist, dies auch heute noch. Wir müssen unsere Väter und Mütter bitten, uns die Wahrheit zu sagen, auch die Wahrheit ihrer Schuld und ihres Versagens. Und man muß nachdenken darüber, was man heute tun kann, Entwicklungen von damals in Gegenwart und Zukunft hintanzuhalten, eine Aufgabe, der auch die Universität verpflichtet ist. Es wird viel darüber gesprochen, wie Vergangenheit bewältigt werden kann. Unerläßlich sind dabei das Erinnern und das Einstehen für das, was getan oder unterlassen worden ist. Unerläßlich ist es, Schuld, Versagen und Unrecht, wann auch immer, wo auch immer und wem gegenüber auch immer geschehen, nicht einfach hinzunehmen und zur Ordnung des Tages überzugehen, sondern zum Anlaß zu nehmen, aktiv zu werden und beizutragen, daß Toleranz und Verstehen gestiftet werden. Unverläßlich ist es, Grenzlanduniversität in dem Sinn zu sein, gutnachbarliche Beziehungen zu Südosteuropa zu pflegen und Brücken zu schlagen zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen, Nationalitäten, Religionen und politischen Systemen. Und ich möchte gerade die heutige Promotion im Gedenkjahr an das Jahr 1938 auch als einen symbolischen Contrarius actus gegenüber allen jenen Hochschul-

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1. Werdegang und Leben

lehrern und Studierenden ansehen, die 1938 bis 1945 aus rassischen, religiö­sen oder politischen Gründen von der Universität vertrieben oder in ihren Rechten geschmälert worden sind oder die unter der Furie des Krieges gelitten haben. Als der Krieg vorbei war, standen Sie, meine verehrten Jubilare, vor einem Trümmerhaufen. Sie haben trotzdem nicht aufgegeben und sind nicht in resignierende, aggressive oder biedermeierliche innere Emigration gegangen. Sie haben sich diesem Trümmerhaufen gestellt und jene Leistungen vollbracht, die als materieller, geistiger und politischer Wiederaufbau den Grundstein für eine hoffentlich glückliche Geschichte der Zweiten Republik Österreich gelegt haben. Und Sie haben, auch wenn manche von Ihnen in alle Winde zerstreut worden sind, das Andenken an Ihre Alma mater gewahrt und der Karl-Franzens-Universität Graz Ehre gemacht. Wenn wir Sie durch die Goldene Promotion ehren, statten wir Ihnen und der Wiederaufbaugeneration, für die Sie stellvertretend hier stehen, auch ein wenig Dank ab für diese Ihre Leistungen. Wenn Sie heute durch die Universität Graz wandern, begegnet Ihnen in manchen Aspekten eine andere Universität als die, an der Sie studiert haben. Vor 50 Jahren gab es 2.500 Studenten, heute sind es fast 27.000 Inskriptionsakte, die bearbeitet, und 22.000 Studenten, die ausgebildet und betreut werden müssen. Die Universität Graz ist ein Großbetrieb geworden mit dieser Studentenzahl, mit 2.800 Bediensteten, 118 Instituten, Kliniken und besonderen Universitätseinrichtungen, fast 70 Studienrichtungen und mit Gebäuden, die auf 68 Stellen der Stadt Graz zerstreut sind. Dieser Großbetrieb hat zahlreiche Probleme. So reichen die Ressourcen kaum aus, um die Aufgaben in Forschung und Berufsvorbildung gut erfüllen zu können. Schwierigkeiten hat die Universität aber auch mit ihrem Selbstverständnis, das sie zwischen den Polen Humboldt‘sches Bildungsideal oder zweckorientierte Tätigkeit, Forschungseinrichtung oder Lehranstalt, bürokratische Organisation oder unternehmerisches Management sucht. Ich möchte Sie an Ihrem Ehrentag aber nicht mit unseren Sorgen und Problemen behelligen. Sie wissen am Beispiel Ihrer Kinder und Kindeskinder, daß auch die Ihnen nachfolgenden Generationen bereit sind, sich den jeder Zeit eigenen Problemen zu stellen und an deren Lösung mit Leistungskraft, Mut, Phantasie und Hoffnung mitzuwirken, auf diese Weise das Vorbild, das Sie gegeben haben, für das Heute aktualisierend in die Gegenwart und in die Zukunft hineinzutragen. Damit uns das aber immer wieder gelingt, brauchen wir Ihre stete Ermunterung, Ihr Beispiel, Ihre geistig-moralische Unterstützung, Ihr Verständnis auch über den Tag Ihres Ausscheidens aus dem Aktivdienst hinaus. Um diese Ihre Hilfe bitte ich Sie, und ich schließe mit dem Wunsch, daß Ihr Leben weiterhin ein gutes sein möge.



1.10. Grußworte von Rektor Christian Brünner

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1.10. Grußworte von Rektor Christian Brünner

in: „Denken und Glauben“, 22 bis 23/1986, 13

Ich habe selbst fünf Jahre lang die „Leechburg“ bewohnt, in einer Zeit des Aufbruchs und des Umbruchs, des Verlassens und Suchens in der Kirche, in der Kunst und in der Universität. Ich habe in diesen fünf Jahren keine Rezepte für mein privates Leben, für meine Fragen nach dem Sinn des Lebens, für mein Mich-Reiben an der Transzendenz, für meine Tätigkeit als Wissenschaftler, als Lehrer oder nunmehr als Rektor bekommen. Diese fünf Jahre haben mir auch keine Windungen, Täler und Brüche meines Lebensweges erspart, sie haben mich aber geprägt, sie haben mich weit gemacht, sie haben mir eine Unruhe implantiert, das weite Land immer wieder auszuloten, dabei auch den Ahnungen von Woher und Wohin Raum gebend.

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1. Werdegang und Leben

1.11. Christian Brünner, Gott in der Verfassung?

in: „Die Furche“, Nr. 23 vom 3. 6. 2004, 7

Theologen, Juristen, Philosophen beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit Vorschlägen auf politischer Ebene, Gott in die Verfassung zu schreiben. Ich möchte mich heute, obwohl Jurist, in diese fachwissenschaftlichen Debatten nicht einbringen. Ich äußere mich lediglich vor dem Hintergrund der spirituellen Dimension meines Menschseins. Eine Verfassung verfasst, wie das Wort schon sagt. Es wird etwas in eine Fassung gebracht. Die Fassung ist eine Form. Diese Form hat ein bestimmtes Erscheinungsbild. Die Fassung trennt das, was drinnen ist, von dem, was sich außerhalb der Verfassung befindet. Der Bedeutungsgehalt, dass es bei Verfassung um das (Ein-)Fassen geht, zeigt sich in verschiedenen Zusammenhängen. Wir verfassen einen Artikel, das heißt, wir bringen unsere Gedanken, Gefühle et cetera in die Form des geschriebenen (oder gesprochenen) Wortes. Sie trennt das Ausgesprochene vom Nichtausgesprochenen. Es mag mir, dem Sender, der Bedeutungsgehalt dessen, was ich schreibe (oder sage) klar sein. Der Empfänger mag mit dem Wort aber einen ganz anderen Bedeutungsgehalt verbinden. Oder: Ich bin in dieser oder jener Verfassung, d. h. ich bin in diesem oder jenem Zustand. Der Zustand ist eine Fassung oder eine Form. Er gibt mir eine nach außen sichtbare, mich von außen abgrenzende Kontur.

Verfassung ist apersonal Die Verfassung als Rechtsnorm ist apersonal. Wenn in der Verfassung vom Bundespräsidenten oder vom Landeshauptmann gesprochen wird, meint die Verfassung das Amt, die Institution mit den das Amt oder die Institution kennzeichnenden Kompetenzen. Der Mensch, der das Amt des Bundespräsidenten oder des Landeshauptmanns ausübt, ist kein Bezugspunkt der Verfassung. Dieses Apersonale der Verfassung und ihrer Institutionen mag der Hintergrund sein, warum eine Frau, die das Amt des Landeshauptmanns ausübt, sagt, sie wolle als „Landeshauptmann“ angesprochen werden. Auch Grundrechte in der Verfassung haben eine Verfasstheit, eine Trennlinie, eine Begrenzung durch den Geltungsbereich. Das Recht, den Landtag oder den



1.11. Gott in der Verfassung?

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Nationalrat zu wählen, steht nur österreichischen Staatsbürger(inne)n zu. Andere, den Staatsbürgern vorbehaltene Grundrechte wie zum Beispiel die Erwerbsfreiheit stehen allen Bürger/inne/n der Europäischen Union, nicht aber Ausländer/inne/n zu. Und selbst jene Grundrechte, die als Jedermannsrechte Menschenrechte sind, so zum Beispiel das Recht auf persönliche Freiheit, gelten nicht absolut, gelten nicht ohne Einschränkungen. Grundrechte bedürfen der Justiziabilität, sie müssen angewendet und durchgesetzt werden. Das durch das Grundrecht geschützte Schutzgut muss konkretisiert werden. Dabei sind Geltungsgrenzen, Schranken zu beachten, die ebenfalls der Konkretisierung bedürfen. Und Gott? Ist Gott eine Verfasstheit, etwas Begrenztes und Begrenzendes, etwas Apersonales, etwas in Verfahren und Anwendungssituationen zu Konkretisierendes? Gott in der Verfassung tut meinem Verständnis von Gott Gewalt an!

Gefangener Gott Gott ist das, was alles in sich einschließt, das Alpha und das Omega. Gott ist das Unendliche, die Aufhebung von Raum und Zeit. Gott ist das Grenzenlose, die Ganzheit. Gott ist die in mir gepflanzte Ahnung, woher ich komme und wohin ich gehe, eine Ahnung der Ausgesöhntheit. Gott ist der Ruf desjenigen, der sich in der Stunde der Finsternis verlassen meint. Gott ist überall, Gott durchflutet alles Sein und alles Nichtsein, das Belebte und Unbelebte, unabhängig davon, welches Bild sich der Mensch von Gott macht, welche Fassung er Gott gibt. Gott ist die Aufhebung von Bipolarität, Gott ist nicht Tag und ist nicht Nacht, Gott ist nicht Mann und ist nicht Frau, Gott ist nicht außerhalb und ist nicht innerhalb von Form oder Fassung. Als Bürger bin ich der Verfassung im Rahmen ihrer Fassung, ihres Geltungsbereichs, ihrer Grenzen, ihrer Relativität unterworfen. Als Mensch anerkenne ich keinen in der Verfassung gefangenen Gott, keinen Gott der Gefasstheit, der Form, der Begrenztheit.

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1. Werdegang und Leben

1.12. Christian Brünner, Vom Glanz und Elend der Universität

Bericht über die Amtszeit als Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz in den Jahren 1985 bis 1989 sowie als Prorektor und Raum- und Baubeauftragter im Jahre 1989/90, Graz 1990, 35–37

In meiner Inaugurationsrede im Herbst 1985 führte ich drei Tätigkeitsfelder an, denen ich mich in meiner Amtszeit als Rektor schwerpunktmäßig zuwenden wollte. Neben der Errichtung eines Außeninstituts und dem Ausbau der Internationalität nannte ich auch die Förderung der Kommunikation. Kommunikation bedarf allerdings auch äußerer Rahmenbedingungen, die an der Universität weitgehend fehlen. Ein „Kommunikationszentrum“ müßte (multifunktional) folgende Funktionen erfüllen: Raum für informelle und fachübergreifende Kommunikation, für Faculty Clubs, für Kongresse, für Sitzungen, für Ausstellungen, Film-, Dia- und Videoaufführungen, für musikalische Darbietungen, für Vorträge und Versammlungen, für Information und Beratung, Raum für Cafés, Buffets und Mensen, für Serviceeinrichtungen wie z. B. eine Bank, einen Buchladen etc. Bereits kurz nach meinem Amtsantritt bat ich Herrn Architekt Dipl.-Ing. Michael Kocher, Oberassistent am Institut für Hochbau für Architekten der Technischen Universität in Graz, im Rahmen seiner Lehrveranstaltung „Grundlagen der Gestaltung und des Entwerfens“, Wintersemester 1985/86, mit seinen Studierenden Entwürfe für ein Uni-Kommunikationszentrum im Hof des Hauptgebäudes der Universität – ein diesbezüglicher Vorschlag ging von der Österreichischen Hochschülerschaft aus – zu machen. Die fertigen Entwürfe wurden sodann der Öffentlichkeit im Rahmen einer Präsentation, die Herr Dr. Gerfried Sperl leitete, vorgestellt und prämiiert. Sie sind in einer kleinen Publikation auch dokumentiert. Einmal mehr schaltete sich auch die Landesbaudirektion des Amtes der steiermärkischen Landesregierung, mit deren Beamten ich bestens kooperieren konnte, helfend ein. Im Herbst 1987 erteilte die Fachabteilung IVa – Hochbauplanung – an das Institut für Hochbau für Architekten der Technischen Universität in Graz, Vorstand o. Univ.-Prof. Arch. Dipl.-Ing. Werner Hollomey, einen Auftrag betreffend die Ausarbeitung einer Studie bezüglich eines Kommunikationszentrums an der Karl-Franzens-Universität Graz. Die Studie wurde von den Universitätsassistenten Arch. Dipl.-Ing. Michael Kocher, Peter Javuregg, Erich Gruber und Dr.



1.12. Vom Glanz und Elend der Universität

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Wolfgang Heusgen erstellt und im Herbst 1988 übergeben. Sie untersuchte Ausgangssituation und Aufgabenstellung, recherchierte mögliche Standorte für ein Zentrum, erstattete Vorschläge für ein Raum- und Funktionsprogramm, konzipierte einen Vorentwurf, bot einen Erläuterungsbericht mit Berücksichtigung der ökonomischen und baurechtlichen Belange und fügte eine Sammlung internationaler Beispiele an. Als bestmöglicher Standort für ein Kommunikationszentrum kristallisierte sich der Innenhof des Hauptgebäudes heraus. Parallel zu den Planungsstudien führte ich auch Finanzierungsgespräche. Da mir von Anfang an klar war, daß der Bund die erforderlichen 50 Millionen Schilling nicht zur Verfügung stellen würde, recherchierte ich privat finanzierte, selbsttragende Finanzierungs- und Errichtungsmodelle. Bei diesen Recherchen war mir insbesondere Herr Generaldirektor Dr. Georg Doppelhofer ein kenntnisreicher und engagierter Gesprächspartner, wofür ich mich herzlich bedanken möchte. Obwohl der Senat meine Berichte über meine Bemühungen, im Bereich des Hauptgebäudes ein Kommunikationszentrum zu errichten, zustimmend zur Kenntnis genommen hat, sind die diesbezüglichen Planungen ins Stocken geraten. Vorsorge habe ich jedenfalls dafür getroffen, daß im Rahmen der Errichtung des ReSoWi-Zentrums in der Universitätsstraße 27 multifunktional zu nutzende Räumlichkeiten geschaffen werden. Traurig bin ich darüber, daß es mir nicht gelungen ist, die „alte Universität“ in der Bürgergasse der Universität zurückzugewinnen. Die Karl-Franzens-Universität ist die einzige der alten Universitäten in Österreich, die auf ihren Altbestand nicht zurückgreifen kann. Deponiert habe ich den Wunsch, daß die Universität wenigstens die Aula der alten Universität nutzen kann.

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1. Werdegang und Leben

1.13. Christian Brünner, Konzept für ein musisches Zentrum an der Karl-Franzens-Universität Graz

in: Grazer Universitätsreden: Christian Brünner, Vom Glanz und Elend der Universität. Bericht über die Amtszeit als Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz in den Jahren 1985 bis 1989 sowie als Prorektor und Raum- und Baubeauftragter im Jahre 1989/90, Graz 1990, 184–186

Konzept für ein musisches Zentrum an der Karl-Franzens-Universität Graz Zweck: Durch die kommerzielle Kunst- und Kulturszene der Gegenwart fehlt dem Menschen oft ein eigenständiges Gefühl für und eine eigenständige Sicht von Kunst und Kultur. Vor allem der junge Mensch ist verstärkt kommerziellen Tendenzen und modischen Trends ausgesetzt. Folgen dieses Sachverhalts sind oft Kunst- und Kulturmüdigkeit und das Fehlen der Motivation für eigene musische Aktivitäten. Auch an einer Universität soll den Studierenden Hilfe beim Zugang zu Kunst und Kultur gegeben und dadurch die Motivation für eigene musische Aktivitäten gestärkt werden. Die universitas ist zwar primär der analytisch-kognitiven Dimension des Menschen verpflichtet. Es sollten aber auch Zeichen gesetzt werden im Raum und im Selbstverständnis der Universität, daß Kunstsinn und musisches Aktivsein unverzichtbare Instrumente und Bestandteile der Bildung des Menschen, der Persönlichkeitsentwicklung und -gestaltung sind. Gewiß ist auch, daß die Wissenschaft des Dialogs mit der Kunst bedarf, um der Gefahr zu wehren, sich absolut zu setzen und um aus der Spannung wie Komplementarität der beiden Kulturbereiche fruchtbare Impulse zu empfangen. Räumlichkeiten: Im Zuge der Errichtung des ReSoWi-Zentrums könnten angrenzend an das Gebäude Universitätsstraße 27 multifunktionale Räume (z. B. auch für Kommunikationszwecke) geschaffen werden. – Räumlichkeiten für Informationen über das Grazer Kulturgeschehen, über Konzerte, Oper, Ausstellungen etc. – Räumlichkeiten für Administration und Organisation von Aktivitäten, Ver-





1.13. Konzept für ein musisches Zentrum

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anstaltungen von Seminaren wie z. B. der Musikwerkstatt, für Öffentlichkeitsarbeit etc. Hör- und Schauräume; Klassische Discothek, Ausstellung von Exponaten (universitätseigenen und/oder fremden; die Universität beherbergt sehr viele ausstellungswürdige Exponate; eine Art „Universitätsmuseum“ wäre möglich).

Veranstaltungen: – Musik- und Kunstwerkstattarbeit – Universitätschor und Universitätsorchester – offenes Singen und Musizieren; sonstige musische Aktivitäten – Theater – Einführungsvorträge – Konzerte und Konzertreihen in der Aula der Grazer Universität (auch mit Besprechungen und Einführungen) – öffentliche Proben – Ausstellungen etc. Leitung und Administration: Ein Vorstand, bestehend aus einem Vertreter des Akademischen Senates als Vorsitzendem und zwei Kulturschaffenden (z. B. Musikdirektor Prof. Alois J. Hochstrasser und akademischer Maler Mag. Peter Szyszkowitz), leitet das Zentrum. Ihm steht ein Sekretariat (Büro für Werbung, Organisation, Planung und Durchführung) zur Seite. Im Sekretariat sollte eine Person hauptamtlich tätig sein. Die erforderlichen Ressourcen könnten durch Lehraufträge (remuneriert und nicht remuneriert), durch Mitgliedsbeiträge und Sponsoren, durch Eintrittsgelder und Spenden aufgebracht werden.

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1. Werdegang und Leben

1.14. Christian Brünner, in: Austrian Remembrances of the International Visitor Leadership Program (ed.), 70 Years of People to People Exchanges, Vienna 2010/11, 12

My professional commitment as rector of the Karl-Franzens-Universität Graz (1985–1989), as chairman of the Austrian Rectors Conference (1987–1989) and as Member of Parliament (1990–1994) were the background for my interest in the university and political systems of the USA. I got insights into the characteristics of the American university system (diversity, accountability, institutional research, management, autonomy, etc.) and was able to introduce those insights into reforms of the Austrian tertiary educational system of 1993 (Fachhochschul-Studiengesetz, Universitäts-Organisationgesetz). I was also my party’s unofficial contact person for NGOs which fought against discrimination of homosexuality. Therefore, I was familiar with the different ways of discrimination in Austria. I was impressed with the partly open-minded approach in the United States. A Texan member of the House of Representatives frankly admitted to being gay, which was also well known by the widely conservative voters of his electoral district. And the Mayor, members of the City Council, delegations of police, fire department and emergency medical services marched at the top of the San Francisco (Federal) Love Parade. On the train from Philadelphia to New York I talked to a female delegate to the Democratic Convention, which took place in New York from July 13 to 16. This was the convention where Bill Clinton was named the presidential candidate. I decided to watch the Convention on TV rather than doing my planned sightseeing. My emotional bonds to the U.S. date back to my year in Minneapolis (1959/ 1960) as a scholarship student of the American Field Service, and I could deepen them in private meetings with many Americans. Culture and history, e.g. Chicago’s high-rise architecture, or the historical landmarks in Philadelphia, impressed me deeply. I celebrated the 4th of July in Austin (with its dying downtown). A planned visit to the Amish unfortunately was cancelled, which I still regret. My travel schedule says that I had to interrupt my program for three days on account of a „government emergency“ Because of a move by the Austrian Freedom Party (FPÖ), a candidate of the Austrian People’s Party (ÖVP) unexpectedly had the chance to be elected President of the Court of Auditors. The „electoral alliance“ ÖVP/FPÖ held 93 of 183 seats. In order not to jeopardize this majority I



1.14. 70 Years of People Exchanges

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was called back by faxes and telephone calls. On Wednesday, June 24, I flew from Greensboro to Vienna. I was met by a police car at the runway on Thursday, June 25 (my fellow travelers might have thought that I was a criminal), and I was immediately taken to Parliament where the candidate of the Austrian People’s Party was elected President of the Court of Auditors that afternoon. In the afternoon of Friday, June 26, I landed in San Francisco again to continue my program. Although completely worn out on account of my „election thriller“, I immediately started to explore this fascinating city. When I think of the United States, I do not feel like a foreigner or an observer but as somebody who has the privilege of sharing affectionate bonds with this nation. I am very grateful for this experience.

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1. Werdegang und Leben

1.15. Christian Brünner, in: Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin (Hrsg.), Homöopathie. Integration in das Gesundheitssystem? Tagungsbericht der Enquete der Steiermärkischen Landesregierung/ Gesundheitsressort vom 12. 3. 1998, 42 bis 44 Zu der Diskussion am Vormittag. Es ist klar, daß die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen nicht nur jeweils einen Wissenschaftsbegriff haben, sondern der Wissenschaftsbegriff wird in den jeweiligen Wissenschaften durch die Scientific Community kontrovers diskutiert, auch im Bereich der Naturwissenschaften, und das ist vollkommen selbstverständlich und nichts, was ein Problem im Wissenschaftsbereich bedeutet. Problematisch wird die Sache dann, wenn an einen bestimmten Wissenschaftsbegriff bzw. an einen bestimmten Begriff politische und rechtliche Folgen geknüpft werden, so z. B., daß eben Arzneimittel von den Sozialversicherungen nur dann bezahlt werden, wenn ihre Wirkung wissenschaftlich nachgewiesen wird und man unter „wissenschaftlich“ ein kausalanalytisches Vorgehen versteht. Problematisch ist das deswegen, weil es die Heilungschancen verkürzt, und, Herr Kollege Krejs, die Problematik wird nicht dadurch beseitigt, daß Sie Placebowirkungen nicht bestreiten. Vor diesem Hintergrund ist für mich folgerichtig, daß sich Politik und Rechtsordnung nicht vor den Karren eines bestimmten Wissenschaftsbegriffes spannen lassen dürfen, sondern sie müssen – Politik und Rechtsordnung – die Frage des Heilens ganzheitlich sehen, wenn sie sich als Dienst am Menschen verstehen. Ein zweiter Punkt: Meine persönliche Position zu den erfahrungsheilkundlichen Methoden und zur Homöopathie im besonderen ist gegeben aufgrund von Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Ich möchte nur zwei nennen. Eine erste Erfahrung als Pollenallergiker. Ich habe etliche Cortison- und Antihistaminpräparate probiert mit Erfolg, muß ich sagen. Aber ich wollte dann diese Arzneimittel meinem Körper nicht mehr zumuten und bin über den Rat von Freunden zur Akupunktur und Homöopathie gestoßen, auch mit Erfolg. Weil ich Wissenschafter bin, wollte ich in der Sache ein bißchen tiefer gehen und mich nicht nur mit diesen positiven Erfahrungen zufriedengeben, und habe ganz laienhaft und dilettantisch begonnen, mich mit der hermetischen Philosophie und mit der Lehre von den Urprinzipien und Archetypen zu beschäftigen. Bei dieser Philosophie und bei diesen Lehren steht das senkrechte Denken im Mittelpunkt



1.15. Homöopathie. Integration in das Gesundheitssystem?

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und nicht das waagrechte. Also nicht das kausale Denken, sondern das Denken in Analogien. Wenn man dem kausalen Denken das analoge Denken hinzufügt und wenn man den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist sieht, dann hat man überhaupt kein Problem, die Homöopathie und auch die anderen Methoden der Naturheilkunde in sein Menschen- und Weltbild zu integrieren. Und eine zweite Erfahrung habe ich gemacht, als ich Rektor der Karl-FranzensUniversität war, weil ich positive Erfahrung mit Homöopathie und Akupunktur gemacht habe, bin ich 1985 und 1986 ins Vorlesungsverzeichnis schauen gegangen, ob es eine Vorlesung in Homöopathie und Akupunktur gibt. Ich habe gesehen, es gibt keine, ich bin mit diesem Vorschlag in den akademischen Senat gegangen und habe den massivsten Widerstand der damaligen Medizinischen Fakultät erlebt. Ich habe nicht verstehen können, daß eine Fakultät, die, wenn man sie in Geld ausdrückt, sich in Milliarden Schilling repräsentiert, sich vor einer zweistündigen Lehrveranstaltung Homöopathie und Akupunktur fürchtet. Und diesen Widerstand habe ich versucht, zu hinterfragen. Ich habe mich gefragt, wenn etwas so bekämpft wird, dann kann das dahinter liegende Problem nicht gelöst oder „erlöst“ sein. Ein Drittes: Zu den Fragen, die mir in einem Brief von der Österreichischen Gesellschaft für Homöopathische Medizin gestellt worden sind: z. B. die wissenschaftliche Anerkennung der Homöopathie, das heißt für mich, daß der Begriff Wissenschaft plural zu sehen ist vor dem Hintergrund verschiedener Methoden, daß Homöopathie in die Sozialversicherungsleistungen integriert werden muß, auch in das Krankenhaussystem, daß die Homöopathie nicht ein Privatvergnügen einzelner ist und daß die Leistungen der Schulmedizin, so groß sie auch sein mögen, nicht genügen. Und wenn mir die Frage gestellt wurde in diesem Brief „Homöopathie und Sparpakete“, dann möchte ich folgendes festhalten: Die Fortschritte, mit denen wir in Zukunft, was heißt in Zukunft, morgen und übermorgen, konfrontiert sein werden, Fortschritte in der Medizintechnik, Fortschritte in der Biotechnik, in der Pharmakologie, diese Fortschritte werden dem Gesundheitswesen ein x-Faches von dem kosten, was die Integration der Homöopathie in das Gesundheitswesen kosten würde. Das heißt, es geht bei der Finanzierung um eine Gesamtbetrachtung. Notwendig scheint mir allerdings auch, daß man sich mit den geistig-weltanschaulichen Grundlagen, dem Denken z. B. eines Paracelsus oder anderer, beschäftigt – ich habe die hermetische Philosophie, dieses Denken in Analogien, schon genannt – auch die Lehre von den Urprinzipien und Archetypen herauf bis zur Archetypenlehre von C. G. Jung. Es scheint mir deswegen ganz wichtig zu sein, denn wenn man das täte, dann würden manche Forscher auf dem Gebiete der Homöopathie nicht der Beweisbarkeit der Wirkung der Homöopathie im Sinne

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1. Werdegang und Leben

eines analytisch-kausalen Denkens nachlaufen. Das kann nicht funktionieren. Da wird man immer auf die Nase fallen. Aber wenn man das täte, dann würde man Potenzieren nicht mit Verdünnen gleichsetzen. Sondern dann würde man sehen, was Potenzieren tatsächlich meint, nämlich nach Möglichkeit reine Information dadurch zu gewinnen, daß ich die Gabe nach Möglichkeit von allem Materiellen entkleide, und das scheint mir ja darin zum Ausdruck zu kommen, je höher die Potenz, umso größer sollen die Intervalle des Einnehmens der Gabe sein. Und wenn man das täte, diese Beschäftigung mit den geistigen, weltanschaulichen, menschenbildlichen Hintergründen, dann hätte man auch, wenn Sie so wollen, eine philosophische Grundlage für das Einfordern der Selbstverantwortung des Menschen für seine Gesundheit. Ich bin schon am Schluß. Worum geht es? Es geht um die Integration verschiedener Denkrichtungen und Methoden, um den Menschen das Heilwerden zu erleichtern. Dazu gehören auch die Naturwissenschaften, diese gehören selbstverständlich integriert.



1.16. Newsletter / Space Law July 2002

1.16. Newsletter / Space Law July 2002

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 39: Österreich im All – das Austromir-Projekt: Verabschiedung der drei Kosmonauten in Baikonur/Kasachstan am 2. 10. 1991 (privat)

Abbildung 40: Österreich im All – das Austromir-Projekt: Beobachtung des Starts der Sojus-Rakete TM 13 mit Franz Viehböck an Bord, in Baikonur/Kasachstan, unter anderem durch den kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew und Christian Brünner am 2. 10. 1991 (ORF)



1.16. Newsletter / Space Law July 2002

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Abbildung 41: Österreich im All – das Austromir-Projekt: Start der Sojus-Rakete TM 13 mit Franz Viehböck an Bord, in Baikonur/Kasachstan 1991 (privat)

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1. Werdegang und Leben

1.17. Paragraphen im Himmel

Norbert Swoboda in: „UNIZEIT“ 3/2004, 10–11

Christian Brünner richtete an der Uni Graz die österreichische Zentrale für Weltraumrecht ein. Wer als JuristIn hoch hinaus will, kann den Weg über das Weltraumrecht wählen. Seit drei Jahren ist Christian Brünner Kontaktstelle des European Centre for Space Law (ECSL) und bündelt an der Universität Graz die österreichischen Aktivitäten auf diesem Gebiet. Gerade für Studierende bieten sich reizvolle Ausblicke. Buchstäblich aus „heiterem Himmel“ kam die Bitte: Ob der Herr Professor nicht das Thema Weltraumrecht in seinen Kanon aufnehmen könnte? Weltraumrecht? O. Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner vom Institut für Österreichisches, Europäisches und Vergleichendes Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre an der Karl-Franzens-Universität, war zunächst verblüfft: „Ich bin ja kein Experte für diese Materien.“ Aber jemand musste im österreichischen Uni-Juristenhimmel dieses „schwarze Loch“ füllen, denn lange schon suchte das Ministerium eine/n Ansprechpartner/in zum Thema Weltraumrecht. Tatsächlich war die diesbezügliche europäische Organisation ECSL mit Sitz in Paris vor allem dahinter, dass ein offizieller „Andockpunkt“ in Österreich errichtet wird. Bei Brünner „landete“ also letztlich das Weltraumrecht und mittlerweile hat das Fach schon einen beachtlichen Start hinter sich. Höhepunkt bisher war die Organisation des 13. Sommerkurses der ECSL in Graz im September 2013. Offiziell heißt die Grazer Stelle übrigens „National Point of Contact Austria“ (NPOC Austria).

Veraltete Rechtsgrundlagen Das Weltraumrecht basiert im Wesentlichen auf jenen fünf internationalen Vereinbarungen, die in den 60er- und 70er-Jahren über die UNO zur Nutzung des Weltraums abgeschlossen wurden. Zum Teil sind die Verträge Kinder des „Kalten Krieges“, zum Teil regeln sie Haftungsfragen – etwa nach dem Absturz eines Satelliten. „In diesen Jahren war die hohe Zeit des Space-Law. Österreich hat damals als neutrales Land eine ganz beachtliche Rolle bei der Formulierung der internationalen Abkommen gespielt“, erinnert Brünner an die Anfänge.



1.17. Paragraphen im Himmel

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Neue Anforderungen Die Frage bleibt dennoch: Was hat ein derart „exotisches“ Recht auf universitärem Boden verloren? „Es ist ein besonders interessantes und spannendes Gebiet für die Studierenden“, betont Brünner. „Dazu handelt es sich um einen politisch-gesellschaftlich relevanten Bereich, der immer bedeutender wird. Man muss nur an das Galileo-Projekt denken, die europäische Antwort auf das GPS-System der USA.“ Mehr und mehr spielt auch das Privatrecht eine Rolle, weil der Weltraum immer stärker kommerziell genutzt wird. „Da entstehen Arbeitsplätze in der Industrie und daher auch für JuristInnen“, sagt Brünner. Ein Hoffnungsgebiet ist etwa der Weltraumtourismus, der auch an die rechtliche Seite neue Anforderungen stellen wird. Ein weiterer Pluspunkt aus Sicht der Studierenden: „Mir war zunächst gar nicht bewusst, wie viele Regierungsstellen und auch NGOs sich mit dem Thema befassen. Als Student oder Studentin hat man daher die Chance, zu internationalen Tagungen zu fahren.“ Brünner verweist auf eine Liste von Veranstaltungen, an denen seine Studierenden bisher teilgenommen haben. Im Rahmen der Diplomarbeiten und Dissertationen kamen einige sogar bis nach Australien. Eng ist dabei die Zusammenarbeit mit dem Außenministerium in Wien. Brünner hat mittlerweile auch an den anderen Universitäten mit juridischen Fakultäten in Österreich „Sub-Andockpunkte“ errichtet, weiterhin bleibt aber der Schwerpunkt in Graz. Dies dokumentiert der jüngste ECSL Summer Course, der erstmals in Österreich stattgefunden hat. Dabei versammelten sich von 6. bis 18. September insgesamt 53 Studierende aus der ganzen Welt in Graz, 36 Vortragende lieferten Aspekte zum Weltraumrecht. In Workshops mussten dann die TeilnehmerInnen Fälle ausarbeiten. Ihre Arbeiten sind schlussendlich von einer Jury bewertet worden. Die Sommerkurse werden übrigens mit fünf ECTS-Punkten als Lehrveranstaltungen an der juridischen Fakultät angerechnet.

Viele offene Fragen Tatsächlich ist die Spannweite des Weltraumrechtes groß, und die Rechtsmaterie ist zudem in Fluss. In vielerlei Hinsicht ähnelt das Space-Law dem internationalen Seerecht. „Immer wichtiger werden heute zusätzliche bilaterale Abkommen“, so Brünner. Es geht um Fragen der Haftung, wenn beispielsweise ein Satellit abstürzt und Schäden verursacht. Oder wenn sich in Zukunft etwa Blinde auf die Hilfe von GPS-Daten verlassen: Wer haftet bei einem Ausfall oder bei einer Fehlfunktion? Auch Grundrechte werden bei der Erdbeobachtung tangiert: Wie sieht es hier mit dem Datenschutz aus? Wie wird die Privatsphäre gewahrt, was passiert mit

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1. Werdegang und Leben

den Daten? Welche Länder haben unter welchen Bedingungen Zugang zu Erdbeobachtungsdaten? Seit 2002 erscheint ein Space Law Newsletter, das die heimischen und internationalen Aktivitäten in diesem Bereich zusammenfasst. Das ist übrigens einzigartig: Kein anderes Land verfügt über einen solchen Dienst, der sich auch an interessierte Kreise in der Industrie richtet. Ein besonderer Schwerpunkt in Graz ist die Betreuung der ost- und südosteuropäischen Länder. Das Europäische Institut für Weltraumrecht hat Brünner beauftragt, besonders in diese Staaten zu wirken, die noch nicht oder nur teilweise an die EU-Weltraumaktivitäten angedockt sind. Hausintern wird jetzt sozusagen die zweite Stufe gezündet: Ab dem Wintersemester 2004/2005 bieten Brünner und Mag. Alexander Soucek die zweistündige Vorlesung „Weltraumrecht“ an, die in englischer Sprache abgehalten wird. Parallel dazu entsteht ein Lehrbuch: „Weltraumrecht. Eine Einführung“.



1.18. Das Gesetz der Sterne

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1.18. Das Gesetz der Sterne

Gerhild Kastrun in: „UNIZEIT“ 4/2009, 18–19

Der Weltraum – unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2009. Seit über vier Jahrzehnten gelten auch im All rechtliche Bestimmungen. Denn das rege Treiben von mehr als tausend Satelliten im Orbit verlangt nach strikten Regulierungen. Während ExpertInnen die Lücken der alten Verträge füllen, boomt auf der Erde der Space Tourismus. Sterne zählen, Sternschnuppen sehen, Sternzeichen finden: Während viele seiner BeobachterInnen mit dem Weltraum schöne, alltägliche Erlebnisse verbinden, ringen JuristInnen um einen Ausbau der rechtlichen Lage des Alls. Auch ohne menschliches Leben ist hier das irdische Gesetzbuch gefordert: Über tausend im Orbit aktive Satelliten, eine Vielzahl von Raumstationen und Raketen, wollen – einem Kreisverkehr gleich – geregelt werden. Die „Technik von oben“ ist sehr wichtig: Ohne sie könnte die Erde schnell blau machen. Wunder Weltraum. „Moderne Telekommunikation, Navigation und Erdbeobachtungen wären ohne Weltraumtechnologie nicht möglich“, erklärt o. Univ.Prof. Dr. Christian Brünner vom Institut für Österreichisches, Europäisches und vergleichendes öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre der Uni Graz. Punktgenau abgebildete Verkehrswege und Wanderrouten, Schiffsnavigation, Telefonie, Fernsehen, Radio – ein Alltag ohne diesen Komfort oder jene Sicherheit ist fast unvorstellbar. „Im Bereich des Katastrophenmanagements hat sich besonders viel getan“, erzählt Brünner, der acht Jahre die nationale Kontaktstelle des Europäischen Zentrums für Weltraumrecht (European Centre for Space Law, kurz ECSL) leitete. „Die Vorwarnzeit bei Stürmen wurde auf 48 Stunden ausgedehnt. Auch in Seenot geratene Schiffe können mittels Satellit genauer lokalisiert werden.“ Für den Alltag ergeben sich ebenfalls Vorteile durch die Weltraumnutzung: Pro Jahr listet die NASA rund 1.800 Möglichkeiten auf, wie kosmonautische Technologien auf der Erde gut genutzt werden können. Viele davon bewegen sich im medizinischen Bereich: PatientInnen, die an Muskelschwund oder spastischer Lähmung leiden, können mit einem speziellen Raumfahrtanzug erste, eigene Schritte machen. „Der Adeli-Anzug war ursprünglich entwickelt worden, um Bewegungs-

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1. Werdegang und Leben

störungen der AstronautInnen in der Schwerelosigkeit des Weltraums zu verhindern“, erzählt Brünner. Er stabilisiert den Körper und funktioniert wie ein zweiter Muskelapparat, der das zentrale Nervensystem anregt, Impulse auszusenden. Auch viele Fitnessgeräte funktionieren ähnlich. Rechtliche Linien. Die bedeutende Rolle der Weltraumforschung wurde schon lange vor diesen Anwendungsmöglichkeiten entdeckt. Der Beschluss, Richtlinien zu setzen, folgte auf dem Fuß. Im Jahr 1961 wurde ein ständiges Komitee der UNO, das über die friedliche Nutzung des Weltraums wachen sollte, eingerichtet. „Nachdem die UdSSR für Sputnik und die erste Interkontinentalrakete verantwortlich war, bestand seitens der USA die Befürchtung, der Kalte Krieg könnte im Weltraum ,heiß‘ werden“, sagt Brünner. In den darauffolgenden Jahren entstanden die fünf völkerrechtlichen Verträge – „das Herzstück des Weltraumrechts“, so der Jurist. „In diesen Verträgen werden Themen wie Rettung von AstronautInnen in Not oder Registrierungen von Weltraumobjekten festgeschrieben.“ Auch das Thema „Haftung“ ist genauestens geregelt, denn bei der Vielzahl der umherschwirrenden Geräte sind Zusammenstöße keine Seltenheit. Drei Bereiche werden in den Verträgen abgedeckt: Schadensvorfälle beim Start eines technischen Gerätes ins All, bei seiner Wiederkehr und Unfälle im Weltraum. „Wenn zwei Satelliten zusammenprallen – so wie erst im Februar 2009 – und Schäden auf der Erde oder an einem Flugzeug verursachen, haftet der Startstaat unabhängig vom Verschulden“, illustriert Brünner die Regeln mit einem Beispiel. „Sollte ein Satellit aber beispielsweise eine Raumstation rammen, haften die ErbauerInnen des Satelliten nur im Falle eines Verschuldens.“ Obwohl es heute viel mehr technische Möglichkeiten in der Raumfahrt gibt, sind die völkerrechtlichen Verträge wie in Stein gemeißelt – inhaltliche Updates bleiben aus. Das jüngste Abkommen in dieser Reihe ist bereits dreißig Jahre alt: Der Mondvertrag ist nach wie vor in seiner Formulierung etwas schwammig und verweist auf ein weiteres Abkommen, das die Nutzung etwaiger Bodenschätze am Erdtrabanten regelt – dieses gibt es allerdings noch nicht. Brünner sieht noch einige weitere Lücken in den fünf Verträgen, die seit ihrer Ratifizierung nur um Verhaltenskodizes – also um nicht bindende Empfehlungen – erweitert wurden. „Themen wie die Privatisierung und Kommerzialisierung des Weltraums werden zum Beispiel gar nicht angesprochen.“ Dabei entwickelt sich der Space Tourismus zum veritablen Geschäft: Neunzigminütige Ausflüge in eine Entfernung von 110 Kilometer kosten derzeit zwar noch rund 160.000 Euro, Brünner prognostiziert aber einen rapiden Verfall der Preise in den kommenden Jahrzehnten. Mehr Menschen im All bedeuten in vieler Hinsicht dasselbe wie auf Erden: mehr Müll. Eine genaue Regelung dieses Problems fehlt auch Tausende Kilometer fern des blauen Planeten. „Der Weltraum ist heute schon stark ver-



1.18. Das Gesetz der Sterne

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schmutzt. Herumsausende Teilchen von kaputten Satelliten können andere Geräte oder Raumstationen beschädigen und hohe Reparaturkosten verursachen oder sogar Menschenleben fordern“, so der Wissenschafter. Eine Art „Staubsauger“-Satellit, der im Weltraum Klarschiff machen soll, ist in Entwicklung. Lücken und Falltüren. Noch ein Bereich verträgt eine inhaltliche Verbesserung, ist Brünner überzeugt: Der erste der fünf Verträge legte 1967 fest, dass kein Staat an den Himmelskörpern Eigentum nehmen darf. „Dieser Teil des Weltraumrechts müsste konkretisiert werden. Denn amerikanische Privatfirmen bieten Stücke des Mondes zum Verkauf an – da sie ja keine Staaten sind“, verweist der Weltraumrechts-Experte auf juristische Falltüren zwischen Himmel und Erde. Um Licht in die Weite des Weltraumrechts zu bringen und diesen relativ neuen juridischen Bereich für alle Interessierten verständlich aufzubereiten, hat Brünner 2013 ein Forschungsprojekt gestartet. Gemeinsam mit Mag. Alexander Soucek, Programmkoordinator bei der Europäischen Weltraumbehörde ESA, arbeitet Brünner an einem Handbuch, das als „Grundkurs Weltraumrecht“ fungieren soll. „Outer Space – An Ever Growing Issue in Society and Politics“ bietet sowohl faktische als auch rechtliche Einblicke in die Geschichte und Bedeutung des Alls und seines Rechts. „Die Weltraumindustrie ist auch ein extrem wichtiger ökonomischer Faktor geworden“, weiß Brünner, der seit sechs Jahren Mitglied des Vorstandes des Europäischen Zentrums für Weltraumrecht ist und kürzlich auch in die Internationale Akademie der Astronautik gewählt wurde. Seit fünf Jahren bietet der Jurist auch Seminare zum Thema an. „Das All ist nicht nur für die Forschung interessant. Studierenden eröffnen sich unzählige Berufsfelder in Firmen und Organisationen“, ist Brünner überzeugt. Auch in diesem Bereich sind die Weiten des Weltraums unendlich.

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1. Werdegang und Leben

Abbildung 42: Christian Brünner mit Bundesminister für Wissenschaft und Forschung Karlheinz Töchterle anlässlich der Überreichung des vom Bundespräsidenten verliehenen Großen Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich im Audienzsaal des Ministeriums am 19. 12. 2011 (Foto Haslinger)



1.19. Auf leisen Sohlen

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1.19. Auf leisen Sohlen

Maria Clodi

Bei Erreichen der Anfrage zur Erstellung eines Beitrages für die Festschrift zu Ehren des 70. Geburtstages von Prof. Brünner, bin ich 38 Jahre alt und arbeite als selbstständige Rechtsanwältin in Zürich. Seit 15 Jahren fernab der österreichischen Politik und rechtswissenschaftlichen Lehre, bin ich nicht berufen, mich zu fachlichen Themen zu äußern, sondern möchte den Lesern1 von meinen höchst persönlichen Eindrücken und Erinnerungen an die Lehrtätigkeit von Prof. Brünner erzählen. Wenn Christian Brünner das Auditorium betrat, so tat er dies stets leise und unaufdringlich. Vor zwanzig Jahren war das nicht selbstverständlich; ich erinnere mich an Professoren mit Stahlplatten an den Schuhen, deren Präsenz bereits auf dem Gang unüberhörbar war; an Mitglieder schlagender Studentenverbindungen, deren Gesinnung sich buchstäblich im Gesicht einprägte, und an Gelehrte, die gerne damit kokettierten, auf die Studentinnen mehr körperliche als intellektuelle Reize auszuüben. Christian Brünner war wohltuend anders. Er war bescheiden, aber immer höchst präsent. Er wusste, welche Studenten seine Botschaften verstanden und welche sie nur gehört hatten. Selbstherrlichkeit und Standesdünkel waren ihm fremd und er reagiert auf Beweihräucherung mit großem Widerwillen. Christian Brünner förderte und forderte uns Studierende auf nachhaltige Weise. Seiner Begeisterung für sein Fach verdanken wir, dass wir die Verfassungsbestimmungen nicht nur als Fundament der Österreichischen Republik wahrnahmen, sondern sie als Arbeitsinstrumente für unsere juristische Tätigkeit einzusetzen lernten. Meine Erinnerung an die Lehre von Prof. Brünner ist ganz besonders durch seine Auseinandersetzung mit zwei zentralen Themen des österreichischen Verfassungsrechts geprägt: der Bereitschaft der Österreicher, die Rechte von Minderheiten zu wahren, und dem Umgang der Bürger mit den demokratischen Institutionen. Bis heute haben diese Fragen nichts an Aktualität eingebüßt und sie sind auch in der Schweiz omnipräsent. 1 Der einfacheren und angenehmeren Lesbarkeit wegen beschränke ich mich auf die männliche Form. Sie steht in allen folgenden Nennungen für beide Geschlechter.

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1. Werdegang und Leben

Als ich nach Zürich kam, erlebte ich, wie es sich anfühlt, einer Minderheit (in diesem Fall den „Ausländern“) anzugehören, und ich lernte die Auswirkungen der direkten Schweizer Demokratie auf den Alltag kennen. Aus diesem Grund erlaube ich mir, einen kurzen Blick auf meine Erlebnisse in der Schweiz mit Bezug auf die beiden oben genannten, von Prof. Brünner stets so intensiv diskutierten Themen.

Zur Wahrung der Minderheitenrechte Zwanzig Jahre nachdem ich die Vorlesungen von Prof. Brünner besuchte, hielt Dr. Josef Ostermayer, der Österreichische Staatssekretär für Medien und Koordination im Bundeskanzleramt, im März 2013 am Europa-Institut der Universität Zürich einen Vortrag über die Kärntner Ortstafellösung. Während neunzig Minuten schilderte er das jahrzehntelange politische Ringen und verkündete am Ende stolz, dass mit der Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln in 24 Gemeinden Art 7 Z 3 des Österreichischen Staatsvertrages von 1955 endlich erfüllt worden sei. Die Schweizer Studierenden nahmen diese Begeisterung des Österreichischen Staatssekretärs mit Stirnrunzeln und einem gewissen Befremden zur Kenntnis. In Art 4 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist festgehalten, dass die Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sind. Die Bundesverfassung der Eidgenossenschaft legt die Sprachgebiete der Schweiz jedoch nicht fest, sondern erteilt den Kantonen die Kompetenz, ihre Amtssprachen selbst zu bestimmen. Der Kanton Graubünden erließ, gestützt auf diese Kompetenz, am 19. Oktober 2006 ein kantonales Sprachengesetz, wonach Gemeinden mit einem Anteil Angehöriger einer angestammten (gemeint ist rätoromanischen) Sprachgemeinschaft von mindestens 20 Prozent als mehrsprachige Gemeinden gelten. Liegt dieser Anteil bei mindestens 40 Prozent, ist sogar ausschließlich Rätoromanisch kommunale Amts- und Schulsprache. Einziger „Schönheitsfehler“ dieser Lösung ist, dass die rätoromanische Amtssprache Rumantsch Grischun ein (künstlich) geschaffenes Hoch-Romanisch ist, welches die regionalen, sprachlichen Eigenheiten und Dialekte in den Hintergrund treten lässt. Dieser Aspekt war und ist Anlass politischer Auseinandersetzungen. Dass die deutschsprachige Mehrheit die bedrohte Landessprache Rätoromanisch jedoch erlernt und gebraucht, um diese zu schützen, entspricht dem Bedürfnis der Eidgenossen nach Pflege, Erhaltung und Förderung der Minderheitensprachen und wird als Beitrag zu einem umfassenden Minderheitenschutz verstanden.



1.19. Auf leisen Sohlen

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Zu den demokratischen Institutionen Die Wahlsysteme Österreichs und der Schweiz sind beide mehrheitlich vom Proporzwahlsystem geprägt. Dasjenige der Schweiz erlaubt jedoch sehr viel mehr Eingriffe in die Zusammensetzung der Parteilisten. Es ist nicht nur erlaubt, beliebige Kandidaten von der Wahlliste zu streichen, sondern auch Kandidaten doppelt aufzuführen, um ihre Wahlchancen zu erhöhen. Einzelne Kandidaten anderer Parteien können auf gestrichene Positionen der Wahlparteiliste gesetzt werden oder der Wähler kann auf die Verwendung einer Parteiliste ganz verzichten und seine eigene Kandidatenliste zusammenstellen. Nur wem dies zu aufwendig ist, muss zu der in Österreich oft bemühten Plattitüde greifen, die Partei des „kleinsten Übels“ gewählt zu haben. Auch in Sachfragen sind die Eidgenossen gefordert. Mittels Referenden stimmen sie über Gesetzesvorlagen ab und mit Volksinitiativen können sie jederzeit eine Revision der Bundesverfassung verlangen. Auf kantonaler und kommunaler Ebene gehen die Mitbestimmungsrechte sogar noch weiter. Reine Parteipolitik verliert dadurch an Bedeutung und Argumente in Sachfragen entscheiden darüber, ob eine Partei ihre politischen Ziele erreicht oder verfehlt. Wer mitentscheiden will, tut in der Schweiz deshalb gut daran, sich zunächst umfassend zu informieren. Der Lohn für diese Mühen besteht in einer hohen demokratischen Legitimität und weitreichenden Akzeptanz der Abstimmungsergebnisse. Der Zürcher Ökonom Bruno S. Frey ist sogar davon überzeugt, dass diese verfassungsmäßig garantierten Mitbestimmungsrechte die Lebenszufriedenheit der Bürger erhöhen und sie damit glücklich machen. Da stellt sich nur die Frage, warum das derart beglückte Schweizervolk eine der höchsten Suizidraten der Welt beklagt? Christian Brünner hätte bestimmt ebenso gute juristische, ökonomische oder soziologische Argumente für die Überlegenheit des politischen Systems in Österreich. Mit Bestimmtheit aber würde er mich auffordern, mein derart unreflektiertes Lob der direkten Demokratie der Schweizerischen Eidgenossenschaft kritisch zu hinterfragen. Christian Brünner war und ist ein Lehrer, der in Sachfragen stets eine fundierte Meinung hatte, aber dennoch offen blieb für Gegenargumente. Er lehrte, ohne zu belehren, und er war überzeugend, aber nicht missionarisch. Die Rechtswissenschaft war ihm spürbar kein Broterwerb, sondern Passion, und er übte seine Professur mit höchster Professionalität, Umsicht und stets einer Prise Humor aus. Christian Brünner kam auf leisen Sohlen – aber seine Spuren waren richtungsweisend.

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1. Werdegang und Leben

1.20. Christian Brünner als akademischer Lehrer

Mimo Hussein

1. Einleitung Eingangs möchte ich ausführen, dass im Nachfolgenden ausschließlich meine persönliche Wahrnehmung bzw. persönliche (großartige) Erfahrung mit Christian Brünner als akademischem Lehrer im Fokus steht und sohin diese Wahrnehmung/ Erfahrung unter dem Aspekt der Authentizität – fachliche oder literarische Gepflogenheiten treten dabei in den Hintergrund – exakt und möglichst detailgetreu festhalte. Im Nachfolgenden wird dem Leser damit meine Erinnerung an Christian Brünner als akademischen Lehrer „unverwaschen“ nähergebracht. „Unverwaschen“ bedeutet dabei wirklich, dass ich diese Erfahrungen weder beschönigt noch sonst wie verändert habe, wie dies die Leser/innen auch anhand meiner Darlegung, betreffend meine seinerzeitige (ein wenig festgefahrene) Studiensituation, klar erkennen können. Es ist kein Geheimnis und ist dies auf den nachfolgenden Seiten entsprechend nachzulesen, meine Erfahrung mit Christian Bünner war eine durchwegs sehr positive und großartige Erfahrung. Ich lege dabei jedoch sehr großen Wert darauf, dass ich dies nicht so schildere, etwa weil ich an dieser Festschrift mitwirken darf oder ich Schelte von Christian Brünner befürchte (welche ohnedies bei Christian Brünner niemals zu erwarten wäre, vielmehr eine – möglicherweise durchaus hitzige – Diskussion), nein völlig gegenteilig, meine nachfolgend dargelegten Erfahrungen spiegeln zu 100 Prozent das wider, wie ich Christian Brünner als akademischen Lehrer in einem kleinen Seminar (Teilnehmerzahl nicht ganz 20 Personen) erleben durfte. Wenn also nichts Negatives ausgeführt wird, dann ausschließlich deshalb, weil es nichts Negatives gibt. Informativ wird bemerkt, dass ich nicht im Geringsten ein Problem damit hätte, negative Erfahrungen mit Christian Brünner als akademischem Lehrer in dieser Festschrift festzuhalten, ob dieser Beitrag dann gedruckt würde, ist ein anderes Thema.



1.20. Christian Brünner als akademischer Lehrer

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2. Unvergessliches Wintersemester 2009/2010: Bereits stark gezeichnet von den Mühen des langwierigen 2. Studienabschnitts mitsamt seinen umfangreichen Fachprüfungen hatte ich schon ein Semester zuvor den öffentlichen Rechtsbereich als gewählten Spezialisierungsbereich im 3. Studienabschnitt begonnen. Rechtzeitig durchstöberte ich somit das unter Grazer Studierenden allseits bekannte „UGO“ (Uni Graz Online) mit all seinen Tücken und Macken – noch heute ist mir dieses Anmeldesystem, welches mich nicht nur einmal in meiner Studentenlaufbahn just in den Momenten, wenn es darauf ankam, mit einer geradezu prognostizierten Selbstverständlichkeit etwa durch Abstürze oder durch stark verzögertes Reagieren im Stich und damit meinen Aufenthalt auf der Universität um ein Semester verlängern ließ, erinnerlich – und entdeckte, dass von Universitätsprofessor Dr. Christian Brünner (im Folgenden: Christian Brünner) gehaltene Seminar: „Reformen des öffentlichen Rechts“. Nachdem ich das Anmeldeprozedere diesmal (ausnahmsweise) erfolgreich hinter mich gebracht hatte, war es dann glaube ich an einem Oktobertag – das exakte Datum ist mir nicht mehr erinnerlich und ich bitte, einen allfälligen Fehler, sollte das Seminar etwa erst im November begonnen haben, zu verzeihen – so weit. Es war das erste Mal in meiner Studentenlaufbahn, dass Christian Brünner in einer von mir besuchten Lehrveranstaltung als akademischer Lehrer vorgesehen war, und so war er mir bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht näher bekannt. In diesem Zusammenhang muss ich jedoch an dieser Stelle wohl oder übel erstmalig öffentlich bekennen (man sieht, ich „verwasche“ keineswegs die Realität), dass ich damals mit Ausnahme der anwesenheitspflichtigen Seminare Lehrveranstaltungen, insbesondere Vorlesungen, (leider) zu meiden versuchte, um dann nur zu den (Fach-)Prüfungen zu erscheinen. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass diese Vorgehensweise nicht ratsam ist und ich diese auch nicht mehr wählen würde, wie ich dies nachträglich mit Blick auf Prüfungsergebnisse erkannt habe. Freilich kannte man/ich Christian Brünner jedoch aus den Medien und auch aus der Politik. Der Satz, mit dem sich dieses Kennen zu diesem Zeitpunkt am trefflichsten beschreiben ließe, würde in etwa so lauten: „Ach, der war ja mal bei der ÖVP und beim LIF und war im Nationalrat.“ Weiters war er unter uns Studierenden selbstverständlich – wie viele der anderen Univ.-Prof. auf ihren jeweiligen Gebieten – als „Kapazunder“ des öffentlichen Rechts bekannt und für seine anspruchsvollen Fachprüfungen auch nicht ganz ungefürchtet.

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1. Werdegang und Leben

So fällt es mir an dieser Stelle nunmehr ein, dass ich mir im Zuge der Vorbereitung auf die Fachprüfung Verwaltungsrecht ein Casebook aneignete, in welchem sich unter anderem ein von Christian Brünner in Zusammenarbeit mit Univ.-Prof. Dr. Gerhard Schnedl konzipiertes Fallbeispiel fand. Es erübrigt sich wohl an dieser Stelle auszuführen, dass ich dieses Beispiel nicht bzw. vollkommen unrichtig löste, und nach Durchsicht der Bezug habenden anspruchsvollen Lösung zum schnellen Ergebnis gelangte: „Ui, aufpassen, wer dein Prüfer ist!“ An diesem Oktobertag 2009 begab ich mich nun in den 4. Stock, wo das Seminar „Reformen des öffentlichen Rechts“ stattfinden würde, und traf dort auf die bereits vor der Tür wartenden Studienkolleg/inn/en. Man tauschte sich ein wenig aus und wartete sodann gemeinsam auf den Beginn des Seminars. Und dann war es so weit. Ein vollbärtiger Mann – auf den ersten Blick erkannte ich ihn, es war Christian Brünner – begrüßte uns (so in etwa 20 Personen) höflich und sperrte die Tür zur Seminarräumlichkeit auf. Nachdem wir alle Platz genommen hatten, begrüßte uns Christian Brünner nochmals, stellte seine Person vor und besprach mit uns den Seminarinhalt. Besonders erinnerlich ist mir dabei, dass mir sogleich seine sonore, sehr beruhigende Stimme auffiel. Weiters, dass er, Christian Brünner, uns Studierende allesamt sofort mit dem Begriff „Kollege“ bzw. „Kollegin“ – dies war nicht bei vielen Universitätsprofessoren der Fall und ehrte mich als Student überaus, ließ mich sogar kurzzeitig etwas den Boden unter der Füßen verlieren – ansprach und das Seminar von Beginn an wie einen sehr von Freundschaft getragenen Jour fixe abhielt. Ich möchte an dieser Stelle ausführen, dass der 3. Studienabschnitt des rechtswissenschaftlichen Studiums von den Professor/inn/en generell großteils persönlicher abgehandelt wurde. So fanden die meisten Seminare mit begrenzter geringer Teilnehmerzahl statt – der damit zwangsläufig einhergehende nochmalige Stress im bereits gestressten UGO wurde bereits an obiger Stelle dargestellt – und wurden diese durch ein Miteinander, in welchem jeder seinen richtigen, unrichtigen, schlauen, nicht so schlauen Standpunkt diskutabel vertreten konnte, abgeführt. Dennoch hatten Christian Brünner und dieses sein Seminar von Beginn an etwas Besonderes an sich und das sollte sich in der Folge auch nochmals herausstellen (siehe dazu weiter unten). Ich kann nicht exakt angeben, was es war. Vielleicht war es seine beruhigende Stimmlage, ja gar sein Vollbart, die Art, wie er sich vorgestellt und das Seminarprogramm mit uns besprochen hatte, ich weiß es nicht, auf jeden Fall war es für mich – und das wirklich nicht, weil ich hier einen Beitrag in dieser Festschrift verfasse – etwas Angenehmes, etwas sehr von Freundschaft Getragenes, etwas Einzigartiges.



1.20. Christian Brünner als akademischer Lehrer

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Christian Brünner ging also mit uns den Seminarinhalt durch und teilte uns dabei ausdrücklich mit, dass er besonderen Wert darauf lege, dass jeder von uns Studierenden sich in das Seminar (fachlich) einbringen sollte und wir gemeinsam Themeninhalte aufwerfen und diskutieren sollten. Deshalb sollte auch jeder von uns ein Referat halten und würde er in der nächsten Seminarstunde einige Referatsthemen vorschlagen, wobei jeder bei seiner Wahl völlig frei sei und auch eigene Referatsthemenvorschläge einbringen könne. In der Folge kam es dann dazu, dass in der nächsten Seminarstunde, etwa zwei Wochen später, die Referatsthemen besprochen und anschließend vergeben wurden. Und dann geschah es. Es geschah das, was ich einige Absätze zuvor bereits angedeutet habe und was ich Christian Brünner in ewiger Dankbarkeit niemals vergessen werde. Das besondere, angenehme, einzigartige Gefühl, welches ich von Beginn an hatte, sollte sich in dieser Seminarstunde bewahrheiten. Einer der Studierenden warf nämlich bei der Vergabe der Referatsthemen – für mich völlig unvermittelt – die Frage nach einer etwaigen Diplomarbeitsmöglichkeit bzw. Ausweitung des Referatsthemas als Diplomarbeitsthema bei Christian Brünner in den Raum. Und dann kam diese für mich bis heute unvergessliche – etwas längere – Antwort des Christian Brünner. Doch bevor ich dazu komme, muss ich zum Verständnis der Leser/innen nochmalig zu meiner damaligen universitären Situation kurz Nachstehendes ausführen: Ich befand mich nun im letzten und dritten Studienabschnitt. Aus dem 2. Studienabschnitt hatte ich (nur) noch die mündliche – gefürchtete – Fachprüfung ZGV (Zivilgerichtliches Verfahren) zu bewältigen. Ich war also kurz vor dem lang ersehnten „Fertigwerden“. Und da war es natürlich an der Zeit, mit der Diplomarbeit loszulegen. Doch dies gestaltete sich schwieriger als gedacht. Zum einen lag es daran, dass mir partout kein entsprechendes Thema einfallen wollte, zum anderen, dass sich Professor/inn/en nicht fanden bzw. mein Gefühl mir sofort sagte, dass diese nicht die richtigen Ansprechpartner/innen für mich sind. So geschah es etwa, dass ich mich eines Tages hinsichtlich eines Diplomarbeitsthemas zu einem Universitätsprofessor begab, welcher sich sogleich anlässlich der – von seiner Seite sehr trocken, beinahe mürrisch gehaltenen – Begrüßung über mein Notenergebnis bei der entsprechenden Fachprüfung erkundigte, um mir im gleichen Atemzug unmissverständlich zu verdeutlichen, dass ein „Sehr Gut“ Voraussetzung sei. Selbst wenn ich dieses formalistische Kriterium erfüllt hätte, was zugegebenermaßen nicht der Fall war, wäre dieser Universitätsprofessor für mich damit ohnehin nicht in Frage gekommen.

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1. Werdegang und Leben

Eine andere – völlig gegenteilige jedoch meiner Vorstellung auch nicht entsprechende – Erfahrung durfte ich bei einem anderen namhaften Universitätsprofessor machen. Die Begrüßung lief sehr freundlich, völlig gegenteilig von obiger Begrüßung ab. Auch hörte er sich meine Diplomarbeitsidee geduldig an, um jedoch daraufhin in einer für mich bei bis dato ungewohnten Lockerheit und Selbstverständlichkeit trocken zu entgegnen: „Schreiben S’ einfach drauflos und dann seh ma schon, was wird!“ Auf die darauffolgende Frage von mir, ob ich dann auch gleich das Thema eintragen lassen solle, damit dieses dann reserviert wäre und nicht von einem anderen Studierenden belegt werden könnte, folgte ein weiterer lockerer Satz: „Ah, brauchen S’ nit; schreiben S’ amoi und dann, wenn S’ so um die 70 Seiten hobn, kumman S’ wieder!“ Diese lockere – durchaus sehr freundliche – Art des Professors, welcher mir damit sogar sehr sympathisch wurde, war jedoch auch nicht das, was ich suchte. Denn er ließ mich mit diesen nicht erwarteten (zu „coolen“) Antworten auch gleichzeitig im Regen stehen. Zusammenfassend gestaltete sich meine (zu diesem Zeitpunkt damit festgefahrene) Studiensituation also dahin gehend, dass ich mich zwar dem Ende des rechtswissenschaftlichen Studiums näherte, jedoch dieses Ende durch das Fehlen eines geeigneten Themas und Professors/Professorin gleichzeitig in schier unerreichbare Ferne zu rücken schien. Nun zurück zum Thema: Dieser eine Studierende fragte also konkret danach, ob Christian Brünner Studierende für eine Diplomarbeit aufnehme bzw. Diplomarbeitsthemen vergebe. Und dann kamen sie, die für mich unvergesslichsten Minuten und Sätze, welche mir das Herz und die Größe des mir zu diesem Zeitpunkt nicht näher bekannten Christian Brünner bereits in diesem frühen Stadium eindrücklich belegten. Christian Brünner erwiderte nämlich: „Nein!“ Daraufhin folgte kurze Stille, um diese scheinbar entschiedene Antwort in etwa wie folgt zu begründen (der exakte Wortlaut ist mir leider nicht mehr erinnerlich, dennoch wird im Hinblick auf meine jedenfalls der Realität entsprechende Erinnerung nachstehend kursiv zitiert): „Ich nehme keine Studierenden mehr auf. Ich finde nicht mehr die erforderliche Zeit vor, um Studierende bei diesem wichtigen Schritt die erforderliche und entsprechende Betreuung zukommen zu lassen. Dies insbesondere deshalb, weil ich beruflich kürzer treten möchte und nunmehr mein bereits lang gesetztes Vorhaben, mich ausschließlich meinem Privatleben und meiner Familie zu widmen, endlich in die Tat umsetzen möchte.“



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Ich weiß nicht warum und wieso ich es damals so verspürte, aber irgendetwas schien Christian Brünner, welcher zweifelsfrei seine Antwort reiflich überlegt und auch ernsthaft so gemeint hatte, davon abzuhalten, diese seine Antwort mit der allerletzten Konsequenz durchzuziehen. Und ich sollte recht behalten, denn er führte weiter von selbst, also ohne Hinterfragung eines Studierenden, aus: „Grundsätzlich [eigene Anmerkung: Bereits mit diesem abgeschwächten „grundsätzlich“ war mir zu diesem Zeitpunkt sofort klar, Univ.-Prof. Christian Brünner hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen und ich würde meine Diplomarbeit bei ihm verfassen!] nehme ich also keine Studierenden mehr für ein Diplomarbeitsthema bei mir auf.“ In diesem Moment konnte mich rein gar nichts mehr halten und ich wollte es nun endgültig wissen: „Was heißt grundsätzlich, Herr Professor?“, entkam es mir. „Na ja, Herr Kollege“ – er blickte mich dabei direkt an – „normalerweise nehme ich wie gesagt niemanden mehr auf; sollte jedoch jemand mit einem wirklich interessanten Thema kommen, dann ist vielleicht eine Hintertür offen.“ Christian Brünner versuchte zwar diesen letzten Satz wiederum etwas abzuschwächen, indem er meinte, dass er ein derartiges Szenario beinahe ausschließe, doch es war zu spät. Ich war geweckt und wusste, Christian Brünner ist mein „Mann“. Und wortwörtlich – ich erinnere mich, als ob es heute erst geschehen ist – bohrte ich wie folgt nach: „Herr Professor. ich will diese Hintertür, ich will durch diese Hintertür!“ Daraufhin schilderte ich ihm kurz meine – oben dargestellte – festgefahrene Studiensituation und versprach, alles dafür zu tun, ihn davon zu überzeugen, dass ich diese Hintertür wert bin. Von Beginn an war mir Christian Brünner sofort sympathisch. Er war einfach anders als die anderen und von Beginn an hätte ich sofort alles unternommen, um bei ihm meine Diplomarbeit verfassen zu dürfen. Er war fachlich brillant – das sollte ich in den darauffolgenden Seminarstunden persönlich erleben dürfen –, er war stets freundlich und diskussionsbereit (auch bei Fragen der Studierenden, welche man als fachlich daneben bezeichnen würde) und hatte, und das sollte das Besondere und Einzigartige an ihm sein, was ich erleben durfte, etwas sehr Herzliches. Und genau aus diesem Grunde wollte ich wirklich von Beginn an, als er die Tür aufgesperrt und uns begrüßt hatte, unbedingt bei Christian Brünner meine Diplomarbeit verfassen. Wir verblieben so, dass ich vorerst ein Referat halten solle und dann werde er entscheiden.

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Im Endeffekt sollte ich dann tatsächlich die Diplomarbeit – Titel: „Wiederkehr des Religiösen“ – eine Herausforderung für die Religionsfreiheit? – bei Christian Brünner schreiben und wurde mein Referatsthema – 11. Philosophicum Lech, Die Gretchenfrage: „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“ – ein großer Bestandteil dieser Arbeit.

3. Generelles Christian Brünner hatte in diesem Seminar „Reformen des öffentlichen Rechts“ immer ein Ohr für uns Studierende. Er ließ sich wirklich auf jede – mag sie noch so fachlich daneben gewesen sein – Fragestellung von uns Studierenden ein, setzte sich mit jeder einzelnen Meinung auseinander und versuchte, soweit es möglich war, uns Themeninhalte diskussionsartig näherzubringen. Dass Christian Brünner fachlich brillant – kurz gesagt: der „Kapazunder“ schlechthin auf seinem Rechtsgebiet – ist, steht jedenfalls außer Frage, ist allseits bekannt und wird dieses Faktum an dieser Stelle von mir nicht näher dargelegt. Vielmehr war ich erstaunt und so begeistert davon, dass Christian Brünner seine brillanten Thesen und Meinungen nicht emotionslos vertrat, nein, er lebte sie und dies mit vollem Herzen und das sogar nur in diesem kleinen Seminar mit uns wenigen Student/inn/en. Wenn ich schreibe „lebte“, dann meine ich das auch so. Christian Brünner konnte bei diesen Diskussionen durchaus ein wenig in Rage geraten; dabei betone ich, dass dieses „in Rage geraten“ sich freilich stets im sachlichen Rahmen abspielte und mir – als auch ein wenig emotionalerer Mensch – dieser „Mix“ exzellentes Fachwissen und volles Herz außerordentlich imponierte. So ist es tatsächlich geschehen, dass ich etwa einen (fachlich jedenfalls bestens zutreffenden) dieser Sätze von Christian Brünner, welchen er in einer dieser Seminarstunden mit bewundernswertem(r) Feuer und Flamme anlässlich der Kreuzdebatte von sich gab, wortwörtlich niederschrieb und diesen sogar in meiner Diplomarbeit – selbstverständlich unter Zitat – wiedergab: „Man müsse differenzieren, ob das Kreuz an Orten hänge, wo man sich diesem entziehen kann oder nicht. Es muss ein Unterschied gemacht werden, ob das Kreuz auf einem Berggipfel steht oder in einem Klassenzimmer einer Pflichtschule hängt. Auf einem Gipfel komme ich nicht alltäglich hin, ich kann mich dem Kreuz also durch Wegsehen entziehen. In einem Klassenzimmer einer Pflichtschule haben Schüler diese Möglichkeit nicht.“ 1 1 Christian Brünner, im Seminar „Reformen des öffentlichen Rechts“ am 14. 1. 2010 auf der Karl-



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Auch wenn ich Christian Brünner leider nur in einigen wenigen Seminarstunden als akademischen Lehrer erleben durfte, bin ich mir jedenfalls sicher: Christian Brünner ist ein Mensch, der seine Meinung zu 100 Prozent lebt und zu 100 Prozent vertritt. Dabei ist es offenkundig – wie man bereits an vorigem zitierten Satz unschwer erkennen kann –, dass er ein Verfechter der (sachlich gerechtfertigten) Gleichheit ist und sachlich nicht gerechtfertigte (rechtliche) Diskriminierungen verachtet. Ein weiteres eindrückliches Beispiel hiefür ist der – ebenfalls in meine Diplomarbeit unter Zitat eingeflossene – Satz hinsichtlich der rechtlichen Differenzierung staatlich anerkannter und staatlich nicht anerkannter Religionsgemeinschaften: „Die Interpretationshypothese, dass die durch Art 9 EMRK eingeräumte korporative Religionsfreiheit auch das Recht umfasst, die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaft autonom zu regeln, wird ferner durch den Wortlaut des Art 9 Abs 1 EMRK und die Rechtsprechung der Straßburger Organe gestützt.“2 (Informativ wird in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass – entgegen der Rechtsprechung3 – Christian Brünner seiner Argumentation also zweifelsfrei eine richtige Auslegung des Art 9 EMRK, welcher eben nicht nur die individuelle, sondern auch die korporative Religionsfreiheit garantiert4, zugrunde legt.) Faktum ist, dass all jenen, die Christian Brünner noch nicht persönlich erlebt haben – alle anderen sind ohnedies in Kenntnis hievon –, gesagt sei, dass er mit Leib, Seele und vor allem Herz Jurist (dabei glaube ich persönlich noch vielmehr Verfassungs- als Verwaltungsjurist) ist und sich dies zweifelsfrei in seinen exzellenten literarischen Werken, Vorträgen und in seinen Mitarbeiter/inne/n, welche seine fachliche Ausbildung genießen durften (an dieser Stelle seien insbesondere Gerhard Schnedl und Thomas Neger, welche mir in besonders lieber Erinnerung sind, erwähnt) widerspiegelt.

4. Abschliessendes Zusammenfassend möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um mich bei Ihnen, Christian Brünner, für die oben beispielhaft angeführten Momente und für Ihre bewundernswerte, einzigartige, menschliche Art, welche ich Gott sei Dank persönlich erleben durfte, nochmalig mit ganzem Herzen zu bedanken. Das Seminar

Franzens-Universität Graz. 2 Christian Brünner, „Sekten“ im Schussfeld von Staat und Gesellschaft (2004), 40 f. 3 Siehe dazu etwa OGH 19. 8. 1997, 10 ObS 137/97p. 4 Siehe dazu auch meine Diplomarbeit: „Wiederkehr des Religiösen“ – eine Herausforderung für die Religionsfreiheit, S 70 ff.

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„Reformen des öffentlichen Rechts“ im Wintersemester 2009/2010 wird mir in ewiger Erinnerung unvergesslich bleiben und ich danke weiters all jenen, die mir ermöglichten, Teile dieser meiner unvergesslichen Erinnerung in dieser Festschrift festhalten zu dürfen. Alles Liebe und alles Beste (nachträglich) von ganzem Herzen zu Ihrem 72. Geburtstag!



1.21. Zu Herzen geht, was von Herzen kommt

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1.21. Zu Herzen geht, was von Herzen kommt

Katharina Kolaritsch

Dieses Zitat von Samuel T. Coleridge geht mir immer wieder durch den Kopf, seit ich mir Gedanken über meinen Beitrag in dieser Festschrift zu Ehren von Herrn Dr. Christian Brünner mache. Ich werde noch darauf zurückkommen, warum dieses Zitat für mich so stimmig ist. Herr Professor Dr. Brünner war für mich ein ganz besonderer Lehrer während meines Jus-Studiums. Ich finde es wirklich schön, ihm dies auf diese Weise mitteilen zu können. Wenn ich an Herrn Professor Dr. Brünner denke, kommt mir meist der erste Eindruck, den ich von ihm hatte, in den Sinn. Dabei sehe ich das Bild vor mir, als ich zum ersten Mal in einer Vorlesung von Dr. Brünner saß. Es ging um das Allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht. Zugegeben – es war nicht die beeindruckendste Lehrveranstaltung, in der ich je war. Und doch hat mich etwas zutiefst berührt. So sehr berührt, wie ich es in meinem Studium zum letzten Mal davor in meiner allerersten Vorlesung erlebt hatte: Damals wurde energisch betont, was das Wichtigste beim Studium der Rechtswissenschaften sei:

Es geht immer um die Menschen Ich war begeistert. Meine Entscheidung für dieses Studium war anscheinend genau die richtige. Hier konnte ich meine Leidenschaft und mein Engagement für Gerechtigkeit und Menschenrechte vollkommen entfalten. Doch bald war ich ernüchtert, meine Euphorie gebremst. Zwischen all den Lehren von den bestehenden Paragrafen und Normen tat ich mir oft schwer, die „Flamme“ für das mir so Wesentliche in diesem Studium zu erkennen. Dieses Feuer, das meine Begeisterung für die Rechtswissenschaften entfachte, war das Potenzial, welches dieses Instrument mit sich bringt. Die Rahmenbedingungen für das Zusammenleben von Menschen und deren Umwelt in einer Weise zu gestalten, die den menschlichen Bedürfnissen gerecht wird. Wo die Würde jeder und jedes Einzelnen gewahrt werden kann. Kurz gesagt, die Menschen sind das Wesentliche, um die es in unserem Berufsbild gehen sollte. In der besagten Verwaltungsrechtsvorlesung entdeckte ich zwischen den Regeln des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes, des Zustellgesetzes etc. dieses

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1. Werdegang und Leben

Feuer wieder, das mich so bewegte. Die Art und Weise, wie Herr Professor Dr. Brünner das Fachliche schilderte, schien mir sehr lebensrelevant. Das erwähnte Zitat bringt meinen dabei gewonnen Eindruck auf den Punkt:

Zu Herzen geht, was von Herzen kommt Die Verbindung von menschlichem Gespür und einem hohen Maß an juristischer Kompetenz und Präzision haben mich sehr beeindruckt. Darum war ab diesem Zeitpunkt für mich klar, dass ich Herrn Professor Dr. Brünner für meine Diplomarbeit gewinnen wollte. Doch würde er mich als Diplomandin annehmen? Studierende können vor dem Problem stehen, keine Diplomarbeitsbetreuerin/keinen Diplomarbeitsbetreuer zu finden, da es vorkommt, dass Lehrende dafür nur Studierende annehmen, welche in ihrem Fach ein „Sehr Gut“ vorweisen. Damit konnte ich Professor Dr. Brünner leider nicht beeindrucken. Dennoch wollte ich ihn fragen und tatsächlich nahm er mich als Diplomandin an. Das kam nicht von ungefähr, wie ich später noch erfuhr – Herr Professor Dr. Brünner hatte seine eigene Politik zu dieser Thematik. Eine Diplomarbeit ist Voraussetzung, um das Studium abzuschließen, ein Notendurchschnitt von 1,00 jedoch nicht. Alle Studierenden sollten demnach die Möglichkeit erhalten, eine/n Diplomarbeitsbetreuer/in zu finden. Die fachliche Qualifizierung musste man ohnehin in der Diplomarbeit unter Beweis stellen. Ich besuchte noch weitere Lehrveranstaltungen bei Dr. Brünner. Eine davon war ein Seminar mit dem Titel „Kampf der Kulturen oder Multikulturalität an Beispielen von Kopftuch in der Schule, Kreuz im Klassenzimmer, Genitalverstümmelung etc.“ Dabei wurden Themen wie diverse Ursachen von Konflikten, Multikulturalität, Rassismus oder Fremdenhass aufgegriffen. Eine Frage, die mich schon lange beschäftigte und schließlich auch ein Grund für mein Jusstudium war, lautete: Wie können Menschen mit Differenzen, Streit oder Problemen konstruktiv umgehen? Meines Erachtens ist es dazu wichtig, den Menschen als ganzheitliches Wesen zu sehen, mit den Werten, die ihn prägen, mit den Bedürfnissen, Emotionen, Fähigkeiten etc. Ich bin Herrn Professor Brünner darum sehr dankbar, dass er mit dem Seminar „Kampf der Kulturen“ einen so wichtigen Themenbereich aufgegriffen und ihm an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Karl-Franzens-Universität einen Platz geboten hat. Besonders erfreulich war, dass durch die Teilnahme von Studierenden verschiedener Religionen und Kulturen eine tiefere Auseinandersetzung möglich war. In einer anderen Lehrveranstaltung, die ich bei ihm besuchte, konnte ich eine weitere seiner Qualitäten als akademischer Lehrer kennenlernen. Die Vorlesung



1.21. Zu Herzen geht, was von Herzen kommt

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„Umweltrecht“ wurde für Studierende der Umweltsystemwissenschaften und Jus-Studierende gemeinsam angeboten. Professor Dr. Brünner stellte hier unter Beweis, dass er nicht nur die Sprache der Juristerei beherrscht, sondern auch rechtswissenschaftliche Inhalte allgemein verständlich erklären konnte. Er machte zudem greifbar, warum dieses Rechtsgebiet alle Menschen betrifft. Ein Merkmal, welches seine Lehre auszeichnet, ist meines Erachtens die Offenheit. Herr Professor Dr. Brünner war an den Meinungen der Studierenden interessiert und förderte eine kritische Hinterfragung des Status quo. Ich hatte den Eindruck, es sei ihm ein großes Anliegen, dass Studentinnen und Studenten sich an der Diskussion beteiligen, dass sie sich Gedanken machen, um sich eine eigene Meinung bilden zu können. Zu leicht kann es in den Rechtswissenschaften passieren, dass man sich gänzlich auf das Studium der geltenden Normen konzentriert, diese bühnenreif zitieren kann und ganz nebenbei vergisst, das Wesentliche im Auge zu haben. Wenn man einen Schritt zurücktritt, hat man wieder ein Gesamtbild vor sich.

Über den Tellerrand hinaus Das Studium der Rechtswissenschaften soll ein interdisziplinäres Verständnis des Rechts als Ganzes vermitteln, in seinem sozialwissenschaftlichen, historischen und ökonomischen Kontext. Lehrveranstaltungen von Professor Dr. Brünner waren meist gespickt mit sogenannten „sidesteps“ – Informationen und Anmerkungen zu rechtsrelevanten Themen außerhalb des Standard-Curriculums. Dazu gehörte unter anderem immer wieder ein Einblick in das Weltraumrecht, eine breite Auseinandersetzung mit dem Thema Kulturen und Religionsfreiheit oder die rechtliche Stellung von Homosexuellen. Rückblickend ergibt sich ein vielseitiges Bild: vom Individuum zur Gesellschaft, vom österreichischen Kontext zu fremden (Rechts-)Kulturen, von der uns umgebenden Umwelt bis hin zum Weltraum. Die juristische Lehre von Professor Dr. Brünner war geprägt von Präzision, Weitblick und Ganzheitlichkeit.





2. Bildung





2.1. Christian Brünner und die Bildung. Ein Themenaufriss

Werner Hauser

1. Einleitende Vorbemerkungen Christian Brünner ist wohl in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung; er ist es jedenfalls in seiner Eigenschaft als seinerzeitiger aktiver ordentlicher Universitätsprofessor an der Grazer Karl-Franzens-Universität, da er – entgegen dem generell verbreiteten „Mainstream“ – bei vielen Gelegenheiten (zuletzt etwa im Rahmen seiner Emeritierungsfeier im Jahre 2010) betont, dass er im Mittelpunkt seines Selbstverständnisses als Universitätsprofessor die Lehre bzw. die Bildung sieht. Dabei war und ist der Universitätslehrer Christian Brünner immer darum bemüht, die von ihm in seinen zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten dokumentierten Erkenntnisse ebenso wie die von ihm im Rahmen seiner zahlreichen inner- und außeruniversitär gewonnenen praktischen Erfahrungen in die von ihm verantwortete (wissenschaftliche) Lehre einfließen zu lassen. Dass der dabei gewonnene „Mix“ im Schnittstellenbereich zwischen Wissenschaft und Praxis die Lehrtätigkeit von Christian Brünner ungemein spannend macht, liegt auf der Hand. Mir selbst ist dies als ehemaliger Student und Schüler von Christian Brünner schon sehr früh bekannt gewesen und zuletzt konnte ich vor einigen Jahren diese Einschätzung gewissermaßen als „unbefangener Betrachter“ nochmals gewinnen: Christian Brünner und ich vereinbarten im Frühjahr 2010, als wir uns gemeinsam auf den Weg zur Evaluierung in der ausländischen juristischen Fakultät machen sollten, dass ich ihn am Ende einer von ihm abgehaltenen Lehrveranstaltung abholen sollte. Bemerkenswerterweise fand diese Lehrveranstaltung seinerzeit – aus Gründen einer damals aktuellen universitären Raumknappheit – in einem großen Saal eines Grazer Kinos statt. Ich kam etwas zu früh zum vereinbarten Treffpunkt und setzte mich in eine der hinteren Reihen, wo ich gerade noch einen Platz ergattern konnte, um den Ausführungen des „Lehrers“ Christian Brünner zu folgen. Obwohl sich die Lehrveranstaltung ihrem zeitlichen Ende näherte und gleichzeitig ein sehr schwieriges Thema (nämlich Grundrechtsschutz am Beispiel der sogenannten „Grazer Bettler-Verordnung“) vorgetragen wurde, herrschte un-

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2. Bildung

ter dem mehrere Hundert Personen umfassenden Auditorium äußerste Konzentration – ich glaube das Bild von den „an den Lippen des Vortragenden hängenden Studierenden“ schildert die von mir wahr genommene Stimmung am besten. Das gespannte Interesse der Studierenden konnte Christian Brünner mit der ihm eigenen Empathie, die er seit jeher in seine Lehraktivitäten bzw. Vorträge gelegt hat, erreichen; gleichzeitig erlebten die Studierenden, dass da jemand am Vortragspodium steht, der über das, was er vorträgt, nicht nur profundes theoretisches und fachliches Wissen verfügt, sondern dieses auch (wie etwa im gegebenen Fall) durch praktische Ratgebertätigkeiten gewissermaßen erprobt hatte. Für mich war es sehr beeindruckend festzustellen, wie die Lehrerpersönlichkeit Christian Brünner es fertigbringt, über all die Jahrzehnte seiner umfassenden beruflichen Aktivitäten hinweg die besondere Qualität der von ihm betriebenen Lehre nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern vielmehr noch zu steigern. Zu den kurz umrissenen besonderen akademischen Lehrerqualitäten von Christian Brünner kommt noch hinzu, dass seine ganze Persönlichkeit von einem umfassenden vehementen Bedürfnis nach Fairness getragen ist. Dieser Umstand ist durch vielerlei belegt, etwa durch die von Christian Brünner getätigten Aussagen im Zusammenhang mit dem „Postulat der Chancengleichheit“, betreffend die Diskussion um den freien Hochschulzugang, die der Genannte im Rahmen eines zu seinen Ehren am 8. 3. 2007 in der Aula der Karl-Franzens-Universität Graz veranstalteten Festaktes zu seinem 65. Geburtstag eingefordert hat. Ich selbst habe aber diese besondere Qualität bereits in meinen sehr frühen Studierendenjahren kennen- und schätzen lernen dürfen. Es wird wohl im Jahre 1987 gewesen sein, als ich als Teilnehmer eines sehr kleinen Seminars, welches von Christian Brünner zum Thema „Besonderes Verwaltungsrecht“ geleitet wurde, in eine Diskussion mit demselben geraten bin, in deren Verlauf er eine von mir aufgestellte Behauptung als unrichtig apostrophierte (ich muss gestehen, ich weiß heute nicht mehr, worum es sich im Detail gehandelt hat). Umso überraschter war ich, als zu Beginn der in der darauffolgenden Woche abgehaltenen Seminareinheit Christian Brünner mich vor allen anderen Studierenden ansprach und darauf verwies, dass im Zuge der Diskussion von der vergangenen Woche nicht ich, sondern er sich im Unrecht befunden habe, und dies mit zahlreichen Argumenten untermauerte. Mich beeindruckte diese offene und selbstkritische Geisteshaltung von Christian Brünner, der sich nicht zu „schade“ war, vor allen Studierenden einen kleinen Lapsus einzugestehen und sich dafür vor dem gesamten Seminar und mir gegenüber zu entschuldigen. – Für mich ist dies Ausdruck einer im besten Sinne verstandenen (selbst-)kritischen, werthaltenden, wahren wissenschaftlichen Haltung. Es wird wohl keine Leserin bzw. keinen Leser dieser Zeilen überraschen, wenn ich ergänzend zu diesem kleinen Erlebnis noch darauf verweise, dass keiner der anwe-



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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senden Studierenden die von Christian Brünner vorgenommene Richtigstellung als Schwäche ausgelegt hätte, sondern alle waren sich vielmehr darin einig, dass darin eine wahre Größe zum Ausdruck kommt. Für mich ist es eine große Freude und Ehre, wenn ich an dieser Stelle festhalten darf, dass ich bereits seit geraumer Zeit mit Christian Brünner gemeinsam Lehrveranstaltungen (etwa an der FH ­JOANNEUM GmbH oder zuletzt an der Donau-Universität Krems) abhalte und durchführe und dabei von meinem verehrten Lehrer als gleichwertiger Partner betrachtet werde. Die ihm eigene qualitätsvolle Dimension bei der Gestaltung seiner Lehre wurde bzw. wird von Christian Brünner auch im Rahmen der damit wohl eng verwandten Betreuung von Diplomanden und Dissertanten wahrgenommen. Auch diesbezüglich darf ich auf einige Erfahrungen verweisen, die ich im Rahmen der Erstellung meiner Dissertation, welche unter der Betreuung von Christian Brünner vonstattenging, erleben durfte: Als ich Christian Brünner im Rahmen der von ihm abgehaltenen Sprechstunde mit dem Wunsch konfrontierte, unter seiner Betreuung meine Dissertation erarbeiten zu wollen, verwies er zunächst darauf, dass er mir – aufgrund seiner damaligen Tätigkeit als Abgeordneter zum Nationalrat – wahrscheinlich nur eine sehr eingeschränkte Unterstützung zuteilwerden lassen könne und er mir deshalb von meinem Betreuungswunsch abraten müsse. Gleichzeitig verwies Brünner darauf, dass er das von mir in Vorschlag gebrachte Thema (Rechtliche Aspekte der Universitätsreform) für außerordentlich interessant halte, und er bat mich darum, ihn über meine Arbeit auf dem Laufenden zu halten. Ungeachtet dieses Einwandes insistierte ich auf meinen Betreuungswunsch und schließlich sagte mir Christian Brünner diesen zu. Um gleich eines vorwegzunehmen, die Betreuung stellte sich als außerordentlich engagiert und fürsorglich dar – wann immer ich Rat und Hilfe benötigte, konnte ich auf meinen Betreuer zählen; wenn Besprechungstermine vereinbart waren, wurden diese von Christian Brünner punktgenau eingehalten, und er nahm sich für die einzelnen Gespräche sehr viel Zeit und widmete meinem „Ringen“ um die Erstellung meiner Dissertation sehr viel „väterliche Geduld“. Des Weiteren unterstützte mich mein Betreuer bei der Beschaffung von schwer zugänglicher Literatur, er empfahl mich in einschlägige Kommissionen und vermittelte mir wichtige Kontakte zu interessanten Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern. Schließlich ehrte mich mein akademischer Vater auch dadurch, dass er das Vorwort zu der von mir im Verlag Österreich publizierten Dissertation verfasste. Schließlich sei an dieser Stelle noch auf einen weiteren mit der Lehre eng verbundenen Bereich verwiesen, welcher in der Prüfungstätigkeit gelegen ist. Und auch diesbezüglich blieb Christian Brünner den von ihm stets an den Tag gelegten besonderen qualitativen Anforderungen, die er an sich stellte und stellt, ständig

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2. Bildung

treu: Wer jemals den „Prüfer“ Christian Brünner erlebt hat, weiß um dessen sorgfältige Vorbereitung zu den Prüfungsaktivitäten und dessen besondere Fairness im Umgang mit den Prüfungskandidatinnen und Prüfungskandidaten; mir ist bis heute in Erinnerung geblieben, dass im Zuge der von mir bei Christian Brünner zu absolvierenden Kernfachprüfung „Verwaltungsrecht“ von diesem erkannt wurde, dass ich durch die Sonneneinstrahlung am damaligen Prüfungstag stark irritiert war, und er verbesserte die „begleitenden Prüfungsumstände“ für mich dergestalt, dass er spontan die Rollos so regulierte, dass ich keiner weiteren Blendung bzw. Ablenkung durch Sonnenlicht mehr ausgesetzt war. All diese Hinweise und vielleicht auch anekdotenhaft anmutenden Erinnerungen eines Schülers an den von ihm verehrten Lehrer können bestenfalls dazu beitragen, die vielfach zitierten besonderen Fähigkeiten und Qualitäten des akademischen Lehrers Christian Brünner zu veranschaulichen; um jedoch die von Christian Brünner vertretenen Grund- und Geisteshaltungen insbesondere auf dem Gebiet von Bildung und (wissenschaftlicher) Lehre, die eben angerissen wurden, besser verdeutlichen zu können, sollen im Folgenden anhand von ausgewählten Schriften der vergangenen 40 Jahre, welche aus der Feder Christian Brünners stammen, objektivierbare Hinweise geboten werden, die den eingangs getätigten Befund von der Ausnahmepersönlichkeit des akademischen Lehrers Christian Brünner bescheinigen sollen. Dabei habe ich mir erlaubt, aus der großen Anzahl von einschlägigen Fachbeiträgen und Schriften Christian Brünners eine thematische Gliederung in insgesamt sieben Bereiche vorzunehmen, welche allesamt um den globalen Themenkreis „Bildung“ kreisen; dabei handelt es sich um die Kategorien „Frühwerke“, „Bildung und Bildungspolitik im Allgemeinen“, „Universität und Bildung“, „Universitätsreform“, „Rektorsamt“, „Internationalität an der Universität“ sowie „Fachhochschul-Studiengänge und Fachhochschulen“.

2. Frühwerke Bereits in den ersten publizierten Schriften von Christian Brünner zeigen sich die eingangs dargestellten liberal-differenzierten Grund- und Werthaltungen sehr deutlich; dies gilt insbesondere für eines seiner frühen Werke, welches unter dem Titel „Die disziplinäre Verantwortung der Studenten an Österreichs Hochschulen“ im Jahre 1970 publiziert wird: Vor dem Hintergrund der damals aktuellen Studentenunruhen kommt es u.a. auch in Österreich zu studentischen Ausschreitungen an universitären Einrichtungen. Auf der Basis der damals geltenden Rechtsordnung sind u.a. sogenannte Disziplinarkommissionen in erster Instanz zur (internen) „Regulierung“ von Rechts- bzw. Regelverstößen von Studierenden vorgesehen. Aufgrund einer damals betriebenen „Blockadepolitik“ durch die da-



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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malige österreichische Hochschülerschaft können die Disziplinarkommissionen und insbesondere die sogenannte Disziplinaroberkommission beim damaligen Bundesministerium für Unterricht nicht tätig werden, da deren rechtlich grundgelegte Zusammensetzung nicht gegeben ist. Diese praxisnahe Ausgangslage nimmt Christian Brünner zum Anlass, eine eingehende Monografie zu verfassen, in welcher er einen einschlägigen geschichtlichen Abriss der Disziplinargerichtsbarkeit bietet, in der Folge die aktuelle Rechtslage darstellt und sich weiters Gedanken zu einer Neuordnung des studentischen Disziplinarrechts macht. Dabei hält er u.a. fest, dass „immer wieder die den Studenten […] gewährten Grund- und Freiheitsrechte beachtet [werden] und wenn notwendig […], eine Güterabwägung vorgenommen werden [muss]“.1 Als weiteres Ergebnis hält der Autor fest, dass „für die Positivierung des studentischen Disziplinarrechtes […] Kriterien gesucht werden müssen, anhand deren der Student die rechtlichen Folgen seines Verhaltens gedanklich antizipieren kann; die Gestaltung des privaten Lebensbereiches ist dem Studenten selbst zu überlassen; rechtliche Verantwortung für das ,außerberufliche‘ Verhalten trägt der Student nur so weit, als er bei dieser Gestaltung sonstige Rechtsnormen, insbesondere Straf- und Verwaltungsstrafgesetze, unbeachtet lässt. Die Begegnung mit dem akademischen Lehrer und den Wissenschaften allein muss jene Kraft erzeugen, die in den privaten Bereich des studentischen Lebens hineinzuwirken und dort zu gestalten vermag.“2 Die einschlägige Debatte über die von Brünner erstellte Monografie findet u.a. im Rahmen der „Arbeitstagung der wissenschaftlichen Assistenten der Fachrichtung öffentliches Recht vom 31. 3. bis 4. 4. 1970“ in Wien statt; im Rahmen eines entsprechenden Referats würdigt u.a. Peter J. Schick die von Christian Brünner extrapolierten Argumente auf den Seiten 270 ff. der zuletzt genannten Publikation; im Zuge der im Anschluss an das genannte und andere Referate geführten Diskussion meldet sich u.a. auch Brünner zu Wort und hält fest, dass er „kein Anhänger des Disziplinarrechts im heutigen Verständnis, sondern des Ordnungsrechtes [sei], [er] aber nicht so weit [gehe], es als Hausrecht alleine zu erfassen“ (Arbeitstagung, 315). Als anderes (exemplarisches) Referenzbeispiel zu den frühen Arbeiten von Christian Brünner, sei auf eine Rede des damals jungen Universitätsdozenten verwiesen, welche er im Rahmen der Festveranstaltung aus Anlass des 150. Jahrestages der Wiedererrichtung der Karl-Franzens-Universität Graz am 6. 5. 1977 hält: In dieser Rede macht Brünner u.a. darauf aufmerksam, dass universitäre Forschung und Lehre „auch gesellschaftsbezogene Dienstleistungen sein müssen“, er kritisiert u.a. die historische Dimension, dass „nur die Kinder wohlhabender Eltern“ 1 Brünner, Die disziplinäre Verantwortung der Studenten an Österreichs Hochschulen (1970), 39. 2 Brünner, Verantwortung, 55.

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studieren konnten,3 hält fest, dass die damals bestehende hohe Studien-AbbrecherQuote (welche sich bei ca. 44 % bewegt) äußerst problematisch sei und diese Tatsache insbesondere „auch ein Tätigwerden der Universität und der politischen Instanzen“ erforderlich mache.4 Des Weiteren verweist der Vortragende auf die besondere universitäre Verantwortung, welche insbesondere aus der den Universitäten eingeräumten Freiheitsgarantie erwächst, wobei er ausdrücklich festhält, dass „die Freiheit […] nichts mit einem Turm aus Elfenbein zu tun [hat], in den man sich zurückziehen könnte. Die Universität hat (vielmehr) auch die Aufgabe, durch wissenschaftliche Analyse zur Besserung gesellschaftlicher Verhältnisse beizutragen.“5 Schließlich kritisiert Brünner ausdrücklich den damals vorliegenden Diskussionsentwurf eines Hochschullehrer-Dienstrechtsgesetzes, da dieses das „assistentische Dienstverhältnis mit 10 bzw. 12 Jahren enden“ lassen wolle.6

3. Schriften zu Bildung und Bildungspolitik im Allgemeinen In zahlreichen Fachbeiträgen und wissenschaftlichen Arbeiten stellt Christian Brünner Überlegungen zu Wesen und Zweck der Bildung sowie den damit in Zusammenhang stehenden maßgeblichen bildungspolitischen Aspekten dar. So entsteht etwa der Beitrag „Bildungspolitik – Neue Akzente“ auf der Basis eines entsprechenden Vortrages im Rahmen einer vom Österreichischen Wirtschaftsbund initiierten Klausurtagung, welche (ebenso wie der Sammelband) unter dem Titel „Wirtschaftspolitik der 90er Jahre“ im Jahr 1989 in Wien erschienen ist. In dieser Schrift stellt Christian Brünner seine eigenen Bildungszugänge sehr persönlich und offen dar, indem er u.a. festhält, dass sein Studierverhalten primär durch das Motiv zum Aufstieg in eine höhere „Einkommens- und soziale Schicht als die, der [seine] Eltern angehörten“, und „der Intention, dass er die Einrichtungen der schulischen Bildung möglichst schnell und gut durchlaufen“ wollte, geprägt sei.7 Darauf basierend postuliert Brünner seine Auffassung von Bildung als einen Wert, der „als solche(r) eine personenbezogene und eine gesellschaftsbezogene Komponente“ aufweist.8 Entgegen dem damaligen und wohl auch heute noch weit verbreiteten Mainstream plädiert Brünner in der Folge in seiner Schrift 3 4 5 6 7

Grazer Universitätsreden 15 (1977), 8. Grazer Universitätsreden 15, 10. Grazer Universitätsreden 15, 12 f. Grazer Universitätsreden 15, 14. Brünner, Bildungspolitik – neue Akzente, in: Österreichischer Wirtschaftsbund (Hg.), WirtschaftsPolitik in den 90er Jahren (1989), 22. 8 Brünner, in: Österreichischer Wirtschaftsbund (Hg.), 21.



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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ausdrücklich für die Massenuniversität, indem er u.a. darauf verweist, dass die große Zahl der Studenten als Zeichen des Aufstiegswillens der Bevölkerung positiv zu bewerten sei.9 In der Folge thematisiert Brünner – in umfassender Weitsicht – einschlägige bildungsrelevante Aspekte der neuen Informationsgesellschaft und bietet schließlich Impulse für eine „ausbildungsrelevante Organisationsreform der Hochschulen, welche in der Folge von ihm als einem der federführenden Gestalter des neuen Universitäts-Organisationsgesetzes 1993 realisiert wird.10 Seinen Neigungen als „querdenkender Vordenker“ lässt Christian Brünner u.a. auch im Beitrag „Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben“11 freien Lauf. Auch in dieser Arbeit bietet der Autor zunächst kurze Hinweise zu seiner eigenen Bildungslaufbahn und hält fest, dass seine bildungspolitischen und bildungstheoretischen Hypothesen selbstverständlich davon geprägt seien; in der Folge verweist Christian Brünner auf die international betrachtet niedrige Akademikerquote, kritisierte analysierend die international betrachtet hohe Durchschnittsstudiendauer in Österreich, widmet sich den Gründen von Drop-outs und den Fragen nach den Gründen für die Wahl der Studienrichtung, weiters den Problemlagen, die sich mit Fachkräftemangel und „Entleerung der Hauptschule in den Ballungszentren“ verbinden. Auf der Basis dieser ausführlichen Analysen und unter Darstellung der der Bildung zukommenden „Aufgabenvielfalt“ erstattet Christian Brünner schließlich zahlreiche Reformvorschläge.12 So fordert Brünner u.a. eine bessere vertikale und horizontale Proportionierung der „Bildungspyramide“, indem er u.a. dichter gestufte Studienabschlüsse, stärkere Herausforderungen für Begabungen, größere Anpassungsfähigkeit bei Änderungen auf dem Arbeitsmarkt und in den Berufsbildern vorschlägt. Desgleichen stellt Brünner die Forderung nach einer Differenzierung des postsekundären Bildungsbereiches deutlich in den Raum, welche er später im Rahmen seiner aktiven politischen Karriere als federführender Motor bei der Umsetzung der Etablierung des Fachhochschulbereiches verwirklicht.13 Überdies spricht Brünner den „dualen Aspekt der Qualifizierung“ dergestalt an, dass Erfahrungs- und Schulwissen nach Möglichkeit Hand in Hand vermittelt werden sollten. Abschließend fordert Brünner eine effektive Studien- und Berufsinformation ein, die – insbesondere vor dem Hintergrund der „Dominierungsmacht“ der Eltern – den Jugendlichen eigenständiges Entscheiden erleichtern helfen soll. 9 Brünner, in: Österreichischer Wirtschaftsbund (Hg.), 23 ff. 10 Siehe dazu unten Kapitel 4.9. 11 Erschienen in: Schilling/Turrini (Hg.), Zur Entwicklung von akademischen Berufen, Studienmotivationen und Universitätsstudien. Band 2 der Schriftenreihe der Studentenberatung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (1990), 170 ff. 12 Brünner, in: Schilling/Turrini (Hg.), 192 ff. 13 Siehe dazu unten Kapitel 4.7.

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In seinem Beitrag „Wirtschaft und Bildungssystem“14 thematisiert Brünner die Wechselbeziehungen von Wirtschaft und Bildungssystem, spricht u.a. das Problemthema der „traditionellen Berufsbilder“ und jenes der mangelnden Regionalisierung des Bildungsangebotes an, entwickelt darauf aufbauend Forderungen insbesondere nach Deregulierung und Differenzierung im Bildungsbereich. Im Jahr 1992 veranstaltet der damalige ÖVP-Abgeordnete Christian Brünner im Rahmen des Österreichischen Akademikerbundes eine internationale Werkstatt zum Thema „Bildung – frei Haus? Telekommunikation und ,Learning‘ im Dienste von Qualifizierung“; da nahezu zeitgleich im Rahmen des Bundesbildungsausschusses der SPÖ und des Dr.-Karl-Renner-Instituts eine Veranstaltung zum Thema „Bildung ohne Mauern. Fernstudium und Fernunterricht“ stattfindet, initiieren Christian Brünner und Ernst Steinbach die Publikation der im Rahmen dieser genannten Veranstaltungen getätigten Vorträge unter dem Titel „Bildung ohne Schule?“. In dem von ihm verfassten Beitrag15 im genannten Sammelband definiert Brünner drei zentrale Forderungen, nämlich jene nach der organisatorisch-institutionellen Ausprägung der Fortentwicklung des Bildungswesens, weiters jene nach der lernpsychologisch-pädagogischen Profilierung des Bildungswesens und schließlich jene nach der methodisch-didaktischen Erfordernissen und technologischen Entwicklungen gerecht werdenden Forcierung des Bildungswesens. Auf dieser Basis tritt Brünner für eine Dezentralisierung des Bildungssystems ein, indem er etwa die Entwicklung der Fachhochschulen fordert, den Ausbau des Fernstudienwesens einwirbt und u.a. für ein „Open-University-Model“ eintritt. Weiters werden eine Flexibilisierung im Bereich der Bildungsinhalte, die bessere Verklammerung bzw. Verkuppelung zwischen den Ebenen des Sekundar- und Tertiärbereiches gefordert, ein Plädoyer für die bessere Abstimmung zwischen individuellen Bildungsentscheidungen und gesellschaftlichen Bedürfnissen gehalten sowie die Individualisierung des Bildungsangebotes (insbesondere vor dem Hintergrund der Begabungs-, Fähigkeits- und Erfahrungsdimension) eingefordert. Ebenfalls im Jahr 1992 wird der Vortrag von Christian Brünner, welchen dieser anlässlich der Pädagogischen Tagung des Österreichischen Lehrerbundes am 15. 5. 1992 in Klagenfurt hält, publiziert.16 In diesem Beitrag thematisiert der Autor die Anpassungsnotwendigkeiten vor dem Hintergrund des Beitrittes Österreichs zur Europäischen Union und macht dabei insbesondere auf die Notwendigkeit der

14 Brünner, Bildung zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichem Bedarf, in: Neisser/ Brünner/Schäffer (Hg.), Karriere durch Lehre. Band 1 der Schriftenreihe des ÖVP-Parlamentsklubs (1991), 11 ff. 15 Brünner/Steinbach (Hg.), Bildung ohne Schule? (1992), 23 ff. 16 Der Kärntner Lehrer 1992/3, 15 ff.



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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stärkeren Diversifizierung des tertiären Sektors in Österreich sowie der Etablierung von umfassenden Maßnahmen im Bereich der Mobilität von (akademischen) Lehrer/inne/n und Studierenden deutlich. Im Rahmen der Festschrift „75 Jahre Urania“ aus dem Jahr 1994 legt Christian Brünner unter dem Titel „Konturen in der Ganzheit – Plädoyer für eine am Menschsein orientierte Bildung“17 in insgesamt zehn pointierten Punkten sein bildungspolitisches Grundverständnis dar, welches im Kern darin gipfelt, dass Bildung insbesondere die Gabe der Differenzierung zu vermitteln habe, um „den Vereinfachungen und Halbwahrheiten“ entgegenwirken zu können, wobei Christian Brünner unter einem festhält, dass „wir […] keine menschlichen Strukturen schaffen können oder wir […] gar hinweggefegt werden, wenn wir keine Solidarität mit den Armen, Schwachen, Hilflosen, Kranken, Behinderten etc. pflegen“.18

4. Bildung und Universität/universitäre Bildung Die eben unter Punkt 3 skizzierten Analysen, theoretischen und praxisbezogenen Untersuchungen sowie die darauf gegründeten Verbesserungs- und Reformvorschläge zum allgemeinen Bildungsbereich werden von Christian Brünner in zahlreichen seiner Arbeiten insbesondere auf dem Gebiet der universitären Bildung in akzentuierter Konkretisierung „weitergesponnen“. Gewissermaßen exemplarisch seien dazu drei Arbeiten von Brünner extrapoliert: Nahezu unmittelbar nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Österreichischen Rektorenkonferenz im Jahre 1987 initiiert Christian Brünner die Einsetzung der Arbeitsgruppe „Universitäre Lernkultur: Hochschullehrerfortbildung – Lehrerbildung – Weiterbildung“; gemeinsam mit dem späteren Leiter der genannten Arbeitsgruppe, Werner Lenz, publiziert er im Jahre 1990 einen Sammelband, der den gleichen Titel wie die Arbeitsgruppe trägt. Im Vorwort zum genannten Buch betont Brünner, die wissenschaftliche Lehre als „Kern der Aufgaben und des Selbstverständnisses der Europäischen Universität“ die notwendigerweise zum Gegenstand eines Diskurses zu machen ist, „der auf die Verbesserung der Erfüllung von Lehraufgaben zielt“. Dabei führt Brünner weiters aus, dass „Motor [seiner] Bemühungen […] die auf Erfahrung gegründete Überzeugung [ist], dass universitärer Lehre und Lernkultur nicht jenes Augenmaß zugewendet wird, welches notwendig wäre, um unsere Studierenden mit einem Höchstmaß an lebens- und berufsrelevantem Wissen, Können und Verhalten auszustatten“.19 Daran anschlie17 Ernst/Jaroschka (Hg.), Zukunft beginnt im Kopf. Festschrift 75 Jahre URANIA (1994). 18 Brünner, in: Ernst/Jaroschka (Hg.), 345. 19 Brünner, Plädoyer für eine Profilierung universitärer Lernkultur – Ein Vorwort, in: Lenz/Brün-

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ßend postuliert Brünner ein modernes – am planerisch-analytischen Vorgehen ausgerichtetes Konzept zur Erstellung universitärer Curricula, welches in späterer Folge sowohl die Grundlage als auch sowohl des Fachhochschul-Wesens als auch der Universität in der aktuellen Verfassung bildet. 13 Jahre später akzentuiert Christian Brünner im Rahmen einer Rede eines aus Anlass seines 60. Geburtstages in Graz abgehaltenen Symposiums zum Thema „Hochschulrecht, Hochschulmanagement und Hochschulpolitik“ Folgendes:20 Zunächst hält Brünner in der angesprochenen Arbeit fest, dass – insbesondere vor dem Hintergrund des „sich immer schneller drehenden Reformkarussells und [des] heftige[n], kontroversielle[n] Feilschen[s] um die jeweilige Organisationsreform“ – „die Idee der Universität in den Hintergrund getreten ist“.21 Gleichzeitig betont Brünner, dass die Idee der Universität „kein feststehender, unveränderlicher Kanon ist, sondern ein Netz mit vielen Fäden, an dem immer wieder neu gesponnen werden muss“, und hält überdies fest, dass er – obwohl er sich als Rektor und auch Politiker um die „Managementisierung“ der Universität bemüht habe, nicht möchte, dass sich „die Ziele und Aufgaben der Universität in Utilitaristischem, Ökonomisch-Funktionalem erschöpfen. Denn wenn dem so wäre, „dann hätten wir einen Ort verloren, an dem in Freiheit und Achtsamkeit auch durch und mit Wissenschaft nachgedacht werden kann, was den Menschen und seine Welt ausmacht, wissend, dass diese Frage durch und mit Wissenschaft allein nicht beantwortet werden kann, und einen Ort, an dem auch Wissens- und Erkennenwollen seine bildende Kraft entfalten kann“, verloren.22 Schließlich werden von Brünner u.a. Aspekte, wie die Notwendigkeit der Schaffung eines entsprechenden Rahmens für die Universitäten durch die Politik, weiters das Erfordernis der eigenständigen universitären Profilbildung sowie die Notwendigkeit einer entsprechenden Distanz zwischen Universität einerseits und Staat und Gesellschaft andererseits betont. Im Rahmen seiner Emeritierungsrede vom 17. 6. 2010 in der Aula der KarlFranzens-Universität Graz23 betont Christian Brünner zunächst, dass er mehr als 47 Jahre an der Universität tätig (gewesen) und auf Basis dieser langen Zugehöner (Hg.), Universitäre Lernkultur. Lehrerbildung – Hochschulfortbildung – Weiterbildung (1990), 7. 20 Siehe dazu Brünner, Universität – nicht nur Kader- und Wissensschmiede, sondern auch Stätte der Wahrheitssuche und Bildung, in: Schnedl/Ulrich (Hg.), Hochschulrecht – Hochschulmanagement – Hochschulpolitik. FS Brünner (2003), 236 ff. 21 Brünner, in: Schnedl/Ulrich (Hg.), 236. 22 Brünner, in: Schnedl/Ulrich (Hg.), 238. 23 Siehe dazu Brünner, Die Universität – eine Stätte der Bildung für möglichst viele junge Menschen. Ein Plädoyer, unilex 2010/1 – 2, 64 ff.



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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rigkeit und Verbundenheit zum „Universitätswesen“ für ihn selbst die Universität weit mehr als eine „bloße Anstalt der Wissensvermittlung“ geworden sei, indem man sie vor allem als eine zentrale Stätte der Bildung zu sehen habe. In der Folge kritisiert Brünner, dass das universitäre Qualifizierungssystem allzu sehr auf das Schulwissen orientiert sei und gleichzeitig dem Erfahrungswissen weit geringere Beachtung schenke. Indem er eine Diskussion einmahnt, in der die Universität als Stätte der Bildung, die „möglichst vielen offenstehen soll, nicht zu kurz kommt“, fordert er „eine solche Diskussion und ein solches Plädoyer gerade von einer Universität ein“.24 Dabei nennt er als konkretes Beispiel die Schaffung einer „Open university, in deren Rahmen auf verschiedenen Niveaus gelehrt und gelernt wird, dies unabhängig von Zugangsvoraussetzungen und fixierten Curricula, unter Einsatz flexibler Lehr- und Lernmethoden und mithilfe aller verfügbaren Medien“.25

5. Universitätsreform Im Jahre 1988 publiziert Christian Brünner die mit Fug und Recht als Streitschrift apostrophierbare Arbeit „Die Universität – nachgeordnete Dienststelle des Wissenschaftsministeriums oder selbständige Einrichtung?“26, welche als wichtigste Impulsgeberin für die Reformdebatte zum Universitätsgesetz wird. Im genannten Fachbeitrag bietet Brünner zunächst zentrale charakteristische Hinweise der „modernen Universität“, thematisiert in der Folge „organisations- und leitungsrelevante Probleme“ (und diagnostiziert dabei insbesondere, dass eine strategische Ebene nicht ausmachbar sei), stellt die Frage, ob „der Universität eine beliebige Organisation verpasst werden kann“ und hält schließlich ein substanziell begründetes Plädoyer für „eine Universität als selbstständige Einrichtung“; dabei skizziert Brünner bereits die maßgeblichen Elemente der im Jahr 1993 verwirklichten großen Universitätsreform. Im Jahr 1991 erscheint der Beitrag „Stabstellen – Signale für das Erfordernis von Hochschulmanagement“.27 In diesem Beitrag hält Brünner fest, dass an den einzelnen österreichischen Universitäten das Thema „Hochschulmanagement“ kaum auszumachen sei und er fordert vehement ein, dass diesem Aspekt – nicht nur auf der Ebene der einzelnen Universität, sondern vielmehr auch im überuniversitären (ministeriellen) Bereich – erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen sei. Er begründet

24 Brünner, unilex 2010/1 – 2, 65. 25 Brünner, unilex 2010/1 – 2, 65. 26 WPolBl. 1988/4, 512 ff. 27 In Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), Besondere Dienststellen für Planung und Organisationsentwicklung gem. § 82 UOG (1991), 1 ff.

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2. Bildung

dies u.a. damit, dass die Universität und ihre Subsysteme „ständig ihre Ziele und Aufgaben räsonieren“ müssen, „sich um eine optimale Zielerreichung und Aufgabenerfüllung kümmern“ müssen, „Verfahren und Klimas entwickeln [müssen], höchstqualifiziertes Personal zu rekrutieren“, und insbesondere „ihre Leistungen in Forschung und Lehre evaluieren“ müssen.28 Schließlich führt Brünner aus, dass die an einzelnen Universitäten errichteten „Stabstellen für Planung und Organisationsentwicklung“ einen ersten wichtigen Schritt in der Umsetzung von modernen Managementstrukturen im Universitätsbereich bilden, denen freilich noch weitere folgen müssen. Ebenfalls im Jahr 1991 erscheint der Beitrag „Autonomie und Management“29. In diesem Beitrag widmet sich Brünner der ihm vorgelegten Fragestellung, ob es hinsichtlich Entscheidungsfindung und -durchsetzung nicht zwangsläufig zu Friktionen zwischen einem effektiven Management und der autonomen, weitgehend auf Einzelverantwortung basierenden Gestaltung von Forschung und Lehre kommen muss. Brünner beantwortet diese spannungsgeladene Fragestellung mit der offenen Antwort, dass „die Beziehung zwischen Management und Autonomie […] jedenfalls auch eine der Friktionen“ sei. „Sie kann nicht völlig friktionslos gestaltet werden.“ Gleichzeitig hält Brünner fest, dass „Management […] auch an der Universität erforderlich“ sei.30 In der Folge begründet Brünner seine Auffassung u.a. damit, dass in Abhängigkeit zur Bedeutsamkeit einer Aufgabe für das Gemeinwesen der Bedarf nach Führungs- oder Managementleistungen unerlässlicher werde. Unter anderem lenkt er dabei sein besonderes Augenmerk auf das Erfordernis von Organisationsentwicklung, welche als ständige Herausforderung angesprochen wird, die „nie gegen ein soziales System, sondern immer nur mit einem sozialen System, und das heißt unter Einbeziehung der Mitglieder dieses sozialen Systems betrieben werden“ kann.31 Schließlich verweist Brünner auf die „universitären Besonderheiten, in deren Diensten Führung oder Management steht“, indem er, betreffend diese „Besonderheiten“, auf Folgendes verweist: „Zweckfreiheit der Grundlagenforschung; überproportionaler Bedarf an ,klimatischen‘ und ,atmosphärischen‘ Zuständen, damit Kreativität, Phantasie, Entdeckerfragen, Forschungsfreude gedeihen können; Gleichheit zwischen den Mitgliedern der Community und daher Ablehnung eines hoheitlich-hierarchischen Ambientes; Relativität wissenschaftlicher Aussagen, und d.h. Falsifizierungserwartung, Hal-

28 Brünner, in: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), 3. 29 Brünner, Autonomie und Management, in: Peterlik/Waldhäusl (Hg.), Universitätsreform. Ziele, Prioritäten und Vorschläge (1991), 129 ff. 30 Brünner, in: Peterlik/Waldhäusl (Hg.), 130. 31 Brünner, in: Peterlik/Waldhäusl (Hg.), 136.



2.1. Christian Brünner und die Bildung

117

tungen der Skepsis und Kritik, Pro- und Contra-Argumentation; Bedarf an iterativen Verfahren (diese insbesondere wegen der beiden vorhin genannten Besonderheiten); hoher Koordinationsbedarf; überproportionale Bedeutung informeller Organisation, wie z.B. Rolle, Status, Intervention, Standards, (informelle Regeln), Einzelkämpfertum, Sozialisationsmuster etc.“32 Die exemplarisch dargestellten Auffassungen und Einschätzungen Brünners werden von diesem in der Folge erfolgreich in den Prozess um die Gestaltung bzw. Erlassung des neuen Universitätsgesetzes 1993 (BGBl. 1993/805) implementiert. In seinem Fachbeitrag „Die Unterscheidung zwischen strategischen und operativen Organen – ein Grundgedanke der Reform“33 hält Brünner zunächst fest, dass „die Organisation eines sozialen Systems […] nie Selbstzweck sein [darf ], sondern […] als ein Mittel zur Optimierung der Erfüllung und Erbringung der Aufgaben und Leistungen des sozialen Systems verstanden werden [muss]“.34 Dabei nennt Brünner als eine der zentralen Organisationsgrundsätze in komplexen Organisationen die Trennung von strategischen und operativen Aufgaben sowie die Übertragung dieser Aufgaben auf unterschiedliche Träger, betont weiters, dass interessenmäßig zusammengesetzte Organe sich in der Regel wenig dafür eignen, operative bzw. exekutive Aufgaben zu erfüllen.34 Schließlich werden von Brünner in weitsichtiger Art und Weise Hinweise dazu geboten, wie die neue Organisationsstruktur des UOG 1993 konterkariert werden könnte; dies ist seiner Einschätzung nach zu befürchten, „wenn man die Differenzierung durch einen im Prinzip gleichen Bestellungsmodus der beiden Organtypen oder durch die Möglichkeit der einzelfallorientierten Weisung des strategischen Organs an das operative Organ oder durch die Einräumung des Rechts des strategischen Organs, Aufgaben des operativen Organs an sich zu ziehen, verwischte.“35 In nahezu resümierender Art und Weise hält Brünner in seinem Beitrag „Wozu Universitätsreform“36 fest, dass die Universitätsreform als ständiger Organisationsentwicklungs-Prozess zu verstehen sei, der insbesondere der „Verbesserung der universitären Zielerreichung und Aufgabenerfüllung durch Verbesserung der Aufbauund Ablauforganisation, durch Entwicklung und Förderung qualifizierten Personals und durch ausreichende sowie adäquate Ressourcen“ zu dienen hat; überdies erfordert sie „die Entwicklung und Förderung aufgabenadäquater sozialer Stan-

32 Brünner, in: Peterlik/Waldhäusl (Hg.), 138 f. 33 In: Strasser (Hg.), Untersuchungen zum UOG 1993. Band 16 der Beiträge zum Universitätsrecht (1995), 1 ff. 34 Brünner, in: Strasser (Hg.), 7 f. 35 Brünner, in: Strasser (Hg.), 10. 36 In: Noll/Pleschberger (Hg.), Kultur der Demokratie. FS Welan 2002, 353 ff.

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2. Bildung

dards und informeller Organisation“.37 – All dies muss in zielführender Weise vor dem Hintergrund der Notwendigkeit gesehen werden, dass „Bildung durch Wissenschaft“ als zentrale „Aufgabe und Herausforderung“ ständigen Bestand hat.38 Die von Christian Brünner kontinuierlich vertretenen Auffassungen und Haltungen zum Thema „Universitätsreform“ kommen nicht zuletzt auch in der von ihm gemeinsam mit mir verfassten Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur unter dem Titel „Reflexionen zur Neuordnung des ,Hochschulzugangs‘“39 zum Ausdruck, in dem dort u.a. festgehalten ist, dass „der Staat die Verantwortung für das Bildungswesen […] trägt und […] auch für dessen Beaufsichtigung zu sorgen [hat]“.40 Des Weiteren ist in der genannten Studie u.a. festgehalten, dass „im Zusammenhang bzw. im Vorfeld der Etablierung eines allfälligen Hochschulzulassungssystems […] sich die Bildungspolitik insbesondere mit folgenden Fragestellungen auseinanderzusetzen [hat]: • Welches Maß der Ausweitung bzw. Differenzierung des Hochschulsystems ist angestrebt? • Wie weit lässt sich ein hoch-selektives Hochschulsystem mit der Idee von substantieller Vielfalt bzw. Breitenverteilung von Wissen in der Wissensgesellschaft in Einklang bringen? • Welche Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten individueller Curricula sind (gesellschaftlich) akzeptabel? • Welches Verhältnis zwischen ,Lernen vor dem Hochschulbeginn‘ und während des ,Hochschulstudiums‘ ist anzustreben?“41 Ein Blick auf die aktuelle Diskussion zum Thema „Hochschulzugang“ zeigt, dass die genannten Fragestellungen bislang, wenn überhaupt, so nur in untergeordneter Art und Weise diskutiert wurden; dies mag das derzeit insgesamt bestehende, wenig befriedigende einschlägige Hochschul-Zulassungssystem erklären.

6. Rektorsamt – Synthese von (Verwaltungs-)Wissenschaft und Praxis Ein Musterbeispiel für die Verknüpfung von fundiertem theoretischem Wissen mit einschlägigen Erfahrungen aus der Praxis, die in einer Kombination mitei-

37 Brünner, in: Noll/Pleschberger (Hg.), 373. 38 Brünner, in: Noll/Pleschberger (Hg.), 374. 39 ÖHZ Spezial 2005/4a, 3 ff. 40 Brünner/Hauser, ÖHZ Spezial 2005/4a, 31. 41 Brünner/Hauser, ÖHZ Spezial 2005/4a, 32.



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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nander sowohl konkrete Lösungsansätze als auch vertiefende theoretische Auseinandersetzungen und, daraus hervorgehend, konkrete Vorschläge für Reformnotwendigkeiten bewirken, bietet die Tätigkeit von Christian Brünner als Rektor an der Grazer Karl-Franzens-Universität in den Jahren 1985 bis 1989 sowie dessen Tätigkeit als Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz in den Jahren 1987 bis 1989. Bereits in seiner Inaugurationsrede42 macht der damals neue Rektor der Grazer Karl-Franzens-Universität seine fachlichen Zugänge deutlich, indem er, betreffend die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem damals geltenden Universitätsgesetzes 1975, festhält, dass sich dafür dem Grunde nach zwei einschlägige Beurteilungsverfahren als bestens geeignet anbieten; dies ist zum einen eine substanzielle Wirkungsanalyse des Gesetzes und zum anderen ein internationaler Vergleich der inner- und außeruniversitären Entscheidungs- und Kontrollstrukturen.43 In der Folge warnt Brünner davor, dass „die an den Universitäten eingetretene Erstarrung der Strukturen […] von außen aufgelöst werden“, und betont die Bedeutung der Öffnung der Universitäten für gesellschaftliche Strömungen, wobei er pointiert jedweden unsachlichen „außeruniversitären Steuerungs- bzw. Eingriffsdimensionen“ eine eindeutige Absage erteilt.44 In seiner Rede spricht Brünner u.a. auch die Bedeutung der Entscheidungsautonomie an, indem er festhält, dass „ein Ausbau der Autonomie zu einer effizienteren und effektiveren Aufgabenerfüllung“ führt, und verlangt gleichzeitig ein Schärfen von „Aufgabenerfüllungs- und Leistungskriterien, insbesondere in den Bereichen der Lehre, des Prüfungswesens und der Verwaltung“.45 In der Folge unterstreicht der Verwaltungswissenschafter Brünner, dass „keine Organisation, auch nicht die Universität, insbesondere nicht die sich selbst verwaltende Universität, ohne jenen Bereich auskommt, den wir Verwaltung nennen und der durch Planung, Koordination, Informationsgewinnung und -verarbeitung, Durchführung und Kontrolle die Ziele der Organisation zu verwirklichen sucht“.46 Am Ende seiner Rede extrapoliert Rektor Brünner jene drei Tätigkeitsfelder, welchen er das Hauptaugenmerk seiner Amtstätigkeit widmen will; diese bestehen in der Absicht, ein Außeninstitut zur Forcierung des Wissens-, Informations- und Problemtransfers zwischen Universität und Gesellschaft zu etablieren, weiters die direkte (nicht mediatisierte) Kommunikation zwischen Universität und Gesellschaft zu forcieren und schließlich die Internationalisierung

42 Brünner, Universität zwischen Traum und Wirklichkeit (1986), 5 ff. 43 Brünner, Universität, 13 ff. 44 Brünner, Universität, 19 ff. 45 Brünner, Universität, 24 ff. 46 Brünner, Universität, 32.

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2. Bildung

seiner Universität voranzutreiben und dabei insbesondere für eine Öffnung der Universität für ausländische Forscher/innen, Lehrende und Studierende zu sorgen. Als im gegebenen Zusammengang wissenschaftlich zentralste Arbeit in der Phase als Rektor der Grazer Karl-Franzens-Universität ist die von Christian Brünner unter Mitarbeit von Sylvia Ulrich im Jahr 1988 erschienene Monografie zur „Rechtsstellung des Rektors“47 zu nennen. Auf insgesamt 107 Seiten werden zunächst Hinweise zur aktuellen (empirischen) Situation der modernen Universität vermittelt, weiters idealtypische Modelle der Universitätsleitung charakterisiert sowie Hinweise zu den Universitätsleitungsmodellen gemäß Hochschul-Organisationsgesetz 1955 und Universitäts-Organisationsgesetz 1975 geboten, um in der Folge die organisatorischen Aspekte des Rektorenamtes im Detail aufzuzeigen sowie eine Aufgabenanalyse desselben zu bieten; schließlich finden sich – nach Hinweisen zu den subjektiven dienstrechtlichen Rechten des Rektors und zum Anforderungsprofil bzw. Selbstbild des Rektorenamtes pointierte und nachvollziehbare Reformhinweise. Als Hauptelement seiner Reformforderungen hält Brünner – auf der Basis seines Befundes, dass der seinerzeitige Modus der Ressourcenverteilung im Universitätsbereich ein rein quantitativer sei – fest, dass dringend ein mit Anreizelementen versehener qualitativer Ressourcenverteilungsprozess zu besorgen sei, der gleichzeitig in enger Abstimmung zwischen der bundesministeriellen Zentralstelle und den operativ umfassend aufgewerteten Managementorganen „Rektor bzw. Rektorat unter Einbeziehung von autonomen Strukturen verwirklicht werden soll“.48 Wie bereits oben unter Punkt 5. festgehalten, fließen die von Brünner in der Praxis gewonnenen Erfahrungen, gepaart mit den von ihm dazu angestellten wissenschaftlichen Analysen und Untersuchungen, umfassend in die Gestaltung des neuen Universitäts-Organisationsgesetzes 1993 ein. Gewissermaßen als „Zwischenstationen“ auf dem Weg zur Gesamtumsetzung der genannten praktischen und theoretischen Erkenntnisse etabliert Brünner im Rahmen seiner Tätigkeit als Rektor an der Karl-Franzens-Universität Graz eine „besondere Dienststelle für Planung und Organisationsentwicklung“.49 Dieser zunächst zeitlich befristeten besonderen Dienststelle werden von Rektor Brünner Aufgaben im Bereich der Erstellung von Raumnutzungsplänen, weiters im Bereich des Anmietungs- bzw. Bauverfahrensmanagements und schließlich auf dem Gebiet des Auf- und Ausbaus des universitären Berichtswesens überbunden.

47 Brünner, Die Rechtsstellung des Rektors. Band 7 der Beiträge zum Universitätsrecht (1988) passim. 48 Brünner, Rechtsstellung, 101 ff. 49 Siehe dazu: Brünner, Besondere Dienststelle für Planung und Organisationsentwicklung an der Karl-Franzens-Universität Graz, in: Horvat/Peterlik/Waldhäusl (Hg.), Universitäre Leistung. Ziele und Bewertung (1989), 106 ff.



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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Aufgrund des erfolgreichen Agierens der genannten Stabsstelle, wird diese mit Genehmigung des dafür zuständigen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung bereits nach Jahresfrist als unbefristete Einrichtung genehmigt. Ein weiteres wichtiges Beispiel für die Umsetzung von im Rahmen seines Rektorenamtes gewonnenen Einschätzungen zu erforderlichen Handlungsnotwendigkeiten stellt der über Initiative des seinerzeitigen Vorsitzenden der Österreichischen Rektorenkonferenz, Christian Brünner, erstellte Forschungsauftrag zum Thema „Universität und Drittmittel“50 dar; in dem von Brünner verfassten Vorwort zur genannten Publikation51 hält Brünner u.a. fest, dass das gegenständliche Handbuch „durch praxisorientierte, soweit wie möglich eindeutige Informationen zu verstärkter Drittmittelaktivität anregen und einen Beitrag dahingehend leisten [will], die ,Unfallsziffer‘ möglichst klein zu halten. Es will ein Leitfaden sein für alle Universitätsangehörigen, die Drittmittelaktivitäten entfalten, und es will Rückhalt auch dort geben, wo die rechtlichen Vorgaben unpräzise sind.“ Es kann – vor dem Hintergrund der Persönlichkeit von Christian Brünner – nicht überraschen, wenn dieser in seinem öffentlich vorgetragenen Bericht über seine Amtszeit als Rektor der Karl-Franzens-Universität von 1985 bis 198952 neben einem ausführlichen Rechenschaftsbericht substanzierte Hinweise zu konkret bestehenden Weiterentwicklungserfordernissen bietet. Besonders bemerkenswert sind die in der genannten Rede enthaltenen Ausführungen zu den teilweise dramatischen Vorgängen rund um die sieben Wochen dauernde Besetzung von Räumen der Universitätsdirektion in der Zeit vom 21. 10. bis 10. 12. 1987, die durch das umfassend kommunikations- und lösungsorientierte Zugehen auf die studentischen Besetzer durch Rektor Brünner ohne Zuhilfenahme von exekutiver Gewalt beendet werden kann; dies ist umso bemerkenswerter, als zu jener Zeit die einschlägige Presse nahezu flächendeckend ein „hartes Durchgreifen“ einfordert. Dazu hält Brünner fest, dass „die sieben Wochen […] mich zwar viel Kraft [kosteten], Wunden schlugen jedoch nur die Anfechtungen, die der Versuch auslöste, einen Konflikt gewaltfrei zu lösen, und die vom Vorwurf des Verkaufs des Rechtsstaates über die Unterstellung der Anbiederung an das, was man als ,linke Chaoten‘ bezeichnete, bis zum Vorwurf der Entscheidungsschwäche reichten. Damit möchte ich nichts gegen gerade an der Universität selbstverständliche Kritik und Bewertung sagen, sofern diese Kritik und Bewertung durch Argumente untermau-

50 Bast/Vodrazka (Hg.), Universität und Drittmittel. Ein Anwenderhandbuch (1990), passim. 51 Bast/Vodrazka, Universität, IX. 52 Brünner, Vom Glanz und Elend der Universität. Bericht über die Amtszeit als Rektor der KarlFranzens-Universität in den Jahren 1985 bis 1989 sowie als Prorektor und Raum- und Baubeauftragter im Jahre 1989/90 (1990), 16 ff.

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2. Bildung

ert werden, sich als fruchtbarer Beitrag zu einer Kontroverse über die Modi der Lösung von Konflikten in einem sozialen System darstellen und nicht mit dem Gehabe dessen vorgetragen werden, der zwar glaubt, alles besser zu wissen, aber keine Ahnung von der Wirklichkeit hat.“53

7. Internationalität an der Universität Wie bereits oben unter Punkt 6. dargestellt, ist es Christian Brünner ein ständiges intensives Anliegen, die Internationalisierung im Bereich der österreichischen Universitäts- bzw Hochschullandschaft voranzutreiben; dieses Anliegen thematisiert Brünner besonders intensiv im Rahmen seiner universitären Funktionen.54 In seinem Vorwort zur Publikation „Zehn Begegnungen – ein Zeichen gutnachbarlicher Beziehungen“ aus dem Jahr 1985, in der die Kooperation zwischen den Universitäten Graz und Ljubljana dokumentiert werden, führt der damalige Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät, Christian Brünner, aus, dass im Mittelpunkt der Kooperation das Entwickeln eines gegenseitigen Verständnisses für die jeweiligen Gesellschaftsordnungen und Rechtseinrichtungen sowie die Pflege persönlicher Kontakte, insbesondere im Verhältnis zum wissenschaftlichen Nachwuchs, gelegen ist.55 Auch in seiner Eigenschaft als Rektor der Grazer Karl-Franzens-Universität unterstützt Christian Brünner die Kooperation zu den Universitäten Warschau, Presslau und Kattowitz, in deren Rahmen u.a. die Ergebnisse eines österreichischpolnischen Kolloquiums zum Thema „Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Verwaltung“ dokumentiert sind.56 Als Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz initiiert Brünner Workshops und Publikationen insbesondere zur „universitären Zusammenarbeit im Nord-Süd-Verhältnis“57 und exemplifiziert dies anhand von ausgewählten Einzelbeispielen.58 Dabei geht es Brünner insbesondere darum, konkrete Kooperationsmöglichkeiten zu recherchieren und für eine Zusammenarbeit mit anderen 53 Brünner, Glanz, 52. 54 Siehe dazu etwa Brünner, Universität 50, 63 ff. – Die diesbezüglichen Leistungen sind im bereits genannten Bericht über die Amtszeit von Brünner als Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz dokumentiert (vgl Brünner, Glanz, 40 ff). 55 Brünner, Zehn Begegnungen – ein Zeichen gutnachbarlicher Beziehungen, in: Brünner (Hg.), Zehn Begegnungen – ein Zeichen gutnachbarlicher Beziehungen (1985), 9. 56 Pauger (Hg.), Wechselbeziehungen zwischen Wirtschaft und Verwaltung. Österreichisch-polnisches Kolloquium vom 21. bis 22. 5. 1986 (1986), passim. 57 Vgl. etwa Österreichische Rektorenkonferenz (Hg.), Universitäre Zusammenarbeit im Nord-SüdVerhältnis. Band 2 der hochschulpolitischen Reihe (1989), passim. 58 Vgl. dazu Brünner/Kohl (Hg.), Universitäre Zusammenarbeit am Beispiel Nicaraguas (1990), passim.



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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Einrichtungen (wie etwa der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) zur Umsetzung ebendieser Kooperationsperspektiven zu sorgen.59 Des Weiteren gelingt es dem Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz, das bis in die Gegenwart hoch aktive sogenannte „Büro für Auslandsangelegenheiten“ zu etablieren, welches insbesondere im Bereich der internationalen Kooperation im Forschungs-, Personal- und Studien- bzw. Studierendenbereich Unterstützung bietet.60

8. Ein neuer tertiärer Faktor: Fachhochschul-Studiengänge und Fachhochschulen Besonders erwähnenswert sind die Tatsachen, dass Christian Brünner als wesentlicher Motor nicht nur betreffend die Initiierung der Schaffung eines neuen tertiären Sektors anzusprechen ist, sondern darüber hinausgehend im Rahmen seiner damaligen Tätigkeit als Abgeordneter zum Österreichischen Nationalrat und Wissenschaftssprecher der Österreichischen Volkspartei die maßgeblichen Verhandlungs- bzw. Umsetzungsschritte bei der Gesetzeswerdung zum „FachhochschulStudiengesetz“ leistet. Bereits im Jahre 1991 verfasst Brünner einen wegweisenden Fachbeitrag61, der für die weitere Entwicklung von grundlegender Bedeutung ist. Darin verweist er u.a. auf die Notwendigkeit der eigenständigen Profilentwicklung eines neu zu schaffenden Fachhochschul-Bereiches, der keinesfalls als „Verlängerung der höheren technischen Lehranstalt“ oder „als eine mindere Variante der Universität konzipiert werden“ darf.62 Wichtige Hinweise zum „Design für den Typus Fachhochschule“ bietet Brünner in einem weiteren zentralen Fachbeitrag.63 Er hält dabei u.a. fest, dass er sich eine „Fachhochschule“ wünsche, „die den staatlichen, gesetzgeberischen, bürokratischen, parteipolitischen, gewerkschaftlichen Umklammerungsversuchen auf vernünftige Distanz halten kann“. Des Weiteren betont er die Notwendigkeit der Vermittlung praktischer, berufsspezifischer Fähigkeiten und Fertigkeiten, die in 59 Siehe etwa Brünner, Nord-Süd-Universitätskooperation am Beispiel Nicaraguas: Schwerpunkte und Prämissen „Internationaler Politik“ der Österreichischen Rektorenkonferenz, in: Brünner/Kohl (Hg.), Universitäre Zusammenarbeit am Beispiel Nicaraguas (1990), 1 ff, 7 ff. 60 Siehe dazu Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), Bericht über die Tagung „Joint Study Programms“ vom 3. bis 5. 6. 1987 in Graz (1987), 3 ff. 61 Brünner, Die Diversifizierung des tertiären Bildungssektors durch Fachhochschulen, in: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), Fachhochschule als Alternative zur Universität. Materialien zur Bildungspolitik (1991), 103 ff. 62 Brünner, in: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Hg.), 103. 63 Brünner, Gefragt ist die Vielfalt an Hochschultypen. Plädoyer für die Gründung von Fachhochschulen, Plenum 1991/2, 11 ff (17 ff).

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2. Bildung

der Regel durch sowohl wissenschaftlich als auch berufspraktisch erfahrenes Lehrpersonal zu gewährleisten sei; überdies bricht er eine Lanze für größtmögliche Flexibilität bei der Curriculum-Gestaltung.64 Im Rahmen der Wiesseer Jahrestagung 1992 dokumentiert Brünner den damaligen aktuellen Stand betreffend die Errichtung von Fachhochschulen.65 Unmittelbar nach der Erlassung des Fachhochschul-Studiengesetzes66 publiziert Brünner gemeinsam mit Sigurd Höllinger und Elsa Hackl einen Sammelband zum Fachhochschul-Wesen.67 In dem von ihm in diesem Sammelband verfassten Fachbeitrag68 betont Brünner ausdrücklich die besondere Bedeutung des „Akkreditierungsorgans“ Fachhochschulrat, der als weisungsfrei gestellte Behörde eingerichtet sei und nach Maßgabe umfassender Sachrationalität qualitätsleitende und qualitätssichernde Maßnahmen zu setzen habe; im selben Beitrag kritisiert Brünner gleichzeitig auch, dass die dem Fachhochschulrat beigegebene sogenannte Geschäftsstelle mit zu geringen Sach- bzw. personellen Ressourcen ausgestattet sei.69 In der Folge publiziert Brünner zahlreiche weitere Schriften zum Fachhochschul-Bereich, von denen – lediglich exemplarisch – die nachfolgenden Erwähnung finden sollen: Im Rahmen der Monografie „Die bildungspolitischen Auswirkungen des Fachhochschul-Studiengesetzes70 reflektiert der Autor zunächst die Entstehungsgeschichte des Fachhochschul-Sektors, zeichnet die Grundlinien des fachhochschulischen Bildungsauftrages nach, thematisiert die Intentionen des Fachhochschul-Studiums im Detail und akzentuiert „bildungspolitische Herausforderungen“. Als zentrales Credo hält Brünner fest, dass im Verhältnis zwischen Fachhochschule und Universität vom Bestehen einer Gleichwertigkeit bei gleichzeitiger Funktionsdifferenzierung auszugehen sei.71 Im Beitrag „(Organisations-) Rechtliche Implikationen des Status ,Fachhochschule‘ der FH JOANNEUM GmbH Graz“72 bietet Brünner – auf der Basis einschlägiger verwaltungs-(rechts) 64 Brünner, Vielfalt, Plenum 1991/2, 18 f. 65 Brünner, Fachhochschul-Entwicklung in Österreich – Der aktuelle Stand der Diskussion, in: Ständige Konferenz der Rektoren und Präsidenten der Staatlichen Fachhochschulen der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Dokumentation zur Jahrestagung 1992, 31 ff (36 ff). 66 BGBl. 1993/340. 67 Höllinger/Hackl/Brünner (Hg.), Fachhochschulstudien – unbürokratisch, brauchbar und kurz (1994), passim. 68 Brünner, Ein neuer Weg der professionellen Qualitätssicherung: Der Fachhochschulrat, in: Höllinger/Hackl/Brünner (Hg.), Fachhochschulstudien – unbürokratisch, brauchbar und kurz (1994), 113 ff. 69 Brünner, in: Höllinger/Hackl/Brünner (Hg.), 121. 70 Brünner, Die bildungspolitischen Auswirkungen des Fachhochschul-Studiengesetzes. Band 4 der Schriften zum Wissenschaftsrecht (herausgegeben von Berka/Brünner/Hauser) (2004), passim. 71 Brünner, Auswirkungen, 22 f. 72 In: Koubek/Möstl/Pöllinger/Prisching/Reininghaus (Hg.), Bene Meritus. FS Schachner-Blazizek (2007).



2.1. Christian Brünner und die Bildung

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wissenschaftlicher Einschätzungen – konkrete Hinweise zur Entwicklung bzw. Ausprägung einer konkreten Organisationsform eines Fachhochschul-Erhalters; er hält dabei u.a. fest, dass zwischen „Organisation einerseits und den Aufgaben und den Zielen andererseits […] eine ,Adäquanzbeziehung‘ dergestalt herzustellen [ist], dass die Aufgaben und Ziele möglichst wirksam (effektiv) und möglichst wirtschaftlich (effizient) erfüllt bzw. erreicht werden können“.73 Unter dem Titel „Reform im Fachhochschul-Sektor“74 konstatiert Brünner u.a., dass „die rechtlichen, finanziellen und sonstigen Rahmenbedingungen der Fachhochschul-Studien […] für eine effektive und effiziente Erfüllung der Aufgaben von Fachhochschulen teilweise inadäquat“ seien.75 Vor diesem Hintergrund fordert Brünner u.a. die Gestaltung eines sacheffizienten „Bildungsplans für den gesamten tertiären Bereich“.76

9. Abschliessende Bemerkung Dem Autor der vorstehenden Zeilen ist völlig bewusst, dass der gegenständliche Beitrag lediglich einen kleinen, gerafften und zudem wohl auch subjektiv geprägten Einblick in die umfassenden theoretischen und praktischen Aktivitäten von Christian Brünner bieten kann.77 Dessen ungeachtet besteht die Hoffnung, durch den gegenständlichen Beitrag zumindest einige exemplarische Hinweise zu Werk und Wirken von Christian Brünner auf dem Gebiet der im weitesten Sinne zu verstehenden „Bildung“ bieten zu können.

73 Brünner, in: Koubek/Möstl/Pöllinger/Prisching/Reininghaus (Hg.), 64 f. 74 Brünner, Reform im Fachhochschulsektor, ÖHZ 2009/7, 9 ff., und ÖHZ 2009/8, 9 ff., sowie ÖHZ 2009/9, 9 ff. 75 Brünner, ÖHZ 2009/7, 10. 76 Brünner, ÖHZ 2009/8, 9. 77 So sei etwa an dieser Stelle ergänzend erwähnt, dass die Beiträge, die Christian Brünner in vielfältiger Weise im Bereich des Austausches zwischen Wissenschaft und Kunst geleistet hat, gänzlich ausgeklammert wurden; siehe dazu aber etwa: Brünner, Zur „Architektur“ der Universität, in: Haus der Architektur (Hg.), Architektur als Haltung (1991), 30.

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2. Bildung

2.2. Christian Brünner, Zehn Begegnungen – ein Zeichen gutnachbarlicher Beziehungen

in: Brünner (Hrsg.), Zehn Begegnungen – ein Zeichen gutnachbarlicher Beziehungen, Graz 1985, 9–11

Die Wissenschaftlichen Begegnungen zwischen den Rechtsfakultäten der Universitäten Ljubljana und Graz gehen auf das Jahr 1968 zurück, als die miteinander befreundeten Professoren Gustav E. Kafka und Gorazd Kušej beschlossen haben, die damals nur losen Beziehungen zwischen den beiden Fakultäten in Zukunft zu einer engeren Zusammenarbeit auszugestalten. Seither haben zehn solcher Wissenschaftlichen Begegnungen, an denen Professoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, Studenten und Praktiker teilnahmen, abwechselnd einmal in Slowenien und einmal in der Steiermark stattgefunden. Mit den Begegnungen verfolgen die beiden Fakultäten einen doppelten Zweck. Zum einen sollen sie dazu dienen, das Verständnis für die Gesellschaftsordnung und für die Rechtseinrichtungen des jeweils anderen Landes zu wecken und zu vertiefen, um dadurch die wissenschaftliche Zusammenarbeit zu befruchten. Zum anderen soll den Teilnehmern an den Begegnungen Gelegenheit geboten werden, bereits bestehende persönliche Kontakte zu pflegen und neue anzuknüpfen, um so einander besser kennenzulernen. Insbesondere bei den Studenten als den Repräsentanten der Jugend der beiden Völker soll auf diese Weise die Überzeugung wachgerufen werden, daß über alle Barrieren der unterschiedlichen Sprachen, Gesellschaftsordnungen und Rechtssysteme hinweg ein fruchtbares Zusammenwirken im Geiste einer guten Nachbarschaft möglich ist. Das Kernstück der Wissenschaftlichen Begegnungen bilden wissenschaftliche Vorträge und Diskussionen. Darüber hinaus kommt auch dem offiziellen Rahmenprogramm und den inoffiziellen Kontakten eine besondere Bedeutung zu. Alle Aktivitäten haben dazu beigetragen, daß die mit den Begegnungen verfolgten Zwecke erreicht worden sind: Es konnten wissenschaftlich relevante Erfahrungen gewonnen werden, und die Teilnehmer sind sich – auf der Grundlage gegenseitiger Achtung vor der politischen Überzeugung und Wesensart des anderen – menschlich nähergekommen. Wir dürfen mit Stolz feststellen, daß die Wissenschaftlichen Begegnungen zu einem integrierenden Bestandteil der steirisch-slowenischen bzw. der österreichisch-jugoslawischen Kulturbeziehungen geworden sind



2.2. Zehn Begegnungen

127

und sowohl zu einer besseren Verständigung zwischen den beiden Nachbarvölkern als auch zu einer Festigung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Steiermark und Slowenien und darüber hinaus zwischen Österreich und Jugoslawien beigetragen haben. Die 10. Wissenschaftliche Begegnung war ein Jubiläum. Es hat den Anlaß dazu geboten, die bisherigen Kontakte zu dokumentieren, damit sie den Teilnehmern, Freunden und Förderern immer wieder in Erinnerung gerufen werden können. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Graz hat darüber hinaus den Beschluß gefaßt, die Jubiläumsbegegnung als einen ihrer Beiträge zur 400-JahrFeier der Universität Graz zu widmen. Vortrags- und Diskussionsthema der Jubiläumsbegegnung waren „Rechtsprobleme des Umweltschutzes“. Wissenschafter beider Rechtsfakultäten beleuchteten den Umweltschutz aus völkerrechtlicher, verfassungs- und verwaltungsrechtlicher, zivil-, straf- und finanzrechtlicher Sicht. Das Thema Umweltschutz wurde jedoch nicht nur unter wissenschaftlich-theoretischen Aspekten behandelt, sondern es wurden auch praktische Aspekte des Umweltschutzes erörtert. Der Praxisorientierung diente ferner eine Besichtigung von umweltschutzfreundlichen Anlagen im Werk Gratkorn der Leykam-Mürztaler Papier- und Zellstoff AG. Die Aktualität des Themas und seine „grenzüberschreitende“ Erörterung waren Anlaß dafür, erstmals den Versuch zu unternehmen, die Referate einer Wissenschaftlichen Begegnung in einer selbständigen Publikation zu veröffentlichen. Begegnungen zwischen zwei Ländern zu einer fruchtbaren, ständigen Kooperation auszugestalten, erfordert viel Engagement, Einsatz und Phantasie derer, die diese Begegnung organisieren. Es geziemt sich daher, Dank zu sagen. Seit den Anfängen im Jahre 1968 hat Herr Generalkonsul a.D. W. Hofrat Dr. Heinrich Riesenfeld die Kontakte zwischen den beiden Rechtsfakultäten unermüdlich und unter großem Einsatz unterstützt und gefördert. Seine Kenntnisse von Land und Leuten, seine Kontakte und Freundschaften und seine Liebe zu beiden Ländern waren insbesondere in schwierigen Phasen der Beziehungen zwischen Österreich und Jugoslawien hilfreich, um sich in den Bemühungen um gutnachbarliche Beziehungen nicht entmutigen zu lassen. Hofrat Riesenfeld hat mit Engagement und Verve mit dazu beigetragen, daß die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Universitäten Graz und Ljubljana ausgebaut werden konnte, ferner daß auf breiter Basis, insbesondere aber bei den Studenten die Überzeugung gestärkt werden konnte, daß gute Nachbarschaft möglich ist. Darüber hinaus kommt Hofrat Riesenfeld das Verdienst zu, die Ergebnisse slowenischer Forschung durch Übersetzungen und Erläuterungen österreichischen Wissenschaftern zugänglich gemacht zu haben. Schließlich hat Herr Hofrat Riesenfeld nicht nur das Material für die vorliegende Dokumentation zur Verfügung gestellt, sondern auch

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2. Bildung

Beiträge verfaßt und Übersetzungen getätigt. Für all dies sei herzlicher Dank gesagt. Zu danken habe ich ferner den Mitgliedern der Auslandskommission der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz, dem Vorsitzenden dieser Kommission, Herrn Univ.-Prof. Dr. Richard Novak, Frau Wiss.-Rat DDr. Renate Kicker und Herrn Univ.-Ass. Dr. Armin Stolz. Sie alle scheuten nicht nur keine Zeit und Mühe, um die 10. Wissenschaftliche Begegnung zu organisieren, sondern machten deren Gelingen auch zu einem persönlichen Anliegen. Frau Kicker und Herr Stolz leisteten darüber hinaus den Hauptteil der organisatorischen und redaktionellen Arbeit an der vorliegenden Broschüre. Danken möchte ich ferner Herrn Mirko Tischler. Seine Kontaktfreudigkeit und seine Kenntnisse der slowenischen Sprache leisteten uns nicht nur bei der Planung und Durchführung der 10. Wissenschaftlichen Begegnung, sondern auch bei der Herausgabe dieser Broschüre gute Dienste. Herr Direktor Dr. Karl Schober von der Leykam Buchverlagsgesellschaft hat die Broschüre mit viel Verständnis für unser Anliegen verlegerisch betreut – dafür sei ebenfalls Dank gesagt. Kontakte verblassen, wenn sie nur dokumentiert und nicht gelebt werden. Ich hoffe und wünsche mir daher, daß die Zahl derer, die Begegnungen über Grenzen hinweg für fruchtbar erachten, weiterhin wächst. Wenn es auch in Zukunft Wissenschaftliche Begegnungen zwischen den Rechtsfakultäten Ljubljana und Graz gibt, hat die vorliegende Broschüre ihren Zweck erfüllt.



2.3. Effektivität und Effizienz der Universität

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2.3. Christian Brünner, Effektivität und Effizienz der Universität – ein verwaltungswissenschaftliches und verwaltungspraktisches Anliegen

Vorwort, in: Ruegg, Zementierung oder Innovation, Wien 1987, 3–8

Nach den hochschulpolitischen Diskussionen der Jahre 1966 bis 1975 ist die Universität erneut Gegenstand von Reformdebatten. Dies ist nach den tiefgreifenden Änderungen, die insbesondere das Allgemeine Hochschul-Studiengesetz 1966 und das Universitäts-Organisationsgesetz 1975, kurz UOG genannt, für die universitäre Aufgabenerfüllung gebracht haben, ferner angesichts des Umstandes, daß eine Reform komplexer Organisationen ohne Versuch und Irrtum gar nicht möglich ist, und schließlich vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen etwas ganz und gar Selbstverständlich-Natürliches und keineswegs Ausdruck von Krise, Versagen, Endzeit. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß sich die derzeitigen Reformdebatten von jenen Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre unterscheiden. Der Änderungswille ist heute weniger radikal, der Optimismus dünner, die Hoffnung ist ärmer, der inneruniversitäre Konflikt pragmatischer, die Studenten sind orientierungsloser und damit weniger treibende Kraft der Reformen, die Vorbildwirkung der Bundesrepublik Deutschland geringer und damit vielleicht die Chance größer, sich z. B. von angloamerikanischen, französischen, belgischen oder skandinavischen Modellen anregen zu lassen. Das 10-Jahres-Jubiläum des UOG bot wiederum Anlaß, die Vorzüge und Schwächen dieses Gesetzes zu diskutieren. Die Turbulenzen der Diskussion waren dabei oftmals größer als der erzielte Fortschritt auf dem Weg zur Reform des „Jahrhundertgesetzes“. Dieser Befund verwundert dann nicht, wenn man sich z. B. vor Augen führt, daß die zuständigen politischen Entscheidungsträger einerseits die Mitbestimmungsstrukturen des UOG und damit die einfache Mehrheitsbildung in den Kollegialorganen mit ihren unterschiedlichen Paritäten zwischen Professoren, Assistenten, Studenten und sonstigen Bediensteten verteidigen, andererseits im Entwurf eines Organisationsgesetzes für die Akademie der bildenden Künste in Wien bei Berufungen und Habilitationen das Erfordernis doppelter Mehrheiten, d. h. eine Mehrheit aller Mitglieder und eine Mehrheit der habilitierten Mitglieder des Entscheidungsorgans, verankern, damit ihre eigene Verteidigung des UOG konterkarierend, weiters wenn man sich vergegenwärtigt, daß manche Kritiker des

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2. Bildung

UOG zuwenig über die positiven Seiten der Mitbestimmung – verstärkte Verwirklichung der Pluralität von Lehrmeinungen, Methoden und Weltanschauungen, Kontrolle des interuniversitären Entscheidungsprozesses und Identifikation der Mitbestimmungsträger mit der Universität – reden, schließlich wenn einem bewußt wird, wie oft man persönliche Erfahrungen und Erlebnisse in der und mit der UOG-Universität, mögen sie positiv oder negativ sein, vorschnell und ohne weitere Analysen generalisiert. Wenn Wissenschafter als Minister und sonstige politische Funktionäre große und als Rektoren kleine Politik machen, dann könnten sie sich, was die Beurteilung des UOG betrifft, zunächst auf folgende zwei Verfahren einigen, nämlich auf eine Wirkungsanalyse des UOG und einen internationalen Vergleich der inner- und außeruniversitären Entscheidungs- und Kontrollstrukturen bzw. eine Analyse ausländischer Modelle und Erfahrungen auf vergleichender Grundlage. Eine solche Einigung läge umso näher, als diesen Verfahren auch ein wissenschaftlich-analytisches Vorgehen inhärent ist. Insoweit Wirkungsanalyse und Systemvergleich empirisch fundierte und intersubjektiv überprüfbare Aussagen produzieren, tragen sie zur Versachlichung des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses bei. Sie können und wollen freilich das Politische nicht ersetzen, sie helfen aber, Informationen und Einsichten zu gewinnen und damit der politischen Diskussion eine tragfähigere, faktenbezogene Grundlage zu geben. Um der auch interessenbezogenen Diskussion zwischen den Gruppen der UOG-Universität und zwischen diesen und den politischen Entscheidungsträgern – dies ist lediglich die Beschreibung eines Sachverhaltes und keine Wertung – eine fruchtbare Reibungsfläche zu bieten, wäre es ferner zweckmäßig, eine Instanz einzuschalten, die nicht Partei des Verfahrens ist. Ich schlage vor, daß die Bundesregierung an die OECD herantritt mit der Bitte, eine Studie über die österreichische Hochschul- und Forschungspolitik unter Berücksichtigung internationaler Erfahrungen bei der Erfüllung universitärer Aufgaben in Forschung, Lehre und Verwaltung durchzuführen. Die derzeitige Palette hochschulpolitischer Diskussion und analytischen Vorgehens ist reich an Themen. Nachfolgend werden einige „high-lights“ angesprochen. Angesichts des Aufgabenumfanges und der Ressourcenknappheit geht es mehr denn je um Effektivität und Effizienz der Universität. Die Effektivität ergibt sich aus dem Maß der Zielerreichung bei Erfüllung der Universitätsaufgaben, die Effizienz aus dem Verhältnis zwischen den erbrachten Leistungen und dem hiefür notwendigen Ressourceneinsatz bei einem gegebenen Grad der Zielerreichung. Bei solchen „Messungen“ ist freilich zweierlei zu beachten: Erstens sind Ziele und Aufgaben der Universität vielfältig. Zu ihnen zählen nicht nur Forschung und Lehre und die übrigen in § 1 UOG genannten Agenden, sondern auch die Bemühungen



2.3. Effektivität und Effizienz der Universität

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um die Sicherung jener Parameter, die für die Forschung und Lehre unabdingbar sind, wie z. B. Pluralität von Lehrmeinungen und Methoden, Kontrolle des inneruniversitären Entscheidungsprozesses, Partizipation, Ideenreichtum, Kreativität, Innovation, Internationalität, Motivation, Management, Sach- und problemnahe Entscheidungsmöglichkeiten etc. Zweitens bleiben Effektivität und Effizienz der Universität auch dann auf der Tagesordnung, wenn Meßgrößen problematisch sowie Quantifizierungen schwierig bis unmöglich sind und daher auch qualitative Methoden sowie ein Raisonnement kraft Sachverstandes eingesetzt werden müssen, ferner wenn es Bereiche und Aspekte der Aufgabenerfüllung gibt, die sich intersubjektiv-überprüfbarer Analyse oder explizierbarer Bewertung entziehen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob und inwieweit das Organisationsmodell, in dem sich derzeit die Elemente staatliche, weisungsgebundene Verwaltungseinheit und autonomer Entscheidungsträger finden, durch ein drittes Element zu ergänzen ist, nämlich das der unternehmerischen Aufgabenbesorgung, dies insbesondere dort, wo schnelle Veränderungen ein hohes Maß an Flexibilität und Anpassungskapazität erfordern. Ich denke z. B. an den Bereich der angewandten Forschung mit seinen Erfordernissen des Wissens- und Technologietransfers oder an die postgraduate Weiterbildung. Beides sind Felder, auf denen private Unternehmen erfolgreich arbeiten, und alles spricht für die Annahme, daß dies auch Universitäten können, wenn ihnen dafür ein adäquater organisatorischer Rahmen z. B. mehr Rechtspersönlichkeit und Vermögensfähigkeit zur Verfügung stehen. Durch eine solche gewiß nur in Grenzen mögliche unternehmerische Tätigkeit könnte nicht nur ein Beitrag zur Sicherung der Finanzierung von Grundlagenforschung geleistet, sondern auch aus zweckorientierter Tätigkeit gewonnene Erfahrungen in jene Bereiche universitärer Aufgabenbesorgung eingebracht werden, die sich unternehmerischer Organisation entziehen. Neben der Mitbestimmung ist es die suboptimale, verglichen mit anderen Ländern höchst unterentwickelte Ausprägung der Autonomie oder Selbstverwaltung der Universitäten, die herber Kritik unterzogen wird. Die Kritik richtet sich sowohl gegen das UOG und manche seiner autonomiefeindlichen Regelungen als auch gegen eine die Autonomie zu wenig berücksichtigende Praxis. In letzter Zeit gibt es freilich auch eine erfreuliche, gegenläufige Tendenz; sie reicht von der Übertragung der Budgetmittel für Inlandsdienstreisen und Exkursionen in die Entscheidungsautonomie der Universitäten bis zur Anerkennung und verwaltungsmäßigen Umsetzung der durch § 2 UOG ausgesprochenen Teilrechtsfähigkeit von Universitäten und deren Einrichtungen. Insbesondere ein Vergleich mit anderen Ländern stützt die Hypothese, daß ein Ausbau der Autonomie zu einer effizienteren und effektiveren Aufgabenerfüllung führt. Entscheidungsschwächen und ohne Qualitätsbezug getroffene Entschei-

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dungen können sich umso eher dort entwickeln, wo dem Entscheidungsträger die Konsequenzen dieses Handelns nicht oder nur abgeschwächt spürbar werden. Durch den Ausbau der Autonomie könnte überdies Raum geschaffen werden für eine leistungsstimulierende Konkurrenz zwischen Universitäten. Gewährt oder verordnet der Staat den Universitäten untereinander mehr Wettbewerb, so könnte es sich vielleicht auch erübrigen, die mit ganz gravierenden Problemen und negativen Begleiterscheinungen verbundene Installierung von Privatuniversitäten zu diskutieren. Den Ausbau der Entscheidungsautonomie begleitend müßten freilich auch Aufgabenerfüllungs- und Leistungskriterien insbesondere in den Bereichen der Lehre, des Prüfungswesens und der Verwaltung geschärft werden. Dadurch könnten Umfang und Inhalt individueller Verantwortlichkeit deutlicher werden und Aufsicht und Kontrolle einerseits präzisere Maßstäbe haben, andererseits in ihren Grenzen bestimmt werden. Entscheidungen und Aktivitäten im Dienste der Erfüllung von Aufgaben, für die Sachverstand notwendig ist, können u. a. nur dann optimiert werden, wenn die Akteure bestmögliche Qualifikationen aufweisen. Je minderqualifiziert Akteure sind, umso dysfunktionaler werden Entscheidungen und Aktivitäten im Hinblick auf die zu erfüllenden Aufgaben. Dies ist eine empirisch hinlänglich fundierte Hypothese, und die Hypothese gilt auch für die Universitäten. Es ist somit unabdingbar, permanent Vorsorge dafür zu treffen, beste Qualifizierung zu ermöglichen, die Bestqualifizierten in die universitären Entscheidungsprozesse zu integrieren und zur Aufgabenerfüllung zu gewinnen, ferner Qualität in allen Bereichen des Universitätsbetriebes nicht nur zu sichern, sondern auch auszubauen. Die Probleme, Schwierigkeiten und Herausforderungen fangen freilich erst jenseits so allgemeiner Aussagen an. So muß z. B. geklärt werden, welche Qualifikationen für welche Aufgabe funktional sind, was unter „Qualität“ verstanden werden soll, wie Zielkonflikte und damit auch Spannungen zwischen verschiedenen Qualifikationen gelöst werden können, wie Qualifikationen erworben und erworbene Qualifikationen auch nach dem Erreichen einer Position, z. B. einer Professur oder einer Definitivstellung eines Assistenten, gesichert werden können, ob und inwieweit es vertretbar ist, Qualifikationen ausschließlich mit formalen Bildungs- und Karrierestufen zu verknüpfen, etc. UOG-Analysen größeren Stils, z. B. in der Form von Wirkungsanalysen oder Systemvergleichen, sind bis dato nicht durchgeführt worden. Auch die Österreichische Rektorenkonferenz konnte solche Arbeiten weder selbst durchführen noch initiieren. In letzter Zeit ist freilich einiges Material zusammengetragen worden bzw. in Arbeit (z. B. von Raoul F. Kneucker, Ewald Nowotny, Manfried Welan, Walter H. Rechberger, Ernst Gehmacher etc.), das auf eine Bewertung einzelner UOG-



2.3. Effektivität und Effizienz der Universität

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Institutionen abzielt und in die in der neuen Legislaturperiode des Nationalrates intensiver zu führende Diskussion um eine Novellierung des UOG einbezogen werden kann. In dieser Situation ist es Anliegen der Österreichischen Rektorenkonferenz gewesen, nicht nur ihre Vorstellungen betreffend eine Novellierung des UOG zu formulieren (vgl. die vorläufige Stellungnahme der Österreichischen Rektorenkonferenz zur laufenden Diskussion, betreffend eine Novellierung des UOG, Ergebnis der UOG-Kommission im Rahmen der Klausurtagung in Baden am 26./27. 4. 1986), sondern das Augenmerk auf Themen zu lenken, die für die Universitäten in den nächsten Jahren als weichenstellend erscheinen: Effektivität und Effizienz der Aufgabenerfüllung, Rechtsfähigkeit, Autonomie, Wettbewerb, Evaluierung der Aufgabenerfüllung. Die von der Österreichischen Rektorenkonferenz in Auftrag gegebene, nunmehr vorliegende Studie „Zementierung oder Innovation. Effizienz von Hochschulsystemen“ ist eine Ergänzung eines in den Jahren 1982 bis 1984 durchgeführten internationalen Vergleichs amerikanischer, englischer, schweizerischer und bundesdeutscher Universitäten. Der Vergleich hat in dem von Walter Rüegg herausgegebenen Buch „Konkurrenz der Kopfarbeiter. Universitäten können besser sein: Ein internationaler Vergleich“ seinen publizistischen Niederschlag gefunden. Die Ergänzungsuntersuchung Österreich ist von Walter Rüegg, Professor an der Universität Bern, durchgeführt worden. Motive für die Entscheidung der Österreichischen Rektorenkonferenz zum gegenständlichen Auftrag waren insbesondere die Wichtigkeit des Themas „Wettbewerb“, die Einbeziehung Österreichs in internationale Vergleiche sowie Analyse und Bewertung der österreichischen Universitätssysteme auch durch ausländische Experten. Mit der Entscheidung für die vorliegende Studie nimmt die Österreichische Rektorenkonferenz keinen bestimmten hochschulpolitischen Standpunkt ein. Sie markiert diesen ausschließlich durch ihre von den zuständigen Organen abgegebenen Äußerungen und Stellungnahmen. Mit der Studie soll freilich eine profunde Wortmeldung eines ausländischen Experten in die aktuelle österreichische Diskussion hochschulpolitischer Fragen eingebracht werden. Der Studie liegen Auswertungen von Interviews mit Mitgliedern von Universitäten sowie Auswertungen verschiedener Dokumente zugrunde. 40 Interviews sind von Walter Rüegg, 12 von Eva Glück, Generalsekretärin der Österreichischen Rektorenkonferenz, durchgeführt worden. Die Auswertung des Materials und die Ausfertigung der Studie lagen freilich ausschließlich in den Händen von Walter Rüegg, dessen Verantwortung als Soziologen die Ergebnisse der Studie zuzurechnen sind. Die Studie ist bewußt nicht als statistische, repräsentative Erhebung konzipiert, dies insbesondere deshalb, weil angesichts der Vielzahl von Universitätstypen in

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den verglichenen Staaten eine im statistischen Sinne repräsentative Auswahl unüberwindbare Probleme mit sich gebracht hätte. Um Österreich in den Vergleich einbeziehen zu können, basieren die Interviews in Österreich auf dem Leitfaden, der auch in den vier vorhin genannten Ländern verwendet worden ist. Bei der Auswahl der österreichischen Interviewpartner ist darauf Bedacht genommen worden, daß alte und neue Hochschulen, große und kleine Hochschulen, Hochschulen mit und ohne traditionelle Fakultätengliederung, Universitäten und Technische Universitäten, geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Fächer, Professoren, Assistenten und Studenten, Repräsentanten der universitären Berufsverbände, der Dienststellenausschüsse, der Österreichischen Hochschülerschaft, der Bundeskonferenz des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals und der Österreichischen Rektorenkonferenz, Universitätsdirektoren sowie Dekane vertreten sind. Das Schwergewicht wurde freilich auf jene Personen gelegt, die als Vorsitzende von Kollegialorganen, als monokratisch organisierte Organe oder als Leiter von Universitätseinrichtungen mit Managementaufgaben an einer Universität betraut sind oder betraut waren, dies deshalb, weil die Fragen aus der Sicht der mit Führung und Verwaltung der Institution betrauten Personen gewonnen werden sollten. Darüber hinaus ist versucht worden, die Interviewpartner so auszuwählen, daß auch unterschiedliche hochschulpolitische und gesellschaftspolitische Standpunkte zum Ausdruck gebracht werden. Trotz Nichtrepräsentation basiert somit die Studie auf einer viele Aspekte umfassenden Pluralität der Interviewpartner. Pro Universität konnten nicht mehr als zwischen 8 und 14 Personen interviewt werden. Dabei mußte auf die beschriebene Vielfalt und Schwerpunktsetzung Bedacht genommen werden. Die Österreichische Rektorenkonferenz wird auch in Zukunft Studien durchführen oder in Auftrag geben, die für einen der bestmöglichen Aufgabenerfüllung dienenden Universitätsbetrieb relevante Sachverhalte aufzeigen, dies auch dann, wenn nur einzelne Sachverhalte angesprochen werden oder keine Konsentierung zwischen Kurien, Parteien, Interessenverbänden, hochschulpolitischen Standpunkten etc. vorliegt. Der Umstand, daß verschiedene Institutionen und Gruppen verschiedene Studien durchführen oder in Auftrag geben, ist nämlich kein Mangel, sondern ein die hochschulpolitische Diskussion befruchtendes Wettbewerbselement. Ausgeschlossen soll es freilich nicht sein, zu prüfen, ob nicht auch gemeinsame, von verschiedenen Gruppen oder Institutionen getragene Studien sinnvoll wären.



2.4. Gedenkjahr 1988

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2.4. Christian Brünner, Gedenkjahr 1988 aus der Sicht der Karl-Franzens-Universität Graz

in: Israelitische Kultusgemeinde in Graz (Hrsg.), Geschichte der Juden in Südost-Österreich, Graz 1988, 22–26

Auch die Universität blieb in der Zwischenkriegszeit nicht unberührt von fundamentalistischen Ideologien, tödlicher Intoleranz, zerstörerischem Irrationalismus und vom Schweigen derer, die gesehen haben und gesehen haben mußten, welches Fanal auf diesem Nährboden heranwächst. Auch an ihr feierten Ideologisierung und Irrationalität fatale Siege. Schon während des Einmarsches deutscher Truppen in Österreich, also noch am Vormittag des 12. März 1938, sind Professoren außer Dienst gestellt worden, die dem neuen Regime nicht genehm waren. In den Tagen, die dem Einmarsch folgten, wurde nahezu die gesamte Führungsgarnitur der Universität ausgetauscht. Der dann amtierende Rektor telegrafierte den jubelnden Dank an Hitler, daß die Universität „jetzt als südöstlichste deutsche und Grenzlanduniversität unmittelbar teilhaben ... dürfe am glücklichen Wirken des deutschen Volkes“. Zur gleichen Zeit rollte die Verhaftungswelle auch über die Universität hinweg. Eine Reihe von Professoren und anderen Universitätsangehörigen wurde verhaftet, darunter Otto Loewi mit seinen beiden Söhnen. In mehreren Siebungsdurchgängen wurden – sieht man von der Theologischen Fakultät ab, die im April 1939 überhaupt aufgelöst worden war – rund 17 % des Lehrkörpers, darunter 25 % der Professoren, entlassen. Unter ihnen befanden sich drei Nobelpreisträger, Otto Loewi, Viktor Hess und Erwin Schrödinger. Ende März 1938 begannen auch die Maßnahmen zur Erfassung der jüdischen Hörer an den österreichischen Universitäten. Ihre Promotion – bei der die Mediziner einen bedingungslosen Verzicht auf Ausübung des Berufes für das Reichsgebiet unterschreiben mußten – war einer eigenen Prozedur unterworfen. Die Promotion für jüdische Hörer war nicht öffentlich. Die Kandidaten durften keine Einladung zur Promotion aussenden. Die akademischen Funktionäre trugen keine Talare. Der Pedell nahm ohne das Universitäts-Zepter teil. Ansprachen hatten zu entfallen. Manchen von ihnen wurde das Doktorat überhaupt verweigert. Studenten und Absolventen sind ferner auch aus politischen oder religiösen Gründen drangsaliert worden.

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2. Bildung

Die 1938 aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen vorgenommene Dezimierung der Studentenschaft an der Universität Graz war jedenfalls gravierend. Die Zahl der Studierenden sank vom Wintersemester 1937/38 bis zum Sommersemester 1938 von 2.015 auf 1.422. Der einzige größere Bombentreffer an der Universität zerstörte 1945 das Arbeitszimmer Ludwig Boltzmanns; Boltzmann war einer der bedeutendsten Wissenschafter, die je an der Universität gelehrt haben. Herr Univ.-Prof. Dr. Heinz Mitter hat in seinen Promotionsreden zu Recht darauf hingewiesen, daß dieser Bombentreffer symbolischer Schlußpunkt für die Mißachtung des Geistes war, die in den Jahren vorher erfolgt ist. Es ist bedrückend, feststellen zu müssen, daß die Hochschulen und die Wissenschaft im alten Österreich und in der Ersten Republik einen maßgeblichen Beitrag zu einem Geschehen geleistet haben, welches in die totale Mißachtung der Menschenwürde und des Geistes gemündet hat. Man spricht immer wieder von den sogenannten kleinen Leuten, die arbeitslos und hungrig im Nationalsozialismus den einzig möglich scheinenden Ausweg gesucht hätten. Legitimierenden und aktiven Anteil an jenen destruktiven Nährböden hatten jedoch Universitätslehrer und Studierende, dies gilt auch für die Universität Graz. Und es ist für mich auch bedrückend, feststellen zu müssen, daß sich an den Hochschulen nur da und dort eine vernehmbare Stimme der Kritik, der Warnung, des Widerstandes erhoben hat. Alles das sage ich nicht, weil ich mich für gescheiter, moralisch höherstehend oder mutiger betrachte. Ich anerkenne, daß jede Epoche, jede Generation, jede Entscheidungssituation Aspekte hat, die hic et nunc weder reproduzierbar noch gedanklich-emotional nachvollziehbar sind; daß Menschen auch durch die Zeit geprägt werden, in der sie leben; daß heroisches, nonkonformistisches Verhalten zwar leicht besungen, aber schwer gelebt werden kann. Keine Epoche, keine Generation, kein Mensch kann sich aber dem Urteil nachfolgender Generationen entziehen. Dieser Sachverhalt gilt auch für uns, die wir heute in Staat und Gesellschaft Verantwortung tragen und die wir Mütter und Väter sind, gegenüber den uns nachfolgenden Generationen. Heute muß man nüchtern das, was geschehen ist, analysieren. Man muß über die Vergangenheit informieren, auch darüber, daß einem das Hemd des eigenen Lebens und Fortkommens näher war als der Rock der Kritik und des Widerstandes. Man muß verlangen, daß diejenigen, die damals Entscheidungen getroffen haben, nichts beschönigen, nichts uminterpretieren und Verantwortung tragen für das, was getan oder unterlassen worden ist, dies auch heute noch. Wir müssen unsere Väter und Mütter bitten, uns die Wahrheit zu sagen, auch die Wahrheit ihrer Schuld und ihres Versagens. Und man muß nachdenken darüber, was man heute



2.4. Gedenkjahr 1988

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tun kann, Entwicklungen von damals in Gegenwart und Zukunft hintanzuhalten, eine Aufgabe, der auch die Universität verpflichtet ist. Es wird viel darüber gesprochen, wie Vergangenheit bewältigt werden kann. Unerläßlich sind dabei das Erinnern und das Einstehen für das, was getan oder unterlassen worden ist. Unerläßlich ist es, Schuld, Versagen und Unrecht, wann auch immer, wo auch immer und wem gegenüber auch immer geschehen, nicht einfach hinzunehmen und zur Ordnung des Tages überzugehen, sondern zum Anlaß zu nehmen, aktiv zu werden und beizutragen, daß Toleranz und Verstehen gestiftet werden. Unerläßlich ist es, Grenzlanduniversität in dem Sinn zu sein, gutnachbarliche Beziehungen zu Südosteuropa zu pflegen und Brücken zu schlagen zwischen verschiedenen Kulturen, Sprachen, Nationalitäten, Religionen und politischen Systemen. Im Gedenken an die Vertreibung jüdischer Mitglieder der Universität ist im März 1988 über meinen Antrag vom Akademischen Senat ein David-HerzogFonds gegründet worden. Der Fonds führt seinen Namen nach dem 1938 vertriebenen Landesrabbiner für Steiermark, Titularextraordinarius und Dozenten der semitischen Philologie an der philosophischen Fakultät der Universität, David Herzog. Aufgabe des Fonds ist die Vergabe von Stipendien an jüdische Studierende für ein Studium an der Karl-Franzens-Universität, die Vergabe von Stipendien an Studierende aus Österreich für ein Studium an einer israelischen Universität und die Förderung transnationaler Aktivitäten im Rahmen internationaler akademischer Mobilität sowie internationaler Forschungs- und Universitätskooperation, all dies zum Zweck der Förderung des interkulturellen Verstehens und Lernens speziell in Beziehung auf jüdische Kultur. Zwei junge Medizin-Absolventen, die Herren Doktoren Christoph Pertl und Thomas Pieber, hatten im Zuge ihrer Beschäftigung mit der Vergangenheit und ohne Kenntnis von der gleichen Absicht der Universität den Entschluß gefaßt, einen Fonds zum Zwecke der Förderung des interkulturellen Lebens zu schaffen. Es war eine glückliche und für mich symbolträchtige Koinzidenz, daß Amtsträger und Organwalter der Universität einerseits und Absolventen der Universität andererseits unabhängig voneinander gleiche Wege der Bewältigung unseliger Vergangenheit suchten. Ich freue mich, daß die Herren Doktoren zugestimmt haben, die beiden Initiativen zusammenzuführen. Die beiden Herren haben für den Fonds viel geleistet und sind nunmehr Mitglieder des Fondskuratoriums. Große Verdienste um das Zustandekommen des Fonds hat Herr Univ.-Prof. Dr. Walter Höflechner. Er übte die Funktion des Fondskurators aus und ist derzeit stellvertretender Vorsitzender des Fondskuratoriums. Er hat mit mir viel darüber nachgedacht, in welcher Weise die Karl-Franzens-Universität das Gedenkjahr begehen soll.

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Über Antrag der Studierenden im Akademischen Senat und unter der engagierten Patronanz von Herrn Dekan Univ.-Prof. Dr. Helmut Konrad ist ferner eine Ringvorlesung zum Gedenkjahr 1938 durchgeführt worden. Francis L. Carsten, der wohl renommierteste englischsprachige Historiker im Bereich der kontinentaleuropäischen Zeitgeschichte, und Felix Kreissler, Gründer und langjähriger Leiter des ersten Österreich-Lehrstuhls im Ausland (Rouen) und Verfasser des Standardwerks über die österreichische Nation, konnten – neben Universitätslehrern der Universität aus mehreren Fakultäten – zur Mitarbeit gewonnen werden. Darüber hinaus konnten einige goldene Doktorgraderneuerungen – z. B. für Viktor Loewi, einem der Söhne des 1938 verhafteten und entlassenen Nobelpreisträgers Otto Loewi, für Gustav Singer, der wissenschaftliche Hilfskraft im Institut von Otto Loewi war und die Universität verlassen mußte, für Helmut Bader, dem das Doktorat verweigert wurde, obwohl er alle dafür erforderlichen Prüfungen abgelegt hatte, oder für Rudolf Ruthensteiner, der sich über die Hintertreppe beim Rektor unter vier Augen die Promotionsurkunde abholen mußte, weil er fürchtete, wegen seiner proösterreichischen Tätigkeit als Mitglied der Katholischen österreichischen Studentenbewegung Carolina von der vor der Universität postierten SA festgenommen zu werden – als symbolischer contrarius actus gegenüber allen jenen Hochschullehrern und Studierenden gefeiert werden, die 1938 bis 1945 aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen von der Universität vertrieben oder in ihren Rechten geschmälert worden sind oder die unter der Furie des Krieges gelitten haben. Das Hauptprojekt der bildenden Kunst im vorigjährigen Steirischen Herbst waren „Bezugspunkte 1938/88“. 14 Künstler aus Europa und den USA haben an 15 Orten im Stadtbereich ihre Werke präsentiert. Auch die Universität war Bezugspunkt 38/88, weil auch sie seinerzeit als eine Stätte des deutsch-nationalen und antisemitischen Denkens und Handelns und als „Grenzfeste deutscher Wissenschaft“ einen Anteil am grauenvollen Geschehen gehabt hatte. An der Fassade des Hauptgebäudes der Universität hatte die Gruppe IRWIN aus Jugoslawien eine multimediale Installation eingerichtet. Spruchbänder, Fahnen, Kreuze, Musik, Lichteffekte und Proklamation waren eine Paraphrase einer die Vernunft zerstörenden Propaganda der 30er und 40er Jahre. Warum all das? Weil es um Erinnern, Nachdenken, Integration von Schuld und Versagen, Umsetzen von Schuld und Versagen in positives Tun geht – und um Distanz gegenüber stetiger, auch heutiger Versuchung, sich einzuigeln, Anderssein zu denunzieren, den öffentlichen Raum durch Rückzug ins Private preiszugeben.



2.5. Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben

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2.5. Christian Brünner, Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben

in: Schilling/Turrini (Hrsg.), Zur Entwicklung von akademischen Berufen, Studienmotivationen und Universitätsstudien, Wien 1990, 170–201 (schriftliche Ausfertigung eines Vortrages zum Thema „Education“, gehalten am 29. April 1989 in Wien beim Management Club Congress „Eliten – Ethik – Education“)

1. Probleme – Forderungen – Lösungsansätze 2. Bildung – ein komplexer Sachverhalt 3. Bildung und Sozialstatus/Sozialprestige 4. Reformvorschläge

Zusammenfassung In einem ersten Teil werden Charakteristika und Probleme des Bildungssystems, insbesondere des postsekundären Sektors (Akademikerarbeitslosigkeit, Akademikerquote, Studiendauer, Trend zum Erwerb höherer Bildung, Drop-outs, Studienneigung etc.), dargestellt. Sodann wird Bildung als ein Weg charakterisiert, um in sich ruhend sein und werden zu können. Plädiert wird dafür, den Bildungsbegriff nicht auf die Funktion beruflicher Qualifizierung einzuengen, ferner dafür, daß alle Bildungseinrichtungen einem multifunktionalen Begriff von Bildung verpflichtet sein sollen. In einem weiteren Kapitel werden Zusammenhänge zwischen Bildung einerseits und Sozialstatus/Sozialprestige andererseits deutlich gemacht. Der letzte Teil beinhaltet einige Reformvorschläge, wie z. B. Differenzierung des postsekundären Bildungsbereichs, Berücksichtigung des dualen Aspektes der Qualifizierung (Erfahrungswissen/Schulwissen), das Schulen des Denkens in Analogien, die Einrichtung von Fernstudien etc.

Vorbemerkung Meine bildungspolitischen und bildungstheoretischen Hypothesen sind geprägt einerseits von meiner eigenen Bildungslaufbahn und der Bildungspolitik der 60er und 70er Jahre, andererseits von einer über 20jährigen Berufserfahrung an einer Universität, d.h. also im tertiären Bildungssektor und somit in einem Bildungsbereich, der im Ausland mit „Higher Education“ umschrieben wird. Trotz die-

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2. Bildung

ser meiner Ausrichtung auf den tertiären Bildungssektor möchte ich ein beliebtes Spiel nicht mitspielen, nämlich die jeweiligen Probleme des einen Bildungssektors dem anderen in die Schuhe zu schieben: Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft beklagen den Qualitätsverfall der Universitätsabsolventen. Die Universität rügt die Studierunfähigkeit der Maturanten. Die Höheren Schulen reden vom Qualitätsverfall der Volks- und der Hauptschule. Die Pflichtschulen meinen, daß die vorschulische Erziehung in den Kindergärten verbesserungsbedürftig sei. Die Kindergärten stellen das Versagen des Elternhauses fest, und die Eltern frequentieren Psychologen und Psychotherapeuten, um feststellen zu lassen, ob pränatale Probleme Ursache für die Lernschwierigkeiten ihrer Kinder sind. Dieses Spiel ist zwar verlockend, weil es den eigenen Sektor außer Obligo stellt. Es trägt jedoch nicht zur Lösung von Problemen, deren Intensität und Komplexität evident sind, bei. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, daß das Bildungssystem ein Ganzes darstellt, welches verschiedene Sektoren hat, die miteinander so vernetzt sind, daß nicht in einem Sektor hantiert werden kann, ohne daß das Auswirkungen auf andere Sektoren hätte. Geht man von einer solchen Prämisse aus, hat dies inhaltliche, prozedurale und institutionelle Konsequenzen. Bildungsreformen in einem Sektor müssen auch die Probleme der und die Auswirkungen auf die andern Bildungssektoren in Rechnung stellen. Bildungsreform bedarf des gemeinsamen, integrierenden Diskurses aller Bildungssektoren. Die Zersplitterung der für Bildungsfragen zuständigen staatlichen Institutionen ist angesichts der Vernetzung der Bildungssektoren kontraproduktiv; die Schaffung eines Bildungsministeriums, das die zwischen dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung sowie dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport geteilten Kompetenzen vereint, könnte die Vernetzung zumindest eines Großteils der Bildungssektoren auch institutionell zum Ausdruck bringen.

1. Probleme – Forderungen – Lösungsansätze Wer sich mit Bildungsfragen beschäftigt, ortet zunehmend Probleme und ist mit zunehmenden Problemdiagnosen anderer konfrontiert. Ich möchte ein paar Beispiele herausgreifen. 1.1. Akademikerarbeitslosigkeit Ende September 1989 waren bei den Arbeitsämtern 3.675 Akademiker als arbeitslos registriert. Das waren um 7,9 % mehr als zu Beginn des Jahres 1989. Im Vergleich zum September 1988 lag diese Zahl um 3,8 % höher. Die Zunahme der Akademikerarbeitslosigkeit geht zu Lasten des weiblichen Geschlechts. Während bei den Männern die Arbeitslosigkeit von 1988 auf 1989 um 2,6 % sank, gab es bei den



2.5. Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben

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Frauen einen Anstieg um 11,1 %. 3.675 arbeitslose Akademiker stellen einen Anteil von 3,1 % an der Gesamtarbeitslosigkeit dar. Auch diese Quote ist von 1988 auf 1989 leicht angestiegen. 1988 lag der Anteil der Akademiker an den Arbeitslosen bei 2,9 %. Die meisten arbeitslosen Akademiker stammen aus Dienstleistungsberufen mit eindeutigem Schwerpunkt in den Bereichen Gesundheit, Schule und Kultur. Nahezu drei Viertel aller bei den Arbeitsämtern vorgemerkten Akademiker kommen aus diesen Berufsbereichen oder wollen in diese hinein. Bei Männern stehen arbeitslose Ärzte mit 15 % an der Spitze, gefolgt von arbeitslosen Lehrern mit 13 %. Bei den Frauen ist es umgekehrt. Den größten Anteil der arbeitslosen Akademikerinnen bilden Lehrerinnen an der AHS (31,7 %), gefolgt von Ärztinnen (13,7 %). Bei diesen Daten der Abteilung Statistik und Arbeitsmarktbeobachtung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales handelt es sich freilich nur um die Spitze eines Eisberges. Von der Arbeitsmarktverwaltung werden nur jene Akademiker als arbeitslos registriert, die sich bei der Stellensuche an ein Arbeitsamt wenden. Die tatsächliche Quote an arbeitslosen Akademikern dürfte höher sein. Die Arbeitslosigkeit der Akademiker entwickelte sich vom Jänner 1988 bis Jänner 1989 gegen den Trend der allgemeinen Arbeitslosenrate. Die Zahl der Arbeitslosen verringerte sich um 8,4 %, die Zahl der arbeitslosen Akademiker stieg um 3,3 %. Die Arbeitsmarktlage für Inhaber akademischer Bildungsabschlüsse ist im Vergleich zu Inhabern anderer Bildungsabschlüsse dennoch nach wie vor günstig. Die Arbeitslosenquote (Basis: selbständig und unselbständig Berufstätige) betrug 1988 für den Bildungsabschluß Universität/Akademie 1,9 %, beim Bildungsabschluß Allgemeine Pflichtschule 8,5 %, beim Bildungsabschluß Lehre 4,2 % (Schneeberger, Zukunftsfragen, 32 ff.). Zum Erhebungszeitpunkt Ende September 1988 nahm Wien mit 46,3 % der arbeitslosen Akademiker die Spitzenposition ein, gefolgt von der Steiermark und Oberösterreich. Diese drei Bundesländer stellen drei Viertel aller arbeitslosen Akademiker. Durchschnittlich mußten damals die arbeitslosen Akademiker sechs Monate auf eine Anstellung warten; sie waren durchschnittlich 34 Jahre alt. Die Akademiker-Arbeitslosigkeit konzentrierte sich vor allem auf fünf Berufssparten; besonders schlecht war die Situation für Ärzte, Juristen und AHS-Lehrer.1

1 Eine bundesweite Erhebung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Sport wies mit Stichtag 1. 10. 1989 3.736 arbeitslose Lehrer an den Gymnasien sowie an den mittleren und höheren Schulen (Bundeslehrer) aus. Im Pflichtschulbereich gab es 1.955 arbeitslose Lehrer. Die meisten arbeitslosen Bundeslehrer verzeichnete Wien mit mehr als 900, gefolgt von der Steiermark mit rund 700. Oberösterreich, Kärnten, Salzburg, Tirol und Niederösterreich hielten sich mit 350 bis 400 arbeitslosen Bundeslehrern ungefähr die Waage. Am weitaus besten war die Situation in Vorarlberg mit nur 50 arbeitslosen Lehrern auf der Warteliste.

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Die Stellenandrangsziffer, d.h. die Vermittlungschance über das Arbeitsamt, ist in jenen Berufsbereichen relativ ungünstig, in die Maturanten und Akademiker bislang mehrheitlich gelangt sind und aufgrund der Fachrichtungsstruktur dieser Bildungsniveaus drängen. 71 % der arbeitslos gemeldeten Akademiker wollen in einen Gesundheits- oder Lehrberuf, nur 10 % in technische Berufe und damit in einen Bereich, der eine deutlich günstigere Arbeitsmarktnachfrage aufweist (Schneeberger, Zukunftsfragen, 37 f.). Rund 4.000 absolvierte Mediziner warten teilweise bis zu sechs Jahren auf einen Ausbildungsplatz. Ferner gibt es auch für eine große Zahl fertiger Turnusärzte Wartezeiten auf eine Arztpraxis. Andererseits herrscht zum Beispiel in Niederösterreich (Daten der Ärztekammer für Niederösterreich zur Fachärztesituation vom 31. 8. 1989) oder in der Steiermark Mangel an Fachärzten. Obwohl die Akademiker-Arbeitslosenquote geringer ist als die allgemeine Arbeitslosenquote und arbeitslose Akademiker leichter auf dem Arbeitsmarkt untergebracht werden können als arbeitslose Nichtakademiker, sind Maßnahmen unerläßlich, um die Akademiker-Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Zu diesen Maßnahmen zählen u. a. Studien- und Berufsinformation, attraktive Alternativen zum Hochschulstudium, Förderung der Mobilität, Erweiterung traditioneller Berufsbilder (so gibt es neben der Schule weitere Bereiche, wie z. B. Freizeit, Kultur, Umwelt, Konflikte etc., in denen pädagogische, erzieherische, den Bildungserwerb fördernde Kompetenz gefragt ist), Studienreform (Reduzierung der Ausrichtung der Curricula an traditionellen Berufsbildern, Flexibilisierung der Berufsvorbildung entsprechend sich ändernden Anforderungen der Gesellschaft an Absolventen, Forcierung von Kombinationsstudien, Ausbau der Möglichkeiten für den Studenten, sich sein Studium entsprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen zu gestalten etc.), Auflösung des Paradoxons arbeitsloser Mediziner bei gleichzeitigem Ärztemangel bzw. Überlastung praktizierender Ärzte etc. 1.2. Akademikerquote – Akademisierung Der Anteil der Erwerbspersonen mit Hochschulabschluß beträgt in Österreich 6,1 % (Akademikerquote; sie betrug 1971 3,1 % [Abschluß einer Hochschule oder einer verwandten Lehranstalt inklusive Lehrerausbildung; hochschulverwandte Einrichtungen sind solche, die Matura als Zugangsvoraussetzung aufweisen und zumindest 3 Jahre dauern; nicht erfaßt sind damit die Absolventen von Kollegs und anderen postsekundären Ausbildungen]). Diese Quote liegt im internationalen Vergleich nicht im Spitzenfeld. In der BRD beträgt der Anteil der Erwerbspersonen mit Hochschulabschluß (allgemeiner Hochschulabschluß inkl. Lehrerausbildung) 6,4 % und der Anteil der Erwerbspersonen mit Ingenieurschulabschluß und Fachhochschulabschluß 3,5 %. Auch wenn in Österreich in den HTL etc.



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eine beachtliche Ingenieur-Qualifikation erworben werden kann (der Anteil der Erwerbspersonen mit berufsbildendem, höherem Schulabschluß – HAK, HTL etc. – beträgt 5,2 %) und daher in einem Vergleich der Akademikerquoten die Fachhochschulabschlußquote der BRD nicht voll zu Buche schlagen kann, ergibt sich dennoch ein beachtlicher Unterschied zwischen den Akademikerquoten in Österreich und der BRD (Daten aus Schneeberger, Zukunftsfragen, 29 f.). Auch in anderen Ländern als in der BRD ist die Akademikerquote höher als in Österreich (Österreich 4,4 % [1985], Schweiz 5,2 % [1980], Italien 6 % [1984], Schweden 11 % [1984], USA 8,9 % [1984]; 5 oder mehr Jahre College; Quote für 4 oder mehr Jahre College: 20,9 %). Die Entwicklung zur Höherqualifizierung der Arbeitsplätze dauert fort. Daraus folgt, daß auch die Akademisierung der Berufe weitergeht. Die Prognos AG, Basel, hat im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit und des dieser Anstalt angeschlossenen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 1985/86 Umfang und Struktur des Arbeitskräftebedarfs bis zum Jahr 2000 projiziert. Demnach wird der Bedarf an Hochschulabsolventen in der BRD absolut und relativ bis zur Jahrhundertwende erheblich steigen. Im Jahre 2000 werden rund 14 bis 15 % aller Arbeitsplätze Akademikern vorbehalten sein. 1982 waren es erst 8,5 %. Quantitativ am bedeutsamsten sind nach dieser Projektion die Zuwächse bei den Entscheidungen vorbereitender Tätigkeiten, bei Forschung und Entwicklung sowie bei den Dienstleistungen. Trotz dieses Trends zu weiterer Akademisierung darf freilich zweierlei nicht übersehen werden. Zum einen folgt aus höherer Akademisierung nicht per se eine Förderung des Wirtschaftswachstums. Diese hängt von der fachlichen Ausrichtung des zusätzlichen Angebots an Qualifikationen ab (Schneeberger, Zukunftsfragen, 79 f.). Zum anderen ist der Akademikerzuwachs nicht nur nachfragebedingt, sondern hängt auch von Studier- und Berufsneigungen ab. Daraus folgt, daß ein Hochschulabschluß dann keinen Arbeitsplatz sichert, wenn der gesellschaftliche Bedarf nicht in Rechnung gestellt wird (vgl. oben im Abschnitt „Akademikerarbeitslosigkeit“ die Ausführungen zur Stellenandrangsziffer). Das Auseinanderklaffen zwischen Studienwahl und Nachfrage nach Absolventen zeigt ferner auch die Absolventenstatistik (vgl. dazu weiter unten). Akademikerquote und Akademisierung dürfen freilich nicht nur mit den Kategorien ökonomischen Nutzens bewertet werden. Bildung hat auch noch andere Funktionen als den der beruflichen Qualifizierung zwecks Steigerung des Wohlstandes der Gesellschaft und des Einzelnen. Der Erwerb eines Hochschulabschlusses dient auch der individuellen Persönlichkeitsentwicklung und -gestaltung und ist auch ein Mittel zur Förderung der individuellen Lebensqualität. Diese Funktion von Bildung wird insbesondere durch das sogenannte Seniorenstudium dokumentiert.

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Gleiches, nämlich die Vermeidung eindimensionaler Bewertung, gilt auch für den Sachverhalt, daß Akademiker mitunter nicht „akademikerwertig“ beschäftigt werden (und damit für einen Aspekt der Akademikerarbeitslosigkeit). Der individuelle Nutzen kann auch anders als nur durch ökonomische Kriterien definiert werden. Daß individuellem Nutzen gesellschaftliche Kosten gegenüberstehen, ist für sich allein jedenfalls nicht ausreichend, um Bewertungen von Bildungs- und Beschäftigungsphänomenen vorzunehmen. 1.3. Studiendauer Der europaweit zunehmende Wettbewerb um Absolventen besonders gefragter Studienrichtungen ist einer der Hauptgründe dafür, daß die Studiendauer verstärkt ins Blickfeld gerückt und deren Länge als Problem angesehen wird. Bundesdeutsche Studenten verlassen mit durchschnittlich 28 Jahren die Universität. Studenten in anderen Mitgliedsländern der EG schaffen es wesentlich schneller: die Briten mit 23, die Franzosen mit 26, die Italiener mit 27 Jahren. Verschärfend kommt hinzu, daß der seit absehbarer Zeit feststellbare Trend zu noch längeren Studienzeiten (von 1977 bis 1986 ist die durchschnittliche Fachstudienzeit an bundesdeutschen Universitäten von 5,6 auf 6,1 Jahre gestiegen; die Verweildauer liegt in der Regel noch ein bis zwei Jahre höher) weiter anhalten dürfte, sofern keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Festzuhalten ist, daß Durchschnittswerte große Unterschiede auf der Ebene der Studienfächer, der Hochschulorte und der Absolventenjahrgänge verdecken. An den Fachhochschulen sind sieben Studiensemester die Regel. Die Studienzeiten sind in vergleichbaren Fächern gut vier Semester kürzer als an den Universitäten. Analoges ist auch in Österreich feststellbar. Durchschnittlich 14,5 Semester brauchten die inländischen Absolventen des Studienjahres 1987/88 bis zur Erreichung ihres ersten akademischen Grades. (Die Verweildauer hat sich seit Ende der 60er Jahre um etwa ein Drittel verlängert.) Auch dieser Durchschnittswert verdeckt große Unterschiede der durchschnittlichen Studiendauer in den einzelnen Studienrichtungen. Die durchschnittliche Studiendauer reicht von 11,3 Semestern in den Rechtswissenschaften und in der Wirtschaftsinformatik bis zu 18 Semestern in der Veterinärmedizin, 18,3 Semestern in der Psychologie und in der Deutschen Philologie, 18,4 in der Architektur und 19,5 in der Kunstgeschichte (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung: „Universitäten – Hochschulen“, Statistische Daten, Wien 1988). Die Abweichung von der Mindeststudiendauer reicht von 2,1 Semestern bei der Informatik (10 Semester vorgeschriebene Mindeststudiendauer) bis zu 11,5 Semestern in der Kunstgeschichte (vorgeschriebene Mindeststudiendauer 8 Semester).



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Im internationalen Vergleich liegt Italien mit Österreich an der Spitze (7,5 bzw. 7,3 Jahre). Die Studienzeit beträgt in der BRD 7, in den Niederlanden 5,9, in Schweden 5,5 Jahre (Schneeberger, Tendenzen, 13 ff.; zur Studiendauer vgl. auch den Hochschulbericht 1987, 1. Band, 250 f.; ferner jüngst Stern, Studieren wir zu lange?). Wie eine Erhebung der tatsächlichen Studienzeiten in den Jahren 1982 bis 1987 an der Technischen Universität Wien zeigt, schaffen es nur die wenigsten Studenten, die Regelstudiendauer von 10 Semestern annähernd einzuhalten. Ein Viertel der Absolventen in der Architektur benötigte für das Studium mehr als 20 Semester. Bei den Bauingenieuren betrug diese Quote 16 %, bei den Maschinenbauern 12 % und bei den Elektrotechnikern 11 %. Bei den Informatikern betrug die Quote derer, die mehr als 20 Semester brauchten, nur 2 %. Jeweils 50 % der Studenten brauchte für Architektur 17 Semester, für Bauingenieurwesen 14,5 Semester, für Maschinenbau 14 Semester und für Elektrotechnik 13,5 Semester (vgl. ibf-aktuell, Nr. 5732 vom 28. 7. 1988, 1 f.). Die Ursachen für die langen Studienzeiten sind vielfältig. Nennen möchte ich Mängel in der Studierfähigkeit der Studenten und in der Lehrfähigkeit der Hochschullehrer. Die Studierfähigkeit der Studenten umfaßt Leistungsvermögen und Leistungswilligkeit. Bei der Leistungswilligkeit spielt die Motivation wieder eine große Rolle. Einerseits können z. B. fehlende Beschäftigungsaussichten demotivierend sein, andererseits sind Studienzeiten auch in jenen Studienrichtungen lang, deren Absolventen gute Arbeitsmarktchancen haben. Die Lehrfähigkeit der Hochschullehrer umfaßt auch Aspekte der Forschungsqualifikation. Weiters hat der Umfang der Ressourcen (Sachmittel und Personal) Einfluß auf die Studiendauer. Aufbau, Ablauf und Inhalte des Studiums, Prüfungswesen sowie Art und Ausmaß der Anforderungen sind weitere Faktoren, die die Studiendauer beeinflussen. So führt zum Beispiel die Spezialisierung des Lehrveranstaltungsangebots zur Verlängerung der Studienzeit. Außerdem gibt es – abgesehen vom Stipendienwesen (die Förderungsmaßnahmen des Studienförderungsgesetzes 1983 kommen u. a. nur dann zum Tragen, wenn die Studiendauer die gesetzlich vorgeschriebene Studiendauer um nicht mehr als ein Semester pro Studienabschnitt überschreitet) – kaum Anreize zur Studienzeitverkürzung. Zu nennen ist auch die Erwerbstätigkeit während des Studiums; so dürfte zum Beispiel der Sachverhalt, daß Architekturstudenten oft schon während ihres Studiums in einem Architekturbüro arbeiten, einer der Gründe für die überlangen Studienzeiten sowie dafür sein, daß nur 5 % der Architekturstudenten ihr Studium beenden. Ursache für die Länge der Studienzeiten ist schließlich die Universitätsorganisation. Es gibt kaum Evaluierungen dahingehend, ob und inwieweit die Aufgaben effektiv und effizient erfüllt werden; die inneruniversitäre Ressourcenverteilung erfolgt weitestgehend nach quantitativen Kennzif-

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fern, darunter die Zahl der Studenten. Es gibt wenig strukturelle Leistungsanreize. Steuerungsmechanismen dahingehend, daß der Studiengang nicht durch fachliche Spezialinteressen einzelner Hochschullehrer bestimmt bzw. überladen wird, fehlen. Gelegentlich lassen Hochschullehrer Diplomanden an speziellen Fragen aus ihrem persönlichen Forschungsgebiet so arbeiten, daß die Diplomanden hinsichtlich Zeit und Qualifikation überfordert sind. Schließlich sind auch die Arbeitsmarktlage und das Stipendienwesen Faktoren, die die Studiendauer beeinflussen. Wie eine Studie „Berufliche Verwertbarkeit fachlicher Spezialisierungsangebote des zweiten Studienabschnittes bei technischen Studienrichtungen“ zeigt, sind Absolventen Technischer Universitäten oft überspezialisiert. Im Durchschnitt kann nur jeder fünfte Diplomingenieur von sich behaupten, daß die fachliche Spezialisierung während des Technikstudiums für die derzeitige Berufstätigkeit unmittelbar verwertbar ist. Freilich gibt es bei der Umsetzbarkeit des gewählten Spezialgebietes deutliche Unterschiede zwischen den Studienrichtungen. Im Gegensatz zu Wirtschaftsingenieuren des Bauwesens oder Informatikern finden Chemiker, Bauingenieure und Verfahrenstechniker gute Möglichkeiten für die Verwertbarkeit ihrer Spezialisierung vor. Die fachlichen Differenzierungen innerhalb der Studienrichtungen nach Studienzweigen oder Wahlfachgruppen des zweiten Studienabschnittes gehen in vielen Fällen über den Bedarf hinaus; die Vielfalt der beruflichen Einsatzbereiche von Diplomingenieuren ist im allgemeinen bereits durch die verschiedenen Studienrichtungen hinlänglich abgedeckt (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, ibw-Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft: Berufliche Verwertbarkeit). Auch in Österreich werden überlange Studienzeiten zum Gegenstand von Reformpostulaten und zum Inhalt von Reformen. Beispielsweise ist die Studie „Qualifikation 2000“ des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen (S. 25) zu nennen. Die Universitäten selbst scheinen jedoch die langen Studienzeiten als weniger problematisch zu bewerten. Die Reform des Technikstudiums, die bis zu einem Ministerialentwurf gediehen ist (versandt zur Begutachtung am 20. Dezember 1989) und noch in der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden soll, nennt als eines der wichtigsten Reformziele die Verkürzung der Studienzeiten und setzt bei den durch die geltenden Studienvorschriften verursachten Studienzeitüberschreitungen an. So wird die Gesamtzahl der Wochenstunden für Lehrveranstaltungen auf grundsätzlich maximal 210 Wochenstunden (derzeit bis zu 251,7, z. B. in der Architektur), in der Studienrichtung Technische Chemie auf maximal 235 Wochenstunden (derzeit 276,6) begrenzt. Zu den wichtigsten Reformzielen zählen u. a. auch die Entspezialisierung, die Reduzierung der Studienzweige sowie eine Verbesserung des Studienaufbaus und des Prüfungswesens. Im politischen und im administrativen



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Bereich gibt es Absichtserklärungen, die Verkürzung der Studienzeit zu einem Ziel auch für die Reform anderer Studienrichtungen zu machen. 1.4. Trend zum Erwerb höherer Bildung Schülerstromanalysen zeigen seit einiger Zeit einen Trend zum Erwerb höherer Bildung, der sich auch in Zukunft fortsetzen wird. Dafür gibt es mehrere Gründe, wie z. B. gestiegene Neigung zum Erwerb höherer Bildung oder das Ausmaß der Beschäftigungschancen für Absolventen verschiedener Bildungsniveaus. Im Schuljahr 1987/88 standen 1,7 % der 15- bzw. 16jährigen (zwei Drittel 15jährige, ein Drittel 16jährige) nach Absolvierung der Schulpflicht nicht in Ausbildung schulischer oder betrieblicher Art. Im Schuljahr 1970/71 waren es noch 20,4 % (Schneeberger, Zukunftsfragen, 491). Ein neuer „Übertrittsrekord“ zeichnet sich im kommenden Schuljahr für Wiens Gymnasien ab. Nach ersten Schätzungen werden 1990/91 nicht weniger als 56,4 % aller Volksschüler der Bundeshauptstadt in eine AHS-Unterstufe überwechseln. Das ist um 1 % mehr als im Schuljahr 1989/90 (vgl. ibf-aktuell, Nr. 6132 vom 5. 3. 1990, 1 f,). Eine Schülerstromanalyse des Wiener Stadtschulrates zeigt, daß fast jeder fünfte Hauptschulabsolvent in Wien in eine BHS oder AHS-Oberstufe überwechselt. 66 % der Gymnasiasten verbleiben nach der 4. Klasse in der AHS. 31 % wechseln in eine BHS über (vgl. ibf-Spektrum vom 1. 6. 1989, 4). Innerhalb der Höheren Schule ist eine Umschichtung von der Allgemeinbildenden zur Berufsbildenden Höheren Schule festzustellen. Vom Schuljahr 1978/79 bis zum Schuljahr 1987/88 verzeichnete die BHS ein Plus von 47,7 %, die AHS ein Minus von 8,5 % (Schüler der 10. Schulstufe). Die vergleichbare Wohnbevölkerung (zwei Drittel der 15- und ein Drittel der 16jährigen) nahm im gleichen Zeitraum um 18,7 % ab (vgl. Schneeberger, Zukunftsfragen, 48). Im Schuljahr 1987/88 besuchten rund 19 % der 15- bzw. 16jähigen eine BHS, 1970/71 waren es erst rund 6 % (AHS: rund 17 % 1987/88; 14,5 % 1970/71) (vgl. Schneeberger, Zukunftsfragen, 49 f.). Der Trend der Umschichtung wird sich auch weiterhin fortsetzen. Dies zeigt die jüngste Schülerprognose des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung. Demnach wird die BHS die einzige weiterführende Schulform in Österreich sein, die bis zur Jahrtausendwende einen Zuwachs verzeichnen kann. 1987 legten 27 % der entsprechenden Altersjahrgänge eine Matura ab. Gegenüber 1965 bedeutet dies eine Verdreifachung der Maturantenquote. Schreibt man die jährlichen Steigerungsraten der Maturantenquote der 80er Jahre fort, so ist mit einer Maturantenquote von über 40 % ab der Jahrtausendwende zu rechnen (vgl. Schneeberger, Zukunftsfragen, 62 f.). Steigend ist auch die Quote des Übertritts der Maturanten in die Universität. Die Gesamtübertrittsquote der AHS-Absolventen stieg von 74 % im Jahre 1975 auf

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87 % im Jahre 1986; sie soll zur Jahrtausendwende 96 % betragen. Die analogen Übertrittsquoten für BHS-Absolventen lauten 33 %, 48 %, 63 %. Betrachtet man das postsekundäre Bildungssystem in seiner Gesamtheit, erscheinen die Zuwächse der Übertrittsquoten in einem anderen Licht. Der Anteil der Maturanten, die ein Studium an einer Universität begannen, stieg vom Ende der 60er Jahre bis 1986 auf rund 70 %. Dem Anstieg korrespondierte ein Rückgang der Übertrittsquote in die Pädagogischen Akademien im Ausmaß von 10 % (vgl. Hochschulbericht 1987, Band 1, 227f ).2 Die Berufsaussichten für AHS-Maturanten haben sich weiter verschlechtert. Aus einer Statistik des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung geht hervor, daß im Jahre 1989 159,1 AHS-Maturanten auf eine freie Stelle kamen; 1988 waren es 105. Bei den Absolventen aller anderen Bildungswege hat sich die Arbeitsmarktsituation verbessert. Dies gilt auch für Akademiker: Die Situation verbesserte sich von 8,9 auf 6,5 (vgl. Die Presse vom 19. 2. 1990, 5). Evident ist, daß die skizzierten Sachverhalte zahlreiche Probleme nach sich ziehen. Um diese Probleme lösen zu können, bedarf es freilich eines differenzierten Instrumentariums, dies nicht zuletzt deshalb, weil die Ursachen für die genannten Sachverhalte vielschichtig und die Sachverhalte miteinander vernetzt sind. So sind mit Sicherheit die allenthalben geforderten Aufnahmeprüfungen für die AHS oder Zugangsbeschränkungen für die Universität für sich allein keine adäquaten Problemlösungsinstrumente. Bewertet man die hohe Maturantenquote unter dem Strich nicht als negativ, machen die skizzierten Sachverhalte deutlich, welche Reformen geboten sind. Das Ausbildungsangebot für Maturanten ist horizontal und vertikal zu wenig strukturiert, es muß stärker diversifiziert werden. Die mangelnde Diversifizierung im postsekundären Bereich ist umso unverständlicher, wenn man sich die ausgeprägte Diversifizierung im primären und sekundären Bildungsbereich vergegenwärtigt. 1987/88 gab es laut Schulstatistik des Österreichischen Statistischen Zentralamtes rund 800 verschiedene Schulformen; damit erhöhte sich das Angebot an Schulformen in den letzten 15 Jahren um mindestens ein Drittel (vgl. ifb-aktuell, Nr. 5736 vom 3. 8. 1988, 1 f.). Den Mangel an Diversifizierung im postsekundären Bereich 2 Wie ein jüngster Forschungsbericht des Zentrums für Schulversuche und Schulentwicklung in Wien (Werner Schwendenwein/Günter Hanisch) zeigt, sind in der Unterstufe der AHS hohe „Verbleiberaten“ festzustellen. Die Durchfallquote ist seit 1985 bundesweit fast auf null gesunken. Dies bedeutet, daß fast alle Jugendlichen, die heute nach der Volksschule in ein Gymnasium übertreten, die 4. AHS-Klasse ohne größere Probleme erreichen. Vor 1985 verfehlten rund 10  % dieses Ziel. In der Oberstufe der Gymnasien ist die Situation anders. Nur drei Viertel der Jugendlichen, die in eine fünfte AHS-Klasse übertreten, kommen in der Normalzeit bis zur Matura. Der Rest „bleibt sitzen“, wechselt die Schule oder gibt überhaupt auf (vgl. ibf-aktuell, Nr. 6124 vom 21. 2. 1990, 1 f.).



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zeigt auch ein Vergleich mit westlichen Industriestaaten. So gibt es zum Beispiel in der BRD Fachhochschulen als Alternative zur Universität (vgl. auch unten). 1.5. Drop-outs Die Zahl der Schulabbrecher ist steigend. Am stärksten betroffen sind die ersten Klassen der weiterführenden Schulen. Bei den dreijährigen berufsbildenden mittleren Schulen beträgt die Drop-out-Quote von der 9. auf die 10. Schulstufe 44,6 % bei den Schülern und 29,5 % bei den Schülerinnen, von der 10. bis zur letzten Schulstufe 5,9 % bei den Schülern und 6,3 % bei den Schülerinnen (in Prozent der Schüler der 9. Schulstufe, das ist die erste Klasse; 1983/84–1985/86). Bezogen auf die 10. Schulstufe (1984/85) lautet die Tabelle der Drop-outs aus weiterführenden Schulen bzw. Lehren (von der 10. Schulstufe bis Ende) wie folgt: BHS 24,8 %, vierjährige BMS 16,4 %, AHS 11,6 %, dreijährige BMS 9,3 %, Lehre 5,9 %. In der BHS liegt die Drop-out-Quote in den ersten Klassen bei 12,3 % und erhöht sich bis zum Ende der Schulform auf 34 %. Bei den AHS steigt die Quote von 7,4 % in den ersten Klassen der Oberstufe bis zur Matura auf 18,2 % (Daten aus ÖIBF, Drop-out. Theoretische Studie; Knapp – Hofstätter – Palank, Drop-outs. Wien 1989, 164 ff.). Obwohl sich rund 98 % aller Jugendlichen nach Beendigung der neun Jahre Schulpflicht für einen weiterführenden Bildungsweg entscheiden, wird – sollten sich die Drop-out-Trends weiter fortsetzen – im Jahre 2001 immer noch jeder vierte Mann im erwerbsfähigen Alter nur Pflichtschulabschluß haben. Bei den Frauen wird immer noch jede Dritte keine Berufsqualifikation haben, die über den Pflichtschulabschluß hinausgeht (vgl. ibf-aktuell, Nr. 5876 vom 23. 2. 1989, 1 f.). Eine Untersuchung des Niederösterreichischen Landesschulrates hat ergeben, daß bundesweit 20 % der Lehranfänger ohne positives Abschlußzeugnis von einer weiterführenden Schule in die Berufsschule überwechseln. Die Abbrecher kommen vor allem aus den berufsbildenden Schulen (vgl. ibf-aktuell, Nr. 6138 vom 13. 3. 1990, 5). Wie eine jüngste Studie des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung zeigt, sind die Gründe für den Schulabbruch vielfältig. Genannt werden z. B. Überforderung und Lernunlust, schlechte Schulergebnisse, Wunsch nach ökonomischer Unabhängigkeit. Ferner zeigt die Studie, daß ein Viertel der schulischen Aussteiger Probleme mit den Eltern hat. Problematisch sind die Zukunftsperspektiven der Drop-outs. Nur 30 % der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die zwischen 15 und 18 in der Schule gescheitert sind, haben eine fixe Anstellung (Knapp – Hofstätter – Palank, Drop-outs). Die Hochschulstatistik des Studienjahres 1988/89 gibt die Drop-out-Rate der Studenten, welche ohne einen Abschluß das Hochschulstudium wieder verlassen, mit mindestens 40 % an. Mehr Frauen als Männer beenden ihr Studium nicht.

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Die Studienerfolgsquoten (die Studienerfolgsquote ist eine Verhältniszahl aus den Studienabschlüssen eines Studienjahres und den dazugehörigen Studienanfängen) haben sich laut Hochschulbericht 1987 in den vergangenen Jahren verschlechtert. Die durchschnittliche Erfolgsquote lag Mitte der 70er Jahre bei 57 %, sie ist bis zu Beginn der 80er Jahre auf 53 % gesunken und liegt derzeit (1987) bei rund 50 %. Auffallend ist ein starker geschlechtsspezifischer Unterschied, der sich in den letzten Jahren noch vergrößert hat. Mitte der 70er Jahre betrug der Anteil der männlichen Studienanfänger, die einen Abschluß erlangten, um 59 %, jener der weiblichen bei rund 52 % (Anfang der 80er Jahre 55 % bei Männern, 46 % bei Frauen, letzte Berechnung 56 % bei Männern und 44 % bei Frauen). Von den Studienrichtungen her gesehen haben Medizin mit 72 % und einige naturwissenschaftliche Studienrichtungen (Biologie, Geologie, Geographie) mit 65 % stark überdurchschnittliche Erfolgsquoten, unterdurchschnittliche Werte weisen Übersetzer und Dolmetscher mit 24 % sowie die grund- und integrativwissenschaftlichen Fächer mit 33 % auf (Hochschulbericht, 1. Band, 251, 266). In der Technik (54,3 %) und in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (57 %) sind überdurchschnittliche Mißerfolgsquoten zu verzeichnen (Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Zur Situation der Hochschulabsolventen in Österreich, 85). Für die Schweiz zeigt eine neuere Untersuchung zum Studienerfolg und -abbruch, daß die Ingenieurwissenschaftsstudenten mit 77 % eine weit überdurchschnittliche Erfolgsquote und die Wirtschaftswissenschaften eine leicht überdurchschnittliche Erfolgsquote (Studienerfolgsquote insgesamt: 61 %) aufweisen (vgl. Schneeberger, Zukunftsfragen, 65). Neuerdings wird von rund 45 % Studienabbrechern gesprochen. Die Unterschiede zwischen Studienrichtungen bzw. Universitäten sind beträchtlich. Die Zahl der Drop-outs liegt z. B. an der Wirtschaftsuniversität Wien bei 63 %. Eine Arbeitsgruppe (Leitung: Josef Thonhauser) geht im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung den Ursachen des Studienabbruchs nach. Trotz der hohen Drop-out-Quote ist der Studienabbruch an den Universitäten kaum ein Thema. Als Gründe für diesen Zustand nennt ein erster Zwischenbericht u. a. folgendes: Zum traditionellen Verständnis der Aufgaben unserer Universität gehört es offenbar nicht, daß sie sich um ihren quantitativen Ausbildungserfolg kümmern. Für den Studienerfolg werden zum größten Teil die Studierenden selbst als verantwortlich angesehen. Hohe Drop-out-Raten in den ersten Semestern werden vielfach als eine legitime Alternative zu Zugangsbeschränkungen angesehen. Große Unterschiede nennt der Zwischenbericht innerhalb der einzelnen Studienrichtungen betreffend den Zeitpunkt, wann ein Abbruch am ehesten zu erwarten ist. So ist ein Ausstieg bei jenen Studien am unwahrscheinlichsten, die an eine



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strenge Aufnahmeprüfung gebunden sind, wie etwa an den Kunsthochschulen. Andere Studienrichtungen (Pädagogik, Psychologie, Publizistik) haben erst am Ende eine, maximal zwei große Hürden eingebaut. Für die Hürden gibt es also wenige bis gar keine Vorübungen. Sie stellen somit qualitativ neue Anforderungen unter ungewohnten sozialen Rahmenbedingungen (Vereinzelung) dar. Es kommt daher auch bei zunächst erfolgreich Studierenden zu beträchtlichen Studienverzögerungen. 10–20 % von ihnen scheitern noch an dieser Stelle, was vielfältige Probleme mit sich bringt. Die Studierenden und ihre soziale Umgebung (Eltern, Verwandte) sind schon auf den erfolgreichen Abschluß eingestellt und werden enttäuscht; gleiches gilt für Betreuer, denen am Fortkommen ihrer Kandidaten liegt. Anzumerken ist, daß die Arbeitsgruppe auch ein Beratungskonzept entwickelt hat. Obwohl der Studienabbruch zahlreiche Probleme nach sich zieht, muß er differenziert betrachtet werden. Ursache für den Studienabbruch ist u. a. auch, daß in eine Erwerbsbetätigung umgestiegen wird. Auch wird die Verweildauer dazu verwendet, um lediglich in die Universität hineinzuschnuppern oder um die Phase der Adoleszenz abzuschließen und dann ins Erwachsenenleben einzutreten. Zuzugeben sei, daß diese Studenten gegenüber denjenigen privilegiert sind, die früher in das Erwachsenenleben eintreten müssen. Die Zahl der Studienanfänger stieg zwischen 1979/71 und 1987/88 um 163 %. Der Jahres-Output an Studienabschlüssen 1987/88 (Erst- und Zweitabschlüsse) stellte gegenüber 1970/71 einen Zuwachs um mehr als 90 % dar (vgl. Schneeberger, Trends, 322 f.; Schneeberger, Tendenzen, 4; Schneeberger, Zukunftsfragen, 71 f.). Diejenigen, die Aufnahmeprüfungen, „Selektionsprüfungen“ oder Systeme eines Numerus clausus als Abhilfen verlangen, sollten sich ausführlich mit Erfahrungen z. B. in den USA (Validitätsanalysen der „entrance examinations“ und Verfahren des „value added assessment“) oder Japan beschäftigen. Als ich vor zwei Jahren japanische Universitäten besuchte, beklagten einige Professoren den Mangel an Kreativität ihrer Studenten und begründeten diesen Sachverhalt mit eindimensionaler Selektivität der doppelten Aufnahmeprüfungen (landesweit und universitätsspezifisch). Jüngst ist darüber berichtet worden, daß in Japan zunehmend Zusammenhänge zwischen Mangel an Mut zu eigener Forschung und niedrigerem Stand der Grundlagenforschung an japanischen Universitäten einerseits und der Art des Schulsystems andererseits hergestellt werden (Etzlsdorfer). 1.6. Studienneigung – Studienrichtungswahl – Arbeitsmarktorientierung Das Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft hat österreichweit in repräsentativer Auswahl Maturanten/innen nach ihren Berufswünschen befragt (aus 27 Vorgaben konnten höchstens drei Berufe angekreuzt werden). Die Rangliste der Berufswünsche der Maturanten geht von Ingenieur 38,2 % bis Politiker 7,2 %

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(Lehrer 9,9 %, Rechtsanwalt 8,2 %, Arzt 7,4 %, Chemiker 7,2 %), die der Maturantinnen von Lehrerin 20,3 % bis Sportlehrerin 7,8 % (Psychologin 13 %, Ärztin 10,4 %, Biologin 8,7 %) (vgl. ibw-Fakten & Daten vom 23. 3. 1990, 9). Der Maturajahrgang 1989 im Bundesland Salzburg bevorzugte zu 17 % naturwissenschaftliche und 16 % künstlerische Fächer, gefolgt von Technik (14 %) und Geisteswissenschaften (12 %). Je rund 8 % wollten Medizin oder Jus studieren. Für Theologie entschieden sich 1–2 % (vgl. ibf-aktuell, Nr. 5911 vom 14. 4. 1989, 2). Bei einer vom Österreichischen Institut für Berufsbildungsforschung durchgeführten Befragung von 200 Schülern ergab sich folgendes Neigungsschema: 62 % interessierten sich im besonderen für die Wirtschaft, 62 % für gesellschaftliche Probleme, 61 % für Sprachen, 58 % für Biologie, 33 % für Technik und 29 % für Medizin (vgl. ibf-aktuell, Nr. 5870 vom 15. 2. 1989, 2). Rund ein Drittel der Studienanfänger wählte ein Fach aus dem Bereich der Geisteswissenschaften. An der zweiten Stelle der Beliebtheitsskala liegen die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, gefolgt von den technischen Studienrichtungen und Rechtswissenschaften. In den letzten Jahren konzentrierten sich die jährlichen Zuwächse nur noch auf einige Bereiche bzw. Studienrichtungen, vor allem Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Technik und Montanwissenschaften, während bei anderen Studienrichtungen Rückgänge zu verzeichnen waren (z. B. bei Medizin und den Geisteswissenschaften). Im Studienjahr 1988/89 haben fast 20 % weniger Medizinstudenten ein Studium begonnen als noch im Vorjahr. Bei den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ging die Zahl der Studienanfänger im selben Studienjahr erstmals um 10 % zurück. Groß sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede. Nach wie vor wählt fast die Hälfte der erstimmatrikulierenden Studentinnen ein geisteswissenschaftliches Studium. Die analoge Quote beträgt bei den männlichen Studienanfängern nur etwa ein Fünftel. Im Wintersemester 1988/89 waren 62 % der Lehramtsstudenten weiblich. In den technischen Studien sind nur 14,5 % der Studierenden und 19,5 % der Studienanfänger Frauen. Bei den Rechtswissenschaften, der Human- und Veterinärmedizin sowie bei künstlerischen Fächern lassen sich heute jedoch kaum mehr geschlechtsspezifische Präferenzen erkennen (vgl. zur Studienwahl ÖSTZ: Österreichische Hochschulstatistik für das Studienjahr 1988/89). Die Zahl der Studenten an Technischen Universitäten ist im internationalen Vergleich gering. Auf 1.000 Einwohner kommen in Europa nur 39 TU-Studenten, in den USA hingegen 77 und in Japan 76. Wie eine kürzlich durchgeführte Meinungsumfrage (vgl. dazu ibf-Spektrum vom 1. 4. 1990, 9) zeigt, besteht eine ambivalente Grundhaltung zur modernen Technik. Einerseits sind rund 75 % der Österreicher davon überzeugt, daß eine starke technologische Modernisierung der Wirtschaft notwendig ist, will Österreich auch in Zukunft mit den anderen west-



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lichen Industriestaaten mithalten. Andererseits glauben 84 %, daß Wissenschaft und Technik die Natur nicht überlisten können und der Mensch für jede neue Errungenschaft seinen Preis zahlen müsse. Frauen sind – wie gesagt – in technischen Berufen wenig vertreten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Eine Analyse von Geschlechtsunterschieden beim räumlichen Vorstellungs- und Wahrnehmungsvermögen – wichtige Voraussetzungen für technische Berufe – im Pflichtschulalter zeigt, daß trotz eines etwas höheren Intelligenzquotienten der getesteten Mädchen die Buben bei den Tests nicht nur besser, sondern auch schneller waren. Als Ursachen dafür nennt die Studie Erziehung und Schule (vgl. ibf-aktuell, Nr. 6139 vom 14. 3. 1990, 1 f.). Buben bezeichnen die gestellten Aufgaben für sich selbst als leicht, für die Mädchen aber als schwer: ein Vorurteil. Deutlich wird eine Disproportionalität der Hochschulexpansion (vgl. dazu Schneeberger, Zukunftsfragen, 13 f., 14 ff., 23 ff., 37 f., 79 ff.; Schneeberger, Trends; Schneeberger, Tendenzen). Diese Disproportionalität zeigen der hohe Akademikerzuwachs im öffentlichen Sektor, die nach Fachrichtungen aufgegliederte Absolventenstatistik und die Struktur der Akademikerarbeitslosigkeit (vgl. dazu die Arbeiten von Schneeberger und die Ausführungen oben, betreffend die Akademikerarbeitslosigkeit und die Akademisierung). Wie bereits ausgeführt, betrug der Zuwachs an Studienabschlüssen zwischen 1970/71 und 1987/88 mehr als 90 %. Die Geisteswissenschaften verzeichneten im selben Zeitraum einen Zuwachs von über 210 %, Medizin und Veterinärmedizin 200 %, Technik und Montanistik (abzüglich der Absolventen der zwischenzeitlich eingeführten Informatik und Datentechnik) 17 %. Schneeberger folgert aus gleichbleibender fachlicher Ausrichtung der Bildungsexpansion einen wachsenden Druck zur Ausweitung des öffentlichen Dienstes auf den formal höchsten Bildungsniveaus, die zur Verzerrung der Sektor- und Berufsstruktur der Beschäftigung führt.3 1971 waren 21 % der österreichischen Akademiker im Unterrichtswesen inklusive Hochschulen beschäftigt, 1987 41 %. Die Akademikerquote im öffentlichen Sektor beträgt laut Volkszählung 1981 13,4 %, jene des privaten Sektors 2,7 % (Zahlen bei Schneeberger, Trends, 320 f.). Analog zur Studienwahl ist die Fachrichtungsstruktur der Absolventen. Von den insgesamt 8.426 Erstabschlüssen des Studienjahres 1988/89 entfielen 927 auf 3 In einer Befragung, betreffend Beibehaltung der Anstellung auf Lebenszeit (Pragmatisierung), ergab sich ein Detail, das mit dem hohen Akademikerzuwachs im öffentlichen Sektor in Verbindung stehen könnte. Während bei den Befragten ohne und mit Matura die Zahl jener überwiegt, die ein Unterbinden der Anstellung auf Lebenszeit durchaus begrüßen würden, schaut dies bei Akademikern anders aus. 53 % der Akademiker stehen dem Ende der Pragmatisierung ablehnend gegenüber, 47 % befürwortend.

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Rechtswissenschaften, 1.299 auf Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, 1.469 auf Medizin, 2.815 auf Geistes- und Naturwissenschaften, 1.108 auf Technik, 71 auf Montanistik, 224 auf Bodenkultur. Beim Übergang von der Hochschule auf den Arbeitsmarkt ergeben sich, abgesehen vom Arbeitsplatz, noch weitere Probleme. Zu nennen sind Wartezeit und Befristung von Dienstverhältnissen. Außerdem wurde festgestellt, daß im Vergleich zu 1975/76 ein mehr als doppelt so hoher Anteil Akademiker des Jahrgangs 1985/86 Nichtakademikern bei der Stellenbesetzung nachfolgte (6 % zu 16 %; vgl. dazu und zu den genannten Problemen Loudon, Übergang). Letzterer Sachverhalt zeigt eine „Substitution in der Hierarchie der Bildungsebenen“ (Loudon) und einen Verdrängungswettbewerb nach unten. Darüber hinaus zeigt er die Tendenzen zur Akademisierung und wirft die Frage nach der „A-wertigen“ Beschäftigung von Akademikern auf. Obwohl vier von zehn Berufstätigen in Österreich weiblichen Geschlechts sind und das Bildungsniveau der Frauen in den letzten Jahren rasant gestiegen ist (als Beispiel seien die Hochschulen herangezogen: 1988/89 waren 44,1 % der ordentlichen Hörer weiblich; bei den Studienanfängern stellen die Frauen bereits 48,8 %. 1987/88 betrug der Anteil der Frauen an den Absolventen 41,1 %), konzentrieren sich Frauen nach wie vor in den traditionellen „weiblichen“ Berufen. Während z. B. bei Friseuren, Kosmetikern und in der Textilbranche der Anteil der Frauen zwischen 80 % und 90 % liegt, stellen sie nicht einmal eine von zehn Beschäftigten im technischen Bereich. 95 % aller weiblichen Lehrlinge konzentrieren sich auf nur 28 Lehrberufe. Davon sind 18 ausgeprägte Mädchenberufe, in denen mehr als zwei von drei Lehrlingen weiblich sind. 85,1 % aller weiblichen Lehranfänger wählten zehn Lehrberufe aus (hohe Konzentration auf wenige Lehrberufe). Bei den Burschen waren es 52,3 %. Anzumerken ist, daß die Diversifizierung der Berufswünsche generell gering ist. Die Hälfte aller Lehrlinge wird in nur acht Berufen ausgebildet. 1.7. Fachkräftemangel Derzeit werden 46 % aller 15jährigen als Lehrlinge in Betrieb und Berufsschule ausgebildet. Trotz dieses hohen Anteils gibt es Mangel an Fachkräften, der sich noch weiter verschärfen wird. Rechnet man den 46 %-Anteil am Altersjahrgang hoch, so wird es 2002 um 1/5 weniger Lehranfänger geben (ibw Fakten & Daten vom 28. 4. 1988, 14; zum Facharbeitermangel vergleiche auch die Facharbeiterprognose des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung). 22 Lehrberufe stehen im Rahmen eines Ausbildungsversuches seit 1987 (reduzierte Lehrzeit) u. a. Maturanten offen. Der Anteil der Maturanten an den Lehrlingen ist jedoch in Österreich (ca. 1 %) weitaus geringer als z. B. in der BRD (rund 20 %) (für Öster-



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reich vgl. ibw Fakten & Daten vom 13. 10. 1988, 32; vgl. Schedler, Berufsorientierte Bildungsmodelle). Es wird einiger bildungspolitischer Maßnahmen bedürfen, um den Facharbeitermangel zu bekämpfen. Wichtig ist jedenfalls auch die Information über Berufsvielfalt und Berufschancen (vgl. z. B. den vom ÖIBF herausgegebenen „Berufschancenkatalog“). 1.8. Entleerung der Hauptschule in den Ballungszentren Man spricht vom Hauptschulsterben. Der Besuch der Hauptschulen in den Ballungszentren geht drastisch zurück. Die Unterstufe der AHS nimmt dort gesamtschulhafte Züge an. 1989/90 besuchten in Wien 55,5 % der Volksschulabsolventen die AHS (1990/91: 56,4 %) und nur 44,5 % (1990/91: 43,6 %) die Hauptschule.4 Dem steht die allgemeine Schulbesuchs-Statistik gegenüber. Demnach besuchten 1989 70,9 % der 10- bis 14jährigen eine Hauptschule, 26,1 % ein Gymnasium und 3 % eine Sonderschule (Statistisches Zentralamt). Ähnliche Probleme gibt es auch in der Handelsschule. Die Schulstatistik verzeichnet seit 1978/79 einen Rückgang an Handelsschülern von 44 % (vgl. ibf-aktuell, Nr. 5991 vom 9. 8. 1989, 1 f.).5 Zahlreich sind die Anforderungen, die Wirtschaft, Arbeitswelt und Gesellschaft an das Bildungssystem herantragen. Jüngere Beispiele für Anforderungskataloge sind das Ergebnis der Befragung der Wiener Akademie für Zukunftsfragen über Führungskräfte-Ausbildung in Österreich (vgl. den Bericht im ECO-Journal der Presse vom 21. 4. 1989, 1 f.) und der Katalog der Anforderungen an Absolventen des Bildungswesens (Was wollen wir von Absolventen? Welche Fähigkeiten erwarten wir?) des Wirtschaftsforums der Führungskräfte, Landesgruppe Steiermark (vgl. WdF-Edition, Band 13: Wirtschaft – Schule – Bildung). Einerseits geht es darum, die Informationsexplosion zu bewältigen. Die Halbwertszeit des beruflichen Wissens beträgt etwa 3–5 Jahre. Andererseits werden 4 In manchen Wiener Bezirken ist der Sachverhalt noch gravierender. In Hietzing meldeten sich 1989/90 86,5 % der Volksschulabsolventen für die AHS-Unterstufe an (vgl. Kurier vom 19. 4. 1989, 21; ibf-Spektrum, Nr. 589 vom 1. 4. 1990, 5). 5 Die Liste der Probleme ließe sich unschwer weiter fortsetzen. Dabei müßten auch bisher im großen und ganzen vernachlässigte Problemindikatoren berücksichtigt werden. Nennen möchte ich z. B. den Nachhilfeunterricht. Fast jeder fünfte Schüler, der eine AHS-Unterstufe besucht, konsumiert Nachhilfestunden. Bei den Hauptschülern sind es 9  % (vgl. Elfriede Schmidinger, in: ibf-aktuell, Nr. 6069 vom 30. 11. 1989, 3). Schulerfolg und Leistungssteigerung hängen von der elterlichen Hilfe deutlich mehr ab als etwa vom Klassenklima oder von neuen Lehrplänen. Der Lehr- und Erziehungskraft der Familie wurde der Einflußfaktor 70, der Hochbegabtenförderung der Einflußfaktor 47 zugemessen (vgl. Volker Krumm, ibf-aktuell, Nr. 6027 vom 29. 9. 1989, 3). Jüngst sind weitere Problemindikatoren zum Gegenstand von Analysen gemacht worden. Nennen möchte ich das „Schulklima“ (Berthold, Lernlust) und das „Schummeln“ (ibf-aktuell, Nr. 6149 vom 28. 3. 1990, 2).

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zahlreiche neue Anforderungen formuliert, die Wissen, Können und Verhalten umschließen. Beispielsweise möchte ich nennen soziale, wirtschaftliche und technische Kompetenzen, Fremdsprachenkenntnisse, Rhetorik, Fähigkeit zu Mitarbeiterführung und Teamarbeit, Kommunikationsfähigkeit, Einsatz vom Managementtechniken etc. Hinweisen möchte ich auf ein Forschungsprojekt der OECD, durch das Kriterien für die Bewertung von Bildungssystemen erarbeitet werden sollen. Bildungsindikatoren könnten auch mithelfen, bildungspolitische Auseinandersetzungen auf eine sachlichere Grundlage zu stellen (diese können dadurch freilich nicht ersetzt werden) (vgl. zum OECD-Projekt Folkmann, Bildung).

2. Bildung – ein komplexer Sachverhalt Bildung ist ein komplexer Sachverhalt. Komplexität gilt auch für die Probleme des Bildungssystems. Daraus folgt, daß es keine einfachen Lösungen – ein bißchen Aufnahmeprüfung da, ein wenig Zugangsbeschränkung dort, ein bißchen Selektionsprüfung hier, ein wenig Eliteförderung dort – gibt. Ich möchte meine Hypothese, daß Bildung ein komplexer Sachverhalt ist, dreifach begründen. 2.1. Spiegel weltanschaulicher, menschenbildlicher, gesellschaftspolitischer, ideologischer Positionen In Bildung spiegeln sich weltanschauliche, menschenbildliche, gesellschaftspolitische, ideologische Positionen am deutlichsten. Bildung ist einer jener Politikersektoren, in dem die Politisierung am intensivsten ist. Die Entwicklung und Veränderungen des Bildungssystems der letzten 30 Jahre waren geprägt von verschiedenen Maximen. Es ging um Emanzipation, d. h. um Aufstieg durch Bildung, um Ausstieg aus privaten und gesellschaftlichen Zwängen durch Bildung und um Selbstverwirklichung durch Bildung. Es ging um Expansion von Einrichtungen schulischer Bildung. Dieser Expansion lagen jedenfalls zwei Motive zugrunde. Zum einen war es Ziel, regionale Bildungsbarrieren zu reduzieren und in jedem Bezirk eine höhere Schule zu errichten. Zum anderen bedurfte es insbesondere zur Steigerung des Lebensstandards der gesellschaftlichökonomischen Verwertung des individuellen Wissens- und Bildungserwerbes. Ferner wurde der freie und gleiche Zugang zu Bildungseinrichtungen zu einem Zentralwert, um einerseits soziale und ökonomische Barrieren für den Bildungsweg einzuebnen und die sozialen und ökonomischen Gefälle der gesellschaftlichen Schichtung zu reduzieren und andererseits jedem die Chance der Emanzipation durch Bildung, der Selbstverwirklichung durch Bildung zu geben. Entgegen mancher Äußerungen politischer und gesellschaftlicher Repräsentan-



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ten gehe ich davon aus, daß die bildungspolitischen Ziele (auch) heute nicht außer Streit stehen. In einer pluralistischen, am Wertrelativismus orientierten demokratischen, liberalen Gesellschaft muß jedenfalls mit einem ständigen Aufwand gerechnet werden, über Bildungsziele und Bildungsinhalte Konsens zu bilden, und in einer solchen Gesellschaft besteht auch die Chance, aus dem Konflikt fruchtbare Impulse für die Bildungsreform zu gewinnen. 2.2. Aufgabenvielfalt Bildung erfüllt mehrere Funktionen. Darüber hinaus bereitet die Operationalisierung der Zielerreichung Schwierigkeiten. Erstens geht es um Qualifizierung, d. h. um den Erwerb von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Notwendig ist nicht nur Studierwissen, sondern auch Erfahrungswissen. Daraus folgt zwangsläufig ein „duales“ System der Qualifizierung. Zum einen ist es die Schule bis zur Hochschule, zum anderen sind es Leben und Beruf, in deren Kontext Qualifikation erworben, erweitert, vertieft und gepflegt wird. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß unser Qualifizierungssystem zu sehr auf das Schulwissen hin orientiert ist; dem Erfahrungswissen wird geringere Beachtung geschenkt. Was bringt das Erfahrungswissen? Es bringt die Kenntnis, daß der Mensch und die Welt vieldimensional sind. Es schafft Wissen über die Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur, zwischen Psyche und Soma. Es lehrt, in Zyklen und Kreisläufen – Jahreszeiten, Tag und Nacht, Werden und Vergehen – zu denken. Es produziert Wissen, daß nicht alles getan werden darf, was getan werden kann; so ist z. B. Ethik primär „Produkt“ von Erfahrungswissen. Die Konsequenzen aus der Geringschätzung des Erfahrungswissens sind mehrfach. Nennen möchte ich die geringe Lebens- und Berufsorientierung von Schule und Hochschule, eine scheinbare Hierarchie zwischen Schulwissen und Erfahrungswissen (Schulwissen scheint mehr zu sein als Erfahrungswissen) und ein höheres Sozialprestige desjenigen, der sich über (höheres) Schulwissen qualifiziert. Zweitens hat Bildung mit Sozialisation und dem Erwerb sozialer Kompetenz zu tun. Es geht darum, im Team arbeiten zu können, sich gemeinsam mit anderen auf eine nur gemeinsam zu erfüllende Aufgabe hin orientieren zu können, seine Bedürfnisse und Interessen vertreten zu können, miteinander ins Gespräch kommen zu können, mit Konflikten umgehen zu können. Drittens geht es bei Bildung um den Erwerb von Reflexionskompetenz. Ich verstehe darunter die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Kritik; gegenüber sich selbst, seiner Gruppe, seiner Gesellschaft, seinem politischen System in Distanz gehen zu können; das Anderssein als Herausforderung zu begreifen; der Versuchung zur Absolutierung einzelner Dimensionen des Menschseins zu widerste-

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hen und sich allen Dimensionen dieses Menschseins – der kognitiv-rationalen, der musischen, der spirituellen etc. – zu stellen; dem Anderssein Raum zu geben. Schließlich zielt Bildung auf Persönlichkeitsentwicklung und auf Persönlichkeitsgestaltung, auf Personalisation. Es geht darum, seine Lebensaufgaben zu erspüren und zu erfüllen. Dazu gehört auch, seine Fähigkeiten und Begabungen zu erkennen und zu nutzen. 2.3. Personbezogener und gesellschaftsbezogener, ideeller und materieller Wert Bildung ist auch ein Wert. Sie hat als solche eine personbezogene und eine gesellschaftsbezogene Komponente. Zum einen geht es um Wachsen und Werden als Mensch, um Persönlichkeitsgestaltung und Persönlichkeitsentwicklung, um die Schaffung von individuell erlebbarer Lebensqualität, um die Aufbereitung des Bodens für die Beantwortung der Sinnfrage und darum, sich aus Zwängen zu lösen und Zwänge zu transzendieren. Zum anderen ist Bildung auch ein gesellschaftsbezogener Wert. Bildung ist ferner ein ideeller und ein materieller Wert. Es bedarf ihrer zur Schaffung menschenwürdiger, dem Menschsein förderlicher gesellschaftlicher Strukturen. Sie ist ein Instrument des Broterwerbs, eine Produktivkraft, und sie steht im Dienste gesellschaftlich-ökonomischer Verwertung.

3. Bildung und Sozialstatus/Sozialprestige Wer von Bildung spricht, darf insbesondere in Österreich nicht übersehen, daß es Zusammenhänge zwischen Bildung einerseits und Sozialstatus bzw. Sozialprestige andererseits gibt. So bestehen z. B. Interdependenzen zwischen Bildungsniveau einerseits und regionalen und sozialdemographischen Merkmalen andererseits. Aus einer Erhebung des Statistischen Zentralamtes über den Besuch bestimmter Schultypen kann geschlossen werden, daß die Schulbildung des Vaters und damit sein Beruf ein wichtiger Grund dafür ist, ob Kinder weiterführende Schulen besuchen oder nicht. 7 % der 10- bis 15jährigen in den AHS haben einen Vater mit Pflichtschulabschluß, 70 % der Gymnasiasten leben in einem Akademikerhaushalt. 6 % der 10- bis 15jährigen in ländlichen Gemeinden besuchen die Unterstufe einer AHS, in Wien sind es 44 % dieser Altersgruppe (Eichwalder, Schulbesuch). Von den Studienanfängern des Wintersemesters 1988/89 hatten etwa 18 % einen selbständig oder freiberuflich erwerbstätigen Vater. Fast 60 % hatten einen Angestellten oder Beamten zum Vater; im öffentlichen Dienst stand rund 1/4 aller Väter. Etwa 12 % der Väter von Studienanfängern waren als Arbeiter tätig, und 4 % aller inländischen Studienanfänger stammten von Landwirten. Rund 1/5 der Väter waren selbst Akademiker, und fast ebenso viele hatten einen Maturaabschluß. Somit haben 40 % der Studienanfänger des Wintersemesters 1988/89 Väter mit



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akademischer Ausbildung bzw. Maturaniveau; die Gruppe der männlichen Berufstätigen mit dieser Schulbildung in der Gesamtbevölkerung macht demgegenüber nur 17 % aus (ÖStZ: Hochschulstatistik, 1988/89). Auch das Ergebnis der Volkszählung zeigt starke schichtspezifische Unterschiede. Akademisch gebildete Angestellte und Beamte sowie Freiberufler lassen ihre Kinder dreimal so häufig eine Hochschule besuchen wie der Durchschnittsösterreicher. Kindern aus Arbeiterfamilien wird demgegenüber seltener der Besuch einer Hochschule ermöglicht (ÖStZ: Hochschulstatistik, 1988/89). Vergleicht man die Argumente, die bei der Bevölkerung für eine Lehrausbildung bzw. für eine Matura sprechen, so zeigt sich, daß höheres Ansehen der häufigst genannte Grund (53 %) für eine Matura ist. Bei der Lehrausbildung steht soziales Ansehen an vorletzter Stelle (4 %) (vgl. ibw-Fakten & Daten vom 19. 2. 1990/4). In der BRD werden von Abiturienten vor allem solche Lehrberufe gewählt, die – abgesehen von höheren theoretischen Anforderungen – ein hohes Sozialprestige aufweisen (vgl. Schedler, Berufsorientierte Bildungsmodelle, 47). Ärzte genießen nach Meinung von Maturanten in der Öffentlichkeit das höchste Ansehen; auch leistungsmäßig rangieren sie ganz oben. Dagegen sehen Maturanten im Handelsangestellten, Buchhändler oder Biologen keinen Prestigeberuf (vgl. ibf-Spektrum vom 1. 2. 1990, 10). Eine Umfrage bei Pharmazeuten in Großbritannien ergab, daß rund 90 % des undergraduate curriculum in Pharmazie irrelevant war, um Pharmazeutika zu verkaufen. Dennoch wollten sie nichts an diesem Sachverhalt ändern: „Their fear was that, if the element of theory was substantially reduced, the course would cease to be credible as a degree programme. The profession could then no longer insist on an all-graduate entry, and in due course its standing in the community, along with the related salary levels, would be adversely affected“ (Tony Becher, Theory and practice). Das aus Gründen des Sozialstatus und des Einkommens gegebene Beibehalten von Curricula und formalen Ausbildungsniveaus auch dann, wenn Curriculum und Niveau für das Ausbildungsziel irrelevant geworden sind, dürfte auch in manch anderer Studienrichtung und auch in Österreich nachweisbar sein. In einer Untersuchung über die Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Haupterwerbslandwirten wird nachgewiesen, daß die Bildungsexplosion in Österreich ohne Landwirte stattgefunden hat.6

6 75,5  % der Betriebsleiter hatten lediglich Volksschulabschluß, 22,8  % Hauptschulabschluß und 1,7 % Mittelschulabschluß. Damit liegt das allgemeine formelle Bildungsniveau der selbständigen Berufstätigen in der Land- und Forstwirtschaft erheblich unter dem österreichischen Durchschnitt: Laut Volkszählung 1981 hatten rund 49 % der Beschäftigten nur Pflichtschulbildung, verglichen mit 98,3 % bei den befragten hauptberuflichen Landwirten (Pevetz, Lebens- und Arbeitsverhältnisse).

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Auch das fachliche Ausbildungsniveau erwies sich als eher niedrig. 41,5 % hatten überhaupt keine fachliche Ausbildung. Hoferben legen jedoch einen größeren Wert auf Bildung. 37,2 % wollen eine Landwirtschaftliche Fachschule besuchen. 22,4 % eine Landwirtschaftliche Meisterprüfung ablegen. Nur 6,1 % wollen in eine Mittelschule und nur 0,4 % eine Landwirtschaftliche Universität besuchen (Pevetz, Lebens- und Arbeitsverhältnisse). Mit österreichischen akademischen Graden und Studienabschlüssen ist vielfach eine Berechtigung für die Zulassung zu einem bestimmten Beruf verbunden (effectus civilis). Der Abschluß eines Studiums bildet entweder die Voraussetzung für die Ausübung eines Berufes bzw. für die Zulassung zu einer vorbereitenden Tätigkeit, oder der Abschluß ersetzt einen Teil der für die Zulassung zu einem bestimmten Beruf geforderten Qualifikationen. Auch dieser Sachverhalt, den es in anderen Ländern nicht oder noch nicht in dieser Intensität gibt, beeinflußt die Studienwahl und die Bewertung des Hochschulstudiums (zum effectus civilis vgl. Kasparovsky, Berufsberechtigungen). Bildungsgefälle haben viele Ursachen und bedürfen mehrdimensionaler Betrachtung. Wollte man z. B. bei der Volkszählung und als Basis für den Finanzausgleich nur auf den Studienort von Studierenden abstellen, so würde man das regionale Bildungsgefälle und die Tendenzen der Landflucht zumindest unterstreichen, wenn nicht gar forcieren. Folge einiger der vorhin genannten Sachverhalte ist für mich, daß die bildungspolitischen Maximen der 60er und 70er Jahre – zumindest in Teilbereichen – nach wie vor relevant sind. Ferner bedarf es adäquater politischer Programme, um Einstellungen betreffend Sozialprestige zu verändern.

4. Reformvorschläge Es bedarf einer differenzierten Palette von Vorschlägen, aber auch von Visionen und Phantasien, um Probleme im Bildungssystem zu entschärfen. Wesentliche Postulate sind u. a. eine adäquate Proportionierung der Bildungspyramide, eine verstärkte Differenzierung des tertiären Bildungssektors, die stärkere Beachtung des dualen Aspekts der Qualifizierung (Erfahrungswissen/Schulwissen), die Aufgabe historischer und/oder wirklichkeitsfremder Bildungsideale, die Ausgestaltung des Diplomstudiums als stärker „angeleitetes“, ausbildungsorientiertes Grundstudium, die Verkürzung der Studienzeiten, die Differenzierung zwischen „School“ und Forschungseinheit (dies freilich unter dem einen Dach „Universität“ und unter Beachtung des Grundsatzes der Einheit von Lehre und Forschung), Schwerpunktsetzungen in Forschung und Lehre, Deregulierung des (staatlichen) Studienrechts, Verbesserung der universitären Lehre durch Erstellung von Curricula (Ziel-Mit-



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tel-Adäquanz zwischen Lehrzielen und Lehrinhalten einschließlich Evaluierung), Verstärkung des Kontaktes zwischen Universität einerseits, Gesellschaft, Wirtschaft, Arbeitswelt anderseits, Forcierung der universitären Weiterbildungsprogramme etc. (vgl. zu diesen Postulaten z. B. Brünner, Bildungspolitik). Ich möchte nachfolgend nur einige Überlegungen anstellen. Die sogenannte Bildungspyramide ist in Österreich weder vertikal noch horizontal adäquat proportioniert. Eine solche müßte eine über den Pflichtschulabschluß hinausgehende breitere Schicht mittlerer Bildung, dichter gestufte Studienabschlüsse („Kurzstudien“, Zwischenabschlüsse), stärkere Herausforderung für Begabung, größere Anpassungsfähigkeit bei Änderungen auf dem Arbeitsmarkt und in Berufsbildern sowie Repräsentativität sozialer Schichtung der Bevölkerung aufweisen. Erfreulich ist, daß die Diskussion betreffend die Adäquanz der Bildungspyramide bereits läuft. Vorgeschlagen wurde u. a. Realschule, Mittlere Reife, Aufwertung der Berufsschulen dadurch, daß nach der Lehrlingsausbildung drei zweisemestrige Aufbaulehrgänge angeschlossen werden können, die jeweils mit der Mittleren beruflichen Reife, der Meisterprüfung und der Fachmatura abschließen, Einführung einer Bildungsschiene zwischen Reifeprüfung und Hochschulstudium etc. Ein interessantes Konzept stellt das Wirtschaftsförderungsinstitut der Handelskammer Steiermark zur Diskussion: An die Volksschule schließt entweder die AHS oder die Realschule an. Letztere bietet nach der vierten Klasse eine Umstiegsmöglichkeit in die AHS bzw. BHS und nach der fünften Klasse in die Lehre. Die Realschule wird nach der sechsten Klasse mit der Mittleren Reife abgeschlossen. In einem zweijährigen Wirtschaftspraktikum, das „Kolleg“ und „Praktikum“ umfaßt, sollen sowohl Absolventen von Lehrberufen als auch der Mittelschulen jeweils das „Gegenstück“ ihrer bisherigen Ausbildung erfahren. Für Lehrlinge gäbe es den Schwerpunkt Theorie, für Maturanten den Schwerpunkt Praktikum. Abgeschlossen wird das Wirtschaftspraktikum mit einer Berufsreifeprüfung, die Maturanten als Wirtschaftsassistenten qualifizieren und Lehrlinge zum Studium berechtigen würde. Mit der Wirtschaftsakademie sollen qualifizierte, mittlere Führungskräfte herangebildet werden. Das Ausbildungsziel soll eine umfassende Fachausbildung sowie eine fundierte betriebswirtschaftliche Ausbildung gewährleisten. Gleichzeitig soll diese Ausbildungseinheit in einer einschlägigen Fachrichtung den ersten Studienabschnitt der Universitätsausbildung ersetzen und die Voraussetzung für die Erlangung einer Gewerbeberechtigung inkludieren. Schon während meiner Tätigkeit als Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz habe ich immer wieder darauf hingewiesen, daß Österreich keine adäquate Differenzierung des postsekundären Bildungsbereichs hat. Individuelle Begabungen und Interessen der Studierenden sowie gesellschaftliche Bedürfnisse nach

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Absolventen von Einrichtungen höherer Bildung sind höchst unterschiedlich. Der Rückgang der mittleren Abschlüsse (Lehre und Fachschule), der Trend zur höheren Bildung und zur Akademisierung verstärkt die Bedeutung des postsekundären Ausbildungsangebots im Hinblick auf die berufliche Allokation bei Jugendlichen (vgl. dazu insbesondere Schneeberger, Zukunftsfragen). Diesen Sachverhalten muß eine adäquate Differenzierung des Sektors höhere Bildung „horizontal“, aber auch vertikal im Sinne der Förderung besonders Begabter gegenüberstehen. Anmerken möchte ich, daß ich den Begriff „Begabung“ (oder auch „Elite“) mehrdimensional verstehe. Er umfaßt für mich kognitiv-rationale, psychomotorisch-handwerkliche und intuitive Aspekte, sowie Aspekte sozialer Kompetenz. Und apropos: Neuerdings und wieder öfter wird von Europa als der (kulturellen) Elite gesprochen. Dieser Aussage ist vielfach nichts anderes inhärent als Präpotenz und Mißachtung der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Kulturen, auch der in Zentralafrika, Asien und Lateinamerika. Differenzierungsbedarf gibt es im universitären Bereich sowie im außeruniversitären Bereich des postsekundären Sektors. Außerdem sind regionale Bedarfe mit zu berücksichtigen. Konturen einer Strukturierung des universitären Sektors sind u. a. die wissenschaftliche Berufsvorbildung in Diplomstudien als Grundausbildung und für die Ausbildung einer größeren Zahl von Studierenden, die begabungsorientierte Bildung durch Teilnahme an der Forschung in Doktoratsstudien, der Erwerb von Qualifikationen in Hochschullehrgängen und Hochschulkursen sowie die immer wieder praktizierte Rückkehr an die Hochschule zwecks Fort- und Weiterbildung. Weiters sind Kurz- und Aufbaustudien zu nennen. Anmerken möchte ich, daß man Kurzstudien dadurch diskreditiert, indem man sie in den Zusammenhang mit Fragen der Studierfähigkeit oder der Drop-out-Rate bringt. Es fehlt in Österreich auch an attraktiven Alternativen zur Universität. In einer Publikation der OECD zum Thema „Development of Higher Education 1950–1967“ aus dem Jahre 1970 wird als Besonderheit des österreichischen Bildungswesens angeführt, daß sich hier bis zur Mitte der 60er Jahre im tertiären Bildungsbereich kein nichtuniversitärer Sektor entwickelt habe. Daran hat sich bis heute nichts Grundsätzliches geändert. In einem jüngsten Bericht des Education Committee der OECD zum Thema „Alternatives to Universities in Higher education“ vom März 1989 heißt es: Non-university-institutions „have, over the last fifteen years, succeded in consolidating their position within national systems of higher education. Thus, in the vast mayority of member countries, with the notable exception of Austria and Italy, there now exists a well-established nonuniversity sector with a strong basis of public support and recognition of its role and functions“ (13).



2.5. Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben

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Die meisten westlichen Länder haben also attraktive Alternativen zur Universität im tertiären Bildungsbereich. Zum Beispiel entfallen in der Schweiz 36 % der Studierenden auf der Tertiärstufe des Bildungssystems auf nichtuniversitäre, berufsorientierte Ausbildungsgänge. In der BRD studieren 23 % der Hochschüler an Fachhochschulen (Wissenschaftsrat 1990: 33,1 %). Den größten Anteil nehmen dabei die Ingenieurwissenschaften, gefolgt von den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ein (vgl. Schneeberger, Tendenzen, 8). Fachakademien insbesondere für den technischen und wirtschaftswissenschaftlichen Bereich könnten diese notwendigen Differenzierungen bringen. Ein diesbezüglich interessanter Versuch ist derzeit das „Technikum Vorarlberg“. Man wird freilich Fachakademien, welcher Art auch immer, nur dann annehmen, wenn sie auch ein entsprechendes Sozialprestige vermitteln. Dies wird nur gelingen, wenn man sie – wie die Fachhochschulen in der BRD – hochschulähnlich (um Mißverständnissen vorzubeugen, halte ich fest: nicht hochschulanalog) einrichtet. Sozialprestigefragen dürften übrigens auch einer der Gründe für manchen Widerstand gegen die Schaffung von Alternativen für die Universität sein. Erfreulich ist das Wachsen der Überzeugung, daß der postsekundäre Bildungssektor adäquater Differenzierung bedarf. So postuliert z. B. der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen die Prüfung der Struktur des postsekundären Ausbildungssystems in Österreich im Lichte der internationalen Entwicklungen dahingehend, ob die Erweiterung des Angebotes berufsbezogener Kurzstudien und Hochschullehrgänge bzw. die Schaffung spezifischer berufsbildender Akademien („Technische, kaufmännische ... Akademien“) als Alternative zum universitären Ausbildungsangebot sinnvolle Maßnahmen zur besseren Abstimmung des Ausbildungssystems und des Arbeitsmarktes darstellen könnten (Qualifikation 2000, 26; vgl. auch das oben dargestellte WIFI-Modell betreffend Wirtschaftsakademien). Dem dualen Aspekt der Qualifizierung – Erfahrungswissen/Schulwissen – muß erhöhte Bedeutung zukommen. So sollten z. B. die Lehr-und Lernstrukturen der Wirklichkeit analog sein. Diese hat viele (Fach-)Aspekte, die Aspekte sind vernetzt, es gibt mehrere Dimensionen – die kognitive, die rationale, die musische, die spirituelle etc. –, und sie ist auf Ganz-sein ausgelegt, mag auch dieses nur bruchstückhaft erkennbar und partiell verwirklichbar sein. Der duale Aspekt der Qualifizierung wird ferner dadurch gefördert, daß die Lehr- und Lernstrukturen des einen Bereichs partiell in den anderen integriert werden und umgekehrt. Für die Universität bedeutete dies eine stärkere Berufs- und damit Ausbildungsorientierung bei der wissenschaftlichen Berufsvorbildung im Grundstudium (Dieter Simon: „... die Universitäten täten gut daran, einen nicht unerheblichen Teil dessen nachzumachen, was die Fachhochschulen vorgemacht haben“; in: Deutsche Universitätszeitung, Heft 5/1989, 14). Auch „Sandwich-Studien“ sollten gefördert werden:

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2. Bildung

Eine Zeitlang studiert man an der Universität, eine Zeitlang arbeitet man, dann erst wird der Studienabschluß erworben. Das oben dargestellte WIFI-Modell geht ebenfalls von der Überzeugung aus, daß eine Fachkraft über Grundwissen, und ein „Kopfarbeiter“ über Erfahrung verfügen muß. Im Juristengesetz 1978 hat man eine richtige Erkenntnis, nämlich daß ein absolvierter Jurist auch soziale Kompetenz haben muß, falsch umgesetzt. Man führte ein Wahl-Pflichtfach „Psychologie für Juristen“ ein. Juristen büffeln aufgrund der Vorlesungen und aus Lehrbüchern nun auch Psychologie. Ich wage die Hypothese, daß dadurch die soziale Kompetenz, wenn überhaupt, nur marginal erhöht werden kann. Angesprochen wird dadurch nämlich nur die kognitiv-rationale Dimension („Schulwissen“). Besser hätte man das Ziel, Juristen auch in sozialer Kompetenz zu schulen, dadurch erreicht, wenn man angehende Juristen in Selbsterfahrungsgruppen selbstreflexiv „soziale Kompetenz“ lernen und erfahren lassen würde („Erfahrungswissen“). Die beiden Schienen der Qualifizierung müssen jedenfalls als gleichberechtigt anerkannt werden. Dies kann u. a. auch dadurch erreicht werden, daß die Besten der „Berufsorientierten“ („Erfahrungswissensorientierten“) – Meister, Land- und Forstwirte, Krankenschwestern etc. – eine Einrichtung höherer Bildung im nichtuniversitären Sektor besuchen können. Umgekehrt stehen den „Schulorientierten“ Einrichtungen zur Verfügung, die Erfahrungswissen produzieren. Nennen möchte ich Kollegs und die Lehre für Maturanten. Beim Beruf des Lehrers sollte nicht primär auf den Abschluß einer bestimmten Schule als Anstellungserfordernis abgestellt werden, sondern auch auf das Erfordernis von Lebenserfahrung, mit der Folge, daß man Lehrer erst in seiner zweiten Lebenshälfte werden könnte. Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen führt in diesem Zusammenhang aus: „Unbefriedigend ist der Zustand, daß Lehrer allgemeinbildender Schulen im Normalfall keine Berufserfahrung außerhalb des Bildungssystems sammeln können (Kreislauf: Schule – Universität bzw. Pädagogische Akademie – Schule)“ (Qualifikation 2000, 24). Unser Weltbild, unsere Wissenschaft und unsere Ausbildung sind geprägt und dominiert vom kausalen Denken. Dieses ist abgestimmt auf die Erfordernisse, die Materie zu erforschen. Folge dieses Sachverhalts ist eine Reduktion von Wirklichkeit. Wirklichkeit ist aber durch eine Vielfalt von Erscheinungsformen gekennzeichnet, dies auch außerhalb der Materie. Wir werden daher auch das Denken in Analogien, wie es beispielsweise für die Homöopathie oder die Astrologie typisch ist, schulen müssen. Wir müssen nach „Einheiten“ suchen, aus denen die Vielfalt durch verschiedene „Mischungsverhältnisse“ zusammengesetzt ist. Entsprechungen („wie oben, so unten“; Mikrokosmos – Makrokosmos; auch die Chaostheorien liefern Anschauungsmaterial für Entsprechungen) müssen fruchtbar gemacht



2.5. Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben

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werden. Von der Einrichtung eines Ordinariats für Homöopathie oder Astrologie z. B. könnten analoge Synergieeffekte ausgehen, wie vom Lehrstuhl für Literatur der ETH Zürich, den ein Literat, nämlich Adolf Muschg, innehat, für die technische Ausbildung. Es kann freilich nicht darum gehen, ein Denkmodell durch ein anderes zu ersetzen, sondern verschiedene Denkmodelle als Teile eines Ganzen zu begreifen. Gerade durch ein Denken in Analogien kann die notwendige systematische Übertragung von Erkenntnissen zwischen den Erkenntnisbereichen bzw. die Prüfung der Relevanz von Erkenntnissen des einen Bereiches für den anderen vorangetrieben, der Blick erweitert und die Problemlösungskapazität vergrößert werden. Die Bedeutung effektiver Studien- und Berufsinformation liegt auf der Hand. Information kommt u. a. auch von den Eltern. Sie dominieren z. B. die Berufswahl Jugendlicher. 40 % der Jugendlichen geben an, bei der Berufswahl von Mutter und/oder Vater beeinflußt worden zu sein. Der Elterneinfluß ist vor allem bei 14- bis 15jährigen Mädchen und 18- bis 19jährigen Burschen wirksam (vgl. ibwFakten & Daten vom 26. 1. 1990/3). So notwendig es ist, Kinder ihren Weg gehen zu lassen, sie „Ich“ sein zu lassen, ihre Fähigkeiten und Neigungen zu fördern, so schwer ist das auch (ich bin selbst Vater). Ich vermute deshalb, daß gegen diese Notwendigkeit oftmals, auch im Zusammenhang mit der elterlichen Beratung bei der Berufswahl, gesündigt wird. Einrichtungen des Fernstudiums müssen massiv ausgebaut werden. Je schneller das einmal erworbene Wissen veraltet, umso öfter müssen „Weiterbildungsstudien“ besucht werden. Diese können aus vielen Gründen in der Regel nicht als Residenzstudien angeboten werden. Ferner erlauben die Entwicklungen auf dem Gebiet der Telekommunikation mehr und mehr, einen Teil des Studiums nicht als Präsenzstudium absolvieren zu müssen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil eine ganze Reihe von Lehrinhalten bzw. bestimmte Typen von Lehrveranstaltungen nicht die gleichzeitige Präsenz von Studierenden und Hochschullehrern erfordern. Darüber hinaus erhöhte die Fernuniversität die Chancengleichheit derer, die außerhalb von Universitätsstandorten wohnen, sowie derer, die berufstätig sind oder Familie haben. Schließlich erleichterten ausgebaute Möglichkeiten des Fernstudiums die Schwerpunktbildung in der Lehre an den Universitäten. Schon wegen der knappen Mittel können nämlich nicht an allen Hochschulen alle Studienrichtungen und Studienzweige adäquat ausgestattet bzw. betreut werden. Einsparungen an Ressourcen sollten teilweise zum Aufbau eines attraktiven Fernstudienwesens verwendet werden. In den USA wird postsekundäre Bildung als etwas aufgefaßt, was ein ganzes Leben lang betrieben wird. So ist fast die Hälfte der Studenten heute mehr als 22 Jahre alt. Der typische Community College-Student ist mindestens 30. Nur zwei

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2. Bildung

Millionen der zwölf Millionen Studenten sind Fulltime-Residenz-Studenten und zwischen 18 und 22 Jahre alt. Eine Studie an der Fernuniversität Hagen in der BRD zeigt, daß der typische Fernstudent Ende zwanzig und verheiratet ist, zwei Kinder hat und bereits einen Berufsabschluß besitzt. Anmerken möchte ich, daß Erkenntnisse und Erfahrungen auf dem Feld der Erwachsenenbildung mehr als bisher für die wissenschaftliche Lehre an den Universitäten fruchtbar gemacht werden müssen. Dabei sollte auch die Kooperation mit außeruniversitären Bildungseinrichtungen verstärkt werden. Ein erstes Exerzierfeld könnte die Studienberechtigungsprüfung sein: Die Universitäten lernen an und mit den Berufstätigen erwachsenengerechteres Lehren, und sie arbeiten Lehrunterlagen für die Studienberechtigungsprüfung aus, die im ganzen Land den Erwachsenenbildungseinrichtungen – diese sind dezentrale Lehreinheiten – für Vorbereitungskurse etc. zur Verfügung gestellt werden.

Literatur BEIRAT FÜR WIRTSCHAFTS- UND SOZIALFRAGEN: Qualifikation 2000, Wien 1989. BECHER, Tony: Theory and practice in professional knowledge; CRE 35th biannual conference, Uppsala, Mai 1989. BERTHOLD, Monika: Lernlust oder Schulfrust, in: ibf-Spektrum vom 15. 2. 1990, 1 ff. BUNDESMINISTERIUM FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG (BMWF): Statistisches Taschenbuch, Wien 1986. BMWF: Zur Situation der Hochschulabsolventen in Österreich, Wien 1986. BMWF: Hochschulbericht 1987, 2 Bände, Wien 1987. BMWF: Universitäten – Hochschulen. Statistische Daten. Wien 1989. BMWF – ibw – INSTITUT FÜR BILDUNGSFORSCHUNG DER WIRTSCHAFT: Berufliche Verwertbarkeit fachlicher Spezialisierungsangebote des zweiten Studienabschnittes bei technischen Studienrichtungen, Wien 1989. BRÜNNER, Christian: Bildungspolitik – Neue Akzente, in: Wirtschafts-Politik in den 90er Jahren, Wirtschaftsbund-Hearing, Wien 1989, 21 ff., 78 f. BRÜNNER, Christian: Die Universität – nachgeordnete Dienststelle des Wissenschaftsministeriums oder selbständige Einrichtung? In: Wirtschaftspolitische Blätter, Heft 4, 1988, 512 ff. (zur „Massenuniversität“ 517 ff.). Den Universitäten täte ein wenig Fachhochschule gut. Der neue Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Prof. Dieter SIMON, ist bereit, auch einmal „quer zu denken“ (Interview), in: Deutsche Universitätszeitung, Heft 5/1989, 14 ff.



2.5. Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben

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Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage betreffend Entwicklungsland und Perspektiven der Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache Nr. 11/2603 vom 30. 6. 1988. Die Zukunft der Arbeitslandschaft. 3 Teile. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg (November) 1985 (vgl. nunmehr: Prognos AG – Peter HOFER u. a., Arbeitslandschaft bis 2010 nach Umfang und Tätigkeitsprofilen, Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 131; Christoph v. ROTHKIRCH – Inge WEIDIG, zum Arbeitskräftebedarf nach Qualifikationen bis zum Jahr 2000, Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 95). EICHWALDER, Reinhard: Schulbesuch nach regionalen und soziodemographischen Merkmalen. Ergebnisse des Mikrozensus Dezember 1985, in: Statistische Nachrichten 1989, Heft 2, 96 ff. ETZLSDORFER, Hannes: Japans Schulsystem steht am Scheideweg, in: ibf-Spektrum vom 1. 4. 1990, 18. FOLKMANN, Karin: Bildung kann man messen, in: ibf-Spektrum, Nr. 581 vom 15. 11. 1989, I ff. KASPAROVSKY, Heinz: Berufsberechtigungen aufgrund österreichischer akademischer Grade und Studienabschlüsse, Stand 1. 1. 1989, Wien (hektographiert). KNAPP, Ilan – HOFSTÄTTER, Maria – PALANK, Franz: Drop-outs. Jugendliche nach dem Schulabbruch, Wien 1989. LENZ, Werner – BRÜNNER, Christian (Hrsg.): Universitäre Lernkultur, Lehrerbildung – Hochschullehrerfortbildung – Weiterbildung. Wien 1990 (in Druck). LOUDON, Susanne: Der Übergang von der Hochschule auf den Arbeitsmarkt, in: Arbeitsmarkt Nr. 4/1989. More Practice for Future Profession. The Fachhochschulen in the Federal Republic of Germany. Bildung ��������������������������������������������������������������������� und Wissenschaft (Education and Sience) BW 1988 Nr. 5/6 (enthält auch eine umfangreiche Bibliographie zum Thema Fachhochschule). OECD/Education Committee: Alternatives to Universities in Higher Education. General Report, April 1989, ed (89) 7. OECD/Education Committee: Alternatives to Universities in Higher Education. Trends and issues. März 1989, ed (89) 6 (vgl. auch die OECD Country Study, Austria). ÖSTERREICHISCHES INSTITUT FÜR BERUFSBILDUNGSFORSCHUNG (ÖIBF): Berufschancenkatalog – Lehrberufe. Chancen im erlernten Beruf, Wien 1989. ÖIBF: Bildungsbericht. Demographie – Bildung – Arbeitsmarkt, Wien 1989. ÖIBF: Drop-out. Theoretische Studie zur Untersuchung, Manuskript, Wien 1989. ÖSTERREICHISCHES STATISTISCHES ZENTRALAMT: Österreichische Hochschulstatistik, Studienjahr 1988/89, Wien 1989. PEVETZ, Werner: Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Haupterwerbslandwirten. Bundesanstalt für Agrarwirtschaft, Schriftenreihe Nr. 49, Wien 1988.

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2. Bildung

SCHEDLER, Klaus: Berufsorientierte Bildungsmodelle im tertiären Bereich. Vergleich Österreich – BRD, Forschungsbericht 72, Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft, Wien 1989. SCHNEEBERGER, Arthur: Tendenzen am Akademikerarbeitsmarkt – Rückwirkungen auf Studienwahl und Studium? Materialien aus der Berufsbildungsforschung, ibw – Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft, Wien 1989. SCHNEEBERGER, Arthur: Trends der Akademikerbeschäftigung und Konsequenzen für die Berufs- und Bildungslaufbahnberatung, in: Erziehung und Unterricht, Österreichische Pädagogische Zeitschrift, Heft 5, 1989, 320 ff. SCHNEEBERGER, Arthur: Zukunftsfragen der Bildungsexpansion. Quantitative Grundlagen und Konsequenzen für die berufliche Qualifikation, Forschungsbericht 69, Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft, Wien 1989. STERN, Johannes: Studieren wir zu lange? in: ibf-Spektrum vom 1. 4. 1990, I ff., 10. STIFTERVERBAND FÜR DIE DEUTSCHE WIRTSCHAFT: Memorandum und Aktionsprogramm zur Studienzeitverkürzung, Essen, März 1990. WdF-Edition, Band 13: Wirtschaft – Schule – Bildung. Gedanken und Ergebnisse eines Arbeitskreises des WdF (WIRTSCHAFTSFORUM DER FÜHRUNGSKRÄFTE), Steiermark, Graz 1989. WISSENSCHAFTSRAT: Fachstudiendauer an Universitäten 1987, Köln 1989. WISSENSCHAFTSRAT: Grunddaten zum Alter der deutschen Hochschulabsolventen und des wissenschaftlichen Nachwuchses. Anzahl, Altersverteilung und Geschlecht beim Diplom, Promotion und Habilitation, Köln 1989. WISSENSCHAFTSRAT: Fachstudiendauer an Fachhochschulen 1987, Köln 1990. WISSENSCHAFTSRAT: An den Fachhochschulen sind sieben Studiensemester die Regel. Pressemitteilung vom 8. 2. 1990. WIRTSCHAFTSFÖRDERUNGSINSTITUT DER HANDELSKAMMER STEIERMARK: Neue Wege in die Zukunft. Konzept für eine wirtschafts- und berufsorientierte Bildungsreform. Diskussionsgrundlage (Peter-Heinz GEBELL – Peter HOCHEGGER), Graz 1989. WIRTSCHAFTSFÖRDERUNGSINSTITUT DER HANDELSKAMMER STEIERMARK: 6jährige Realschule mit dem qualifizierten Abschluß der „Mittleren Reife“. Team 2000, Graz 1989.



2.6. Gefragt ist die Vielfalt an Hochschultypen

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2.6. Christian Brünner, Gefragt ist die Vielfalt an Hochschul­ typen. Plädoyer für die Gründung von Fachhochschulen

in: „Plenum“ 2/1991, 11–22

Vorbemerkungen 1. Als ich 1987/88, damals als Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz, mit der Klage über die mangelnde Diversifizierung des tertiären Bildungssektors und mit der Forderung nach Errichtung einer berufsorientierten, hochschulähnlichen Bildungseinrichtung begann, fand ich – zumindest innerhalb der Österreichischen Rektorenkonferenz – nur geringes Echo. Umso mehr freut es mich, daß die Österreichische Rektorenkonferenz nun ein Internationales Seminar zum Thema „Die Universität im Dialog mit der Fachhochschule“ durchführt. Wenn ich von den OECD-Berichten aus den Jahren 1970 und 1989, betreffend den nichtuniversitären Sektor des tertiären Bildungsbereiches in Österreich, absehe, ist es dieses Symposion der Österreichischen Rektorenkonferenz, das erstmals eine Plattform für einen professionellen internationalen Informations- und Erfahrungsaustausch zum Thema „Institutions of Higher Education“ bietet. Ich möchte dafür der Österreichischen Rektorenkonferenz und Frau Dr. Alexandra Suess meine Hochachtung zum Ausdruck bringen. 2. Ich wünsche mir, daß in die Diskussion betreffend die Diversifizierung des tertiären Sektors auch die Arbeitnehmerseite einbezogen wird. Zwar spricht sich der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen in seiner Studie „Qualifikation 2000“ für die Prüfung der Zweckmäßigkeit von Alternativen zum universitären Ausbildungsangebot aus. Und auch die Sozialpartner des Landes Vorarlberg unterstützen die Bemühungen, das Technikum Vorarlberg als Fachhochschule zu führen. Dennoch unterscheidet sich das zum Beispiel vom OGB in die Diskussion gebrachte Modell einer Fachhochschule beträchtlich von anderen Modellen, wenn beim Fachhochschul-Zugang Absolventen einer Lehre mit jenen einer AHS gleichgestellt sein sollen (vgl. Die Presse, 13./14. 4. 1991, 5).

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2. Bildung

3. Ich erwarte die Gründung von Fachhochschulen noch in dieser Legislaturperiode. Grundlage dieser meiner Erwartung ist das Arbeitsübereinkommen von SPÖ und ÖVP über die Bildung einer gemeinsamen Bundesregierung für die Dauer der 18. Gesetzgebungsperiode des Nationalrates. In den Kapiteln Unterricht sowie Wissenschaft und Forschung heißt es: „Die Anpassung des berufsbildenden Bildungssystems an den europäischen Standard (EG-Konformität der Diplome) erfordert die Einrichtung von Fachakademien, die den Hochschulbereich ergänzen und entlasten und als Aus- und Weiterbildungsstätte für unterschiedliche Berufsfelder einzurichten sind. Fachakademien sollen grundsätzlich Absolventen von höheren Schulen und jungen Facharbeitern (nach entsprechender Qualifikation) offenstehen.“ Anmerken möchte ich, daß man sich mittlerweile auf den Terminus „Fachhochschule“ geeinigt hat, dies nicht zuletzt wegen der Einrichtung von Fachakademien durch die Wirtschaftsförderungsinstitute.

I. Zur „Topographie“ der Bildungslandschaft in Österreich Die „Topographie“ der Bildungslandschaft in Österreich ist eine „abwechslungsreiche“, differenzierte. Dennoch weist sie einige Defizite auf. 1. Die „Distribution“ des Bildungsgutes ist höchst „zentralisiert“, dies in mehrfacher Hinsicht. Sie spielt sich schwerpunktmäßig in Ballungszentren und Zentralorten ab. Sie ist institutionell zentralisiert, das heißt, sie erfolgt in „Schulen“ mit Residenzpflicht für die Schüler/innen. Hinzu kommt eine für einen Bundesstaat untypische Kompetenzkonzentration des Bildungswesens beim Bund. Folgen letzteren Sachverhaltes sind u. a. Bürokratisierung, Überreglementierung, Mangel an Wettbewerb zwischen den Institutionen des Bildungsbereiches und – wegen Art. 14 Abs. 10 und Art. 14 a Abs. 8 B-VG – Mangel an Wettbewerb zwischen den politischen Parteien. Die Zentralisierung ist in vielerlei Hinsicht disfunktional. Es sind daher die Möglichkeiten des distance-learning auszubauen, wofür Stand und Entwicklung der Telekommunikation hervorragende technische Voraussetzungen bieten. Darüber hinaus müssen Angebote für ein Teilzeitlernen (Teilzeitstudieren) verstärkt werden, um mehr als bisher Erwachsene bzw. Berufstätige in die Lage zu versetzen, sich weiterzubilden und höher qualifizieren zu können. Die Quote der Teilzeitstudierenden in Österreich ist – verglichen mit anderen Ländern – sehr gering. Schließlich könnte eine Verländerung des Fachhochschulwesens zu einem Aufbrechen mancher Verkrustungen im Bildungssystem führen; ich bin mir freilich der Utopiehaftigkeit dieses meines Vorschlages bewußt.



2.6. Gefragt ist die Vielfalt an Hochschultypen

171

2. Der „Kupplungsbereich“ zwischen den Ebenen des Bildungssystems und zwischen Bildungsinstitutionen zeichnet sich durch intensive Reglementierung aus. Zugangsvoraussetzungen sind weitestgehend formalisiert und generalisiert. Diesen Sachverhalt können auch zweite oder dritte Bildungswege, wie z. B. die Studienberechtigungsprüfung, nicht kompensieren. Entwicklungen in anderen Ländern zeigen, daß die Hochschulexpansion nicht nur zur Ausdifferenzierung eines zur Universität alternativen, nicht-universitären Sektors geführt hat, sondern auch dazu, daß – nicht zuletzt wegen mancher Starrheit und Inflexibilität (so z. B. nicht hinreichend auf die individuelle Begabungs-, Fähigkeits- und Erfahrungskapazität einzugehen) des „öffentlichen“ Sektors – ein „dritter“ Sektor in der Form privat angebotener, hoch spezialisierter Ausbildungsgänge für Ausbildungswerber entstanden ist, die auch an einer Hochschule erfolgreich sein könnten. Auch in Österreich wird ein solcher dritter Sektor sichtbar. Blickpunkte sind das Weiterbildungsangebot von Industrie und Wirtschaft (derzeit werden ca. 5 Milliarden Schilling pro Jahr ausgegeben), die Aktivitäten der Erwachsenenbildungsinstitutionen sowie die Hochschulkurse und Hochschullehrgänge gemäß §§ 18 und 40 a AHStG. Freilich ist der Aktionsradius des dritten Sektors in Österreich angesichts des Sachverhaltes, daß mit Schul- und Studienabschlüssen Berufsberechtigungen verbunden sind und die förmliche Berufsberechtigung in Österreich nach wie vor eine große Rolle spielt, eingeschränkt. Abgesehen davon, daß das Berufsberechtigungssystem liberalisiert gehört, sollte auch eine Machbarkeitsstudie betreffend eine „open university“ in Österreich erstellt werden. Durch eine solche „Einrichtung“, die in Kooperation mit den Hochschulen, den Institutionen der Erwachsenenbildung, den Medien etc. und mit Hilfe auch der Methoden des distance learning betrieben werden sollte, könnte jegliches Bildungspotential, auch das, das sich nicht in Zeugnissen, Scheinen und Berechtigungen dokumentiert, entfaltet werden. 3. Das System der Qualifizierung und der gesellschaftlichen Bewertung ist zu sehr auf das Schulwissen hin orientiert. Dem Erfahrungswissen kommt geringere Bedeutung zu. Vergleicht man die Argumente, die bei der Bevölkerung für eine Lehrausbildung bzw. für eine Matura sprechen, ist höheres Ansehen der häufigst genannte Grund (53 %) für eine Matura. Bei der Lehrausbildung steht soziales Ansehen an vorletzter Stelle (4 %). Gleichzeitig vertreten 69 % der Befragten die Meinung, daß man mit einer abgeschlossenen Lehre bessere Möglichkeiten habe als ein Maturant. Sozialprestige ist nicht nur in Österreich eine Determinante des Bildungswesens. So hat zum Beispiel eine Befragung der Pharmazeuten in England ergeben, daß 90 % des undergraduate curriculum in Pharmazie als irrelevant

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2. Bildung

für den Beruf angesehen werden. Dennoch möchte man aus Sozialprestigegründen nicht auf die „Akademisierung“ verzichten. Auch wird die kognitiv-rationale Dimension des Menschseins in den Curricula überbetont. Ein Beispiel ist das Juristengesetz, das ein Prüfungsfach „Psychologie für Juristen“ einführt. Daß soziale Kompetenz weniger mit Hilfe des Kopfes als vielmehr zum Beispiel durch Selbsterfahrung beim zwischenmenschlichen Kontakt (den man in Selbsterfahrungsgruppen simulieren kann) erworben wird, liegt auf der Hand. 4. Der tertiäre Bildungssektor ist durch eine abrupte, schlagartige Verengung gekennzeichnet (siehe Schema), was zu disfunktionalem Druck auf die Universität führt. Dieser Druck wird sich überdies noch erhöhen. So wird die Übertrittsquote an eine Universität bei der AHS von 82 % im Jahre 1990 auf 88 % im Jahre 2000, und bei der BHS von 43 % im Jahre 1990 auf 51 % im Jahre 2000 steigen (interessant sind die Zahlen für die höheren technisch-gewerblichen Lehranstalten: 1990 52 %, im Jahre 2000 63 %). Die Maturantenquote (Anteil am zugehörigen Geburtsjahrgang) wird von 29,2 % im Jahre 1990 auf 34 % im Jahr 2000 steigen. 5. Der Druck auf Kontur und Profil der Universität wird größer. Ich möchte die Pole der „Verschublinie“ dichotomisch, plakativ beschreiben: von der Erkenntnis um der Erkenntnis willen zur Erkenntnis im Dienste gesellschaftlich definierter Zwecke; von der Philosophie zur Technologie; von der Grundlagenforschung zur anwendungsorientierten Forschung; von der Beteiligung an der Forschung als zentralem lerndidaktischem Prinzip zur Ausbildungsstätte; vom Generalisten zum Spezialisten; von der „Gesamtschau“ zur Isolierung von Disziplinen; vom Vorrang des Geistes zum Vorrang der Materie; vom Denken in Analogien zum Denken in Kausalketten (es kommt nicht von ungefähr, daß Homöopathie, Akupunktur und Astrologie im großen und ganzen an der Universität keinen Platz finden); von der zeitlosen Gelehrten- und Studierstube zum zeitorientierten „Akkord“ (Zeitvorgaben für Problemlösung und Forschungsauftrag sowie für das Studium); vom mehrdimensionalen Bildungsbegriff (Bildung als Instrument der Personalisation, Sozialisation und Reflexion) zum eindimensionalen Bildungsbegriff (Bildung als Instrument beruflicher Qualifizierung). Der Typus Universität könnte durch andere Typen von Einrichtungen höherer Bildung von diesem Druck, die Funktion zu verändern, befreit werden. Nochmals: Ich bin mir bewußt, daß meine Entwicklungshypothesen dichotomisch-plakativ sind, ferner, daß viele der verwendeten Begriffe, z. B. der Begriff „Generalist“, zu präzisieren wären. Weiters ist die Wirklichkeit eine der Abstufungen zwischen den Polen. Schließlich sollte jede Einrichtung höherer Bildung



2.6. Gefragt ist die Vielfalt an Hochschultypen

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sich bei Herausarbeitung ihres Profils von den jeweils beiden Polen inspirieren lassen. Dennoch lassen sich Typen des Mehr oder Minder, d. h. mit jeweils vorherrschenden, prägenden Merkmalen bilden. Ein Typus ist die Universität. Sie sollte nach meinem Verständnis ein Mehr des jeweils erstgenannten Pols haben. Anders formuliert: Die Universität soll Teil der Gesellschaft sein, aber sie soll sich als Antithese zum jeweiligen gesellschaftlichen Zeitgeist verstehen und verstehen können (auch dies ist eine Form von Gewaltenteilung). Sie soll ein andersartiges, aber gleichwertiges (und nicht höherwertiges) Subsystem der Gesellschaft neben anderen Subsystemen wie z. B. Wirtschaft und Arbeitswelt sein.

II. Modelle für eine Diversifizierung des tertiären Sektors Nachfolgend sind Modelle für eine Diversifizierung des tertiären Sektors aufgelistet. Die Modellbildung erfolgt mehr oder minder idealtypisch. 1. Vertikale Strukturierung, z. B.: – Kurzstudien an den Universitäten (in Österreich gibt es nur drei Studienrichtungen, die in der Form von Kurzstudien angeboten werden, nämlich Datentechnik, Versicherungsmathematik und Übersetzer; klassische Ingenieurfächer werden nicht in der Form eines Kurzstudiums angeboten); – konsekutiv aufgebaute Studiengänge an den Universitäten, ähnlich dem angloamerikanischen System: undergraduate (bachelor)-, graduate (master)- und postgraduate (doctor)-Programme; – grandes écoles. 2. Horizontale Strukturierung, z. B.: – Universitäten; – Kunsthochschulen; – Fachhochschulen; – Polytechnics; – grandes écoles. 3. Systeme mit vertikaler und horizontaler Strukturierung, z. B.: – USA 4. „Dritter Sektor“ Meine Hypothese ist, daß an den Universitäten angebotene Kurzstudien zu keiner adäquaten funktionalen Differenzierung gegenüber dem Langstudium und damit

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2. Bildung

auch zu keiner sektoralen Gliederung des tertiären Bereichs führen. Die Universität wird aus vielerlei Gründen kaum in der Lage sein, zwei Funktionen (berufsorientierter Typ und forschungsorientierter Typ) zu erfüllen, ohne daß die eine oder die andere leidet. Die Hochschulkurse bzw. Hochschullehrgänge nach den §§  18 und 40 a AHStG sind kein Ersatz für den berufsorientierten Hochschultypus. Sie haben primär den Charakter von Weiterbildungsveranstaltungen, teilweise postgradual, teilweise unter Einbeziehung von Nichtmaturanten. Für ein Modell konsekutiv aufgebauter Studiengänge fehlen in Österreich die Voraussetzungen, damit jede Stufe eine spezifische Funktion herausbilden kann. Die Hochschullandschaft der USA ist z. B. durch eine Vielfalt von Einrichtungen höherer Bildung, vom community college bis zu den ivy league-Universitäten geprägt. Ferner bietet nicht jede Institution of Higher Education alle drei Studienstufen an. Daraus folgt, daß eine Studienstufe ein selbständiges, berufsorientiertes Profil entwickeln kann, und dieses Profil steht im Wettbewerb mit jenen Institutions of Higher Education, die alle drei Studienstufen anbieten, d. h., es zwingt auch diese Institution zur Funktionsdifferenzierung zwischen den Studiengängen. In Österreich fehlt diese Vielfalt an Einrichtungen höherer Bildung. Es entstünde für die Universität kein Druck, undergraduate Programme berufsorientiert auszurichten. Und wenn jede Universität alle drei Studienstufen anbietet, ist es wahrscheinlich, daß jede niedrigere Studienstufe determiniert ist im Hinblick auf die höhere; dann aber ist keine Studienzieldifferenzierung bzw. Funktionsdifferenzierung gegeben. Aufgrund der vorhin kurz geschilderten Probleme vertikaler Strukturierung bleibt für mich nur der Weg, den tertiären Bildungssektor horizontal zu strukturieren, weil nur auf diese Weise eine adäquate Aufgaben- bzw. Funktionendifferenzierung herbeigeführt werden kann. Neben der Hochschultype Universität soll eine Hochschultype Fachhochschule errichtet werden. Die Fachhochschule soll sich durch Andersartigkeit bei grundsätzlicher gesellschaftlicher Gleichwertigkeit auszeichnen. Beide Postulate sind freilich nicht als eindeutige, klassifikatorische Aussagen zu verstehen. So sind, trotz Aufgaben- bzw. Funktionsdifferenzierung zwischen verschiedenen Hochschultypen, Aufgaben- und Funktionsüberschneidungen unvermeidbar. Darüber hinaus werden zunächst gegebene Überschneidungen dazu führen, daß sich Kontur und Profil unterschiedlicher Hochschultypen schärfen, was wiederrum zu weitgehender Auflösung von Überschneidungen führen kann. Werden Fachhochschulen gegründet, so wird dies z. B. zunächst zu einem gemeinsamen „Naschen“ am anwendungsorientierten Forschungsauftragskuchen führen. In der Folge wird sich jedoch wahrscheinlich eine Differenzierung einstellen:



2.6. Gefragt ist die Vielfalt an Hochschultypen

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Fachhochschulen werden praxisbezogenere anwendungsorientierte Forschung, Universitäten praxisfernere anwendungsorientierte Forschung durchführen. Eine solche Entwicklung würde das jeweilige Profil schärfen, und dies täte auch der Universität gut, weil der da und dort feststellbare Sog zu einer äußerst praxisbezogenen anwendungsorientierten Forschung der Universität im Hinblick auf ihre andersartige Funktion nicht immer nützt. Ferner bringt die Formel „Andersartigkeit bei grundsätzlicher gesellschaftlicher Gleichwertigkeit“ ein Prinzip zum Ausdruck. Dieses läßt jedoch durchaus Unterschiede zwischen den Hochschultypen und zwischen den Absolventen/innen verschiedener Hochschultypen (z. B. Promotionsrecht nur für Universitäten; unterschiedliche und wechselnde Einkommenspositionen der Absolventen etc.) zu. Ich plädiere daher für eine Vielfalt an Hochschultypen auch in Österreich. Diese Vielfalt sollte Universitäten, Kunsthochschulen, Fachhochschulen und Pädagogische Fachhochschulen (für die Pflichtschullehrerausbildung) umfassen. Wenn ich im Folgenden von Fachhochschule spreche, ist somit ein spezifischer Hochschultyp gemeint, der sich in seiner Funktion von anderen Hochschultypen unterscheidet.

III. Motive für die Errichtung von Fachhochschulen Nachfolgend möchte ich einige Hypothesen betreffend Gründe formulieren, die für die Errichtung von Fachhochschulen sprechen. Nicht alle Gründe sind modellspezifisch, d. h., nicht alle Gründe sprechen ausschließlich für eine horizontale Strukturierung durch den Typus „Fachhochschule“. 1. Verschiedene Begabungen, z. B. berufsorientierte, handwerkliche, psychomotorische Begabungen oder Begabungen in Teilbereichen des Sozial- und Gesundheitswesens (z. B. im Bereich der Krankenpflege) finden keine entsprechenden Einrichtungen höherer Bildung vor. Sie können auch nicht durch die Universität „bedient“ werden. Indikatoren dafür sind, daß rund 40 % der Erstinskribenden nicht an einer Universität studieren würden, wenn sie attraktive Alternativen vorfänden, ebenso ein bestimmter Teil der Drop-outs. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist freilich folgendes festzuhalten: Primäres Motiv für die Errichtung von Fachhochschulen darf es nicht sein, die Universitäten zu entlasten, oder die Dropout-Rate zu senken, sondern das Bildungssystem auf die Vielfalt der Begabungen hin auszurichten. Freilich wird die Errichtung attraktiver Fachhochschulen eine Entlastung der Universitäten und ein Sinken der Drop-out-Rate zur Folge haben, was ein durchaus erwünschter Nebeneffekt ist.

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2. Wirtschaft und Gesellschaft melden immer wieder Bedarf nach berufsorientierter und kürzer ausgebildeten Absolventen von Einrichtungen höherer Bildung an. An den Fachhochschulen in der BRD sind sieben bis acht Studiensemester die Regel; Studienzeiten an den Fachhochschulen sind in vergleichbaren Fächern gut vier Semester kürzer als an den Universitäten. Darüber hinaus gibt es spezifisch regionale Bedarfe nach Absolventen von Einrichtungen höherer Bildung. Es kommt nicht von ungefähr, daß Bundesländer, die keine Universitäten haben, die Errichtung von Universitäten fordern. Spezifisch regionale Bedarfe können jedoch von den Universitäten nicht erfüllt werden, ohne daß ihr Charakteristikum, nationale, überregionale Forschungs- und Lehreinrichtungen zu sein, leiden würde. Auch wenn Fachhochschulen spezifisch regionale Bedarfe befriedigen können, müssen sie freilich überregionale Attraktivität haben, interregionale Mobilität fördern und ein breiteres Fächerspektrum anbieten. 3. Die Errichtung von Fachhochschulen ist notwendig, um die internationale Konkurrenzfähigkeit Österreichs zu erhalten. Diese umfaßt u. a. quantitative, qualitative sowie institutionelle bzw. formelle Aspekte, ferner Aspekte der Dauer der Erstausbildungszeit. In Österreich fehlen derzeit 23.000 Fachkräfte. Bis zum Jahre 2000 wird es einen Fehlbestand zwischen 4.000 und 5.000 akademisch gebildeten Technikern geben. Curricula müssen internationalen Qualitätsstandards entsprechen und die Fremdsprachenausbildung fördern. Darüber hinaus muß das Bildungssystem auf den Trend zur Akademisierung reagieren. So hat z. B. die PROGNOS AG, Basel, im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit und des dieser Anstalt angeschlossenen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 1985/86 Umfang und Struktur des Arbeitskräftebedarfs in der BRD bis zum Jahr 2000 projiziert. Demnach wird der Bedarf an Hochschulabsolventen in der BRD absolut und relativ bis zur Jahrhundertwende erheblich steigen. Im Jahre 2000 werden rund 14–15 % aller Arbeitsplätze Akademikern vorbehalten sein. 1982 waren es erst 8,5 %. Quantitativ am bedeutsamsten sind nach dieser Projektion die Zuwächse bei den Entscheidungen vorbereitenden Tätigkeiten, bei Forschung und Entwicklung sowie bei den Dienstleistungen. Auch wenn angesichts unterschiedlicher Wirtschaftsstruktur ein Vergleich zwischen Deutschland und Österreich hinkt, steht auch Österreich unter Akademisierungsdruck, der durch die derzeitige Akademikerquote nicht abgefangen werden kann. Für die internationale Anerkennung von Abschlüssen kommt es auch auf institutionelle bzw. formelle Aspekte an. Dies sei anhand der Richtlinien des Rates der EG vom 21. 12. 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der



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Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (89/48/EWG), exemplifiziert. Art. 3 der Richtlinie bestimmt, daß, wenn der Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung im Aufnahmestaat von dem Besitz eines Diploms abhängig gemacht wird, die zuständige Stelle einem Angehörigen eines Mitgliedstaates den Zugang zu diesem Beruf oder dessen Ausübung unter denselben Voraussetzungen wie bei Inländern unter bestimmten Voraussetzungen nicht wegen mangelnder Qualifikation verweigern kann. Eine der Voraussetzungen ist der Besitz eines Ausbildungsnachweises, aus dem hervorgeht, daß der Inhaber ein mindestens dreijähriges Studium oder ein dieser Dauer entsprechendes Teilzeitstudium an einer Universität oder an einer Hochschule oder einer anderen Ausbildungseinrichtung mit gleichwertigem Niveau in einem Mitgliedstaat absolviert und gegebenenfalls die über das Studium hinaus erforderliche berufliche Ausbildung abgeschlossen hat. Unter die Richtlinie der EG fallen somit Diplome, die eine mindestens dreijährige Hochschulausbildung abschließen. Daraus sind folgende Kriterien ableitbar. a) Die Ausbildung muß postsekundär sein. Sie setzt Matura oder einen maturaähnlichen Abschluß voraus. b) Die Ausbildung muß an einer Hochschule oder an einer Einrichtung mit gleichwertigem Niveau stattfinden. Merkmale einer Hochschule bzw. einer gleichwertigen Einrichtung sind Freiheit von Forschung und Lehre, Autonomie, weitgehendes personelles Selbstergänzungsrecht etc. c) Die Ausbildung muß mindestens drei Jahre dauern. Zeiten, die als Praktikum außerhalb der Hochschule verbracht werden, können in diesen Zeitraum nur dann eingerechnet werden, wenn die Hochschule das Praktikum beaufsichtigt und begleitet und wenn dieses Praktikum nicht das letzte Semester ist. In der BRD ist nicht zuletzt wegen dieses Praktikums die Dauer der Fachhochschulstudien von drei auf vier Jahre erhöht worden. d) Als Studienabschluß muß ein akademischer Grad oder ein anderes gleichrangiges Diplom verliehen werden, das im betreffenden Staat den Zugang zu jenen Berufen eröffnet, zu deren Zulassung ein abgeschlossenes Hochschulstudium eine der Voraussetzungen ist. Der institutionelle bzw. formelle Aspekt steht auch in unmittelbarem Zusammenhang mit qualitativen Aspekten. So werden Qualitätsstandards im Produktionsund Dienstleistungsbereich auch so definiert, daß man auf die Qualifikationsstandards der an diesem Prozeß beteiligten Beschäftigten anknüpft. Daraus folgt, daß das Nichtvorhandensein bzw. das nicht ausreichende Vorhandensein von Einrichtungen höherer Bildung, die der EG-Richtlinie entsprechen, à la longue zu Wettbewerbsnachteilen führen wird.

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Vergleicht man die Ingenieurausbildung in Deutschland und in Österreich, so zeigt sich, daß in Deutschland 1986 viermal so viele Ingenieure ausgebildet worden sind, deren Diplom der EG-Richtlinie entspricht, als in Österreich. Auch wenn Österreich nicht 1:1 mit Deutschland verglichen werden kann, zeigt diese Relation dennoch ein Manko, das auch nicht durch die nach wie vor in Deutschland gegebene Nachfrage nach österreichischen Absolventen von HTL ausgeglichen werden kann. Apropos HTL: Die Fachhochschule soll die Bildungslandschaft ergänzen, nicht aber die BHS beeinträchtigen. Die BHS sind funktionierende, weitgehend qualitativ hochstehende Bildungseinrichtungen. Es wäre bildungspolitisch höchst unverantwortlich, sie durch die Errichtung von Fachhochschulen zu verdrängen. Werden Fachhochschulen vernünftig konzipiert, gehe ich davon aus, daß BHS nach wie vor ihren spezifischen Platz im Bildungssystem bewahren bzw. haben werden. Der internationale Trend geht dahin, die Erstausbildungszeit zu senken. Der europaweit zunehmende Wettbewerb um Absolventen/Innen besonders gefragter Studienrichtungen ist einer der Hauptgründe dafür, daß die Studiendauer verstärkt ins Blickfeld gerückt und deren Länge als Problem angesehen wird. Die Studienzeit beträgt in der BRD 7, in den Niederlanden 5,9, in Schweden 5,5 Jahre, in Österreich 7,5, in Italien 7,3 Jahre. Will man die Funktion der Universität nicht verwässern, sind Studienzeitverkürzungen Grenzen gesetzt. Um die Nachfrage nach kürzer ausgebildeten Akademikern zu befriedigen, bedarf es eines gegenüber der Universität andersartigen Hochschultyps. 4. Der tertiäre Sektor wird in Österreich dominiert durch die „Monokultur“ Universität. Der nichtuniversitäre hochschulähnliche Sektor ist, verglichen mit anderen Staaten, relativ klein. In Österreich besuchen 90,3 % der Studierenden eine Universität, nur 9,7 % außeruniversitäre hochschulähnliche Einrichtungen. Die analogen Relationen sind in den Niederlanden 43,7 % zu 56,3 % und in Belgien 44,2 % zu 56,8 %. Die Zahl der Studienanfänger stieg zwischen 1970/71 und 1987/88 um 163 %. Der Jahres-Output an Studienabschlüssen 1987/88 (Erst- und Zweitabschlüsse) stellte gegenüber 1970/71 einen Zuwachs von mehr als 90 % dar. Auch dieser Sachverhalt läßt darauf schließen, daß wir – bezogen auf die Studierenden – zu wenig akademische Abschlüsse haben. Ich vermute, daß ein Vergleich der akademischen Abschlüsse mit anderen Staaten diese Hypothese ebenfalls erhärten würde. 5. Die österreichische Studentenquote (Anteil der Studierenden an der gleichaltrigen Bevölkerung) und Akademikerquote (Anteil der berufstätigen Akademiker



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an Berufstätigen insgesamt) liegen unterhalb der Quoten anderer Länder. Die Studentenquote beträgt in Österreich 17,6 % (1989), in der BRD 21,1 %, in Dänemark 20,7%, in Frankreich 21,6 %, in Großbritannien 16,2 % (alle Zahlen für 1986), in Schweden 22 % (1982), in den USA 24 % (1982). Die Akademikerquote beträgt in Österreich 5,3 % (1989), in der BRD 8,7 %, in Dänemark 7,3 %, in Frankreich 6,3 %, in Großbritannien 7,4 % (alle Zahlen für 1988), in Schweden 11 % (1984), in den USA 20,9 % (vier oder mehr Jahre College) bzw. 8,9 % (fünf oder mehr Jahre College; 1984). Der internationale Vergleich der Quoten ist für mich ein weiterer Indikator für den Bedarf an Fachhochschulen. Die meisten westlichen Länder haben attraktive Alternativen zur Universität im tertiären Bildungsbereich. Zum Beispiel entfallen in der Schweiz 36 % der Studierenden auf der Tertiärstufe des Bildungssystems auf nichtuniversitäre, berufsorientierte Ausbildungsgänge. In der BRD studieren 33,1 % der Hochschüler an Fachhochschulen. Den größten Anteil nehmen dabei die Ingenieurwissenschaften, gefolgt von den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ein. 6. Der Anteil für Ausgaben für Forschung und Entwicklung am Bruttoinlandsprodukt ist in Österreich, verglichen mit anderen Staaten, höchst unterentwickelt. Er beträgt 1,46 %. Dieser Befund ändert sich auch dann nicht, wenn man in Rechnung stellt, daß wir keine bzw. kaum Unternehmen mit hohem F&E-Aufwand, ähnlich z. B. den Chemiekonzernen in der Schweiz, und keine Militärforschung (was ich begrüße) haben. Der OECD-Durchschnitt des F&E-Aufwandes liegt bei 2,3 %. Obwohl der Anteil des Unternehmenssektors am F&E-Aufwand in letzter Zeit gestiegen ist, muß er – verglichen mit anderen Staaten – weiter angehoben werden. Dabei muß freilich die Struktur der österreichischen Wirtschaft – sie ist weitestgehend eine der Klein- und Mittelbetriebe – berücksichtigt werden. Meine Hypothese ist, daß durch die Steigerung der Quote jenes Typs unter mehreren Typen anwendungsorientierter Forschung an den Hochschulen, der dadurch gekennzeichnet ist, daß Forschungsaufträge seitens der Unternehmen in einem relativ kurzen Zeitraum, mit geringen Kosten und mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit, daß das Ergebnis durch das Unternehmen unmittelbar verwertet werden kann, erfüllt werden, die F&E-Aktivitäten generell und im Unternehmenssektor steigen würden. Dieser Typ anwendungsorientierter Forschung könnte primär von den Fachhochschulen praktiziert werden. Positive Folge dieses Umstandes wäre weiters, daß die Universitäten vom Druck entlastet werden, diesen Typ anwendungsorientierter Forschung zu bedienen. Würden die Universitäten nämlich den Anteil dieses Typs anwendungsorientierter Forschung an ihren Forschungsaktivitäten ausweiten, würden unter Umständen die für die Universität spezifischen anderen Typen von Forschung, insbesondere die Grundlagenforschung, leiden.

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Die Universitäten müßten freilich nicht fürchten, jegliche anwendungsorientierte Forschung an die Fachhochschulen zu verlieren. Sie könnten – in vertretbarem Rahmen – jenen Typ anwendungsorientierter Forschung bedienen, der längere Zeit in Anspruch nimmt, größere Kosten verursacht und mit weniger Wahrscheinlichkeit der Verwertung behaftet ist. Prämisse meiner Hypothese ist, daß zwischen den beiden Polen Forschung ohne Zwecksetzung und zweckorientierter Forschung verschiedene Typen von Forschung – von der Grundlagenforschung bis zu jener Forschung, die mit der Produktentwicklung in unmittelbarem Zusammenhang steht – gebildet werden können. Wieder verweise ich freilich darauf, daß es zwischen den Typen keine klaren Trennlinien, sondern Überschneidungen gibt. Daß verschiedene Typen anwendungsnaher Forschung gebildet werden können, zeigt übrigens auch der letzte Jahresbericht des Fonds zur Förderung der gewerblichen Forschung. Weiters vertrete ich die Hypothese, daß durch eine von Fachhochschulen verursachte Ausweitung des oben skizzierten Typs anwendungsorientierter Forschung auch die Beteiligungsquote von Hochschulen an Forschungsprojekten, die vom FH und ITF gefördert werden, ausgeweitet werden könnte. Die Folge wäre ebenfalls eine Stimulierung der F&E-Aktivitäten. Anmerkungsweise möchte ich auf die Erfahrungen mit Fachhochschulen in Deutschland verweisen. Diese Erfahrungen stützen meine Hypothesen. 7. Durch den Anschluß an eine Einrichtung höherer Bildung kann der duale Ausbildungsweg attraktiver gemacht werden, weil denjenigen, die sich auf der Erfahrungswissensschiene hervorragend qualifizieren, eine Bildungsstätte auf „höchster“ Ebene eröffnet wird, die wegen ihrer Berufsorientierung begabungsspezifisch ist und daher von einer größeren Zahl von Absolventen des dualen Ausbildungssystems erreicht werden kann, als dies beim Erwerb der Universitätsberechtigung über die Studienberechtigungsprüfung möglich ist. Daß die duale Ausbildung attraktiver gemacht werden muß, liegt auf der Hand, dies jedenfalls aus zwei Gründen. Zum einen besteht steigender Bedarf nach Fachkräften. Zum anderen sind die Lehrabsolventen ein bedeutendes Feld für die Rekrutierung von Unternehmern. So wiesen 50 % der Selbständigen 1988 in Österreich einen Lehrabschluß auf. Die Höherqualifizierung von Lehrabsolventen, die sich selbständig machen, könnte weiters ein wichtiger Beitrag für die Intensivierung des Transfers zwischen Hochschule und Unternehmen sein. 8. Die Optimierung der Aufgabenerfüllung im Dienste des Menschen und der Gesellschaft wird gefördert in einem System, das durch Konkurrenz und Kooperation gekennzeichnet ist. Daraus folgt, daß einerseits differenziert, spezialisiert, Vielfalt geschaffen und andererseits vernetzt werden muß.



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Im tertiären Bildungssektor gibt es angesichts der weitgehenden „Monokultur“ Universität bestenfalls nur Ansätze eines institutionellen Wettbewerbs. Verschärft wird der Mangel an institutionellem Wettbewerb noch dadurch, daß angesichts der Kompetenz des Bundes für das Hochschulwesen ein Universitäts-Organisationsgesetz gilt, das im Grunde genommen nur zwei Organisationstypen, nämlich Universitäten mit Fakultätsgliederung und Universitäten ohne Fakultätsgliederung kennt, ferner daß der Grad der Integration der Universität in die Staatsverwaltung kaum noch zu überbieten ist, wie ein internationaler Vergleich zeigt, weiters, daß Reglementierung und Bürokratisierung keine hinreichend großen Spielräume lassen. Wettbewerb setzt somit neben Vielfalt auch Dezentralisierung, Deregulierung und Entbürokratisierung sowie Strukturen voraus, die die zielorientierte Selbststeuerung eines sozialen Systems fördern; dazu gehört auch, daß man mit der „Außenwelt“ (z. B. den weiteren Subsystemen der Gesellschaft) interdependente Beziehungen hat, die u. a. auch Steuerungsimpulse auslösen. Der deutsche Wissenschaftsrat führt in seinen Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschulen in den 90er Jahren aus, daß der Ausbau der Fachhochschulen auch eine Chance für Erweiterungen im Fächerspektrum sei. Er empfiehlt in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Wettbewerb der Hochschultypen (Universitäten, Fachhochschulen) um neue Studiengänge, „wobei die Fachhochschulen ihr Profil wahren sollten, das sie sich durch praxis- und berufsorientierte Studiengänge erworben haben“. Für die dynamische Entwicklung der Fächerspektren der Hochschularten dürfe es keine Festschreibung des Status quo geben. 9. Es gibt auch im Sozialbereich „eherne Gesetze“. Ich möchte zwei nennen. a) „Ehernes Gesetz“ des „upgrading“ im Falle gleichen Aufgaben- und Funktionsniveaus, aber mangelnder grundsätzlicher gesellschaftlicher Gleichwertigkeit von Einrichtungen höherer Bildung. Triebkraft dieses „Gesetzes“ ist die Sehnsucht nach Emanzipation aus formellen, standardisierten Hierarchien und nach Gleichheit im Sozialprestige. Die Sehnsucht hat in den im Gefolge der Französischen Revolution entstandenen demokratisch-liberalen Regierungssystemen auch eine reale politische Durchsetzungschance bekommen. Eine der Prämissen dieser Systeme ist die Gleichheit der Menschen in ihrer Würde und in ihrem Wert. Bleibt die Aufgabendifferenzierung erhalten, ist das „upgrading“ nur formell; freilich besteht die Gefahr, daß die als höherwertig angesehene Organisation den Aufgaben bzw. Funktionen der „hinaufgehobenen“ Institution inadäquat ist. Die Kunsthochschulen haben in Österreich Universitätsstatus. Das ist gut so. Sie sind jedoch ständig dem Druck ausgesetzt, daß ihre Organisation der der Universität angepaßt wird. Verpaßte man ihnen die gleiche Organisation wie den

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Universitäten, führte dies freilich zu einer Beeinträchtigung der Aufgabenerfüllung, weil die Kunsthochschulen eine kunsthochschulspezifische Organisation brauchen. b) „Ehernes Gesetz“ der Diversifizierung im Falle der problemlösungsinadäquaten Homogenität von Aufgaben und Funktionen bzw. der problemlösungsinadäquaten Vereinheitlichung von Aufgaben- und Funktionsvielfalt. Triebkraft dieses „Gesetzes“ ist der Differenzierungs- und Arbeitsteilungsbedarf, der von einer hochkomplexen Gesellschaft ausgelöst wird. Er wird Neugründungen erzwingen. Auch in der Geschichte der österreichischen Universität können diese „ehernen Gesetze“ nachgewiesen werden. Wesentliche Triebkraft für die Gründung vieler Universitäten war der Bedarf der Landesfürsten nach qualifiziert ausgebildeten Beamten, ein Bedarf, der durch die klösterlichen Schulen nicht befriedigt werden konnte. Der Differenzierungs- und Arbeitsteilungsbedarf der beginnenden Industriegesellschaft führte zur Ausdifferenzierung Technischer Hochschulen. Die Überführung der Hochschule für Welthandel, der Technischen Hochschulen, der Hochschule für Bodenkultur etc. in den Universitätsstatus war u. a. auch dadurch motiviert, den Mangel an Gleichwertigkeit des Sozialprestiges gegenüber der Universität auszugleichen. Ich halte fest, daß ich die Überführung dieser Spezialhochschulen in den Universitätsstatus als positiv bewerte. Für die Wissenschaft ist nämlich die Interdisziplinarität ein prägendes Strukturmerkmal geworden, das die klassische Unterscheidung zwischen Technischen Hochschulen und Universitäten obsolet macht. Schließlich läßt auch die Umwandlung der Kunstakademien in Kunsthochschulen sowohl Elemente der arbeitsteiligen Differenzierung als auch solche des sozialprestigemäßigen „upgrading“ erkennen. 10. Die Herbeiführung der Hochschulexpansion durch freien Zugang und Abschaffung der Studiengebühren führte nicht zum Wegfall sozialer und regionaler Bildungsbarrieren, im Gegenteil. Es hat sogar den Anschein, daß die Rekrutierung von Maturanten und Akademikern aus oberen und mittleren Schichten leichter würde. Ein Indikator dafür ist der explodierende Nachhilfe-Markt. Die Hypothese wird auch durch einen Blick ins Ausland gestützt. In Ländern mit einer Vielfalt an Hochschultypen bzw. mit einem berufsorientierten Hochschultypus konnten soziale und regionale Bildungsbarrieren besser abgebaut werden als in Ländern, die lediglich den Hochschultypus „Universität“ kennen. Besonders ausgeprägt ist in Österreich die Formalisierung von Hierarchie. Dieser Sachverhalt, gepaart mit einer Interventions- und Privilegienkultur, die überdies noch staatlich oder parastaatlich – Stichworte in diesem Zusammenhang sind Parteien- und Verbändestaat – unterlegt ist, schafft keine günstigen Voraussetzungen für die Akzeptanz verti-



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kaler Strukturierung des tertiären Sektors. Ich kann diesen Sachverhalt nicht nur verstehen, sondern auch gutheißen. Auch ich bin gegen vertikale Strukturierung, dies zumindest so lange, als sie Bildungsbarrieren, die nichts mit funktionaler Differenzierung zu tun haben, angesichts österreichischer Spezifika gesellschaftlicher und politischer Strukturen und Kulturen wahrscheinlich verstärken wird. Durch die Errichtung von Fachhochschulen kann brachliegendes Bildungspotential aktiviert werden. Fachhochschulen würden einen Beitrag zur Chancengleichheit, zumindest für die zweite oder dritte Generation, leisten und mithelfen, daß funktionsinadäquate Bildungsbarrieren kleiner werden. 11. Ich halte Beschränkungen des Zugangs zur Universität, wenn überhaupt, nur dann für vertretbar, wenn durch die Vielfalt der Hochschultypen die Gleichheit der Chancen auf der Grundlage der Vielfalt von Begabungen gesichert ist. Zwei Anmerkungen möchte ich in diesem Zusammenhang anbringen. Vergleicht man die Zugangsbeschränkungssysteme, scheint die einzig zielführende Methode der Selektion das Aufnahmegespräch zu sein. Jedenfalls lehne ich den Notendurchschnitt des Maturazeugnisses, Aufnahmeprüfungen oder Orientierungsprüfungen nach einer Eingangsphase als Selektionsinstrumente ab, weil sie weniger valide Verfahren sind als das Aufnahmegespräch, ferner weil sie bestimmte Persönlichkeitstypen, z. B. Sensible oder Unangepaßte über Gebühr ausfiltern. Zweitens sollte durch die Einführung der „open university“ die Chance geboten werden, sich unabhängig von Zulassungsvoraussetzungen Bildungsgut anzueignen.

IV. Aspekte des „Designs“ für den Typus „Fachhochschule“ Es gibt zahlreiche mehr oder minder detaillierte Vorschläge für ein Design des Typus „Fachhochschule“. Ich verweise auf „Enuntiationen“ von Arbeitsgruppen im Bundesministerium für Unterricht und Kunst, im Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, in den Bundesländern, des Technikums Vorarlberg, des ÖVP-Schulausschusses etc. Daher möchte ich nur einige mir als wesentlich erscheinende Aspekte eines Designs des Typus „Fachhochschule“ herausgreifen. Dabei schicke ich voraus, daß ich mir eine Fachhochschule wünsche, die die staatlichen, gesetzgeberischen, bürokratischen, parteipolitischen, gewerkschaftlichen Umklammerungsversuche auf vernünftige Distanz halten kann. Studienziel ist die Vermittlung praktischer, berufsspezifischer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Weiters dient die Ausbildung an der Fachhochschule dem Erwerb sozialer Kompetenz, der Persönlichkeitsentwicklung, der politischen Bildung und der Förderung von Fremdsprachen. Durch diese weiteren Elemente ist einem

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„Fachidiotentum“ zu wehren. Das Selbstverständnis des Faches darf kein Leitbild für die Lehre sein. Diese ist an den Erfordernissen des Berufes zu orientieren. Das Lehrpersonal hat in der Regel das Doktorat und besitzt zumindest eine fünfjährige ( mehr oder weniger einschlägige) Berufserfahrung. Es besteht (zu einem kleineren Teil) aus hauptberuflichen Professoren/innen, zum größeren Teil aus Personen, die teilzeitbeschäftigt, lehrbeauftragt, mitverwendet oder karenziert tätig sind. Vorteil solcher Struktur des Lehrpersonals ist u. a. ein inter-institutionelles Lehren, durch das die Ausbildungskapazität anderer Bildungseinrichtungen sowie von Wirtschaft und Arbeitswelt lukriert werden kann. Die Fachhochschule hat bei der Curriculum-Gestaltung große Flexibilität. Dadurch kann sie ihr Curriculum auch kontinuierlich auf sich rasch ändernde Berufsbilder ausrichten. Freilich ist die Ausbildung nicht „unternehmensdeterminiert“; sie ist keine auf die unmittelbaren Bedürfnisse von Unternehmen und Branchen ausgerichtete Ausbildung. Das Curriculum sieht facheinschlägige Praxiszeiten vor; die Praxis ist jedoch eine in das Curriculum integrierte, durch die Fachhochschule „angeleitete“ Praxis. Curriculum und Studienorganisation sind so strukturiert, daß die tatsächliche Studiendauer mit der Regelstudiendauer weitestgehend übereinstimmt; gewisse Freiräume bei der Studiengestaltung sowie kulturelle, soziale, politische etc. Aktivitäten sind jedoch vorgesehen, um eine inadäquate Verschulung zu verhindern. Die Fachhochschule schafft die Voraussetzungen dafür, daß auch ein Teilzeitstudium möglich ist. Die Fachhochschule rechnet Schul- und Studienzeiten sowie einschlägige Praxis an. Abgesehen von dieser generellen Anrechnungsregelung, die die vertikale (gegenüber dem heranführenden Schul- und Ausbildungssystem) und horizontale (gegenüber der Universität) Durchlässigkeit sichert, gibt es keine gesetzlichen oder verordnungsmäßigen Anrechnungsbestimmungen. Die Negativa einer gewissen Vielfalt der Anrechnungspraxis wiegen nämlich weniger schwer als die externe Reglementierung. Letztere ist nämlich ein Hindernis für die Profilbildung durch Wettbewerb, sie führt ferner dazu, daß Curriculum und Studienziel der Fachhochschule durch das determiniert wird, was als anzurechnend erklärt wird, sowie daß für unzählige Schul- und Ausbildungsmöglichkeiten Anrechnungsvorschriften erlassen werden müssen. So gibt es z. B. an die 90 Typen von BHS, und die Verordnung zur Durchführung des Ingenieurgesetzes 1990, BGBl. 1991/244, zählt rund 130 unterschiedliche höhere technische Lehranstalten in 6 Ausbildungsbereichen auf. Wenn die Anrechnung standardisiert wird, muß auch das Curriculum standardisiert werden, was wiederrum die notwendige Flexibilität bei der Curriculumgestaltung beeinträchtigt. Probleme habe ich auch mit einem staatlich reglementierten „Modulsystem“. Jedes „untere“ Modul determiniert nämlich das „obere“. Für diejenigen, die keine Matura haben, ist eine Eignungsprüfung (unter Umständen bestehend aus einem theoretischen und einem praktischen Teil) vorgese-



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hen. Die Eignungsprüfung, eine Art Studienberechtigungsprüfung, wird jedoch ausschließlich von der Fachhochschule oder unter Aufsicht der Fachhochschule abgenommen. Vorbereitungslehrgänge können vom heranführenden Schul- und Ausbildungssystem sowie von den Institutionen der Erwachsenbildung angeboten werden. Dabei findet auch eine enge Kooperation mit der Fachhochschule statt. Die Fachhochschule verleiht einen eigenen akademischen Grad, z. B. Dipl.Ing. FH, Dkfm. FH etc. Sie hat kein Promotionsrecht. Absolventen, die ein Doktorat erwerben wollen, müssen jedoch an einer Universität kein volles Diplomstudium absolvieren. Sie können von der Universität nach Absolvierung von Ergänzungsstudien bzw. Ergänzungsprüfungen – durch diese ist die Eignung für ein Doktoratsstudium nachzuweisen – zum Doktoratsstudium zugelassen werden. Fachhochschulen betreiben in einem gewissen Umfang auch anwendungsorientierte Forschung des Typs „in kurzer Zeit mit geringen Ressourcen zu unmittelbar verwertbaren Ergebnissen“. Transferstellen werden an Fachhochschulen angebunden oder mit Fachhochschulen verknüpft. Eine am Studienziel orientierte Relation zwischen der Zahl der Studienplätze sowie den vorhandenen Ressourcen und damit der Ausbildungskapazität einerseits und der Zahl der Studienbewerber andererseits wird beachtet. Es gibt somit keinen freien Zugang zur Fachhochschule. Die Selektion erfolgt über ein Aufnahmegespräch. Fachhochschulen heben Studiengebühren ein. Es gibt jedoch ausreichend Instrumente (z. B. Stipendien etc.), die es verhindern, daß dieser Sachverhalt zu einer Barriere für Einkommensschwächere wird. Fachhochschulen sind Einrichtungen in privatrechtlicher Form. In der Trägerorganisation können Gebietskörperschaften, öffentliche Einrichtungen, Private etc. vertreten sein. Durch die privatrechtliche Form können dienst- und besoldungsrechtliche sowie haushaltsrechtliche Fesseln gelockert oder vermieden werden, darüber hinaus schafft sie jene Flexibilität, die notwendig ist, um die Fachhochschulen zu einer attraktiven, durch Wettbewerb und Kooperation profilierten Einrichtung zu machen. Das staatliche Fachhochschulgesetz (im Falle der Verländerung die staatlichen Fachhochschulgesetze) enthält nur Rahmenrichtlinien. Der Staat hat jedenfalls keine operativen Befugnisse gegenüber der Fachhochschule. Er übt die Aufsicht über die Fachhochschule. Aufsichtsmaßstab ist primär die Qualität, das Leistungsvermögen der Fachhochschule. Zwischen der politisch-administrativen Ebene und der der Fachhochschulen wird eine „Puffer-Institution“, z. B. eine „Fachhochschul-Verwaltungsgesellschaft“ – auch diese hat eine privatrechtliche Form – eingezogen. Diese Gesellschaft erfüllt strategische Aufgaben der Planung, Evaluierung und Steuerung. Sie repräsentiert Sachkompetenz, erfüllt ihre Aufgaben weniger durchführungsorientiert als

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viel mehr erfolgsorientiert (dies gilt übrigens auch für die Fachhochschule) und ist ein Filter gegen einseitige Interessendurchsetzung und parteipolitische Einflußnahme. Die Fachhochschule ist so weit wie möglich nach den Grundsätzen zielorientierter Selbstorganisation organisiert. Sie hat eine Leitungsebene, deren Aufgaben professionell erfüllt werden. Der Strategieformulierung und der motivationsfördernden Personalführung kommen besondere Bedeutung zu. Die Fachhochschule hat keine „ständische“ Personalstruktur. Es gibt auch keine Assistenten/innen im Universitätssinn. Die Rekrutierung des Personals erfolgt nach den Grundsätzen der Selbstergänzung. Die Besoldung erfolgt auch leistungsbezogen. Die Fachhochschule hat weitgehende Autonomie (z. B. sollte die Fachhochschule ein „globales“ Personalbudget haben und autonom darüber entscheiden, welche „Dienstposten“ mit welcher Funktion sie daraus macht). Die Freiheit der Lehre findet an einer Curriculum-Planung – diese weist Ziele aus, nennt Mittel der Zielerreichung und evaluiert die Ziel-Mittel-Adäquanz – sowie daran ihre Grenze, daß das Selbstverständnis eines Faches nicht zum Leitbild für die Lehre gemacht werden darf. Der Fachhochschule steht ein „Board of Trustees“ als Repräsentant der Gesellschaft zur Seite. Der Board hat weitgehend nur Aufsichtsbefugnisse. Die Bestellung des Rektors bzw. des Präsidenten erfolgt im Zusammenwirken zwischen dem Board und dem Fachhochschulkollegium. Abschließend möchte ich noch eine Anmerkung zum Gehaltsniveau machen. In Deutschland liegen die durchschnittlichen Anfangsgehälter zur Zeit für Betriebswirte und Volkswirte mit einer Ausbildung an einer Universität bei monatlich 3.700–4.000 DM. Betriebswirte mit Fachhochschulausbildung erzielen monatlich 3.400–3.600 DM. Im öffentlichen Dienst ist der Unterschied wegen unterschiedlicher Besoldungsgruppen größer. Die Eingangsbesoldung beträgt für einen Universitätsabsolventen ca. 4.300 DM, für einen Fachhochschulabsolventen ca. 3.200 DM.

V. Finanzierung Der Deutsche Wissenschaftsrat rechnet in seinen Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschule mit folgenden Kosteneinheiten (die Kosten beziehen sich auf das Jahr 1989; sie sind mittlere Kosten; dabei wurden technische Fächer im Verhältnis zu anderen Fächern mit 3:1 bilanziert): Ausbau 65.000 DM pro Studienplatz; Personal- und Sachmittel 8.000 DM jährlich pro Studienplatz, in den Jahren des Ausbaus steigend auf 40.000 DM pro Studienplatz. Neugründungen sollen mindestens drei Studiengänge aufweisen. Als kritische Masse werden mindestens 1.000 flächenbezogene Studienplätze bezeichnet.



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Die in Deutschland genannten Zahlen müssen in Österreich in vieler Hinsicht gebrochen werden. Dennoch wird klar, daß schon von der Kostenseite Barrieren bestehen, Fachhochschulen wie Pilze aus dem Boden schießen zu lassen. Jointventures, insbesondere zwischen Gebietskörperschaften und Wirtschaft werden notwendig sein. Fachhochschulen sollen – unter Ausnutzung vorhandener Ressourcen – zuerst dort errichtet werden, wo der Bedarf von Fachhochschulabsolventen gut abschätzbar ist. Ein Beispiel für einen ersten Standort ist Vorarlberg. Derzeit ist im Bereiche des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung ein Schätzgutachten betreffend die Kosten einer Fachhochschule Vorarlberg in Arbeit. Berechnungen in Deutschland gehen dahin, daß Fachhochschulen ein Viertel bis ein Drittel „billiger“ sind als Universitäten. Dieser Sachverhalt wiegt umso schwerer, je mehr die Universitätsfinanzierung an ihre Grenzen stößt. Es wäre ein Dienst an einem längerfristigen Denken und Handeln, wenn trotz der Mängel in der Ressourcen-Ausstattung ein paar 100 Mill. S für die Fachhochschulen „abgezweigt“ werden könnten. Ich weiß, daß eine solche Aussage politisch höchst inopportun ist, dies insbesondere für einen Wissenschaftssprecher einer Partei. Ich sage es dennoch, denn das Einzementieren von Einzelinteressen schadet der Gesellschaft. Darüber hinaus würden Universitäten durch attraktive Fachhochschulen entlastet werden, was ihnen da und dort auch einige Entspannung im Ressourcenbereich bringen könnte. Anmerken möchte ich, daß ich im großen und ganzen nichts von einer Expansion des universitären Sektors halte. Zielführender als die Ausweitung des universitären Sektors wäre die Errichtung eines Sektors „Fachhochschulen“. Wiederum bin ich mir der politischen Inopportunität dieser Aussage bewußt.

VI. Pilotphase? Es ist fraglich, ob der derzeit geltende Rechtsbestand eine zur Errichtung von Fachhochschulen hinführende Pilotphase zuläßt; ich bezweifle dies eher. Als rechtliche Anknüpfungspunkte für eine solche Pilotphase lassen sich mehr oder minder Kurzstudien nach § 13 Abs. 1 lit. b AHStG, Studienversuche nach § 13 Abs. 4–8 iVm Abs. 3 AHStG, Internationale Studienprogramme (an ausländischen „Universitäten“) nach § 13 a AHStG, Hochschulkurse und Hochschullehrgänge nach § 18 AHStG und Lehrgänge und Kurse an außeruniversitären wissenschaftlichen Bildungseinrichtungen nach § 40 a AHStG nennen. Hauptproblem beim erstgenannten Punkt und bei den beiden letztgenannten Punkten ist, daß nur ein Abschluß „Akademisch geprüft“, mit dem keine Berufsberechtigungen verbunden sind, verliehen werden kann.

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Wege, um zu solchen Berechtigungen zu kommen, bietet z. B. die Gewerbeordnung. So sind für gebundene und konzessionierte Gewerbe Befähigungsnachweise erforderlich. Die Befähigung kann nachgewiesen werden durch Zeugnisse über eine fachliche oder schulische Tätigkeit. Mit Verordnung wird festgelegt, durch welche Zeugnisse in welchen Gewerben was nachgewiesen wird. Auf der Grundlage von § 22 Gewerbeordnung sind rund 50 Verordnungen ergangen, die die erfolgreiche Absolvierung bestimmter Studien als Voraussetzung für die Erteilung der Gewerbeberechtigung, für Prüfungen oder den Wegfall bestimmter Teile von Prüfungen nennen. § 22 Gewerbeordnung erlaubte es, daß analoge Bestimmungen auch für Abschlüsse „Akademisch geprüft“ erlassen werden. Nach § 28 a der Gewerbeordnung kann Nachsicht vom für ein Handwerk oder ein gebundenes Gewerbe vorgeschriebenen Befähigungsnachweis ausgesprochen werden. Die Bestimmung nennt in diesem Zusammenhang den erfolgreichen Besuch einer technischen, montanistischen oder naturwissenschaftlichen Studienrichtung oder einer Studienrichtung der Bodenkultur, wenn diese Studien zumindest grundsätzliche Erkenntnisse über das von den Bewerbern angestrebte Gewerbe vermitteln. Durch eine Novellierung der Bestimmung könnten auch Studienrichtungen einer Fachhochschule aufgenommen werden. Ein Weg wäre auch, eine „Außenstelle“ einer deutschen Fachhochschule zu gründen, die in Kooperation mit einer österreichischen Trägerorganisation betrieben wird. Der Abschluß ist dann einer der deutschen Fachhochschule. Einzelne deutsche Fachhochschulgesetze bzw. Hochschulgesetze kennen das Instrument der „Externenprüfung“ (siehe z. B. § 38 a des Fachhochschulgesetzes für Baden-Württemberg). Unabhängig davon, für welchen Weg man sich entscheidet, wird es unumgänglich sein, möglichst rasch ein Fachhochschulgesetz zu verabschieden.

Bibliographie BLOCK, Jürgen: Quo vadis Fachhochschule? In: Beiträge zur Hochschulforschung 1 (1991), hrsg. vom Bayerischen Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung, München, 1991, S. 27 ff. BRÜNNER, Christian: Bildung – Qualifikation für Beruf und Leben. In: SCHILLING Michael/TURRINI Hans: Zur Entwicklung von akademischen Berufen Studienmotivationen und Universitätsstudien. Untersuchungen – Überlegungen – Orientierungshilfen. Wien/Klagenfurt, 1990, S. 170 ff., (Schriftenreihe der Studentenberatung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, Studien- und Berufswahl; Band II). Den Universitäten täte ein wenig Fachhochschule gut. Der neue Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Prof. Dieter SIMON, ist bereit, auch einmal „quer zu denken“ (Interview). In: Deutsche Universitätszeitung. Heft 5 (1989), S. 14 ff.



2.6. Gefragt ist die Vielfalt an Hochschultypen

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DEUTSCHER BUNDESTAG: Antwort der Bundesregierung auf eine große Anfrage betreffend Entwicklungsstand und Perspektiven der Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland. Drucksache Nr. 11/2603 vom 30. 6. 1988. DIE NEUE HOCHSCHULE. Zeitschrift für anwendungsbezogene Studiengänge, Heft 1 (1989): Schwerpunkt Fachhochschulen. SECRETARIES OF STATE FOR EDUCATION AND SCIENCE, EMPLOYMENT, AND WALES: Education and Training for the 21st century. vol 1/2: The challenge to colleges. Presented to Parliament by Command of her Majesty, the Queen. London, 1991. BUNDESMINISTER FÜR BILDUNG UND WISSENSCHAFT (HRSG.): Fachhochschulbrevier ’88. Bonn, 1989 (Schriftenreihe Grundlagen und Perspektiven für Bildung und Wissenschaft 23). MINISTERIUM FÜR WISSENSCHAFT UND KUNST BADEN-WÜRTTEMBERG. (HRSG.): Fachhochschule in Baden-Württemberg. Ein Überblick; Angewandte Forschung und Entwicklung, Bilanz 1989/90; Studiengänge an den Fachhochschulen (Neue Reihe 2 samt Anlagen: Aus der Welt von Wissenschaft und Kunst). GELLERT, Claudius: Andersartig, aber gleichwertig. Anmerkungen zur Funktionsbestimmung der Fachhochschulen. In: Beiträge zur Hochschulforschung 1 (1991), hrsg. vom Bayerischen Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung, München, 1991, S. 1 ff. HÄRTEL, Peter / HOCHEGGER, Peter: Postsekundäre Bildungswege, Konzept für eine wirtschaftsorientierte Berufshochschulreform. Akademien im tertiären Bereich. Graz, 1990. HERRITSCH, Herbert: Arbeitsmarkt-Informationen. Die aktuelle Situation für Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftswissenschaftlerinnen. In: Absolventen Zeitung (März 1991), S. 9 ff. THE SECRETARY OF STATE FOR SCOTLAND, THE SECRETARY OF STATE FOR NORTHERN IRELAND AND THE SECRETARY OF STATE FOR WALES: Higher education – a new framework. Presented to Parliament by command of Her Majesty, the Queen. London, 1991. HÖLLINGER, Herwig: Nichtuniversitäre Tertiärstufe des Bildungssystems in Belgien und den Niederlanden aus österreichischer Perspektive. In: ibw-Mitteilungen Nr. 3 (1991), S. 13 ff. KOMMISSION FACHHOCHSCHULE 2000: Abschlußbericht, hrsg. vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst Baden-Württemberg. Stuttgart, 1990. LANDTAG VON BADEN-WÜRTTEMBERG: Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Entwicklung des Hochschulwesens in Baden-Württemberg. Drucksache 10/3654 vom 10. Juli 1990. LEWIS, Richard: Post secondary vocational education in the United Kingdom. London: Council for National Academic Awards (hektographierter Bericht).

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2. Bildung

More Practice for Future Profession. The Fachhochschulen in the Federal Republic of Germany. Bildung und Wissenschaft (Education and Sience). In: BW (1988) Nr. 5/6 (enthält auch eine umfangreiche Bibliographie zum Thema Fachhochschule). OECD/EDUCATION COMMITTEE: Alternatives to Universities in Higher Education. General Report. Paris: OECD, 1989. OECD/EDUCATION COMMITTEE: Alternatives to Universities in Higher Education. Trends and issues. Paris: OECD, 1989, (vgl. auch die OECD Country Study on Austria). REGIERUNGSBEAUFTRAGTER FÜR DEN TECHNOLOGIETRANSFER BADEN-WÜRTTEMBERG: Bericht 1990. Stuttgart: Stiftung für Wirtschaftsförderung, 1990. SCHEDLER, Klaus: Berufsorientierte Bildungsmodelle im tertiären Bereich. Vergleich Österreich – BRD. Wien: Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft, 1989 (Forschungsbericht 72). SCHMITZ, Ulrich: Die Pyramide schleunigst auf den Kopf stellen! Universitäten bilden viel zuviel Studenten aus – die Fachhochschulen könnten dieser Rolle eher gerecht werden. In: Deutsche Universitätszeitung, Heft 1-2 (1991), S. 16 f. SCHNEEBERGER, Arthur: Technische Qualifikation im Ländervergleich. Die Bundesrepublik Deutschland, Italien und die Schweiz aus österreichischer Perspektive. Wien: ibw-Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft, (Schriftenreihe Nr. 76). SEIDEL Heinrich: Hochschulen in einem sich wandelnden Europa, Vortrag, gehalten beim Symposium der Österreichischen Rektorenkonferenz gemeinsam mit dem Österreichischen Akademischen Austauschdienst vom 23. 4. 1991 mit dem Thema „Europa der Universitäten – Erfahrungen mit akademischer Mobilität“. STÄNDIGE KONFERENZ DER REKTOREN UND PRÄSIDENTEN DER STAATLICHEN FACHHOCHSCHULEN DER LÄNDER IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND: Dokumentation zur Jahrestagung 1990 vom 24. bis 27. Mai 1990 in Bad Wiessee. Mannheim, 1991. WISSENSCHAFTSRAT: An den Fachhochschulen sind sieben Studiensemester die Regel. In: Pressemitteilung Nr. 3 (1990) vom 8. 2. 1990. WISSENSCHAFTSRAT: Empfehlungen zur Entwicklung der Fachhochschulen in den 90er Jahren. Köln, 1991. WISSENSCHAFTSRAT: Fachstudiendauer an Fachhochschulen 1987. Köln, 1990. WESTDEUTSCHE REKTORENKONFERENZ: Zum Verhältnis von Universitäten und Fachhochschulen und zur Gemeinschaft der verschiedenen Hochschularten in der Westdeutschen Rektorenkonferenz: Bericht des Präsidiums und Beschluß des 151. Plenums der Westdeutschen Rektorenkonferenz. Bonn: WRK, 1987.



2.7. Die Unterscheidung zwischen strategischen und operativen Organen

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2.7. Christian Brünner, Die Unterscheidung zwischen strategischen und operativen Organen – ein Grundgedanke der Reform

in: Strasser (Hrsg.), Untersuchungen zum UOG 1993, Wien 1995, 1–12

1 Rahmenbedingungen der UOG-Reform A. Die Universitäten sind zu Großbetrieben herangewachsen. Am Beispiel der Universität Graz liest sich dies so: Rund 30.000 Studierende, 3.000 Bedienstete, 120 Institute und Kliniken, 1,4 Milliarden S Jahresbudget etc. Außerdem sind Hochschulen für Staat und Gesellschaft zu unverzichtbaren Dienstleistungsunternehmen geworden. Der Fortschritt beim Ausbau der Lebensqualität hängt nämlich wesentlich von den Leistungen der Hochschulen ab. Die Leistungspalette umfaßt viele Dimensionen. Nennen möchte ich die Leistungen in der Forschung. Bei der Forschung darf der Focus jedoch nicht nur auf den naturwissenschaftlichen, medizinischen und technischen Bereich gerichtet sein, sondern er muß auch die Kultur-, Human- und Geisteswissenschaften umfassen. Außerdem muß der Forschung die Erschließung der Künste gleichrangig sein. Ein weiteres Leistungsfeld der Hochschule – ich halte dieses gegenüber der Forschung für prioritär – ist es, Stätte der Bildung zu sein. In diesem Zusammenhang sind u. a. die Leistungen der akademischen Ausbildung für verschiedene Berufe und der Rekrutierung von Forschern/Innen angesprochen, aber auch solche, die die Universitätsangehörigen einschließlich der Studierenden befähigen, an der Entwicklung der Gesellschaft im Dienste der Sicherung der Menschenwürde, der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen einschließlich Tier, Pflanze und Ökosystem und der Herstellung von Gerechtigkeit mitzuwirken. Schließlich geht es im Zusammenhang mit dem Leistungsspektrum sowohl um Quantitäten („Massenuniversität“) als auch um Qualitäten („Qualitätssicherung“). Ich halte es daher z. B. für einen Fehler, die Massenuniversität zu diskreditieren oder das Leistungsvermögen einer Forschungsstätte an der „Produktion“ eines Nobelpreisträgers zu orientieren.

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B. Der Beitrag, den die Hochschulen für Staat und Gesellschaft leisten können und müssen, hängt von mehreren Bedingungen ab. Nennen möchte ich insb. ein Personal und Studierende, die qualifiziert, engagiert und leistungsbereit sind; ein Klima, das Phantasie und Kreativität fördert; ausreichende Ressourcen; Gesetze und sonstige Regelungen, die den Aufgaben der Hochschulen gerecht werden und leistungsfördernd sind; ferner eine in quantitativer und qualitativer Hinsicht ausreichende Leistungsproduktion in allen Bereichen der vielfältigen hochschulischen Leistungspalette. Für jede dieser Bedingungen tragen Staat und Hochschulen zwar in einer jeweils unterschiedlichen Intensität, aber dennoch in jedem Fall eine gemeinsame Verantwortung. C. Die Organisation eines sozialen Systems ist nie und darf nie Selbstzweck sein, sondern muß als ein Mittel zur Optimierung der Erfüllung und Erbringung der Aufgaben und Leistungen des sozialen Systems verstanden werden. Sozialsysteme sind keine isolierten Gebilde. Sie stehen mit ihrer Umwelt in Beziehung. Ein Aspekt der Beziehung ist, daß ein soziales System für seine Umwelt Aufgaben bzw. Leistungen erfüllt, die die Zielebene des sozialen Systems bilden. Um Ziele zu erreichen, braucht das soziale System in der Regel Ressourcen. Es muß freilich akzeptieren, daß Ressourcen knappe Güter sind und daß auch andere soziale Systeme das Recht auf Ressourcen haben. Aus diesen Überlegungen lassen sich zwei Optimierungspostulate ableiten. Zum einen geht es darum, die Aufgaben bestmöglich zu erfüllen. Wir sprechen von Effektivität oder Wirksamkeit der Aufgabenerfüllung. Zum anderen müssen die Ressourcen bestmöglich eingesetzt werden (Optimierung der Input-OutputBeziehung). Wir sprechen von Effizienz oder Wirtschaftlichkeit. Das, was gesagt wurde, gilt auch für die Universität. Es ist jene Organisation zu finden, die mit den Aufgaben bzw. Zielen der Universität in einer Beziehung der Ziel-Mittel-Adäquanz steht. Es ist unverantwortlich, im Zusammenhang mit der Universität bzw. Hochschule die genannten beiden Optimierungspostulate gegeneinander auszuspielen, indem man entweder den Geist der Wissenschaft als über den Geist der Wirtschaft stehend beschwört oder umgekehrt. Weil und insoweit die Hochschule Teil der Gesellschaft ist, unterliegt sie beiden Optimierungspostulaten. Das Postulat der Wirtschaftlichkeit scheint man oftmals mißzuverstehen. Es hat nichts mit dem Grad der Verwertbarkeit von Wissenschaft oder Kunst für die Wirtschaft und durch die Wirtschaft zu tun, sondern betrifft die Input-OutputBeziehung und gilt somit für jede Aufgabenerfüllung, so z. B. für das Forschen und Lehren im Fach Philosophie oder für das Forschen und Lehren in naturwissenschaftlich-technischen Fächern.



2.7. Die Unterscheidung zwischen strategischen und operativen Organen

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Anmerken möchte ich, daß über die Ziel-, Aufgaben- und Leistungsstruktur der Hochschule zu wenig nachgedacht wird. Es ist jedoch unerlässlich, zwei zentralen Fragestellungen nachzugehen: Welche „Endprodukte“ strebt die Hochschule an? Welche Kriterien sollen die „Produkte“ der Hochschule erfüllen? Stefan Titscher hat in seinem Bericht an die Österreichische Rektorenkonferenz „Planung und Reformation der Universität“ solche Fragen gestellt und vier Produktgruppen als Output formuliert: Wissens- bzw. Bildungskapital, Sozialisationskapital, Reputationskapital und Reflexionskapital. Faktum ist jedenfalls, daß die Umschreibung der Aufgaben der Universität sowohl im UOG 1975 als auch im UOG 1993 zu global ist. Es ist unerlässlich und prioritär, daß alle, die innerhalb und außerhalb der Hochschule Verantwortung tragen, sich ständig mit den vorhin genannten zentralen Fragestellungen beschäftigen. Eine ständige Aufgabe ist es ferner, die Stellung der Hochschule in der Gesellschaft zu reflektieren. Ein diesbezüglicher permanenter Diskurs fehlt jedoch. Folge ist u. a., daß das wechselseitige Fremd- und Selbstverständnis der Universität und der Gesellschaft auseinanderklaffen, was Abschottungstendenzen fördert. Für mich ist klar, daß weder das Modell „Staat im Staat“ (die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden) noch das Modell „nachgeordnete Dienststelle des Wissenschaftsministeriums“, bei dem die Führungsinstrumente Erlaß, Weisung, Disziplinarverfahren, Inputorientierung etc. im Vordergrund stehen, eine adäquate Organisationsform ist. D. Analysen, betreffend Mängel in der Universitätsorganisation, werden nicht flächendeckend und im großen und ganzen nicht professionell angestellt. Andererseits gibt es eine Fülle von Aussagen betreffend Organisationsmängel, die von den Universitäten und deren Organen, den verschiedenen hochschulpolitischen Institutionen, dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und zahlreichen Universitätsangehörigen getroffen werden und getroffen worden sind. Unter den Analysen betreffend Mängel überwiegen die systemimmanenten, d. h. solche, die mehr oder minder explizite Hypothesen betreffend die Adäquanz der Organisation für die Erfüllung der Aufgaben zum Gegenstand haben. Spärlich sind jene Analysen und Aussagen, die die Universität sowie deren Organisation und Aufgabenerfüllungsgrad mit universitätsexternen Systemen vergleichen. Ein solcher Vergleich kann in zwei Richtungen angestellt werden. Zum einen kann das österreichische Universitätssystem mit ausländischen Universitätssystemen verglichen werden, dies mit dem Ziel, Elemente einer für die Erfüllung der Aufgaben optimalen Universitätsorganisation zu definieren. Solche

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Vergleiche werden freilich oftmals mit dem Argument weggeschoben, daß verschiedene Universitätssysteme nicht vergleichbar seien. Wahr ist jedoch, daß in vielen Fällen und über weite Strecken Vergleichbarkeit gegeben ist. So ist z. B. der Dualismus von (externen) Aufsichtsorganen und (internen) Führungsorganen in vielen Universitätssystemen typisch. Der Carl Bertelsmann-Preis 1990 behandelte das Thema „Evolution im Hochschulbereich“. Zur Vorbereitung der Preisverleihung untersuchte die BertelsmannStiftung die Arbeitsweise von Universitäten in den europäischen Ländern. Focus der Recherche war, daß es bei einer Reform im Bereich der Hochschulpolitik weniger um die Entwicklung neuer Lösungen geht als vielmehr um die Zurkenntnisnahme und die Implementierung bereits vorhandener und bewährter Grundsätze und Lösungen. Der internationale Vergleich führte zu einem „Soll-Modell“ als Basis der Bewertung für die Hochschulpolitik und die Hochschularbeit. Das Modell wurde anhand mehrerer Elemente definiert. Ich nenne beispielsweise nur einige dieser Elemente: Die Führung der Universität sollte sich aus einem Aufsichtsorgan und dem Exekutivorgan zusammensetzen. Im Aufsichtsorgan sollten führungstechnisch erfahrene Mitglieder zumindest die Hälfte der Sitze einnehmen. Die Verteilung der staatlichen Mittel unter den Hochschulen sollte einem Gremium übertragen werden, welches sich zu je einem Drittel aus Vertretern des Staates, der Wissenschaft und der Wirtschaft zusammensetzt. Die Verteilung der Mittel muß vorgegebene Leistungskriterien beachten. Die Hochschulpolitik muß Ziele und Maßstäbe für Forschung und Lehre zusammen mit den Hochschulen entwickeln. Die Hochschulen sind verpflichtet, die Öffentlichkeit in einem Jahresbericht über die erzielten Ergebnisse so zu unterrichten, daß die Leistungen der Hochschulen vergleichbar werden. Die Ergebnisse der Recherchen der Bertelsmann-Stiftung werden auch dadurch unterstrichen, daß es in vielen Ländern analoge Reformdiskussionen gibt. Ich verweise z. B. nur auf Deutschland, die Schweiz und Österreich. Zum anderen kann die Universität auch mit anderen sozialen Systemen als die Universität verglichen werden, wie z. B. Forschungseinrichtungen, Bildungsinstitutionen, Unternehmen etc. Solche Vergleiche werden freilich noch häufiger und noch intensiver abgelehnt als Universitätssystemvergleiche. Geleugnet werden kann jedoch nicht, daß es Organisationsgrundsätze gibt, die einem sozialen System, welcher Art auch immer, helfen, seine Aufgabenerfüllung zu optimieren. In der bereits erwähnten Recherche der Bertelsmann-Stiftung heißt es in diesem Zusammenhang: „Von führungstechnischem Interesse sind deutliche Übereinstimmungen der Arbeitsweise guter Hochschulen mit der in der Wirtschaft praktizierten modernen Führungstechnik. Dies gilt sowohl für die Funktion der Hochschulführung mit einem ‚Aufsichtsorgan‘ und der Exekutive als auch für



2.7. Die Unterscheidung zwischen strategischen und operativen Organen

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die konsequente Durchsetzung des Prinzips der Delegation von Verantwortung und der Möglichkeit eines Meinungsaustausches im Sinne von Mitsprache. Die Grundsätze moderner Unternehmenskultur in der Wirtschaft, welche eine Identifikation mit der Aufgabe bewirken sollen, gelten in gleicher Weise auch für die Tätigkeit innerhalb der Hochschulen. Die Freiheit des einzelnen innerhalb des Hochschulbereichs muß andererseits ihre Entsprechung in einer Verpflichtung im Hinblick auf die Zielsetzung und die Arbeitsweise der gesamten Hochschule finden. Die Hochschule, ihre Mitglieder und die Studenten müssen gemeinsam die Einbindung der Universität in die Gesellschaft berücksichtigen und akzeptieren.“ E. Die österreichische Hochschulreformdebatte wird über weiteste Strecken auf der Basis ideologischer Fixierungen, gesellschaftspolitischer Standpunkte, Interessenpositionen einzelner Gruppen und Personen und persönlicher Erfahrung geführt. Was weitestgehend fehlt, ist die Stimme der Wissenschaft, d. h. jener Wissenschaftsdisziplinen, die sich analytisch mit sozialen Systemen beschäftigen und Erkenntnisse über diese sozialen Systeme produzieren; anders gewendet: Die Hochschulreformdebatte ist weitgehend von analytisch gewonnenen Erkenntnissen über das soziale System „Universität“ frei. Ursache dieses Mankos, das die Reformergebnisse sichtbar und spürbar prägt, ist jedenfalls zweierlei. Zum einen bilden die Reformatoren, das sind Hochschulpolitiker unter Beiziehung des Wissenschaftsministeriums oder umgekehrt ein geschlossenes System; Externes, wie z. B. wissenschaftliche Analysen der Universität, oder die Gesellschaft und ihre Gliederungen als Abnehmer der „Produkte“ der Universität werden im großen und ganzen als Störfaktoren angesehen. Zum anderen forscht die Universität über sich selbst nur in sehr bescheidenem Ausmaß, sodaß analytisch gewonnene Erkenntnisse betreffend die Universität weitgehend fehlen. In letzter Zeit haben sich mehrere externe Betriebsberatungsunternehmen mit Universitäten bzw. deren Teileinheiten beschäftigt. Unverständlich ist mir, warum auch deren Erkenntnisse nicht in die Reformdebatte Eingang finden. Die Beispiele für eine höchst ideologisierte Universitätsorganisationsreformdebatte sind zahlreich. Nennen möchte ich nur z. B. die Hochschulautonomie, die Rektorswahl, die Position des Universitätsdirektors etc. Auf der Hand liegt, daß eine Reform, die weitestgehend das Produkt eines politischen Diskurses ist, den Adäquanzzusammenhang zwischen Organisation und Optimierung der Aufgabenerfüllung über weite Strecken aus dem Auge verliert. Manches Mal habe ich sogar den Eindruck, daß man auf der Basis der Hypothese diskutiert und reformiert, daß der Universität jede beliebige Organisation verpaßt werden kann, solange sie nur politisch durchsetzbar ist und akzeptiert wird. Politische Durchsetzbarkeit und Akzeptanz sind stärkere Leitbilder für Reformdebatte

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und Reform als die Ziel-Mittel-Adäquanz zwischen Aufgabenoptimierung und Organisation.

II. Organisationssoziologische Hypothesen A. Zwei Organisationsmodelle können einander idealtypisch gegenübergestellt werden. Das eine ist eindimensional, „identitär“ strukturiert, das andere ist mehrdimensional, differenziert. Die Erfahrung zeigt in der Regel, daß monostrukturelle Organisationen Defizite bei der Aufgabenerfüllung haben. Es ist daher notwendig, richtige Mischungsverhältnisse von (theoretischen) Organisationsdichotomien in realen Organisationen zu finden. Ich möchte einige dieser Dichotomien ansprechen. B. Der Geschlossenheit des Systems steht die Offenheit gegenüber, oder, anders formuliert, es geht darum, das richtige Mischungsverhältnis zwischen „innen“ und „außen“ in einer Organisation sicherzustellen. Die jahrhundertelangen Lehren und Praktiken des Regimen comixtum, der Gewaltenteilung, der checks and balances liefern dafür Anschauungsmaterial. So geht es an der Universität einerseits um Autonomie, personelle Selbstergänzung, Bestellung durch Wahl, kollegiale Entscheidungsstrukturen etc., andererseits darum, ein fremdes Element, ein Außenelement, zwecks Kontrolle, Sicherung von Minderheitenpositionen, Erhaltung des Innovationspotentials, Herstellung von Dynamik mitwirken zu lassen. Beispielsweise möchte ich zwei Hypothesen formulieren. Wenn Allokationsentscheidungen nur von denjenigen getroffen werden, die in den Genuß der Ressourcen kommen sollen, werden diese Entscheidungen wahrscheinlich suboptimal sein, weil einmal erkämpfte (und legitimierte) Verteilungsschlüssel wahrscheinlich fortgeschrieben werden oder Konflikte wahrscheinlich dadurch vermieden werden, daß man gießkannenartig verteilt. Allokationsentscheidungen der Senate, die die durch Dekane im Senat repräsentierten Fakultäten betreffen, bieten für diese Hypothese einiges Anschauungsmaterial. Oder: Wenn bei der Erstellung von Berufungslisten kein „Außen“ (z. B. in der Form der Universitätsleitung oder des Ministers) mitwirkt, werden diese Entscheidungen wahrscheinlich suboptimal, weil „zünftlerische“ Tendenzen eher wirksam werden. C. Einerseits geht es um Einzelinteressen – Fächer, Kurien, Personen, politische Richtungen etc. –, andererseits muß Verantwortung getragen werden gegenüber der Universität als Ganzheit, eine Verantwortung, die weder auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners der Einzelinteressen noch auf der Summe dieser Einzelinteressen zum Ausdruck gebracht werden kann. Die derzeitige Orga-



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nisation favorisiert das Einzelinteresse und bringt die Verantwortung für das Gesamtinteresse zu wenig zum Ausdruck. So werden z. B. wahrscheinlich von Kurien gewählte Vertreter sich primär dem Kurieninteresse und (hoffentlich wenigstens) sekundär dem Gesamtinteresse der Universität verpflichtet fühlen. Es muß also ein Organisationsmodell gefunden werden, in dem auch ausreichende Chancen für die Repräsentation des Gesamtinteresses gegeben sind. Die Universität stellt sich über weite Strecken als Summe ihrer Institute dar. Übergeordnete Aufgaben werden nicht oder nur rudimentär erfüllt. Solche Aufgaben sind das Setzen von Prioritäten, die Obsorge für Verteilungsgerechtigkeit und Umstrukturierung, die Erstellung von Curricula dann, wenn mehr als ein Institut beteiligt ist, die Organisation des Rahmens für interdisziplinäres Arbeiten, die Obsorge für Motivationsinstrumente und Anreizsysteme, die Evaluierung der Ressourcenbeanspruchung, die Erstellung von Konzepten für die optimale Rekrutierung und Weiterbestellung des Personals, das Bereitstellen der Infrastruktur, die Organisationsentwicklung und das Beschaffen von Drittmitteln für die Gesamtuniversität. Ferner ist die Integration der Leistungen der Institute und Kliniken zu einem Profil, zu einer Kontur der Universität gering; auch sind kaum Anstrengungen der Universität als ganzes sichtbar, um ein solches Profil, eine solche Kontur zu gewinnen. D. Weitere Organisationsdichotomien, die ich nur skizzenhaft ansprechen möchte, sind staatliche Steuerung versus Steuerung durch den Markt, ergebnisorientierte Steuerung versus prozeßorientierte Steuerung, universitäre Autonomie versus staatliche bzw. gesellschaftliche Aufsicht und Kontrolle, autonome Entscheidung versus heteronome Entscheidung, Zentralisierung versus Dezentralisierung, dies in der Beziehung zwischen Ministerium und Universität sowie in der Beziehung zwischen den oberen Ebenen der Universität und den unteren Ebenen (dabei muß gesehen werden, daß umso mehr sonstige Steuerungsstrukturen einschließlich von Leitungskapazität erforderlich sind, je mehr Autonomie der Universität zugebilligt wird), Innovation und Entwicklung versus Bewahrung des Status quo, Verantwortung als institutionelle Kategorie (ich werde zur Verantwortung gezogen) versus Verantwortung als moralische Kategorie des einzelnen bzw. der Scientific Community, Konflikt versus Konsens, Reglementierung von außen versus Organisationsentwicklung von innen, Betroffenheit versus NichtBetroffenheit als Anknüpfungspunkte für Mitentscheidung etc.

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III. Differenzierung zwischen strategischen und operativen Aufgaben und deren Trägern A. Einer der Organisationsgrundsätze in komplexen Organisationen ist die Trennung von strategischen und operativen Aufgaben sowie die Übertragung dieser Aufgaben auf unterschiedliche Träger. Durch diese Differenzierung kann mit großer Wahrscheinlichkeit ein Beitrag zu einem höheren Grad an Effektivität und Effizienz der Aufgabenerfüllung erreicht werden. Damit ich mit diesen Aussagen nicht mißverstanden werde, halte ich freilich folgendes fest. Diese Differenzierung ist und darf kein Hindernis sein für flache Hierarchien, projektorientierte Aufgabenerfüllung, Sicherstellung operativer Einheiten, Teamwork, Kooperation etc. Strategische Aufgaben sind z. B. die Festlegung von Zielen, Produkten und Produktmerkmalen, die Reflexion der Stärken und Schwächen des Systems, die Konturierung kurz-, mittel- und längerfristiger Profile, die Reflexion über und die Festlegung von Prioritäten und Posterioritäten, die Verabschiedung von Konzepten und Plänen, die Evaluierung der Ergebnisse etc. Zu den operativen Aufgaben zählen z. B. die Umsetzung und Durchführung strategischer Entscheidungen, die Datenaufbereitung, das Controlling als Verknüpfung von Kontroll- und Planungsdaten, das Führen bzw. die Handhabung des Managements auf der operativen Ebene etc. Für die organisatorische Differenzierung zwischen strategischen und operativen Aufgaben gibt es mehrere „Motive“. Nennen möchte ich z. B. die Spezialisierung durch Arbeitsteilung, das Zusammenwirken von Innenelementen und Außenelementen, die Erfordernisse der Dynamik, der Innovation und des Schutzes von Minderheitenpositionen, die Obsorge dafür, daß strategische und operative Aufgaben definiert und erfüllt werden, die Erhöhung der Chance dafür, daß auch „schmerzliche“ Entscheidungen getroffen werden, etc. Die Trennung von strategischen und operativen Aufgaben, die sich auch im Organisationseinheitengliederungsplan niederschlägt, kann in zahlreichen sozialen Systemen nachgewiesen werden. Nennen möchte ich z. B. die Unterscheidungen zwischen Legislative und Exekutive, zwischen obersten und nachgeordneten Verwaltungsorganen, zwischen Planungs- und Konzepterstellungseinheiten und operativen Einheiten in einem Bundesministerium, zwischen politischen Beamten und Beamten, die politikferner sind, zwischen Aufsichtsrat und Vorstand, zwischen Vorstand und operativen Einheiten, zwischen Mitgliederversammlung und Vorstand etc.



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B. Demokratie und Mitbestimmung sind adäquate Organisationsstrukturen im Hinblick auf die von der Universität zu erfüllenden Aufgaben. Die wichtigsten Leitungsorgane der Universität wurden daher im UOG 1975 im großen und ganzen als Kollegialorgane konzipiert, die im großen und im ganzen aus gewählten Vertretern von Kurien und Organisationseinheiten, somit aus Interessenvertretern zusammengesetzt sind. Die Erfahrung zeigt, daß interessenvertretungsmäßig zusammengesetzte Kollegialorgane sich weniger dafür eignen, Exekutivaufgaben bzw. operative Aufgaben zu erfüllen. Zum Beispiel fällt es solchen Organen meist sehr schwer, konkrete Allokationsentscheidungen zu treffen. So hat sich die Aufteilung der ordentlichen Dotationen auf die Fakultäten der Universität Wien seit 1975 kaum verändert, obwohl sich die Fakultäten ganz verschieden entwickelt haben. Im Akademischen Senat, der die Allokationsentscheidungen zu treffen hat, sitzen die Vertreter der Fakultäten, denen die Dotationen zugeteilt werden. Diese Vertreter werden aber kaum etwas anderes tun können, als die Interessen ihrer Fakultät zu vertreten. Das Ergebnis ist dann oft die Fortschreibung eines in der Vergangenheit politisch konsentierten Verteilungsschlüssels, weil diese Fortschreibung am wenigsten Konflikte erzeugt. Basierend auf den bisher ausgeführten theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen differenziert das UOG 1993 zwischen strategischen und operativen Aufgaben, definiert strategische und operative Aufgaben und überträgt diese jeweils unterschiedlichen Organen. Entsprechend dem im Dienste einer optimalen Aufgabenerfüllung stehenden demokratischen Organisationsprinzip richtet das UOG 1993 Kollegialorgane ein, die sich im großen und ganzen aus Interessenvertretern zusammensetzen, die im großen und im ganzen durch Wahl bestellt werden. Es überträgt diesen demokratisierten Kollegialorganen die strategischen Aufgaben, d. h., es sind dies Organe, die die Ziele, Profile und Entwicklungslinien der Universität bzw. der einzelnen Organisationseinheit vorgeben. Den Kollegialorganen werden monokratische Organe zur Seite gestellt. Diesen werden die operativen Aufgaben zugeordnet. Aus der Struktur der strategischen und der operativen Aufgaben sowie aus der Rückbindung der operativen Aufgaben an die strategischen (so ist z. B. der Rektor bei der Erfüllung seiner Aufgaben an die vom Senat beschlossenen Richtlinien gebunden) ergibt sich eine funktionale Hierarchie zwischen strategischem Kollegialorgan und operativem monokratischen Organ. Ersteres steht über letzterem. Übersehen möchte ich nicht, daß die funktionale Hierarchie faktisch umgekehrt werten kann. Dem gilt es entgegenzuwirken. Das UOG 1993 hat diesbezüglichen Aktivitäten auch eine Grundlage gegeben; insb. möchte ich auf die

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Pflicht z. B. des Rektors verweisen, den Senat bei der Entscheidungsvorbereitung zu unterstützen und über seine Tätigkeit laufend Bericht zu erstatten. Darüber hinaus wird z. B. dem Vorsitzenden des Senates ein Hilfsapparat zugeordnet werden müssen, der zwar zu der dem Rektor zugeordneten Infrastruktur kein „Gegenministerium“ darstellen kann und soll, der jedoch in einem vertretbaren Ausmaß unerläßlich ist. C. Ich möchte die organisatorische Differenzierung zwischen strategischen und operativen Organen im UOG 1993 am Beispiel der Gesamtuniversität exemplifizieren. Dabei möchte ich erneut die funktionale Hierarchie zwischen strategischen und operativen Aufgaben verdeutlichen. Wichtige (Steuerungs-)Entscheidungen des Senates sind u. a. die Erlassung und Abänderung der Satzung, die Antragstellung an den Bundesminister für Wissenschaft und Forschung auf Erlassung oder Abänderung der Verordnung über die Gliederung der Universität in Fakultäten, die Beschlußfassung über die längerfristigen Bedarfsberechnungen und über den jährlichen Budgetantrag, die Entscheidung über die fachliche Widmung sowie über die Art und Zeit der Besetzung von neuen oder freigewordenen Planstellen für Universitätsprofessoren, die Erlassung von generellen Richtlinien für die Tätigkeit des Rektors etc. Von großer Bedeutung für die organisatorische Ausgestaltung ist die Satzung. In der Satzung sind u. a. Zahl und Aufgabenbereiche der Vizerektoren, die Institutsordnung, die Wahlordnung etc. zu regeln. Bereits aus der beispielsweise aufgezählten Liste der Aufgaben des Senates wird deutlich, daß die inhaltliche und organisatorische Steuerung der Universität beim demokratisierten Kollegialorgan liegt. Darüber hinaus werden diesem Organ Aufgaben der Kontrolle des operativen Organs, das ist der Rektor, übertragen. Festhalten möchte ich, daß auch die Bestimmungen über den Budgetvollzug die funktionale Hierarchie zum Ausdruck bringen. Der Senat beschließt den jährlichen Budgetantrag der Universität. Die Budgetzuweisung durch den Rektor hat unter Beachtung des Budgetantrages der Universität (und der vom Senat beschlossenen Widmung von Planstellen für Universitätsprofessoren) zu erfolgen. Dem Rektor als operativem Organ kommen u. a. folgende Aufgaben zu: Jährliche Budgetzuweisung an die Fakultäten und Dienstleistungseinrichtungen, Führung der Budgetverhandlungen mit dem Wissenschaftsministerium, Auswahl aus den Dreiervorschlägen im Berufungsverfahren für Universitätsprofessoren, Führung von Berufungsverhandlungen gemeinsam mit dem Dekan, Unterstützung des Senates, verschiedene Kontrollrechte, Evaluierung der Aufgabenerfüllung von Organisationseinheiten der Universität oder der an der Universität eingerichteten Studien etc. Auch wenn die dem Rektor zukommenden Aufgaben für den Betrieb



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und die Entwicklung der Universität gewichtig sind, sind es dennoch Aufgaben, die weniger struktur- und profilbildend sind und mehr an der Konkretisierung genereller, struktur- und profilbildender Entscheidungen des Senates orientiert sind. D. Mit der organisatorischen Differenzierung zwischen strategischen und operativen Aufgaben sind – wie oben ausgeführt – verschiedene Wirkungen intendiert. Diese Wirkungen würden freilich dann konterkariert werden, wenn man die Differenzierung durch einen im Prinzip gleichen Bestellungsmodus der beiden Organtypen oder durch die Möglichkeit der einzelfallorientierten Weisung des strategischen Organs an das operative Organ oder durch die Einräumung des Rechtes des strategischen Organs, Aufgaben des operativen Organs an sich zu ziehen, verwischte. Mit der organisatorischen Differenzierung zwischen strategischen und operativen Aufgaben sind daher weitere organisatorische Konsequenzen verbunden. Zum einen muß es für die beiden Organtypen unterschiedliche Bestellungsmodi geben, weil durch einen gleichen Bestellungsmodus die Differenzierung überlagert werden würde. Die sich anbietenden Modi sind der Modus der Bestellung von unten nach oben durch Wahl sowie der von oben nach unten durch Ernennung. Das UOG 1993 läßt diese Differenzierung bzw. die beiden Arten der Bestellung deutlich erkennen, mögen auch Verschränkungen vorgenommen worden sein, indem z. B. der Dekan vom Fakultätskollegium aus einem zumindest drei Personen umfassenden Vorschlag des Rektors zu wählen ist. Ein im Prinzip gleicher Bestellungsmodus wurde für die beiden Organtypen auf der obersten Ebene der Universität festgelegt, dies deshalb, weil die Universitäten im Begutachtungsverfahren die Mitwirkung des Wissenschaftsministers bei der Bestellung des Rektors aus Gründen des Eingriffs in die Autonomie strikte abgelehnt hatten. Ich halte die autonome Wahl des Rektors durch die Universität aus theoretischen und praktischen Erwägungen für disfunktional. Nach wie vor bin ich ein Anhänger des im sogenannten „Orangen Papier“ vorgeschlagenen Modus der Bestellung des Rektors in einem Joint-venture zwischen Wissenschaftsministerium und Universität. Der Vorschlag im „Orangen Papier“ lautet: „Die Wahl des Rektors erfolgt durch die Universitätsversammlung aus einem von einer ,gemischten Kommission‘ erstellten Wahlvorschlag. Die gemischte Kommission besteht aus vier Mitgliedern, die der Senat nominiert, und vier Mitgliedern, die der Wissenschaftsminister nominiert. Der Vorsitzende wird vom Wissenschaftsminister bestimmt. Sie erstellt den aus mehreren Personen bestehenden Wahlvorschlag aufgrund des Ausschreibungsverfahrens und eigener Nachforschungen. Der Beschluß der gemischten Kommission über den Wahlvorschlag bedarf einer Zweidrittelmehrheit. Wird diese Mehrheit nicht erzielt, kann vorerst keine Rektorswahl in der Universitätsversammlung stattfinden.“

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Der gleiche Bestellungsmodus für die beiden Organtypen auf der obersten Ebene der Universität, nämlich der der Wahl, wird wahrscheinlich Tendenzen entfalten, die die Wirkungen der organisatorischen Differenzierung zwischen strategischen und operativen Aufgaben reduzieren. Ein wichtiges Beobachtungsfeld für meine Hypothese werden die zukünftigen Professorenberufungen sein. Ich kann nur hoffen, daß zukünftige Rektoren stark genug sind bzw. sich stark genug fühlen, im Berufungsverfahren ein wirksames Außenelement zu sein und im einen oder anderen Fall einer zünftlerischen Entscheidung einer Berufungskommission entgegenzuwirken. Zum anderen geht es darum, wie die formelle Beziehung zwischen den beiden Organtypen strukturiert ist. Ansprechen möchte ich in diesem Zusammenhang insb. die Rechte der Abberufung von Organen und der Sistierung von Entscheidungen. Die organisatorische Differenzierung zwischen strategischen und operativen Aufgaben muß sich auch im Abberufungsmodus spiegeln. Die Abberufung eines operativen Organs darf nicht das Ergebnis einer schnellen Kumulation enttäuschter Betroffenheit sein. Das UOG 1993 sieht demgemäß z. B. die Abberufbarkeit des Rektors nur aufgrund eines Beschlusses der Universitätsversammlung, der mit Zweidrittelmehrheit gefaßt wird, vor. Die gleichen Argumente gelten auch für das Sistierungsrecht. Ist es leicht handhabbar, können dadurch die Wirkungen der Differenzierung reduziert werden. Das UOG 1993 räumt daher z. B. dem Senat die Aussetzung der Wirksamkeit von Entscheidungen des Rektors, die Richtlinien des Senates widersprechen, nur mit Zweidrittelmehrheit ein. Auf der Institutsebene ist die organisatorische Differenzierung zwischen strategischen und operativen Aufgaben aus Gründen der Vereinfachung nicht vorgenommen worden. Das heißt freilich nicht, daß nicht auch die unterste Organisationseinheit, z. B. das Institut, strategische Aufgaben hat. E. Anmerken möchte ich, daß das Rektorsamt nicht kollegial strukturiert worden ist. Der Grund dafür besteht dann, damit die Verantwortung für die bestmögliche Aufgabenerfüllung eine persönlich zuordenbare ist. Freilich liegt auf der Hand, daß insb. bei größeren Universitäten die Fülle der Aufgaben zur Delegation zwingt. Das UOG 1993 führt daher das Amt des Vizerektors/der Vizerektorin ein. Der Rektor soll nach Maßgabe der Größe der Universität und der Aufgabenfülle der Universität den Vizerektor/die Vizerektorin mit der selbständigen Erledigung bestimmter Angelegenheiten betrauen. Die Verantwortlichkeit des Rektors ist freilich in zweifacher Weise ausgeschildert. Zum einen wird der Vizerektor/die Vizerektorin von der Universitätsversammlung auf Vorschlag des Rektors gewählt. Zum anderen unterliegt der Vizerektor/die Vizerektorin, der oder die mit der selbständigen Erledigung



2.7. Die Unterscheidung zwischen strategischen und operativen Organen

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bestimmter Angelegenheiten betraut worden ist, allfälligen Weisungen des Rektors. Anmerken möchte ich freilich folgendes: Auch wenn die formelle Organisation eine monokratische ist, ist es geboten, die informelle Organisation Rektor und Vizerektoren/innen nach den Grundsätzen der Teamarbeit zu pflegen, weil nur so die Fülle der Leitungsaufgaben optimal bewerkstelligt werden kann.

Literaturverzeichnis BRÜNNER, Christian, Autonomie und Management, in Meinrad Peterlik – Werner Waldhäusl (Hrsg.), Universitätsreform, Ziele, Prioritäten und Vorschläge (Wien 1991) 128 ff. BUNDESMINISTERIUM FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG (Hrsg.), Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen hochschuleigener Planung (Wien 1990). BUNDESMINISTERIUM FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG (Hrsg.), Internationales Symposion Universitäts-Management (Wien 1990). BUNDESMINISTERIUM FÜR WISSENSCHAFT UND FORSCHUNG (Hrsg.), Besondere Dienststellen für Planung und Organisationsentwicklung gemäß § 82 UOG (Wien 1991). CARL BERTELSMANN-PREIS, SYMPOSIUM 1990: Evolution im Hochschulbereich (Gütersloh 1990). Publikationen und Aktivitäten des EUROPEAN CENTRE FOR STRATEGIC MANAGEMENT OF UNIVERSITIES IN BRÜSSEL. FORSTER, Rudolf – RICHTER, Rudolf (Hrsg.), Uni im Aufbruch? Sozialwissenschaftliche Beiträge zur Diskussion um die Universitätsreform (Wien 1993). GERLICH, Peter, Hochschule und Effizienz. Anstöße zur universitären Selbstreflexion (Wien 1993). HIGHER EDUCATION MANAGEMENT, Journal of the Programme on Institutional Management in Higher Education (Paris). HÖLLINGER, Sigurd, Universität ohne Heiligenschein. Aus dem 19. ins 21. Jahrhundert (Wien 1992). JADOT, J. u. a., Hochschulmanagement in Europe, OECD-Studie (Paris 1981). LOCKWOOD, Geoffrey – DAVIES, John, Universities. The Management Challenge (Windsor/Philadelphia 1985). Organisation und Management von Universitäten. Verhältnis von Staat und Universität, Plenum (ÖRK) Heft 1/1991. PELLERT, Ada (Hrsg.), Vernetzung und Widerspruch. Zur Neuorganisation von Wissenschaft (München/Wien 1991). TITSCHER, Stefan – BRUNNER, Christian, Planung und Reformation der Universität (Wien; hektographiert).

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2.8. Christian Brünner, Wissenschaftsreform

in: Kohl/Günther/Ofner/Stirnemann (Hrsg.), Österreichisches Jahrbuch für Politik 1993, Wien/München 1994, 151–159

Kurzfassung Die Vorhaben des Kapitels „Wissenschaft und Forschung“ des Arbeitsübereinkommens der Regierungskoalition für die XVIII. Legislaturperiode sind im großen und im ganzen erfüllt worden. Die Rahmenbedingungen für die universitäre Aufgabenerfüllung haben sich geändert: Großbetrieb, Optimierungspostulate der Effektivität und Effizienz, Erfordernis „unternehmerischen Geistes“, Mischung von Organisationsprinzipien. Die wichtigsten Neuerungen im UOG 1993 sind Erweiterung der Autonomie, Verbesserung der Entscheidungsverfahren durch Differenzierung zwischen strategischen und operativen Organen, Installierung von Studiendekanen, Einbeziehung der Gesellschaft, Universitätenkuratorium, erfolgsorientierte Steuerung, Fortentwicklung der Mitbestimmung, Grundlinien für die Neuordnung der Personalstruktur. Die Umsetzung des UOG 1993 muß in der Form einer Wirksamkeitsanalyse durch Wissenschaftsministerium, Parlament und einer peer group begleitet werden. Zu den Aufgaben für die nächste LP zählt auch weniger Spektakuläres, aber nichtsdestoweniger Wichtiges: Verbesserung der Kommunikation zwischen Universität und politisch-administrativem Bereich, Aufarbeiten von Traumata, Motivation aller Beteiligten.

1. Vorbemerkung In der XVIII. Legislaturperiode sind für den Forschungs- und Hochschulbereich wesentliche Aktivitäten entfaltet und teilweise tiefgreifende Reformen verabschiedet worden. Ich nenne insbesondere die quantitative und qualitative Verbesserung der Studienförderung (Ausweitung des Bezieherkreises und Erhöhung der Stipendien), die Erlassung des Fachhochschulstudien-Gesetzes, auf dessen Basis Fachhochschulstudien eingerichtet werden können, die Fortsetzung der Studienreform (z. B. Bodenkultur, Veterinärmedizin etc.), die Verbesserung der Forschungsorganisation (z. B.



2.8. Wissenschaftsreform

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das Arsenalgesetz), die weitere Forcierung der internationalen Forschungskooperation und Bildungsmobilität, die Errichtung der Donau-Universität Krems sowie Bemühungen um die Erhöhung des Frauenanteils in der Hochschullehrerschaft. Darüber hinaus ist das Wissenschaftsbudget überproportional gesteigert worden. Ein Hauptanliegen des Arbeitsübereinkommens der Regierungskoalition für die XVIII. Legislaturperiode ist es ferner gewesen, die Organisation der Universitäten zu verbessern. Unter den Stichworten „Verantwortlichkeit und Eigenständigkeit der Hochschulen“ führt das Arbeitsübereinkommen folgendes aus: „Mit der Zielsetzung, die Hochschulen in den kommenden vier Jahren effizienter zu gestalten, ist die Erwartung verbunden, daß diese in Zukunft zu einer wirtschaftlichen Führung beitragen und an substantiellen Reformen mitwirken, weiters, daß die demokratisch verfaßten Hochschulen auf der Grundlage des UOG zu selbständigen, für ihre Leistung verantwortlichen Einrichtungen weiterentwickelt werden. Gleiches muß für die Kunsthochschulen entwickelt werden. Dies sollte erreicht werden durch: • Die Schaffung einer betriebsähnlichen Organisation für die Hochschulen, die zu mehr Qualität, Effizienz und Kostenwahrheit führen soll; das heißt u. a.: – Mischsystem aus kollegialer Leitung, Präsidialverfassung, Rektoratsverfassung und Management; – Mischsystem von Ernennung und Wahl bei Bestellung der Leitungsorgane; – Zuordnung der Infrastruktureinrichtungen zur Hochschulleitung; – Ausbau der Budgethoheit, Personalhoheit und Organisationshoheit der Hochschule mit Verantwortung im Rahmen staatlicher Richtlinien und Aufsicht. • Prüfung von Mitwirkungsmöglichkeiten der Hochschulleitung in Berufungsverfahren und bei der Bestellung wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Personals, • die Verlagerung von Einzelentscheidungen aus dem Ministerium an die Hochschulen; die Entwicklung strategischer Planung und Controlling im BMWF (Holding), • die Einführung einer Kostenrechnung, • Schwerpunktsetzungen bei Forschung und Lehre, • Mittelvergabe nach Leistungskriterien, • einfachere und nicht ins Detail gehende Rechtsvorschriften, • Modernisierung der Planstellenbewirtschaftung und Personalverwaltung, • Verbesserung der regionalen Einbindung der Hochschule durch ein beratendes Organ, • Schaffung einer umfassenden Hochschullehrerkonferenz“.

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Im Folgenden möchte ich dem UOG 1993 ausführlicheres Augenmerk zuwenden.

2. Stationen der Organisationsreformdebatte Das UOG 1993 ist nach einem langen Diskussionsprozeß im Herbst 1993 vom Parlament verabschiedet worden. Die wesentlichen Abschnitte des Diskussionsprozesses waren 1991 eine Erhebung unter den Professoren und allen hochschulpolitischen Funktionsträgern (Vertretern des Mittelbaus, der OH, der Dienststellenausschüsse etc.), im Oktober 1991 die Erstellung des sogenannten „Grünen Papiers“ betreffend „Die neue Universitätsstruktur“, Anfang 1992 die Bildung des Projektteams „Universitätsreform“ unter Einbindung aller Teile der Universität und der Regierungskoalition sowie Erstellung des sogenannten „Orangen Papiers“ seitens des Projektteams (Mai 1992), im Frühsommer 1992 die Einsetzung einer parlamentarischen, koalitionären Arbeitsgruppe unter meinem Vorsitz, im Herbst 1992 die Publikation des Ministerialentwurfes und dessen Begutachtung bis Ende März 1993, vom April bis Mai 1993 die Neubefassung der parlamentarischen, koalitionären Arbeitsgruppe und die koalitionäre Einigung auf die Regierungsvorlage, vor dem Sommer 1993 die Befassung des parlamentarischen Wissenschaftsausschusses, die Einsetzung eines Unterausschusses des Wissenschaftsausschusses, die Durchführung einer Klubenquete der ÖVP, zu der alle hochschulpolitischen Funktionsträger eingeladen worden sind, und ein parlamentarisches Hearing durch den Unterausschuß des Wissenschaftsausschusses sowie von September bis Oktober 1993 die Endredaktion im parlamentarischen Unterausschuß sowie die Beschlußfassung im Wissenschaftsausschuß und im Parlament. Von Beginn an sind unzählige Stellungnahmen aus dem universitären und außeruniversitären Bereich eingegangen. Trotz dieses langen und auf breiter Basis geführten Diskussionsprozesses vertreten Teile der Universität im allgemeinen und Teile des Mittelbaus im besonderen die Auffassung, daß die Kommunikation zwischen Politik und Universität gestört gewesen sei, die Einbindung der Betroffenen zu wünschen übrig gelassen habe und das UOG 1993 als aufgezwungen empfunden werde. Ich möchte diese Auffassung weder im Hinblick auf ihre Ursachen analysieren noch bewerten, sondern sie lediglich als einen Sachverhalt festhalten. Unerläßlich ist es nämlich, daß dieser Sachverhalt unabhängig davon, ob er zu Recht oder zu Unrecht besteht, und ohne Schuldzuweisungen sowohl von der Universität als auch von der Politik konfrontiert und aufgearbeitet wird, um eine für beide Seiten und damit für die Aufgabenerfüllung gedeihliche Atmosphäre herzustellen. Diese „atmosphärische Arbeit“ wird eine der (unspektakulären) Aufgaben in der nächsten Legislaturperiode sein müssen.



2.8. Wissenschaftsreform

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Festhalten möchte ich jedenfalls, daß bis zum Schluß um adäquate Regelungen, d. h. Regelungen, die sowohl an den universitären Aufgaben, Herausforderungen und Problemen orientiert sind als auch die unterschiedlichen Interessenpositionen auszugleichen bzw. zu berücksichtigen versuchen, gerungen worden ist. Dies zeigt nicht zuletzt ein im Wissenschaftsausschuß beschlossener umfangreicher Abänderungsantrag. Wesentliche Punkte dieses Abänderungsantrages waren die Erweiterung des Personenkreises für die Wahl zum Institutsvorstand, die Abberufungsmöglichkeit operativer Organe auch ohne Angabe von Gründen, Sonderregelungen betreffend die Personalaufnahme im Bereich der Medizin (Kontrollpflicht des Dekans in der Form der Abgabe einer Stellungnahme), Verankerung einer generellen Begründungspflicht von Personalvorschlägen durch das nominierende operative Organ, dies unter Auflistung aller Bewerbungen, sowie die Einführung von ein bis drei Vize-Studiendekanen, die mit der selbständigen Erledigung bestimmter Angelegenheiten betraut werden.

3. Rahmenbedingungen der Organisationsreform • Die Universitäten sind zu Großbetrieben herangewachsen. Am Beispiel der Universität Graz liest sich dies so: rund 30.000 Studierende, 3.000 Bedienstete, 120 Institute und Kliniken, 1,4 Milliarden Schilling Jahresbudget etc. Außerdem sind die Universitäten für Staat und Gesellschaft zu unverzichtbaren Dienstleistungsunternehmen geworden. Der Fortschritt beim Ausbau der Lebensqualität hängt nämlich wesentlich von den Forschungsleistungen, der akademischen Ausbildung für verschiedene Berufe und der Rekrutierung von Forschern/innen ab, um die wichtigsten universitären Aufgaben zu nennen. Dabei geht es sowohl um Quantitäten („Massenuniversität“) als auch um Qualitäten („Qualitätssicherung“). Bereits diese beiden Rahmenbedingungen – Großbetrieb und Dienstleistungsunternehmen – haben zur Folge, daß weder das Modell „Staat im Staate“ (die Universität gedacht als eine abgeschottete Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden) noch das Modell „nachgeordnete Dienststelle des Ministeriums“, bei dem die Führungsinstrumente Erlaß, Weisung, Disziplinarverfahren, Inputorientierung etc. im Vordergrund stehen, eine adäquate Organisationsform ist. • Weil die Universität Aufgaben für die Gesellschaft zu erfüllen hat und vom Staat Ressourcen verlangt, unterliegt auch sie zwei Optimierungspostulaten: Zum einen geht es darum, daß die Aufgaben in Forschung und Lehre bestmöglich erfüllt werden (Effektivität oder Wirksamkeit der Aufgabenerfüllung). Zum anderen müssen die Ressourcen optimal eingesetzt werden (Effizienz oder Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerfüllung). Es ist daher unverantwortlich, im

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Zusammenhang mit der Universität den Geist der Wissenschaft als über den Geist der Wirtschaft stehend zu beschwören. Das Postulat der Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerfüllung hat übrigens nichts mit dem Grad der Verwertbarkeit von Wissenschaft für die Wirtschaft und durch die Wirtschaft zu tun, sondern betrifft die Input-Output-Optimierung und gilt somit für jede universitäre Aufgabenerfüllung, so z. B. auch für das Forschen und Lehren im Fach Philosophie. • Die Universität braucht eine Organisation, die dem „unternehmerischen“ Geist verpflichtet ist. Sie braucht daher Strukturen, die das strategische Denken sowie die Ziel- und Erfolgsorientierung fördern, die das persönliche Verantwortlichsein für Entscheidungen sichtbar machen, die der Leistungsorientierung und Motivation aller Mitglieder des Systems Augenmerk schenken und die den Bedarf an Führungs- oder Managementleistungen befriedigen können. Bei letzteren geht es primär darum, die Rahmenbedingungen für eine möglichst gute Aufgabenerfüllung zu schaffen und zu erhalten und dabei auch den universitären Besonderheiten Rechnung zu tragen. Beispiele für diese Besonderheiten sind die Zweckfreiheit der Grundlagenforschung, der überproportionale Bedarf an „klimatischen“ Zuständen, damit Kreativität, Phantasie, Entdeckerdrang gedeihen können, der hohe Koordinationsbedarf etc. • Die Erfahrung zeigt, daß die Verabsolutierung eines Organisationsprinzips, wie z. B. Autonomie, Mitbestimmung, Entscheidung nur durch Betroffene etc., zu suboptimalen Ergebnissen bei der Aufgabenerfüllung führt. Gefragt sind Mischungsverhältnisse zwischen „gegensätzlichen“ Organisationsprinzipien, wie z. B. zwischen universitärer Autonomie und staatlicher Steuerung oder zwischen „Innen“ (unmittelbare Betroffenheit) und „Außen“ (mittelbare Betroffenheit). Was heißt z. B. letzteres konkret? Wenn Budgetverteilungsentscheidungen nur von denjenigen getroffen werden, die in den Genuß der Ressourcen kommen sollen, werden diese Entscheidungen wahrscheinlich suboptimal sein, weil einmal erkämpfte (und legitimierte) Verteilungsschlüssel wahrscheinlich fortgeschrieben werden oder Konflikte wahrscheinlich dadurch vermieden werden, daß man gießkannenartig verteilt. Deswegen sind bei der Budgetverteilung nach dem UOG 1993 sowohl der Senat (Innenelement) als auch der Rektor (Außenelement) involviert. Oder: Wenn bei der Erstellung von Professoren-Berufungslisten kein „Außen“ mitwirkt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß diese Entscheidungen suboptimal werden, weil „zünftlerische“ Tendenzen eher wirksam werden. Die Berufung erfolgt daher nach dem UOG 1993 im Zusammenwirken zwischen Berufungskommission und Rektor.



2.8. Wissenschaftsreform

209

4. Die wichtigsten Neuerungen im UOG 1993 • Die Autonomie der Universität wird gravierend erweitert. Auf den bisherigen staatlichen Wirkungsbereich, in dem die Universitäten den Weisungen des Ministers unterliegen, wird verzichtet. Die Professorenbestellung obliegt allein den Universitäten. Die Universitäten bekommen erstmals in ihrer Geschichte ein Satzungsrecht; die Institutsgliederung z. B. ist Sache der Satzung. Die Leiter der Dienstleistungseinrichtungen (d. h. z. B. der Universitätsdirektor) werden von der Universität bestellt. Bei der Budgetvollziehung werden z. B. durch den Abbau von Zweckwidmungen die universitären Spielräume erweitert, etc. • Die Autonomie kann jedoch keine totale sein. Ihr zur Seite muß zweierlei treten: Zum einen ein gewisses Maß an staatlicher Steuerung, um die gesamtgesellschaftlichen Anforderungen an das Forschungs- und Bildungsgeschehen umzusetzen, zum anderen die institutionelle Verankerung persönlicher Verantwortlichkeit für die Aufgabenerfüllung. Diesbezügliche Beispiele aus dem UOG 1993 sind der Genehmigungsvorbehalt des Ministers, betreffend die Satzung und die Entscheidungen der Senate über die Zweckwidmung von Professorenplanstellen (es kann nicht in das Belieben der Universität gestellt werden, nur Philosophen oder nur Naturwissenschafter zu berufen), die Verbesserung des ministeriellen Aufsichtsrechts sowie die dienstvertragliche Inpflichtnahme des Rektors. • Durch die Differenzierung zwischen strategischen und operativen Organen sollen die Entscheidungsstrukturen verbessert werden, dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird den Kollegialorganen die Erfüllung strategischer Aufgaben übertragen: Dabei geht es z. B. um die Festlegung von Zielen, um die Reflexion von Stärken und Schwächen, um das Ausweisen von Prioritäten und Posterioritäten, um die Verabschiedung von Plänen und Konzepten etc. So sind z. B. dem Senat alle strategischen Entscheidungen wie z. B. der Budgetantrag, die Zweckwidmung von Professorenplanstellen, die längerfristigen Bedarfsberechnungen, die Beschlußfassung über die Satzung und über die Richtlinien für die operativen Organe vorbehalten. Zum anderen wird sichergestellt, daß die täglichen Geschäfte in Umsetzung der strategischen Vorgaben durch die operativen Organe professionell betrieben werden können. • Durch die Installierung von Studiendekanen soll auch organisatorisch die Betreuung der Studierenden aufgewertet werden, indem das Lehr- und Prüfungsgeschehen stärker als bisher auf die Ausbildungsziele des jeweiligen Studienganges und die Bedürfnisse der Studierenden hin orientiert wird. Freilich dienen diesem Ziel nicht nur die formellen Kompetenzen des Studiendekans. Es wird auch auf das Herausbilden eines Rollenverständnisses ankommen,

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das ich mir wie folgt wünsche: Es ist eine gemeinsame, partnerschaftliche Aufgabe zwischen Studierenden, Lehrveranstaltungsleitern, Prüfern und Universitätsorganen, Ausbildungsziele zu konkretisieren und diese Ziele zu erreichen. Die Gesellschaft soll stärker in das Universitätsgeschehen integriert werden. So wird den Universitäten sowohl die Pflege der Kontakte zu den Absolventen/innen als auch die Unterstützung der Nutzung und Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse in der Praxis zur Aufgabe gemacht. Darüber hinaus wird an jeder Universität ein Universitätsbeirat eingerichtet, der aus Vertretern der Gemeinde und des Landes, der Wirtschaft und der Beschäftigten sowie der Absolventen/ innen besteht und die Universität bei ihrer Strategiebildung, bei der Evaluierung von Lehre und Forschung und betreffend die Kooperation mit der „Außenwelt“ beraten soll. Die überuniversitäre Entscheidungsfindung soll dadurch verbessert werden, daß ein Universitätenkuratorium als eine Art Pufferinstitution zwischen dem politisch-administrativen Bereich (Wissenschaftsministerium) und den Universitäten eingeführt wird. Das Universitätenkuratorium ist sowohl von der Zusammensetzung als auch von den Aufgaben her als ein Beitrag zur Stärkung der Sachrationalität von Entscheidungen konzipiert. Es besteht aus anerkannten Fachleuten von innerhalb und außerhalb der Universitäten und nicht aus Personen, die die Interessen von Parteien, von Verbänden oder der Universität zu vertreten haben. Es erstellt Gutachten z. B. über die Durchführung von universitätsübergreifenden Entwicklungsplanungen oder über die Einrichtung und Auflassung von Studienrichtungen, veranlaßt universitätsübergreifende Evaluierungsmaßnahmen und sichert im Falle einer Hausberufung den „externen“ Gesichtspunkt, in dem eine solche nur nach Abgabe eines positiven Gutachtens des Universitätenkuratoriums zulässig ist. Für die Steuerung eines sozialen Systems gibt es idealtypisch eine Alternative. Die Steuerung kann entweder prozeßorientiert oder erfolgsorientiert erfolgen. Das bisherige Universitätsorganisationsrecht ist im großen und im ganzen dem Modell prozeßorientierter Steuerung verpflichtet. Folge sind unzählige Rechtsvorschriften einschließlich Tausender Seiten von Erlässen gewesen. Das UOG 1993 ist ein großer Schritt in Richtung erfolgsorientierter Steuerung (und damit auch Deregulierung). Voraussetzung dafür ist freilich, daß die Universität im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben ihre Ziele definiert und die daraus ableitbaren Aufgaben formuliert, ferner, daß der Erfolg festgehalten wird, d. h. die universitäre Aufgabenerfüllung muß evaluiert werden. Die Evaluierung muß Forschung, Lehre, Management und Verwaltung umfassen. Sie hat auf allen Ebenen der Universität stattzufinden. Sie muß von Innen















2.8. Wissenschaftsreform

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und von Außen und unter Berücksichtigung internationaler Methoden und Verfahren betrieben werden. Festzuhalten ist, daß die Evaluierung nicht Selbstzweck sein darf. In allen universitären und überuniversitären Entscheidungen müssen Evaluierungsergebnisse sichtbar werden. Evident ist für mich, daß die Effektivität der Organisationsreform durch das UOG 1993 mit der Evaluierung der Aufgabenerfüllung der Universität und ihrer Gliederungen, Teile und Angehörigen steht und fällt. Wird nicht adäquat evaluiert bzw. fließen Evaluierungsergebnisse nicht hinreichend in die universitären und überuniversitären Entscheidungen ein, fehlt ein entscheidendes Kettenglied erfolgsorientierter Steuerung. Politische Vorgabe für die Organisationsreform war es, die Mitbestimmung im allgemeinen und die Paritäten in den universitären Entscheidungsorganen im besonderen aufrechtzuerhalten. Dieser Vorgabe ist grundsätzlich Rechnung getragen worden. Freilich schreibt das UOG 1993 den Mitbestimmungsstandard des UOG 1975 nicht eins zu eins fort. Einerseits wird die Mitbestimmung fortentwickelt, andererseits wird die Erfüllung operativer Aufgaben unmittelbarer Mitbestimmung entzogen. Sachverhalte der Fortentwicklung sind insbesondere die drittelparitätische Wahl des Studiendekans und die viertelparitätische Zusammensetzung der Universitätsversammlung, der die Wahl bzw. Abberufung des Rektors und der Vizerektoren obliegt (der Bedeutung der Allgemeinen Universitätsbediensteten für die universitäre Aufgabenerfüllung wird dadurch Rechnung getragen, daß sie in der Universitätsversammlung ein Viertel der Mitglieder stellen). Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang auch die Erweiterung der Ämterfähigkeit. Das UOG 1993 läßt offen, wer zum Vizerektor bestellt werden kann. Zu Vorsitzenden des Senates und des Fakultätskollegiums können auch Dozenten gewählt werden. Gleiches gilt für die Wahl zum Institutsvorstand (diese ist jedoch nur dann gültig, wenn sich die Universitätsprofessoren nicht mehrheitlich dagegen aussprechen). Festzuhalten ist schließlich, daß die Beschlußfassung des Senates über die Satzung mit Zweidrittelmehrheit erfolgen muß. Auch wenn die Erfüllung operativer Aufgaben unmittelbarer Mitbestimmung entzogen ist, kann mittelbar mitbestimmend eingewirkt werden. Die operativen Organe werden von mitbestimmten Kollegialorganen gewählt bzw. können von diesen abgewählt werden, ferner sind bei Erfüllung der operativen Aufgaben die strategischen Vorgaben der mitbestimmten Kollegialorgane im allgemeinen und die von den Kollegialorganen beschlossenen generellen Richtlinien, die mit Bindungswirkung versehen sind, zu berücksichtigen.

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Wie es mit Mitbestimmung auch immer sei. Klargestellt mußte zweierlei werden. Zum einen hat, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der universitären Aufgaben, die Selbstverwaltung in der Form der mittelalterlichen klösterlichen Gemeinschaft oder in der Form der Totaldemokratisierung ihre Grenzen. Zum anderen sind basis- und funktionärsdemokratische Strukturen, die Betroffenheit und Interesse in den Mittelpunkt rücken, zu ergänzen um solche, die von Betroffenheit und Interesse entfernter sind, dies wegen der Erfahrung, daß in der Regel das „regimen commixtum“ einer Monostruktur bei der Optimierung der Aufgabenerfüllung überlegen ist. • Das UOG 1993 legt Grundlinien für die Neuordnung der Personalstruktur fest. Organisationsrechtlich (und leider nicht auch besoldungsrechtlich) wird eine einheitliche Professorenkategorie geschaffen. Universitätsdozenten, die auch in einem Dienstverhältnis als Universitätsassistent mit Zuordnung zu einem facheinschlägigen Institut stehen, sind bezüglich ihrer Aufgaben den Professoren gleichgestellt, d. h., sie können nicht verpflichtend zur Mitwirkung bei der Erfüllung der Aufgaben des Universitätsprofessors herangezogen werden. Schließlich wird bei den Universitätsassistenten differenziert; nach Maßgabe der Beauftragung oder Betrauung und unter Berücksichtigung der Qualifikation sind sie entweder mitwirkend oder selbständig tätig. Der Wissenschaftsausschuß traf jedoch die Feststellung, daß die festgeschriebene Verpflichtung zur Durchführung von Lehrveranstaltungen erst mit dem Wirksamwerden einer Regelung über die Abgeltung der selbständigen Abhaltung von Lehrveranstaltungen durch Universitätsassistenten zur Anwendung gelangt.

5. Implementierung und Wirksamkeitsanalyse des UOG 1993 Die eigentliche Universitätsreform hat am Tage nach der Beschlußfassung des UOG 1993 im Parlament begonnen und ist ein Verfahren, an dem Universitäten, Ministerium und Parlament mitwirken müssen, um durch Organisationsentwicklung das bestehende System in das angepeilte überzuführen. Dabei sind auf allen Seiten Kooperation, Vertrauen, Mut zu Neuem und das Abgehen von Justamentstandpunkten unerläßlich. Die Umsetzung des UOG 1993 sollte ferner in der Form einer Wirksamkeitsanalyse begleitet werden. Träger dieser Wirksamkeitsanalyse sollte nicht nur das Wissenschaftsministerium sein; auch das Parlament und ein weniger involviertes, drittes Organ wären einzuschalten. Das Parlament sollte die Umsetzung durch eine informelle parlamentarische Arbeitsgruppe begleiten. Das dritte Organ sollte in einer Art peer review (unter internationaler Beteiligung) den Beitrag des UOG 1993 zur universitären Aufgabenerfüllung evaluieren.



2.8. Wissenschaftsreform

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6. Ausblick auf die nächste Legislaturperiode Trotz beachtlicher quantitativer und qualitativer Aktivitäten und Reformen in der zu Ende gehenden Legislaturperiode ist die Palette der zu erfüllenden wissenschafts- und hochschulpolitischen Aufgaben keineswegs erschöpft. In der nächsten Legislaturperiode muß jedenfalls an der Umsetzung und Wirksamkeitsanalyse des UOG 1993, an Reformen des Studienrechtes, des Dienstrechtes und des Besoldungsrechtes, an der Neuordnung der Forschungsförderung und Forschungsorganisation, an einer Wirksamkeitsanalyse des Fachhochschulstudiengesetzes, an der Verbesserung der Hochschuldidaktik sowie an der weiteren Hebung des Frauenanteils in der Hochschullehrerschaft gearbeitet werden. Darüber hinaus ist der Motivation der Universitätsangehörigen gezieltes Augenmerk zu schenken; dabei werden auch verschiedene Traumata, auf welcher Seite auch immer sie bestehen, aufgearbeitet werden müssen.

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2.9. Christian Brünner, Ein neuer Weg der professionellen Qualitätssicherung: der Fachhochschulrat

in: Höllinger/Hackl/Brünner (Hrsg.), Fachhochschulen – unbürokratisch, brauchbar und kurz, Wien 1994, 113–122

Vergleicht man Österreich mit anderen politischen Systemen, fällt auf, daß der Einfluß, den politische Parteien und Interessenverbände in den politischen und administrativen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen ausüben, weit größer ist als anderswo. Österreich wird daher zu Recht als Parteien- und Verbändestaat bezeichnet. Im administrativen System dominieren Institutionen, in denen entweder primär Angehörige des öffentlichen Dienstes tätig sind oder für deren Mitglieder (auch) politische Parteien und Interessenverbände personelle Vorschlags- oder Entsendungsrechte haben. Beispiele für die zweite Kategorie bieten das Wirtschaftsverwaltungsrecht, das Schulrecht und das Rundfunkrecht, ferner zahlreiche Beiräte und Kommissionen mit Beratungsfunktionen. Im Hochschulbereich ist in letzter Zeit ein dritter Institutionentypus eingerichtet worden, in dem weder Angehörige des öffentlichen Dienstes tätig werden noch parteipolitische oder interessenpolitische Aspekte dominieren sollen, nämlich das Universitätenkuratorium im UOG 1993 und der Fachhochschulrat im Fachhochschul-Studiengänge-Gesetz. Beide Institutionen sollen als Pufferinstitutionen zwischen dem politisch-administrativen Bereich (Ministerium) und dem Bereich der Interessen tätig werden, und zwar so, daß Logiken der Sache und damit des Gesamthaften gegenüber Logiken des Parteipolitischen und des (partikularen) Interesses mehr Chancen auf Berücksichtigung vorfinden. Zumindest kürzerfristig stehen politische Rationalität und Sachrationalität in Spannung. Es ist zum Beispiel im Hinblick auf das Interesse „Stimmenmaximierung“ politisch höchst rational, die Hochschulen auszubauen bzw. in jedem größeren Ort einen Fachhochschul-Studiengang einzurichten. Unter sachrationalen Gesichtspunkten – Knappheit der Ressourcen, Erfordernis kritischer Massen, Vorhandensein einer adäquaten Infrastruktur, Konkurrenzdruck, Vorhandensein von Stärken und Schwächen bestehender Einrichtungen – ist eine solche Hochschulexpansion jedoch disfunktional. Außerdem mag es politisch rational sein, nichts Bestehendes aufzulösen beziehungsweise zuzusperren. Dennoch ist es ein



2.9. Ein neuer Weg der professionellen Qualitätssicherung

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Beitrag zur Optimierung im Sinne von Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Aufgabenerfüllung, mittelfristig im Hochschulbereich einiges aufzulösen beziehungsweise zuzusperren oder zum Beispiel nicht überall, wo dies politische Parteien und/oder Interessen(verbände) wünschen, Fachhochschul-Studiengänge zu errichten. Freilich muß in einer Demokratie die angedeutete Spannung zwischen politischer Rationalität und Sachrationalität im Konfliktfall letztendlich zugunsten der politischen Rationalität gelöst werden. Auch wenn es im Hinblick auf sachrationale Erwägungen disfunktional sein mag, die Wünsche nach einer Hochschulexpansion zu befriedigen, darf dennoch den demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern – Parlament, Regierung, Minister – das „Recht“ nicht verwehrt werden, die Hochschulen zu expandieren. Festhalten möchte ich, daß ich mit der Hypothese betreffend die Spannung zwischen politischer Rationalität und Sachrationalität den Gegnern der Demokratie keine Argumente liefern möchte. Und im „demokratischen“ Kreislauf – Wahl (politische Personalentscheidung), politische Sachentscheidung des Vertretungsorgans, Betroffensein des Volkes durch die politische Sachentscheidung – kann es theoretisch keine Spannung zwischen politischer Rationalität und Sachrationalität geben. Sachrational disfunktionale politische Entscheidungen werden beim Volk „Schmerzen“ auslösen, die die politischen Personalentscheidungen verändern und das Vertretungsorgan „zwingen“ werden, an der Sachrationalität orientierte Entscheidungen zu treffen. Freilich ist die „Harmonisierung“ von politischer Rationalität und Sachrationalität in der Wirklichkeit etwas äußerst Langfristiges (und überdies nur Approximatives). Bis es zur Harmonisierung kommt, sind wahrscheinlich gewaltige Ressourcen und sonstige Potentiale vergeudet worden. Wie kann man das beschriebene Problem ein wenig entschärfen? Ein Weg ist es, die Hemmschwelle für politische Entscheidungen, die nicht auch an sachrationalen Erwägungen orientiert sind, anzuheben, dies durch Installierung einer Pufferinstitution, die zwischen politisch-administrativem Bereich und dem Bereich der Interessen eingerichtet wird. Dafür, daß eine Institution als Pufferinstitution funktionieren kann, gibt es verschiedene Determinanten. Nennen möchte ich insbesondere den Modus der Bestellung der Mitglieder der Institution (keine Mitwirkung von politischen Parteien und Interessenverbänden; Transparenz des Bestellungsvorganges), die Rechtsstellung der Mitglieder (Weisungsfreiheit), das Selbstverständnis der Mitglieder (keinen Interessen politischer Parteien oder von Verbänden verpflichtet; Orientierung am öffentlichen Interesse/am Gemeinwohl/an der adäquaten Berücksichtigung aller Interessen) und die der Institution zur Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung stehende Infrastruktur (diese muß quantitativ und qualitativ so dimensioniert

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sein, daß sie die Entscheidungsvorbereitung für die Pufferinstitution professionell und damit profund betreiben kann). Ferner bedarf es der Bereitschaft erfahrener, engagierter und selbständiger Mitglieder der Gesellschaft, sich in eine Pufferinstitution nominieren zu lassen und dort Arbeit im Dienste von Staat und Gesellschaft zu leisten (wofür es wieder einige Voraussetzungen gibt). Schließlich spielt auch das „Ambiente“, wie zum Beispiel die im politischen System praktizierte politische Kultur, eine Rolle. Die Pufferinstitution ist weder ein zweites Ministerium noch ein Interessenvertretungsorgan. Sie muß weitgehend autonom sein und soll nicht mit den Mitteln der Bürokratie, wie zum Beispiel Weisung oder Erlaß führen, sondern mit den Mitteln des interpreneuriel leadership, das heißt der Zielvorgabe, der Bewertung von Leistung, der Motivation, wie zum Beispiel Zuteilung größerer Ressourcen im Falle besonders guter Leistungen etc. Als „Puffer“ kann die Institution sachrationaleren Gesichtspunkten besser Rechnung tragen als das Ministerium, das mehr politisch-administrativ-rationalen Gesichtspunkten verpflichtet ist (und wegen der Bedingungen des demokratischparlamentarischen Regierungssystems auch verpflichtet sein muß). Die Pufferinstitution darf politische Entscheidungen wegen der unverzichtbaren politischen Verantwortung des Ministers im parlamentarischen Regierungssystem zwar nicht verhindern können, aber sie kann (als autonome Einrichtung) die Hemmschwelle für politische Entscheidungen, die nicht auch an sachrationalen Gesichtspunkten orientiert sind, wirksamer anheben als ein Ministerium, das wegen seiner unmittelbaren Nähe zum politischen Bereich (Minister als monokratische Spitze des Ministeriums) und seiner administrativen Strukturen (hierarchische Organisation, Weisungsgebundenheit des Personals, Durchführungsorientiertheit von Verwaltung) schneller der politischen Rationalität erliegt. Die Pufferinstitution kann ferner sachrationaleren Gesichtspunkten besser Rechnung tragen, wenn in ihr die involvierten bzw. betroffenen Interessen nicht vertreten sind. Selbstverständlich ist, daß Interessen artikuliert und (von außen) an die Pufferinstitution herangetragen werden können oder, anders formuliert: Kommunikationslinien zwischen Pufferinstitution und Interessen sollen vorhanden sein. Die Entscheidung der Pufferinstitution muß jedoch eine sein, die in einer gewissen Distanz von den Interessen getroffen wird und die weder der kleinste gemeinsame Nenner der Interessen ist, noch Gesichtspunkte des Interessenausgleichs, der Berücksichtigung auch nicht vertretener bzw. organisierter Interessen sowie der Orientierung am öffentlichen Interesse vernachlässigt oder überhaupt vermissen läßt. Eine Art Pufferinstitution ist übrigens unter dem Namen „Forschungskommission“ auch von den ausländischen Experten des Evaluationsberichtes über die



2.9. Ein neuer Weg der professionellen Qualitätssicherung

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Qualität der Physikalischen Forschung in Österreich postuliert worden. Außerdem funktionieren seit längerer Zeit auf dem Gebiet der Forschungsförderung Pufferinstitutionen. Ich möchte insbesondere den Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung nennen. Ich möchte im Folgenden näher auf den Fachhochschulrat eingehen. Dieser ist im Fachhochschul-Studiengänge-Gesetz aus dem Jahre 1993 geregelt. Der Fachhochschulrat ist als eine Behörde eingerichtet. Seine primäre Aufgabe ist es, die Qualität der Fachhochschulstudien und damit auch der Fachhochschuldiplome zu sichern. Für diese Qualität gibt das Gesetz dem Fachhochschulrat Kriterien vor (insbesondere § 3 und § 12 leg. cit.). Eines der Kriterien ist auch der Bedarf nach einem Fachhochschul-Studiengang sowie dessen Finanzierbarkeit. Dem Fachhochschulrat wird Autonomie eingeräumt. Die Mitglieder des Fachhochschulrates sind demgemäß in Ausübung ihres Amtes an keine Weisungen gebunden. Der Fachhochschulrat unterliegt jedoch der Aufsicht durch den Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. Außerdem wird auch dem Bundesminister für Unterricht und Kunst im Wege des Wissenschaftsministers ein Informationsrecht eingeräumt. Im aufsichtsbehördlichen Verfahren hat der Fachhochschulrat Parteistellung sowie das Recht, gegen den das Verfahren abschließenden Bescheid vor dem Verwaltungsgerichtshof Beschwerde zu führen. Die politische Rückkoppelung erfolgt über einen Genehmigungsvorbehalt. Entscheidungen des Fachhochschulrates über Anträge auf Anerkennung und auf Verlängerung der Anerkennung sowie der Widerruf der Anerkennung von Fachhochschul-Studiengängen bedürfen der Genehmigung des Bundesministers für Wissenschaft und Forschung. Die Genehmigung kann versagt werden, wenn die Entscheidung des Fachhochschulrates im Widerspruch zu nationalen bildungspolitischen Interessen steht. Vor der Entscheidung hat der Bundesminister für Wissenschaft und Forschung das Einvernehmen mit dem Bundesminister für Unterricht und Kunst herzustellen. Der Beschluß des Fachhochschulrates, betreffend die zulässigen akademischen Grade, die Zusatzbezeichnungen sowie die Abkürzung der akademischen Grade, bedarf ebenfalls der Genehmigung des Wissenschaftsministers. Ferner devolviert die Kompetenz des Fachhochschulrates, im Einvernehmen mit universitären Gesamtstudienkommissionen durch Verordnung die Bedingungen für ein Doktoratsstudium an einer Universität festzulegen, an den Wissenschaftsminister, wenn diese Verordnung nicht innerhalb der im Gesetz bestimmten Zeit erlassen ist. Abgesehen von der Entscheidung über die Anerkennung von Studiengängen als Fachhochschul-Studiengänge und die Entscheidung über den Entzug der Anerkennung hat der Fachhochschulrat noch folgende weitere Aufgaben: Die Verleihung der für Fachhochschul-Studiengänge vorgesehenen akademischen Grade

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und die Nostrifizierung ausländischer Grade; die Sicherung eines den Zielen und leitenden Grundsätzen von Fachhochschul-Studiengängen (§ 3 leg. cit.) entsprechenden Standards der Ausbildung durch Beobachtung der Studiengänge, insbesondere der Abschlußprüfungen; die Förderung der Qualität der Lehre und des Lernens sowie von Innovationen in Fachhochschul-Studiengängen durch Forschung, Weiterbildung und sonstige Maßnahmen; die laufende Evaluation des gesamten Fachhochschulsektors hinsichtlich seiner Kohärenz mit dem übrigen Bildungssystem und hinsichtlich seiner Akzeptanz durch das Beschäftigungssystem und die Bildungsnachfrage; die Beratung des Wissenschafts- und des Unterrichtsministers in Fragen des Fachhochschulwesens und des Einsatzes von Bundesmitteln sowie die jährliche Erstattung eines Berichtes über die Tätigkeit des Fachhochschulrates, über den Stand der Entwicklung im Fachhochschul-Bereich sowie dessen kurz- und längerfristigen Bedarf an die beiden Minister zwecks Vorlage an den Nationalrat. Um seine Aufgaben erfüllen zu können, hat der Fachhochschulrat gegenüber den Erhaltern von Fachhochschul-Studiengängen und von Fachhochschulen gewisse Rechte. Außerdem kann er zur fachlichen Beurteilung der einzelnen Anträge bei Bedarf Sachverständige heranziehen. Von besonderem Interesse im Hinblick auf das Charakteristikum „Pufferinstitution“ ist die Zusammensetzung des Fachhochschulrates. Der Fachhochschulrat besteht aus 16 Mitgliedern, wovon mindestens vier Frauen sein müssen. Für die Sachrationalität der Entscheidungen des Fachhochschulrates ist die Qualifikation seiner Mitglieder eine von mehreren wesentlichen Bedingungen. Gemäß den Bestimmungen des Gesetzes müssen alle Mitglieder Urteilsfähigkeit über pädagogisch-didaktische Angelegenheiten besitzen. Die Hälfte der Mitglieder muß wissenschaftlich durch eine Habilitation oder eine dieser gleichwertige Qualifikation ausgewiesen sein, die Hälfte der Mitglieder über den Nachweis einer mehrjährigen Tätigkeit in den für Fachhochschul-Studiengänge relevanten Berufsfeldern verfügen. Die Mitglieder werden vom Wissenschaftsminister ernannt, und zwar vier Mitglieder aufgrund von Vorschlägen des Beirates für Wirtschafts- und Sozialfragen sowie zwölf Mitglieder im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Unterricht und Kunst. Für die Zusammensetzung des Fachhochschulrates beziehungsweise für die Qualifikation seiner Mitglieder finden sich in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage des Fachhochschul-Studiengänge-Gesetzes weitere Hinweise. Es sollen unterschiedliche Bereiche und Regionen berücksichtigt werden. Die Mitglieder sollen in unterschiedliche Arbeitszusammenhänge und Entwicklungen eingebunden sein; dies sei für ein zukunftsorientiertes Vorgehen von eminenter Bedeutung (die Mitglieder üben ihre Tätigkeit daher nicht als Hauptberuf aus). Außerdem werden



2.9. Ein neuer Weg der professionellen Qualitätssicherung

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die Mitglieder des Fachhochschulrates „aufgrund ihrer fachlichen Expertisen, ihrer Erfahrung und ihres über ihren wissenschaftlichen oder beruflichen Bereich hinausgehenden Verständnisses und Engagements für die Entwicklung des Bildungssystems in den Fachhochschulrat berufen“. Aus den Mitgliedern des Fachhochschulrates werden ein Präsident und ein Vizepräsident vom Bundesminister für Wissenschaft und Forschung im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Unterricht und Kunst bestellt. Hinsichtlich der Abberufung des Präsidenten oder des Vizepräsidenten wird dem Fachhochschulrat ein Antrags- bzw. ein Anhörungsrecht eingeräumt. Der Fachhochschulrat übt seine Tätigkeit in Vollversammlungen aus. Das Anwesenheitsquorum beträgt zwei Drittel, das Beschlußquorum einfache Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Präsidenten den Ausschlag. Bei der Besorgung seiner Aufgaben steht dem Fachhochschulrat eine Geschäftsstelle zur Seite, die vom Präsidenten geleitet wird. Die Aufnahme des Personals, das in einem allenfalls zeitlich befristeten Dienstverhältnis zum Bund steht, erfolgt durch den Präsidenten des Fachhochschulrates. Betrachtet man die Bestimmungen des Fachhochschul-Studiengänge-Gesetzes betreffend den Fachhochschulrat fällt zweierlei auf. Zum einen macht das Gesetz in mehreren Bestimmungen deutlich, daß das Leitbild für die Tätigkeit des Fachhochschulrates die Sachrationalität ist. Nennen möchte ich insbesondere die Bestimmungen betreffend die Qualifikation der Mitglieder des Fachhochschulrates, die autonome Stellung des Fachhochschulrates, die Tätigkeit in Vollversammlungen, um – so die Erläuterungen zur Regierungsvorlage – die „Gesamtverantwortung des Gremiums zu stärken und einer fachlichen Fragmentierung entgegenzuwirken“, etc. Zum anderen zeigen die Bestimmungen betreffend die Bestellung der Mitglieder des Fachhochschulrates, daß man den Strukturen des Parteien- und Verbändestaates nicht entkommen konnte. Vier der sechzehn Mitglieder des Fachhochschulrates werden vom Wissenschaftsminister aufgrund von Vorschlägen des Beirates für Wirtschafts- und Sozialfragen ernannt, zwölf Mitglieder im Einvernehmen zwischen Wissenschaftsminister und Unterrichtsminister; Einvernehmen zwischen den beiden Ministern ist ferner für die Bestellung (und die Abberufung) des Präsidenten und des Vizepräsidenten erforderlich. Hinsichtlich des Vorschlagsrechtes des Beirates für Wirtschafts- und Sozialfragen enthält der Bericht des Ausschusses für Wissenschaft und Forschung eine Feststellung. Die Vorschläge sollen zu gleichen Teilen von den Interessenvertretungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer erstattet werden. Wie sehr bei Gesetzeswerdung darum gerungen wurde, eine interessenpolitische Orientierung so weit wie möglich hintanzuhalten beziehungsweise zu reduzieren, zeigt der Hinweis auf den Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen. In

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analogen Fällen nennt der Gesetzgeber nämlich nicht den Beirat, sondern die einzelnen, die Sozialpartnerschaft tragenden Interessenverbände (diese haben eine kammergesetzliche oder vereinsrechtliche Grundlage). Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen ist ein Teil der weder kammergesetzlich noch vereinsrechtlich installierten Paritätischen Kommission für Lohnund Preisfragen. In ihm sind von den Sozialpartnern nominierte Experten tätig; sein Rollenverständnis ist es, Expertisen vor dem durch die Sozialpartner repräsentierten interessenpolitischen Hintergrund abzugeben. Dieser Sachverhalt, der der Expertise trotz interessenpolitischer Orientierung einen zu beachtenden Stellenwert einräumt, war der Grund dafür, dem Beirat und nicht den sozialpartnerschaftlichen Interessenverbänden ein Vorschlagsrecht einzuräumen. Die eindeutige Ausschilderung der Sachorientierung war übrigens einigen von denen, die im Gesetzeswerdungsverfahren mitgewirkt haben, so wichtig, daß sie einen möglichen Vorwurf, die Bestimmung des § 7 leg. cit. verletze das Legalitätsprinzip, weil einer rechtlich nicht existenten Institution, dem Beirat, ein Vorschlagsrecht für die Bestellung von Mitgliedern einer Behörde eingeräumt werde, in Kauf genommen haben. Trotz der Bemühungen um die Zurückdrängung des Einflusses der etablierten Interessenverbände bleibt der Sachverhalt bestehen, daß ein Viertel der Mitglieder des Fachhochschulrates faktisch sozialpartnerschaftlich bestellt wird, dies deshalb, weil in der Regel das Ernennungsrecht des Wissenschaftsministers ein bloßer, den Vorschlag umsetzender Formalakt sein wird. Der sozialpartnerschaftlichen Interessenorientierung steht daher ein relativ breites Tor offen, was im Hinblick auf das Charakteristikum „Pufferinstitution“ disfunktional ist. Problematisch im Hinblick auf das Charakteristikum „Pufferinstitution“ sind für mich auch die Einvernehmensklauseln zwischen Wissenschafts- und Unterrichtsminister. Die beiden Ministerien sind parteipolitisch unterschiedlich besetzt. Außerdem repräsentieren sie unter anderem zwei die Einführung von Fachhochschulen seit rund dreißig Jahren begleitende (und bis vor kurzem verhindernde) Konfliktparteien, nämlich die Universitäten und die HTLs. Vor diesem Hintergrund ist die Versuchung unleugbar, daß das Einvernehmen zumindest auch eine partei- und interessenpolitische Ausrichtung erfährt. Anmerken möchte ich, daß das Fachhochschul-Studiengänge-Gesetz die Fachhochschulstudien eindeutig im Hochschulbereich positioniert, ein Sachverhalt, der den HTL-Interessen nicht konform sein dürfte. Wenn ich am Beispiel des Fachhochschulrates die Sachorientierung der Partei- und/oder Interessenorientierung so deutlich gegenüberstelle, möchte ich nicht mißverstanden werden. Ich unterstelle den vom Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen vorgeschlagenen Mitgliedern nicht, sachunkundig oder Marionetten



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ihres jeweiligen Interessenverbandes zu sein. Ich bin mir bewußt, daß für das Erfordernis des Einvernehmens zwischen Wissenschafts- und Unterrichtsminister auch sachrationale Gründe ins Treffen geführt werden können, so insbesondere die Verbindungslinien zwischen sekundärem und tertiärem Bildungsbereich. Außerdem kann die Pointierung der Sachrationalität gegenüber der partei- und interessenpolitischen Rationalität die (liberale) Annahme nicht verleugnen, daß sich die Vernunft dann am wahrscheinlichsten durchsetzt, wenn sie von Partikularinteressen frei gehalten wird, eine Annahme, die die Wirklichkeit oft Lügen straft. Ich möchte ferner den beiden, von unterschiedlichen Parteien gestellten Ministern auch nicht unterstellen, daß sie bei ihren Entscheidungen betreffend die Zusammensetzung des Fachhochschulrates von unsachlichen Überlegungen geleitet worden sind bzw. geleitet werden. Und dennoch, es kommt auf das Leitbild und auf die Idee an, die überdies eine regulative Kraft entfalten können sollen, was wiederum institutioneller Vorkehrungen bedarf. Gesetz und Gesetzeswerdung zeigen, was den Fachhochschulrat anbelangt, zwar das Leitbild und die Idee, die regulative Kraft entfalten sollen, ganz deutlich: Die Entscheidungen des Fachhochschulrates sollen an der „Logik“ des Gegenstandes, das sind qualitativ hochstehende und von der Gesellschaft nachgefragte Fachhochschul-Studiengänge, orientiert sein, nicht an partei- und interessenpolitischen Logiken. Dabei wird die Sachrationalität nicht über die politische Rationalität gestellt; letzterer ist über den Genehmigungsvorbehalt, betreffend die Entscheidung des Fachhochschulrates über die Anerkennung von Studiengängen als Fachhochschul-Studiengänge und die Entscheidung über den Entzug der Anerkennung, Rechnung getragen. Aber die Umsetzung des Leitbildes und der Idee erfolgt (bestenfalls) nur halbherzig, wie der Modus der Bestellung der Mitglieder des Fachhochschulrates zeigt. Mir wäre es jedenfalls lieber gewesen, weder dem Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen ein Vorschlagsrecht einzuräumen noch eine Einvernehmensklausel zu installieren, ferner die Entscheidung betreffend die Zusammensetzung einem Minister, nämlich wegen der Zuordnung der Fachhochschul-Studien zum Hochschulbereich dem Wissenschaftsminister, in die Hand zu geben sowie durch Ausschreibung, öffentliches Hearing und Entscheidungsbegründung transparent zu machen und damit der politischen (sozialen) Kontrolle zuzuführen. Kritisch bewerten möchte ich noch die rechtliche und faktische Situation betreffend die Geschäftsstelle. Die Situation läßt keinen oder zumindest wenig Beitrag zum Charakteristikum „Pufferorganisation“ erkennen. Für diese ist eine die Entscheidungsgrundlagen professionell aufbereitende Infrastruktur eine der wesentlichen Bedingungen, dies nicht zuletzt deshalb, um den Arbeitsaufwand der Mitglieder der Institution in erträglichen Grenzen zu halten und den partei- und

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interessenpolitischen Einflußnahmen mit professionell erarbeiteten Grundlagen begegnen zu können. Dies ist wieder eine der Voraussetzungen dafür, erfahrene, engagierte und selbständige Mitglieder der Gesellschaft zur Mitarbeit zu motivieren. Arbeitsteiliges Vorerledigen der Aufgaben des Fachhochschulrates durch seine Mitglieder zum Beispiel wird nur möglich sein, wenn Sachrationalität und Professionalität gesichert sind, ansonsten wird das wahrscheinlich existierende, partei- und/oder interessenpolitisch gespeiste Mißtrauen zeitökonomische, wenig reglementierte und wenig bürokratisierte Verfahren wahrscheinlich verhindern oder zumindest erschweren. In den Diskussionen und Entwürfen, die zur Regierungsvorlage des Fachhochschul-Studiengänge-Gesetzes geführt haben, war anstelle einer Geschäftsstelle von einem Generalsekretariat des Fachhochschulrates die Rede. Ein solches (und es geht nicht nur um einen Begriff) konnte leider nicht durchgesetzt werden. Dies und verschiedene diesbezügliche ,.Begründungen“ sowie Hinweise auf Sparsamkeit (es geht aber primär nicht um Sparsamkeit, sondern um eine Infrastruktur, mit deren Hilfe die Aufgaben bestmöglich erfüllt werden können) zeigen, daß man den Zusammenhang zwischen Charakteristikum „Pufferinstitution“ und damit primärer Orientierung an Sachrationalität einerseits und einer adäquaten Infrastruktur für die Pufferinstitution andererseits nicht sehen konnte bzw. nicht sehen wollte. Anmerken möchte ich, daß der Fachhochschulrat Sachverständige (bei Bedarf ) nur zur fachlichen Beurteilung der Anträge auf Erteilung der Anerkennung als Fachhochschul-Studiengang heranziehen darf. Er hat jedoch weitere wichtige Aufgaben, so zum Beispiel die Förderung der Qualität der Lehre und des Lernens sowie von Innovationen oder die (breit anzulegende) Evaluation, für deren Erledigung Sachverstand, Daten und Informationen, alles professionell aufbereitet, notwendig sind. Der Fachhochschulrat mußte übrigens seine Tätigkeit weitgehend ohne Geschäftsstelle beginnen. Dies ist ein gravierendes Manko, weil eine voll funktionierende, „Schienen“ legende Geschäftsstelle gerade am Anfang notwendig gewesen wäre. Ein (weiteres) Manko möchte ich noch anmerken. Der Fachhochschulrat entscheidet betreffend die Anerkennung von Fachhochschul-Studien einzelfallorientiert, d. h., daß der Anerkennungswerber bei Vorliegen der Anerkennungsvoraussetzungen Anspruch auf eine positive Entscheidung hat, wobei über den ministeriellen Genehmigungsvorbehalt. eine Rückkoppelung zu „nationalen bildungspolitischen Interessen“ hergestellt ist. Darunter verstehe ich jedenfalls auch gesamthafte Überlegungen betreffend den gesamtösterreichischen Bedarf an Fachhochschul-Studien in den einzelnen Fachgebieten, dies auch regional umgelegt.



2.9. Ein neuer Weg der professionellen Qualitätssicherung

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Nun liegt auf der Ebene der Regierung eine Entwicklungs- und Finanzierungsplanung für den Fachhochschulbereich vor. In dieser werden die zu erwartende Nachfrage nach Studienplätzen quantifiziert und Kriterien für eine Bundesfinanzierung, darunter zum Beispiel eine überregionale Abstimmung oder der Abbau regionaler Disparitäten festgelegt. Wie dies sachgerecht auf die Ebene des einzelnen Antrages gebrochen werden kann sowie ob und inwieweit der Fachhochschulrat dies in seine Einzelfallentscheidung einfließen lassen kann bzw. darf, ist zumindest unklar. Wie dem auch immer sei: Der Fachhochschulrat sollte jedenfalls bei der regionalen Verteilung von Fachhochschul-Studiengängen, bzw. von solchen in ein und demselben Fachgebiet, mitreden können, was freilich wiederum nur dann Sinn macht, wenn er seine Funktion als sachorientierter Puffer erfüllt und erfüllen kann.

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2.10. Christian Brünner, Plädoyer für eine freimütige Diskussion des freien Hochschulzugangs

in: Berka/Brünner/Hauser (Hrsg.) [Gesamtredaktion: Novak], Res Universitatis. FS Funk, Wien/Graz 2003, 163–174

Gliederung I. Freier Hochschulzugang – ein Tabu? II. Standpunkte und Forderungen III. Herausforderungen für das österreichische Modell des Hochschulzugangs IV. Notwendigkeit einer wissenschaftlichen, systemvergleichenden Analyse des Zulassungssystems V. Rahmenbedingungen für ein selektierendes Zulassungssystem

I. Freier Hochschulzugang – ein Tabu? Die Diskussion, betreffend die seit mehr als 30 Jahren zu beobachtende Entwicklung der Universität zur Massenuniversität, war geprägt von zwei Tabus, nämlich Studiengebühren und Hochschulzugang. Das eine Tabu wurde über Nacht gebrochen. Obwohl es bis zum Schluss Beteuerungen politischer Funktionäre gegeben hatte, keine Studiengebühren einzuführen, wurde durch Art. 74 (Änderung des Hochschul-Taxengesetzes 1972)1 des Budgetbegleitgesetzes 20012 ab dem Wintersemester 2001/02 ein Studienbeitrag in der Höhe von 363,36 Euro pro Semester eingeführt.3 Was dem Tabu „Studiengebühren“ widerfahren ist, könnte auch dem Tabu „Hochschulzugang“ passieren: Der offene Hochschulzugang wird immer häufiger und intensiver infrage gestellt. Freilich ist festzuhalten, dass ein Bruch dieses Tabus

1 BGBl. 1972/76; durch BGBl. I 2002/120 für den Universitätsbereich per 31. 12. 2003 außer Kraft gesetzt. 2 BGBl. I 2000/142. 3 Vgl. nunmehr §§ 91 und 92 Universitätsgesetz 2002, BGBl. I 2002/120; vgl. dazu Kostal, Universitätsgesetz 2002 (2002).



2.10. Plädoyer

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bzw. die Implikationen eines solchen Bruchs weitaus komplexer wären als im Falle der Studiengebühren. Dieser Sachverhalt macht eine gründliche gesellschafts-, bildungs- und hochschulpolitische Diskussion der Vor- und Nachteile des offenen Hochschulzugangs sowie der Vor- und Nachteile selektierender Zulassungssysteme, deren Kern die Auswahlinstrumente sind, erforderlich – eine Diskussion, die ihrerseits wissenschaftliche, darunter systemvergleichende Analysen zur Voraussetzung hat.

II. Standpunkte und Forderungen Die öffentliche, politische Diskussion ist mehr von Standpunkten und Forderungen als von einer tiefer gehenden Argumentation pro und kontra freier Hochschulzugang geprägt. Der eine oder andere Rektor wünscht sich, dass sich die Universität autonom die Studierenden aussuchen können sollte. Medien rühmen die strenge Auslese an Privatuniversitäten. Immer wieder zeugen Meldungen über angedrohte Aufnahmestopps und verfügte Studienplatzbeschränkungen an einzelnen Universitäten oder in einzelnen Studienrichtungen davon, einer großen Zahl von Studierenden Herr zu werden. Mitunter wird – bei gleichzeitiger Ablehnung der Methode – ein letzter „Ausweg“ angedeutet, nämlich Studierende „hinauszuprüfen“, oder es wird davon gesprochen, man sollte aufhören, darauf zu vertrauen, so und so viele „hinauszufrustrieren“. Politische Funktionäre schweigen, dementieren oder wollen das Bestehende einzementiert sehen. 1994 machte der damalige Wissenschaftsminister Erhard Busek den Vorschlag, nach dem zweiten Semester eine kommissionelle Prüfung durchzuführen, um auf diese Weise Informationen für die Eignung des Studierenden für das betreffende Studium zu bekommen. Die Prüfung wurde in der öffentlichen Debatte als „Knockoutprüfung“ apostrophiert und massiv bekämpft. In der am 27. 11. 2001 beschlossenen Stellungnahme der Österreichischen Rektorenkonferenz und der Vorsitzenden der obersten Kollegialorgane zum Gestaltungsvorschlag einer Arbeitsgruppe des bm:bwk zur „vollen Rechtsfähigkeit“ – die Stellungnahme trägt den Titel „Elemente der Universitätsautonomie“ – heißt es unter Pkt. 9 („Studienrecht und Studienangebot“), dass im Vorfeld der Erstellung des Gestaltungsvorschlages die (zumindest teilweise) Selbstauswahl der Studierenden durch die Universitäten als wesentliches Wettbewerbselement diskutiert worden sei. Im Gestaltungsvorschlag finde sich diesbezüglich jedoch nichts mehr. Auch übergehe der Gestaltungsvorschlag zulasten der Universitäten das Problem von Kapazitätsgrenzen und permanenten Überlasten in einigen Studienrichtungen. Den Universitäten sei die Möglichkeit einzuräumen, entsprechend den zur Verfügung gestellten Mitteln die Plätze für einzelne, besonders stark nachgefragte

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Studien begabungs- und kapazitätsabhängig zu beschränken. An den Universitäten der Künste gäbe es bereits ein Aufnahmeverfahren, das sich in dieser Form bewährt habe. Einige Jahre nach Buseks Vorschlag forderte also die Österreichische Rektorenkonferenz bei grundsätzlicher Beibehaltung des freien Hochschulzugangs eine Aufnahmegrenze bei überlaufenen Studien wie z. B. Medizin. Jeder solle sein „Wunschstudium“ beginnen können. Allerdings sollte nach einer ein- oder zweisemestrigen Studieneingangsphase selektiert werden, wer das Fach weiterstudieren darf oder auf ein anderes Fach „ausweichen“ müsse. In der darüber geführten öffentlichen Debatte wurde von einer präventiven „Notwehrmaßnahme“ der Universitäten gesprochen. Die Universitäten seien an Zugangsbeschränkungen nicht interessiert, man sei für den freien Hochschulzugang, dieser koste aber auch Geld.4 Bereits im Vorfeld dieser Diskussionen hatte sich auch der Rat für Forschung und Technologieentwicklung zu Wort gemeldet. Er sprach sich für ein „Aufnahmeverfahren“ für Studienanfänger aus.5 Im vorläufigen Bericht über die EUA (European University Association) Convention of European Higher Education Institutions, die vom 29. bis 31. 5. 2003 in Graz zum Thema „Strengthening the Role of Institutions“ stattgefunden hat, wird im Zusammenhang mit Herausforderungen für Institutionen höherer Bildung von „competitiveness and excellence with social cohesion and access“ gesprochen, ferner wird als einer der „core values“ dieser Institutionen „equity and democratic access“ definiert.6 Die Wirtschaftsuniversität hat einen Entwicklungsplan ausgearbeitet, in dem es – laut einer Pressemeldung – heißt, dass eine Ausdehnung der Absolvierenden4 Zur diesbezüglichen Diskussion in den Medien vgl. die Berichte in der „Presse“ vom 28. 11. 2001 („Rektoren: Knock-Out-System soll Zugang zu Uni-Studien regulieren“) und vom 30.  11.  2001 („Verständnis für den Rektorenvorschlag einer Knock-Out-Prüfung kommt von vielen Studenten, nicht aber von den Parteien“), ferner im „Standard“ vom 29. 11. 2001 („Uni-Rektoren wollen die Studienplätze beschränken. Unis wollen Studenten selbst auswählen“). Vgl. auch die von der Österreichischen Rektorenkonferenz unter Vorsitz der obersten Kollegialorgane am 19./20. 5. 2000 beschlossenen Eckpunkte einer anzustrebenden Universitätsreform. In Pkt. 4 der Eckpunkte heißt es: „Den Universitäten ist verstärkt Verantwortung für die Art ihrer Aufgabenerfüllung und für eine leistungsorientierte Eingangsphase in den Studien einzuräumen. Der Erhalt des freien Hochschulzugangs ist mit einer Bereitstellung der entsprechenden Ressourcen zu verbinden.“ Die Eckpunkte sind abgedruckt in Titscher u.  a. (Hrsg.), Universitäten im Wettbewerb. Zur Neustrukturierung österreichischer Universitäten (2000); 62 f. 5 Vgl. die APA-Meldung vom 5. 4. 2001. 6 Vgl. den vorläufigen Bericht der Generalberichterstatterin Ullenius im Internet: http://www.unige. ch/eua/En/home.html.



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zahl nicht angestrebt, weil nicht vertretbar, werde. Zielgruppe seien „vor allem leistungsfähige und -willige Studierende“. Voraussetzung der Rekrutierung der primären Zielgruppe seien „Auswahl- und Selbstselektionsmechanismen“.7 Der Entwicklungsplan muss noch vom Universitätsrat beschlossen werden. Jüngst wurde auf einer Pressekonferenz der Österreichischen Ärztekammer die Forderung nach Zulassungsprüfungen an den Medizinuniversitäten erhoben. In einem diesbezüglichen Pressebericht heißt es, es sei darauf hingewiesen worden, dass die Verantwortlichen von ihrer „Feigheit“ in dieser Frage abgehen sollten. Es gehe nicht um einen Numerus clausus, sondern nur um ein „verschärftes Screening“ im ersten Studienabschnitt.8 Im Zusammenhang mit der hohen Durchfallsrate bei den Prüfungen des ersten Abschnitts des Studiums der Humanmedizin an der Medizinuniversität Graz9 wird der freie Studienzugang heftig infrage gestellt. Der Studiendekan fordert Aufnahmetests oder Interviews.10 Mag diese nur wenige Striche aufweisende Skizze der Diskussion auch höchst unvollständig sein, sie zeigt dennoch mit aller Deutlichkeit die Unhaltbarkeit der Situation: Mit Forderungen, Dementis, Einigelungen, Verzweiflungsaktivitäten schafft man keine Basis für eine rationale Diskussion der Vor- und Nachteile des freien Hochschulzugangs sowie etwaiger Alternativen zu diesem freien Zugang einschließlich der mit dem jeweiligen Zugangssystem einhergehenden Implikationen.

III. Herausforderungen für das österreichische Modell des Hochschulzugangs Der Druck, den freien Hochschulzugang abzuschwächen bis aufzugeben, nimmt zu. a) In der universitätsinternen und universitätsexternen Diskussion standen und stehen die Nachteile der Hochschulexpansion, darunter insbesondere die mit den gestiegenen und steigenden Studierendenzahlen verbundenen Kapazitätsprobleme, im Vordergrund. Dies zeigt sich auch daran, dass der Begriff „Massenuniversität“ pejorativ konnotiert ist. Übersehen wird dabei mitunter, dass die Quote

7 Vgl. den Bericht in der „Presse“ vom 5. 7. 2003, 9 („Eine Elite-Universität, die nicht weiterwachsen will“). 8 Vgl. den Bericht im „Standard“ vom 10. 7. 2003, 7 („Ärzte wollen Zulassungstest an Medizinunis“). 9 Vgl. unten Anm. 12. 10 Vgl. den Bericht in der „Kleinen Zeitung“ vom 17. 7. 2003, 14 („An ,heiliger Kuh‘ wird gerüttelt“).

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der Studierenden in Österreich im internationalen Durchschnitt liegt oder dass verschiedene Berufe akademisiert worden sind bzw. sich auf dem Wege der Akademisierung befinden. Wie dem auch immer sei, in der bildungspolitischen Diskussion treten Gesichtspunkte der Chancengleichheit – diese war und ist eine der Rechtfertigungen für den freien Zugang zu den Hochschulen – in den Hintergrund. Die Forderung der Bildung von Eliten wird deutlicher als bisher artikuliert. Der freie Zugang wird als eine Ursache für Qualitätsverfall beklagt, die hohen Drop-out-Raten – eine Konsequenz des freien Zugangs – als Verschleuderung von Ressourcen gebrandmarkt. b) Die Ressourcenprobleme der Universitäten sind evident und in aller Munde. Auch wenn das Budget des Jahres 2004 eine Steigerung gegenüber dem (zurückgegangenen) Budget des Jahres 2003 aufweist, bleibt das universitäre Ressourcenproblem ein akutes, und es wird wahrscheinlich noch größer werden. Steht die Universität vor der Alternative, in der Forschung oder in der Lehre zu sparen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, bei der mit der Massenuniversität als verbunden angenommenen Ressourcenverschwendung anzusetzen. Dabei müsste man, wollte man das Niveau der universitären Ausbildung halten oder heben, mehr Geld für die Lehre aufwenden als bisher. Die Studierendenpopulation wird nämlich im Hinblick auf Herkunft, Alter, Begabungen, intellektuelles Niveau, (körperliche) Behinderungen immer diversifizierter, was auf die Kosten für eine Lehre durchschlagen muss, die am Grundsatz der Chancengleichheit orientiert ist, und nicht daran, dass derjenige/diejenige, der/die auf der Strecke bleibt, zum Studium unfähig ist. c) Ab 1. 1. 2004 gilt für die Zulassung zu ordentlichen Studien (das sind die Diplom-, Bakkalaureats-, Magister- und Doktoratsstudien) § 63 Universitätsgesetz 2002 (im Folgenden kurz: UG 2002).11 Demnach setzt die Zulassung zu einem ordentlichen Studium voraus: 1. die allgemeine Universitätsreife, 2. die besondere Universitätsreife für das gewählte Studium, 3. die Kenntnis der deutschen Sprache, 4. die künstlerische Eignung für die Studien an den Kunstuniversitäten und 5. die körperlich-motorische Eignung für das Lehramtsstudium im Unterrichtsfach Leibeserziehung und das Studium der Sportwissenschaften. Die Zulassung zu den wissenschaftlichen Studien ist somit – abgesehen von der Voraussetzung der Universitätsreife – grundsätzlich frei. 11 Das Studienrecht ist nunmehr im UG 2002, BGBl. I 2002/120, geregelt. Die Bestimmungen des Universitäts-Studiengesetzes 1997, das bisher die Regelungen betreffend die Studien beinhaltet, treten mit Ausnahme der Verfassungsbestimmungen mit Ablauf des 31. 12. 2003 außer Kraft (§ 143 Abs. 9 UG 2002).



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Eine spezielle Form der Zulassung in der Form von Zulassungsprüfungen gibt es nur für die künstlerischen Studien. Gemäß § 51 Abs. 2 Z 19 UG 2002 sind Zulassungsprüfungen die Prüfungen, die unter Berücksichtigung der Vorbildungsmöglichkeiten dem Nachweis der künstlerischen Eignung für die künstlerischen Studien dienen. Für die wissenschaftlichen Studien gibt es keine Zulassungsprüfungen, allenfalls jedoch Ergänzungsprüfungen. Das sind Prüfungen zur Erlangung der allgemeinen Universitätsreife oder für den Nachweis der Kenntnis der deutschen Sprache oder der körperlich-motorischen Eignung (§ 51 Abs. 2 Z 18 UG 2002). Zulassungsbeschränkungen für (alle) Studien gibt es (lediglich) im Zusammenhang mit Lehrveranstaltungen. Gemäß § 54 Abs. 7 UG 2002 darf im Curriculum als Voraussetzung für die Anmeldung zu Lehrveranstaltungen, deren Verständnis besondere Vorkenntnisse erfordert, der Nachweis dieser Vorkenntnisse durch die positive Beurteilung bei einer oder mehreren Prüfungen oder in anderer zweckmäßiger Form festgelegt werden. Gemäß Abs. 8 leg. cit. ist im Curriculum für Lehrveranstaltungen mit einer beschränkten Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Anzahl der möglichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie das Verfahren der Vergabe der Plätze festzulegen. Dabei ist zu beachten, dass den bei einer Anmeldung zurückgestellten Studierenden daraus keine Verlängerung der Studienzeit erwächst. Dass letztere Bestimmung den Stau in den nachfolgenden Studienjahren verstärkt, liegt auf der Hand. Studienpläne sehen mitunter – in extensiver Interpretation des § 7 Abs. 8 Universitäts-Studiengesetz 1997 (im Folgenden kurz: UniStG 1997) (dieser Absatz ist weitestgehend identisch mit der Nachfolgebestimmung des § 54 Abs. 8 UG 2002) – Studienplatzbeschränkungen vor. So heißt es z. B. im Studienplan für das Diplomstudium Humanmedizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Graz12 unter Pkt. 1.14 („Durchführbarkeit. Vergabemodus der Studienplätze“) wie folgt: „Die Lehrveranstaltungsplätze für die Seminare und Übungen des zweiten und dritten Studienabschnitts sind aus Kapazitätsgründen limitiert und können nicht ausgeweitet werden, weil dadurch die angestrebte Ausbildungsqualität nicht gewährleistet wäre. In den Lehrveranstaltungen des zweiten Studienabschnitts mit Teilnahmebeschränkung (Seminare und Übungen) stehen 264 Plätze für die Studierenden des Diplomstudiums Humanmedizin zur Verfügung.“ Im Anschluss daran regelt der Studienplan die Kriterien für die Vergabe der Plätze.13 12 Mitteilungsblatt der Karl-Franzens-Universität Graz, 47. Sondernummer, 18 t Stück, ausgegeben am 30. 6. 2003. 13 Laut einem Bericht in der „Kleinen Zeitung“ vom 11. 7. 2003, 19, sollen 83 % der Studierenden bei der Abschlussprüfung des ersten Studienabschnitts durchgefallen sein (den 264 Studienplätzen für

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Ähnliches gilt für den Studienplan für das Diplomstudium Zahnmedizin an der Universität Graz.14 Gemäß § 11 Abs. 2 des Studienplans stehen in den Lehrveranstaltungen des zweiten Studienabschnitts mit Teilnahmebeschränkung (Lehrveranstaltungen mit immanentem Prüfungscharakter) 24 Plätze für die Studierenden des Diplomstudiums Zahnmedizin zur Verfügung. In den Abs. 3 bis 7 wird der Vergabemodus geregelt. Da das Universitätsstudienrecht keine explizite Ermächtigung enthält, für ganze Studienabschnitte Studienplätze zu limitieren, können diesbezügliche Studienplanregelungen rechtlich infrage gestellt werden. Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur hat jedoch diesen Modus der Studienplatzbeschränkung nicht untersagt und stößt sich – wie im Falle der Medizinischen Fakultät der Universität Wien – lediglich an der Zahl der Limitierung. Als Quasi-Zulassungsbeschränkung wird mitunter auch die Studieneingangsphase konzipiert. Als Studieneingangsphase definiert § 51 Abs. 2 Z 6 UG 2002 das Angebot von Lehrveranstaltungen aus den das jeweilige Diplom- oder Bakkalaureatsstudium besonders kennzeichnenden Fächern, das der Information und der Orientierung der Studienanfängerinnen und Studienanfänger dient. Sofern diese Studieneingangsphase unter Heranziehung von § 54 Abs. 7 UG 2002 – Nachweis besonderer Vorkenntnisse – als Voraussetzung für die Anmeldung zu Lehrveranstaltungen konzipiert ist, wird die Studieneingangsphase quasi zu einem Prüfungsfach, dessen positiver Abschluss Voraussetzung für das weitere Studium ist. Man darf sich nicht wundern, dass angesichts des Problemdrucks – Ressourcenknappheit und hohe Studierendenzahlen – die auf die genannten Bestimmungen gestützten universitären Entscheidungen zu allgemeineren (indirekten) Zulassungsbeschränkungen mutieren. Auf der Hand liegt freilich, dass dergestalt das Problem dadurch nicht wirklich gelöst werden kann. d) Mit Universitäten vergleichbare Einrichtungen höherer Bildung haben Zulassungsbeschränkungen. Zu nennen sind die Fachhochschul-Studien und die Privatuniversitäten, aber auch die medizinisch-technischen Akademien.

den zweiten Studienabschnitt stehen rund 600 Studierende gegenüber). Dass ein so hoher Prozentsatz des Nichterreichens eines partiellen Ausbildungsziels nichts mehr mit qualitätsorientierter Selektion zu tun hat, ist – laut Zeitungsbericht – offensichtlich auch den für das Studium Verantwortlichen bewusst. An der Medizinuniversität Wien sollen drei Viertel der Studierenden durchgefallen sein; vgl. den Bericht im „Standard“ vom 15. 7. 2003. 14 Mitteilungsblatt der Karl-Franzens-Universität Graz, 49. Sondernummer, 18 v Stück, ausgegeben am 30. 6. 2003.



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Das Fachhochschul-Studiengesetz 1993 (im Folgenden kurz: FHStG)15 erlaubt kapazitätsorientierte Aufnahmebeschränkungen. § 12 Abs. 2 Z 11 leg cit schreibt für die Anerkennung als Fachhochschul-Studiengang eine Kalkulation mit Ausweis der Kosten pro Studienplatz und einen Finanzierungsplan für die Dauer der Genehmigung des Fachhochschul-Studienganges voraus. In Umsetzung des Konzepts kapazitätsorientierter Aufnahmebeschränkungen normiert § 12 Abs. 4 Z 4 leg cit, dass ein Antrag auf Anerkennung eines Fachhochschul-Studienganges eine Aufnahmeordnung zu enthalten hat, in der die Zahl der Studienplätze und die Kriterien für die Auswahl von Studienwerbern für den Fall angegeben ist, dass die Zahl der Studienwerber die Zahl der Studienplätze übersteigt. Dem Kapazitätsaspekt wird durch die Festlegung von Auswahlkriterien somit ein qualitativer Aspekt der Zulassung zur Seite gestellt. Die konkrete Ausgestaltung des Aufnahmeverfahrens obliegt dem einzelnen Anbieter eines Fachhochschul-Studienganges. Er hat dabei jedoch § 11 (Aufnahmeordnung) der Richtlinien des Fachhochschulrates für die Akkreditierung von Bakkalaureats-, Magister- und Diplomstudiengängen zu berücksichtigen.16 In Umsetzung dieser generellen Vorgaben enthalten die Anträge auf Anerkennung eines Fachhochschul-Studienganges umfangreiche Aufnahmeordnungen, in denen auch das Auswahlverfahren bzw. die Auswahlkriterien (z. B. Tests, Berücksichtigung bisheriger Leistungen, Motivation etc.) geregelt werden. In den erläuternden Bemerkungen der Regierungsvorlage des FHStG zu § 12 Abs. 4 Z 4 leg cit heißt es: „Der Gestaltungsmöglichkeit bei der Festlegung der Kriterien für die Auswahl von Studierenden bei kapazitätsorientierten Aufnahmebeschränkungen sind durch den Gleichheitsgrundsatz (§ 4 Abs. 1) und die in § 4 Abs. 2 angeführten fachlichen Zugangsvoraussetzungen Grenzen gesetzt.“17 Nach dem Ausschussbericht18 ist iSd von § 3 Abs. 1 Z 3 leg cit normierten Zielvorgabe, die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu fördern, jede Diskriminierung von Studienwerbern aufgrund von Zugangsvoraussetzungen auszuschließen. Das Universitäts-Akkreditierungsgesetz 1999 (UniAkkG)19 ermöglicht die Anerkennung einer postsekundären Bildungseinrichtung als Privatuniversität. Das Gesetz enthält keinerlei explizite Regelungen betreffend die Zulassung. § 2 leg cit 15 BGBl., 1993/340 idgF; s. dazu Hauser, Fachhochschul-Studiengesetz2 (2002). 16 Richtlinien in der Fassung des Beschlusses des Fachhochschulrates vom 25. 10. 2002; vgl. auch den Kommentar des Fachhochschulrates zu den Akkreditierungsrichtlinien des Fachhochschulrates, Version 1.0, Beschluss des Fachhochschulrates vom 25. 10. 2002. 17 949 BlgNR 18. GP, 15. 18 1048 BlgNR 18. GP, 2. 19 BGBl. I 1999/168 idgF; vgl. dazu Perthold-Stoitzner/Stöger/Szüsz, Universitäts-Akkreditierungsgesetz (2001).

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regelt die Voraussetzungen für die Akkreditierungen. Gemäß § 2 Abs. 1 Z 2 leg cit muss die Bildungseinrichtung jedenfalls Studien oder Teile von solchen in einer oder mehreren wissenschaftlichen oder künstlerischen Disziplinen, die zu einem akademischen Grad führen, welcher im internationalen Standard für mindestens dreijährige Vollzeitstudien verliehen wird, oder darauf aufbauende Studien anbieten. Gestützt auf diese Bestimmung hat der Akkreditierungsrat Mindeststandards beschlossen, mit denen einige der in § 2 des Gesetzes genannten Kriterien interpretiert und erläutert werden. Der zweite Satz des Punktes 4 der Mindeststandards lautet: „Die Zulassung zum Studium muss mindestens den österreichischen Regelungen der allgemeinen Zulassungsvoraussetzungen entsprechen.“ Unter Berücksichtigung dieses Mindeststandards obliegt die Regelung der Zulassung der einzelnen Privatuniversität. Die im Herbst dieses Jahres startende Private Medizinische Universität Salzburg stellt 42 Studienplätze zur Verfügung. Das Aufnahmeverfahren gliedert sich in eine Vorselektion, in einen schriftlichen Test, in ein Interview und in einen Kommissionsentscheid.20 Für die 42 Studienplätze haben sich rund 400 Personen beworben. Hingewiesen werden soll auch auf die medizinisch-technischen Dienste. § 16 des Bundesgesetzes über die Regelung der gehobenen medizinisch-technischen Dienste (MTD-Gesetz)21 regelt die Aufnahme in eine medizinisch-technische Akademie. Gemäß § 17 leg cit entscheidet über die Aufnahme der angemeldeten Aufnahmewerberinnen eine Kommission. § 17 Abs. 3 leg cit normiert, dass der Beschluss über die Auswahl der Aufnahmewerberinnen unter Berücksichtigung der Erfordernisse des jeweiligen medizinisch-technischen Berufes zu erfolgen hat. Da es an den Akademien kapazitätsorientierte Studienplatzbeschränkungen gibt und die Zahl der Aufnahmewerberinnen in der Regel die verfügbaren Studienplätze übersteigt, kommt es auch in diesem Fall zur Anwendung von Auswahlkriterien. Die Auswahl erfolgt somit (auch) unter qualitativen Aspekten. In der Steiermark besteht das Auswahlverfahren bzw. bestehen die Auswahlkriterien in einem generellen schriftlichen Test, in einem je nach Fachrichtung konzipierten spartenspezifischen Test und in einem Interview des/der Bewerbers/in, zu dem auch ein Psychologe beigezogen wird. Eine Rolle bei der Auswahl spielen auch regionale und geschlechterspezifische Aspekte. Von denen, die sich bewerben, werden ca. 10 Prozent aufgenommen. Werden Studierende zu einem Fachhochschul-Studiengang oder zu einer Privatuniversität oder zu einer medizinisch-technischen Akademie nicht zugelassen, hindert dies nicht die Zulassung zu einem Studium an einer (wissenschaftlichen) 20 Vgl. im Internet: http://www.pmu.ac.at/bewerber/index.html. 21 BGBl. 1992/460 idF BGBl. I 2002/169.



2.10. Plädoyer

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Universität. Ist die Nichtzulassung auf einen qualitativen Aspekt, nämlich geringere Eignung als die zugelassenen Bewerberinnen zurückzuführen, entsteht der Eindruck, dass für ein Universitätsstudium auch eine geringere Eignung ausreichend ist. Dies führt jedenfalls zu schweren Imageschäden der Universität. e) Auch die Internationalisierung des Hochschulwesens löst Druck aus, das gegenwärtige Zulassungssystem zu überdenken. Bereits 1990 findet sich im Bewertungsmodell der Bertelsmann-Stiftung für Hochschulen in Europa folgender Passus: Der einzelnen Hochschule soll das Recht auf Auswahl der Studierenden nach vorgegebenen, hochschulpolitischen Kriterien zustehen.22 Auch wenn die Europäische Union im Großen und Ganzen keine explizite Kompetenz zur Regelung des Inhalts und der Organisation der Hochschulbildung in den Mitgliedsstaaten hat, schreitet die Integration auf dem Gebiete der Hochschulbildung voran und wird zu einer gewissen Harmonisierung der Hochschullandschaft bzw. des Hochschulrechts führen. Sichtbares Zeichen dafür ist der sogenannte Bologna-Prozess, dessen Gegenstand die (qualitätsorientierte) Reform der europäischen Hochschulbildung ist.23 f ) Wie bereits oben ausgeführt, setzt die Zulassung zu einem ordentlichen Studium an einer österreichischen Universität u. a. die besondere Universitätsreife für das gewählte Studium voraus (§ 63 Abs. 1 Z 2 UG 2002). Gemäß § 65 Abs. 1 UG 2002 besteht die besondere Universitätsreife in der Erfüllung der studienspezifischen Zulassungsvoraussetzungen einschließlich des Rechts zur unmittelbaren Zulassung zum Studium, die im Ausstellungsstaat der Urkunde, mit der die allgemeine Universitätsreife nachgewiesen wird, bestehen.24 Der Nachweis eines Studienplatzes ist nicht zu fordern.25 Ein Zweck der Bestimmung liegt auf der Hand: Er besteht darin, dass Studierenden, die an Zulassungsbeschränkungen in anderen Staaten scheitern, das Ausweichen nach Österreich unmöglich gemacht wird. Darin kann freilich auch 22 Carl Bertelsmann-Preis, Symposion 1990: Evolution im Hochschulbereich (1990). 23 Vgl. Aigner, Der Bologna-Prozess. Reform der europäischen Hochschulbildung. Chancen der Informations- und Kommunikationstechnologie (2002). 24 Auf die weitgehend identen Bestimmungen des noch in Geltung stehenden UniStG 1997 (§ 36 Abs. 1 leg cit) wird verwiesen. Zum UniStG vgl. Hauser/Kostal, UniStG – Universitäts-Studiengesetz (1997). 25 § 65 Abs. 1 letzter Satz leg cit. Dieser Satz fehlt in § 36 Abs. 1 UniStG 1997, der Vorgängerbestimmung. In einem Erlass des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur vom 7. 9. 2001 wurde jedoch festgestellt, dass der Nachweis eines konkreten Studienplatzes in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union für die Zulassung zu österreichischen Universitäten nicht gefordert wird. § 36 UniStG 1997 und damit auch der Erlass werden nunmehr durch § 65 Abs. 1 UG 2002 abgelöst.

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eine Diskriminierung dieser Studierenden beim Zugang zu österreichischen Universitäten gesehen werden. Die Europäische Kommission sieht in den genannten Bestimmungen einen Verstoß gegen die sich aus den Art. 12 (Diskriminierungsverbot), 149 und 150 (allgemeine und berufliche Bildung und Jugend) EG-Vertrag ergebenden Pflichten. Bereits Ende 1999 ist – nach einem Schriftverkehr in der ersten Hälfte des Jahres – ein Mahnschreiben an Österreich gerichtet worden. Mittlerweile ist das Vorverfahren abgeschlossen und hat die Europäische Kommission gemäß Art. 226 Abs. 2 EG-Vertrag am 31. 3. 2003 Klage gegen die Republik Österreich beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingereicht.26 Die Kommission beantragt, der Gerichtshof möge feststellen, dass die Republik Österreich, indem sie nicht die erforderlichen Maßnahmen getroffen hat, um sicherzustellen, dass die Inhaber von in anderen Mitgliedsstaaten erworbenen Sekundarschulabschlüssen unter den gleichen Voraussetzungen wie die Inhaber von in Österreich erworbenen Abschlüssen Zugang zum Hochschul- und Universitätsstudium in Österreich haben, gegen ihre Pflichten aus den Art. 12, 149 und 150 EG-Vertrag verstoßen hat. Als Klagegründe und wesentliche Argumente wird Folgendes ausgeführt: Die Regelung des Zugangs zur österreichischen Hochschuloder Universitätsbildung führt dazu, dass die Inhaber von in anderen Mitgliedsstaaten erworbenen Sekundarschulabschlüssen über das Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen für den Zugang zum Hochschul- oder Universitätsstudium hinaus nachweisen müssen, dass sie die spezifischen Voraussetzungen für die Eröffnung des unmittelbaren Zugangs zu dem gewählten Studienfach erfüllen, die der Mitgliedsstaat der Ausstellung dieser Abschlüsse aufgestellt hat. Eine solche Regelung verstößt gegen die Art. 12, 149 und 150 EG-Vertrag. Zum einen wird der Zugang der Inhaber von in anderen Mitgliedsstaaten erworbenen Abschlüssen zu bestehenden Studienrichtungen an österreichischen Hochschulen oder Universitäten unbestritten einer Voraussetzung unterworfen, die für Inhaber von in Österreich erworbenen Abschlüssen nicht gilt. Zum anderen führt diese Regelung nach Maßgabe der im Herkunftsstaat geltenden rechtlichen Voraussetzungen für den Zugang zum Hochschul- und Universitätsstudium zu einer unterschiedlichen Behandlung der Staatsangehörigen anderer Mitgliedsstaaten. Anzumerken ist, dass der Verfassungsgerichtshof in der Bestimmung des § 7 Abs. 1 lit. b Allgemeines Hochschul-Studiengesetz 196627 kein Problem gesehen

26 Die Klageschrift trägt die Rechtssachennummer C-147/03. Klage und Klagsbegründung sind publiziert im Amtsblatt der EU vom 10. 5. 2003, C 112/21. 27 Diese Bestimmung ist die Vorläuferbestimmung zu § 36 Abs. 1 UniStG 1997 und § 65 Abs. 1 UG 2002. Eine der Zulassungsvoraussetzungen war somit auch damals der Nachweis der besonderen Hochschulreife.



2.10. Plädoyer

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hat. Er stellte nämlich fest, dass es nicht sachfremd sei, zum Zweck der Anerkennung der Reifeprüfung an die Vorschriften jenes Staates anzuknüpfen, nach dessen Vorschriften das Reifezeugnis erworben worden sei. Die Annahme sei gerechtfertigt, dass für die Bedeutung der Universitätsreife in erster Linie die Verhältnisse jenes Staates ausschlaggebend seien, nach dessen Vorschriften das Reifezeugnis erworben worden sei. Es sei auch durchaus sachlich, wenn solcherart verhindert würde, dass Interessenten den jeweils bestehenden Zulassungsbeschränkungen auswichen, indem sie ihr Studium in einem Land begännen, das neben der allgemeinen Universitätsreife keine oder weniger Voraussetzungen kenne. Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof hinsichtlich eines Widerspruchs der fraglichen Regelung zum Diskriminierungsverbot des EG-Vertrages sei nicht notwendig. Es bestehe kein offenkundiger Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht.28 Sollte der Europäische Gerichtshof der Argumentation der Europäischen Kommission folgen, stünden die österreichischen Bestimmungen betreffend eine besondere Universitätsreife in Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht und dürften nicht mehr angewendet werden. Dies hätte u. a. zur Folge, dass z. B. Studierende aus Deutschland, die die Zulassungsbedingungen für die sogenannten „harten“ Numerus-clausus-Fächer wie Medizin, Pharmazie und Psychologie nicht erbringen können, in Österreich zugelassen werden müssten, dies in jenen Fächern, die auch hierzulande mit einer übergroßen Studierendenzahl zu kämpfen haben. Wäre die Zahl der Numerus-clausus-Flüchtlinge hoch (was jedoch nicht zu erwarten ist), bliebe Österreich wahrscheinlich nichts anderes übrig, als allgemein gültige (kapazitätsorientierte) Zulassungsbeschränkungen zu verfügen.

IV. Notwendigkeit einer wissenschaftlichen, systemvergleichenden Analyse des Zulassungssystems Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, steht das österreichische Zulassungssystem des freien Hochschulzugangs in Diskussion und unter Druck. Um nicht in die Lage zu kommen, eine Entscheidung betreffend das Zulassungssystem in „Hüftschussmanier“ zu treffen, bedarf es der wissenschaftlichen, darunter auch systemvergleichenden Analyse des Themas „Zulassung“. Auswirkungen der verschiedenen Zulassungssysteme, auch des Systems des freien Zugangs, müssen sorgfältig analysiert sowie die Vor- und Nachteile der verschiedenen Systeme einander gegenübergestellt werden. Besonderes Augenmerk sollte auf Erfahrungen gelegt werden, die man mit Zulassungsbeschränkungen bereits gemacht hat. Dabei geht es insbesondere um die Frage der Validität von 28 VfSlg. 14.886/1997.

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Auswahlkriterien im Hinblick auf Ausbildungs- und Bildungsziele sowie bildungspolitische Effekte wie z. B. betreffend die soziale Schichtung der Studierendenpopulation oder geschlechtsspezifische Auswirkungen eines Zulassungssystems oder die Förderung bzw. Vernachlässigung bestimmter Merkmale eines Persönlichkeitsprofils und bestimmter Qualitätsaspekte (z. B. Schnelligkeit vs. Gründlichkeit; „Stoffrezeption“ vs. Kreativität etc.). Zu analysieren sind auch die Auswirkungen eines bestimmten Zulassungssystems auf das an den tertiären Bildungsbereich heranführende Schulsystem. Unter systemvergleichenden Aspekten sind – neben Deutschland – insbesondere Frankreich, die USA und Japan von besonderem Interesse. Diese drei Staaten praktizieren nicht nur seit Langem zulassungsbeschränkende Systeme, sondern betreiben auch umfangreiche Forschungen betreffend Fragen der Hochschulzulassung. Aus österreichischer Sicht gibt es Erfahrungen mit der Zulassung zu Fachhochschul-Studiengängen und medizinisch-technischen Akademien. Diese Erfahrungen sollten umgehend wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Erfreulich ist, dass auch in Österreich das Thema Hochschulzugang zunehmend zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse gemacht wird. Ich möchte insbesondere die Dissertation von Elisabeth Hödl29 und den Beitrag von Ulrich Teichler zum Symposion aus Anlass meines 60. Geburtstages nennen.30

V. Rahmenbedingungen für ein selektierendes Zulassungssystem Sollte ein selektierendes Zulassungssystem eingeführt werden, müssen verschiedene Fragen und Probleme einer Lösung zugeführt werden. Ich möchte einige nennen: Wir brauchen eine Vielfalt von Ausbildungsgängen im tertiären Bildungsbereich, die unterschiedlichen Begabungen, unterschiedlichen Qualifikationen und unterschiedlichen Niveaus Rechnung tragen. Dies gebietet der Grundsatz der Chancengleichheit, der Eckpfeiler eines jeden Zulassungssystems sein muss. Da aber kein (selektierendes) Zulassungssystem absolute Chancengleichheit garantieren kann, sollte das Institutionenspektrum des tertiären Bildungsbereichs ergän29 Hödl, Hochschulzugang in Europa. Ein Ländervergleich zwischen Österreich, Deutschland, England und der Schweiz (2002); vgl. dazu auch Mantl, Universitätspolitik und Universitätsrecht: Drei Bausteine des Wandels, zfhr 2003, 3 ff. 30 Teichler, Hochschulzulassung und Struktur des Hochschulwesens, in Schnedl/Ulrich (Hrsg.), Hochschulrecht. Hochschulmanagement. Hochschulpolitik. Symposion aus Anlass des 60. Geburtstages von Christian Brünner (2003), 143 ff.



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zend um eine Open university erweitert werden. An dieser sollte ohne spezifische Zulassungsvoraussetzungen studiert werden können. Eine Akkreditierungsinstitution könnte sodann vor dem Hintergrund eines Modulsystems jene Module (Lehrveranstaltungen, Prüfungen etc.) definieren, deren Absolvierung (iVm beruflicher Qualifizierung) als einem akademischen Grad äquivalent anzusehen ist. Mitunter wird die vertikale Differenzierung in Bachelor-, Magister- und Doktoratsstudium zum Anlass genommen, die erste Stufe frei zugänglich zu haben, für die beiden anderen Stufen aber Eingangsvoraussetzungen zu definieren, deren Festlegung der einzelnen Universität anheimgestellt werden sollte. Eine solche Differenzierung erscheint auf den ersten Blick nicht unattraktiv, ein zweiter Blick muss jedoch dem Sachverhalt zugewendet werden, dass derzeit der Effectus civilis, der den Zugang zu verschiedenen Berufen eröffnet, nur mit dem erfolgreichen Abschluss eines Magister- bzw. eines Doktoratsstudiums verbunden ist. Damit steht erneut die Frage der Chancengleichheit im Hinblick auf den Berufszugang massiv im Raum. Hat man unterschiedliche Ausbildungsgänge im tertiären Bereich, die zu unterschiedlichen Abschlüssen führen, muss dem auch das Berufsrecht Rechnung tragen. Ein auf wenige Abschlusstypen eingeschränkter Effectus civilis berührt den Grundsatz der Chancengleichheit massiv und muss sich überdies die Frage nach der Sachgerechtigkeit gefallen lassen. Bereits derzeit sollte mit dem Aufbau einer Organisation begonnen werden, welche die Validität eines Zulassungssystems im Hinblick auf die Ausbildungsziele und alle gesellschafts-, bildungs- und hochschulpolitischen Implikationen des Zulassungssystems kontinuierlich einer wissenschaftlichen Analyse unterzieht und dabei auch die Erfahrungen mit ausländischen Zulassungssystemen mitberücksichtigt. Erstes Betätigungsfeld könnten jene selektierenden Zulassungssysteme sein, die es in Österreich (insbesondere bei den Fachhochschulstudien und Privatuniversitäten, aber auch bei den Kunstuniversitäten und sonstigen Ausbildungseinrichtungen des tertiären Bildungssektors) bereits gibt. In diesem Zusammenhang muss auch festgehalten werden, dass es Aufgabe der Universitäten im Sinne eines institutional research ist, aus Eigenem solche Analysen durchzuführen. Unerlässlich ist eine kontinuierliche, öffentliche Diskussion aller gesellschafts-, bildungs- und hochschulpolitischen Implikationen der Institutionen und der Ausbildungsgänge des tertiären Bildungsbereichs auf hohem Niveau und unter Einbeziehung der Ergebnisse diesbezüglicher wissenschaftlicher Analysen. Derzeit besteht freilich der Eindruck, dass man eine solche Diskussion nicht wirklich haben möchte. Den Eindruck nährt z. B. der Sachverhalt, dass eine Studie über die Auswirkungen der Einführung von Studienbeiträgen31 offensichtlich erst ein Jahr nach 31 Kolland, Auswirkungen der Einführung von Studienbeiträgen auf die Studienbeteiligung und das

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ihrer Fertigstellung das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat.32 Die Studie kommt u. a. zu folgendem Ergebnis: „Obwohl nicht festgestellt werden konnte, dass sich die soziale Zusammensetzung der Erstzugelassenen (aufgrund der Studienbeiträge) verändert hat, ist dennoch zu beobachten, dass Studierende aus dem Arbeitermilieu häufiger an Abbruch gedacht haben, und diese, wie auch Studierende aus dem Selbstständigen-/landwirtschaftlichen Milieu, (dies) häufiger mit den Studienbeiträgen begründen. Frauen aus unteren Bildungs- und Erwerbsschichten sind stärker vom Studienabbruch betroffen, wenn sie das Studium durch Erwerbstätigkeit oder durch die Unterstützung des Partners finanzieren.“33 Es ist zu wünschen, dass auch diese Studie in die geforderte fundierte Diskussion betreffend den Hochschulzugang einbezogen wird. Da – wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben – das Problem Hochschulzugang ein virulentes ist, muss es umgehend bearbeitet werden. So sollten die bisher zugänglichen Materialien betreffend Erfahrungen sowie Implikationen verschiedener Zulassungssysteme in der Form eines Forschungsprojektes gesichtet werden. Darüber hinaus sollte unter Federführung der Österreichischen Rektorenkonferenz eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden. Mitglieder der Arbeitsgruppe sollten jedenfalls Personen sein, die Expertenwissen auf dem Gebiete der Zulassung haben. Die Arbeitsgruppe sollte innerhalb eines überschaubaren Zeitraums Vor- und Nachteile verschiedener Zulassungssysteme zusammenfassen. Das Ergebnis der Arbeitsgruppe sollte in der Folge mit Vertretern/innen der Politik sowie der Absolventen/innen aufnehmenden Berufe einer Diskussion unter Beteiligung der Medien zugeführt werden.

Studierverhalten. Endbericht (2002). 32 Vgl. den diesbezüglichen Bericht im „Standard“ vom 17. 6. 2003, 8. 33 Endbericht, 95 f.



2.11. Universität – nicht nur Kader- und Wissenschaftsschmiede

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2.11. Christian Brünner, Universität – nicht nur Kader- und Wissenschaftsschmiede, sondern auch Stätte der Wahrheitssuche und Bildung

in: Schnedl/Ulrich (Hrsg.), Hochschulrecht – Hochschulmanagement – Hochschulpolitik. FS Brünner, Wien/Köln/Graz 2003, 237–244

Das Wissen, Teil eines Ganzen zu sein, ist Bildung; nicht: Ausbildung. Und das Ringen um diese Bildung, um diesen Dienst an der Wahrheit, um diese Klugheit ist der Universität anvertraut. Clemens Sedmak

I. Die letzten 50 Jahre haben der Universität vier Organisationsreformen gebracht. Fokussiert auf jeweils ein Anliegen spricht man von der Ordinarienuniversität des HOG 1955, der Gruppen- oder Kurienuniversität des UOG 1975 und der Managementuniversität des UOG 1993 sowie des Universitätsgesetzes 2002. Auffallend dabei ist nicht nur die Abfolge der Fokussierungen, sondern auch die ungefähre Halbwertszeit des Bestandes der Organisationsgesetze: 20 Jahre HOG, 18 Jahre UOG 1975 und 9 Jahre UOG 1993. Die Fokussierung auf einen Aspekt, das sich immer schneller drehende Reformkarussell und das heftige, kontroversielle Feilschen um die jeweilige Organisationsreform haben dazu geführt, dass die Idee der Universität in den Hintergrund getreten ist. Von einzelnen diesbezüglichen Wortmeldungen abgesehen, hat auch im Zuge der Diskussion um das Universitätsgesetz 2002 kein breites, vielschichtiges Räsonnement, betreffend die Idee der Universität, weder innerhalb noch außerhalb der Universität stattgefunden. Dies verwundert mich auch nicht. Die Idee der Universität ist nämlich kein „Arzneimittel“, auf das bei Gebrauch schnell zugegriffen werden könnte. Sie bedarf der ständigen, die universitäre Aufgabenerfüllung begleitenden, innerhalb und außerhalb der Universität anzustellenden Reflexion. Weil Räsonnement und Reflexion Mühe kosten, vordergründig nichts zu bringen scheinen und nur von nur scheinbar produktiveren Tätigkeiten abhalten, kommen sie – leider – im Alltag zu kurz. Dies rächt sich dann, wenn ein Rekurs

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auf die Idee der Universität hilfreich wäre, einen roten Faden zu finden. Dabei bin ich mir bewusst, dass die Idee der Universität kein feststehender, unveränderlicher Kanon ist, sondern ein Netz mit vielen Fäden, an dem immer wieder neu gesponnen werden muss. Clemens Sedmak hat im Spectrum der „Presse“ vom 20. 4. 2002 unter dem Titel „Zu billig, um wahr zu sein“ im Zusammenhang mit der Frage nach der Idee der Universität sieben Leitbilder beschrieben, auch das, das der gegenwärtigen Reform vorangetragen zu werden scheint, nämlich die Universität als Produktionsstätte von Forschungs- und Dienstleistungen sowie AbsolventInnen. Dabei werden auch die Vor- und Nachteile jedes Leitbildes angesprochen — eine differenzierende Argumentation, die ich in der Diskussion um die Universität oftmals vermisse. Obwohl ich mich als Rektor und Politiker um die „Managementisierung“ der Universität bemüht habe, möchte ich nicht, dass sich die Ziele und Aufgaben der Universität in Utilitaristischem, Ökonomisch-Funktionalem erschöpfen. Wäre dem so, dann hätten wir einen Ort verloren, an dem in Freiheit und Achtsamkeit auch durch und mit Wissenschaft nachgedacht werden kann, was den Menschen und seine Welt ausmacht, wissend, dass diese Frage durch und mit Wissenschaft allein nicht beantwortet werden kann, und einen Ort, an dem auch Wissen- und Erkennenwollen seine bildende Kraft entfalten kann.

II. Auch wenn die Universität Distanz zu Staat und Gesellschaft braucht, um ihren Zielen gerecht werden und ihre Aufgaben erfüllen zu können, ist es Aufgabe der Politik, der Universität einen Rahmen zu setzen. Darunter verstehe ich jedenfalls Folgendes: Die Universität ist eine Forschungs- und Lehreinrichtung neben anderen Forschungs- und Lehreinrichtungen. Es ist Aufgabe der Politik, universitäre Forschungseinrichtungen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und die Lehrinstitutionen des postsekundären Bildungsbereichs in ein planvolles Ganzes zu integrieren. Diese Aufgabe ist nicht zuletzt deswegen notwendig, weil sie knappe Ressourcen schont und weil sie Voraussetzung dafür ist, dass durch Koordination aller Einrichtungen und durch Synergieeffekte ein Beitrag zu einer wirksamen Aufgabenerfüllung geleistet wird. Weiters geht es darum, betreffend die Struktur der Universitätslandschaft Klarheit zu haben. Darunter verstehe ich dreierlei: Immer wieder wird davon gesprochen, dass sich unsere Universitäten mit den besten Universitäten der Welt messen können müssten, dass wir Elite-Universitäten brauchten und dass auch unsere Universitäten Nobelpreisträger „produzieren“



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sollten. Übersehen wird dabei, dass die Universitätslandschaft einer Pyramide gleichen muss, damit alle Aufgaben und Bedarfe, die im Zusammenhang mit der Universität formuliert werden, erfüllt werden können. Die US-amerikanische Hochschullandschaft ist ein Beispiel für eine solche Pyramide. Auf die USA wird freilich nur rekurriert, wenn man die amerikanischen Ivy League-Universitäten den österreichischen vor die Nase halten möchte. Der breite Unterbau, der Voraussetzung für Spitzenleistungen ist, wird oftmals ignoriert. Ob diese „vertikale“ Differenzierung bei jeder Universität erfolgt oder so, dass die Universitätslandschaft aus EliteUniversitäten, überregionalen, nationalen Einrichtungen der Forschung und der Lehre sowie Einrichtungen der Forschung und der Lehre, die regionale Aufgaben erfüllen, besteht, ist mir sekundär. Es geht ferner um die Strukturfrage im Sinne von Standortplanung. Das Thema ist äußerst heiß, was die Zurückhaltung der Politik zur Folge hat, sich damit zu beschäftigen. Faktum ist aber, dass wir uns nicht alles an allen Standorten leisten können. Ich bin mir der sozialen, regionalen und politischen Probleme des „Zusperrens“ von Standorten bewusst, daher muss man kleine, aber trotzdem effektive Schritte tun. Ein solcher Schritt wäre, Forschungs- und Lehreinheiten eines Standortes ein koordinatives Gremium zur Seite zu stellen, was helfen könnte, sukzessive unnotwendige Doppelgleisigkeiten zu beseitigen und Synergieeffekte zu lukrieren. Solches Koordinieren könnte in konzentrischen Kreisen gedacht werden: in einer Stadt (wie z. B. in Graz oder in Wien); in einer Region bzw. einem Bundesland und österreichweit. Schließlich soll jede Universität ihr eigenständiges Profil entwickeln können. Eine der Voraussetzungen dafür ist, dass die Universitäten Autonomie haben, aber auch, dass häufige gesetzgeberische „Hammerschläge“ betreffend die Organisation vermieden werden und die Universitäten kontinuierlich Organisationsentwicklung betreiben. Die andere Seite dieser Medaille ist die Evaluierung, die aber den universitären Besonderheiten – darunter Kreativität, Phantasie, Entdeckerdrang, Forscherfreude – gerecht werden muss. Wie schon gesagt wurde, braucht die Universität Distanz zu Staat und Gesellschaft. Staat und Gesellschaft müssen diese Distanz gewähren bzw. respektieren. Daraus folgt jedenfalls, dass parteipolitisch und/oder interessenpolitisch motivierte Eingriffe, Zugriffe, Aktivitäten etc. unterlassen werden müssen. Ich sage dies, obwohl mir diesbezügliche Begehrlichkeiten bewusst sind und weil es darum geht, abgesehen von den institutionellen und rechtlichen Absicherungen dieser Distanz auch Standards der Zurückhaltung zu pflegen bzw. zu entwickeln. Wir werden in absehbarer Zeit sehen, ob es solche Standards gibt, wenn die Bundesregierung die von ihr zu nominierenden Mitglieder des Universitätsrates bestellt (die Funktionen sollten jedenfalls ausgeschrieben werden) oder wenn es um die

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Beschickung sonstiger überuniversitärer, hochschulpolitischer Gremien geht. Für den Fall, dass in einer nächsten Regierung die Medizinuniversitäten nicht dem Wissenschafts-, sondern dem Gesundheitsministerium unterstehen (was wahrscheinlich ist), ist zu hoffen, dass die Autonomietradition der Universität, mit der das Wissenschaftsministerium konfrontiert war und ist, auch dem Gesundheitsministerium „bewusst“ ist. Die parteipolitische und/oder interessenpolitische Zurückhaltung, die von Staat und Gesellschaft zu fordern ist, ist freilich keine Einbahnstraße. Sie gilt auch für die Universität. Auch wenn es Ziel der Universität ist, verantwortlich zur Lösung der Probleme des Menschen sowie zur gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt beizutragen, und sie dabei zwangsläufig in Konflikt mit Staatsorganen, politischen Parteien und/oder gesellschaftlichen Kräften kommen muss, hat sie sich parteipolitischer und/oder interessenpolitischer Agitation zu enthalten. Darüber hinaus hat sie selbstkritisch zu reflektieren, welche politischen Paradigmen in der Universität existieren, z. B. zu welchen Ergebnissen – konservativen, progressiven, nationalen, liberalen – universitätsinterne Bestellungsmodi führen. Leistungsvereinbarung und Globalbudget sind Instrumente des New Public Management. Die damit einhergehende Deregulierung berührt auch die Position des Parlamentes, d. h. seine Mitwirkung an der politischen Steuerung und seine Kontrollbefugnisse. Beide parlamentarischen Aufgabenbereiche können bereits heute nur relativ schwach wahrgenommen werden, und sie werden durch New Public Management und Deregulierung weiter geschwächt. Als Verfassungsrechtler und Ex-Parlamentarier verfolge ich diese Entwicklung mit Sorge. Wie unter geänderten Bedingungen die Mitgestaltung und Kontrolle durch das Parlament effektiv gestaltet werden kann, ist eine immer drängendere Frage. Die problemlösende Beantwortung dieser Frage ist eine der Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Systems parlamentarischer Demokratie.

III. Der Herbst ist für mich eine der schönsten Zeiten im Jahreslauf der Universität: Maturantinnen und Maturanten bevölkern die Universität, um als Erstsemestrige die Universität als ihre Alma Mater in Besitz zu nehmen. Was wäre die Universität ohne diese jungen Menschen voll von Zuversicht, Selbstsicherheit, Ratlosigkeit, Angst, Begabung, Überfordertsein? Die Universität wäre eine – im günstigsten Falle – zwar anerkannte, aber mangels Nachfließens von Neugierde, Phantasie und Unbekümmertheit und mangels Weiterfließens von Wissen, Erkenntnisdrang und Forscherfreude statische Forschungsanstalt. Die StudentInnen brauchen unsere Ermunterung, Motivation und Anleitung,



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unsere Herausforderung, unsere Förderung ihres Selbstwertes, unsere Gespräche und Anerkennung. Wir müssen sie ermuntern, dass sie ihren ureigensten Weg gehen, und wir müssen sie ermuntern zu erkennen, was ihre Individualität ausmacht und was – daraus abgeleitet – ihre Aufgabe in der Gesellschaft ist. Eine solche Sichtweise muss auch durchschlagen auf die Gestaltung der Curricula, die noch stärker als bisher den individuellen Begabungen und individuellen Defiziten Rechnung tragen müssen, und auch daraufhin orientiert sein müssen zu vermitteln, was Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bedeutet. Die Lehre und das Prüfungswesen sollen von einem kooperativen (Aus-)Bildungsparadigma „gesteuert“ werden. Demnach ist es eine gemeinsame Aufgabe und Verantwortung von LehrveranstaltungsleiterInnen bzw. PrüferInnen und Studierenden, dass die Ausbildungsziele von Studierenden auch erreicht werden; dabei können und müssen die individuellen „Besonderheiten“ des jeweiligen Studierenden mitberücksichtigt werden. In einem solchen kooperativen Klima können und müssen die Studierenden auch gefordert werden. Die Universität ist ein Ort des Verstandes. Dem steht nicht entgegen, dass die Lehre nicht nur an der kognitiven Dimension ausgerichtet wird, sondern auch die sozialen und kulturellen Kompetenzen der jungen Menschen gefördert werden. In den vier Jahren meiner Amtszeit als Rektor habe ich rund 5.400 Absolventen und Absolventinnen der Universität Graz promoviert bzw. spondiert. Von den vielen Aufgaben, die Ausfluss meines Rollenbildes des Rektorsamtes gewesen waren, war dies die schönste Aufgabe. Ich freue mich noch heute darüber, insbesondere dann, wenn mir immer wieder Menschen, denen ich begegne, „gestehen“, dass ich sie promoviert oder spondiert habe. Ich habe in den Promotionen und Sponsionen aber auch eine Möglichkeit gesehen, die Universität nach außen zu repräsentieren. In diesen vier Jahren haben ca. 50.000 Menschen — Familienangehörige und Freundinnen der AbsolventInnen — den Promotionen und Sponsionen beigewohnt.

IV. Auch Zeichen und Symbolik dienen der universitas. Ich habe daher die Insignien der Universität in meiner Zeit als Rektor gerne verwendet: das Zepter der Universität als Symbol für die Autonomie der Universität, für das leistungs- und verantwortungsorientierte Forschen und Lehren, die Entdeckerfreude, die Freude am Umgang mit den jungen Menschen, die hier studieren, für alles das, was den Anforderungen der Gesellschaft in Freiheit gerecht werden lässt und kritische Distanz zur Gesellschaft bewahren hilft; die Rektorskette als Symbol für die Verantwortung der Universität gegenüber Staat und Gesellschaft, als Symbol dafür, die Universität

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offen zu halten für alle Schichten der Bevölkerung, für alle Probleme und Anliegen der Gesellschaft und für Neues, Fremdes, Unkonventionelles. Die universitas ist nicht nur der analytisch-kognitiven Dimension des Menschseins verpflichtet. Es war mir daher wichtig, in meiner Zeit als Rektor Zeichen zu setzen im Raum und im Selbstverständnis der Universität, dass auch Kunstsinn und künstlerisch-musisches Aktivsein unverzichtbare Instrumente und Bestandteile der Bildung des Menschen, der Persönlichkeitsentwicklung und -gestaltung sind. Gewiss ist, dass die Wissenschaft des Dialogs mit der Kunst bedarf, um der Gefahr zu wehren, sich absolut zu setzen, und um aus der Spannung und der Komplementarität der beiden Kulturbereiche fruchtbare Impulse zu empfangen. Die Geschichte der Universität ist eine Geschichte von Glanzleistungen, aber auch eine Geschichte des Versagens. Aus Anlass des Gedenkjahres 1988 war es mir wichtig, dass wir uns an der Karl-Franzens-Universität dem dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte, nämlich ihrer faschistischen und nationalsozialistischen Verstrickung stellen. Zum einen musste dieses Kapitel durch Fachwissenschafter der wissenschaftlichen Analyse samt Offenlegung der Fakten, mochten sie auch noch so unrühmlich sein, unterzogen und die Schuld, die die Universität oder besser Angehörige der Universität auf sich geladen hatten, einbekannt werden. Dieser Aufarbeitung und Offenlegung der Geschichte sollte aber zum anderen auch ein Akt hinzugefügt werden, mit dem die Schuld der Vergangenheit in positive Wirkungen für die Zukunft und in der Zukunft transformiert werden kann. Ein Einbekennen der Schuld wäre mir zu wenig gewesen. Dies ist der geistig-emotionale Hintergrund zweier damals gesetzter Initiativen. Über Antrag der Studierenden im Akademischen Senat, dem ein einstimmiger Beschluss folgte, und unter der engagierten Patronanz des damaligen Dekans, Helmut Konrad, ist eine Ringvorlesung zum Jahr 1938 durchgeführt worden. Die Referate dieser Ringvorlesung fanden Eingang in eine von Helmut Konrad und mir herausgegebene Publikation „Die Universität und 1938“. Außerdem bat ich den Leiter des Universitätsarchivs, Walter Höflechner, Fakten, betreffend das Jahr 1938 und die Vertreibung von Professoren und Studierenden, zusammenzustellen. Bei mehreren universitären Veranstaltungen im Jahre 1988 habe ich in meinen Reden das Höflechner’sche Dossier eingearbeitet. Um für die Zukunft und in der Zukunft positive Impulse freizusetzen, gab es mehrere Überlegungen. Nachdem wir den Gedanken, die Wiedererrichtung der Synagoge zu betreiben, schnell verworfen hatten, weil dies unsere Kräfte und Möglichkeiten weit überstiegen hätte, war schnell der Weg gefunden, den wir beschreiten wollten, nämlich das interkulturelle Lernen zwischen Judentum und Nichtjudentum, dies transnational, durch die Vergabe von Stipendien zu fördern. Der Vorschlag eines solchen contrarius actus zur dunklen Geschichte kam von



2.11. Universität – nicht nur Kader- und Wissenschaftsschmiede

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Walter Höflechner, und er schlug ferner vor, den zu diesem Zweck einzurichtenden Fonds nach dem 1938 vertriebenen Landesrabbiner für Steiermark, Titularextraordinarius und Dozenten der semitischen Philologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Graz, David Herzog, zu benennen. Unabhängig von diesen unseren Vorbereitungen und parallel dazu hatten zwei Studierende, Christoph Pertl und Thomas Pieber, die gleiche Idee. Diese trugen sie mir mit der Bitte vor, die Idee aufzugreifen. Sie haben dann meinem Vorschlag zugestimmt, die beiden Initiativen, die unsere und die ihre, zusammenzuführen. Um zu dokumentieren, dass die gesamte Universität hinter dem Projekt steht, habe ich es dem Akademischen Senat vorgelegt, der über meinen Antrag die Errichtung des David-Herzog-Fonds einstimmig beschlossen hat. In einer feierlichen Sitzung des Akademischen Senats und in Anwesenheit des Oberrabbiners Paul Chaim Eisenberg fand gleichsam die universitäre Konstituierung des David-Herzog-Fonds statt. In diesem gesamten Diskussions- und Entscheidungsprozess war kein einziger Politiker im Spiel – dies sage ich deswegen, weil der Hinweis einer Journalistin im Buch „Es gibt nur einen Gott und eine Menschheit. Graz und seine jüdischen Bürger“, die beiden Studierenden hätten dem damaligen Landeshauptmann vorgeschlagen, einen David-Herzog-Fonds zu gründen, zu falschen Schlüssen führen könnte. Fest steht, dass es mir und uns wichtig war, dass sich die Universität von sich aus – und nicht durch Umstände bzw. von außen gezwungen – mit ihrer dunklen Geschichte beschäftigt. Ich jedenfalls bin stolz darauf, dass die Universität damals „autonom“ diesen Schritt gesetzt hat.

V. Ich bin mir bewusst, dass die Medaille meiner universitären Berufslaufbahn zwei Seiten hat. Die eine sind Leistungen und Erfolge, die andere sind Schwächen und Unzulänglichkeiten. An der Glanzseite haben viele Anteil, die mich emotional getragen, begleitet, ausgebildet, mit mir gearbeitet haben. Stellvertretend für alle und symbolhaft möchte ich namentlich meinen Vater, Christian Brünner, und meine Mutter, Friederike Kepplinger, nennen. In der vierten Klasse Volksschule war mein Vater mein Lehrer. Er hat mir Wissen vermittelt und Leistung eingefordert. Die hölzerne Federschachtel, die ich damals hatte, trug die Aufschrift „Wissen ist Macht“, ein Zusammenhang, der mich meine ganze Schullaufbahn begleitet hat. Meine Mutter hat durchgesetzt, dass ich auf der Grundlage eines Stipendiums des American Field Service ein Jahr lang die Richfield Highschool in Minneapolis, USA, besuchen und dort das Highschool Diploma erwerben konnte. Sie hat damit meine Neugier für das Anderssein, das Fremde, meine Weltoffenheit gefördert und mir ein Jahr ermöglicht, das mich

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2. Bildung

geprägt und meinen Bildungshorizont entscheidend erweitert hat. Beiden sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Abbildung 43: Kleine Zeitung, Steiermark, 10.11.2009, 22: Der Jurist im Kinosaal: Christian Brünner liest „Öffentliches Recht“; erstmals werden auch in Graz wegen der Studentenproteste Vorlesungen im Kino abgehalten. Für rund 70 Veranstaltungen der Universität sind drei Säle im UCI-Annenhofkino bis Weihnachten gebucht.



2.12. Vorwort

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2.12. Christian Brünner, Vorwort

in: Brünner, Die Bildungspolitischen Auswirkungen des Fachhochschul-Studiengesetzes, Wien/Graz 2004, 5–6

Als ich 1984 zum Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz gewählt worden war, begann ich, mich mit der Diversifizierung des tertiären Bildungssektors zu beschäftigen. Bald war ich – nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines breiter gefächerten hochschulischen Spektrums in Deutschland, Großbritannien, Belgien und den Niederlanden – überzeugt davon, dass auch Österreich einen praxis- und berufsorientierten Hochschultypus, der der Universität gleichwertig sein sollte, braucht. Mit der Forderung nach Schaffung eines solchen Hochschultypus in der Form von Fachhochschulen stieß ich damals in der Österreichischen Rektorenkonferenz freilich auf Skepsis bis Ablehnung. Als Parlamentarier und Wissenschaftssprecher der ÖVP konnte ich – beginnend mit den Koalitionsverhandlungen 1990 – die Errichtung von Fachhochschul-Studien und das Entstehen des Fachhochschul-Studiengesetzes aktiv begleiten. Bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes startete in Vorarlberg auf der Basis von Bestimmungen betreffend ein universitäres Kurzstudium ein erster Studiengang. Meine Gesprächspartnerin vor Ort war die damalige Vorarlberger Landesrätin, Frau Elisabeth Gehrer. Die Anziehungskraft praxis- und berufsorientierter Ausbildung habe ich auch an meinen beiden Söhnen erfahren. Mein Sohn Heinz ging dieser Orientierung (noch) in einem HTL-Kolleg nach, mein Sohn Bernd (schon) in einem Fachhochschul-Studiengang. Meinen beiden Söhnen und allen jungen Menschen, die sich in den verschiedensten Bildungsgängen auf den verschiedenen Ebenen der Bildungspyramide auf den Beruf vorbereiten, sei dieses Buch gewidmet. Die vorliegende Monographie verdankt ihre Entstehung der Einladung von FH-Prof. Mag. Dr. Werner Hauser, zum gegenständlichen Thema auf dem von ihm organisierten Symposium „10 Jahre FHStG: Fachhochschulrecht zwischen Bewährung und Reform“ im Herbst 2003 zu referieren. Ihm sei für vielfältige Unterstützung und seiner Mitarbeiterin, Frau Dr. Beatrix Schwar, für die Durchsicht und die redaktionelle Bearbeitung des Manuskriptes herzlich gedankt. Beide haben bei mir vor einigen Jahren mit ausgezeichneten Arbeiten dissertiert, worüber

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2. Bildung

ich mich freue. Für Materialrecherchen danke ich herzlich Frau Andrea Lauer und Frau Dr. Edith Walter, letzterer überdies für die höchst fachkundige Mitwirkung bei der Erstellung des Anmerkungsapparates zu diesem Buch.



2.13. Die Universität – eine Stätte der Bildung

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2.13. Christian Brünner, Die Universität – eine Stätte der Bildung für möglichst viele junge Menschen. Ein Plädoyer 1 in: UNILEX 1-2/2010, 64–66

Wenn ich meine Studienzeit mitrechne, dann werde ich abgesehen von eineinhalb Jahren Dienst im Bundesheer und bei einer Versicherung 47einhalb Jahre an dieser Universität tätig gewesen sein, davon rund 40 Jahre als Universitätslehrer. Ich nenne diesen Teil meiner Tätigkeit, nämlich die Lehre, zuvorderst, dies deshalb, weil Lehrer zu sein meinem beruflichen Selbstverständnis am ehesten entspricht. Wenn ich mich frage, was mich angetrieben hat, Wissen zu erwerben und weiterzugeben, dann kommt mir die hölzerne Federschachtel meiner Volksschulzeit in den Sinn. Auf ihr stand „Wissen ist Macht“. Wahrscheinlich waren damals bereits meine beiden späteren Berufe niedergeschrieben. Die Universität war und ist für mich aber nicht nur eine Anstalt der Wissensvermittlung. Sie ist auch eine Stätte der Bildung. Lassen Sie mich bitte dazu ein paar Worte sagen. Bildung erfüllt mehrere Funktionen. Selbstverständlich geht es bei Bildung auch um Qualifizierung, d. h. um den Erwerb von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten. Notwendig dafür ist nicht nur Studierwissen, sondern auch Erfahrungswissen. Daraus folgt zwangsläufig ein „duales“ System der Qualifizierung. Zum einen ist es die Schule bis zur Hochschule, zum anderen sind es Leben und Beruf, in deren Kontext Qualifikation erworben, erweitert, vertieft und gepflegt wird. Ich kann mich freilich des Eindrucks nicht erwehren, dass unser Qualifizierungssystem zu sehr auf das Schulwissen hin orientiert ist. Dem Erfahrungswissen wird geringere Beachtung geschenkt. So habe ich mich bei Erlassung des Fachhochschul-Studiengesetzes darum bemüht, dass auch eine einschlägige berufliche Qualifikation unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen den Zugang zu einem Fachhochschulstudium ermöglicht. Die Realität zeigt freilich, dass die Öffnung für Personen ohne Matura, also insbesondere für Absolventinnen und Absolventen der Lehre und der Berufsbildenden mittleren Schulen nach entsprechender beruflicher Qualifizierung hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben ist. 1 Dankesworte anlässlich der Emeritierungsfeier in der Aula der Karl-Franzens-Universität Graz am 17. 6. 2010.

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Ich erwarte mir viel von der Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens in den österreichisch-nationalen Rahmen. Dieser macht Qualifikationen nicht mehr über Lernwege und Lerninhalte, sondern über Lernergebnisse vergleichbar, und er stellt auch auf das Lernen außerhalb von Bildungsinstitutionen, auf informelles Lernen ab, das ist ein Lernen, das im Alltag, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit stattfindet. Was bringt das Erfahrungswissen? Es bringt die Erkenntnis, dass der Mensch und die Welt vieldimensional sind. Es schafft Wissen über die Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur, zwischen Psyche und Soma. Es lehrt, in Zyklen und Kreisläufen – Jahreszeiten, Tag und Nacht, Werden und Vergehen, Abschließen und Neubeginnen – und auch in Analogien – wie innen, so außen, wie oben, so unten – zu denken. Es produziert Wissen, dass nicht alles getan werden darf, was getan werden kann; so ist z. B. Ethik primär „Produkt“ von Erfahrungswissen. Weiters hat Bildung mit Sozialisation und dem Erwerb sozialer Kompetenz zu tun. Es geht darum, seine Bedürfnisse und Interessen vertreten, aber auch im Team arbeiten zu können, miteinander ins Gespräch kommen, aber auch mit Konflikten umgehen zu können. Ferner geht es bei Bildung um den Erwerb von Reflexionskompetenz. Ich verstehe darunter die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Kritik; gegenüber sich selbst, seiner Gruppe, seiner Gesellschaft, seinem Staat in Distanz gehen zu können; das Anderssein als Herausforderung zu begreifen; der Versuchung zur Absolutierung einzelner Dimensionen des Menschseins zu widerstehen und sich allen Dimensionen dieses Menschseins – der kognitiv-rationalen, der musischen, der spirituellen etc. – zu stellen; Schließlich zielt Bildung auf Persönlichkeitsentwicklung und auf Persönlichkeitsgestaltung. Es geht darum, seine Lebensaufgaben zu erspüren und zu erfüllen. Dazu gehört auch, seine Fähigkeiten und Begabungen zu erkennen und zu nutzen, den Boden für die Beantwortung der Sinnfrage aufzubereiten sowie sich aus Zwängen zu lösen. Bildung ist freilich nicht nur ein ideeller, sondern auch ein materieller Wert. Es bedarf ihrer zur Schaffung menschenwürdiger, dem Menschsein förderlicher gesellschaftlicher Strukturen. Sie ist ein Instrument des Broterwerbs, eine Produktivkraft, und sie steht im Dienste gesellschaftlich-ökonomischer Verwertung. So kommt es nicht von ungefähr, dass viele Studien eine Korrelation zwischen Armutsgefährdung, Arbeitslosigkeit und Gesundheitszustand einerseits und dem Bildungsniveau andererseits aufzeigen. Und: Man irrt, wenn man meint, dass im Zusammenhang mit Bildung „parteifreie Entscheidungen“ getroffen werden können. In Bildungszielen und Bildungsinhalten spiegeln sich zwangsläufig weltanschauliche, menschenbildliche und ge-



2.13. Die Universität – eine Stätte der Bildung

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sellschaftspolitische Positionen, was dazu führt, dass für die Konsensfindung in einer pluralistischen Gesellschaft ein beträchtlicher Aufwand erforderlich ist. Es liegt auf der Hand, dass angesichts der Bedeutung, die die Bildung für den Menschen und in weiterer Folge für Gesellschaft und Staat hat, die Grund- und Menschenrechtskataloge sich auch mit Bildung beschäftigen. So heißt es z. B. im Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, dass das Recht auf Bildung niemandem verwehrt werden darf. Lässt man die universitätspolitische Diskussion der letzten Zeit Revue passieren, dann hat man den Eindruck, dass es nur um Studiengebühren, Zulassungsbeschränkungen, um Employability, optimale staatliche und universitäre Steuerung, den Beitrag universitärer Forschung zum Wirtschaftswachstum, den Mangel an Geld, die Fragwürdigkeit der Massenuniversität etc. geht. Apropos Massenuniversität: Eine Absolventin dieser Universität hat ihren Beitrag für die Festschrift, die mir zu meinem 65. Geburtstag überreicht worden ist, betitelt mit: „Auch die Massenuniversität kann eine Stätte der Bildung sein!“ Nun kann auch ich nicht über Probleme bei der Ausstattung, im Zusammenhang mit dem Studierendenansturm, beim Wildwuchs an Institutionen und Studienprogrammen und deren mangelhaftes aufeinander Abgestimmtsein im tertiären Bildungssektor hinwegsehen. Ich wünsche mir freilich eine Diskussion, in der die Universität als Stätte der Bildung, die möglichst vielen offen stehen soll, nicht zu kurz kommt, und ich fordere eine solche Diskussion und ein solches Plädoyer gerade von einer Universität ein. Sie werden unschwer erkennen, dass ich jener Spezies zuzähle, die Rudolf Burger im Spektrum der „Presse“ als humanistische Bildungsphilister und notorische Wertebewahrer bezeichnet hat. Mit einer solchen Zuordnung kann ich leben. Seinen Vorwurf an diese Spezies, dass sie seit Jahrzehnten ideologisch jede Schul- und Hochschulreform vergiften würde, weise ich freilich zurück. Lassen Sie mich bitte im Zusammenhang mit meinem Standpunkt, dass möglichst vielen Bildungswilligen der Zugang zu einem universitären Studium offen sein sollte, ein Steckenpferd nennen, das ich seit vielen Jahren reite, nämlich neben den traditionellen Universitäten und Hochschulen, bei denen wir in etlichen Studienrichtungen nicht um Zulassungsbeschränkungen herum kommen und herumkommen werden, eine open university zu errichten, in deren Rahmen auf verschiedenen Niveaus gelehrt und gelernt wird, dies unabhängig von Zugangsvoraussetzungen und fixierten Curricula, unter Einsatz flexibler Lehr-und Lernmethoden und mithilfe aller verfügbaren Medien. Für drei Bereiche, nämlich Geistes-, Human- und Naturwissenschaften sollten Lehr- und Lernmodule, also degree-Programme benannt werden, die, werden sie erfolgreich absolviert, zum akademischen Grad eines Bachelors führen könnten. Die Evaluierung der Studi-

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2. Bildung

enprogramme sollte in die Hand der neuen österreichischen Qualitätssicherungsagentur gelegt werden. Eine open university ist übrigens nichts Neues. Sie wird z. B. in England oder in Finnland erfolgreich praktiziert. In Finnland z. B. studieren ca. 70.000 Bildungswillige, davon ca. 50.000 Frauen in den open university Angeboten, und 18 % der Studierenden an den Hochschulen kommen über das open university System an die Hochschule. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann dieses, nämlich dass unsere Erwachsenen- und Weiterbildungseinrichtungen, die Universitäten und Hochschulen, die Qualitätssicherungsagentur AQA, das Wissenschafts- und das Unterrichtsministerium eine Plattform bilden, auf der ein Konzept zur Installierung eines open university Systems ähnlich dem in England oder Finnland erarbeitet wird. Danken möchte ich heute insbesondere den acht Generationen Studentinnen und Studenten an drei Fakultäten dieser Universität, an den beiden seinerzeitigen Pädagogischen Akademien des Bundes und der Diözese, sowie an der Fachhochschule JOANNEUM und der Fachhochschule Kärnten, den Studentinnen und Studenten, deren Wissen und Können, deren Bild vom Menschen und der Welt, deren Bildung ich habe mitformen dürfen. Meine Studierenden – wenn ich von meinen Studierenden spreche, dann verstehe ich das Pronomen nicht possessiv, sondern als Zeichen der Verbundenheit – haben mich gefordert, sie haben mir geholfen, meine Horizonte weit zu halten und sie haben mich in meinem Denken jung gehalten. Der Herbst war für mich daher auch die schönste Zeit im Jahreslauf der Hochschulen, in der die Erstsemestrigen ihre Hochschule in Besitz genommen haben, mitunter selbstsicher und neugierig, mitunter überfordert und orientierungslos. Und das, was mir während meiner vierjährigen Rektorszeit am meisten Freude bereitet hat, war, 5.200 Absolventinnen und Absolventen dieser Universität zu promovieren und zu graduieren und mit ihnen den erfolgreichen Abschluss des Studiums und damit eines prägenden Lebensabschnitts festlich zu begehen. Dieser emotionale Bezug zu den jungen Menschen kommt nicht von ungefähr. Denn Lehrer zu sein, junge Menschen fachlich und menschlich zu fördern und zu fordern, die wissenschaftliche Berufsvorbildung in der Breite, wie ich sie verstehe, mitzugestalten, ist mir angesichts der vielen Lehrerinnen und Lehrer in meiner Familie gleichsam in die Wiege gelegt worden. Meine Freude am Gestalten habe ich aber nicht nur in der Lehre gelebt. Auch das Rektorsamt verstand ich als gestaltendes Managementamt. Daher war diese Universität eine der ersten Universitäten in Österreich, an der mit einem Außeninstitut als Transferstelle, einem Büro für Auslandsbeziehungen und einer Stabsstelle für Planung und Organisationsentwicklung Managementstrukturen eingeführt worden sind, lange vor dem UOG 1993 und dem UG 2002. Und im Mittelpunkt



2.13. Die Universität – eine Stätte der Bildung

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meines neunjährigen Abstechers in die Politik stand ebenfalls das Motiv des Gestaltens, nämlich das des Zusammenlebens in Gesellschaft und Staat. Ich habe mich einmal in stiller Stunde gefragt, warum ich vor dem Hintergrund dieser Motivation, zu lehren und zu gestalten, das Studium der Rechtswissenschaften gewählt habe, dies obwohl ich in den ersten sechs Jahren meiner Mittelschulzeit nichts anderes im Sinn hatte, als Montaningenieur zu werden. Die abrupte Abkehr von diesem Berufswunsch brachte wohl mein einjähriger Aufenthalt als 17-jähriger in den USA, bei dem ich sowohl die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung in Schulbussen und bei Ausübung des Wahlrechts als auch die Völkerverständigung erlebt habe. Beides hat zur Hinwendung zum Recht geführt. Der Fokus meiner wissenschaftlichen Arbeit war und ist freilich nicht nur das Recht, sondern auch seine Funktion, Lebenssachverhalte zu steuern. In dieser Sichtweise hat mich – wie übrigens auch meinen Freund und Kollegen Wolfgang Mantl – unser akademischer Lehrer Gustav E. Kafka bestärkt, was im Institut für Öffentliches Recht durch Mantl und durch mich zur Verbindung von Rechts- und Sozialwissenschaft mit dem Fokus auf Politik und Verwaltung geführt hat. Ich komme zum Schluss und möchte mich bedanken bei allen, die mich in meinem Leben fachlich und menschlich gefördert und gefordert haben, bedanken bei meinen Eltern und bei meiner Familie, meinen Freundinnen und Freunden, meinen Lehrerinnen und Lehrern, meinen Kolleginnen und Kollegen, meinem Team in meinem Department. Ich möchte dieses Team namentlich nennen, nämlich Andrea Lauer, Silvia Ulrich, Gerhard Schnedl und Renate Pirstner-Ebner, die mich schon lange begleiten, und Thomas Neger, Georg Königsberger und Louis Kubarth, die junge Mannschaft. Ich habe euch gefordert, oftmals auch überfordert, insbesondere in den letzten Monaten bei der Organisation des zweitägigen internationalen Symposions zum Thema „Religiöse Diskriminierung und Intoleranz in ausgewählten Ländern Europas“, mit dem ich mich als Wissenschafter verabschiedet habe, und bei der Vorbereitung der Emeritierungsfeier.

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2. Bildung

Abbildung 44: Christian Brünner wurde von Frau Bundesministerin für Wissenschaft und Forschung Hertha Firnberg zum ordentlichen Universitätsprofessor berufen. Bundesministerin a.D. Hertha Firnberg bei einer akademischen Feier in Graz am 19.06.1986 (Foto Fischer, Graz)

Abbildung 45: Christian Brünners Mitarbeiter/Innen Andrea Lauer, Renate PirstnerEbner und Gerhard Schnedl bei der Emeritierungsfeier in der Aula der Karl-Franzens Universität am 17.06.2010 (Foto Gasser)



2.13. Die Universität – eine Stätte der Bildung

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Abbildung 46: Christian Brünners Mitarbeiterin Silvia Ulrich, Ansprache bei der Emeritierungsfeier in der Aula der Karl-Franzens Universität am 17.06.2010 (Foto Gasser)

Abbildung 47: Christian Brünner mit Rektor Alfred Gutschelhofer und Dekan Willibald Posch bei der Emeritierungsfeier in der Aula der Karl-Franzens Universität am 17.06.2010 (Foto Gasser)

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Unizeit 2010/3, 28: Alfred Gutschelhofer gratuliert Christian Brünner anlässlich der Emeritierungsfeier: Grenzgänger. Mit vielen prominenten Gästen feierte Christian Brünner am 17. 6. 2010 seine Emeritierung. Knapp fünfzig Jahre wirkte der Jurist an der Uni Graz und setzte als Dekan und Rektor richtungsweisende Impulse. Wissenschaftsministerin Beatrix Karl, die zur Feier aus Wien angereist war, würdigte den ausgeprägten Gestaltungswillen ihres Kollegen, eines „sensiblen Grenzgängers“. Rektor Alfred Gutschelhofer unterstrich Brünners Vorreiterrolle: „Er hat als Erster unternehmerische Schritte gesetzt und die Universität auf einen innovativen Kurs gebracht.“



2.14. Differenzierung und Diversifizierung

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2.14. Differenzierung und Diversifizierung des österreichischen Hochschulsektors: Angebotserweiterung oder soziale Segmentierung?

Elsa Hackl

Abstract Die Expansion des Hochschulbereichs, die in den europäischen Staaten seit den 1960er Jahren vor sich geht, ist von Maßnahmen zu seiner Differenzierung und Diversifizierung begleitet. Österreich stellt dabei keine Ausnahme dar – wenn auch eine entsprechende Politik teils mit zeitlicher Verzögerung im Vergleich zu anderen Staaten eingeschlagen wurde. Der Beitrag befasst sich mit Überlegungen und Maßnahmen, die zu diesen Veränderungen führten und geht der Frage nach, welche Konsequenzen der Differenzierungs- und Diversifizierungspolitik sich in Österreich für Chancengleichheit abzeichnen.

Inhalt 1. Einleitung 2. Differenzierung und Diversifizierung 3. Von einem homogenen zu einem diversifizierten Hochschulsektor 4. Zur sozialen Herkunft der Studierenden 5. Resümee und abschließende Überlegungen

Einleitung Die Expansion des Hochschulbereichs, die in den 1960er Jahren einsetzte, ist auf zwei Umstände zurückzuführen: erstens, auf die Überzeugung, dass Wissenschaft und Bildung für die wirtschaftliche und technologische Entwicklung eines Staates von maßgeblicher Bedeutung sind, und zweitens, auf das Argument, dass – um alle Talente auszuschöpfen – Chancengleichheit geboten ist. Dem seither kontinuierlichen und phasenweise massiven Zustrom von Studierenden zu den Universitäten wurde in Europa neben der Erweiterung des disziplinären Spektrums

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2. Bildung

mit sektoraler Differenzierung und institutioneller Diversifizierung begegnet. In Österreich setzte der Prozess der Differenzierung und Diversifizierung im Vergleich zu anderen Staaten verspätet ein. Neue Disziplinen, wie etwa die Sozialwissenschaften, etablierten sich erst mit einiger Verzögerung und häufig gegen den Widerstand etablierter Fächer. Strukturell begann der homogene Hochschulsektor erst vor zwanzig Jahren zu bröckeln und sich zu differenzieren bzw zu diversifizieren. Der folgende Beitrag befasst sich mit Überlegungen und Maßnahmen, die zu diesen Veränderungen führten und geht der Frage der Konsequenzen der Differenzierungs- und Diversifizierungspolitik für Chancengleichheit nach. Dazu wird zunächst auf die Konzepte „Differenzierung“ und „Diversifizierung“ im Hochschulbereich eingegangen, dann werden deren Implementierung und die entsprechende Umgestaltung des österreichischen Hochschulsystems dargestellt, und schließlich werden Daten zur sozialen Herkunft der Studierenden herangezogen und diskutiert, welche Effekte die Differenzierungs- und Diversifizierungspolitik hinsichtlich Chancengleichheit erwarten lässt.

2. Differenzierung und Diversifizierung Es ist hinlänglich bekannt, dass Universitäten keine homogenen Institutionen sind. Kant war einer der ersten Autor/inn/en, die sich mit dieser Tatsache auseinandersetzten (Kant 1992). Er konstatierte eine Hierarchie der Fakultäten entsprechend deren Stellenwert für die herrschenden Mächte; daran dürfte sich – trotz Kants Einwände – nichts geändert haben. Seit Kant haben sich viele Autor/inn/en mit Differenzierung und Diversifizierung im Hochschulbereich beschäftigt. Neben der Unterschiedlichkeit von Fakultäten wurden andere beschrieben, wie solche zwischen Disziplinen, Studienrichtungen, sektorale und institutionelle Unterschiede (Huisman 2009). Bis etwa Mitte der 1990er Jahre sprach man dabei in Europa meist von einer Differenzierung der Hochschulsysteme, dann erst wird zunehmend Diversifizierung verwendet. Dies ist nicht nur eine sprachliche Veränderung. Die Begriffe Differenzierung und Diversifizierung markieren auch zwei unterschiedliche Perioden von Hochschulpolitik und Vorstellungen davon, wie ein Hochschulsystem beschaffen sein sollte. Die Differenzierungsdebatte begann in den 1960er Jahren; ihr Ausgangspunkt war die Tatsache, dass die Hochschulsysteme der europäischen Staaten massiv expandierten und sich von Elite- zu Massensystemen entwickelten (Trow 1979). Unter anderem der Vergleich mit den USA, in denen diese Entwicklung bereits früher eingesetzt hatte, führte zur Ansicht, dass sich Elitenreproduktion und Massenstudium vereinbaren ließen und zwar durch Differenzierung der Hochschulsys-



2.14. Differenzierung und Diversifizierung

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teme (Birnbaum 1983, Scott 1995). Einige europäischer Länder begannen daraufhin einen neuen Sektor neben dem der Universitäten zu errichten. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) trug wesentlich zur Verbreitung dieser Idee und zum entsprechenden „Policy Learning“ bei (OECD 1971, 1973, 1991). Der zentrale Gedanke dabei war, durch die Errichtung neuer Institutionen neben den Universitäten und die Einrichtung kürzerer Studiengänge dem Anstieg an Studierenden zu begegnen und den Anforderungen des Arbeitsmarktes zu entsprechen. In vielen OECD Staaten wurde daher seit Ende der 1960er Jahre ein zweigliedriger Hochschulsektor etabliert: Die Universitäten sollten sich weiterhin der wissenschaftlichen Bildung und Forschung widmen, die neuen Institutionen (Polytechnics, Fachhochschulen etc) sollten dagegen berufsorientiert ausbilden, für die Studierenden wohnortnah vorhanden sein und vor allem mehr Studierenden zu günstigeren Kosten für den Staat als die Universitäten ausbilden (OECD 2005). Die Folge dieser Unterscheidungsmerkmale war, dass die neuen Institutionen von geringerem Prestige waren. Die europäischen Staaten unterschieden sich allerdings darin, ob sie eher eine „horizontale“ (funktionale) oder „vertikale“ (hierarchische) Differenzierung anstrebten (Teichler 2007; Brennan et al 2009). Teilweise versuchte die Politik die funktionale Differenz beider Hochschulsektoren gegenüber ihrer hierarchischen zu betonen, wie zB in Deutschland durch den Slogan „gleichwertig, aber nicht gleichartig“. Relativ bald, innerhalb von nur zwei Jahrzehnten, wurden die Grenzen zwischen beiden Hochschulsektoren allerdings brüchig. Einerseits tendierten die neuen Institutionen dazu, die Universitäten zu imitieren; dafür prägten Burgess und Pratt den Ausdruck „academic drift“ (Burgess und Pratt 1974). Anderseits führte die herrschende Überzeugung, die Universitäten seien von maßgeblicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung (Meyer und Schofer 2007) zu politischen Maßnahmen, jene gegenüber dem Wirtschaftsbereich zu öffnen (Regini 2011). Diese Orientierung universitärer Lehre und Forschung an den Bedürfnissen der Wirtschaft wurde als „vocational drift“ bezeichnet (Pratt 1997). Der Bologna Prozess, dessen erstes Ziel eine Angleichung der europäischen Studiensysteme und -abschlüsse – und zwar aller Hochschulsektoren – darstellt, trug des weiteren zur Verwischung der sektoralen Grenzen bei, vor allem auch, weil jeder erste Abschluss, dh jeder Bachelorabschluss, zu „employability“, also zur Fähigkeit der Absolvent/inn/en, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, führen soll (Machado et al 2008). Politische Opportunität bzw welche Bedeutung der Unterscheidung von Bildung und Ausbildung traditionell beigemessen wurde, waren in der Folge ausschlaggebend dafür, ob die sektorale Differenzierung des Hochschulsektors abgeschafft wurde, wie dies im Vereinigten Königreich geschah, oder formell beibehalten wurde, einen Weg, den die überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beschritt.

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2. Bildung

Die Abschaffung oder Schwächung der sektoralen Gliederung des Hochschulsektors wurde von einer Debatte der Profilbildung der einzelnen Institutionen und Diversifizierung des Sektors begleitet. In den 1990er Jahren verbreiteten sich das New Public Management (NPM) und die neoliberale Annahme, dass zu den Dienstleistungen auch Bereiche, die lange Zeit als hoheitliche oder staatliche erachtet wurden, zählten und besser durch Betriebe erbracht und den Markt geregelt werden, auch im Hochschulbereich. Hochschulen und Universitäten sollten in „mission statements“ ihre Aufgabenbereiche und Angebote darlegen und so dazu beitragen, den verschiedenen Anforderungen der Wirtschaft und den Bedürfnissen unterschiedlicher Studierenden – nun bisweilen Kund/inn/en oder Klient/inn/en genannt – besser Rechnung zu tragen. Dies, sowie Wettbewerb um öffentliche und private Mittel, sollte auch zu Konzentration und größerer Effizienz in der Forschung führen. Es waren nicht mehr die Regierungen, die den Hochschulsektor mittels Aufgabenzuweisung organisierten und strukturierten, sondern es lag bei den Institutionen sich zu positionieren. Marktmechanismen würden zu einer Diversität der Hochschulangebote und zu einer Restrukturierung des Sektors führen. Diese Rolle der Universitäten als Akteure ihre Ausrichtung zu bestimmen, harmonierte mit der Errichtung eines Europäischen Hochschulraums, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die europäischen Hochschuleinrichtungen kooperieren und konkurrieren und deshalb nicht länger von den Staaten als nationale Einrichtungen geführt und abgeschirmt werden. Bereits das auf die Bologna Deklaration folgende Kommuniqué von Prag betonte 2001 die Wichtigkeit von Institutionen und Programmen mit verschiedenen Profilen für den Europäischen Hochschulraum um dessen Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Auf der supranationalen Ebene verwies die Europäische Kommission darauf, dass es in den USA etwas mehr als die 4 000 Hochschulen in Europa gäbe, davon aber nur 125 forschende Universitäten („research universities“) wären und von diesen wiederum auf nur etwa 50 der Großteil der akademischen Forschungskapazitäten der USA, der staatlichen Fördermittel für die Forschung und der Nobelpreise für US-amerikanische Wissenschaftler/innen entfielen. Auch in Europa gehe die Entwicklung in Richtung einer solchen immer größeren Differenzierung und immer mehr spezialisierte Einrichtungen entstünden, die sich auf bestimmte Kernkompetenzen in Lehre und Forschung konzentrieren (Europäische Kommission 2003). Bereits Kant hat den Zusammenhang von Differenzierung und Hierarchisierung im Hochschulsektor aufgezeigt. Zu seiner Zeit rangierten jene Disziplinen am höchsten, die den Staat legitimierten und stabilisierten. Im Zeitalter der Globalisierung sind es global ausgerichtete Disziplinen und Einrichtungen, die global sichtbar sind, also in internationalen Rankings oben stehen. Letztere sorgen für eine Hierarchi-



2.14. Differenzierung und Diversifizierung

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sierung der Institutionen, die auch für die europäische Politik bestimmend ist. Um international wettbewerbsfähig zu sein, muss der Europäische Hochschulraum gegliedert sein und dazu von „Hochschulen, die kürzere technische Ausbildungsgänge anbieten“ über „herausragenden nationalen und regionalen Universitäten“ bis hin zu weltbekannten Forschungsuniversitäten“ reichen (Europäische Kommission 2006). Länderstudien zur Differenzierung und Diversifizierung zeigen, dass diese nicht nur das Angebotsspektrum der Hochschulsysteme erweitern und mit höheren Studierendenzahlen einhergehen, sondern sich auch in der sozialen Zusammensetzung der Studierendenpopulation ausdrücken, dh dass trotz der Expansion soziale Selektivität fortbesteht und vor allem höher stufige Studien oder Institutionen sozial selektiv blieben (Higher Education 2011). Im Folgenden wird auf die Entwicklung in Österreich eingegangen, zunächst auf die Differenzierungs- und Diversifizierungspolitik, dann auf deren Zusammenhang mit der sozialen Herkunft der Studierenden.

3. Von einem homogenen zu einem diversifizierten Hochschulsektor Die Diskussion, die 1957 der sogenannte Sputnik Schock ausgelöst hatte, nämlich über die zentrale Bedeutung von Bildung und Forschung für Innovation und die Unterlegenheit der westlichen Staaten dabei, wirkte sich auch in Österreich aus. Die Annahme der Politik, dass die wirtschaftliche Entwicklung mehr und besser qualifizierte Arbeitskräfte erfordere, und die gestiegene Bildungsnachfrage beförderten den Ausbau des Bildungswesens. In den 1960er Jahren wurde nicht nur die Zahl der Universitäten durch die Gründung der Universitäten Salzburg, Linz, Klagenfurt verdoppelt, sondern auch das disziplinäre Spektrum erweitert. Dies, sowie das Bestreben gleiche Qualität der Studienangebote und Mobilität zwischen den Studienorten zu ermöglichen, lösten eine umfangreiche Reform der Studiengesetzgebung aus. Diese brachte zweistufige Studien – Diplom/Magister-Studium, Doktoratsstudium – und staatlich im Detail definierte Studienpläne. Die organisatorische Vereinheitlichung und Verrechtlichung erfolgte einige Jahre später durch das Universitäts-Organisationsgesetz 1975 (BGBl. Nr. 258/1975), das der damals verbreiteten Auffassung folgte, Demokratie auf Systemebene setze demokratisch organisierte Institutionen voraus. Das Gesetz war auch der letzte Schritt die sechs meist im 19. Jahrhundert entstandenen und auf Tätigkeiten in Technik und Wirtschaft ausgerichteten Hochschulen den Universitäten gleichzustellen. Nur die Kunsthochschulen wurden weiterhin durch eigene Gesetze geregelt.

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Von Anfang an wurde an den Universitätsgesetzen bemängelt, sie wären überregulierend, führten zu Bürokratisierung und beschnitten die akademische Freiheit bzw akademische Autonomie. Zu diesen, hauptsächlich von Universitätsprofessor/ inn/en vorgebrachten Einwänden, trat später die von Studierenden und Lehrenden vorgebrachte Kritik an der zunehmenden finanziellen Unterausstattung der Universitäten hinzu. Gleichzeitig kritisierten Vertreter/innen der Wirtschaft, die Studien entsprächen nicht den Anforderungen des Arbeitsmarktes und dauerten überdies zu lange. In den 1990er Jahren verdichtete und konkretisierte sich die Reformdebatte, erstens, weil sich in Österreich die Ansicht des NPM durchzusetzen begann, Ausgliederungen und Privatisierungen führten zu höherer Effizienz, und sich diese Meinung mit der Forderung nach universitärer Autonomie traf. Zweitens, bereitet Österreich seinen Beitritt zur Europäischen Union vor; dies bewirkte, dass alle Politikbereiche, so auch der Bildungsbereich auf ihre EU Konformität zu überprüfen waren. Eine erste Konsequenz war, dass die Regierungsparteien 1990 in ihrem Koalitionsübereinkommen vorsahen, das berufliche Bildungswesen an die Richtlinie 89/48/EWG vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen, anzupassen. Anders als die meisten europäischen Staaten hatte Österreich auf den Anstieg der Studierendenzahlen Ende 1960/Anfang 1970 nicht durch Etablierung eines nicht-universitären Hochschulsektors reagiert, sondern das berufliche höhere Schulwesen ausgebaut – in der Meinung, dadurch den Zustrom zu den Universitäten zu unterbinden und gleichzeitig besser den Bedürfnissen der Wirtschaft zu entsprechen. Lediglich einige Ausbildungen, unter anderem die zum/r Pflichtschullehrer/in, wurden in den postsekundären Bereich verlagert, ohne allerdings in den Hochschulsektor integriert zu werden und mit akademischen Graden abzuschließen (Pechar 2004). Im Zuge der Vorbereitung des EUBeitritts wurde der österreichische Sonderweg angezweifelt: Vor allem Absolvent/ inn/en von höherer technischer Lehranstalten befürchteten Nachteile auf einem europäischen Arbeitsmarkt, da ihre Ausbildung formell nicht der oben genannten Richtlinie entsprach, sie aber ihr Berufsfeld in Bereichen sahen, die durch diese Richtlinie geregelt wurden. Vor diesem Hintergrund kam es 1993 zur Verabschiedung des Bundesgesetzes über Fachhochschul-Studiengänge (FHStG, BGBl. Nr. 340/1993) durch das Parlament und 1994 zur Eröffnung der ersten Fachhochschulstudiengänge. Als weitere Differenzierungen des vormals einheitlichen Hochschulsektors können 1994 die Errichtung der Donau-Universität Krems (BGBI. Nr. 269/1994) und 1999 die formale Zulassung von Privatuniversitäten (Universitäts-Akkreditierungsgesetz – UniAkkG, BGBl. I Nr. 168/1999) gesehen werden (Funk 2008).



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Während diese Maßnahmen als sektorale Differenzierungen bezeichnet werden können, zielte das Universitätsgesetz 2002 (BGBl I Nr 120/2002) auf institutionelle Diversifizierung. Die Universitäten, einschließlich der vormaligen Kunsthochschulen, erhalten Rechtspersönlichkeit, um selbstständig und eine betriebsähnliche Organisation, um unternehmerisch zu handeln. Ganz im Sinne des NPM setzte die Regierung auf die positive Wirkung von Wettbewerb zwischen den Universitäten (Bundeskanzleramt 2000, S 64). Dementsprechend sollen die Universitäten strategische Ziele festlegen und durch Profilbildung ihre Stärken und Kompetenzen sowie ihre Weiterentwicklung definieren um sich auch im internationalen Wettbewerb erfolgreich zu positionieren (Sebök 2002, S 57). Es entscheidet sozusagen nicht mehr die Politik, sondern der Markt über die Stellung der Universitäten. Durch das Universitätsgesetz 2002 wurden auch jene Aktionslinien des Bologna Prozesses, die eine rechtliche Umsetzung erfordern, in das österreichische Recht integriert. Für den Fachhochschulsektor geschah dies durch Novellierung des Fachhochschul-Studiengesetzes. Bereits fünf Jahre später, 2007, folgten über 90 Prozent aller Studienangebote der so genannten Bologna Architektur, also einer Gliederung in Bachelor-, Master- und PhD Studien. Mit der Unterwerfung aller Hochschulsektoren unter das Regime des Bologna Prozesses und durch das zwar differenzierende, aber alle Sektoren umfassende Qualitätssicherungsgesetz (Hochschul-Qualitätssicherungsgesetz – HS-QSQ, BGBl I Nr 74/2011) beginnen sich die vormaligen Eigenheiten der Sektoren zu verwischen, obwohl man in Österreich sicher noch lange nicht von einem „unified“ oder „stratified system“ (Scott 1995, S 37) sprechen kann.

4. Zur sozialen Herkunft der Studierenden Das Projekt EUROSTUDENT, das von der Europäischen Union und Deutschland unterstützt wird, dient der Zusammenstellung von Daten zur sozialen Dimension des Europäischen Hochschulraums. In diesem Zusammenhang wird auch der Frage der sozialen Herkunft der Studierenden nachgegangen. Als sozial ausgewogen oder inkludierend gelten Hochschulsysteme, in denen das Bildungsniveau der Eltern der Studierenden in etwa repräsentativ für deren Elterngeneration generell ist. Als sozial selektiv oder exkludierend werden Hochschulsysteme bezeichnet, in denen Studierende aus Akademikerfamilien weit überwiegen. Mit Hilfe einer Matrix wird die soziale Ausgewogenheit bei der Zusammensetzung der Studierenden in den am Projekt teilnehmenden Staaten vergleichend dargestellt. Österreich rangiert auf dieser Matrix als sogenanntes Übergangsland („Transition System I“), dh als ein Staat, in dem Studierende aus niedereren Bildungsschichten

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schon recht gut vertreten sind, allerdings auch eine hohe Überrepräsentation von Studierenden mit Akademikereltern besteht. Damit ist der Hochschulzugang in Österreich sozial ausgewogener als zB in Deutschland oder Frankreich, die zur Gruppe der „Exkludierenden Systeme“ zählen. Österreich zählt allerdings auch nicht zu den „Inkludierenden Systemen“, zu denen etwa die Schweiz, die Niederlande oder Finnland gehören. Die zunehmende soziale Ausgewogenheit der Zusammensetzung österreichischer Studierender relativiert sich allerdings, wenn man die Daten der Studierenden-Sozialerhebung 2011 (Unger et al, 2011) heranzieht. Diese bieten ein detailliertes Bild. Erstens, verwendet die Studierenden-Sozialerhebung einen Schichtindex, der sich aus Bildungsstand und beruflicher Position der Eltern zusammensetzt und vier Schichten umfasst (niedrige, mittlere, gehobene und hohe Schicht). Zweitens, bezieht sie sich nicht nur auf das gesamte Hochschulsystem, sondern stellt auch Daten nach Sektoren, Studienstufen (Bachelor-, Master-, Diplom-, Doktoratsstudium), Studienfachgruppen und Studienorganisationsform zur Verfügung. Nach der Studierenden-Sozialerhebung 2011 sind etwas unter 50��������������  %������������ der Studierenden den niedrigen und mittleren Schichten und knapp über 50������������  %���������� den gehobenen und hohen Schichten zuzuordnen. Die – im Vergleich zur Gesamtbevölkerung – Überrepräsentation der gehobenen und hohen Schichten ist allerdings nach Hochschulsektor unterschiedlich: Am stärksten ist sie an den Kunsthochschulen, an denen über 60 % der Studierenden aus diesen Schichten kommen, mit 53 % überwiegen sie auch an den Universitäten. An den Fachhochschulen aber reduziert sich ihr Anteil auf ein Drittel, der größerer Anteil der Studierenden kommt hier aus niedrigen und mittleren Schichten. Noch höher – mit 55,6 % – ist der Anteil von Studierenden aus den letztgenannten Schichten an den Pädagogischen Hochschulen, die als letztes den Hochschulstatus zugesprochen bekamen. Das erste und zentrale Ziel des Bologna Prozesses war die „Harmonisierung der Studienarchitekturen“ in Europa, dh eine einheitliche Gliederung in Bachelor-, Master- und Doktoratsstudien. Manche Autor/inn/en sahen darin den Versuch oder die Gefahr, Studierende aus niederen Schichten auf Bachelorstudien zu beschränken und von weiterführenden auszuschließen (Schultheis 2008, S 193). Da in Österreich die Umstellung auf die neue Studienstruktur, während die Studierenden-Sozialerhebung 2011 lief, noch nicht vollends abgeschlossen war, dürften deren Daten nicht ausreichen, um diese Ansicht zu bestätigen oder zu widerlegen. Tendenziell scheinen sie allerdings Belege für die Meinung zu liefern: In den Doktoratsstudien an den Universitäten reduziert sich der Anteil von Studierenden aus niedrigen und mittleren Schichten gegenüber jenem in Bachelor- und Masterstudien um zwei Prozentpunkte und erhöht sich entsprechend bei den Studierenden aus gehobenen und hohen Schichten. In den Fachhochschulen, an denen die



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„neue Studienarchitektur“ schon früher und vollständiger als an den Universitäten implementiert wurde, zeigt sich ein vergleichbares Bild: Während in den Bachelorstudien Studierende aus niedrigen und mittleren Schichten überwiegen, holen Studierende aus gehobenen und hohen Schichten in den Masterstudien auf und stellen in etwa den gleichen Anteil. Die Studierenden-Sozialerhebung 2011 geht auch der sozialen Selektivität der Fächer nach. Wegen der traditionell engen Verbindung von Studienfach und Berufsposition in Österreich ist dies für soziale Mobilität von besonderem Interesse: An den Universitäten weisen Studierende aus der niedrigen sozialen Schicht ihren größten Anteil in der Theologie, ihren niedrigsten in der Medizin auf. In letzterer ist auch bei der mittleren Schicht der Anteil am geringsten, den größten – und einen fast gleich großen – weisen diese in Theologie und in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf. Studierende aus gehobenen Schichten dagegen weisen ihren geringsten Anteil in der Theologie, ihre größten in Lehramt- und künstlerischen Studien auf. Studierende aus hohen Schichten studieren am häufigsten Medizin, am wenigsten Geistes- und Kulturwissenschaften. Maßgeblich zur sozialen Ausgewogenheit scheint die Studienorganisation beizutragen: Bei berufsbegleitend organisierten Fachhochschul-Studiengängen weisen Studierende aus niedrigen und mittleren Schichten die größten Anteile auf. Mangels einer solchen Organisationsform an Universitäten kann mit diesen kein Vergleich angestellt werden.

5. Resümee und abschliessende Überlegungen Im Zuge der Hochschulexpansion verringerte sich die soziale Selektivität des Hochschulzugangs in Österreich, aber innerhalb des Sektors wirken Schichtunterschiede weiter bzw entstanden neue. Wie in anderen Staaten führen Differenzierung und Diversifizierung dazu, Chancengleichheit auf Ebene des Gesamtsystems zu erhöhen, aber auch dazu soziale Unterschiede unbemerkt fortzuschreiben (Higher Education 2011, Triventi 2011, Schindler und Reimer 2010). Insofern stimmt die Aussage, dass Differenzierung und Diversifizierung eine Vorbedingung dafür sind, Eliten- und Massenbildung in Einklang zu bringen (Trow 1979, Birnbaum 1983, Scott 1995). In Österreich hat besonders der Aufbau des Fachhochschulsektors und dabei wiederum die Einrichtung von berufsbegleitend organisierten Studiengängen die soziale Ausgewogenheit des Hochschulzugangs generell erhöht. Dieser Sektor, die neue Studienarchitektur sowie eine schichtspezifische Studienwahl oder -zuweisung unterstützen aber auch Tendenzen einer sozialen Segmentierung im Hochschulsektor, ebenso das „up-grading“ der Pädagogischen Akademien zu Hoch-

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schulen. Ob sich eine solche bei einer etwaigen künftigen Hierarchisierung von Universitäten durch die zunehmende Bedeutung von Rankings für Hochschulpolitik und -management verändert oder verstärkt, bleibt offen; bislang waren allerdings keine Differenzierungen sozial neutral. Ebenso ungeklärt ist die Frage, wie sich Aktionen des Gender Mainstreaming auf soziale Selektivität auswirken. Führen zB Maßnahmen, die Aufnahmeverfahren beim Zugang zum Medizinstudium so zu gestalten, dass der Frauenanteil erhöht wird, in erster Linie zu einer weiteren Erhöhung des Anteils von Studierenden der aus den hohen und gehobenen Schichten oder auch zu einer sozialen Ausgewogenheit des Zugangs zum Medizinstudium? Eine weitere Frage betrifft Studierende mit Migrationshintergrund und Migrant/inn/en. Diese kommen nach der Studierenden-Sozialerhebung 2011 überwiegend aus Akademikerfamilien. Ist dieser Unterschied zur Herkunft von Studierenden mit österreichischen Eltern integrationsförderlich? Wie sehen bei Studierenden mit Migrationshintergrund und Migrant/inn/en die Geschlechterverhältnisse aus? Eine Reihe von Fragen tun sich für jene auf, für die Chancengleichheit wichtig ist, weniger für jene, die mit schicht- und geschlechtspezifischen Segmentierungen von Studien- und Berufsbereichen gut leben können.

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2.15. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft

Ulrike Plettenbacher

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ist dynamisch, spannungsreich, ambivalent – komplex. Professor Christian Brünner hat mich während meines beruflichen Werdeganges anlässlich unterschiedlicher Aufgabenstellungen immer wieder dabei unterstützt, diese Spannungsfelder nachzuzeichnen und ihre Dynamiken zu analysieren. Seinen fachlichen Rat durfte ich erstmals für meine Diplomarbeit zur demokratischen Qualität der Werdung des Gentechnikgesetzes in den 1990er Jahren in Anspruch nehmen, später, im Zuge der Arbeiten zu meiner Dissertation zu Fragen demokratischer Technologiepolitik, stand er mir als ausdauernder Interviewpartner zur Verfügung. Als ich dann schon in der Politikberatung tätig war, durfte ich ihn als Experten zur parlamentarischen Kontrolle von Technikentwicklung befragen, und vor Kurzem erst konnte ich ihn als Podiumsgast einer Konferenz des Österreichischen Wissenschaftsrates gewinnen. Für dieses unkomplizierte Zur-Verfügung-Stellen seiner umfassenden und stets pointiert formulierten Expertise möchte ich Professor Brünner herzlich danken. Rückblickend kann ich anhand der Themenstellungen, die mich veranlassten, ihn zu kontaktieren, auch das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nachzeichnen, das in Österreich – im internationalen Vergleich mit einiger Verspätung – als demokratiepolitisch relevant und entsprechend komplex erkannt wurde.

Lenkungsbedürfnisse Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ist – und das ist die historische Konstante – von wechselseitigen Lenkungsbedürfnissen geprägt. Im Kern stehen treibende Kräfte, nämlich Wissenschaft und ihre Erkenntnisse, sowie die Gesellschaft, die Subjekt und Objekt der Wissenschaft ist, Gesellschaft, die sich Wissenschaft leistet, die Erkenntnisse einfordert; Erkenntnisse, die sich aus Bedürfnissen, Ideen und Idealen entwickeln. Wissenschaft produziert aus sich selbst heraus (die Wissenschaft ist frei, und das ist gut so) und als Antwort auf Fragen der Gesellschaft Erkenntnisse, durch die diese verändert, geprägt, vor den Kopf gestoßen, in Frage gestellt, reich oder arm wird. Erkenntnisse, die viel beachtet werden, Erkenntnisse, die in Schubladen verschwinden, Erkenntnisse, die schlei-

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chend oder ganz offiziell Politik gestalten. Wissenschaft sah sich über Epochen als stabiles, Wahrheiten produzierendes Erkenntnissystem; erst durch die zeitgenössische wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Aufarbeitung wurde der Einfluss von Interessen, Normen und Werten im Erkenntnisprozess reflektiert. Ideen und Erkenntnisse, Wissenschaft und Forschung sind ohne Zweifel die wichtigsten Ressourcen für gesellschaftliche Entwicklung. Infrastruktur ist dafür notwendig, Kosten wollen getragen werden, entsprechende Verwertungserwartungen werden an Wissenschaft und Forschung gestellt. Gesellschaft (und damit auch die Politik) nimmt sowohl an, dass Wissenschaft eine kollektive Ressource, ein kollektives Gut und damit ein Teil ihrer selbst ist, als auch, dass Wissenschaft ein unberechenbares Gegenüber ist. In beiden Fällen soll die Wissenschaft – und sei es „nur“ aus Gründen der Transparenz von Budgetflüssen – ihr Tun begründen; das fällt ihr auch nicht schwer. Schwierig wird es, wenn Begründungsforderung, Verwertungserwartung und der Wunsch nach Mitsprache zusammenfallen und in den Fragen „Wie viel gesellschaftliche Kontrolle soll/muss Wissenschaft zulassen?“ „Wer entscheidet darüber?“ „Wie soll der passende Rahmen für gesellschaftliche Kontrolle und Mitsprache aussehen?“ gebündelt werden. Politik kann Mitsprache an Wissenschaft und Forschung relativ einfach im Sinne einer Lenkung der Ressourcen steuern. Gesellschaft (im Sinne der politischen, zivilen Öffentlichkeit und der Bildungspolitik) kann Wissenschaft langfristig durch die Heranbildung des interessierten Nachwuchses, kurzfristig vor allem über die Medien erreichen. Den Anforderungen eines öffentlichen Diskurses, einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung abseits von Krawallberichterstattung oder euphorischem „selling science“ ist damit noch wenig entsprochen. Die Diskussionen um eine Demokratisierung des Verhältnisses Wissenschaft und Gesellschaft entzünden sich fast ausschließlich im Themenbereich des STMKomplexes (Science, Technology und Medicine).1 Manche wissenschaftlichen und zugleich verwertbaren Erkenntnisse wie Anwendungen gentechnischer Verfahren, die Nutzung der Atomenergie oder bestimmte medizinisch-ethische Fragestellungen lösen (partei)politische Kontroversen aus und werden, meist in Form der medialen Berichterstattung, als Spektakel einer pro/contra-Rhetorik in der Öffentlichkeit diskutiert. Gesellschaft ist nicht nur dankbar für wissenschaftliches Tun, sondern oftmals irritiert, wenn nicht gar brüskiert und verlangt für manche Wissenschaftsbereiche „Mitsprache“, wenn nicht gar „Kontrolle“.

1 Die Geisteswissenschaften bleiben durch die Fokussierung auf Verwertungszusammenhänge meist ausgeklammert. Vgl. Hagner 2012, 13.



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Demokratisierung: Anforderungen Nach Demokratisierung wird gerufen, wenn Lenkungsansprüche verpackt werden sollen. Oftmals werden in der Öffentlichkeit Stellvertreterdebatten geführt. So sind realiter nur vereinzelt Bürger2 z. B. von Stammzellforschung persönlich betroffen; über die Debatte dazu wird in der breiten Öffentlichkeit mit besonders emotionaler Heftigkeit berichtet. Stellvertretend für allgemeine Zukunftsängste, stellvertretend für die mangelnde professionelle Distanz in der Berichterstattung und die zögerliche Bereitschaft der scientific communities, die für solide Forschung notwendige, selbstbestimmte Abgeschottetheit hin und wieder zu verlassen, wird hier Diffuses mit Konkretem vermischt. Es wäre nicht das erste Mal, dass Demokratie in einem prozeduralen Sinn eingefordert wird, wo wechselseitige Anerkennung (Respekt), ein großer Vertrauensvorschuss und eine gewisse Gelassenheit als möglicherweise verblasste Merkmale demokratischer Qualität gefragt wären. Als grundsätzliche Problematik ist allerdings zu beachten, dass diese Qualitätsmerkmale, wie z. B. das Vertrauen, zwar „eine Vorbedingung für die Beständigkeit aller weitreichenden sozialen Interaktionen“, „gleichzeitig aber nichts Natürliches“ sind, sondern fortwährend konstruiert und rekonstruiert“ werden und „somit [als] potentiell zerbrechlich“ (Eisenstadt 2001, 334) gelten. Idealtypisch will man (treibend ist hier „die Gesellschaft“) also das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verbessern. Die Kraft dieser Verbesserung schreibt man dem öffentlichen Diskurs und damit den Spielregeln der Demokratie zu. Die Gesellschaft, im Sinne von Zivilgesellschaft und Politik, ist mit diesen Spielregeln mehr oder weniger vertraut. Ist es die Wissenschaft? Macht es überhaupt Sinn, ist es überhaupt möglich, von Wissenschaft gesteigertes „demokratisches Verhalten“ zu verlangen? Was die inneren Funktions- und Produktionsweisen von Wissenschaft betrifft, so folgen diese ihren eigenen Gesetzen – und die sind in vielen Fällen nicht besonders demokratisch (die Herrschaft der Vielen wörtlich genommen), weder in prozeduralem noch in qualitativem Sinne. Wie sich Denkschulen entwickeln, darüber hat Thomas Kuhn in beeindruckender Weise geschrieben; welche Gefahren der wissenschaftliche Rationalismus birgt, davor hat Paul Feyerabend eindrücklich gewarnt. Wie Wissenschaftsorganisationen funktionieren bzw funktionieren sollen, darüber lassen sich Lehrbücher zu Autokratie, Revolution, Governementalität, Governance und New Public Management füllen. Die Anforderungen, die „von außen“ an Wissenschafter gestellt werden, sind hoch, sie nähern sich jenen von Politikern oder andern Vertretern des 2 Die im Folgenden verwendeten personenbezogenen Ausdrücke beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, gleichermaßen auf Frauen und Männer.

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öffentlichen Lebens, sie fordern ein marktkompatibles Agieren, orientiert an den Bedürfnissen einer Kundschaft. Auftragsforschung ist zwar historisch betrachtet nichts Neues. Dennoch stehen diese Anforderungen (je nach Fachrichtung mehr oder weniger) im Widerspruch zum traditionell geübten Selbstverständnis der Wissenschaft, ihren Institutionen und ihren Produktionserfordernissen. Wissenschaft will von der Gesellschaft vor allem Anerkennung, Ressourcen und sonst: „produktive Ruhe“.3 In der Ausbildung werden Wissenschafter kaum auf die Erläuterung ihres Tuns durch moderne Vermittlungs- und Übersetzungsmethoden vorbereitet. Die Information oder gar Kommunikation mit der Öffentlichkeit gilt als ein Merkmal von Demokratisierung, jedoch innerhalb der scientific communities als wenig relevant. „Das Modell der Popularisierung [sic!] hat sowohl in der innerwissenschaftlichen Reputationshierarchie als auch in der gesellschaftlichen Prestigeskala seine Entsprechung. In der innerwissenschaftlichen Zuweisung von Reputation wird die Popularisierung eher geringgeschätzt. Reputation durch wissenschaftliche Leistung kommt hier durch die Fachkollegen zustande und nicht durch die Öffentlichkeit. Traditionelle Popularisierungskonzepte nehmen das Publikum in erster Linie als Rezipienten wahr, das für Validierung oder gar Produktion von Wissen als nicht kompetent eingestuft wird.“ (vgl Weingart 2005, 237). Für Mitchell G. Ash (2007, 349) ist die „soziale Hierarchisierung“ der beiden Bereiche Wissenschaft und Öffentlichkeit für ihr Verhältnis prägend. Es genüge nicht, von einer Beziehung von Wissenschaft und Gesellschaft zu reden, die von Vertrauen gekennzeichnet sein sollte, deren Negativabbild das der Skepsis oder gar des Misstrauens wäre: „Vielmehr ist im historischen Verlauf von einer Vervielfältigung und Verkomplizierung dieser Verhältnisse zu sprechen. (...) Somit sind die großen Blöcke Wissenschaft und Öffentlichkeit zwar endgültig aufgebrochen, dennoch hält sich die Redeweise einer Gegenüberstellung der beiden vermeintlichen Einheiten als Kollektivsingulare hartnäckig – vielleicht aus Schutz gegen die Überforderung, die ein genauer Blick auf die eben angedeutete Vielfalt mit sich bringen könnte“ (ebd).

Konkretisierung Die Forderung nach Demokratisierung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft unterliegt also einer diffusen Vieldeutigkeit. Konkretisierung ist angeraten. 3 Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin, auf einer Tagung des Deutschen Wissenschaftsrates zur „Bedeutung des Forschungsratings als Instrument der strategischen Steuerung und Kommunikation“. Bonn – September 2012.



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Wenn es um die Offenlegung von Budgets geht, die Wissenschaft finanzieren, ist Demokratisierung im Sinne einer Transparenzsteigerung einfach und machbar. Wenn es um die Einbeziehung von gesellschaftlichem Wissen bei der Produktion von wissenschaftlichem Wissen geht, gibt es vielerlei Methoden, die genau das ermöglichen, die zur Beantwortung von Forschungsfragen notwendig und sinnvoll sind. Wenn die innerwissenschaftliche Demokratisierung das Ziel sein soll, dann kann die Berufung auf wissenschaftliche Grundfreiheiten und ihre Garantie durch die politische Ordnung der wissenschaftlichen Institution Wirkung zeigen (vgl Mittelstraß 1998, 195). Wenn es um die Forderung nach Demokratisierung des Verhältnisses zwischen den beiden Kollektivsingularen Wissenschaft und Gesellschaft geht, sind bereits die Adressaten unklar. Wissenschaft bedeutet Lehre und Forschung, Inhalt und Erkenntnis, einzelne Wissenschafter, Scientific Communities und die Wissenschaftsorganisation (Universitäten und außeruniversitäre Einrichtungen, Gelehrtengesellschaften und Fördereinrichtungen). Gesellschaft meint Parlamentarier, Bürgerinitiativen, Laien, Medien, aber auch Normen und Wertesysteme, Parteien, Orientierung, Konflikte und ihre Aushandlung. Die Konkretisierung „der Gesellschaft“ gestaltet sich schwierig, sobald Demokratie nicht als an territoriale/nationalstaatliche Grenzen gebunden gedacht ist, sondern zB über ein Thema, oder eine Form von „Betroffenheit“. Demokratisierung kann, so scheint es, nur im konkreten Anlassfall, z. B. zwischen interessierten Laien und einer Forschergruppe, ausgehandelt werden. Wie soll das zwischen „der Wissenschaft“ und „der Gesellschaft“ geschehen? Fest steht, dass sämtliche Forderungen von einem Vorwurf des Mangels ausgehen. Fest steht weiters, dass das Verhältnis Wissenschaft – Gesellschaft von klassischen demokratietheoretischen Fragestellungen geprägt ist; es geht um Lenkung, Kontrolle, Mitsprache, Anerkennung und damit um Repräsentation, Partizipation und Legitimität. Die Anforderungen sind reichlich breit gestreut. Für das Verhältnis Wissenschaft und Gesellschaft bedeutet das, dass nach Ver- und Aushandlungs-, Regulierungs- und Regierungsformen gesucht werden muss, die nicht nur normativen und wachsenden demokratischen Anforderungen entsprechen, sondern auch eine Übersetzungs- und Moderationsfunktion in Diskursen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft wahrnehmen können. In der Theorie der politischen Steuerung wurde dazu in den letzten Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel diskutiert. Der zentral steuernde Interventionsstaat sei durch ein inhärentes Repräsentations- und somit Demokratiedefizit in Frage gestellt, so die politische Theorie (vgl Mayntz 1996), an seine Stelle trete der kooperative, die verschiedenen gesellschaftlichen Subsysteme moderierende Staat. Die realpolitischen Defizite der Repräsenta-

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tivdemokratie (die Mehrheitsregel als unzulängliche Verlegenheitslösung,4 das Verhältniswahlrecht als Dauerbaustelle) ließen sich nicht reparieren. Ein auf das Wahlrecht fokussierte, im Schumpeter’schen Sinne strikt arbeitsteilig organisiertes Demokratiemodell scheine für moderne, zunehmend heterogene Gesellschaften zu wenig Input-Optionen zu bieten, und wenn, dann seien diese vom Output entkoppelt. Neue, andere Verhandlungsformen zwischen unterschiedlichen Politikfeldern, Gesellschaftsbereichen und Akteuren gewinnen somit, nicht nur in der politischen Theorie, an Bedeutung. Die Auseinandersetzung um eine zeitgenössische, verbesserte Beziehung von Input und Output verdeutlicht die in der Geschichte immer wiederkehrende Auseinandersetzung um die ideale Gewichtung von Freiheit und Gleichheit.5 Diese Auseinandersetzung kann „nicht immer als demokratischer Fortschritt, sehr wohl aber als Fortgang mit Höhen und Tiefen“ bezeichnet werden (Kreisky/Löffler 2010, 90). Die Anforderungen an Methoden und Strukturen, die Demokratie verbessern sollen, sind also mannigfaltig: sie sollten – wie in unserem Falle – nicht nur Raum für die Auseinandersetzung mit der Ermöglichung und den Auswirkungen von Wissenschaft und Forschung bieten, sondern auch erlauben, Normen und Wertesysteme zu reflektieren, die wissenschaftlichen Fragestellungen, gesellschaftlichen Anforderungen und Reaktionen sowie der daraus folgenden Politikgestaltung eigentlich zu Grunde liegen. Voraussetzung dieser Überlegungen ist jenes Vorverständnis von Demokratie, nach dem „(...) Demokratie im Kern unlösbar mit individueller Selbstbestimmung verknüpft (ist) und auf die Herstellung der Kongruenz zwischen den Betroffenen einer Entscheidung und denjenigen, die auf die Entscheidung Einfluss nehmen können. Demokratische Theorien und demokratische Praxis werden folglich daran gemessen und danach beurteilt, wie weit sie diesen Anspruch einlösen“ (Abromeit 2002, 13). Wissenschaft und Forschung produzieren Erkenntnisse, die Gesellschaft verändern.6 Ist diese „Kongruenz“ zwischen Wissenschaft und Gesellschaft überhaupt möglich?

4 „Dort aber, wo sich Menschen in ihren fundamentalen Lebensinteressen bedroht fühlen, bleibt die Berufung auf eine Mehrheit bei einer direktdemokratischen Abstimmung ebenso brüchig wie die Entscheidung einer Repräsentativkörperschaft. So betrachtet werden durch plebiszitäre Maßnahmen die substantiellen Beteiligungschancen in der Bevölkerung nicht grundlegend verbessert, sondern es wird die von Kelsen so genannte Repräsentationsfiktion, durch eine, um diesen Kelsen’schen Begriff abzuwandeln, Partizipationsfiktion ergänzt“ (Ucakar 2006, 136). 5 Vgl die politikwissenschaftliche Literatur zu diesem Thema (zB Scharpf 2001, Abromeit 2002 et al). 6 Peter Weingart bezeichnet dies als „nicht-legitimierte Gesellschaftsveränderung“ (1989, 200).



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Enttäuschung Moderne Gesellschaften besitzen eine steigende Tendenz zu Interdependez und Komplexität. Die zunehmende Differenzierung von gesellschaftlichem Wissen, wissenschaftlichen Disziplinen und ihren Fragestellungen führt einerseits zu einer Fülle an Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten für politisches und gesellschaftliches Handeln, fördert aber auch vermehrt Ungewissheiten zu Tage. Zeitgemäße Ungewissheiten verlangen nach zeitgemäßen Methoden der Aushandlung und Entscheidungsfindung, die traditionell geübten werden als mangelhaft empfunden.7 Die demokratietheoretische Debatte, die Auseinandersetzung darüber, wie Demokratie als politische Herrschaftsform idealer Weise ausgestaltet sein soll, zeigt, dass auch in Zukunft kein Konsens zu erwarten sein wird. Ausprägungen von Demokratie, die Durchsetzung bestimmter Standards von Freiheit und/oder Gleichheit sind immer politisch-ideologisch umkämpft. Der Vorwurf des Mangels und der Eindruck der Enttäuschung erwachsen daraus, dass in demokratiepolitischen Konflikten nicht automatisch mit Konsens zu rechnen ist und Auseinandersetzungen Gewinner und Verlierer produzieren.8 Das den genannten Anforderungen innewohnende Enttäuschungspotential ist also hoch. Demokratie verspricht stets mehr, als sie halten kann. Das Anerkennen von „Demokratie als historischem Projekt“9 impliziert eine bestimmte Sensibilität für Strukturdefekte der Demokratie, die die Einlösung des Anspruches einer auf Selbstbestimmung angelegten Regierungsform permanent durchkreuzen (vgl Schmidt 2000, 268). Doch auch unter Anerkennung ihrer strukturellen Defekte „gibt es konkrete Phänomene, die Enttäuschung und Unzufriedenheit hervorrufen. Scheitern ist kein kommunikatives Artefakt, sondern eine konkrete Lebens7 „Wir benötigen sie (die Vergangenheit) nicht mehr, und zwar nicht nur als akademisches Fach, sondern auch die Vergangenheitserfahrung der Individuen ist nichts wert. (...) außer der Zukunft brauche man nichts. Das ist eine durch und durch posthistorische Auffassung, die von den materiellen, ökonomischen, politischen, ideologischen und intellektuellen Investitionen in sie getragen wird“ (Cooter 2012, 89). 8 Chantal Mouffe weist auf den agonistischen Charakter von Demokratie hin. Demokratie sei eine Gesellschaftsordnung, deren Zweck es ist, Konflikte auszutragen: „Accordingly, it appears to be a “naïve assumption” that there are public spheres based upon rational consensus since pluralism has an inherently conflicting nature: A well functioning democracy calls for a vibrant clash of democratic political positions. (…) Too much emphasis on consensus and the refusal of confrontation lead to apathy and dissatisfaction with political participation” (2000, 13 ff). 9 Basierend auf Erkenntnissen von Kelsen (1929), Held (1996), Gastil (1993), Sartori (1997), Schmidt (1995, 2000), Abromeit (2002), und anderen ist Demokratie als historisches Projekt definiert, das die größtmögliche Annäherung an ein jeweils ideales Verhältnis von Freiheit und Gleichheit zum Ziel hat.

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erfahrung von Bürgerinnen und Bürgern. Enttäuschung erwächst daraus, dass im Vergleich zu unterschiedlichen normativen Ansprüchen an die Demokratie immer nur bestimmte Teilbereiche erfüllt werden“ (Sack 2012, 53). Vielleicht hilft es, sich der Demokratie und ihren „Schönwettertheorien“ (Kreisky/Löffler 2010, 90) mit Ironie zu nähern, wie dies Detlef Sack vorschlägt: Ironie als Fähigkeit zur Reflexion der Begrenztheit demokratisch organisierter Politik, Ironie als Redefigur der emanzipatorischen, engagierten Distanz. „Ironie wird benötigt, um über das Versagen etwas sagen zu können und trotzdem handlungsfähig zu bleiben“ (Sack 2012, 59). „Wenn diese Art der begrenzten Distanzierung eingefordert wird, um der Demokratie immanente Enttäuschungen auszuhalten, dann ergibt sich daraus folgerichtig, dass Bürgerinnen und Bürger sich für jene institutionellen Voraussetzungen interessieren und engagieren müssen, die eine so ausgeprägte demokratische „Ethik der Selbstentfremdung“ (…) lebbar machen“ (ebd, 61).

Partizipation und Governance Um die Fehlschläge der Begrenztheit demokratischer Politik zu vermeiden, wird auf „Partizipation“ als radikale demokratische Intervention gesetzt. Aufbauend auf dem Vorwurf des Mangels stellen Ideen von Partizipation den Eigenwert von Beteiligung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Als utopisches Moment gilt die Demokratisierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche (Arbeits- und Berufsleben, Umwelt, Schule, Wissenschaft, Technikentwicklung). Partizipation kann in der Begründung ihrer Notwendigkeit unterschiedliche Schwerpunkte setzen; meist beruft sie sich auf Common Sense-, Tugend- oder erzieherische Überlegungen, verknüpft mit kommunikativen und prozeduralen Anforderungen. Stets wird bei allen Beteiligten eine präsumtive Ausrichtung auf das Gemeingut angenommen. Ironie ist ihr fremd, Enttäuschungen sind vorprogrammiert. „Der romantisierende Appell an die höhere Weisheit partizipierender Gruppen ist in der Konzeption der post-normal science unübersehbar. Die Unterstellung, durch die Partizipation der so genannten Betroffenen und der damit erreichten Reflexivität werde ein größerer Konsens erzeugt, ist das Pendant zu den Rationalitätsthesen in den Technokratietheorien. Hier tritt an die Stelle der vermeintlich Konsens erzwingenden wissenschaftlichen Rationalität der Konsens der demokratischen Partizipation“ (Weingart 2005, 23). Fraglich ist also, ob Partizipation (also die Beteiligung aller/einzelner in unterschiedlichen Ausformulierungen, die Abstimmung über ein für alle wünschenswertes Ergebnis) ein Verfahren des politischen Umganges mit der Differenz zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und unterschiedlich ausgeprägten Lenkungs-



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bedürfnissen sein kann. In der Wissenschaft werden sehr wohl leidenschaftliche Diskurse geführt, abgestimmt wird über sie nicht. Das Demokratische an der Wissenschaft ist das Üben der kritischen (Selbst-)Reflexion. In diesem Sinne ist die Demokratie von der Wissenschaft abhängig – die Wissenschaft jedoch kann auch in nichtdemokratischen Systemen leben, sie ist nur „unter Befolgung verantworteter Freiheiten“ (Mittelstraß 1989, 202) demokratisch; Wissenschaft ist gleichzeitig Macht und Machtkontrolle (vgl Hagner 2012, 11). Wenn wir der Forderung nach mehr Demokratie in der Wissenschaft durch partizipative Verfahren nachgehen, stellen sich folgende Fragen: Partizipation woran? Am wissenschaftlichen Erkenntnisprozess? Wohl kaum; allein schon die Frage scheint absurd.10 An der Auswahl für die Gesellschaft relevanten wissenschaftlichen Fragestellungen? An der Verwertung von Ergebnissen? Letztere Fragestellungen kommen einer Demokratisierung näher, nur: ist Partizipation für das Ziel Demokratisierung die richtige Methode? Partizipation – die Beteiligung der Vielen – haftet dauerhaft der Nimbus des Experimentiellen („Methodenzoo“) an; schnell kann man hier dem Urteil der Schönwettertheorie verfallen. Man kann aber auch den ihr zu Grunde liegenden Wunsch nach einem „Mehr“ von Demokratie als Auflehnung gegen Demokratiemüdigkeit und Entdemokratisierung, als Sensibilisierung von Problemlagen und Nachdenken über Demokratiequalität verstehen wollen. Der Wunsch nach der „Demokratisierung der Verfügung über wissenschaftliches Wissen“ entspricht somit einem Wunsch nach einem „Verfahren des politischen Umgangs mit der Differenz zwischen privilegiertem Wissen und Laienwissen und nicht (…) ihrer Aufhebung“ (Weingart 2005, 23). Hier lichtet sich das Diffuse zum Konkreten. Letztlich kann Wissenschaft ohne Zustimmung von politischen Repräsentanten, Parteien und Bevölkerung keine umfassende Förderung, keinen Rückhalt erfahren. Partizipation, wohlwollend interpretiert als Bedürfnis nach Fokussierung auf die qualitativen Merkmale von Demokratie verstanden, meint ein entsprechendes Verfahren des Umganges zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und nicht, sämtliche Akteure in einen purgatorischen Prozess zu zwingen, der ausschließlich Konsensuales hervorbringt. Dieses Verfahren des Umganges soll Lenkungsbedürfnisse befriedigen, Interdependenzen managen und Orientierung durch kritische Reflexion hervorbringen. Das, was Partizipationsverfahren in Enttäuschung enden lässt, ist, dass sie abgekoppelt von den institutionellen Verfahren der Repräsentativdemokratie ablaufen, dort die Beteiligung der Vielen als dominierender Eigenwert gilt, ein als „gerecht“ empfundener Ausgleich zwischen Experten- und Laienwissen nicht möglich ist und ihren Ergebnissen bestenfalls emp10 Zur Standardkritik an der partizipativen Demokratietheorie gehören „die Überschätzung der Bürgerkompetenzen“ und das ihr innewohnende „unrealistische Menschenbild“ (Schmidt 2000, 175 ff).

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fehlender Charakter zugeschrieben wird. Vor diesem Hintergrund wurden Verfahren des Umganges, Modelle des Regierungshandelns („Governance“) entwickelt, die – dem Prinzip der Repräsentanz aller/einzelner verpflichtet, steuerungsoptimistisch, neuerdings managementorientiert – eine kooperative Entscheidungsfindung innerhalb eines Mehrebenensystems als ihr strategisches Ziel definieren. Akzeptiert wird dabei, dass „jede Art der kooperativen Aufgabenerfüllung vor spezifischen Schwierigkeiten steht“ (Manytz 2004, 73). In der Regel herrscht auch in managementorientierten Verhandlungssystemen keine Harmonie, sondern eine Mischung aus gegensätzlichen und gemeinsamen Orientierungen, eine „antagonistische Kooperation“ (ebd). Verhandlungssysteme zwischen unterschiedlichen Akteuren, gesellschaftlichen Sphären und Regulierungsformen gewinnen an politischer Bedeutung. Diese der Pragmatik gewidmete Interaktion, das Zusammenwirken zwischen Akteuren zur Regelung kollektiver Sachverhalte im – im Idealfall – gemeinschaftlichen Interesse, heißt allerdings nicht, dass sie nur in direkter Kooperation von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren stattfindet. „Governance im Modernen Staat besteht vielmehr aus dem Neben- und Miteinander von Regelungsformen, die von rein staatlichen bis hinzu rein zivilgesellschaftlichen reichen“ (Mayntz 2004, 68). Das Bemühen der kollektiven Regelung und Regulierung löst unser Kardinalproblem noch nicht endgültig: die Demokratisierung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft durch ein verbessertes Verfahren des Umganges (Governance), das Beteiligung, Entscheidungsfindung, Legitimation, in ein passendes Mischungsverhältnis zu bringen versteht. Governance kann nur dann zu Demokratisierung führen, wenn Verhandlungssysteme, die eine diskursive Willensbildung erlauben, in Verbindung mit funktionierenden Repräsentationsbeziehungen gesetzt werden (vgl Benz 2004, 26).

Realpolitische Kompromisse – Fazit Unter dem Titel „Demokratisierung“ geht es darum, Lenkungsansprüche der beiden Kollektivsingulare „Wissenschaft“ und „Gesellschaft“ zu klären, zu kanalisieren und möglicherweise umzudeuten. Um Enttäuschung zu vermeiden, muss versucht werden, Lenkungsansprüche in Orientierungsdiskurse zu überführen und für diese Diskurse einen anerkannten Ort und ein anerkanntes Prozedere zu finden. „Aus demokratietheoretischer Sicht muss die Öffentlichkeit (...) den Problemdruck verstärken, d. h. Probleme nicht nur wahrnehmen und identifizieren, sondern auch überzeugend und einflussreich thematisieren, mit Beiträgen ausstatten und so dramatisieren, dass sie vom parlamentarischen Komplex übernommen und bearbeitet werden“ (Habermas 1994, 435). Partizipative Verfahren können zu



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Enttäuschungen und Demokratiemüdigkeit führen, vor allem, wenn die Beteiligung der Vielen im Mittelpunkt steht und Dramatisierung als demokratisches Stilmittel ungehört verhallt. Fazit: Die Debatte um die Demokratisierung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft hat eines gezeigt: Es gilt, den Containerbegriff „Demokratisierung“ zu entrümpeln; geübte Instrumente und Qualitätsmerkmale der Demokratie aufzuwerten, ohne sie naiv wirken zu lassen. Aus der Analyse von Partizipationsverfahren wissen wir, dass eine möglichst nahe Anbindung an institutionalisierte, repräsentative, legitimierte Formen der Entscheidungsfindung die Effektivität eines solchen Verfahrens erhöht. Man kann also den legitimierenden Ort festlegen, an dem diese Dramatisierung stattfinden kann. Es ist nicht notwendig, diesen Ort neu zu erfinden, vielmehr würde es genügen, Bewährtes mit der Ausweitung des Portefeuilles zu verbinden und mit verbesserten Ressourcen auszustatten. Ferner gilt es, eine angemessene Institutionalisierung mit den erwähnten demokratietheoretischen Anforderungen und pragmatischen Überlegungen (darin finden wir die wohlmeinende Ironie), die Ansprüche an „Beteiligung“ betreffend, sinnvoll zu verbinden. Die Demokratisierung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft kann, wie in anderen europäischen Ländern bereits erfolgreich geübt, auch in Österreich in Verbindung mit etablierten Institutionen der Repräsentativdemokratie, in direkter Anbindung an das Parlament, geschehen. Eine Möglichkeit wäre der Ausbau der unabhängigen Rolle des wissenschaftlichen Dienstes im Parlament, der diese Brückenfunktion, Kriterien moderner Governance folgend, zwischen Wissenschaft und ihren Vertretern, Bürgern und Repräsentanten, Parlament und Bundesregierung einnehmen könnte. Die inhaltliche und organisatorische11 Vorbereitung der Behandlung unterschiedlicher Themenstellungen, die Wissenschaft und Gesellschaft in ihrem Verhältnis zueinander beschäftigen, kann dort ihren zentralen Ort finden und den diffusen Wunsch nach mehr Demokratie in eine konkrete Dienstleistung des Parlaments umwandeln. Ermöglicht würde dies durch die politische Gelassenheit, die diesem Ort anhaftet, durch die Bereitstellung formaler Strukturen für Verfahren des Umganges zum Zwecke des Informationsaustausches, zum Zwecke der Dramatisierung, für den Diskurs und die gegenseitige Anerkennung. „Es geht ja nicht nur darum, ein Instrumentarium zu implementieren oder wiederzubeleben, durch das die Parlamentarier gestärkt werden, Entscheidungen 11 Ähnlich den Aufgaben des Wissenschaftlichen Dienstes beim Deutschen Bundestag: Vergabe von Gutachten, Betreuung von Bürgerforen zu strittigen Themen, Ausschussinformation, Konsultationsverfahren, Informationsveranstaltungen, Enquete-Kommissionen.

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des Parlaments stärker legitimiert werden, in dem Bürger/innen stärker eingebunden sind. Es geht darum, Ohnmacht, als das schlimmste Gefühl, zu vermeiden. Den kollektiven Wertekanon immer wieder austesten zu können, Grenzen und Grauzonen zu beschreiten und neu aus zu handeln. Es geht darum, Erwartungen äussern zu können und letztlich Verbindlichkeiten festzulegen“ (Brünner 2008)12.

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schaftlicher Paradigmen. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP) 2010/1, Facultas, Wien, 89–104. Kuhn, Thomas S. (1976), Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp, Frankfurt/Main. Mayntz, Renate (1996), Politische Steuerung. Aufstieg, Niedergang und Transformation einer Theorie, In: von Beyme, Klaus/Claus Offe (1996), 148–168. Mayntz, Renate (2004), Governance im modernen Staat. In: Benz (2004), 65–76. Mittelstraß, Jürgen (1989), Die Häuser des Wissens. Wissenschaftstheoretische Studien. Suhrkamp, Frankfurt/Main. Mouffe, Chantal (2000), Deliberative Democracy or Agonistic Pluralism. Vienna: Institute for Advanced Studies, Political Science Series Vol. 72, Wien. Nikolow, Sybilla/Arne Schirrmacher (Hg) (2007), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Campus, Frankfurt/New York. Sack, Detlef (2011), Postdemokratie, Ironie und Gerechtigkeit – zum Umgang mit dem Enttäuschungspotential demokratischer Herrschaft. In: ÖZP 2011/1, Facultas, Wien, 49–66. Sartori, Giovanni (1997), Demokratietheorie. Primus, Darmstadt. Scharpf, Fritz W. (2000), Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung. Leske und Budrich, Opladen. Schmidt, Manfred G. (2000), Demokratietheorien. Eine Einführung. 3. Auflage, Leske und Budrich, Opladen. Ucakar, Karl (2006), Verfassung – Geschichte und Prinzipien. In: Dachs, Herbert (2006), 119–138. Weingart, Peter (1989): Technik als sozialer Prozess. Suhrkamp, Frankfurt /Main. Weingart, Peter (2005), Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Vielbrück Wissenschaft, Weilerswist.





3.1. Interview mit em. o.Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner1

Was waren die ausschlaggebenden Gründe dafür, dass Sie sich für eine wissen­ schaftliche Karriere entschieden haben? Nach meiner Promotion zum Doktor der Rechte, Absolvierung des Gerichtsjahres und Ableistung des Präsenzdienstes als Einjährig-Freiwilliger hatte ich mehrere Jobangebote. Ich entschied mich zunächst für eine Stelle bei der damaligen Girozentrale in Wien; die Stelle hätte ich am 2. 5. 1968 antreten sollen. Ein paar Tage vorher löste ich meine Studienbibliothek auf und brachte Bücher zurück in die Universitätsbibliothek. Dabei lief ich Prof. Gustav E. Kafka über den Weg. Er kannte mich aus seinen Lehrveranstaltungen über politische Bewegungen, die er gemeinsam mit den Professoren Asfeld, einem Theologen, und Nowotny, einem Historiker, gehalten hatte. Spontan fragte er mich, ob ich eine bei ihm frei werdende Assistentenstelle antreten möchte. Nach kurzer Bedenkzeit sagte ich ihm zu und der Girozentrale ab. Der Entscheidung lag keine rationale Erwägung zugrunde; ich entschied mich für die Universität, weil ich ihr emotional verbunden war. Wie sind Ihnen Wissenschaft und Recht vermittelt worden? Ich war von 1964 bis 1967 zunächst wissenschaftliche Hilfskraft, dann Vertragsassistent bei Prof. Viktor Steininger am Institut für Zivilrecht, Zivilprozess- und Arbeitsrecht. Ab 1968 war ich Universitätsassistent bei Prof. Kafka am Institut für Allgemeine Staatslehre und Österreichisches Verfassungsrecht. Beide akademischen Lehrer haben meine Sicht von Wissenschaft und Recht geprägt. Wissenschaft braucht zwar Distanz zur Gesellschaft, aber sie ist kein Elfenbeinturm, sondern verpflichtet, an der Lösung von Problemen des täglichen Lebens mitzuwirken. Recht ist das Produkt gesellschaftlich-politischer Willensbildungsund Entscheidungsprozesse. Es spiegelt Interessen und Interessenkonflikte wider. Es ist auch ein Herrschaftsinstrument in der Hand der Mehrheit. Wer auf dem „Klavier“ des Rechts zu spielen vermag, ist im Vorteil; daher kommt dem gleichen Zugang zum Recht große Bedeutung zu. Die wissenschaft­liche Beschäfti1 Das Interview mit Christian Brünner führten Werner Hauser und Andreas Thomasser am 10. 7. 2013 in Graz.

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gung mit dem Recht ist keine Kunst um der Kunst willen, da das Recht eine das sozial-reale Umfeld des Rechts steuernde Funktion hat. Dieses sozial-reale Umfeld des Rechts muss auch in der wissenschaftlichen Analyse Berücksichtigung finden. Juristinnen und Juristen müssen daher auch Kenntnisse betreffend dieses sozialreale Umfeld des Rechts haben, vermittelt in sozialwissenschaftlichen Fächern. Ethische Fragestellungen sind untrennbar mit dem Recht verbunden. Der Mainstream wissenschaftlicher Analyse muss mitunter verlassen werden; es müssen auch unkonventio­nelle Hypothesen vertreten werden. Warum haben Sie Jus studiert? Ich bin in Bruck an der Mur in das Bundesrealgymnasium gegangen und war „Fahrschüler“. Im Zug habe ich aufgeschaut zu den Studierenden der damaligen Montanhochschule. Sechs Jahre lang war ich vollkommen überzeugt davon, Montaningenieur zu werden. 1959/60 war ich Stipendiat des American Field Service (AFS) und verbrachte ein Jahr in den USA. Im Zuge dieses Amerikajahres änderte ich meinen Berufswunsch. Etwas zur Völkerverständigung beizutragen wurde mir ein Anliegen. Ein Instrument dafür schien mir das Völkerrecht zu sein. Zurückgekehrt nach Österreich wollte ich Völkerrecht studieren. Da es dieses Studium aber nicht gab – Völker­recht war nur ein kleines Teilgebiet des rechtswissenschaftlichen Studiums – studierte ich Jus. Was war das für Sie am meisten prägende Erlebnis in Ihrer schulischen Lauf­bahn? Nach der 6. Klasse Mittelschule verbrachte ich aufgrund eines AFS-Stipendiums ein Jahr in Rich­field, einem Vorort von Minneapolis, Minnesota. Ich besuchte die Richfield High School und erwarb das High-School-Diplom. Zurückgekehrt nach Österreich absolvierte ich die 7. und die 8. Klasse der Mittelschule in einem Jahr und maturierte mit meiner „angestammten“ Klasse. Das Jahr in Amerika hat mich entscheidend geprägt, es hat mein Leben intensiv beeinflusst, es war eines der wichtigsten Jahre in meinem Leben. Ich bin dem American-Field-Service, meinen amerikanischen Gasteltern und meinen Eltern dankbar dafür, dass ich als Jugendlicher diese prägende Erfahrung habe machen dürfen. Das Jahr hat meine Neugier für das Anderssein und für fremde Kulturen geweckt. Es hat meine Weltoffenheit gefördert. Es hat meinen Bildungshorizont erweitert. Ich habe den Wert einer pluralistischeren Gesellschaft, als es Österreich damals war, erfahren, gleichzeitig aber die Diskriminierung aus rassischen Gründen als eine Verletzung der Menschenwürde erlebt: Die schwarze Bevölkerung war damals in manchen Staaten der USA in ihrem Wahlrecht eingeschränkt. Erst 1965



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ist die Diskriminierung der afro-amerikanischen Bevölkerung bei Ausübung des Wahlrechts durch den Voting Rights Act abgeschafft worden. Mir wurde bewusst, wie wichtig die Verständigung zwischen Völkern und zwischen Rassen ist. Ein „handfestes“ Produkt meines Amerikajahres ist meine Profession: Jurist zu sein, auch mit einem sozialwissenschaftlichen Zugang zum Recht, und Universitätslehrer zu sein in der Überzeugung, dass Bildung ein effektives Instrument gegen Engstirnigkeit, Intoleranz und Bevormundung ist. Meine Erfahrungen mit dem amerikanischen Bildungssystem als High-SchoolStudent und im Zuge mehrerer späterer USA-Aufenthalte waren mir auch hilfreich im hochschulpolitischen Teil meiner Berufslaufbahn. Vor dem Hintergrund dieser meiner Erfahrung ist mir manches fremd, was derzeit unter dem Titel Gesamt- und Ganztagsschule, Zugang zu den Hochschulen sowie Eliteuniversität diskutiert wird. Ich habe die amerikanische High School als Gesamt- und Ganztagsschule positiv erlebt, und ich sehe im institutionell und niveaumäßig höchst differenzierten tertiären Bildungssektor – er umfasst in den USA mehr als 4.000 Institutions of Higher Education, die von den Community Colleges – sie bilden in der Regel auf einem Niveau unterhalb unserer Matura aus – bis zu den Ivy League-Universitäten reichen – eine Voraussetzung dafür, alle Bildungs­ begabungen auf den unterschiedlichsten Bildungsniveaus anzusprechen. Was waren für Sie die wichtigsten bildungspolitischen Entscheidungen in den letzten 50 Jahren? Ich möchte drei nennen: Erstens den Ausbau des Sektors der Allgemeinbildenden Höheren Schulen in der Zeit der ÖVP-Alleinregierung 1966 bis 1970, zweitens ab 1970 den Ausbau des Sektors der Berufsbildenden Höheren Schulen und des Sektors der Universitäten in der Zeit der SPÖ-Alleinregierungen und drittens die Diversifizierung des postsekundären Bildungsbereichs durch die Schaffung von Fachhochschulen im Jahre 1993. Ich freue mich, dass ich als seinerzeitiger Vorsitzender der Österreichischen Rektorenkonferenz und dann als Abgeordneter zum Nationalrat an der Einrichtung von Fachhochschulen mitwirken konnte. Was ist Ihr Selbstverständnis als Professor? Die Universität ist eine Stätte der Forschung. Ihre Konstituante sind aber die Studentinnen und Studenten, ansonsten wäre sie lediglich eine Forschungseinrichtung, wie es sie außerhalb der Universität gibt. Diese Sicht der Universität ist Hintergrund meines Selbstverständnisses als Universitätsprofessor: Ich verstehe mich zuerst als Lehrer und dann erst als Wissen­schafter.

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Wenn von der Qualität einer Universität gesprochen wird, steht die Forschung im Vorder­grund. Der Lehre wird weniger Bedeutung zugemessen. Diese Erfahrung führte dazu, dass ich in der Österreichischen Rektorenkonferenz 1987 eine Arbeitsgruppe eingerichtet habe, die sich mit der Qualität universitärer Lehre beschäftigen sollte; der Bericht der Arbeitsgruppe ist 1990 erschienen. Mittlerweile wird der Qualität universitärer Lehre steigendes Augenmerk zugewendet. So steht die Verbesserung der Lehre im Zentrum der Beratungen der von der EU-Kommission eingesetzten Arbeitsgruppe betreffend die Modernisierung der Hochschulsysteme. Im Juni 2013 legte die Arbeitsgruppe ihren ersten Bericht vor (Report on Improving the Quality of Teaching and Learning in Europe’s Higher Education Institutions). Vor Kurzem hat das BMWF einen Staatspreis „ars docendi“ eingerichtet, mit dem besonders exzellente Lehrende aus­gezeichnet werden sollen, und die Universität Graz bietet einen berufsbegleitenden Master­lehrgang Didaktik für Lehrende an Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen an. Ich freue mich über diese Entwicklung. Was war Ihnen im Forschungsbereich wichtig? Im Forschungsbereich war es mir wichtig, gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen. In den 1990er-Jahren habe ich das Recht der Geschlechterbeziehungen und den rechtlichen Schutz der Umwelt zu Aufgabenbereichen in der von mir geleiteten Abteilung des Instituts für Öffentliches Recht gemacht. Und am Ende meiner akademischen Laufbahn machte ich Weltraumrecht und Weltraumpolitik zu einem Schwerpunkt meiner Tätigkeit. Ich habe die Beschäftigung mit dem Thema Weltraumrecht und Weltraumpolitik aber nicht nur an meiner Fakultät, sondern auch an anderen Rechtsfakultäten initiiert. Ich freue mich, dass ich auf diesem Gebiet an österreichischen Universitäten Pionierarbeit leisten konnte. Wenn Sie an Ihre Rektorszeit zurückdenken, was war das schwierigste und was das schönste Ereignis? Ich war in meiner Amtszeit mit einer Besetzung von Räumen der Universitäts­ direktion durch Studenten/-innen, Basis-Gruppen, Politik-Aktivisten/-innen, oder wie die „Eigennamen“ der Besetzer/-innen auch gelautet haben mögen, konfrontiert. Die Besetzung war durch die von der Bundesregierung geplanten, teilweise unangemessenen Restriktionen bei der sozialen Ab­sicherung der Studierenden ausgelöst worden. Es stand für mich aufgrund meines Selbstver­ständnisses von Universität von Anfang an fest, die gewaltsame Entfernung der Besetzer weder anzuordnen noch zuzulassen. Rund sieben Wochen arbeitete ich gemeinsam mit Systemberatern/-innen, Psychologen/-innen und Freunden daran, die Beset-



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zung gewaltfrei zu beenden, was schlussendlich gelang. Diese Wochen waren die schwersten Wochen meiner Amtszeit. Ich habe in meiner Amtszeit rund 5.260 Absolventen/-innen promoviert bzw. graduiert. Ich fühlte mich mit den frisch gebackenen Absolventen/-innen in Zuneigung verbunden, freute mich an ihrem Erfolg und konnte den Familien der Absolventen/-innen und ihren Freunden/-innen vermitteln, welche Rolle die Universität im Leben eines Menschen und in der Gesellschaft spielt. Die „68er“ schmähten den Talar („unter dem Talar der Muff von 1.000 Jahren“). Warum haben Sie den Talar und das Barett dennoch getragen? Rituale und Symbole sind und waren mir wichtig. Ich habe daher meine Inauguration zelebriert, die Inauguration auch durch Studierende der Fakultät für Architektur der TU Graz im Rahmen ihrer Lehrveranstaltung „Grundlagen der Gestaltung und des Entwerfens“ dar­stellen lassen, am Abend des Inaugurations­tages insbesondere für die Studierenden ein Uni-Café – Barbara Frischmuth, Franz Innerhofer und Adolf Muschg haben gelesen und André Jeanquartier hat mit seiner Jazz-Band musiziert – organisiert und Talar, Barett und Kette als Amtsinsignien bewusst getragen. Absolventen/-innen leisten auf das Zepter der Universität den Eid. Dennoch wird es kaum wahrgenommen. Während die Rektorskette Symbol für den staatlichen Wirkungsbereich der Universität ist, symbolisiert das Zepter der Universität die Autonomie der Universität. Die Rektorskette war für mich Auftrag, die Universität offen zu halten für alle Schichten der Bevölkerung, offen für alle Probleme und Anliegen der Gesellschaft und offen für Neues, Fremdes, Unkonventionelles. Das Zepter ist von alters her ein Herrscherstab. Die Universität herrscht freilich nicht (mehr) über Menschen. In ihren Mauern und auch nach außen wirksam sollen Geist und Intellekt herrschen, dies im ständigen Diskurs und in kritischer Auseinandersetzung. Mit dem Zepter der Universität verband ich den Auftrag, alles zu fördern, was dem leistungs- und verantwortungsorientierten Forschen und Lehren, der Entdeckerfreude, der Freude am Umgang mit den jungen Menschen, die an der Universität studieren, Raum gibt, alles, was den Anforderungen der Gesellschaft in Freiheit gerecht werden lässt und kritische Distanz zur Gesellschaft bewahren hilft. Was war für Sie die schönste Zeit im Jahreslauf der Universität? Die schönste Zeit war der Herbst. Maturantinnen und Maturanten bevölkern die Universitäts­gebäude und das Universitätsviertel, um als Erstsemestrige die Universität als ihre Alma Mater in Besitz zu nehmen. Es war mir wichtig, diese jungen Menschen in einem erst­semestrigen Brief willkommen zu heißen. Und meine Freude war groß, als mir eine Studentin auch brieflich antwortete.

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Was wäre die Universität ohne diese jungen Menschen voll von Zuversicht, Selbstsicherheit, Ratlosigkeit, Angst, Begabung, Überfordertsein? Die Universität wäre eine – im günstigsten Falle – zwar anerkannte, aber mangels Nachfließens von Neu­gierde, Fantasie und Unbekümmertheit und mangels Weiterfließens von Wissen, Er­kenntnisdrang und Forschungsfreude statische Forschungsanstalt. Halten Sie die internationalen Hochschulrankings für nützlich? Ich halte sie für unvermeidbar, aber in ihrer derzeitigen Form nicht geeignet, die Qualität einer Universität zu messen. Die praktizierten Rankings sind weitgehend auf Exzellenz der Forschung ausgerichtet. Die Universität hat aber auch noch andere Aufgaben als die Forschung und muss sich verschiedenen Herausforderungen stellen. So ist z. B. die Frage einer Öffnung in Richtung gesellschaftlicher Anspruchsgruppen ein Punkt in der Modernisierungs­agenda im europäischen Hochschulraum und muss daher auch in ein Ranking einfließen. Die EU arbeitet an einem „multi-dimensional“, „user-driven“-Rankingsystem. Es soll auf den Kategorien Ansehen der Forschung, internationale Ausrichtung, Qualität von Lehre und Lernumfeld, Wissenstransfer sowie Beitrag zur regionalen Ent­wicklung basieren. Apropos: Die „Impact-Faktoren-Dimension“ ist für mich nicht die Ultima Ratio. Ich halte es für unerlässlich, dass Universitätslehrer/-innen auch in lokalen und regionalen Zeitschriften und Zeitungen publizieren, ohne Impactfaktoren und ohne peer reviews. Eine Universität hat auch die Verpflichtung, Anliegen der Gesellschaft, in der sie tätig ist, aufzugreifen. Das gilt auch für die Sprache, in der wir tätig sind. Englisch ist zwar zur Wissenschaftssprache geworden, wir müssen uns aber auch im sprachlichen Umfeld, in dem wir uns bewegen, verständlich machen. Wie beurteilen Sie die insofern „verpolitisierte“ Wissenschaft, als dass die allermeisten Aufsichtsräte, Uniräte, Beiräte und dergleichen politisch besetzt sind bzw. werden? Wissenschaft – wie auch die Gerichtsbarkeit – verlieren ihre Reputation und damit auch ihre Funktion, wenn sie nicht in Distanz zu gesellschaftlichen und politischen Interessen agieren. In einer Demokratie braucht freilich jedes Amt seine demokratische Legitimation und seine Kontrolle. Wenn ich diesen allgemeinen Grundsatz auf die Bestellung der Universitätsräte anwende, dann heißt das für mich Folgendes: Ich habe grundsätzlich kein Problem damit, dass ein Teil der Universitätsräte durch die Bundesregierung bestellt wird, dies allerdings unter der Voraussetzung, dass die Positionen der Uni­versitätsräte ausgeschrieben werden, was Voraussetzung für die Transparenz des Bestellungs­verfahrens ist und eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit möglich macht.



3.1. Interview mit Christian Brünner

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Unterscheidet sich das wissenschaftliche Arbeiten heute von der Zeit, als Sie die akademische Laufbahn begonnen haben? Ja, grundlegend. Ich habe seinerzeit für die Vorbereitung eines wissenschaftlichen Beitrages Hunderte Seiten Bibliografien durchgeackert und mir Zettelkarteien angelegt. Bücher mussten per Fernleihe bestellt werden, notwendige Dokumente in einem aufwendigen Briefverkehr angefordert werden. Heute kann ich mir fast alles, was ich brauche, durch einen Mausklick aus dem Internet holen. Was sagen Sie zu den Maximen des Wettbewerbs und der Internationalisierung? Ich wünsche mir, dass diese Maximen nicht unreflektiert nachgebetet werden. Was bleibt beim Wettbewerb mitunter auf der Strecke? Der Einsatz derer, die nicht als Beste obsiegen, die wir aber auch brauchen, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, Projekte, die ausgefallen sind und nicht in den Prioritätenkanon passen und Publikationen, die nicht von Spitzen­verlagen und Spitzenperiodika aufgenommen werden. Und die Internationalisierung, ist sie erfüllt, wenn bei Neuberufungen von Professoren/-innen die Mehrheit der Bewerber/-innen aus Deutschland kommt und jede vierte Professoren/-innen-Stelle an österreichischen Universitäten mit einem/einer Bewerber/-in aus Deutschland besetzt ist? Was sagen Sie zum Vorschlag von Vizekanzler Michael Spindelegger, dass nicht die Noten im Abschlusszeugnis der 4. Klasse Volksschule über die Aufnahme in das Gymnasium entscheiden sollen, sondern eine Aufnahmsprüfung? Ich kann mit diesem Vorschlag nicht rational, sondern nur emotional umgehen, dies aus folgendem Grund: Ich bin ein Jahr in die Hauptschule gegangen, dann stand der Übertritt ins Gymnasium an. Ich hätte, hätte ich in die zweite Klasse Gymnasium aufgenommen werden wollen, die für die Aufnahme ins Gymnasium obligatorische Aufnahmsprüfung machen müssen. Ich hatte panische Angst davor. Um die Aufnahmsprüfung zu vermeiden, bin ich in die erste Klasse des Gymnasiums eingetreten, weil mir wegen meines ausgezeichneten Haupt­ schulzeugnisses ausnahmsweise die Aufnahmsprüfung erlassen wurde. Ich bin daher auf­nahmsprüfungsgeschädigt. Soll die Universität eine Eliteanstalt sein? Nein. Ich wünsche mir eine Universitätslandschaft in der Form einer Pyramide. Eine Pyramide hat eine Spitze und eine Basislinie. Wie ein Blick in andere Universitätssysteme, z. B. in das der USA, zeigt, ist die Spitze immer dünn. Getragen wird sie aber von einer Vielfalt „durchschnittlicher“ Institutions of Higher Education.

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3. Wissenschaft

Was sagen Sie zu der universitätspolitischen Diskussion der letzten Zeit? Ich habe bei und in dieser Diskussion den Eindruck, dass es nur um Studiengebühren, Zulassungsbeschränkungen, um Employability, optimale staatliche und universitäre Steuerung, den Beitrag universitärer Forschung zum Wirtschaftswachstum, den Mangel an Geld, die Fragwürdigkeit der Massenuniversität, den Niveauverfall etc. geht. Nun kann auch ich nicht über hinter diesen Schlagworten liegende Probleme hinwegsehen. Ich wünsche mir freilich eine Diskussion, in der die Universität als Stätte der Bildung, die möglichst vielen offenstehen soll, nicht zu kurz kommt, und ich fordere eine solche Diskussion und ein solches Plädoyer gerade von der Universität ein. Um möglichst vielen Bildungswilligen den Zugang zu einem universitären Studium zu öffnen, sollte neben den traditionellen Universitäten und Hochschulen eine Open University errichtet werden, in deren Rahmen auf verschiedenen Niveaus gelehrt und gelernt wird, dies unabhängig von Zugangsvoraussetzungen und fixierten Curricula, unter Einsatz flexibler Lehr- und Lernmethoden und mithilfe aller verfügbaren Medien. Für verschiedene Bereiche sollten Lehr- und Lernmodule, also Degree-Programme, benannt werden, die, werden sie erfolgreich absolviert, zum akademischen Grad eines Bachelors führen könnten. Eine Open University ist übrigens nichts Neues. Sie wird z. B. in England oder in Finnland erfolgreich praktiziert. In Finnland z. B. studieren ca. 70.000 Bildungswillige, davon ca. 50.000 Frauen in den Open University-Angeboten, und 18 % der Studierenden an den Hochschulen kommen über das Open UniversitySystem an die Hochschule. Übrigens, wir brauchen auch eine größere Durchlässigkeit zwischen dem Bereich „Qualifizierung durch und im Beruf“, d. h. zwischen dem dualen Ausbildungssystem und dem post­sekundären Bereich. Wenn dies nicht von den Fachhochschulen und Universitäten bewerk­stelligt wird, plädiere ich für die Schaffung einer dritten Säule, nämlich von Berufsakademien, in denen diejenigen, die sich durch und im Beruf qualifiziert haben, einen Bachelorgrad erwerben können. Danke für das Gespräch!



3.2. Vorwort

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3.2. Christian Brünner, Vorwort (Auszug)

in: Brünner, Politische Planung im parlamentarischen Regierungssystem, Wien/New York 1978, VIII

[...] In Dankbarkeit gedenke ich meines akademischen Lehrers Gustav E. Kafka, an dessen Grazer Institut ich 1968 – nach Lehrjahren als wissenschaftliche Hilfskraft und Vertragsassistent bei Viktor Steininger, Graz, und kurzer Berufspraxis – gekommen bin. Kafka sah im Recht weniger ein „geschlossenes System“; besonderes Augenmerk schenkte er dem „pragmatischen Aspekt“ des Rechtes, dem Sachverhalt also, daß dem Recht die Funktion immanent ist, das Verhalten von Menschen zu regeln. Sein Interesse galt daher sowohl gegenwärtigen sozioökonomischen und politischen als auch historischen Bedingungen des Rechtes, ferner den Beziehungen zwischen dem Recht und seiner sozial-realen Umwelt. Wolfgang Mantl hat jüngst die großen Verdienste Kafkas um eine Renaissance von Staatslehre und Politikwissenschaft in Österreich besonders gewürdigt; Kafka versuchte aber auch, die in Österreich seit den Tagen von Lorenz von Stein, Karl Theodor von Inama-Sternegg und Ludwig Gumplowicz mehr oder minder dahinschlummernde Verwaltungslehre zu wecken. In seinen rechtswissenschaftlichen Arbeiten widmete sich Kafka in besonderem Maße der von der Reinen Rechtslehre zugunsten rechtsformaler Betrachtung vernachlässigten Analyse des Rechtsinhaltes. Dabei stellte Kafka auf der Basis eines offenen, christlichen Naturrechtes immer wieder auch die Frage nach Legitimität und Autorität von Herrschaft und Recht. Kafka war aber nicht nur ein hervorragender Wissenschafter und ein der Synthese verpflichteter Polyhistor; er war auch ein gütiger Mensch. Bereits gezeichnet durch die Krankheit, von der er sich nicht mehr erholen sollte, traf er Vorsorge dafür, daß mir auch weiterhin Schutz und Förderung zuteil werden würden.

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3.3. Christian Brünner, Planung

in: Klose/Mantl/Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon2, Graz/Innsbruck 1980, Spalten 2136–2157

I. Begriff 1. P., d. h. die systematische Erarbeitung von Zielen u. die gedankliche Vorwegnahme solcher Handlungsabfolgen, die eine bestmögliche Verwirklichung dieser Ziele erwarten lassen, ist ein mit dem Handeln des  Menschen (z. B. dem Wirtschaften, Verwalten, Regieren usw.) so eng verknüpfter Sachverhalt, daß mitunter die Abgrenzungsfunktion des Begriffes „P.“ in Frage gestellt wird. Der Begriff kann allerdings dadurch präzisiert werden, daß man als eines der Begriffsmerkmale auch den Bereich des Planens angibt. Demgemäß kann man jedenfalls das Planen von Privatpersonen, Unternehmungen u. sonstigen privaten Sozietäten, das Planen von  Verbänden u. politischen  Parteien u. schließlich das Planen des  Staates u. seiner Organe unterscheiden. Im folgenden soll im großen u. ganzen nur von staatlicher P. gesprochen werden. 2. Ein wesentliches Charakteristikum der P. ist die Rationalität des planenden Handelns, d. h. das Handeln muß einem Orientierungsprinzip folgen. Nach Max  Weber handelt zweckrational, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln u. Nebenfolgen überdenkt u. dabei die Mittel gegen die Zwecke, die Zwecke gegen die Nebenfolgen u. die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander abwiegt. Die Kategorien der Max Weberschen Zweckrationalität u. der im Anschluß daran konzipierten Handlungsrationalität moderner Entscheidungstheorie – diese geht von bestimmten Zielvorstellungen des Handelnden aus u. untersucht die Bedingungen der bestmöglichen Zielverwirklichung – lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf staatliche P. übertragen, dies aus mehreren Gründen. Zum einen liegt staatlicher P. ein weit umfangreicheres, widersprüchlicheres u. mitunter auch unpräziseres Zielbündel zugrunde; darüber hinaus kann das für rationales Handeln notwendige Mindestmaß an Information über Ist-Zustand, Trends, Zielpräferenzen, Alternativen, Verhalten anderer Entscheidungsträger usw. mitunter kaum beschafft bzw. vorhandene Information nicht handlungsrelevant verarbeitet werden. Zum anderen muß sich staatliche P. unter komplexen politisch-sozialen,



3.3. Planung

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organisatorischen u. rechtlichen Bedingungen vollziehen; demgemäß ist staatliche P. auch am politischen Prozeß der Interessenartikulation, Konfliktaustragung u. Konsensbildung, an der hochdifferenzierten Aufbau- u. Ablauforganisation des politischen Systems u. schließlich an der Rechtsordnung – auch das  Recht dient rationalem Handeln, weil es Stabilität u. Kontinuität der Entscheidungsgrundlagen erhöht – auszurichten. Staatliche P. ist daher auch mit den Kategorien Systemrationalität bzw. „politische“ u. „rechtliche Rationalität“ konfrontiert. Wegen der komplexen politisch-sozialen, organisatorischen u. rechtlichen Bedingungen staatlicher P. wird mitunter denn auch die Enge des Spielraums für das Handeln bzw. die Schwerregierbarkeit des Staates beklagt. 3. P. ist ein dynamischer Entscheidungsprozeß, dessen Phasen nicht in streng zeitlicher (linearer) Abfolge ablaufen können, sondern durch Rück- u. Vorwärtskoppelungen miteinander verbunden sind. Obwohl verschieden umfangreich gegliederte Phasenschemata entwickelt worden sind, herrscht weitestgehend Einigkeit jedenfalls darüber, daß P. folgende Phasen aufweist: a) Bestandsaufnahme, d. h. Sammlung u. Verarbeitung von Daten über den IstZustand u. die Entwicklungstrends (Analyse u. Prognose), ferner Ermittlung des Verhaltens anderer Entscheidungsträger (Kommunikation); b) Erstellen von (bei gegebenen Bedingungen möglichen) Ziel-MittelKombinationen unter alternativen Annahmen betreffend Prognosen, Ziele u. Maßnahmen; c) Entscheidung; d) Plandurchführung; e) Erfolgskontrolle u. Planrevision, d. h., es müssen ständig die Erfahrungen ausgewertet u. im Anschluß daran mitunter Plankorrekturen vorgenommen werden. Die Einsicht, daß diese Phasen im Sinne kybernetischer Wirkungszusammenhänge vor- u. rückwärtsgekoppelt sind, hat die Ansicht, daß zw. P. als (expertokratischer) Entscheidungsvorbereitung u. Entscheidung als (politischer) Dezision relativ sauber unterschieden werden könne, in Frage gestellt. Auch erscheint durch diese Einsicht die Unterscheidung zw. der P. als dem Verfahren u. dem Plan als (dokumentiertes) Ergebnis des Verfahrens relativiert.

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II. Arten, Methoden u. Theorien der Planung 1. a) Staatliche P. wird weitestgehend als Verwaltungsplanung u. als politische P. – diese wird auch Regierungsplanung, staatsrechtliche P., strategische P., P. zw. Parlament u. Regierung genannt – betrieben. Der Begriff Verwaltungsplanung kann entw. auf das Planen der Verwaltungsorgane ( Verwaltung im formal-organisatorischen Sinn) oder auf das planende Verwalten als Funktion (Verwaltung) abgestellt werden. Charakteristisch für Verwaltungsplanung ist in jedem Fall, daß die Ziele, aber auch die Handlungsabfolgen, mit denen die Ziele bestmöglich erreicht werden sollen, genauer vorherbestimmt sind (insbes. durch Regierungsakte u. Gesetze), als dies bei politischer P. der Fall ist. Verbindlichkeit kann bestehen für staatliche Organwalter (z. B. Pläne in der Form von Verwaltungsverordnungen) oder für Dritte (z. B. Pläne in der Form von Rechtsverordnungen oder Bescheiden). Bei der P. als einem verwaltungsrechtlichen Institut stehen in rechtlicher Hinsicht die Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze (z. B. „Rechtsnatur“ bzw. Rechtsform, Legalitätsprinzip, Rechtsschutz, Vertrauensschutz in der Form der Plangewährleistung) im Vordergrund. Beispiele für Verwaltungsplanung in Österreich sind die Ein- u. Ausfuhrpläne nach dem Marktordnungsgesetz u. dem Viehwirtschaftsgesetz, die wasserwirtschaftlichen Rahmenpläne u. Rahmenverfügungen nach dem Wasserrechtsgesetz, die Waldentwicklungs- u. Gefahrenzonenpläne nach dem Forstgesetz, die Flächenwidmungs- u. Bebauungspläne nach den Raumordnungsgesetzen der Bundesländer, die Zusammenlegungs-, Teilungs- u. Regulierungspläne nach den gesetzlichen Bestimmungen auf dem Gebiet der Bodenreform usw. In der Bundesrepublik Deutschland wird von Planfeststellung (i. e. S.) dann gesprochen, wenn es sich um ein dem Fachplanungsrecht zuzuzählendes Verwaltungsverfahren handelt, das nach anderen Gesetzen erforderliche Genehmigungen usw. einschließt (Kompetenzkonzentration) u. in dem über die Zulässigkeit eines raumbezogenen Vorhabens (Bauvorhaben oder Enteignungsvorhaben) einschließlich der notwendigen Folgemaßnahmen nach Abwägung u. Ausgleich der beteiligten Interessen in der Form eines gegenüber den Beteiligten rechtsverbindlichen Plans entschieden wird (z. B. Enteignungs-, Straßenbau-, Wasserausbau-, Bundesbahnbaupläne usw.); ein der bundesdeutschen Planfeststellung analoges Phänomen aus österreichischer Sicht ist z. B. das Verfahren der Zusammenlegung nach den gesetzlichen Bestimmungen betreffend die Bodenreform, das zum Zusammenlegungsplan – dieser ist ein Bescheid – führt. Demgegenüber handelt es sich bei politischer P. mehr um initiative u. richtungweisende Gestaltung der sozialen, wirtschaftlichen u. politischen Ordnung u. we-



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niger um P. in Durchführung von Regierungsakten u. Gesetzen; politische P. ist daher dem Bereich der Regierung im funktionellen Sinn (Regierung) zuzuzählen. In rechtlicher Hinsicht interessiert demgemäß auch vor allem die Beziehung zw. politischer P. einerseits u. den rechtlichen Determinanten des Regierungsprozesses, d. h. u. a. demokratische Legitimation, parlamentarisches Regierungssystem ( Regierung), horizontale (z. B. Parlament u. Regierung) u. vertikale Gewaltenteilung (Föderalismus u. Gemeindeautonomie), Pluralismus der Entscheidungsträger (z. B. politische Parteien, Verbände, Private) andererseits. Beispiele für politische P. in Österreich sind Regierungsprogramme, Programme der politischen Parteien, Fachplanungen (z. B. EDV-Plan, Energieplan, Ausbaupläne für Bundesstraßen bzw. Autobahnen, verschiedene bildungsplanerische Arbeiten usw.), Pläne u. Programme im Bereich überörtlicher Raumordnung (Landesplanung, Regionalplanung, raumrelevante Fachplanung), Haushaltspläne u. mittelfristige Finanzplanungen (z. B. Budgetvorschauen, Investitionsprogramme usw.) der Gebietskörperschaften usw. b) Anhand verschiedenster Merkmale sind umfangreiche Typologien von P. entwickelt worden. Neben horizontalen P.en – der ressortorientierten Fachplanung oder der (ressortübergreifenden) Querschnittsplanung (z. B. Personal-, Organisations-, Finanz-, Raumplanung) – gibt es im Bundesstaat mit Gemeindeautonomie vertikale P.en, den sog. Planungsverbund (in der Bundesrepublik Deutschland z. B. die gemeinsame Rahmenplanung nach Abschnitt VIII a GG). Werden P.en verschiedener Planungsträger miteinander verknüpft, kann dies grundsätzlich in Form von „negativer“ oder „positiver“ Koordination vor sich gehen; negative Koordination intendiert eine Harmonisierung verschiedener P.en, bewahrt aber die Selbständigkeit der Planungsträger, positive Koordination hingegen fügt Detailplanungen zu einer neuen Gesamtplanung zusammen. P. kann ferner kurzfristig (ein bis zwei Jahre), mittelfristig (drei bis sieben Jahre) u. langfristig sein. Totale, „flächendeckende“ P. will sich auf alle Aufgaben u. Lebensbereiche beziehen, insbes. sie gerät mit den Prinzipien einer freiheitlich-demokratischen Staats- u. Gesellschaftsordnung in Konflikt; demgegenüber beschränkt sich partielle P. auf einige Aufgaben u. Bereiche u. verlangt eine wissenschaftliche u. politische Diskussion über Kriterien der „Planungsbedürftigkeit“ (F. W. Scharpf ), in deren Verlauf auch zu räsonieren sein wird, was geplant werden muß, damit in der Zukunft  Freiheit erhalten bleibt (vgl. unten IV, 3). Zu nennen ist auch das Begriffspaar Detailplanung u. Rahmenplanung; letzterer geht es nicht um eine bis ins Detail gehende Vollständigkeit, sondern sie legt nur Eckwerte, Richtlinien fest u. erfordert daher eine selbständige weitere P. Einer französischen Terminologie folgend, die U. Scheuner für den dt. Sprachraum fruchtbar gemacht hat, wird – abgestellt auf den Grad der

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Verbindlichkeit zw. indikativer (informativer), kontraktueller (vertraglicher), influenzierender (auf das Verhalten der Adressaten wird nicht nur durch Information, sondern auch mit weiteren Mitteln, z. B. Anreizen, Vergünstigungen, Drohungen, aber ohne hoheitlichen Zwang, Einfluß genommen) u. normativer (mit hoheitlichen Zwangsmitteln durchzusetzender) P. unterschieden. Neuerdings steht insbes. die Entwicklungsplanung zur Diskussion; ihr geht es um eine Zusammenfassung aller P.en in sachlicher, zeitlicher, finanzieller u. räumlicher Hinsicht zu einer Gesamtplanung. Wegen des mitunter aufkommenden flächendeckenden Anspruchs solcher P.en wird auch von Aufgabenplanung gesprochen, bei der eine gegenüber der herkömmlichen, aufwandsbezogenen Finanzplanung stärkere Outputorientierung u. eine Integration sachlicher, finanzieller usw. Aspekte jedenfalls nur im Zusammenhang mit einzelnen Aufgaben des freiheitlichen Sozialstaates akzentuiert wird. Mitunter wird die politische P. in Zielplanung, Finanz-( Ressourcen-)Planung, Programmplanung (d. h. eine P. in der Form der Konkretisierung zu verwirklichungsfähigen Programmen), Formen integrierter P. (z. B. ressortübergreifende Fachplanungen, Querschnittsplanungen, Landesentwicklungs­planung, Legislaturperiodenprogramme) u. Realisationsplanung (d. h. Adaptierung der personellen, organisatorischen, rechtlichen usw. Strukturen des politischen Systems dahin gehend, daß P. wirksam werden kann) gegliedert. 2. Wie bereits bei der Definition des Begriffes P. (oben I, 1) zum Ausdruck gebracht worden ist, ist für P. das systematische, methodische Vorgehen typisch. Es sind daher zahlreiche Planungsinstrumente u. Planungssysteme entwickelt worden; diese Instrumente u. Systeme stützen sich ihrerseits weitestgehend auf Methoden u. Theorien, die in den  Sozialwissenschaften angewandt werden, so z. B. Messung, Verfahren der Optimierung, Evaluation, Modellanalyse, Entscheidungstheorie,  Systemtheorie usw. Beispiele für bei einzelnen Projekten verwendete Instrumente der P. sind die Netzplantechnik, die Kosten-Nutzen-Analyse (in Österreich angewandt z. B. in den Bereichen Straßenbau, Hochwasser- u. Lawinenschutz, Verteidigung; in der Bundesrepublik Deutschland schreibt z. B. § 7 Bundeshaushaltsordnung für Maßnahmen von erheblicher finanzieller Bedeutung Kosten-Nutzen-Untersuchungen vor), die Modelle zur Bewältigung von Entscheidungssituationen bei mehrfacher Zielsetzung (z. B. die Bewertungsmatrix), die Nutzwertanalyse usw. Planungssysteme sollen demgegenüber Entscheidungshilfen für Planungsvorhaben bieten, bei denen mehrere Entscheidungskomponenten berücksichtigt bzw. mehrere miteinander in Beziehung stehende Entscheidungseinheiten aufeinander abgestimmt werden müssen. Beispiele für Planungssysteme sind die Simulation als



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eine Form des Experiments auch in der Sozialwissenschaft (in Österreich ist z. B. beim Bundesministerium für Finanzen ein Finanzpolitisches Informations- u. Simulationsmodell eingerichtet, mit dessen Hilfe man budgetäre Veränderungen u. ökonomische Auswirkungen integriert darzustellen versucht), das Planungs-, Programmierungs- u. Budgetierungssystem (PPBS), das Zero-Base-Budgetierungsverfahren. Nach dem Muster von PPBS konzipiert (RCB: Rationalisation des Choix Budgetaires) ist das französische System der Planification; dabei wird P. in der Form der Selbstbindung für den öffentlichen Sektor mit indikativer P. für den privaten Sektor verknüpft. Auch in den autokratischen Regierungssystemen (z. B. in den Staaten des Ostblocks) finden sich Planungssysteme, die allerdings mit einer freiheitlichen  Demokratie nicht ohne weiteres harmonisierbar sind. Letzteres zeigt, daß in Planungssysteme nicht nur planungstechnisch-analytische, sondern auch organisatorische, politische, rechtliche usw. Elemente aufgenommen werden müssen (s. auch unten 3). Um die Möglichkeiten der Quantifizierung u. Evaluation zu verbessern u. die Zielorientierung der P. zu intensivieren, wird neuerdings versucht, die Ergebnisse der Forschung betreffend Sozialindikatoren auch der P. fruchtbar zu machen; Sozialindikatoren sind Kennziffern, die Informationen über Zustände, Bedingungen u. Veränderungen der Gesellschaft im Zusammenhang mit solchen Zielen u. Aufgaben geben, die  Lebensqualität verwirklichen helfen wollen. 3. Der Begriff wird vor allem mit Aussagen über Planungstechniken u. Planungssysteme – Planungstheorie – verbunden. Allerdings besteht über den Bedeutungsgehalt des Begriffes wenig Einigkeit. F. Naschold, dessen Systematik viele Autoren übernommen haben, unterscheidet Theorien auf handlungs-/entscheidungstheoretischer Grundlage von solchen mit polit-ökonomischem Ansatz; für die einen (Planungstheorie als Planungstechnik, als Managementtheorie, als mikro- bzw. makroökonomischer Optimierungsprozeß, als Theorie der P. als politischer Prozeß) sei P. das Ergebnis autonomer Lernprozesse des politischen Systems zur Steigerung seiner Steuerungskapazität im Hinblick auf die Balancierung relativ autonomer Subsysteme, für die anderen der „exogen bedingte Versuch der politischen Zentralagenturen“, die selbstzerstörerischen Wirkungen des Kapitalverwertungsprozesses u. seiner Nebenfolgen im sozialen System zu kompensieren (einer der Schwerpunkte dieser Richtung ist die Analyse der Restriktionen, denen P. im kapitalistischen Gesellschaftssystem unterworfen ist). F. Spreer wiederum versteht unter Planungstheorie die  wissenschaftstheoretische Fundierung der P., d. h. eine Metatheorie, mit deren Hilfe Aussagen über die im Zuge der P. getätigten Aussagen gemacht werden können.

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Planungstheorie als ein System von Aussagen über P. u. deren planungstechnische, organisatorische, rechtliche, politische usw. Bedingungen muß auf die Erkenntnisse mehrerer Disziplinen zurückgreifen; sie zählt jedenfalls zu den integrativ arbeitenden Wissenschaften u. ist daher auch mit jenen wissenschaftstheoretischen Problemen konfrontiert, denen solche Wissenschaften, z. B. die  Verwaltungswissenschaft, gegenüberstehen.

III. Entwicklung u. gegenwärtige Situation 1. P. ist kein modernes Phänomen. Insbes. die Kriegführung u. das Haushalts- u. Finanzwesen sind Bereiche staatlichen Handelns, in denen immer schon P. betrieben worden ist; beispielsweise sei auf den 1720 erstellten elfjährigen Voranschlag „pro militari“ verwiesen, mit dessen Hilfe man der durch den Spanischen Erbfolgekrieg verursachten Verschuldung Herr zu werden versuchte. Allerdings muß heute von P. als einer neuen Dimension gesprochen werden; zum einen ist sie im Begriff, sich auf alle Bereiche öffentlicher Aufgabenerfüllung (von der Raumordnung über die  Wirtschafts- u.  Sozialpolitik bis zur  „Gesellschaftspolitik“ schlechthin) auszudehnen, zum anderen muß sie sich in Konfrontation mit verwissenschaftlichten Techniken u. Systemen der P. (oben II, 2) vollziehen. Die Gründe für die Intensivierung des Planungsgeschehens sind vielfältig. Die differenzierter u. umfangreicher gewordenen Bedürfnisse des Menschen, für deren Befriedigung heute u. in der Zukunft der  Staat sorgen muß, führen zu häufigeren u. intensiveren Widersprüchen auf der Ebene öffentlicher Aufgaben. Interdependenzen u. Rückkoppelungen zw. den Elementen des politischen Systems nehmen zu. Sozialwissenschaften u. Sozialtechnik fördern Wissen zutage u. entwickeln Technologien (z. B. EDV-Anlagen), mit deren Hilfe man auch das – in einem beschleunigten Wandel befindliche – soziale u. politische Geschehen zu Y-beherrschen hofft. Neben- u. Spätfolgen gesetzter Maßnahmen können immer weniger überschaut werden. Punktuelle Interventionen kurieren vielfach nur Symptome. Die an den Staat herangetragenen Wünsche laufen den verfügbaren Ressourcen davon. Die wachsende Unüberschaubarkeit staatlicher Aufgabenerfüllung läßt den Zusammenhang, in dem Staatsleistungen untereinander stehen, in den Hintergrund treten; Einzelinteressen beanspruchen daher den Ressourcenrahmen oft unabhängig vom Stellenwert, der ihnen von Gemeinwohlüberlegungen ausgehend zuzubilligen wäre. Auch zeigen die Erkenntnisse der Ökologie, wie sehr wir auf Kosten unserer Nachkommen leben, obwohl mehr denn je von Zukunft die Rede ist. All diese Entwicklungen stellen an die Steuerungs- u. Problemlösungskapazität des politischen Systems erhöhte Anforderungen u. sind damit Ursachen für



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das Anwachsen der Dimension der P., die ihrerseits wiederum durch die Dynamik u. die Komplexität des politischen Systems vor fast unlösbare Probleme gestellt wird. 2. Im Oktober 1962 veröffentlichte die EWG-Kommission ein Memorandum betreffend das Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die zweite Ausbaustufe, in dem Vorschläge betreffend eine längerfristige Vorausschau u. eine Indikative Programmierung der Wirtschaftsentwicklung in den Ländern der Gemeinschaft enthalten waren. An diesem Memorandum entzündete sich in der Bundesrepublik Deutschland eine Grundsatzdiskussion über die Vereinbarkeit von P. mit den Prinzipien der sozialen  Marktwirtschaft. Bereits ein Jahr später sind Bemühungen feststellbar, in einer Abteilung des Bonner Kanzleramtes ein Referat für politische P. einzurichten. Diese zunächst noch zögernd gesetzten Schritte, sich der P. zu bedienen, um das Entscheidungsverfahren zu rationalisieren, waren der Beginn eines Pendelschlages weg von der nach den Erfahrungen mit dem totalitären Regime des  Nationalsozialismus u. angesichts der Zentralverwaltungswirtschaft  kommunistischer Staaten verständlichen Planungsphobie der Nachkriegszeit hin zur Planungseuphorie der Zeit zw. 1968 u. 1973. Wurzeln dieser Euphorie liegen u. a. im Fortschrittsoptimismus der Wiederaufbauphase u. im Glauben daran, mit Hilfe der Sozialwissenschaften u. eines „social engineering“ das soziale u. politische Geschehen beherrschen zu können. Es kommt daher auch nicht von ungefähr, daß mitunter zw. dem Wechsel zu sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Regierungen u. der Planungseuphorie der späten sechziger u. der ersten siebziger Jahre ein Zusammenhang vermutet wird. Die Energiekrise des Herbstes 1973, das Ende des wirtschaftlichen Höhenfluges, das Wirksamwerden der negativen Effekte des primär an Quantität orientierten Wirtschaftswachstums (z. B. Zerstörung der Umwelt, Kahlschläge in der „Innenwelt“ des Menschen durch Reduktion des Lebenssinnes auf ökonomischmaterielle Werte) usw. haben das Vertrauen in die Problemlösungskapazität der  Technokratien im allg. u. der Sozialtechnik im bes. schwinden lassen. Hinzu kommt, daß P. den politischen  Konflikt intensiviert. So hat z. B. der mit P. verbundene Machtzuwachs von  Regierung u.  Verwaltung das  Parlament u. die planungsbetroffenen Bürger, die beide ihre Mitwirkungsrechte bedroht sehen, auf den Plan gerufen. Relativ rasch ist daher an die Stelle von Planungseuphorie Resignation getreten. 3. Weiter fortgeschritten ist P. in der Bundesrepublik Deutschland. Planungsstäbe in den Ministerien, die 1967 für Bund u. Länder durch das Stabilitätsgesetz u. das fünfzehnte Gesetz zur Änderung des GG eingeführte mittelfristige Finanzplanung

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(in der Zwischenzeit haben die Gemeindeordnungen auch die Gemeinden verpflichtet, Budget u. Investitionen mittelfristig zu planen), Ansätze einer Aufgabenplanung (z. B. interministerieller Arbeitskreis von Planungsbeauftragten; Frühkoordinationssystem für Arbeits- u. Reformvorhaben der Bundesregierung) sind Elemente des bundesdt. Planungssystems. Hinzu kommen zahlreiche Fachplanungen (darunter auch jene vertikalen, die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben – Art. VIII a GG – getätigt werden), Querschnittsplanungen (z. B. Raumplanung) usw. Einige Bundesländer (z. B. Hessen, Nordrhein-Westfalen) haben Entwicklungspläne aufgestellt. Auch die Schweiz hat ein relativ differenziertes Planungsinstrumentarium. Zu nennen sind z. B. der vom Bundesrat zu Beginn einer neuen Legislaturperiode der Bundesversammlung vorzulegende Bericht über die Richtlinien der Regierungspolitik, der erstmals für 1975–1979 die Richtlinien mit der 1968/69 gesetzlich eingeführten mittelfristigen Finanzplanung verknüpft hat u. verschiedene Dringlichkeitsstufen ausweist, weiters z. B. die Gesamtverkehrs- u. die Gesamtenergiekonzeption als Fachplanungen u. Raumordnungskonzepte bzw. -programme als Querschnitts­planungen. In den Richtlinien für die Verwaltungsführung im Bunde aus 1974 ist die P. als einer der Führungsakte des Führungsprozesses ausgewiesen. Das kürzlich beschlossene Verwaltungsorganisationsgesetz sieht Stabsstellen des Bundesrates u. der Departemente vor u. überträgt ihnen Planungsaufgaben. Schließlich ordnet das Mitte 1979 erlassene Bundesgesetz über die Regierungsrichtlinien u. den Finanzplan beide genannten Instrumente einander zu u. legt fest, wie sie dem Parlament vorzulegen sind bzw. welche Rechte das Parlament im Zusammenhang mit diesen Regierungsakten hat. In Österreich gibt es auf Bundes- u. Landesebene nur (weitestgehend rechtlich nicht geregelte) Ansätze mittelfristiger Finanzplanung (z. B. Budgetvorschauen, Investitionsprogramme); neuerdings verpflichten einige Gemeindehaushaltsordnungen (in Kärnten, Steiermark u. Oberösterreich) größere Gemeinden zu solcher P. Häufiger sind Machplanungen u. insbes. Pläne u. Programme auf dem Gebiet der  Raumordnung. Das Bundesministeriengesetz 1973 nennt im Zusammenhang mit der Festlegung des Wirkungsbereichs der Bundesministerien u. a. die P. u. schafft die Grundlage für die Einrichtung von ressorteigenen Planungsstäben. Tatsächlich bestehen in einigen Ministerien solche Planungseinheiten. Zu nennen sind weiters auch interministerielle Komitees als Koordinationsinstrumente ( Regierung). 4. Die in letzter Zeit festzustellende Beruhigung der Planungsemotionen bietet eine günstige Ausgangslage dafür, P. u. deren Bedingungen nüchtern zu analysieren, die Leistungsfähigkeit der P. als Problemlösungsstrategie realistisch abzustecken u. den Ausbau des Planungsinstrumentariums pragmatisch zu betreiben.



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Diskutiert bzw. erwartet werden z. B. die Weiterentwicklung der Planungstechniken u. Planungssysteme, eine stärker an P. orientierte Regierungs- u. Verwaltungsreform, die Verbesserung der Mitwirkungs- u. Kontrollmöglichkeiten der Parlamente u. der Planbetroffenen, eine wirksamere Koordination der verschiedenen Planungsträger, das Anwachsen des Planungsrechtes, eine Beschränkung der P. auf einige wenige Aspekte bzw. Bereiche u. eine Vereinfachung perfektionistisch konzipierter P., z. B. der vielstufigen Plänehierarchie der Raumordnung. In der  Raumplanung fordert man seit einiger Zeit den Planwertausgleich. Aus der verfassungsrechtlichen  Eigentumsgarantie wird abgeleitet, daß der Eigentümer eines Grundstückes von der öffentlichen Hand entschädigt werden muß, wenn durch P. eine Wertminderung – der Flächenwidmungsplan verhindert z. B. die Bebauung eines als Bauland geeigneten Grundstückes – verursacht wird. Fast alle Raumordnungsgesetze der österr. Bundesländer enthalten denn auch umfangreiche Entschädigungsbestimmungen. Andererseits lösen Akte der Raumplanung u. sonstige städtebauliche Maßnahmen (z. B. Aufschließung, Ausbau von Infrastruktur usw.), die von der öffentlichen Hand finanziert werden müssen, auch Wertsteigerungen bestimmter Grundstücke aus, ohne daß allerdings in Österreich ein solcherart bedingter Mehrwert abgeschöpft wird. Man will nun mit Hilfe des Instrumentes eines Planwertausgleiches (bzw. einer bes. Bodenwertzuwachssteuer) unverdiente Gewinne sozialisieren u. hofft, dadurch einerseits neue Finanzmittel für städtebaulich notwendige Maßnahmen zu erschließen, andererseits den Bodenpreis niedrig zu halten, was zu einem Steigen des Bodenangebots u. damit zu größerer Mobilität auf dem Bodenmarkt führen könnte. Ansätze eines Planungswertausgleichs finden sich im bundesdt. Städtebauförderungsgesetz von 1971. Auch das 1976 von den Stimmbürgern abgelehnte Schweizer Raumplanungsgesetz hat Bestimmungen über die Mehrwertabschöpfung enthalten.

IV. Aktuelle Probleme 1. a) In der staatstheoretischen Diskussion ist u. a. strittig, ob P. einer der bekannten Staatsfunktionen (Gewalten) zugeordnet werden könne oder eine vierte Gewalt sei, weil – so z. B. J. H. Kaiser – in der P. eine „Plangewalt“ hervortrete, die im überlieferten System der  Gewaltenteilung noch nicht ihren Platz gefunden habe. Kaiser sieht übrigens im Plan auch eine dritte Handlungsform der öffentlichen Gewalt neben Norm, d. h. z. B. Gesetz, u. Verwaltungsakt. Es dürfte allerdings mehr dafür sprechen, keine vierte oder n-te Gewalt anzunehmen, sondern – auf der Grundlage eines Vergleichs der Funktionen, die die P. einerseits u. die herkömmlich genannten Gewalten andererseits erfüllen – politische P. der  Regierung (im funktionellen Sinn) u. Verwaltungsplanung der  Verwaltung zuzuordnen.

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3. Wissenschaft

b) Folgt man einer solchen Zuordnung, so sind damit allerdings noch nicht alle politik-, verwaltungs- u. rechtswissenschaftlichen Fragen betreffend P. beantwortet. Politische P. gerät z. B. in rechtlicher Hinsicht in Spannung mit Grundsätzen des  Bundesstaates u. der  Gemeindeautonomie, des  parlamentarischen Systems u. der  Gewaltenteilung (s. unten 2), der Organisation von  Regierung u.  Verwaltung. Verwaltungsplanung bedarf insbes. der Harmonisierung mit  rechtsstaatlichen Grundsätzen, wie z. B. Legalitätsprinzip, Rechtsschutz usw., was z. B. wegen der finalen Programmierung der P. – d. h., die administrative Entscheidung wird mehr oder minder nur durch Festlegung von anzustrebenden Zielen determiniert – Probleme aufwirft; nicht übersehen werden dürfen allerdings die Anforderungen betreffend Mitwirkungsmöglichkeiten des Bürgers, die die Affinität von  Rechtsstaat u.  Demokratie einerseits, das demokratische Prinzip andererseits auch an Verwaltungsplanung stellen. Die  Politikwissenschaft wiederum muß sich den Beziehungen zw. P. einerseits u. der demokratischen  Legitimation, den Verfahren der  Konfliktaustragung u.  Konsensbildung, den Erfordernissen der / Kontrolle u. Mitwirkung durch  Parlament, politische  Parteien,  Verbände, Öffentlichkeit, Planungsbetroffene, ferner der Rolle des Sachverstandes bei der P., d. h. dem  Technokratieproblem andererseits widmen. Verwaltungswissenschaftlich interessiert die im Zusammenhang mit P. optimale Organisation des politisch-administrativen Entscheidungsverfahrens bzw. der Regierung u. der Verwaltung; dabei spielt u. a. der hohe Koordinationsbedarf der P. – Ziele, Planungsträger, Zeithorizonte, Maßnahmen usw. müssen koordiniert werden – eine bes. Rolle. Weiters stellt die Verwaltungswissenschaft die Frage, welche personellen, organisatorischen u. rechtlichen Strukturen reformiert werden müssen, damit geplant werden kann, ferner müssen die Bedingungen der Realisation planungsorientierter Reformen (d. h. der Regierungs- u. Verwaltungsreform) genau analysiert werden. 2. a) Für das Regieren als oberster, herrschaftlicher Leitung des Staates u. initiativer, richtungweisender Gestaltung der sozialen, wirtschaftlichen u. politischen Ordnung gelten in den konstitutionell-demokratischen Regierungssystemen ( Regierung) u. a. die Grundsätze parlamentarisch-demokratischer Legitimation u. der Gewaltenteilung. Es ist daher problematisch, vom „genuin exekutivischen“ Charakter der P. zu sprechen u. sie damit der Regierung (als Organ) bzw. der Verwaltung vorzubehalten; vielmehr bedarf jedenfalls die politische P. als Regierung im funktionellen Sinn der Plangewaltenteilung dahin gehend, daß an politischer P. Regierung u. Parlament beteiligt werden. Zur Diskussion stehen eine Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten des Parlaments – notwendig ist eine frühzeitig



3.3. Planung

305

einsetzende u. begleitende  Kontrolle, damit die P. der Regierung nicht Sachzwänge schafft, denen sich das Parlament nicht mehr entziehen kann – u. die Einräumung parlamentarischer Mitwirkungs- u. Beschlußrechte. b) In der Bundesrepublik Deutschland liegen bereits zahlreiche Analysen, Reformvorschläge u. Gesetzesvorhaben betreffend das Problem der Beteiligung des Parlaments an politischer P. vor. Zu erwähnen sind insbes. die Beschlüsse des 50. Dt. Juristentages u. die beiden Berichte der Enquete-Kommission Verfassungsreform, ferner die Entwürfe von Planungskontrollgesetzen, z. B. in NordrheinWestfalen (1971, 1976), Berlin (1971, 1973, 1976), Rheinland-Pfalz (1973), BadenWürttemberg (1975), Bayern (1977). Die Entwürfe enthalten z. T. weitgehende Rechte des Parlaments, so z. B. die Verpflichtung der Regierung zur Vorlage von Alternativplänen; die Planungsinitiative des Parlaments in der Form des Rechtes der Aufforderung gegenüber der Regierung, Pläne für einen bestimmten Sachbereich zu erstellen; die Kompetenz zur beschlußmäßigen Festlegung der allg. Ziele u. Leitlinien für den jeweiligen Planbereich; die Kompetenz des Landtages zum abschließenden Planbeschluß; auch wird die Verankerung von Minderheitenrechten vorgeschlagen. Zu verweisen ist ferner noch auf einen Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der parlamentarischen Kontrolle, der von der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft erstellt worden ist u. der insbes. Vorschriften über Zeitpunkt, Inhalt u. Form der Unterrichtung des Parlaments betreffend P. aufweist. Eine Aufwertung des Parlaments bei der P. liegt schließlich einer Novelle des Landesplanungsgesetzes von Baden-Württemberg (1975) u. einem Beschluß des Abgeordnetenhauses von Berlin über Grundsätze zur Weiterentwicklung der P. (1977) zugrunde. c) In der Schweiz verlangte eine Kommission des Nationalrats in ihrem Bericht zu einer parlamentarischen Initiative über Regierungsrichtlinien u. Finanzplanung, die Koordination von Regierungsrichtlinien u. Finanzplan sowohl inhaltlich als auch in bezug auf die Behandlung in den eidgenössischen Räten zu verbessern, die Einflußnahme der Bundesversammlung auf diese Hilfsmittel der Staatsführung maßvoll zu verstärken u. das Zusammenwirken von Parlament u. Regierung in grundsätzlichen Belangen zu vertiefen (1978). Die Vorschläge der Kommission betreffend einer diesbezüglichen Änderung des Geschäftsverkehrsgesetzes, des Finanzhaushaltsgesetzes u. des Geschäftsreglements des Nationalrates – sie sind primär an der Notwendigkeit frühzeitiger u. begleitender Kontrolle orientiert – fanden bereits die Zustimmung des Bundesrates (d. h. der Regierung); ein diesbezügliches Gesetz ist vor kurzem erlassen worden (vgl. oben III, 3).

306

3. Wissenschaft

3. Bedingt durch die Sachgesetzlichkeiten der P. kann es zu einer intensiveren Bindung zukünftiger Entscheidungsträger kommen, als dies ohne P. der Fall wäre. Liegen nämlich der P. keine zuverlässigen Analysen u. Prognosen oder bewußt verfälschte Daten zugrunde, wächst die Gefahr, daß zukünftige Veränderungen nur so weit akzeptiert werden, als sie in die P. passen, d. h., daß P. zu einer die Gegenwart zwangsweise fortschreibenden „selffulfilling prophecy“ wird. Weiters setzen rechtliche u./oder politische Bedingungen der jederzeitigen Veränderbarkeit von P. eine Grenze. Ausdruck des Schutzes der Interessen Dritter, die ihre Dispositionen an der P. ausgerichtet haben, sind z. B. jene Bestimmungen der Raumordnungsgesetze der österr. Bundesländer, die die Abänderung von P. an bestimmte Bedingungen knüpfen. Darüber hinaus ist P. funktional darauf gerichtet, alle planungsrelevanten Maßnahmen zu koordinieren u. in weiterer Folge auch zu integrieren. Bindungswirkung resultiert aber auch daraus, daß sich P. aus verschiedenen Konkretisierungsstufen zusammensetzt, die im Sinne vermischter Regelkreise miteinander verbunden sind. Wird die P. einer Stufe verändert, so müssen auch alle anderen Planungsstufen verändert werden. Schließlich werden durch P. mitunter gegenwärtige Wünsche u. Bedürfnisse auch für die Zukunft festgeschrieben. Die Bindungswirkung kann insbes. im Zusammenhang mit der Ressourcenplanung veranschaulicht werden. Verplant man zur Befriedigung heutiger Wünsche u. Bedürfnisse für die nächsten Jahre alle vorhandenen u. erschließbaren Ressourcen, sind andere Bedürfnisse mangels Ressourcen gar nicht mehr finanzierbar. Das konstitutionell-demokratische Regierungssystem ( Regierung) verpflichtet jedoch auch zur Gewaltenteilung in der Zeit (W. Kägi), d. h. zur Obsorge dafür, daß auch zukünftigen Generationen ein freies politisches Leben, eine Veränderung der Politikinhalte entsprechend den zukünftigen Wünschen, Bedürfnissen u. Situationen möglich ist. An dieser Anforderung des konstitutionell-demokratischen Regierungssystems ist auch P. zu orientieren. Nicht zuletzt wegen der Notwendigkeit der Gewaltenteilung in der Zeit ist somit auch gegenwärtig nur partielle P. möglich, muß die Diskussion um die Planbedürftigkeit (vgl. oben II, 1 b) auch dahin gehend geführt werden, daß die Zukunft entsprechend zukünftigen Wähleraufträgen gestaltet werden kann, u. obliegt es der P., Ressourcen auch der Zukunft zur Verfügung zu stellen. Lit.: Freyer, H., Herrschaft u. P. Hamburg 1933 – Imboden, M. / Obermayer, K., Der Plan als verwaltungsrechtliches Institut, in: VVDStRL, H. 18. Berlin 1960, 113 ff., 144 ff. – Kaiser, J. H. (Hrsg.), P., 6 Bde. (Bd. 5: Coing, H., als zweiter Hrsg.). Baden-Baden 1965 ff. – Scheuner, U., Verfassungsrechtliche Probleme einer zentralen staatlichen P., in: Kaiser, J. H. (Hrsg.), P., Bd. I. Baden-Baden 1965, 67 ff. – Wenger,



3.3. Planung

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K., Rechtsfragen der Wirtschaftsplanung in Österreich, in: Kaiser, J. H. (Hrsg.), P., Bd. 1. Baden-Baden 1965, 123 ff. – Berichte u. sonstige Arbeiten der Projektgruppe Regierungs- u. Verwaltungsreform beim Bundesminister des Inneren seit Dezember 1968 (aufgelistet in BT-Drs. 7/2887, 78 f.) – Harnischfeger, H., P. in der sozialstaatlichen Demokratie. Neuwied 1969 – Vente, R. E. / Seul, D., Makro-ökonomische P. Eine Bibliographie. Baden-Baden 1970 – Weber, W. / Windisch, R., Ökonomische u. institutionelle Gesichtspunkte rationaler Haushaltsplanung. Wien 1970 – Wille, E., P. u. Information. Berlin 1970 – Bauer, H., Die mittelfristige Finanzplanung. Wien 1971 – Egerer, J., Der Plangewährleistungsanspruch. Baden-Baden 1971 – Korinek, K., Verfassungsrechtliche Aspekte der Raumplanung. Linz 1971 – Lompe, K., Gesellschaftspolitik u. P. Freiburg/Br. 1971 – Luhmann, N., Politische P. Opladen 1971 – Rechtsprobleme der Planungsfolgen. Wien o. J. (1971) – Ronge, V. / Schmieg G. (Hrsg.), Politische P. in Theorie u. Praxis. München 1971 – Böckenförde, E.-W., P. zw. Regierung u. Parlament, in: Der Staat (111972), 429 ff. – P. in Politik u. Verwaltung in der Bundesrepublik Deutschland (Bibliographie). Bonn 1972 – Rohr, R., Die Finanzplanung der öffentlichen Hand in staatsrechtlicher Sicht. Zürich 1972 – Schweizerisches Jb. für Politische Wissenschaft 1972, 2. Schwerpunktthema: Öffentlichkeit u. P. in der Demokratie – Tenbruck, f. H., Zur Kritik der planenden Vernunft. Freiburg/Br. 1972 – Zunker, A., Finanzplanung u. Bundeshaushalt. Frankfurt/Main 1972 – Hauser, H. / Nyffeler, P., Die längerfristige Finanzplanung in der Gemeinde. Bern 21973 – Mayntz, R. / Scharpf, F. (Hrsg.), Planungsorganisation. München 1973 – Naschold, F. / Väth, W., Politische Planungssysteme. Opladen 1973 – Regierungsprogramme u. Regierungspläne. Berlin 1973 – Ronge, V. / Schmieg, G., Restriktionen politischer P. Frankfurt/Main 1973 – Schäfers, B.. (Hrsg.), Gesellschaftliche P. Stuttgart 1973 – Scharpf, F. W., P. als politischer Prozeß. Frankfurt/Main 1973 – Bebermeyer, H., Regieren ohne Management? Stuttgart 1974 – Becker, U./Thieme, W. (Hrsg.), Hdb. der Verwaltung. Köln 1974 ff. – Buse, M. J., Integrierte Systeme staatlicher P. Baden-Baden 1974 – Buse, M. J. / Dewitz, D. v., Bibliographie zur politischen P. Baden-Baden 1974 – Staatliche Finanzplanung im internationalen Vergleich. Teil I. o. O., o. J. (Wien? 1974?) – Gresser, K., Probleme der mehrjährigen öffentlichen Finanzplanung. Berlin 1974 – Gutachten (F. Ossenbühl) u. Sitzungsbericht (Referate v. Kaiser, J. H. u. Rietdorf, F.) des 50. DJT zum Thema: Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung? München 1974 – Hoenisch, H. J., Planifikation. Berlin 1974 – Linder, W. / Vetterli, R., Möglichkeiten u. Grenzen politischer P. in der Schweiz. Zürich 1974 – Pfister, W. E., Regierungsprogramme u. Richtlinien der Politik. Bern 1974 – Scharpf, F., Probleme der politischen Aufgabenplanung. Köln 1974 – Schatz, H., Politische P. im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 1974 – Scheuner, U., Zur

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3. Wissenschaft

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3.3. Planung

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1978 – Vitzthum, W. Graf, Parlament u. P. Baden-Baden 1978 – Khol, A. (Hrsg.), Macht u. Kontrolle. Wien o. J. (1979) – Küng, E., Wege u. Irrwege in die Zukunft. Stuttgart 1979 – Lendi, M. / Linder, W. (Hrsg.). Politische P. in Theorie u. Praxis. Bern 1979 – Linder, W., u. a., P. in der schweizerischen Demokratie. Bern 1979 – Würtenberger, Th., Staatsrechtliche Probleme politischer P. Berlin 1979

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3. Wissenschaft

3.4. Christian Brünner, Verbände

in: Klose/Mantl/Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon2, Graz/Innsbruck 1980, Spalten 3137–3166

I. Begriff 1. V. sind organisierte  Gruppen in der  Gesellschaft, die sich um bestimmte materielle u./oder immaterielle  Interessen bilden u. die ihre Organisation einsetzen, um diese Interessen einerseits verbandsintern wahrzunehmen u. zu befriedigen, andererseits gegenüber dem Regierungsbereich ( Parlament,  Regierung, Ministerialbürokratie), den politischen  Parteien, den anderen V.n, der  öffentlichen Meinung zu vertreten u. durchzusetzen (Interessenverbände). V. entfalten dabei zunehmend auch transnationale Aktivitäten (transnationale Verbandszusammen­schlüsse, transnationale Interessenvertretung). Auf die Rechtsform (Verein, Körperschaft öffentlichen Rechts) kommt es beim politikwissenschaftlichen Begriff „V.“ nicht an. Die Begriffe Lobby (das Antichambrieren des Interessenvertreters in der Vorhalle – Lobby – des Parlaments) u. Pressure group (das Ausüben von Druck auf Entscheidungsträger) stellen zu einseitig auf Adressat bzw. Methode der Einflußnahme ab. Demgegenüber bringt der Begriff intermediäre Gruppen zum Ausdruck, daß die Dichotomie von  Staat u.  Gesellschaft durch einen dazwischen liegenden (dritten) Bereich des „Öffentlichen“ (unten II. 2) relativiert wird u. die V. als Vermittler zw. Staat u. Individuum fungieren. V. in Österreich sind insbes. die Kammern der gewerblichen Wirtschaft, die Kammern für Arbeiter u. Angestellte, der Österr. Gewerkschaftsbund u. die als Verein gegründete Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern (Mitglieder des Vereins sind die neun Landwirtschaftskammern u. der Österr. Raiffeisenverband), die auch die „Großen Vier“ genannt werden u. die die wichtigsten Träger der  Sozialpartnerschaft sind, ferner die Vereinigung Österr. Industrieller, der Konsum Österreich, der Österr. Raiffeisenverband, der Kath. Familienverband, der Verein für Konsumenteninformation usw. Zu den V.n zählen auch jene Vereinigungen, deren Mitglieder Gebietskörperschaften sind (z. B. Verbindungsstelle der Österr. Bundesländer, Österr. Städtebund, Österr. Gemeindebund). 2. Keine V. sind die politischen  Parteien. Im Unterschied zu den V.n wollen



3.4. Verbände

311

sie in den Institutionen des Regierungsbereichs unmittelbar Macht ausüben u. Verantwortung tragen. Sie dokumentieren dieses Wollen durch die regelmäßige Teilnahme an Wahlen zu allg. Vertretungskörpern (so verliert z. B. gem. § 2 des dt. Parteiengesetzes eine Vereinigung ihre Rechtsstellung als Partei, wenn sie sechs Jahre lang weder an einer Bundestagswahl noch an einer Landtagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat; das österr. Parteiengesetz, BGBl. 1975/404, beinhaltet zwar keine analoge Bestimmung, knüpft aber die Zuwendung von Förderungsmitteln für Zwecke der Öffentlichkeitsarbeit an den Sachverhalt, im Nationalrat vertreten zu sein oder bei einer Wahl zum Nationalrat mehr als 1 Prozent der gültigen Stimmen erhalten zu haben). Die politischen Parteien müssen somit auch jene Entscheidungen dem Wähler gegenüber verantworten, die auf die Einflußnahme von V.n zurückzuführen sind. Außer den politischen Parteien werden ferner Organisationen, deren Aktionsfeld ausschließlich der Markt ist (z. B. Kapitalgesellschaften, Kartelle, Monopole, Holdings usw.), nicht zu den V.n gezählt. Allerdings wird mitunter die Auffassung vertreten, daß auch größere Unternehmen eine „intermediäre Gewalt“ darstellten u. – ähnlich den V.n – in die Sphäre des „Öffentlichen“ (unten II. 2) hineingewachsen seien. 3. Strittig ist, ob die  Kirchen den V.n zugeordnet werden können. Adressat des kirchlichen Wirkens ist nicht nur der (ganze) Mensch, der sich in Freiheit dem Willen Gottes unterwerfen kann, u. der es, wenn er dies tut, als ganzer Mensch, in seinem privaten wie öffentlichen Wirken tun muß. Weil der Mensch eingebettet ist in eine ganz bestimmte soziale u. politische Ordnung, haben die Kirchen rel. u. sittliche Wahrheiten u.  Werte auch in die Auseinandersetzung darüber einzubringen, wie diese Ordnung beschaffen sein soll. Dabei müssen sich die Kirchen oftmals wie V. verhalten (K. v. Beyme; E. G. Mahrenholz). Andererseits erlauben es die im Transzendentalen wurzelnden kirchenspezifischen Charakteristika, die Kirchen von den V.n abzugrenzen, ein Sachverhalt, dem in Österreich auch in den Art. 14 bis 16 StGG über die allg. Rechte der Staatsbürger, RGBl. 1867/142, durch einen über die bloße Vereinsfreiheit hinausgehenden Grundrechtsschutz Rechnung getragen worden ist. 4. Neue Formen organisierter Einflußnahme auf Institutionen des politisch-administrativen Systems sind insbes. die  Bürgerinitiativen. Zum Unterschied von den V.n vertreten Bürgerinitiativen in der Regel kurzfristig relevante Interessen u. haben eine weniger ausgeprägte Organisation; Adressat ihrer Einflußnahme ist überwiegend die  Verwaltung auf kommunaler u. regionaler Ebene (überregionale Bedeutung erringen sie allerdings im Zusammenhang mit Umweltschutzpro-

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3. Wissenschaft

blemen im allg. u. der Errichtung von Atomkraftwerken im bes.). Bürgerinitiativen sind daher im großen u. ganzen keine V.

II. Verbandsforschung 1. Anders als in den angloamerik. Ländern, in denen die politikwissenschaftliche Verbandsforschung seit Jahrzehnten gepflogen wird, beginnt eine vorurteilsfreiere politikwissenschaftliche u. staatstheoretische Analyse des Verbandsphänomens im deutschsprachigen Teil Kontinentaleuropas – nach einer Rezeption gerade angloamerik. pluralismustheoretischer Forschungsansätze – erst in den fünfziger Jahren (Schweiz: z. B. E. Gruner; Bundesrepublik Deutschland: z. B. R. Breitling, E. Fraenkel, J. H. Kaiser, U. Scheuner), in Österreich sogar erst Anfang der sechziger Jahre (z. B. G. E. Kafka), sieht man von einigen vorangehenden wirtschaftswissenschaftlichen (z. B. Wilhelm Weber, Th. Pütz) u. soziologischen (z. B. A. Burghardt) Arbeiten ab, die auch politikwissenschaftliche Aspekte beinhalten. Ursache dieser Verzögerung sind u. a. der Einfluß, den staatstheoretische u. sozialphil. Lehren ausüben. So sieht z. B. G. F. W.  Hegel im  Staat die Inkarnation des objektiven Geistes, die Wirklichkeit der sittlichen Idee, die die  Gesellschaft als das System der Bedürfnisse überwölbe. Für J. J.  Rousseau ist  Demokratie die Herrschaft des als Einheit verstandenen, mit einem einheitlichen (Gemeinwohl-)Willen ausgestatteten Volkes über sich selbst; in konsequenter Exekution dieses Gedankens verbietet ein französisches Gesetz von 1791 (die loi Le Chapelier) alle Arten von Vereinigungen der Bürger desselben Standes u. desselben Berufes, damit niemandem erlaubt sei, die Bürger durch Korporationsgeist den öffentlichen Angelegenheiten zu entfremden. Ausgehend von solchen Positionen kann dann das Wirken der V. nur als „Kolonisation des Staates durch partikulare Interessen“, „Demontage des Staatlichen im Staat“ (Werner Weber) oder als „Gruppenegoismus“ angesichts von „Staatsautorität“ (Th. Eschenburg) gedeutet werden. Vor allem in Österreich kommt hinzu, daß die Reduktion des Staatsphänomens auf die als Einheit gedachte Rechtsordnung (H. Kelsen) zu einer Vorherrschaft (verfassungs)rechtsdogmatischer Forschung führt, die sich angesichts der wachsenden politischen Bedeutung der V. zunächst den rechtlich bes. konturierten V.n, den Kammern, zuwendet u. von einer „Entwicklung zum Kammerstaat“ spricht (L. Adamovich u. H. Spanner), ohne daß jedoch dieser Forschungsansatz – wie in der Bundesrepublik Deutschland – zu einer staatstheoretischen (-rechtlichen) Lehre des „Öffentlichen“ als eines selbständigen Bereichs zw. Staat u. Gesellschaft führt; in den sechziger Jahren unternimmt dann die Verfassungsrechtswissenschaft den Versuch, die als immer gravierender erkannte Kluft zw. Verfassungsrecht u. Verbändewirklichkeit durch Vorschläge, die auf eine Integration der V. in die Ver-



3.4. Verbände

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fassungsrechtsordnung zielen, zu reduzieren (H. R. Klecatsky, R. Marčić, Schambeck, K. Wenger, G. Winkler u. a.), u. setzt damit Impulse für eine methodenpluralistische Aufarbeitung des Verbändephänomens. 2. Zur umfassenderen Beschreibung u. Erklärung des Verbändephänomens bedarf es neben der politikwissenschaftlichen Verbandsforschung allerdings jedenfalls auch rechtswissenschaftlicher, soziologischer u. historischer Verbändeanalysen u. einer Staatstheorie, die sich sowohl rechtswissenschaftlicher wie auch gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse bedient.

III. Entstehung u. Entwicklung der Verbände In der alteuropäischen Gesellschaft des Ancien régime dominieren Grundherrschaft, Zunft,  Gemeinde u.  Stand als Sozialformen genossenschaftlichen Charakters, in denen nur derjenige Rechte ausüben kann, der Herrschaft über ein eigenes Haus hat. Die Veränderungen in der wirtschaftlichen, sozialen u. politischen Ordnung im 18. u. 19. Jh., die zur industriellen Gesellschaft geführt haben, setzen in der Folge Interessen frei, die Anlaß zur Gründung von V.n wurden. 2. Unter dem Einfluß  merkantilistischer u.  physiokratischer Lehren u. der tristen wirtschaftlichen Lage des Staates nach den Napoleonischen Kriegen wird das den wirtschaftlichen Fortschritt hemmende Zunftwesen durch legislative Maßnahmen zurückgedrängt u. durch die Förderung zunftbefreiter Produktions- u. Dienstleistungsbetriebe in der Form von Fabriken u. Manufakturen unterlaufen. Der den Verein bekämpfende u. reglementierende Staat ermuntert sogar zur Gründung wirtschaftlicher Assoziationen. So ergeht 1763 in Österreich eine allerhöchste Aufforderung an gelehrte u. praktische Landwirte, ökonomische Gesellschaften für die Hebung der Landwirtschaft zu gründen; 1817 ein Hofdekret, das die Förderung der Industrie u. des Landbaues durch das Assoziationswesen mit Rücksicht auf die Erschöpfung der Kräfte des Staates geradezu als patriotisches Unternehmen bezeichnet (1767: K. k. patriotisch-ökonomische Gesellschaft in Graz; 1829: Verein zur Ermunterung des Gewerbsgeistes in Böhmen; 1838/40 Niederösterreichischer Gewerbeverein). Mit der wirtschaftlichen Bedeutung solcher Assoziationen wachsen zugleich die Möglichkeiten ihrer politischen Einflußnahme: Die durch Gesetz von 1850 gesamtösterr. eingerichteten Handels- u. Gewerbekammern bilden nach der Verfassung von 1867 eine der vier Kurien des Abgeordnetenhauses des Reichsrates; zuvor waren sie bereits in den Landtagen vertreten.

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3. Wissenschaft

3. Schon unter der Herrschaft der Zünfte versuchen die dem Meister unterworfenen u. dem „Haus“ eingegliederten Gesellen, sich in Bünden zusammenzuschließen, jedoch mit wenig Erfolg. Erst die Auflösung der Zunftordnung u. der Grundherrschaft, ferner die Notwendigkeit des Einsatzes von Arbeitskräften in den Fabriken u. Manufakturen sind wesentliche gesellschaftliche Bedingungen für das Entstehen von Zusammenschlüssen verschiedenster Art, die zunächst den Charakter von Selbsthilfeorganisationen entwurzelter u. sozial schwacher Gruppen haben, dann aber auch die Mitwirkung an der politischen Willensbildung fordern. So verlangt der Wiener (politische) Verein „Volksstimme“ 1874 in einer Petition bis zur Einführung des geforderten allg. Wahlrechtes die Errichtung von  Arbeiterkammern, die nach Art der Handels- u. Gewerbekammern Abgeordnete in den Reichsrat entsenden sollten. Die im Gefolge der Bill of Rights von Virginia (1776) u. der Französischen Revolution (1789/1791: Erklärung der  Menschen- u. Bürgerrechte) in die Verfassungen Europas aufgenommenen  Grund- u. Freiheitsrechte schaffen die rechtlichen Voraussetzungen für den Aufstieg der V. In Österreich gewährt das StGG über die allg. Rechte der Staatsbürger 1867 Petitions-, Versammlungs- u. Vereinsfreiheit. Das Vereinsgesetz von 1867 setzt an die Stelle des Konzessionssystems die Anmeldung u. behördliche Aufsicht. Bereits 1874 gibt es in den cisleithanischen Ländern 747 nichtpolitische Arbeitervereine (Unterstützungs-, Bildungs-, Fachwerks-, Gesellen-, kath. Gesellen-, Arbeiterkonsum-, Gesangs- u. Turnvereine; mit Stichtag vom 1. 9. 1977 bestehen in Österreich 53.277 Vereine). Das Koalitionsverbot, d. h. das (strafrechtliche) Verbot von Verabredungen zum Arbeitskampf, wird in Österreich allerdings erst 1870 aufgehoben. Schließlich begünstigt auch der Zerfall geschlossener politischer Ordnungsvorstellungen im 19. Jh. das Entstehen der V. 4. Die durch  Industrialisierung u. Technisierung ( Technik) ausgelöste wirtschaftliche, soziale u. politische Dynamik ist auch im 20. Jh. nicht zum Stillstand gekommen. Sind im 19. Jh. insbes. der Wettbewerb auf wirtschaftlichem Gebiet, die Entscheidung zw. Freihandel u. Schutzzoll, der Konflikt zw. Industrie u. Landwirtschaft u. die widerstreitenden Interessen von Arbeitgebern u. Arbeitnehmern (insbes. die „alte“  soziale Frage der Existenzsicherung) u. am Beginn des 20. Jh.s die sozialen u. wirtschaftlichen (z. B. interventionistische  Wirtschaftspolitik des Staates) Auswirkungen des 1. Weltkrieges Anlaß zur Gründung von V.n gewesen, so wecken heute Komplexität u. Anonymität von  Staat u.  Gesellschaft Bedürfnisse nach neuen Formen der  Solidarität. Probleme der  Frau, der älteren Menschen, der  Kinder, der  Familien, der  Gastarbeiter, der Behinderten,



3.4. Verbände

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der Alleinstehenden, derer, die sich um eine gesunde Umwelt, humane Städte u. familienfreundliche Wohnungen sorgen usw., werden zur Neuen Sozialen Frage. Dabei handelt es sich allerdings um Interessen, die vielfach schwer zu organisieren sind, über wenig Macht u. Störpotential verfügen u. von der institutionalisierten Interessenrepräsentation im großen u. ganzen ausgeschlossen sind. Darüber hinaus zwingt der moderne Leistungs- u. Wohlfahrtsstaat, der lebensnotwendige Dienstleistungen erbringt, in wirtschaftliche u. gesellschaftliche Prozesse lenkend eingreift u. durch Umverteilung eine gerechte Sozialordnung zu verwirklichen sich berufen fühlt, den einzelnen, sich in V.n zu organisieren, um so seiner Hilflosigkeit in der Massengesellschaft entrinnen u. damit jene Macht erlangen zu können, die sich den politisch-administrativen Entscheidungsträgern gegenüber Gehör zu verschaffen weiß. Andererseits rufen u. a. die heute verfestigten u. etablierten V., weil sie mitunter die neuen sozialen Probleme zu übersehen scheinen, auch neue Formen organisierter Interessenvertretung (z. B.  Bürgerinitiativen, Grüne Listen usw.) auf den Plan.

IV. Typologie u. Organisation 1. Es lassen sich verschiedene Merkmale von V.n so akzentuieren, daß die Vielfalt der V. geordnet u. eine Verbandstypologie erstellt werden kann. 2. Die V. unterscheiden sich nach Rechtsform (Verein: z. B. ÖGB, Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammern; Körperschaften öffentlichen Rechts: z. B. Kammern; öffentlich-rechtliche Einrichtungen: z. B. Rektorenkonferenz, Bundeskonferenz des wissenschaftlichen Personals), Art (z. B. Angehörige einer sozialen Klasse oder nur eines bestimmten Status) u. Zahl der Mitglieder, Tätigkeitsbereich (verbandsintern, Markt, politisch-administratives System), Spannweite der Interessen, Programm, Dauer des Engagements usw. Wichtige Einteilungskriterien sind jedenfalls Organisationsform u. Zielsetzung (Interesse). 3. Es werden in der Regel zwei Organisationsmodelle unterschieden, nämlich der Honoratiorenverband u. der Funktionärsverband. Honoratioren sind Mitglieder, die den Verband, dessen Vereinszweck zumeist eng definiert ist u. dessen Willensbildung dezentralisiert erfolgt, zeitlich begrenzt u. ehrenamtlich leiten. Das Engagement der Mitglieder ist bisweilen groß. Demgegenüber werden Funktionärsverbände von hauptamtlichen Funktionären geführt, die ihre Tätigkeit im Verband als Lebensaufgabe ansehen u. sich bei Erledigung der Geschäfte einer ausgeprägten Verbandsbürokratie (Expertenstäbe) bedienen. Der inneren Struktur nach sind sie vielfach oligarchisch.

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4. An der Zielsetzung orientiert ist die Unterscheidung zw. V.n, die materielle (ökonomische) Interessen vertreten, u. solchen, denen es um die Durchsetzung ideeller, d. h. politischer, rel., humanitärer, kultureller usw. Interessen geht (z. B. K. v. Beyme). Diese Einteilung darf allerdings nicht übersehen lassen, daß sich materielle u. ideelle Interessen in vielen Fällen verbandlicher Einflußnahme nicht unterscheiden lassen. Die am Ziel der V. orientierten Typologien widerspiegeln in der Regel die Interessenstruktur (soziale Struktur) einer bestimmten Gesellschaft. Verselbständigen sich solche Typologien, d. h., lösen sie sich von der raum- u. zeitbedingten Interessenstruktur der Gesellschaft, werden sie zur  Ideologie. So dokumentiert die Unterscheidung von Unternehmer- u. Arbeitnehmerverbänden den Widerspruch von Kapital u. Lohnarbeit u. damit die (alte) soziale Frage des 19. u. beginnenden 20. Jh.s. Sie läßt allerdings jene Ansätze von Verbandsbildungen unberücksichtigt, die sich um die die Neue Soziale Frage prägenden Interessen der älteren Menschen, der Kinder, der Familien, der Behinderten usw. bilden, mögen diese Interessen auch vielfach schwer zu organisieren sein. Anzumerken ist, daß auch das in einem Verband verkörperte Interesse wirklichkeitsbezogen gesehen werden muß. So ist der ÖGB angesichts des von ihm beherrschten Wirtschaftsimperiums auch Unternehmer par excellence, während die Arbeitgeberverbände in ihren Wünschen nach staatlich garantierter sozialer Sicherheit oftmals nicht viel von „Selbständigkeit“ erkennen lassen. 5. Eine genaue Zahl der V. in Österreich u. in der Schweiz ist nicht bekannt. Schätzungen in der Bundesrepublik Deutschland schwanken zw. 4000 u. 5000 (1974); in die seit 1972 vom Präsidenten des Bundestages geführte Liste betreffend die Registrierung von V.n sind mit Stichtag vom 18. 1. 1978 889 V. eingetragen. Für die politikwissenschaftliche Verbandsforschung sind allerdings hauptsächlich jene (weitaus wenigeren) V. interessant, die relativ dauernd u. relativ erfolgreich die Entscheidungen des politisch-administrativen Systems beeinflussen. Dazu zählen jedenfalls die wichtigsten V. des Wirtschafts- u. Arbeitssystems: Sie verfügen über die zur Beeinflussung erforderlichen Mittel (Geld, hohe Organisationsdichte u. damit unter Umständen Wählerstimmen, schlagkräftige Organisationen, Sachverstand, Zugang zu  Massenmedien usw.) u. sind in den einflußreichsten Institutionen der Interessenrepräsentation (in Österreich z. B. in der Paritätischen Kommission für Preis- u. Lohnfragen) vertreten. Mit der wachsenden internationalen Verflechtung im Bereich der Wirtschaft, des Handels, der Wissenschaft, der Technik, der Politik usw. nehmen auch Zahl u. Bedeutung der transnationalen Zusammenschlüsse der V. (weltweite oder europäische oder auf die EG bezogene usw. Zusammenschlüsse) zu, die insbes. bei



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internationalen Organisationen u. deren Institutionen (z. B. im Wirtschafts- u. Sozialausschuß der EG) Interessen vertreten.

V. Verbände in der politischen Theorie 1. Die in Frontstellung gegen ältere Ansätze wie z. B. das individualistische Politikkonzept oder den phil. Idealismus oder die normativ-institutionell orientierte Staatslehre um die Jahrhundertwende entwickelte angloamerik. Gruppentheorie (insbes. A. F. Bentley, H. Laski) weist der Gruppe u. den von ihr vertretenen Interessen eine zentrale Rolle in der Politik zu. Politik ist demnach das Verhalten einer Mehrzahl voneinander unabhängiger, nach unterschiedlichen Interessen organisierter u. miteinander in Konkurrenz stehender  Gruppen, die um sozialen u. politischen Einfluß ringen u. ihre Ziele mittels Druck, der zu Gegendruck führt, weil sich die betroffenen Interessen organisieren, erreichen („countervailing powers“). Demgegenüber sind neuere gruppen- u. pluralismustheoretische Ansätze (D. Truman, E. Fraenkel u. a., Neopluralismus) einem realistischeren Bild der Politik verpflichtet. Sie gehen davon aus, daß es neben den V.n als den Gruppen in einem engeren Sinn noch weitere politikbestimmende Faktoren wie z. B. Institutionen des Regierungsbereichs, Rechtsordnung, politische u. soziale Verhaltensmuster u. Spielregeln usw. gibt, die andere Funktionen im politischen Willensbildungs- u. Entscheidungsprozeß ausüben als die V.; ferner, daß die Hypothesen, alle Interessen führten zur Bildung von V.n u. aus der Konkurrenz der V. entstehe ein alle befriedigendes Gleichgewicht, nicht verifiziert werden können, daher zu einer Korrektur des theoretischen Ansatzes führen müssen. Kritiker der Gruppentheorie weisen u. a. darauf hin, daß sie weder Stabilitätsverluste (verursacht z. B. durch als ungerecht empfundene Verteilung der Güter oder Vernachlässigung nichtorganisierter Interessen) u. Innovationen (ausgelöst durch mittelfristige  Planung, die in einzelnen Sektoren staatlicher Aufgabenerfüllung praktiziert wird, oder durch  Demokratisierung u.  Partizipation) hinreichend erkläre noch auf die kommunistisch regierten Staaten anwendbar sei, in denen es wenig Gruppenautonomie u. keine Verbändevielfalt gibt, wohl aber Interessenkonflikte, die allerdings kaum offen ausgetragen werden. Auch kranke die Gruppentheorie daran, daß sie permanentes Wirtschaftswachstum voraussetze u. annehme, etwa bestehende Ungerechtigkeiten in der Güterverteilung würden sich im Zuge der Distribution des Zuwachses vermindern. Mitunter werden in den gruppen- u. pluralismustheoretischen Ansätzen u. in deren Kritik Elemente liberaler, sozialdemokratisch-marxistischer oder christlichsozialer Gesellschaftstheorie bes. akzentuiert. Der  Pluralismus, an den die Gruppentheorie anknüpft, hat aber auch fundamentale Gegnerschaft konservativ-autoritärer u. marxistischer Provenienz erfahren.

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Während die einen die gruppenegoistische, gemeinwohlstörende, sachinkompetente Mediatisierung der Herrschaft des Staates durch V. (u. auch politische  Parteien), ferner die mangelnde Effizienz u. Schlagkraft der pluralistischen Demokratie beklagen, sehen die anderen in den V.n Instrumente, mit deren Hilfe das Besitzbürgertum den  Klassengegensatz, der zw.  Eigentum u. Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel einerseits u. der Abhängigkeit der Massen andererseits bestehe, verschleiere u. damit die bestehende wirtschaftliche, soziale u. politische Ordnung stabilisiere. Es fehlt allerdings auch nicht an Versuchen, pluralistische u. marxistische Theorie in Richtung eines „sozialistischen Pluralismus“, der entwicklungsgeschichtlich auf  Liberalismus u.  Pluralismus folge, zu harmonisieren. 2. Für die  Systemtheorie ist die Gruppe zwar ein wichtiger Faktor der Politik, nichtsdestoweniger aber nur eines von mehreren, in wechselseitiger Beziehung zueinander stehenden Elementen des politischen Systems wie z. B. politische Parteien, Regierung, Parlament, Ministerialbürokratie, Wirtschaft, Gesellschaft, Verfassungsordnung, politische Kultur usw. Sie gerät daher weniger in Gefahr, einzelne Elemente realitätswidrig zu isolieren u. monokausale Relationen anzunehmen. Auch die Systemtheorie, die so wie die Gruppentheorie verschiedene Modifikationen u. Differenzierungen erfahren hat, ist nicht ohne Kritik geblieben. Bemängelt wird u. a., daß systemtheoretische Ansätze die Durchsetzungschance latenter Interessen überschätzten; Abhängigkeits- u. Herrschaftsverhältnisse auf Relationen zw. Elementen reduzierten; die in einer Gesellschaft vorhandenen Verbandsstrukturen legitimierten, ohne zu fragen, wem sie nützten u. wem sie schadeten; ebenfalls keine Instabilitäten u. keinen Wandel erklären könnten; die V. zu einseitig der Input-Seite zurechneten, ohne zu sehen, daß die V. vielfach in den Institutionen des Regierungsbereiches säßen u. damit den Prozeß der Umsetzung des gesellschaftlichen Inputs in den politischen Output steuern könnten usw. Fundamentale Kritik erfahren die systemtheoretischen Ansätze insbes. durch politökonomische Theorien auf marxismustheoretischer Grundlage (z. B. Theorie des staatsmonopolistischen  Kapitalismus; Theorie des Staatsinterventionismus); diese nehmen eine mehr oder minder intensive Abhängigkeit des politisch-administrativen Systems von der ökonomischen Basis an u. sehen in den „Problemlösungsstrategien“ kapitalistischer Systeme wie z. B. in intensivierter Planung, zunehmender Verteilungspolitik u. vergrößerter Mitsprachemöglichkeiten für den Bürger nur Versuche, die durch den Klassenkonflikt bedingten unvermeidbaren Krisen – u. damit die Kündigung der Massenloyalität gegenüber dem Staat – hinauszuzögern.



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VI. Verbände u. politisches System 1. Zu den verbandsexternen Faktoren des politischen Systems, die Einfluß auf die Position der V. haben, zählen die Stellung der V. in der Rechtsordnung, die Struktur des politischen Systems (z. B. zentralistischere Organisation der V. angesichts des Übergewichts der Bundeskompetenzen; Konzentration der verbandlichen Einflußnahme im Bereich von Ministerialbürokratie u.  Regierung angesichts der Depossedierung des  Parlaments; Personalunion von Partei- u. Verbandsfunktionen, verursacht u. a. durch ein extrem entpersonalisiertes  Wahlrecht u. geringe Mitwirkungsmöglichkeiten des Wählers bei der Aufstellung von Kandidaten für Mandate in Vertretungskörpern usw.) u. verbandsspezifische Einstellungen der Einflußadressaten (z. B. Regierungsmitglieder, Parlamentarier, Ministerialbeamte, Redakteure). Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für Verbandsbelange, Verbandsstruktur des politischen Systems (z. B. Pluralismus in einem Bereich, dessen Ergebnisse vom Rest der Gesellschaft einfach hingenommen werden müssen) u. politische Kultur des Landes sind weitere verbandsexterne Bedingungsfaktoren. So haben die konfessionellen, ethnischen u. politischen Gegensätze im 19. Jh. u. in der 1. Republik in Österreich dazu geführt, daß das vorherrschende Muster, nach dem Konflikte ausgetragen werden, das Konkordanz- u. nicht das Konkurrenzmodell ist; 90 Prozent der Österreicher, die die  Sozialpartnerschaft, das Musterbeispiel konsensualer Konfliktaustragung kennen, stehen ihr positiv gegenüber, nur 2 Prozent wären bereit, z. B. einen  Streik auch tatsächlich durchzuführen. 2. Interne Bedingungsfaktoren des Einflusses der V. sind der Grad der Organisierbarkeit des  Interesses, Organisation, Organisationsdichte, Mitgliederzahl, Mobilisierbarkeit der Mitglieder, Verbandsideologie, Finanzkraft, Sachverstand, Störpotential usw. 3. Die Verschiedenheit der externen u. internen Bedingungsfaktoren führt denn auch zu unterschiedlichen, systemspezifischen Positionen der V. a) So korrespondiert z. B. in der Schweiz der stärkeren Dezentralisation von  Staat, politischen  Parteien u.  Massenmedien eine relativ größere Zahl von V.n mit dezentralerer Organisation u. Wirkungsweise. Die Volksrechte wie Referendum u. Initiative sind wichtige Instrumente der V. zur Durchsetzung ihrer Interessen; insbes. die Referendumsdrohung wird im Gesetzgebungsvorverfahren als Druckmittel gegenüber den Entscheidungsträgern gehandhabt. Andererseits bieten die Volksrechte aber auch den Bürgern größere Chancen der Mitwirkung; so wurde z. B. die Mehrwertsteuer von der Bevölkerung abgelehnt, obwohl die V.

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dafür waren. Schließlich sind die V. auch in die Verfassungsrechtsordnung integriert. b) Österreichspezifisch ist die eher bipolare, am Arbeitgeber- u. am Arbeitnehmerstatus aufgehängte Interessenvertretung durch einige zentralisierte V. In der Paritätischen Kommission u. in sonstigen Institutionen stehen ausgeprägte Formen sozialpartnerschaftlicher Interessenrepräsentation zur Verfügung. Zw. Regierungsu. Interessenbereich bestehen zahlreiche Verflechtungen u. Personalunionen, so daß oftmals dieselben Entscheidungsträger einmal in den Institutionen des Regierungsbereiches, das andere Mal in denen des Interessenbereiches (u. damit öffentlichkeitsferner) agieren können; dies mag wiederum eine der Ursachen dafür sein, daß bisweilen Verbandsegoismus zugunsten der Verantwortung für den gesamten Staat zurückgestellt wird. Die Affinität der V. zu einer bestimmten Partei ist relativ groß. Persönliche Beziehungen u. informelle Kontakte zw. den Beteiligten als Rahmenbedingungen bei der Konfliktlösung, deren Wirkung allerdings mit dem Ausscheiden der durch 1. Republik, Krieg u. Wiederaufbau geprägten Politikergeneration schwächer wird, u. der Hang zum  Kompromiß als Element der politischen Kultur sind günstige Voraussetzungen für die Tätigkeit der V. c) Verglichen mit Österreich ist der Grad der Verflechtung zw. Regierungs- u. Interessenbereich in der Bundesrepublik Deutschland geringer; das Gewicht des egoistischen Verhaltens der V., die nicht so zentralisiert sind wie in Österreich, wird dadurch mitunter größer. Auch ist die Interessenvertretung in der Bundesrepublik Deutschland weniger „verstaatlicht“; V. mit öffentlich-rechtlicher Organisation wie die Kammern spielen in Österreich eine größere Rolle, der ÖGB versteht sich als staatstragende Institution, beides führt zu „quasistaatlichem“ Verhalten u. damit geringerem Elan auf dem Feld der Interessenvertretung, was die Mitglieder mitunter auch kritisch vermerken, ohne daraus wegen der rechtlich verordneten oder faktisch gegebenen Zwangsmitgliedschaft die Konsequenzen ziehen zu können. Die V. stehen andererseits in der Bundesrepublik Deutschland unter stärkerer wissenschaftlicher u. politischer Kritik u. damit Kontrolle: Zum einen wird die Tätigkeit der V. an einem deutlich konturierten wirtschaftspolitischen Leitbild, dem der freien  Marktwirtschaft, gemessen, zum anderen zwingt die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes, in der sich der alte Staatszweck der Gemeinwohlverwirklichung wiederfindet, zu stetiger Reflexion über die Verantwortung gegenüber Staat u. Gesellschaft. In Österreich ist ferner die Interessenrepräsentation, insbes. in den Institutionen der Sozialpartnerschaft, stärker formalisiert; schließlich kommt den informellen, integrativ wirkenden, verbändefreundlichen Rahmenbedingungen (persönliche Kontakte, politische Kultur usw.) in Österreich größere Bedeutung zu.



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VII. Verbandsarbeit: Adressaten u. Wirkungen des Verbandseinflusses 1. Aktionsfelder der V. sind der Verband selbst, der  Markt (einen solchen gibt es nicht nur für die V. des Wirtschafts- u. Arbeitssystems, sondern bisweilen auch für die anderen V.) u. der politisch-administrative Willensbildungs- u. Entscheidungsprozeß. Zunehmend entfalten die V. in Verfolgung ihrer Interessen auch transnationale Aktivitäten. 2. Die interne Verbandsarbeit, die z. B. Information u. Beratung, Fortbildung u. Schulung, Rechtsschutz, Sozialhilfe, Freizeitangebot, Reise- u. Urlaubsdienste umfaßt, dient hauptsächlich dem einzelnen Verbandsmitglied; darüber hinaus kommt ihr Bedeutung insoweit zu, als sie Loyalität der Verbandsmitglieder gegenüber der Verbandsführung erzeugt u. aufrechterhält. Am Markt geht es den V.n – abgesehen davon, daß sie einen möglichst großen Einfluß erringen wollen (z. B. durch Kollektivwerbung) – darum, staatliche Eingriffe abzuwehren, wenn sie sich durch eine von ihnen initiierte Ordnung mehr Erfolg für ihre Interessen versprechen. Die V. bemühen sich dabei in der Regel um einen organisierten Interessenausgleich, in dem sie sich wie Kartelle verhalten u. ähnliche Interessen zwecks Abbau von Konkurrenz zusammenfassen bzw. das den Markt u. damit den Verbandseinfluß möglicherweise störende Konfliktpotential gegensätzlicher Interessen durch konsensuale Konfliktregelungsmuster (z. B. Kollektivverträge am Arbeitsmarkt) entschärfen. 3. Welchen Adressaten sich die V. zuwenden, um ihre Interessen im politisch-administrativen Willensbildungs- u. Entscheidungsprozeß bestmöglich durchzusetzen, hängt entscheidend von den verbandsinternen u. -externen Bedingungsfaktoren (s. VI) ab. Denn die V. widmen sich jenen Gruppen u. Personen, von denen sie sich eine maximale Förderung ihrer Interessen versprechen u. deren faktische Entscheidungsmacht groß ist. Gleiches, nämlich die Bedingung größtmöglicher Wirkung, gilt auch für die Auswahl der informellen (z. B. Pflege persönlicher Beziehungen, Überzeugung, Informationen u. Sachverstand, Verschleierung des Partikularinteresses, Unterwanderung des Adressaten, Formen der Drohung u. des gewaltlosen Widerstandes, aber auch Korruption, Bestechung u. verschiedene Formen der Gewalt) u. institutionalisierten Methoden der Einflußnahme (z. B. Mitwirkung bei der Ausarbeitung u. Begutachtung von Gesetzes- u. Verordnungsentwürfen; Parteien- u. sonstige Mitwirkungsrechte im Verwaltungsverfahren; Entsendung von Verbandsvertretern in Beiräte u. Kommissionen der  Verwaltung, ferner in kollegial organisierte Verwaltungsbehörden u. Sondergerichte, weiters zu

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parlamentarischen Enqueten; Ausgliederung der Erfüllung öffentlicher Aufgaben aus der Staatsorganisation u. Übertragung auf V.; Paritätische Kommission für Preis- u. Lohnfragen in Österreich, Konzertierte Aktion in der Bundesrepublik Deutschland, Bayerischer Senat als Form eines Wirtschafts- u. Sozialrates; in der Schweiz sind insbes. auch die Volksrechte Initiative u. Referendum Bestandteil der Verbandstaktik). 4. Wichtige Adressaten der verbandlichen Einflußnahme sind jedenfalls  Regierung (Regierungsmitglieder), Ministerialbürokratie (-Beamte), politische  Parteien (Parteifunktionäre) u.  öffentliche Meinung (insbes.  Massenmedien); weniger von Bedeutung (z. B. in Österreich u. in der Bundesrepublik Deutschland; anders in der Schweiz u. in den USA) sind  Parlament (Fraktionen, einzelne Abgeordnete) – wiewohl die V. bemüht sind, Verbandsfunktionären Abgeordneten­mandate zu verschaffen u. insbes. die interessenspezifischen Parlamentsausschüsse mit Verbandsvertretern zu besetzen bzw. diesen Ausschüssen Experten zur Verfügung zu stellen – u. Gerichte; zunehmend werden von den V.n  internationale Organisationen u. deren Institutionen kontaktiert. Die zw. den V.n u. den Adressaten errichteten kommunikativen Beziehungen dienen aber nicht nur den V.n; sie werden oftmals von den Trägern politisch-administrativer Entscheidungen dazu benützt, Informationen über die Chancen von Entscheidungsfindung u. -durchsetzung zu erhalten, notwendige Entscheidungen den V.n schmackhaft zu machen (diese entfalten in der Folge oftmals Aufklärungs-, Werbe- u. Unterstützungskampagnen bei ihren Mitgliedern) oder die Entscheidung mit den V.n auszuhandeln u. sie so gegen Widerstand zu immunisieren. 5. Abgesehen davon, daß regelmäßig ein Teil der Regierungsmitglieder Verbandsfunktionäre sind, u. auch abgesehen von informellen Kontaktnahmen, bietet in Österreich insbes. die Paritätische Kommission für Preis- u. Lohnfragen eine der wichtigsten Plattformen der ( sozialpartnerschaftlichen) Beeinflussung von Regie­rungsentscheidungen vor allem auf dem Gebiet der  Wirtschafts- u.  Sozial­politik. An den Sitzungen der Kommission nehmen neben den Spitzenfunktionären der „Großen Vier“ (die in der Präsidentenvorbesprechung den Rahmen des möglichen Kompromisses abstecken) der Bundeskanzler, ferner die Bundesminister für Handel, Gewerbe u. Industrie, für soziale Verwaltung u. für Land- u. Forstwirtschaft teil, an den vierteljährlich stattfindenden wirtschaftspolitischen Aussprachen auch der Bundesminister für Finanzen, der Präsident der Nationalbank u. der Leiter des Österr. Instituts für Wirtschaftsforschung (dieses wird unter anderem von den Sozialpartnern getragen).



3.4. Verbände

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6. Ein hervorragendes Aktionsfeld ist die Ministerialbürokratie. Neben Ämterpatronagen u. sonstigen Einflußnahmen kommt den Aktivitäten der V. bei der Ausarbeitung von Gesetzes- u. Verordnungsentwürfen durch die Ministerialbürokratie – in Österreich gehen mehr als 85 % der beschlossenen Gesetze, darunter die wirtschafts-, sozial- u. gesellschaftspolitisch wichtigen, auf Regierungsvorlagen zurück – bes. Bedeutung zu. Information, Sachverstand u.  Konsens bringen die V. aber nicht nur im formellen Begutachtungsverfahren ein, sondern vielfach im vorangehenden informellen Vorverfahren; so werden in Österreich z. B. Dienstrechtsgesetze mit der zuständigen  Gewerkschaft vollständig ausgehandelt, bevor das offizielle Begutachtungsverfahren eingeleitet wird. 7. Wegen der Verflechtung zw. den politischen  Parteien u. den V.n sitzen Verbandsvertreter auch im  Parlament. Mehr als 50 % der Abgeordneten des österr. Nationalrats sind gleichzeitig Funktionäre von V.n des Wirtschafts- u. Arbeitsbereiches. Der Schwerpunkt der Aktivitäten dieser Abgeordneten liegt in den Ausschüssen u. bei der Antragstellung im Plenum, dort also, wo ein wichtiger Teil der Parlamentsarbeit geleistet wird. Finanzkraft, Informationsvorsprung, Experten, mitunter auch Wähler sind die Sachverhalte, die die V. für die politischen  Parteien attraktiv machen; überdies bedienen sich die Parteien interessenbezogener Vorfeldorganisationen (wie z. B. der Sportler, Autofahrer, Senioren, Mieter, Jugendlichen) u. haben eine interessenbezogen strukturierte Organisation (Teilorganisationen bei der ÖVP, z. B. Bauernbund; sozialistische Fraktion des ÖGB bei der SPÖ). Andererseits sind auch die politischen Parteien in den V.n, u. zwar verbandsspezifisch dominant, vertreten. Während in den Handels- u. Landwirtschaftskammern ÖVP-Mehrheiten (1974: 85 % bzw. 84 %) bestehen, ist die SPÖ in den Arbeiterkammern u. im ÖGB Mehrheitsfraktion (1974: 63 % bzw. 75 %); die Minderheitsfraktionen sind allerdings wichtige Brückenköpfe in den parteipolitisch gesehen „gegnerischen“ V.n. Das Naheverhältnis zw. bestimmten politischen Parteien u. bestimmten V.n hindert aber die V. nicht, ausgezeichnete Kontakte mit der „gegnerischen“ Partei, Regierung usw. zu pflegen, wenn nur so Verbandsinteressen durchgesetzt werden können; andererseits bedürfen die Träger politisch-administrativer Entscheidungen der Kooperation parteipolitisch anders gefärbter V.; darüber hinaus sind insbes. im Zwei- bzw. Dreiparteiensystem die politischen Parteien gezwungen, möglichst viele Interessen zu integrieren u. allzu starke Bindungen an einen bestimmten Verband zu vermeiden. 8. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Verbandstätigkeit besteht auch darin, insbes. durch Methoden der Sympathiewerbung (Public Relations) auf die  öffentliche

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Meinung einzuwirken u. sie günstig für das vertretene Interesse zu stimmen, damit bei den Trägern politisch-administrativer Entscheidung eine breite Legitimation des Interesses geltend gemacht werden kann.

VIII. Verbände u. Demokratie 1. Die politischen u. rechtlichen Bedingungen, die die Verbandsbildung ermöglichen u. die sicherstellen, daß die V. auf die politisch-administrative Willensbildung einwirken können, sind unverzichtbare Voraussetzungen für das Bestehen u. die Überlebenschance liberaler, sozialer / Demokratie. In dieser erfüllen die V. insbes. drei Funktionen: Sie helfen, die  Freiheit des einzelnen zu sichern, erhöhen die Chance des Stimmbürgers, Inhalte politisch-administrativer Entscheidungen zu initiieren bzw. mitzuformulieren, u. tragen – indem sie öffentliche Aufgaben übernehmen – dazu bei, daß Leistungen, die der einzelne aus eigener Kraft nicht erbringen kann u. die er daher von der Gemeinschaft erwarten darf ( Subsidiaritätsprinzip), durch spontane Selbstorganisation u. engagierte Selbsthilfe bedarfsgerechter, effizienter u. menschlicher erbracht werden, als dies in manchen Fällen der  Staat zu tun vermag. So wächst z. B. die Gefahr, daß doktrinäre (geschlossene), freiheitsreduzierende Gemeinwohlkonzepte unter Berufung auf Legitimationsmuster wie z. B. den Volkswillen oder das richtige Bewußtsein durchgesetzt werden, wenn es keine Autonomie u. Mitwirkungschance von V.n gibt. Ferner kann dadurch, daß sich vernachlässigte Interessen organisieren können, ein Kartell selbstgefälliger Machtträger u. etablierter Interessen aufgebrochen u. notwendige Innovationen eingeleitet werden, wie die Verbandsgründungen des 19. Jh.s u. jüngst auch die  Bürgerinitiativen zeigen. Schließlich hat die Selbstkontrolle u. Kooperation insbes. der wirtschafts- u. sozialpolitisch relevanten V. (in Österreich insbes. in der Form der  Sozialpartnerschaft) entscheidend dazu beigetragen, Wiederaufbau, Wohlstand u. sozialen Frieden zu fördern, damit aber auch die Problemlösungskapazität des politischen Systems für andere Bereiche freizusetzen (in Österreich z. B. für die Erringung der staatlichen Souveränität). 1975 streikte ein unselbständig Erwerbstätiger in Österreich eine Minute, in der Bundesrepublik Deutschland 1,5, in der Schweiz 0,5, in England schon 127, in Italien gar 967 Minuten. Die V. stellen aber andererseits für die  Demokratie auch ein Problem dar. V. u. Verbandstätigkeit müssen daher immer wieder dahingehend analysiert werden, ob u. inwieweit sie den Anforderungen der Demokratie entsprechen. Ergibt die Analyse Dysfunktionalitäten, ist eine Reform unerläßlich. Diese wird allerdings umso weniger Chance auf Verwirklichung haben, je intensiver sie unmittelbar auf eine Demolierung der Macht der V. zielt. Größere Chancen dürften Reformen



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haben, die daran orientiert sind, die Adressaten des verbandlichen Einflusses wie z. B. Abgeordnete, politische Parteien usw. unabhängiger zu machen u. die Position des Bürgers innerh. u. außerh. der V. zu stärken. 2. Die allg.-demokratisch legitimierten Träger politischer Entscheidungen müssen willens – schwierige Problemlösungen werden nur allzuoft auf die V. abgeschoben – u. in der Lage sein, auch dann Bedürfnisse zu befriedigen u. Aufgaben zu erfüllen, wenn dies nicht von mächtigen V.n gefordert wird oder wenn sich dem diese V. widersetzen. Denn es haben auch jene Interessen wie z. B. die der Kinder, der älteren Menschen, der zukünftigen Generationen usw. Anspruch darauf, berücksichtigt zu werden, die sich nicht oder nur schwer organisieren lassen bzw. denen nicht Macht u. Störpotential zur Interessendurchsetzung zur Verfügung stehen. Nistet sich das Gefühl ein, daß das Recht des Stärkeren zu dominieren beginnt, Kompromisse zu Lasten der Schwachen gehen, etablierte Interessen immer häufiger auf Kosten des  Gemeinwohls befriedigt werden, läuft die sich auf demokratische Legitimation berufende Herrschaftsausübung Gefahr, nicht mehr akzeptiert zu werden; dies ist einer der Sachverhalte, der die Frage nach der Regierbarkeit der Demokratie, die insoweit moderne Chiffre für das alte Räsonnement um die Gemeinwohlverpflichtung des Staates ist, verursacht hat. Diskutiert wird, latente Interessen z. B. durch (Interessen-)„Anwälte“ bzw. „Beauftragte“ (Advokatenplanung; Umweltschutzorgan nach dem niederösterr. Umweltschutzorganisationsgesetz 1973 usw.), ferner durch  Planung, die zeigt, inwieweit Einzelinteressen längerfristig den Ressourcenrahmen beanspruchen, sichtbarer zu machen. Auch in (intensivierten) Mitwirkungsrechten des Bürgers an politisch-administrativen Entscheidungen ( Demokratisierung;  Partizipation) sieht man eine Chance, daß sich Interessen außerh. der etablierten V. durchsetzen. Haben V. das Recht der Beteiligung am Verwaltungsverfahren im allg. u. der Verbandsklage im bes., so kommt dies nur dann (auch) unvertretenen Interessen zugute, wenn solche Rechte nicht nur den etablierten V.n vorbehalten werden. 3. Es geht darum, Abgeordnete u. politische Parteien von den Pressionen der V. unabhängig zu machen. Diesem Zweck dient, wenn den Abgeordneten der Zugang zu Informationen eröffnet u. wissenschaftliche Hilfsdienste beigegeben werden, u. zwar so, daß auch diejenigen über Daten u. Expertenwissen verfügen können, denen dies nicht durch V. bereitgestellt wird. 1972 hat der Dt. Bundestag für seine Mitglieder Verhaltensregeln beschlossen, die u. a. zu einer Offenlegung etwaiger Liaisonen mit V.n führen sollen; in der Schweiz sind Vorschläge deponiert (z. B. Schlußbericht der Arbeitsgruppe u. Art. 79 Abs. 2 des Verfassungsentwurfes 1977 der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesver-

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fassung) u. Partialrevisionen der Bundesverfassung anhängig, die eine Offenlegung der Interessenvertretung durch Mitglieder des National- u. Ständerates bezwecken. Auch staatliche Parteienfinanzierung u. Mitwirkungsrechte des Wählers bei der Aufstellung von Kandidaten für Wahlen zu allg. Vertretungskörpern (Vorwahlen) sind Instrumente, Adressaten des verbandlichen Einflusses unabhängiger zu machen. 4. Der Verfassungsstaat ist u. a. durch Verrechtlichung öffentlicher  Herrschaft,  Gewaltenteilung,  Machtkontrolle, demokratische Legitimation der Herrschaftsausübung, Öffentlichkeit, Minderheitenschutz, Freiheitssicherung gekennzeichnet. Diesen strukturellen Gegebenheiten müssen sich auch die V. unterwerfen. Das gilt vor allem für jene, die, wie z. B. der ÖGB oder die Genossenschaften, durch Kapitaleinsatz u. Kapitalverflechtung über große wirtschaftliche (u. damit politisch einsetzbare) Imperien verfügen. Es werden u. a. folgende Reformen diskutiert: a) V. sollen einer verstärkten Öffentlichkeit in bezug auf wirtschaftliche, finanzielle u. massenmediale Macht, Verwendung der finanziellen Mittel, Interessenvertretung gegenüber Parlament, Regierung, Ministerialbürokratie, Stellungnahmen u. sonstige Aktivitäten im Gesetzgebungsvorverfahren (z. B. durch Veröffentlichung der bei der Gesetzesbegutachtung angemeldeten Interessen), Tätigkeit im Rahmen verschiedenster parlamentarischer Hearings, in Expertenkommissionen u. Beiräten (Kommissionen) der Verwaltung, Beeinflussung der öffentlichen Meinung (z. B. durch Offenlegung des Einflusses auf Massenmedien) unterworfen werden. Seit 1972 führt der Präsident des Dt. Bundestages eine öffentliche Liste, in der alle Verbände eingetragen werden, die Interessen gegenüber dem Bundestag oder der Bundesregierung vertreten (Stand 18. 1. 1978: 889 registrierte V.). Zu beachten ist allerdings, daß Konsensfähigkeit u. Kompromißbereitschaft durch Publizität mitunter verringert werden,  Konsens u.  Kompromiß jedoch für  Staat u.  Gesellschaft unerläßlich sind. b) Defizit an  Kontrolle gibt es nicht nur gegenüber Regierung u. Verwaltung, sondern auch gegenüber den V.n. Grundlage solcher Kontrolle könnte ein Verbändegesetz (vgl. z. B. den im April 1977 von einer Kommission des Bundesvorstandes der FDP veröffentlichten Entwurf eines solchen Gesetzes) sein, das Bestimmungen betreffend innere (demokratische) Organisation, Stellung des Mitglieds, Kontrolle, Dezentralisation, Chancengleichheit von V.n, Sozialpflichtigkeit usw. beinhaltet.



3.4. Verbände

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c) Stand in der Diskussion um die V. in den sechziger Jahren deren Verhältnis zum Staat im Vordergrund, konzentriert man sich in letzter Zeit auf die innere Ordnung der V. nach demokratischen Grundsätzen, um durch demokratische Legitimation Ungereimtheiten des Einsatzes von Verbandsmacht zu relativieren. Dabei kann es allerdings nicht nur um den Ausbau verbandsinterner, egalitärer (unmittelbarer) Demokratie gehen, sondern auch darum, Minderheitenrechte zu verankern, die zw. den Mitgliedern u. den obersten Organen eingeschalteten Entscheidungsebenen zu stärken sowie die kollegiale Willensbildung auszubauen. Nicht zuletzt aus dem Grund, daß sich vor allem die einflußreichen V. immer weniger mit der Vertretung einiger weniger spezifischer Interessen begnügen, sondern umfassendere Konzepte für die Gestaltung der sozialen, wirtschaftlichen u. politischen Ordnung entwickeln, ist auch strittig, ob in der freiheitlichen Demokratie die Inanspruchnahme eines mehr oder minder großen allg.-politischen Mandats durch V. mit faktischer oder rechtlich verordneter Zwangsmitgliedschaft begründbar ist. d) Die V. operieren mitunter tatsächlich als kollektive Mächte, in deren Wirkungsbereich wenig von der Funktion zu spüren ist, ein Instrument der Selbstverwirklichung des  Menschen zu sein, u. durch die die Freiheit des einzelnen sogar bedroht erscheint. Abhilfe soll u. a. dadurch geschaffen werden, daß die Rechte des einzelnen Mitgliedes gestärkt werden u. die  Grundrechte auch gegenüber den V.n gelten (Drittwirkung der Grundrechte). e) Bisweilen wird eine Konstitutionalisierung der V. durch die Errichtung eines Verbänderates neben den Parlamentskammern bzw. anstelle der zweiten Kammer diskutiert (z. B. Länder- u. Ständerat der B-VG-Novelle 1929; Vorschlag des DGB vom März 1971 betreffend einen Wirtschafts- u. Sozialrat; beachtlich sind Organisation u. Kompetenzen des Bayerischen Senats). Kontrovers ist allerdings, welche V. in welcher Stärke in einem solchen Rat vertreten sein sollen. Kann auch nicht davon gesprochen werden, daß die Verfassung die V. total ignoriert – in Österreich bieten der Begriff des Volkes in Art. 1 B-VG, die Kollegialbehörden nach Art. 133 Z. 4 BVG, das Petitions- u. das Vereinsrecht Anhaltspunkte für diese Hypothese –, so muß dennoch erwogen werden, die V. in die Verfassungsrechtsordnung zu integrieren. Dies ist umso dringender geboten, je größer die Rolle ist, die das  Recht u. die Verrechtlichung von  Herrschaft in der politischen Kultur eines Landes wie z. B. in Österreich spielen. 5. Für die Korrektur verbandlicher Dysfunktionalitäten gibt es allerdings keine dauerhaften Patentrezepte. Gefahren, aber auch Chancen der Existenz der V. für

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3. Wissenschaft

die freiheitliche  Demokratie sind immer wieder neu zu bestimmen u. zu bewältigen. Dabei darf das Augenmerk jedoch nicht nur auf Institutionen gerichtet werden. Verantwortungswille, Mut zur Annahme des Risikos, das mit einer politischen Funktion verbunden ist, u. ein gewisses Maß materieller Unabhängigkeit seitens der Politiker; Zivilcourage,  (politische) Bildung, Interesse an öffentlichen Angelegenheiten u. Selbständigkeit seitens der Bürger; Pflege der Einrichtungen wie z. B. der  Familien, der  Kirchen, der kulturellen V., die die für das menschliche Zusammenleben u. damit auch den Staat unerläßlichen  Werte stiften, seitens der Träger politischer Entscheidungen werden für das Funktionieren freiheitlicher Demokratie unerläßlich sein. Denn durch keine noch so gut durchdachte Reform kann der Machtmißbrauch vollkommen verhindert werden; es wird immer auch auf die menschlichen Tugenden jener Personen ankommen, die in  Staat u.  Gesellschaft, in den Institutionen des  Regierungsbereiches, in den politischen  Parteien u. in den V.n in verantwortlichen Positionen tätig sind. Lit.: Tezner, F., Vereinsrecht, in: Mischler, E. / Ulbrich, J. (Hrsg.), Österr. Staatswörterbuch, Bd. 4. Wien 21909, 712 ff. – Breitling, R., Die V. in der Bundesrepublik. Meisenheim 1955 – Gruner, E., Die Wirtschaftsverbände in der Demokratie. Erlenbach 1956 – Kaiser, J. H., Die Repräsentation organisierter Interessen. Berlin 1956 – Weber, Wilhelm, Österreichs Wirtschaftsverfassung u. Wirtschaftsordnung im Lichte moderner Wirtschaftstheorie u. Wirtschaftspolitik. Wien 1957 – Huber, H., Staat u. V. Tübingen 1958 – Messner, J., Der Funktionär. Seine Schlüsselstellung in der heutigen Gesellschaft. Innsbruck 1961 – Kafka, G. E., Der Parteien- u. Verbändestaat am Beispiel Österreichs, in: WuW 17 (1962) 529 ff., 590 ff. – Eschenburg, Th., Herrschaft der V.? Stuttgart 21963 – Wittkämper, G. W., Grundgesetz u. Interessenverbände. Köln 1963 – Leibholz, G. / Winkler, G., Staat u. V., in: VVDStRL, H. 24. Berlin 1966, 5 ff., 34 ff. – V. u. Wirtschaftspolitik in Österreich. Wissenschaftl. Leitung: Pütz, Th. Berlin 1966 – Messner, J., Das Gemeinwohl. Osnabrück 21968 – Klose, A., Ein Weg zur Sozialpartnerschaft. Wien 1970 – Korinek, K., Wirtschaftliche Selbstverwaltung. Wien 1970 – Neidhart, L., Plebiszit u. pluralitäre Demokratie. Eine Analyse der Funktion des schweizerischen Gesetzesreferendums. Bern 1970 – Weber, Werner, Spannungen u. Kräfte im westdt. Verfassungssystem. Berlin 31970 – Hoppmann, E. (Hrsg.), Konzertierte Aktion. Kritische Beiträge zu einem Experiment. Frankfurt/Main 1971 – Kocher, G., Verbandseinfluß auf die Gesetzgebung. Bern 21972 – Mahrenholz, E. G., Die Kirchen in der Gesellschaft der Bundesrepublik. Hannover 21972 – Scharpf, F., Demokratietheorie zw. Utopie u. Anpassung. Konstanz 21972 – Nuscheler, F. / Steffani, W. (Hrsg.), Pluralismus. Konzeptionen u. Kontroversen. München 21973 – Tudyka, K. P. / Tudyka, J., V., Geschichte, Theorie, Funktion. Ein bibliogr.-syste-



3.4. Verbände

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matischer Versuch. Frankfurt/Main 1973 – Varain, H. J. (Hrsg.), Interessenverbände in Deutschland. Köln 1973 – Beyme, K. v., Interessengruppen in der Demokratie. München 41974 – Bichlbauer, D. / Pelinka, A. / Kadan, A., Wissenschaftliche Politikberatung am Beispiel der Paritätischen Kommission. Wien 1974 – Brünner, Ch., V. in der Parteiendemokratie. Leibnitz 1974 – Fraenkel, E., Deutschland u. die westlichen Demokratien. Stuttgart 61974 – Fröhler, L. / Oberndorfer, P., Körperschaften des öffentlichen Rechts u. Interessenvertretung. München 1974 – Gierisch, B. M., Interest Groups in Swiss Politics. Zürich 1974 – Klenner, F., Die österr. Gewerkschaften. Wien 61974 – Assel, H.-G., Demokratischer Sozialpluralismus. München 1975 – Demircioğlu, A. M., Die Rechtsstellung der Gewerkschaften in der Schweiz. Bern 1975 – Geisselmann, F., Die kommunalen Spitzenverbände. Berlin 1975 – Germann, R. E., Politische Innovation u. Verfassungsreform. Ein Beitrag zur schweizerischen Diskussion über die Totalrevision der Bundesverfassung. Bern 1975 – Narr, W.-D. (Hrsg.), Politik u. Ökonomie – autonome Handlungsmöglichkeiten des politischen Systems. Sonderh. 6/1975 der PVS. Opladen 1975 – Schmidt, W. / Bartlsperger, R., Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung. Zur Lage der Zweiten Gewalt, in: VVDStRL, H. 33. Berlin 1975, 183 ff., 221 ff. – Schneider, H., Die Interessenverbände. München 41975 – Böckenförde, E.-W. (Hrsg.), Staat u. Gesellschaft. Darmstadt 1976 – Ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt/Main 1976 – Dettling, W. (Hrsg.), Macht der V. – Ohnmacht der Demokratie? München 1976 – Geissler, H., Die Neue Soziale Frage. Analysen u. Dokumente. Freiburg/Br. 1976 – Korinek, K., Die Prinzipien des österr. Systems der Sozialpartnerschaft u. ihre Fundierung in der Kath. Soziallehre, in: Schambeck, H. (Hrsg.), Kirche u. Staat. F. Eckert zum 65. Geburtstag. Berlin 1976, 369 ff. – Krüger, H., Interessenpolitik u. Gemeinwohlfindung in der Demokratie. München 1976 – Lachs, Th., Wirtschaftspartnerschaft in Österreich. Wien 1976 – Limmer, H., Die dt. Gewerkschaftsbewegung. München 1976 – Meessen, K. M., Erlaß eines Verbändegesetzes als rechtspolitische Aufgabe? Tübingen 1976 – Schelter, K., Demokratisierung der V.? Demokratie als Ordnungsprinzip in privilegierten Interessenverbänden. Berlin 1976 – Scheuner, U., Konsens u. Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: Jakobs, G. (Hrsg.), Rechtsgeltung u. Konsens. Berlin 1976, 33 ff. – Schlußbericht der Enquete-Kommission des Dt. Bundestages, in: Zur Sache 3/76, 232 ff. – Schröder, H. J., Gesetzgebung u. V. Ein Beitrag zur Institutionalisierung der Verbandsbeteiligung an der Gesetzgebung. Berlin 1976 – Arnim, H. H. v., Gemeinwohl u. Gruppeninteressen. Frankfurt/Main 1977 – Biedenkopf, K. H. / Voss, R. v., Staatsführung, Verbandsmacht u. innere Souveränität. Stuttgart 1977 – Buchholz, E., Zwang zur Freiheit. V., Staat, Individuum. Tübingen 1977 – Dettling, W., u. a., Die Neue Soziale Frage u. die Zukunft der Demokratie. München 21977 – Farnleitner, J., Die Paritätische Kommission. Institution u. Verfahren. Eisenstadt 2 1977 – Gerhardt, M., Das Koalitionsgesetz. Verfassungsrechtliche Überlegungen zur

330

3. Wissenschaft

Neuregelung des Rechts der Gewerkschaften u. der Arbeitgeberverbände. Berlin 1977 – Hennis, W., u. a. (Hrsg.), Regierbarkeit. 2 Bde. Stuttgart 1977 u. 1979 – Hoke, G., Soziologie der Gewerkschaften. Wien 1977 – Kendall, W., Gewerkschaften in Europa. Hamburg 1977 – Kremendahl, H., Pluralismustheorie in Deutschland. Leverkusen 1977 – Massing, P. / Reichel, P. (Hrsg.), Interesse u. Gesellschaft. München 1977 – Matzner, E., Funktionen der Sozialpartnerschaft, in: Fischer, H. (Hrsg.), Das politische System Österreichs. Wien 21977, 429 ff. – Poeche, J., Multinationale Unternehmen in der Diskussion. Köln 1977 – Ströer, A., Solidarität international. Der ÖGB u. die internationale Gewerkschaftsbewegung. Wien 1977 – Ucakar, K., Die Entwicklung des Verbändewesens in Österreich, in: Fischer, H. (Hrsg.), Das politische System Österreichs. Wien 21977, 397 ff. – Utz, A. / Streithofen, H. B. (Hrsg.), Die christliche Konzeption der pluralistischen Demokratie. Stuttgart 1977 – Weber, J., Die Interessengruppen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1977 – Zacher, H. F., Staat u. Gewerkschaften. Heidelberg 1977 – Lang, W., Kooperative Gewerkschaften u. Einkommenspolitik. Das Beispiel Österreichs. Frankfurt/Main 1978 – Lentz, J., Die Öffentlichkeitsarbeit der Spitzenverbände. Düsseldorf 1978 – Teuber, G., Organisationsdemokratie u. Verbandsverfassung. Rechtsmodelle für politisch relevante V. Tübingen 1978 – Werder, H., Die Bedeutung der Volksinitiative in der Nachkriegszeit. Bern 1978 – H. 2/1978 ZParl (mit Beiträgen von Schonweg, E., Burkhardt, B., Schumann, W., u. Steiert, R., über Interessenvertretung in den EG) – Ullmann, H.-P., Bibliographie zur Geschichte der deutschen Parteien u. Interessenverbände. Göttingen 1978 – Alemann, Ü. v. / Heinze, R. G. (Hrsg.), V. u. Staat. Opladen 1979 – Mitterauer, M., Grundtypen alteuropäischer Sozialformen. Stuttgart 1979 – Neomarxismus u. pluralistische Wirtschaftsordnung, hrsg. von der Internationalen Stiftung Humanum. Bonn 1979 – Traxler, F., Gewerkschaftliche Willensbildung im Wandel der Interessenvertretung. Wien 1979 – Ellwein, Th., Gewerkschaften u. öffentlicher Dienst. Opladen 1980 – Meessen, K. M. (Hrsg.), V. u. europäische Integration. Baden-Baden 1980 – Pelinka, A., Gewerkschaften im Parteienstaat. Berlin 1980 – Schöpfer, G. (Hrsg.), Phänomen Sozialpartnerschaft. Wien 1980.



3.5. Verwaltungswissenschaft

331

3.5. Christian Brünner, Verwaltungswissenschaft

in: Klose/Mantl/Zsifkovits (Hrsg.), Katholisches Soziallexikon2, Graz/Innsbruck 1980, Spalten 3253–3263

I. Begriff 1. Es gibt verschiedene Ansätze einer wissenschaftlichen Analyse des Phänomens der öffentlichen Verwaltung u. damit verschiedene Bedeutungsgehalte des Begriffes V. Die (ältere) Verwaltungslehre versteht sich neben  Ethik u. Ökonomie als Zweig der  Politik im aristotelischen Sinn, d. h. als Lehre vom richtigen Handeln, in der die Wirklichkeit öffentlicher  Verwaltung kommentierend beschrieben u. Vorschläge für eine gute Verwaltung entworfen werden, ohne daß jedoch diese Analyse allzusehr mit methodologischen u. wissenschaftstheoretischen Fragestellungen verknüpft wird. Neben der im 19. Jh. entstandenen Verwaltungsrechtswissenschaft ( Verwaltungsrecht) wird die Verwaltungslehre – sofern sie nicht überhaupt, wie z. B. in Österreich, mehr oder minder verkümmert – zur unselbständigen Hilfswissenschaft für Dogmatik u. Theorie des Verwaltungsrechts. So sieht z. B. E. Forsthoff die Aufgabe der Verwaltungslehre darin, nachzuweisen, daß u. warum die Verwaltung den Kategorien der heutigen Arbeitswelt, wie z. B. Produktivität, Effizienz, Rationalität usw., nicht einzuordnen ist u. innerh. welcher Grenzen die Anpassung an diese Kategorien sinnvoll u. geboten ist, um so dem Verwaltungsrecht fruchtbare Anregungen bieten zu können. Mitunter wird Verwaltungslehre auch als Verwaltungskunde im Sinne einer Kunstlehre aufgefaßt, die Richtlinien u. Ratschläge auszuarbeiten hat, wie man am besten verwaltet; methodologische u. wissenschaftstheoretische Fundierung gehen dabei vollends verloren. 2. Eine gewisse Selbständigkeit weist der Verwaltungslehre ein Ansatz zu, bei dem die V. in drei Teilbereiche, nämlich Verwaltungspolitik, Verwaltungsrechtswissenschaft u. Verwaltungslehre (z. B. W. Antoniolli), etwas später in zwei Teilbereiche (Verwaltungspolitik wird der Verwaltungslehre zugeschlagen; z. B. W. Thieme; K. Stern) zergliedert wird, bei dem allerdings de facto der Verwaltungsrechtswissenschaft nach wie vor die dominierende Rolle zufällt. Im Zuge der Differenzierung der  Wissenschaften beschäftigen sich jedoch verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, z. B.  Soziologie,  Psychologie,  Geschichte, Betriebswirtschafts-

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3. Wissenschaft

lehre,  Politikwissenschaft, mit der öffentlichen Verwaltung. Der Primat der Verwaltungsrechtswissenschaft wird durch diese Vielfalt relativiert. In der Wissenschaftspraxis verliert aber auch das Faktum des einen gemeinsamen Gegenstandes seine wissenschaftstheoretische Relevanz, so daß nicht nur eine V., sondern mehrere Verwaltungswissenschaften (Verwaltungssoziologie, -psychologie usw.) nebeneinander agieren. Diese V.en isolieren die fachspezifisch akzentuierten Eigenschaften ihres einen Gegenstandes mitunter gegenstandsinadäquat; die Erkenntnisse der Nachbardisziplinen in ihrer Relevanz für die eigene Disziplin bleiben unbeachtet. 3. Zahlreich sind die Bemühungen geworden, die V.en zu einer V. zu integrieren. Als Integrationsebenen werden insbes. der eine Gegenstand, ein einheitlicher Zweck des wissenschaftlichen Bemühens, gegenstandsspezifische Methoden u./ oder eine eigenständige Theorie akzentuiert. Allerdings scheint ein allg. anerkannter Weg zu einer integrativen V. noch nicht gefunden. N. Luhmann hat versucht, mit Hilfe der  Systemtheorie eine eigenständige Theorie der V. zu entwickeln. K. König, G. Langrod, H. Siedentopf, W. Thieme u. a. sehen in der V. einen Zweig der  Sozialwissenschaften u. gehen von einer Interdependenz der bes. Sozialwissenschaften, z. B. über eine allg. Theorie der Sozialwissenschaften, aus. Neben den Beziehungen zw. der V. einerseits u. einer allg. Theorie der Sozialwissenschaften andererseits, ferner der V. als einer empirischen Sozialwissenschaft, die – weil das Recht ein wesentliches Element ihres Gegenstandes ist – der Kooperation mit der  Rechtswissenschaft bedarf, wird neuerdings ein anwendungsorientierter Zweig der V. (Entwurf einer „besseren“ Verwaltung) herausgestellt (z. B. P. Eichhorn; H. Ryffel), für den sich mitunter der Terminus „Verwaltungslehre“ wiederfindet.

II. Entwicklung. Hand in Hand mit der  Verwaltung, die bereits ansatzweise in den Städten im Mittelalter u. in den landesfürstlichen Territorien am Beginn der Neuzeit vorhanden ist u. im absolutistischen Wohlfahrtsstaat des 17. u. 18. Jh.s raschen Ausbau erfährt, entwickelt sich auch – wie schon die Schriften von L. V. v. Seckendorf zeigen – eine Lehre von der Verwaltung. Die Verwaltungslehre, in der sich einige wenige theoretische Grundsätze mit Regeln praktischer Nutzanwendung mischen, ist zunächst Bestandteil einer allg. Staatswissenschaft u. erfährt im  Merkantilismus u.  Kameralismus eine Akzentuierung auf wirtschaftspolitischer u. staatsphil. Grundlage (J. J. Becher, Ph. W. Hornick, W. v. Schröder, Ch. Wolff u. a.). Die in der ersten Hälfte des 18. Jh.s an den Universitäten des dt. Sprachraumes installierte Kameralwissenschaft umfaßt demnach Kameralistik im engeren Sinn



3.5. Verwaltungswissenschaft

333

(Finanzwissenschaft), Ökonomik u. „Polizeisachen“, d. h. Gefahrenabwehr u. Wohlfahrtspflege als die Instrumente der inneren Verwaltung des obrigkeitlichen Wohlfahrtsstaates. In der 2. Hälfte des 18. Jh.s verselbständigt sich die Polizeiwissenschaft; es kommt zu einer ersten systematischen Bearbeitung des Phänomens der Verwaltung (J. H. G. v. Justi, J. v. Sonnenfels). 2. Der bürgerliche  Rechtsstaat des 19. Jh.s setzt der Gefahrenabwehr u. a. durch die Gebote des Gesetzesvorranges u. des Gesetzesvorbehaltes Grenzen u. überläßt die Wohlfahrtspflege im großen u. ganzen der  Gesellschaft. Damit tritt das die Tätigkeit der Verwaltung reglementierende Recht, das  Verwaltungsrecht, in den Mittelpunkt des Interesses. R. v. Mohl verselbständigt das Verwaltungsrecht, indem er es aus dem Staatsrecht löst, u. setzt damit einen letzten Impuls für die Verwaltungsrechtswissenschaft, deren Aufstieg vom Niedergang der Verwaltungslehre begleitet wird. 3. Lorenz v. Stein (1815 in Eckernförde im Herzogtum Schleswig-Holstein geb., phil. u. juristische Studien in Kiel u. Jena, Aufenthalte in Berlin u. Paris mit Kontakten zu Führern anarchistischer u. sozialistischer Bewegungen, 1855 Ernennung zum Professor der Staatswissenschaften an der Universität Wien, 1885 Emeritierung, 1890 in Weidlingen bei Wien gest.) gilt als der Begründer der modernen V. Sein wichtigstes, die Verwaltung betreffendes Hauptwerk ist die mehrteilige „Verwaltungslehre“, in I. Aufl. 1865/68, in 2. 1869/84 erschienen. Der Zweck des  Staates liegt für Stein in der Obsorge für das allg. Wohl der Gesellschaft. Das Mittel zur Erreichung dieses Zweckes ist die  Verwaltung, sie ist der „arbeitende Staat“. Die Tätigkeit für die Gesellschaft ist somit Charakteristikum der Verwaltung, die  Staat (Idee) u.  Gesellschaft ( Interesse) trennt, aber auch vermittelt, u. die in der Verordnung – „konkretes Korrelat des abstrakten Gesetzes“ – ein Instrument besitzt, mit dessen Hilfe sie den Besonderheiten u. Wandlungen der Lebensverhältnisse Rechnung tragen kann. Der Staat der bürgerlichen Gesellschaft ist aber auch gekennzeichnet durch Selbstbestimmung des einzelnen, die nicht nur in die „Willensbestimmung oder Gesetzgebung“, sondern – durch  Selbstverwaltung u. Vereinswesen – auch in die „Tat oder Verwaltung“ aufgenommen wird.  Rechtsstaat ist dieser Staat insbes. insoweit, als er die Rechtsgleichheit aller gewährleistet. 4. Steins Versuch, den sozialen Auftrag der Verwaltung u. das Recht in einer auf faktische u. normative Elemente gestützten Verwaltungslehre zu analysieren, hat jedoch – sieht man einmal von den Verwaltungslehren K. Th. v. Inama-Sterneggs (1870) u. L. Gumplowiczs (1882) ab – keine Schule im Bereich der Rechts- u.

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3. Wissenschaft

Staatswissenschaft begründet; es fällt somit der Verwaltungsrechtswissenschaft die dominierende Rolle zu, die sie in den dt.sprachigen Ländern Europas bis in die 2. Hälfte des 20. Jh.s nicht mehr abgibt. Aufgegriffen werden Fragestellungen der älteren Verwaltungslehre allerdings durch die  Sozialwissenschaften, so z. B. in der Organisationssoziologie (entscheidender Beginn ist Max  Webers Idealtypus der Bürokratie als der wirksamsten Form der Ausübung von Herrschaft), Betriebswirtschaftslehre u.  Politikwissenschaft, in jüngster Zeit jeweils auch auf entscheidungs- u. systemtheoretischer Grundlage. Auch die Verwaltungspraxis wendet sich immer wieder den Anliegen der Verwaltungslehre zu, insbes. dann, wenn Verwaltungsreformen notwendig werden (z. B. als Folge der Einsparungsbedingungen, die mit den in den Genfer Protokollen 1922 vom Völkerbund zugesagten Finanzierungshilfen verbunden waren). Ferner führt das Defizit an verwaltungswissenschaftlicher Ausbildung durch die Universitäten, an denen de facto im großen u. ganzen nur Verwaltungsrecht gelehrt wird, dazu, daß praxiseigene Ausbildungseinrichtungen (z. B. Verwaltungsakademien) geschaffen werden, die den Anforderungen der Praxis umfassender Rechnung tragen u. sich mitunter sogar zu Stätten verwaltungswissenschaftlicher Forschung entwickeln. 5. Eine für die Wiederaufnahme u. Fortentwicklung des Steinschen Integrationsgedankens entscheidende Institutionalisierung der V. im Bereich der Staats- u. Rechtswissenschaft sind nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland vor allem die Verwaltungshochschule in Speyer u. der Gesprächskreis Verwaltungslehre im Rahmen der Vereinigung der dt. Staatsrechtslehrer. In Österreich setzt insbes. G. E. Kafka Impulse dafür, neben den rechtlichen auch die sozialen, ökonomischen, politischen u. historischen Bedingungen öffentlicher Verwaltung zu beachten; seit einiger Zeit mehren sich denn auch Analysen des Phänomens öffentlicher Verwaltung, die an rechtsdogmatisch nachweisbaren Funktionen der Verwaltung orientiert sind oder auf der Grundlage eines methodenpluralistischen Forschungsansatzes die Erkenntnisleistungen der sich mit öffentlicher Verwaltung beschäftigenden Sozialwissenschaften auch für die Verwaltungsrechtswissenschaft fruchtbar zu machen versuchen. Zu einer den Forschungsdefiziten Rechnung tragenden intensiveren Institutionalisierung der V. kommt es allerdings weder in Österreich noch in der Schweiz; dort versucht vor allem die Vereinigung für Politische Wissenschaft, die V. zu beleben. Auf übernationaler Ebene setzt das internationale Institut für V. in Brüssel, das Sektionen in einzelnen Ländern hat, Initiativen.



3.5. Verwaltungswissenschaft

335

III. Gegenstand 1. Gegenstand der V. sind der organisatorische Aufbau (Dienststellen, Ämter, Behörden, Organe) u. der Ablauf öffentlicher Verwaltung, in dessen Abschnitten u. a. übertragene Aufgaben präzisiert, Informationen gewonnen u. verarbeitet, Sachverstand eingebracht,  Kommunikation u. Koordination gepflogen,  Planungen betrieben u. Entscheidungen getroffen werden müssen. In den Dienststellen, Ämtern usw. ist Personal tätig, das geworben, ausgewählt, geschult, eingesetzt u. motiviert wird u. aus dem sich auch Führungskräfte rekrutieren. Die Verwaltung bedient sich bei Erfüllung ihrer Aufgaben ferner monetärer u. realer (z. B. Grund u. Boden) Ressourcen. Auch wird sie in bezug auf Rechtmäßigkeit, Übereinstimmung mit den politischen Entscheidungen u. Wirtschaftlichkeit kontrolliert. 2. Die öffentliche Verwaltung ist jedoch kein geschlossenes System; sie steht mit ihrer Umwelt in Beziehung. Gegenstand der V. sind daher weiters a) die Beziehungen öffentlicher Verwaltung zu den Trägern von  Regierung u. die Rolle, die die  Verwaltung bei Definition, Legitimation u.  Planung der Staatsaufgaben spielt; b) das Verhältnis zu den  Verbänden, zur Wirtschaft, zur Öffentlichkeit, zu den Aktivbürgern u. denjenigen, die von den Entscheidungen der Verwaltung betroffen sind; c) die Interdependenzen zw. Verwaltung u.  Wissenschaft. Innerh. der Verwaltung können aber auch Strukturprinzipien ihrer Umwelt analysiert werden; denn auch die Verwaltung trifft politische Entscheidungen, bringt Sachverstand ein, ist selbst Partei, d. h. vertritt „eigene“, durch die zu erfüllende Aufgabe nicht legitimierbare Interessen. 3. Die Dynamik der politischen, wirtschaftlichen u. sozialen Verhältnisse im 20. Jh. führt zu sich schneller wandelnden Anforderungen an die öffentliche Verwaltung. Die V. widmet sich daher nicht nur diesen Anforderungen, sondern auch der Reform der Verwaltung u. den Bedingungen für deren Realisation. 4. Die V. beschäftigt sich überdies mit der Definition ihres Gegenstandes, mit ihren Methoden, mit ihrem Zweck u. mit ihrer theoretischen Fundierung, schließlich mit dem Vergleich öffentlicher Verwaltungen.

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3. Wissenschaft

IV. Fragestellungen u. Methode. 1. Die V. geht bei der Analyse ihres Gegenstandes von – für die V. – spezifischen Fragestellungen aus. Nach K. König sind die Erkenntnisinteressen der V. gerichtet auf Realität, Potentialität, Idealität u. Normativität der Verwaltung. Der V. geht es also darum, festzustellen, welche empirisch nachweisbaren Sachverhalte die Verwaltung ausmachen, welche Abfolgen von Sachverhalten regelmäßig auftreten, welche dieser Regelmäßigkeiten zur Erklärung eines bestehenden u./oder zur Vorhersage eines künftig möglichen Zustandes dienen kann, was der Zweck (der „Sinn“) der Verwaltung ist u. wie man ihn „am besten“ erfüllt. Entsprechend den bes. Erkenntnisinteressen der den Gegenstand „Verwaltung“ bearbeitenden Wissenschaften erfährt die verwaltungswissenschaftliche Fragestellung eine weitere Akzentuierung. Zum Beispiel prüft die Betriebswirtschaftslehre der öffentlichen Verwaltung, ob u. inwieweit die öffentliche Verwaltung mit der Verwaltung z. B. eines Unternehmens verglichen werden kann, welche Managementmodelle sich auf öffentliche Verwaltung übertragen lassen, welche auf ökonomischer Basis entwickelten Handlungsempfehlungen der Verwaltung gegeben werden können usw. Die Organisationssoziologie fragt nach Strukturen u. Verhaltensweisen öffentlicher Verwaltung als eines zielorientierten sozialen Systems, nach den Beziehungen zw. diesem System u. seiner Umwelt, nach dem Verfahren der Problemlösung u. Entscheidungsfindung im System usw. Die Bedingungen u. Interdependenzen von Leistungsfähigkeit, Motivation, Persönlichkeitsentfaltung, Kommunikation des Verwaltungspersonals als Mitglieder einer Gruppe sind u. a. Gegenstand des Interesses der Verwaltungspsychologie. Die Politikwissenschaft läßt sich von der Frage nach der Rolle der Verwaltung bei der Legitimation von Herrschaft, bei Auswahl u. Planung öffentlicher Aufgaben u. bei der Regierung, ferner nach den Bedingungen der Kontrolle, der Demokratisierung des Verwaltungshandelns, der Partizipation an Verwaltungsentscheidungen usw. leiten. Die Verwaltungsrechtswissenschaft geht den rechtlichen Bedingungen des Verwaltens, den verfassungsrechtlichen Determinanten des Verwaltungsrechts u. der Frage nach, einerseits welche Rechtsnormen durch geplante Verwaltungsreformen tangiert werden, andererseits mit Hilfe welcher Rechtsinstitutionen die Aufgaben der Verwaltung am besten zu erfüllen sind. 2. Auch die V. muß sich planmäßiger Verfahren bedienen, um im Zusammenhang mit ihren fachspezifischen Fragestellungen zu nachprüfbaren Erkenntnissen über ihren Gegenstand zu gelangen. Die Protokollierung empirisch fundierter Einzelaussagen, das Gewinnen von Hypothesen u. Theorien durch Verallgemeinerung dieser Aussagen u. der Einsatz von Hypothesen u. Theorien zur Erklärung eines



3.5. Verwaltungswissenschaft

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faktischen Zustandes sind allg. Methoden jeden wissenschaftlichen Bemühens. Als Zweig der Sozialwissenschaft bedient sich die V. aber auch spezifisch sozialwissenschaftlicher Methoden. Dazu zählen Beobachtung, Befragung (Fragebogen, Interview), Dokumentenanalyse bzw. sonstige auch von anderen Wissenschaften (z. B. der  Rechtswissenschaft) praktizierte Untersuchungstechniken. Erhobene Daten werden mit Hilfe mathematisch-statistischer Verfahren, Verfahren der Skalierung usw. verarbeitet. Simulation (d. h. das vereinfachende, vorwegnehmende Abbilden der komplexen Wirklichkeit auf der Grundlage mathematischer Modelle) u. Planspiel (d. h. das Ermitteln von Auswirkungen angenommener Entscheidungen u. das Durchspielen von Entscheidungsvarianten) erlauben es, Beobachtungsbedingungen künstlich herbeizuführen u. abzuwandeln (d. h. zu experimentieren), um so zu Erkenntnissen über den Gegenstand zu gelangen. Da die öffentliche Verwaltung Ziele verwirklichen muß, arbeitet die V. schließlich mit verschiedenen Verfahren der Optimierung (z. B. Spieltheorie, Netzplantechnik usw.) bzw. prüft ihre Anwendbarkeit in der Verwaltung. Lit.: Stein, L. v., Die Verwaltungslehre, 7 Teile. Stuttgart 1865/68 – Ders., Hdb. der Verwaltungslehre u. des Verwaltungsrechts. Stuttgart 1870 – Inama-Sternegg, K. Th. v., Verwaltungslehre in Umrissen. Innsbruck 1870 – Gumplowicz, L., Verwaltungslehre. Innsbruck 1882 – Marchet, G., Studien über die Entwicklung der Verwaltungslehre in Deutschland. München 1885 – Kühnel. G., Elemente der Verwaltungslehre. Leipzig 1934 – Morstein Marx, F. (Hrsg.), Verwaltung. Berlin 1965 – Ellwein, Th., Regierungs- u. Verwaltungslehre. Stuttgart 1966 – Luhmann, N., Theorie der V. Köln 1966 – Maier, H., Die ältere dt. Staats- u. Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Neuwied 1966 – Stern, K., Verwaltungslehre – Notwendigkeit u. Aufgabe im heutigen Sozialstaat, in: GedS. H. Peters, Berlin 1967, 219 ff. – Blank, H.-J., Verwaltung u. V., in: Kress, G. / Senghaas, D. (Hrsg.), Politikwissenschaft. Frankfurt/Main 1969, 368 ff. – V. in europäischen Ländern. Berlin 1969 – König, K., Erkenntnisinteressen der V. Berlin 1970 – Scharpf, F. W., V. als Teil der Politikwissenschaft, in: Schweizerisches Jb. für Politische Wissenschaft 1971, 7 ff. – Bischofberger, P., u. a., Verwaltung im Umbruch. Bern 1972 – Forsthoff, E. (Hrsg.), Lorenz v. Stein. Gesellschaft – Staat – Recht. Frankfurt/Main 1972 – Langrod, G., Der Nutzen der allg. Systemtheorie in der V., in: Die Verwaltung 1972, 127 ff. – Mayer, F., Die Verwaltungslehre als Studienu. Prüfungsfach für die Juristenausbildung an den dt. Universitäten, in: Schnur, R. (Hrsg.), FS für E. Forsthoff. München 1972, 241 ff. – Titscher, St., Ansätze zur empirischen Verwaltungsforschung in Österreich, in: ÖZPW 2 (1973), 129 ff. – Becker. U. / Thieme, W. (Hrsg.), Hdb. der Verwaltung. Köln 1974 ff. – Dittrich, E., Die dt. u. österr. Kameralisten. Darmstadt 1974 – Battis, U., Juristische Verwaltungslehre. In: Die Verwaltung 1975, 413 ff. – Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung

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3. Wissenschaft

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3.6. Korruption und Kontrolle

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3.6. Christian Brünner, Korruption und Kontrolle – eine Einleitung (Auszug)

in: Brünner (Hrsg.), Korruption und Kontrolle, Wien/Köln/Graz 1981, 11–20

I. Österreichs politisches System – Ein Beispiel für erhöhte Korruptionsintensität? Ein kurzer Blick auf die Geschichte zeigt, daß es in verschiedenen politischen Systemen offenbar Phasen gibt, in denen Korruption besonders häufig auftritt, ferner in denen öffentliche Meinung, opinion leaders, Massenmedien, Wissenschaft, einzelne Bürger eine ausgeprägte Sensibilität aufweisen, korruptes Verhalten zu diagnostizieren und über dieses Verhalten Unwerturteile zu fällen. Beispiele für solche Phasen, deren Korruptionsintensität freilich erst näher geprüft werden müßte, scheinen die Regierungszeit des Bürgerkönigs Louis Philippe von Orleans in Frankreich1, die Zeit der Prohibition in den Vereinigten Staaten2, das Dritte Reich in Deutschland3, Zeiten rigoroserer, flächendeckender imperativer Planung und großer Starrheit beim Planvollzug in Zentralverwaltungswirtschaften4 oder der Status Entwicklungsland5 zu sein. Darüber hinaus muß angenommen werden, daß Korruption auch zwischen diesen Phasen ein, wenn auch verschieden intensiv gehandhabtes, so doch weit verbreitetes Instrument der Stabilisierung von Führungsansprüchen einzelner und/oder Gruppen ist.

1 Vgl. z. B. Alexis de Tocqueville, in: Alexis de Tocqueville, Die Gefährdung der Freiheit in der Demokratie, hrsg. von Michael Hereth, Stuttgart u. a. 1979, 102 ff. 2 Vgl. z. B. Schmölders, Günter: Die politische Korruption in den Vereinigten Staaten und ihre Bekämpfung in der Nachkriegszeit (Archiv für angewandte Soziologie 4, 1931/32, 253 ff.). 3 Vgl. z. B. Menne, Leo: Korruption (Kölner Zeitschrift für Soziologie 1, 1948/49, 144 ff.). 4 Vgl. z. B. Schmidt, Kurt / Garschagen, Christine: Korruption, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft 4, Stuttgart u. a. 1978, 570. – Konkrete Fälle von Korruption kommen offensichtlich immer wieder vor; so sollen z.  B. in Polen im Zuge der Reform der letzten Monate solche Fälle aufgedeckt worden sein; vgl. Kleine Zeitung vom 28. 4. 1981, 3. 5 Vgl. z. B. Schmidt/Garschagen: Korruption (FN 4), 570; Johnson, Omotunde E. G.: An Economic Analysis of Corrupt Government, with Special Application to less Developed Countries (Kyklos 28, 1975, 47 ff.).

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3. Wissenschaft

Als Beispiel einer solchen korruptionsintensiveren Phase dürfte derzeit auch Österreich gehandelt werden, wenn man die korruptionsrelevanten Ereignisse der letzten zwanzig Jahre Revue passieren läßt, die Alfred Worm unlängst in Erinnerung gerufen hat.6 Weitere Konturen gewinnt das Bild des Skandals, soweit es sich auf zwei der jüngsten, mit Korruption in Verbindung gebrachten Fälle, nämlich den Neubau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses (AKH) und die seinerzeitige Unternehmensführung der Steirischen Tierkörperverwertungs-Ges.m.b.H. mit dem Sitz in Landscha an der Mur (TKV) bezieht, beispielsweise aus zwei Berichten des Wiener Kontrollamtes7, aus dem Bericht des Rechnungshofes über die Durchführung besonderer Akte der Gebarungsprüfung betreffend die Betriebsorganisationsplanung für den Neubau des Allgemeinen Krankenhauses in Wien,8 aus dem Bericht des vom Nationalrat eingesetzten AKH-Untersuchungsausschusses9 und aus dem Bericht des vom Steiermärkischen Landtag eingesetzten TKVUntersuchungsausschusses10. Ginge man tatsächlich einmal davon aus, daß der Pegelstand an Korruption in Österreich im Verhältnis zu vergleichbaren politischen Systemen höher sei,11 wären mit diesem Befund noch nicht alle Fakten zutage gefördert, die notwendig sind, um ein ausgewogeneres Urteil über das politische System zu fällen. Dies deshalb, weil es nach menschlicher Erfahrung nicht möglich ist, Individuum und Gesellschaft korruptionsfrei zu konstruieren; Praktiken und Erfolg erziehungsdiktatori6 Worm, Alfred: Der Skandal. AKH: Story, Analyse, Dokumente. Europas größter Krankenhausbau, Wien 1981, 291 ff. 7 Kontrollamt der Stadt Wien, Geschäftszahl KA II-17 AK-2/79 vom 12. Mai 1980, Bericht betreffend die Vergabe der Betriebsorganisationsplanung, behandelt vom Gemeinderat in der Sitzung vom 25. 7. 1980; Kontrollamt der Stadt Wien, Geschäftszahl KA V–AKN–1/79 vom 12. 3. 1981, Bauwirtschaftlicher Prüfbericht über den Neubau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses (Universitätskliniken). 8 III-77 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates 15. GP. Vgl. auch den Bericht des Rechnungshofausschusses, 764 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates 15. GP, sowie die Debatte in der 80. Sitzung des Nationalrates vom 30. 6. 1981. 9 670 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates 15. GP, behandelt vom Nationalrat in der Sitzung vom 19. 5. 1981. 10 Abschließender Bericht des Untersuchungs-Ausschusses, Einl.-Zahl 377/2, hinsichtlich der im Zusammenhang mit der Tierkörperverwertung aufgetretenen Fragen, behandelt vom Steiermärkischen Landtag in der Sitzung vom 20. 10. 1980 (Stenographischer Bericht, 21. Sitzung 9. GP, 821 ff.). – Die Kontrollabteilung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung wurde im September 1980 beauftragt, die von der Steirischen Tierkörperverwertungs-Ges. m. b. H. vorgelegten Unterlagen, die Grundlage für die Errechnung der in der Anlage zur Tierkörperverwertungsverordnung festgelegten Tarife waren, zu überprüfen. 11 Peter Gerlich diagnostiziert für Österreich im Systemvergleich jedoch keine Extremposition betreffend Korruption; Österreich befinde sich vielmehr in einem mittleren Bereich; vgl. Gerlich in diesem Sammelband, Seite 178.



3.6. Korruption und Kontrolle

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scher Unternehmungen verleiten sogar zur Schlußfolgerung, daß diesbezügliche Versuche auch gar nicht wünschenswert wären. Es ist somit zweckmäßiger, sich des moralisierenden, angesichts der eigenen Hinfälligkeit als scheinheilig entlarvenden Entrüstens zu enthalten und sowohl das Fehlverhalten des Menschen als auch den Aufbau von Strukturen, die dieses Fehlverhalten fördern, nüchtern zu kalkulieren. Erst dann wird nämlich der Blick auf einen zur Urteilsbildung notwendigen weiteren Sachverhalt frei, nämlich, ob und inwieweit Individuum und Gesellschaft fähig sind, Verhalten und Strukturen auf ihren Unwertgehalt hin zu überprüfen und durch reformatorische Veränderung der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß in einem dauernden Verfahren des trial and error zwar nicht das Paradies auf Erden, aber doch eine bessere, menschenwürdigere Welt gewonnen werden kann.

II. Chronik der österreichischen „Selbstreinigung“ Es ist festzuhalten, daß in Österreich angesichts von Art und Umfang der jüngsten Korruptionsfälle Prozesse der Selbstreinigung, d. h. des Offenlegens, Aufklärens und Einbekennens von personellen und strukturellen Fehlern einerseits und des reformatorischen Veränderns andererseits, in Gang gesetzt worden sind. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im folgenden einige diesbezügliche Fakten beschrieben werden. Im Jahre 1979 wurde das Kontrollamt der Stadt Wien beauftragt, Gebarungsakte der Allgemeinen Krankenhaus Wien Planungs- und Errichtungs-AG (AKPE), die sich auf die Vergabe der Betriebsorganisationsplanung des AKH an die Arbeitsgemeinschaft Betriebsorganisationsplanung bezogen, zu überprüfen. Kurze Zeit später führte eine Beauftragung des Rechnungshofes12 dazu, daß auch der Rechnungshof mit der Prüfung der Gebarung betreffend die Betriebsorganisationsplanung begann.13 Nachdem insbesondere durch die Berichterstattung in verschiedenen Massenmedien, die sich auf eine Rohfassung des Kontrollamtsberichtes stützte, Vorgänge um das AKH zum Gegenstand öffentlicher Diskussion gemacht worden waren, wurden auf politischer Ebene14 weitere Kontrollen in Gang gesetzt, die nunmehr vom Anbeginn an im Lichte der Öffentlichkeit standen. So setzte der Nationalrat in der Sitzung vom 17. 4. 1980 einen parlamentarischen Un-

12 Gemäß Art. 126 b Abs. 4 B-VG in Verbindung mit § 99 Abs. 2 NRGOG, d. h. aufgrund eines parlamentarischen Minderheits-Kontrollrechtes. 13 Kontrollen durch Kontrollamt und Rechnungshof sind bereits spätestens seit 1975 gefordert worden; ein Erfolg war diesen Forderungen somit erst relativ spät beschieden. 14 Hinsichtlich der Einschaltung der Gerichte vgl. die Dokumentation beiWorm, Skandal (FN 6).

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3. Wissenschaft

tersuchungsausschuß mit dem Auftrag ein, im Zusammenhang mit dem Bau des Allgemeinen Krankenhauses in Wien erstens die Vergabe von Aufträgen durch die AKPE an die Arbeitsgemeinschaft Betriebsorganisationsplanung bzw. von Subaufträgen und deren Abwicklung, zweitens die Vorwürfe im Zusammenhang mit angeblichen gesetzwidrigen finanziellen Zuwendungen durch die Firma Siemens bzw. von anderen Firmen, die am Projekt beteiligt sind, und drittens die Vorwürfe betreffend angebliche Parteienfinanzierung im Zusammenhang mit Auftragserteilungen zu untersuchen.15 Schon vorher, kurze Zeit nach der ersten Beauftragung, war das Kontrollamt der Stadt Wien neuerlich, diesmal zwecks laufender Prüfung der Gebarung der AKPE, eingeschaltet worden.16 Mit Fragen der Fertigstellung des AKH befaßte sich über Beschluß des Hauptausschusses des Nationalrates vom 20. 3. 198117 eine parlamentarische Enquete am 10. 4. 198118. Aus den vorliegenden Kontrollergebnissen wurden auch bereits erste Konsequenzen gezogen, die u. a. die Organisation der Planung und der Errichtung des AKH betreffen. Die Eigentümer der AKPE, das sind der Bund und die Gemeinde Wien, installierten im Herbst 1980 ein Kontrollbüro, das die begleitende Kontrolle des AKH-Neubaues übertragen erhielt und mit dessen Leitung der seinerzeitige Präsident des Rechnungshofes, Dr. Jörg Kandutsch, betraut wurde.19 Am 26. 3. 1981 trafen Vertreter der Eigentümer der AKPE eine Vereinbarung, die AKPE in eine Ges. m. b. H. umzuwandeln.20 Die Vereinbarung und die Modifikation der Umwandlung – darunter die Installierung einer Abteilung für begleitende Kontrolle, die unter der Leitung des Präsidenten des Aufsichtsrates stehen soll, und eine Determinierung der Tätigkeit des Vorstandes der Ges. m. b. H. – wurden in der Sitzung des Wiener Gemeinderates vom 27. 3. 1981 der Öffentlichkeit bekanntgegeben. 15 Vgl. Stenographisches Protokoll des Nationalrates, 31. Sitzung 15. GP, 3092 ff., und 30. Sitzung 15. GP, 2947 f; vgl. auch oben FN 8. 16 Vgl. oben FN 7. 17 Gemäß § 98 NRGOG. 18 Das Stenographische Protokoll dieser Enquete liegt derzeit noch nicht vor. 19 Im Ausschuß für Finanzen und Wirtschaftspolitik des Wiener Gemeinderates wurde am 7. 11. 1980 über die Installierung des Kontrollbüros berichtet. – Im Nationalrat wurde am 21. 8. 1981 eine Entschließung betreffend begleitende Kontrolle beim AKH angenommen; vgl. Stenographisches Protokoll, 44. Sitzung 15. GP, 4291, 4302. 20 Die Umwandlung ist in der Hauptversammlung vom 30. 4. 1981 beschlossen worden. – Vgl. den Vorschlag der sog. Pallin-Kommission (unten FN 31), als Gesellschaftsform für ausgegliederte Rechtsträger in der Regel die Ges. m. b. H. zu wählen. – In einer Gesellschafterversammlung soll vereinbart worden sein, daß sich die zuständigen Politiker künftig jeden Monat zu einem Jour fixe treffen wollen, um sich über den Projektstand des AKH auf dem laufenden zu halten; vgl. Kleine Zeitung vom 3. 6. 1981, 2.



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Auch in der TKV-Affäre hatten Massenmedien entscheidenden Anteil daran, daß das Kontrollinteresse der Öffentlichkeit aktualisiert und in der Folge Kontrollverfahren eingeleitet wurden. So setzte der Steiermärkische Landtag in der Sitzung vom 29. 4. 1980 einen Untersuchungsausschuß ein mit dem Auftrag, mögliche Zusammenhänge zwischen privatwirtschaftlichen Interessen in der Steirischen Tierkörperverwertungs-Ges. m. b. H. in Landscha und der Tätigkeit von Landesorganen in Ausübung des öffentlichen Amtes auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu prüfen.21 Auch die Kontrollabteilung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung wurde eingeschaltet.22 Überdies wurden die für die TKV geltenden, teilweise überalterten Verwaltungsvorschriften einer Prüfung im Hinblick auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit unterzogen. Diese Prüfung führte zu Reformwünschen betreffend das vom Bund zu erzeugende Tierkörperverwertungsrecht 23 und zu Reformarbeiten an der vom Landeshauptmann zu erlassenden Tierkörperverwertungsverordnung.24 Fakten des Prozesses der Selbstreinigung betreffen jedoch nicht nur die Vorgänge um AKH und TKV. Es wurde auch eine über diese beiden Fälle hinausgehende Korruptions- und Kontrolldebatte geführt; diese löste ihrerseits wiederum einige Reformvorschläge bzw. Reformen aus. Seit Mai 1980 sammeln Proponenten25 Unterstützungserklärungen für den Antrag auf Einleitung des Verfahrens für ein Volksbegehren, das auf die Erlassung eines Bundesgesetzes betreffend Maßnahmen gegen wirtschaftlichen Mißbrauch im öffentlichen Bereich (Antikorruptionsgesetz) gerichtet ist. Der Entwurf dieses Antikorruptionsgesetzes beinhaltet Reformen des Unvereinbarkeitsrechts für Regierungsmitglieder und Staatssekretäre, des Vergaberechtes, des Strafrechts und des Rechtes auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.26 Nachdem sich um die Frage der für 18. 6. 1980 anberaumten Wahl eines neuen Präsidenten des Rechnungshofes im Nationalrat eine allgemeinere Diskussion 21 Stenographischer Bericht, 16. Sitzung 9. GP, 756, 751; vgl. ferner 718 f., 728 f., 735 ff. Der Untersuchungsausschuß erstattete am 25. 6. 1980 einen Zwischenbericht (Einl.-Zahl 377/1); vgl. Stenographischer Bericht, 18. Sitzung 9. GP, 766, 781 f. Hinsichtlich des abschließenden Berichts vgl. oben FN 10. 22 Vgl. oben FN 10. 23 Auch das Tierseuchengesetz aus dem Jahre 1909, RGBl. 177, zuletzt idF BG 1978/ 220, auf das sich die Steirische Tierkörperverwertungsverordnung, LGBl. 1979/90, ebenfalls stützt, müßte reformiert werden. 24 Vgl. diesbezüglich eine Anfragebeantwortung in der Sitzung des Steiermärkischen Landtages vom 25. 2. 1981, ferner oben FN 21. 25 Eva Bassetti-Bastinelli, Michael Graff, Bernhard Raschauer und Bernd Schilcher. 26 Eine Zwischenbilanz der Bemühungen um ein Volksbegehren für ein Antikorruptionsgesetz wurde auf einer Pressekonferenz der Proponenten am 12. 11. 1980 gezogen.

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3. Wissenschaft

über die Effektivität parlamentarischer Kontrolle der Regierung entzündet hatte27 und in Entschließungsanträgen Bemühungen um den Ausbau parlamentarischer Kontroll- und Minderheitsrechte gefordert worden waren,28 beschloß der Hauptausschuß des Nationalrates,29 am 28. 1. 1981 eine parlamentarische Enquete zum Thema „Ausbau der Kontroll- und Minderheitsrechte in der österreichischen Bundesverfassung“ durchzuführen. Bei dieser Enquete wurden nicht nur zahlreiche Reformvorschläge deponiert, sondern auch politische und soziale Bedingungen wirksamer Kontrolle diskutiert.30 Im Juli 1980 kamen der Bundeskanzler und der Bundesminister für Justiz überein, eine Kommission zur Erstattung von Vorschlägen für den verstärkten Schutz vor Mißbrauch bei der Vergabe und Durchführung öffentlicher Aufträge unter dem Vorsitz des Präsidenten des Obersten Gerichtshofes i. R., Dr. Franz Pallin – die Kommission wird daher auch als Pallin-Kommission bezeichnet – einzusetzen.31 Das Gutachten der Kommission, über das auf einer Veranstaltung der SPÖ/ Forum 80 zum Thema „Für ein sauberes Österreich. Korruption – ihre Wurzeln und ihre Bekämpfung“ am 21. 10. 1980 berichtet worden ist,32 enthält Empfehlungen betreffend Reformen des Vergaberechtes, der Praktiken bei der Errichtung ausgegliederter Rechtsträger, des Strafrechtes und des Steuerrechtes. Im Feber 1981 versandte das Bundesministerium für Justiz einen Entwurf für ein Bundesgesetz über die Strafbestimmungen zur Bekämpfung der Untreue und der Bestechlichkeit (zweites Antikorruptionsgesetz)33, der überwiegend auf Vorschläge der soge27 Stenographisches Protokoll des Nationalrates, 38. Sitzung 15. GP, 3633 ff. 28 Stenographisches Protokoll des Nationalrates, 38. Sitzung 15. GP, 3647 f., 3675; 3671, 3677; Stenographisches Protokoll des Bundesrates, 403. Sitzung vom 4. 12. 1980; 404. Sitzung vom 19. 12. 1980. 29 Der Beschluß stützt sich auf § 98 NRGOG. 30 Vgl. das Stenographische Protokoll über diese Enquete (15. GP des Nationalrates). – Anzumerken ist, daß weder die derzeitigen Bestimmungen der Geschäftsordnung des Nationalrates über Enqueten (§ 98 NRGOG) noch die Praxis dem Zweck solcher Enqueten, Informationen zu gewinnen, dienen. Eine Reform, z. B. durch Verstärkung der Öffentlichkeit oder Änderung des Rituals eines Schlagabtausches zwischen den Parteien in Richtung eines Kreuzverhörs von Sachverständigen, ist dringend notwendig. Für die BRD vgl. z. B. die Reformvorschläge der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Teil I (Zur Sache 3/76, 135 ff.). Für die Schweiz vgl. den Schlußbericht der Studienkommission der eidgenössischen Räte „Zukunft des Parlaments“ vom 29. 6. 1978, 88 f., 117 f. – Fraglich ist freilich, ob die Informationsfunktion der aus dem angloamerikanischen Parlamentsrecht übernommenen Institution Enquete (hearing) angesichts grundlegender Unterschiede in der Beziehung zwischen Parlament und Regierung (Gewaltenfusion in Österreich) überhaupt Wirkung entfalten kann. 31 Vgl. Wiener Zeitung vom 22. 7. 1980. – Es handelt sich bei der Kommission um eine Kommission gemäß § 8 Bundesministeriengesetz 1973. 32 Es referierten Hans Saner, Basel (vgl. FN 47); Ronald Wiegand, Berlin; Bruno Kreisky; Franz Pallin. 33 Als erstes Antikorruptionsgesetz wird das BG vom 29. 4. 1964, BGBl. 116, bezeichnet, das in das



3.6. Korruption und Kontrolle

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nannten Pallin-Kommission zurückgeht, sich aber auch – so die Erläuterungen zum Entwurf – als Verwirklichung der Entschließung des Nationalrates vom 21. 8. 198034 bzw. eines Punktes des 10-Punkte-Programms des Bundeskanzlers35 darstellt. Spätestens seit Sommer 1980 nahm auch Bundespräsident Dr. Rudolf Kirchschläger insbesondere zu den Vorfällen um das AKH sehr deutlich Stellung. In den Eröffnungsansprachen zur Internationalen Landwirtschaftsmesse Wels 1980 (29. 8. 1980) und zur Wiener Herbstmesse 1980 (6. 9. 1980) verurteilte der Bundespräsident einerseits die Korruptionssümpfe, bekräftigte aber andererseits das Vertrauen in die Kraft des politischen Systems zur Selbstreinigung. In einer Rede vor Pensionisten am 3. 9. 1980 verkündete Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky in 10 Punkten eine Art Sauberkeits- und Antikorruptionsprogramm.36 In Anlehnung an dieses Programm deponierte z. B. die Steirische SPÖ in der Sitzung des Steiermärkischen Landtages vom 20. 10. 1980 einen Antikorruptions-Forderungskatalog.37 An Programmen arbeitete aber schon seit längerer Zeit auch die ÖVP. Der Bundesparteivorstand der ÖVP beschloß am 14. 8. 1980, einen Arbeitskreis einzusetzen mit dem Auftrag, Vorschläge für eine Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle, den Ausbau der Befugnisse des Rechnungshofes, die Schaffung eines Antikorruptionsgesetzes und die Neugestaltung der Parteienfinanzierung zu erstatten.38 Die Steirische ÖVP präsentierte am 26. 9. 1980 ihr Modell Steiermark, in dem sich umfangreiche, teilweise sehr konkretisierte Vorschläge zur Verbesserung der Kontrolle des Staates und der Mitwirkung der Bürger an politischen und administrativen Entscheidungen finden.39, 40 Gestützt auf einen Initiativantrag, der in der Sitzung des Nationalrates vom 22. 10. 1980 von Mitgliedern der SPÖ- und der ÖVP-Fraktion gemeinsam eingeneue Strafgesetz eingebaut worden ist. Dem Gesetz waren verschiedene Entwürfe vorangegangen, der erste stammte aus dem Dezember 1958. Wie sich aus den Erläuternden Bemerkungen ergibt (384 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates 10. GP, 2), war Ursache des Gesetzes „eine Anzahl von Korruptionsfällen“ in den letzten Jahren; einer dieser Fälle dürfte die causa Haselgruber – sie kann bei Worm, Skandal (FN 6), 293 f, nachgelesen werden – gewesen sein. 34 Stenographisches Protokoll des Nationalrates, 44. Sitzung 15. GP, 4288. 35 Vgl. FN 36. 36 Die 10 Punkte sind z. B. abgedruckt in der „Presse“ vom 4. 9. 1980, 4. 37 Stenographischer Bericht, 21. Sitzung 9. GP, 837. 38 Der Beschluß wurde der Öffentlichkeit am 16.  8.  1980 präsentiert (Österreichisches Jahrbuch für Politik 1980, hrsg. von Andreas Khol und Alfred Stirnemann, München/Wien 1981, 584). 39 Modell Steiermark, Graz o.J. (1980). Am Modell ist seit Herbst 1979 gearbeitet worden. 40 Erwähnt werden soll auch die gemäß Art. 28 Abs. 2 B-VG einberufene außerordentliche Tagung des Nationalrates vom 21. 8. 1980, bei der insbesondere Vorgänge um das AKH erörtert worden sind; vgl. Stenographisches Protokoll des Nationalrates, 44. Sitzung 15. GP.

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3. Wissenschaft

bracht worden war,41 beschloß der Nationalrat am 5. 11. 1980 ein Bundesgesetz, mit dem das Unvereinbarkeitsgesetz, das Bezügegesetz und andere Rechtsvorschriften geändert werden.42 Der Initiativantrag stellt sich teilweise als Verwirklichung von Vorschlägen dar, die von einer im Herbst 1979 gebildeten Arbeitsgruppe erstattet worden sind, deren Einsetzung letztlich auf eine zwischen den Parteivorsitzenden von SPÖ und ÖVP, Dr. Bruno Kreisky und Dr. Josef Taus, im April 1979 getroffene Vereinbarung zurückgeht und an deren Beratungen Vertreter der drei Parlamentsfraktionen teilgenommen haben. Schließlich brachten alle Mitglieder der ÖVP-Fraktion in der Sitzung des Steiermärkischen Landtages vom 26. 11. 1980 einen Initiativantrag betreffend eine Novelle des Landes-Verfassungsgesetzes 1960 ein.43 Grundanliegen dieses Initiativantrages ist die Umwandlung der Kontrollabteilung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung in einen Landesrechnungshof.44 Darüber hinaus verfolgen die Antragsteller folgende weitere Ziele: 1. Installierung des Landesrechnungshofes als Organ des Landtages; 2. Aufwertung der Kontrolle durch die Garantie der Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit; 3. Stärkung der Kontrolle durch die Einführung parlamentarischer Minderheitsrechte und direkter demokratischer Kontrollinstrumente (Kontrollinitiative); 4. Vorsorge dafür, daß bei allen größeren Bauvorhaben zwingend detaillierte Sollkostenberechnungen durchgeführt sowie Folgekostenschätzungen erstellt werden; Überwachung der Einhaltung diesbezüglicher Vorschriften durch den Landesrechnungshof (begleitende Kostenkontrolle); 5. Errichtung einer Vergabekontrollkommission im Rahmen des Landesrechnungshofes. 41 Stenographisches Protokoll des Nationalrates, 47. Sitzung 15. GP, 4540, 4629, 4646 (II-1615 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates 15. GP). Unvereinbarkeitsbestimmungen hatte auch die FPÖ in Entschließungsanträgen gefordert; vgl. Stenographisches Protokoll des Nationalrates, 32. Sitzung 15. GP, 3240, 3249. 42 BGBl. 1980/545. 43 Stenographischer Bericht, 22. Sitzung 9. GP, 872. Mit der Novelle sollen die Bestimmungen des § 18 Abs. 2 und des § 33 der Landesverfassung über die Kontrolle der Gebarung abgeändert werden. 44 Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Landesrechnungshöfen (Landeskontrollämtern) vgl. zuletzt Theo Öhlinger, Landeskontrollamt und Bundesverfassung (Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich 22, 1981, 63 ff.). Auch die Mitglieder der ÖVP-Fraktion im Grazer Gemeinderat fordern einen dem Gemeinderat direkt unterstellten Gemeinde-Rechnungshof; vgl. „Kleine Zeitung“ vom 21.  5.  1981, 14. Zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Errichtung gemeindeeigener Kontrollämter vgl. Hengstschläger Johannes, Rechtsfragen der Kontrolle kommunaler Unternehmungen, Linz 1980, 82 ff. – Dem Thema Landeskontrolle war auch eine Enquete des Landes Salzburg (3. 4. 1981) gewidmet, auf der Josef Bandion über das Kontrollamt der Stadt Wien und die Problematik der Verwaltungskontrolle heute, Tassilo Broesigke über die Gebarungskontrolle der Länder und Gemeinden und Friedrich Koja über Landesrechnungskontrolle und Bundesverfassung – Verfassungsrechtliche Zulässigkeit und rechtliche Konstruktion eines Landeskontrollamtes referierten.



3.6. Korruption und Kontrolle

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In derselben Sitzung des Steiermärkischen Landtages stellten die Mitglieder der SPÖ-Fraktion einen Antrag betreffend die Erweiterung der Kompetenzen künftiger Untersuchungsausschüsse des Landtages und Vorlage eines Programms für die politische Sauberkeit in der Steiermark; der Antrag stellt jedoch freilich keine konkrete Gesetzesinitiative dar, sondern ist lediglich ein Entschließungsantrag.45 Ob diese abgeschlossenen, laufenden oder geplanten Remeduren ausreichend sind, um die Korruption einzudämmen, die politische Kultur um einige Positiva anzureichern und die öffentliche Moral zu heben, muß freilich genauso dahingestellt bleiben, wie die Frage, ob wirklich alle zumutbaren Prozesse der Selbstreinigung in Gang gesetzt worden sind. So wäre es z. B. höchst notwendig, das Verständnis von Verantwortlichkeit der demokratisch legitimierten Entscheidungsträger und die Praxis, wie diese Verantwortlichkeit realisiert wird, einer strengen Prüfung dahin gehend zu unterziehen,46 ob und inwieweit sie nicht demokratieschädigend sind. Klarheit müßte z. B. darüber herrschen, daß politische Verantwortlichkeit im demokratischen System über die Haftung für rechtswidriges, schuldhaftes Handeln im Sinne des Zivil- und Strafrechts hinausgeht. Wie immer man den bisherigen Prozeß der Selbstreinigung beurteilt, sicher ist jedenfalls, daß es Veränderungen geben muß, die tiefer greifen und über einen längeren Zeitraum hinweg angepeilt werden müssen, als die bereits durchgeführten Reformen. Die Güte des politischen Systems wird sich nicht zuletzt auch darin zeigen, ob diese Veränderungen auf evolutionärem Weg erreichbar sind.

45 Stenographischer Bericht, 22. Sitzung 9. GP, 872. 46 Vgl. die Diskussion in der BRD; z. B. Ellwein, Thomas: Über politische Verantwortung, Konstanz 1978; Scheuner, Ulrich: Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschrift für Gebhard Müller, hrsg. von Theo Ritterspach/Willi Geiger, Tübingen 1970, 379 ff.; Schild, Wolfgang: Soziale und rechtliche Verantwortung (JZ 1980, 597 ff.); Thieme, Werner: Politische Verantwortung in Regierung und Verwaltung (Zeitschrift für Beamtenrecht 1980, 101 ff.); vgl. auch die Stenographische Niederschrift einer Veranstaltung der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen (23. 4. 1980) zum Thema „Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Minister“.

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3. Wissenschaft

3.7. Christian Brünner, Verwaltete Bürger im Daseinsvorsorgestaat1

in: „Geschichte und Gegenwart“ 3/1982, 175–202

I. Bürokratieverdrossenheit Auf einem Plakat der Bundesdeutschen Akademie für öffentliche Verwaltung klettert angesichts bittstellender Bürger ein Beamter einige Stufen einer Leiter, die an einem Schimmel mit äußerst langen Beinen lehnt, hinab und seufzt: „Also gut, ich komme Ihnen ein Stück entgegen.“ Das Plakat, das bundesdeutsche Beamte zur Weiterbildung motivieren soll, dokumentiert in humorvoller Weise aber nicht nur das hohe Roß, auf dem bürokratische Aktivitäten mitunter gepflogen werden, sondern auch den verwalteten Bürger der Gegenwart. Freilich ist die Klage über die Verwaltung nicht neu,2 sie besteht, seitdem der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben einer Organisation von Ämtern, d. h. eben der Verwaltung, bedarf. Und die Klage hat auch schon radikalere Formen als Humor in weiser Selbsterkenntnis gefunden, wie Michail Bakunins Forderung nach Abschaffung u. a. aller Staatsuniversitäten, allen staatlich-installierten Richtertums, aller Banken und Kreditunternehmungen, jeder zentralen Verwaltung, aller Bürokratie zeigt.3 Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist jedoch weder Bürokratiehumor noch Bakunins Freiheitsutopie; vielmehr geben die schlechter werdenden Zensuren, die der Verwaltung und den Beamten von Öffentlichkeit, Massenmedien und Bürgern erteilt werden, Anlaß zu Besorgnis.4 Die Tätigkeit des Staates kostet im1 Bei der vorliegenden Analyse handelt es sich um die schriftliche, durch Anmerkungen ergänzte Fassung eines Vortrages, den der Verfasser auf dem Symposium zum Thema „Staat, Verwaltung und Gesellschaft“, veranstaltet von der Grazer Studiengesellschaft für Politik und Verfassungsentwicklung, am 20. 5. 1980 in Graz gehalten hat. Der Vortragsstil wurde beibehalten. 2 Eine Liste prominenter Kritiker der öffentlichen Verwaltung findet sich bei Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Der Apparatschik. Die Inflation der Bürokratie in Ost und West, München 1976, S. 7 ff. 3 Michail Bakunin: Prinzipien und Organisation einer internationalen revolutionär-sozialistischen Geheimgesellschaft (1866), in: Horst Stuke (Hrsg.): Michail Bakunin. Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, Frankfurt/M. u. a. 1972, S. 5. 4 In letzter Zeit sind zahlreiche empirische Untersuchungen in Österreich betreffend Fremdeinschätzung der öffentlichen Verwaltung bzw. des Verwaltungspersonals durchgeführt worden; vgl. z. B. Institut



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mer mehr Geld, weil der Staat – und das heißt auch die Verwaltung – schlecht wirtschaftet, dieser Zusammenhang z. B. trifft für 30 % der befragten Österreicher vollständig, für 42 % teilweise zu; 43 % meinen, daß die Bundesbehörden, d. h. insbesondere die Ministerien, 34 %, daß die Landesbehörden besonders bürokratisch arbeiten.5 Als Ursachen für die Unzufriedenheit werden z. B. in Niederösterreich längere Wartezeiten und unnötige Formulare, aber auch das Fehlen eindeutiger Zuständigkeiten und die Atmosphäre, in der Kontakte mit dem Bürger stattfinden, empfunden.6 Ein noch düstereres Bild lassen bundesdeutsche Unterfür Höhere Studien Wien: „Verwaltung in der Demokratie“, 2. Teilbericht, 4. Band (Bevölkerung und Verwaltung), Wien 1978; Herbert Ott: Demoskopie als Instrument der öffentlichen Verwaltung, in: Zeitschrift für Verwaltung 1979, S. 14 ff. (betreffend eine im Auftrag des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung durchgeführte Umfrage des Dr. Fessel + GfK-Instituts); Rudolf Bretschneider: Kafkas „Mann vom Lande“ und der Türhüter vor dem Gesetz – oder: Der Bürger vor seinem Staat, in: Österreichische Monatshefte, Heft 11/12 aus 1979, S. 17 ff. (betreffend eine Umfrage des Dr. Fessel + GfK-Instituts zum Thema „Staat und Demokratie“); eine im Auftrag der Universität Wien durchgeführte Umfrage des Dr. Fessel + GfK-Instituts betreffend Universitäten (April/ Mai 1980); eine Umfrage, durchgeführt vom Arbeitskreis „Bürger und Bürokratie“ im Rahmen des „Modells Steiermark“ der Steirischen ÖVP (Modell Steiermark, Graz 1980, S. 104 ff.); eine Umfrage des Instituts für Markt- und Sozialanalysen Linz betreffend Image der Berufe („Kleine Zeitung“ vom 14. 8. 1980, S. 6 f.); Meinungsprofile zum Thema „Politische Moral und politische Meinung“ der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft, in: Journal für angewandte Sozialforschung, Heft 3/4/1980, S. 71 ff.; Fritz Plasser, Peter A. Ulram: Auf dem Weg in die postindustrielle Gesellschaft?, in: ebd., S. 263  ff.; Staats-, Gesellschafts- und Politikverständnis der österreichischen Jugend, in: ebd., Anhang; eine Umfrage im Auftrag der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft (Die Last der Bürokratie, in: „Der Unternehmer“, Heft 6/1980, S. 15 ff.); eine Umfrage im Bundesland Salzburg vom Dezember 1980 (abgedruckt in: Salzburg Diskussionen Nr. 2, II. Landes-Symposion, Salzburg 1981, S. 59 ff.); eine Umfrage der privaten Krankenversicherer bei Patienten betreffend Spitäler („Kurier“ vom 7. 10. 1981, 5. 6). An empirischen Untersuchungen betreffend Selbsteinschätzung des Verwaltungspersonals vgl. z.  B. Herbert Kraus: Führungskonzeptionen in der Verwaltung, in: Herbert R. Haeseler (Hrsg.): Gemeinwirtschaftliche Betriebe und öffentliche Verwaltungen (Sonderheft 5/1976 Schmalenbachs Zeitschrift für betriebliche Forschung), S. 129; Johann Tiefenthaler: Berufliches Selbstverständnis und Berufswirklichkeit des öffentlich Bediensteten. Eine empirische Untersuchung im Magistrat Linz, Linz 1977; eine Umfrage betreffend Real- und Idealbild der Vorgesetzten bei Mitarbeitern und Selbstbild der Vorgesetzten im Amt der Salzburger Landesregierung (1980). – Für die BRD vgl. z. B. Peter R. Hofstätter, Werner H. Tack: Das Bild des Beamten in der Öffentlichkeit, Bad Godesberg 1963; Horst Bosetzky: Selbstverständnis und Ansehen des öffentlichen Dienstes, in: Eberhard Laux (Hrsg.): Das Dilemma des öffentlichen Dienstes, Bonn 1978, S. 105 ff.; Bericht Nr. 4/1979 der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (Bürger und Verwaltung I), S. 8 f.; „Folgen des Bürokratismus“, Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts Sinus (München/Heidelberg) im Auftrag des Bundeskanzleramtes. 5 Vgl. die in Anm. 4 zitierte Umfrage des Dr. Fessel + GfK-Instituts zum Thema „Staat und Bürokratie“. 6 Vgl. die in Anm. 4 zitierte Umfrage im Auftrag des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung.

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suchungen entstehen. Nach einer Studie des Sinus-Instituts in München über die Folgen des Bürokratismus7 mißtrauen der öffentlichen Verwaltung 40 % der Befragten und vermuten Bestechlichkeit und Willkür, 80 % kritisieren Amtsdeutsch und Unverständlichkeit, 68 % halten die Bürokratie für ineffektiv. Darüber hinaus zeigt die Studie, daß vor allem Frauen, ältere Menschen, ungelernte Arbeiter und Bürger mit niedrigerem Schulniveau der Verwaltung besonders ängstlich gegenüberstehen, ferner aber auch, daß das Bild der Verwaltung in den Augen des Bürgers nicht nur von persönlichen Erfahrungen, sondern auch von Klischeevorstellungen, die von Medien und Kommunikation in Bezugsgruppen geformt werden, geprägt ist. Das schlechtere Image der bundesdeutschen Verwaltung sollte freilich nicht zu schneller Selbstzufriedenheit in Österreich verführen; der Grund des Imagegefälles dürfte nämlich vermutlich weniger in einer unterschiedlichen Intensität der Bürgerfreundlichkeit als vielmehr u. a. darin liegen, daß in Österreich viele öffentliche Aufgaben auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftspolitik von den Interessenverbänden und den Institutionen der Sozialpartnerschaft und nicht vom Staat und seiner Verwaltung besorgt werden, mit diesen intermediären Einrichtungen aber offensichtlich weniger Fehlverhalten verbunden wird. So glauben nur 9 % der Befragten, daß die Bundeswirtschaftskammer bzw. die Handelskammerorganisation besonders bürokratisch ist.8 Hinzuzufügen ist, daß Klage über die öffentliche Verwaltung nicht nur von der Verwaltungsumwelt, d. h. von Bürgern, Interessenverbänden, Wirtschaft, Massenmedien etc., geführt wird, sondern auch innerhalb der Verwaltung ertönt. Zum Beispiel beschweren sich die Gemeinden über die ihre Autonomie gefährdende Staatsverwaltung, die Länder über die Ineffizienz und Überheblichkeit mancher Zentralstellen; die Schulen beklagen das bürokratische Verhalten der Bundes- und der Landes-Schulbehörden, die Schulbehörden des Bundes in den Ländern die Entartungen zentraler Schulverwaltung, die akademischen Behörden die Behinderung von Forschung und Lehre durch ministeriell-bürokratischen Ungeist etc. Und schließlich strahlt das Verwaltungspersonal nicht immer Zufriedenheit mit den Bedingungen aus, unter denen gearbeitet werden muß.9 Die Einstellung des Bürgers zur öffentlichen Verwaltung wird aber nicht nur durch persönliche Erfahrung und Klischees geprägt, sondern auch durch die zunehmend feststellbare Verunsicherung im öffentlichen Dienst selbst, die ihrerseits 7 Vgl. die in Anm. 4 zitierte Umfrage. 8 Vgl. die in Anm. 4 zitierte Umfrage des Dr. Fessel + GfK-Instituts zum Thema „Staat und Bürokratie“. 9 Vgl. die in Anm. 4 zitierten Untersuchungen betreffend Selbsteinschätzung.



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wiederum u. a. vom schlechten Image bedingt ist. So deutet eine empirische Untersuchung im Magistrat Linz über das berufliche Selbstverständnis und die Berufswirklichkeit des öffentlich Bediensteten darauf hin, daß Teile der befragten Magistratsbediensteten ihre Situation mit geringerem Leistungsstreben, Sicherheitsbedürfnis, mangelndem Selbstvertrauen einerseits, übersteigertem Selbstwertgefühl andererseits charakterisieren.10 Eine ähnliche, wenn nicht sogar noch schlechtere Situation signalisieren bundesdeutsche Erfahrungen mit der Selbsteinschätzung des öffentlichen Dienstes.11 Nun könnte relativ rasch zu wichtigeren Punkten der Tagesordnung übergegangen werden, wenn wir es lediglich mit einem marginalen Imageproblem zu tun hätten. Dem ist jedoch nicht so. Erstens deutet das Bild auf tatsächliche Unzulänglichkeiten innerhalb der Verwaltung und in der Beziehung zwischen Verwaltung einerseits, Verwaltungsumwelt andererseits hin. Zweitens dürfte das skizzierte Image der Verwaltung bzw. eine mangelhaft funktionierende Verwaltung den größten Beitrag zur vielzitierten Staatsverdrossenheit leisten, weil es mehr denn je die Verwaltung ist, durch deren Tätigkeit sich der Staat seinen Bürgern darstellt. Um der Aufgabe zu entsprechen, eine Position des Bürgers in der Beziehung zwischen ihm und der den Staat repräsentierenden Verwaltung zu bestimmen, die einerseits durch Grenzen staatlicher Daseinsvorsorge und eigenverantwortliche, bürgerschaftliche Daseinsbewältigung, andererseits durch die Sozialpflichtigkeit der individuellen Selbstverwirklichung und die Ingerenz des Staates zum Zwecke der Herstellung einer als gerecht empfundenen Sozialordnung markiert wird, werden im folgenden in einem ersten Schritt (II) die Charakteristika gegenwärtiger Verwaltung beschrieben. Dabei sollen manche Merkmale des Ist-Zustandes anhand einer Ursachenanalyse erklärt und diese Merkmale sodann bewertet werden. In einem zweiten Schritt (III) werden Reformen im Zusammenhang mit den negativ bewerteten Merkmalen zu diskutieren sein. Bereits an dieser Stelle ist jedoch zu vermerken, daß Reformen nur innerhalb relativ eng gesteckter Grenzen möglich sind, somit die zukünftige Verwaltung nicht grundlegend anders strukturiert sein kann, dies jedenfalls so lange nicht, als die wesentlichen Bedingungen des politischen Systems wie z. B. die Aufgabenfülle des Staates, der Staat als territoriale Großorganisation, Komplexität der Lebensbedingungen, arbeitsteilig organisierte Daseinsbewältigung, repräsentative Demokratie, verfassungsrechtlich fundierte Grundsätze für Organisation und Führung der Verwaltung, darunter z. B. hierarchische Struktur, Amtsverschwiegenheit, Rechtmäßigkeit als dominierender Handlungsmaßstab für die Verwaltung etc. grundsätzlich unverändert bleiben. 10 Vgl. Tiefenthaler, Selbstverständnis (Anm. 3). 11 Vgl. Bosetzky, Selbstverständnis (Anm. 3).

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Beschreibende, erklärende und bewertende Diagnose und eine nachfolgende Therapie können freilich nur vor dem Hintergrund eines Bildes von der „gesunden Verwaltung“ – um bei der Medizin zu bleiben – durchgeführt werden. Dieses Bild, wissenschaftstheoretisch gesprochen die Theorie, mit deren Hilfe an das Erkenntnisobjekt herangetreten wird, kann jedoch nur kurz skizziert werden. Erstens wird im folgenden davon ausgegangen, daß das bürokratische Verwaltungsmodell nach wie vor grundsätzlich dafür geeignet ist, die Ziele des sozialen Systems Staat zu verwirklichen und das angesichts der staatlichen Verantwortung für die Daseinsvorsorge notwendige Aufgabenvolumen abzuwickeln. Die von Max Weber apostrophierte überlegene Rationalität der Bürokratie erscheint somit trotz gewandelter Lebensbedingungen noch immer als gegeben. Zweitens findet das Verwaltungsmodell im Demokratieziel des politischen Systems eine zusätzliche Determinante. Demnach sind z. B. die Herrschaft der Verwaltung über die demokratisch legitimierten politischen Entscheidungsträger und die Politisierung der Verwaltung dadurch, daß sich Interessen unkontrolliert und einseitig dieser Verwaltung bemächtigen, dysfunktional. Darüber hinaus ist zu beachten, daß der Führungsstil innerhalb der Verwaltung zunehmend an demokratisch-kooperativen Führungsstilen im gesellschaftlich-politischen Bereich, d. h. daran gemessen wird, ob hinreichend Delegation, eigenverantwortliche Erfüllung delegierter Aufgaben, Begründung von Weisungen, Teamarbeit, Kooperation zwischen den Ebenen der Hierarchie etc. gepflogen werden. Auch sind etwaige Konflikte zwischen Demokratie einerseits und Effektivität und Leistung andererseits so zu lösen, daß beide Systemziele optimal verwirklicht werden können. Schließlich sind drittens auch Selbständigkeit und Eigenverantwortung des Bürgers Ziele des politischen Systems, woraus abgeleitet werden muß, daß der verwaltete, d. h. total abhängige und damit fremdbestimmbare Bürger, mag er auch lediglich zu seinem Glück gezwungen werden, systemwidrig ist. Bevor mit der Diagnose begonnen werden kann, müssen – die einleitenden Betrachtungen abschließend – noch einige Begriffsklärungen und Begrenzungen des Themas vorgenommen werden. Unter Verwaltung soll jener Bereich eines sozialen Systems verstanden werden, der durch Planung, Koordination, Vorbereitung, Durchführung, Kontrolle, Organisation von Tätigkeiten etc. die Ziele des sozialen Systems zu verwirklichen sucht. Bürokratisch aufgebaut ist Max Weber folgend diese Verwaltung dann, wenn sie u. a. durch die Merkmale Hierarchie, Dienstwege, Arbeitsteilung, die auf Spezialisierung beruht, abgegrenzte Zuständigkeitsbereiche, allgemeine Richtlinien, festgelegte Verfahrensweisen für die Erfüllung der Aufgaben charakterisiert ist. Der Begriff „Bürokratie“ kennzeichnet somit einen bestimmten Typus eines Verwaltungsmodells und ist insoweit wertneutral. En vogue ist die Klage über die Tendenz zur Bürokratisierung. Der Klage liegt oftmals



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ein diffuses Unbehagen zugrunde. Sie trifft aber auch eine Wirklichkeit, dies in zweierlei Hinsicht. Zum einen überwuchert die bürokratisch strukturierte Verwaltung als Innenfunktion (Organisationsfunktion) eines Systems mitunter die nach außen gerichteten Funktionen wie z. B. das Unterrichten und Erziehen in den Schulen, das Forschen an den Universitäten, das Betreuen von Kranken in Krankenanstalten. In diesem Zusammenhang wird besonders auch die Vermehrung des Verwaltungspersonals beklagt. Zum anderen zeigen die Charakteristika bürokratischer Verwaltung Auswüchse wie z. B. Ritualisierung von Verfahrensweisen, Innovationsdefizit, Pflege des Beamtenstatus etc. Schließlich soll der Begriff „Verwaltungsstaat“ zur Bezeichnung des Sachverhaltes verwendet werden, daß die Verwaltung auf Kosten der Träger anderer Staatsfunktionen, insbesondere des Parlaments, an Macht gewonnen hat und zu einem bevorzugten Gesprächspartner der politischen Parteien und der Interessenverbände – oftmals außerhalb der von der Verfassung eingerichteten Ordnung – geworden ist. Die folgende Analyse hat lediglich die öffentliche Verwaltung zum Gegenstand. Bürokratische Struktur und Bürokratisierungstendenzen der vorhin beschriebenen Art gibt es aber auch in anderen sozialen Systemen, nicht nur in der öffentlichen Verwaltung, so z. B. in Parteien, Interessenverbänden, Unternehmungen, Bürgerinitiativen, Kirchen. Nicht berücksichtigt werden kann ferner die Gerichtsbarkeit.12 Schließlich ist es unmöglich, die bei Analyse der öffentlichen Verwaltung an sich notwendige Differenzierung z. B. zwischen Staatsverwaltung und Kommunalverwaltung oder zwischen Kleingemeinden und der Gemeinde Wien vorzunehmen. Anzumerken ist, daß in der vorliegenden Analyse Hypothesen aufgestellt werden, deren Wahrheitsgehalt in den meisten Fällen erst näher geprüft werden müßte. Dazu bedürfte es jedoch in Österreich einer auf breiterer Basis arbeitenden empirischen Verwaltungsforschung, als dies derzeit der Fall ist.

II. Charakteristika gegenwärtiger öffentlicher Verwaltung 1. Öffentliche Verwaltung als offenes Subsystem Die gegenwärtige öffentliche Verwaltung kann anhand eines umfangreichen Kataloges von Merkmalen, die entweder binnenstrukturelle Aspekte oder Aspekte der Beziehung zwischen Verwaltung und Verwaltungsumwelt, darunter insbesondere Bürgern, Bürgerinitiativen, Massenmedien, Interessenverbänden, politischen 12 Vgl. dazu z. B. Werner Hinterauer: Unvollkommenes Recht und die Chancen größerer Bürgernähe – Mittler und Möglichkeiten, in: Gesellschaft und Politik, Heft 1/1980, S. 43 ff., 52.

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Parteien, Unternehmungen etc., erfaßt werden.13 Drei Merkmale sollen herausgegriffen und etwas detaillierter aufgefächert werden, nämlich erstens Volumen und Struktur der Verwaltungsaufgaben, zweitens Tendenzen einer Entwicklung zum Verwaltungsstaat einerseits, einer Politisierung der Verwaltung andererseits und schließlich einige Entartungserscheinungen des bürokratischen Verwaltungstypus. 2. Volumen und Struktur der Verwaltungsaufgaben Konzentriert man sich auf die monetäre Ausgabenwirksamkeit des Verwaltungshandelns als quantifizierbaren Indikator für die Aufgaben öffentlicher Verwaltung, so zeigt sich seit der Jahrhundertwende eine ständige Vergrößerung des Volumens dieser Aufgaben. Betrug die Belastung des Bruttonationalproduktes mit Steuern und steuerähnlichen Abgaben in Österreich im Jahre 1913 ca. 13 %,14 liegt sie heute bei ca. 42 %.15 Ausgabenseitig stieg die Staatsquote von rund 39 % im Jahre 1960 auf 52 % im Jahre 1976.16 Dabei ist zu beachten, daß die Tätigkeiten ausgegliederter Rechtsträger, öffentlicher Unternehmungen und der Sozialversicherungsträger in diesen Zahlen nur teilweise Berücksichtigung finden.17 13 Vgl. dazu z.  B. Christian Brünner: Verwaltung, in: Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., hrsg. von Alfred Klose, Wolfgang Mantl, Valentin Zsifkovits, Innsbruck u. a. 1980, Sp. 3320 ff., und die ebenda zitierte Literatur, ferner Fritz Morstein Marx: Einführung in die Bürokratie, Neuwied 1959; Franz Berner: Struktur und Träger der Verwaltung, in: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hrsg.): Die Zweite Republik, 2. Band, Graz u. a. 1972, S. 135  ff., 617  ff.; Wolfgang Schluchter: Aspekte bürokratischer Herrschaft, München 1972; Institut für höhere Studien Wien, Forschungsprojekt „Verwaltung in der Demokratie“, 2 Teilberichte in 8 Bänden ab 1975; Theodor Leuenberger: Bürokratisierung und Modernisierung der Gesellschaft, Bern/Stuttgart 1975; Eberhard Laux (Hrsg.): Das Dilemma des öffentlichen Dienstes, Bonn 1978; Dieter Grunow/Friedhart Hegner/Franz-Xaver Kaufmann: Bürger und Verwaltung, 4 Bände, Frankfurt/New York 1978; „Trend“-Serie über die Bürokratie, in: „Trend“, Heft 11/1978, S. 116 ff., Heft 12/1978, S. 124 ff., Heft 1/1979, S. 31 ff.; Hans Peter Bull (Hrsg.): Verwaltungspolitik, Neuwied/Darmstadt 1979; Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.): Bürgernahe Verwaltung? Neuwied/Darmstadt 1980; Frido Wagener (Hrsg.): Zukunftsaspekte der Verwaltung, Berlin 1980; Öffentlicher Dienst – Träger des Wohlfahrtsstaates, Gesellschaftspolitische Informationen des ÖAAB, Wien 1980; Öffentlicher Dienst – selbständiger Bürger, Gesellschaftspolitische Informationen des ÖAAB, Wien 1980; Raoul F. Kneucker: Öffentliche Verwaltung 1977–1980, in: Andreas Khol/Alfred Stirnemann (Hrsg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1980, München/Wien 1981, S. 55 ff.; Gerhart R. Baum u. a.: Technisierte Verwaltung, Bonn 1981; Herbert Kraus (Hrsg.): Politik und Verwaltung, Wien 1981. – Zur historischen Entwicklung der Verwaltung vgl. jüngst Wolfgang Mantl: Verwaltung im politischen System Österreichs, in: Herbert Kraus (Hrsg.): Politik und Verwaltung, Wien 1981, S. 23 ff. 14 Vgl. Walter Schwab, in: Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich, Heft 1–3/1976, S. 1 f. 15 Vgl. Amtsbehelf zum Bundesfinanzgesetz 1981, I. Teil, S. 322 f. 16 Berechnung von Gerhard Lehner, Institut für Wirtschaftsforschung, in: Finanzzeitung (Girozentrale) Nr. 8/1978, S. 2. 17 Zu weiteren Versuchen der Quantifizierung vgl. Brünner, Verwaltung (Anm. 13), Sp. 3227.



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Darüber hinaus hat sich auch die Struktur der Verwaltungsaufgaben verändert. Das Schwergewicht liegt heute nicht mehr in den Ordnungsaufgaben, die der Abwehr von Gefahren für Leben, Gesundheit und Vermögen, sei es von außen oder im Inneren des Staates, sowie der Aufrechterhaltung einer funktionierenden Privatrechtsordnung dienen, sondern bei Betreuung und Dienstleistung, d. h. bei der Sicherung gegen die Risken des Lebens, beim Ausgleich von Ungerechtigkeiten und bei der Schaffung günstigster Lebensbedingungen einerseits, auf dem Gebiet der Versorgung und Entsorgung andererseits. So entfielen z. B. 1978 von den Ausgaben des Bundes etwas über 7 % auf Landesverteidigung, Staats- und Rechtssicherheit, d. h. auf klassische Ordnungsaufgaben, jedoch auf Bildung und Wissenschaft rund 12 %, auf soziale Wohlfahrt fast 25 %, auf Straßen und sonstigen Verkehr über 26 %.18 Die Konturen der Verwaltung als Unternehmung, die in Konkurrenz zu nicht-öffentlichen Unternehmungen Güter und Dienstleistungen produziert, sind somit schärfer geworden. Solche Entwicklung hat übrigens auch der Bürger registriert. 1976 dominierte noch die Vorstellung, daß der Staat vor allem eine Ordnungsfunktion erfülle; 1979 betonten 54 % der Befragten, der Staat müsse dafür sorgen, daß die Wirtschaft laufe, damit jeder seine Arbeit und sein Auskommen habe.19 Hinzugefügt werden muß, daß die Ausweitung der Verwaltungsaufgaben anscheinend noch nicht zum Stillstand gekommen ist. Der Bürger meldet offensichtlich weitere Wünsche an. 73 % der Befragten wollen, daß der Staat sich mehr um die gesundheitliche Vorsorge kümmert, 70 %, daß er stärker als bisher in die Altersversorgung eingreift, 61 % verlangen, daß der Staat bei der Wohnraumbeschaffung intensiver tätig wird, 58 % wollen mehr Staatsengagement bei der Beschaffung von Arbeitsplätzen, 54 % mehr staatlichen Einfluß darauf, was in Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung geschieht.20 Daß dieses Volumen und diese Struktur der Aufgaben öffentlicher Verwaltung Probleme aufwerfen, liegt auf der Hand. Dabei ist die Aufmerksamkeit weniger auf die Grenzen der Finanzierbarkeit zu lenken, sie sind in aller Munde. Anzumerken ist lediglich, daß die unter Berufung auf C. Northcote Parkinson19 geführte Klage 18 Vgl. den in Anm. 14 zitierten Amtsbehelf, S. 299. – Besonders deutlich wird der Strukturwandel bei den Gemeindeaufgaben. Untersuchungen bezüglich der Ausgabenwirksamkeit der von größeren Gemeinden in Oberösterreich und Salzburg getätigten Aufgaben ergaben, daß zwischen 3 und 5 % den Ordnungsaufgaben, zwischen 95 und 97 % den Versorgungsaufgaben zuzählen; vgl. Ernst Kubin: Die Gemeindeaufgaben und ihre Finanzierung, Linz 1972, S. 321. 19 Vgl. die in Anm. 3 zitierte Umfrage des Dr. Fessel + GfK-Instituts zum Thema „Staat und Bürokratie“. 20 C. Northcote Parkinson: Parkinsons Gesetz und andere Untersuchungen über die Verwaltung, Düsseldorf/Stuttgart 1958.

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über die Vermehrung des Verwaltungspersonals dann inkonsequent ist, wenn gleichzeitig nach der Bereitstellung weiterer Güter und Dienstleistungen durch die Verwaltung auf Gebieten gerufen wird, die wie z. B. Bildung, Gesundheit, Versorgung und Entsorgung höchst personalkostenintensiv sind. Hinlänglich aufbereitet, wenn auch mitunter nicht lösbar, sind weiters die Fragen, die der Strukturwandel der Verwaltung unter rechtsdogmatischen Aspekten aufwirft.21 Stärkere Beachtung müßten jedoch folgende Sachverhalte finden, die mit dem Strukturwandel im Zusammenhang stehen. Erstens ist die außeruniversitäre, insbesondere aber die universitäre Aus- und Fortbildung des Verwaltungspersonals trotz Reformen nach wie vor übergewichtig daran orientiert, daß Vorschriften gekannt und eingehalten werden; Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, des Marketings, der Analyse von Aufgaben und Aufgabenerreichungsintensität, der Integration der Bürger in die Verwaltungsentscheidung, der Handhabung von Interessenkonflikten sind nach wie vor zuwenig berücksichtigt. Zweitens weiß der Staat seiner leistenden, wirtschaftenden Verwaltung, die in Konkurrenz zur nichtöffentlichen Wirtschaft steht, Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Zu verweisen ist z. B. auf eine Fülle von Rechtsvorschriften, die den Staat in seiner Eigenschaft als Nachfrager nach Krediten gegenüber privaten Kreditnehmern begünstigen.22 Daraus – wie auch aus der verschärften Konkurrenz an sich – ergibt sich eine Konfliktsituation, in der die Verwaltung Partei ist; es wird ihr daher bei Lösung von Konflikten immer weniger unparteiisches Verhalten zugetraut. Und dort, wo die leistende, wirtschaftende Verwaltung monopolartige Züge angenommen hat, wird die Frage hinreichend effektiver Kontrolle der Verwaltung virulent. Schließlich ist die leistende, wirtschaftende Verwaltung mehr und mehr gezwungen, auch andere Handlungsmaßstäbe als im wesentlichen den der Gesetzmäßigkeit oder bestenfalls noch den der Wirtschaftlichkeit zu beachten. Aus der Sicht des Publikums gewinnen zunehmend z. B. Zweckmäßigkeit, Problemorientierung und Problemlösungskapazität sowie Innovationsfähigkeit23 als Handlungsmaßstäbe an Bedeutung. Betrachtet man die bisher geschilderte Situation aus der Sicht des Bürgers, dann gewinnt das Schlagwort vom verwalteten Menschen reale Konturen, und dies nicht nur wegen des großen Volumens und der besonderen Struktur der Verwal21 Vgl. dazu Brünner, Verwaltung (Anm. 13). 22 Vgl. dazu Christian Brünner/Dietmar Pauger: Das System des Rechts der österreichischen Kreditwirtschaft, Wien 1980. 23 Vgl. dazu z. B. Hans D. Jarass: Die Innovationsfähigkeit von Bürokratien, in: Die Verwaltung 1978, S. 27 ff.; Horst Bosetzky: Innovative Bürokratie, in: Die Öffentliche Verwaltung 1979, S. 194 ff.; HansE. Meixner: Wie macht man Karriere in der Verwaltung?, in: Die Öffentliche Verwaltung 1979, S. 276 ff.



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tungsaufgaben. Zum Beispiel ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß einerseits die Eigenkapitalbasis der Unternehmungen mancher Branchen schmal ist,24 andererseits ein großer Teil der Kredite durch die öffentliche Hand subventioniert wird, was zur Einschränkung der Dispositionsfreiheit der Kreditnehmer führen kann. Wie eine Sondererhebung der Österreichischen Nationalbank über subventionierte Kredite zum Stichtag 30. 6. 1977 zeigt,25 wurden 38,5 % der gesamten Direktversorgung der österreichischen Wirtschaft von der öffentlichen Hand subventioniert; dabei blieben die Haftung öffentlicher Rechtsträger für Kapitalmarktdarlehen, z. B. für Anleihen, und die Kredite der Bausparkassen unberücksichtigt. Staatliche Ingerenz ist schließlich aber auch über den gemeinwirtschaftlichen Sektor möglich, der in Österreich – verglichen mit anderen Ländern – relativ groß erscheint.26 3. Politische Verwaltung Das zweite Charakteristikum gegenwärtiger öffentlicher Verwaltung, dessen Beschreibung in der vorliegenden Analyse erfolgen soll, ist eine Entwicklungstendenz in Richtung Verwaltungsstaat einerseits, Politisierung der Verwaltung andererseits. Auch mit diesem Charakteristikum ist eine Fülle von Aspekten verbunden. Es können nur einige dieser Aspekte angedeutet werden. a) Verwaltungsstaat Wie bereits bei Erläuterung des Begriffes „Verwaltungsstaat“ ausgeführt, entspricht nicht nur der modernen Gesellschaft, der „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) die Herrschaft mittels eines bürokratischen Verwaltungsstabes, ist bürokratische Verwaltung nicht nur ein Instrument in den Händen der Träger politischer Entscheidungen. Auch muß von der Herrschaft der Verwaltung, d. h. davon gesprochen werden, daß die Verwaltung politische Entscheidungen selbst trifft, ferner den Spielraum für politische Entscheidungen dadurch einengt, daß sie Parameter setzt, die dann verniedlichend zu Sachzwängen umbenannt werden, schließlich davon, daß die Verwaltung an politischen Entscheidungsverfahren unmittelbar teilnimmt. Hinzu kommt, daß die Regelungsfunktion verfassungsrecht24 Vgl. dazu z. B. Karl Aiginger: Wirtschaftliche Mobilität in Österreich, Wien 1980. 25 Abgedruckt in: Mitteilungen des Direktoriums der Österreichischen Nationalbank, Heft 6/1979, S. 427 ff. 26 Vgl. dazu z. B. Die Bedeutung der öffentlichen Wirtschaft in der Europäischen Gemeinschaft (mit einem Anhang betreffend die öffentlichen Unternehmen in Österreich 1970–1972), Brüssel 1975; Summa, Heft 5/1979; Gemeinwirtschaft in der österreichischen Volkswirtschaft, Quartalshefte der Girozentrale, Heft 3–4/1979.

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licher Determinanten durch faktische Entwicklungen an Intensität verliert. Die die Hypothese von der Herrschaft der Verwaltung erhärtenden Fakten sind z. B. die Defizite bei der politischen Kontrolle und der Wirtschaftlichkeitskontrolle, die Entwicklung des Parlaments zum Beamtenparlament – 60,7 % der Abgeordneten zum Nationalrat sind öffentlich Bedienstete und Angestellte von Parteien und Verbänden27 – und die Gewaltenfusion dadurch, daß die Verwaltung einerseits an der Ausarbeitung der Gesetzesentwürfe entscheidend mitwirkt – in Österreich gehen zwischen 75 und 90 % der beschlossenen Bundesgesetze auf Regierungsvorlagen, die in den Ministerien ausgearbeitet werden, zurück28 –, andererseits die Gesetze auch durchführt.29 b) Politisierung der Verwaltung Der andere Aspekt des Charakteristikums „politische Verwaltung“ ist die Politisierung der Verwaltung. Darunter soll der Sachverhalt verstanden werden, daß sich Interessen, z. B. parteipolitische oder interessenverbandliche, mehr oder minder unkontrolliert und auf Kosten anderer Interessen der Verwaltung bemächtigen.30 Zur Rolle der Verwaltung zählt aber – wie § 43 Abs. 1 des Beamten-Dienstrechtsgesetzes 1979 zeigt – unparteiische Erfüllung der Verwaltungsaufgaben, Politisierung der Verwaltung ist demnach rollenwidrig. Anzumerken ist freilich die Frage, ob die Bedingungen des Daseinsvorsorge- und Wohlfahrtsstaates dieser Rolle der Unparteilichkeit nicht einen Gutteil Realität entzogen haben und entziehen müssen. Eine Verwaltung, die lebensnotwendige Dienstleistungen erbringt, in wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse lenkend eingreift und durch Umverteilung eine gerechte Sozialordnung zu verwirklichen sich berufen fühlt, wird zwangsläufig zum Aktionsfeld der Interessen und – wie bereits gezeigt worden ist – auch selbst Partei. aa) Interessengebundenheit des Verwaltungshandelns Mit der Politisierungshypothese zu konfrontieren sind z. B. die Sachverhalte der 27 Vgl. Anton Pelinka: Volksvertretung als funktionale Elite, in: Andreas Khol/Alfred Stirnemann (Hrsg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1978, München/Wien 1979, S. 42; vgl. auch Heinz Wittmann: Regierung und Opposition im parlamentarischen Prozeß – Struktur und Arbeit des Parlaments in der XIV. Gesetzgebungsperiode 1975–1979, in: Andreas Khol/Alfred Stirnemann (Hrsg.): Österreichisches Jahrbuch für Politik 1979, München/Wien 1980, S. 42 f. 28 Vgl. z. B. für die 14. Gesetzgebungsperiode die Zahlen bei Wittmann, Regierung (Anm. 27), S. 44 f. 29 Nicht zuletzt wegen dieser Gewaltenfusion rangiert bei manchen Gesetzen die bürokratisch-technische Vollzugsfähigkeit vor der Regelungsfunktion und der Verständlichkeit für den Bürger. 30 Zum Einwirken soziopolitischer Kräfte auf die Verwaltung vgl. jüngst Mantl, Verwaltung (Anm. 13), S. 32 ff.



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Interessengebundenheit des Verwaltungshandelns dadurch, daß Interessenverbände an der Ausarbeitung von Gesetz- und Verordnungsentwürfen beteiligt sind, Parteien- und sonstige Mitwirkungsrechte im Verwaltungs- und im Gerichtsverfahren haben oder Vertreter als Organwalter in Verwaltungsbehörden entsenden. Besondere Bedeutung kommt in Österreich den Beiräten und Kommissionen – im Bereich des Bundes gibt es an die 200 – zu, die den Verwaltungsbehörden beigeordnet sind und in die Interessenverbände, politische Parteien und sonstige Gruppen Vertreter entsenden. Obwohl diesen beigeordneten Einrichtungen in der Regel keine rechtliche Entscheidungskompetenz, sondern nur Beratungsbefugnisse zustehen, ist ihr faktisches Gewicht im administrativen Entscheidungsverfahren groß. bb) Ämterpatronage Zu nennen ist weiters die Verwandtschaft „Ämterpatronage“, d. h. der Sachverhalt, daß bestimmte Dienstposten Affinitäten zu einer politischen Partei oder einem Interessenverband haben, z. B. im Zusammenhang mit der Besetzung. Die schon seit längerer Zeit verankerte Pflicht zur öffentlichen Ausschreibung von Dienstposten soll der Ämterpatronage entgegenwirken. In letzter Zeit sind weitere Bemühungen feststellbar, Auswüchse der Ämterpatronage zu verhindern. So wurde z. B. das Verfahren der Besetzung von Lehrer- und Schulleiterdienstposten in Oberösterreich oder das der Aufnahme in den niederösterreichischen Landesdienst objektiviert. Eingesetzt wurde auch eine Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen im Interesse der Objektivierung der Besetzung von Posten in Unternehmen, deren Anteile zur Gänze oder mehrheitlich im Eigentum des Bundes stehen.31 Von „legalisierter“ Ämterpatronage könnte man dann sprechen, wenn z. B. verschiedene Gesetze politische Parteien oder Interessenverbände ermächtigen, Organwalter in Behörden (z. B. in die Verwaltungskommissionen nach dem Marktordnungsgesetz), ferner in Kommissionen und Beiräte zu entsenden. Anzumerken ist wiederum, daß dem Merkmal Ämterpatronage ohne vordergründiges Moralisieren ins Auge geschaut werden muß. In einer Analyse der westdeutschen „Parteibuchverwaltung“ kommt Kenneth Dyson, ein Verwaltungswissenschafter aus Liverpool, zu folgendem Ergebnis:32 In England bestehe zwar eine striktere Trennung zwischen politischer Partei und Verwaltung, aber das Politische

31 Nachweise bei Christian Brünner: Zur Analyse individueller und sozialer Bedingungen von Korruption, in: Christian Brünner (Hrsg.): Korruption und Kontrolle, Wien u. a. 1981, S. 696. Reformvorschläge bei Wolfgang Mantl: Korruption und Reform im österreichischen politischen System, in: ebd., S. 211. 32 Kenneth Dyson: Die westdeutsche „Parteibuch“-Verwaltung, in: Die Verwaltung 1979, S. 129 ff.

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könne auch dort nicht wegeskamotiert werden; was England von der westdeutschen Parteibuchverwaltung lernen könne, sei, wie die grundsätzlich problematische Beziehung zwischen Politik und Verwaltung so gestaltet werden könne, daß politische und fachliche Kriterien effektiver aufeinander abgestimmt werden würden. cc) „Politischer Beamter“ Schließlich ist die Aufmerksamkeit auf den „politischen Beamten“ zu lenken, auch er signalisiert die Interessengebundenheit der Verwaltung. Die Verwaltungswissenschaft versteht unter dem politischen Beamten weder die parteipolitische Betätigung oder Überzeugung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes33 noch die Verletzung des Gebotes der Unparteilichkeit unter parteipolitischen Vorzeichen. Ein politischer Beamter34 ist der Angehörige des öffentlichen Dienstes, der nicht nur durchführende Verwaltungsaufgaben besorgt, sondern für die Träger der Regierung (im funktionellen Sinn) konzeptiv-gestaltend arbeitet, somit auch Regierungsaufgaben erfüllt. Es handelt sich dabei in der Regel um die höheren Ränge der Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Da sie sich zwangsläufig mit dem Regierungsprogramm identifizieren müssen, zieht z. B. das bundesdeutsche Bundesbeamtengesetz daraus die Konsequenz und bestimmt, daß sie im Falle eines Regierungswechsels in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden können.35 Nun widerspricht eine solche Konstruktion zweifellos der Idee des Berufsbeamtentums, das als einer der Garanten für unparteiische Verwaltungsführung bezeichnet wird. Demgemäß kennt das österreichische Beamten33 Nach der Mikrozensus-Erhebung vom September 1978 sind 20 % der Beschäftigten Mitglied einer politischen Vereinigung (d. h. einer politischen Partei oder eines Sonderverbandes einer politischen Partei). Differenziert nach der sozialen Stellung lauten die Prozentsätze: Selbständige 16 %, Arbeiter 19 %, Angestellte 19 %, Beamte 39 % (Sozialstatistische Daten 1980, Wien 1981, S. 418 f., S. 438 ff.). Die Beamten sind somit weit häufiger Mitglied einer politischen Vereinigung als Angehörige anderer Berufsgruppen. Zur Situation in den letzten 150 Jahren vgl. Otto Stammer: Die politische Einstellung der österreichischen Beamten, Wien (Grund- und integrativwissenschaftliche Dissertation) 1977. 34 Vgl. dazu Brünner, Verwaltung (Anm. 12), Sp. 3237 f.; ders., Analyse (Anm. 30), S. 693; Mantl, Korruption (Anm. 30), S. 212 f.; ders., Verwaltung (Anm. 12), 34 f. – Zum „Mythos der Neutralität“ des Beamtentums aus französischer Sicht jüngst J. Ziller: Hauts fonctionaires et politique en République fédérale d’Allemagne, in: Revue Internationale des Sciences Administratives 1981, S. 31 ff. (deutsche Kurzfassung in: Verwaltungswissenschaftliche Informationen, Heft 2/1981, S. 16 ff.). 35 Gestützt auf das Verwaltungsorganisationsgesetz 1978 und das Beamtengesetz 1927 hat der Schweizerische Bundesrat am 25. 2. 1981 eine Verordnung über das Dienstverhältnis der persönlichen Mitarbeiter der Departementsvorsteher erlassen. Der Anstellungsvertrag dieser Mitarbeiter weicht erheblich vom Beamtenrecht ab, so kann das Dienstverhältnis – es erlischt mit dem Zeitpunkt, zu dem der Departementsvorsteher aus dem Amt scheidet – zu jedem Zeitpunkt ohne Angabe eines Grundes gekündigt werden.



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recht den politischen Beamten nicht. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, daß es auch in Österreich den politischen Beamten gibt. Art. 44 der oberösterreichischen Landesverfassung bestimmt, daß der mit der Leitung des inneren Dienstes des Amtes der Landesregierung betraute und – wie Art. 44 Abs. 2 der zitierten Verfassung zeigt – Regierungsaufgaben erfüllende Landesamtsdirektor nur für die Dauer der Funktionsperiode der Landesregierung bestellt wird und daher im Falle eines Regierungswechsels nicht wiederbestellt werden muß. Analoges, nämlich die Koppelung der Funktionsperiode von Organwaltern mit dem parteipolitischen Stärkeverhältnis im Land, gilt weiters für die Schulbehörden des Bundes in den Ländern. Ferner bestimmt § 9 Bundesministeriengesetz (BMG) 1973, daß mit der Leitung einer Sektion nur Beamte betraut werden dürfen. Durch eine Novelle im Jahre 1979 (BGBl. 56) wurde jedoch verfügt, daß der mit der Leitung der Generaldirektion für die Post- und Telegraphenverwaltung – das ist die Sektion III des Bundesministeriums für Verkehr – betraute Generaldirektor für eine höchstens fünfjährige Funktionsperiode per Dienstvertrag zu bestellen ist. Schließlich fördert das BMG 1973 darüber hinaus die Mobilität bei Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Falle der Veränderung parteipolitischer Verhältnisse. Nach § 10 Abs. 5 BMG 1973 kann in den Fällen des § 7 Abs. 3 bis 5 BMG 1973 (Einrichtung von Stäben, Revisionskommissionen etc.) hinsichtlich der Geschäftsbehandlung eine von § 10 Abs. 1 bis 4 BMG 1973 (Delegation von Angelegenheiten an Sektions-, Gruppen-, Abteilungs- und Referatsleiter) abweichende Regelung getroffen werden. Mit der Leitung der Sektionen, Abteilungen, Gruppen und Referate sind gemäß § 9 BMG 1973 Beamte zu betrauen. Für die Fälle des § 7 Abs. 3 bis 5 BMG 1973 ist dies nicht gefordert. Es können mit der Leitung der Stäbe etc. daher auch Vertragsbedienstete betraut und nach § 10 Abs. 5 BMG 1973 in den Delegationszusammenhang eingebaut werden; der Schritt zum „politischen Beamten“, dessen (Vertragsbediensteten-)Rechtsstatus eine größere Mobilität erlaubt, ist getan. 4. Merkmale und Entartungstendenzen bürokratisch strukturierter Verwaltung Im dritten und letzten Teil der Analyse des Ist-Zustandes gegenwärtiger Verwaltung sollen Merkmale bürokratisch strukturierter Verwaltung, Funktionsschwächen des bürokratischen Modells und Entartungstendenzen, d. h. also Bürokratisierungstendenzen,36 beschrieben werden. Für die Bürokratisierungsten36 Zur Bürokratisierungs- bzw. Entbürokratisierungsdiskussion in Österreich, in der BRD und in der Schweiz vgl. z. B. die in Anm. 12 zitierte Literatur, ferner Ernst Pappermann: Kommunalverwaltung der achtziger Jahre, in: Demokratische Gemeinde 1979, S. 1042 ff., S. 1131 ff.; Bürokratisierung und

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denzen gibt es zahlreiche Beispiele: dysfunktionale Aufspaltung in Sachwissen und Kompetenz, mangelndes kunden(service)orientiertes Verhalten (Wartezeiten; Umständlichkeit; Ausstattung, Öffnungszeiten und Standort von Amtsgebäuden), sinnlose Datensammlung bzw. Datenfortschreibung und Informationskonzentration auf der Seite der Verwaltung, aufgeblähte und/oder nicht hinreichend effektiv eingesetzte Verwaltungsmittel, Dekonzentration von Zuständigkeiten auf verschiedene Behörden im Zusammenhang mit ein und demselben Lebenssachverhalt, reduzierte Motivation des Verwaltungspersonals mangels echter Entscheidungsbefugnisse, Teamarbeit, partnerschaftlicher Kooperation zwischen Ebenen der Hierarchie und leistungsfördernden Dienstrechtes etc. Einige Merkmale werden im folgenden herausgegriffen, nämlich Regelhaftigkeit, Zweckrationalität, Sachgerechtigkeit und Unparteilichkeit der Verwaltungsführung. a) Regelhaftigkeit Ein Merkmal bürokratischer Verwaltung ist die Amtsführung nach festen Regeln. Solche Regeln sind in Gesetzen, Rechtsverordnungen, Erlässen, Weisungen und Richtlinien enthalten; mit ihnen ist nicht nur das Verwaltungspersonal, sondern auch die Verwaltungsumwelt konfrontiert. Charakteristisch für die derzeitige Situation sind nun insbesondere Volumen und Komplexität der Regeln.37 Ein paar Entbürokratisierung. Eine Bestandsaufnahme, hrsg. von der Bundesleitung des Deutschen Beamtenbundes (DBB Dokumente Nr. 9), Bonn 1979; Weniger Bürokratie mehr Freiheit. Das Programm der CDU zur Entbürokratisierung von Staat und Gesellschaft. Beschluß des Bundesvorstandes der CDU vom 3. 12. 1979; Erstickt der Bürokratismus unsere Demokratie? Göttingen 1979; Hans Günther Dehe: Möglichkeiten und Grenzen einer Entbürokratisierung, in: Die Öffentliche Verwaltung 1980, S. 77 ff.; Rainer Wahl: Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, in: Die Verwaltung 1980, S. 273 ff.; „Bürokratie – nein danke!“, hrsg. vom Österreichischen Wirtschaftsbund, Wien 1980; Sachverständigenanhörung zu Ursachen einer Bürokratisierung in der öffentlichen Verwaltung sowie zu ausgewählten Vorhaben zur Verbesserung des Verhältnisses von Bürger und Verwaltung am 19. und 20. 6. 1980 in Bonn, hrsg. vom Bundesminister des Innern (3 Teile); Frank Rühl: Bürokratie – wer bremst ihr Wachstum? Materialien zur Bürokratisierung, insbesondere in den USA und in der Schweiz, Bern 1981; Hermann Schönfelder: Kommissionen gegen Bürokratismus, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1981, S. 117 ff. 37 Den Bedingungen und dem Produkt des Gesetzgebungsprozesses sind neuerdings zahlreiche Untersuchungen gewidmet; vgl. z. B. Theo Mayer-Maly: Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg/München 1969; Peter Noll: Gesetzgebungslehre, Reinbek bei Hamburg 1973; Jürgen Rödig (Hrsg.): Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, Berlin u. a. 1976; Kurt Eichenberger u. a.: Grundfragen der Rechtssetzung, Basel 1978; Felix Ermacora: Das Defizit des Rechtes in der westlichen Industriegesellschaft, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.): Auf dem Weg zum Richterstaat, Freiburg 1979, S. 141 ff.; Heinrich Honsell: Vom heutigen Stil der Gesetzgebung, Salzburg/München 1979; Harald Kindermann: Ministerielle Richtlinien der Gesetzestechnik, Berlin u.  a. 1979; Burkhardt Krems: Grundfragen der Gesetzgebungslehre, Berlin 1979; Klaus Lange: Eindämmung der „Vorschriftenflut“ im Verwaltungsrecht?, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1979, S. 533; Hans G. Stockinger (Hrsg.):



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Beispiele sollen diesen Sachverhalt dokumentieren. In der Zeit vom 1. 5. 1945 bis 1. 9. 1978 wurden – wie Franz Martin Schmölz nachweist – in Österreich abzüglich der wieder außer Kraft gesetzten Vorschriften 12.859 Bundesgesetze erlassen. Daneben gelten noch ca. 4.000 Gesetze aus früheren Zeiten.38 Der jährliche Durchschnitt der Seitenanzahl des Bundesgesetzblattes stieg von 887 in der 5. Gesetzgebungsperiode (1945–1949) auf 3.799 in der 14. Gesetzgebungsperiode.39 Sprunghafte Vermehrungen können zu Zeiten von Alleinregierungen festgestellt werden, nämlich 1966 bis 1970 um rund 500 Seiten mehr pro Jahr, 1971 bis 1975 um rund 870 Seiten mehr pro Jahr. Nicht gezählt sind die Landesgesetze und das untergesetzliche Rechtsmaterial. Das 1811 erlassene ABGB wurde in rund 170 Jahren 33mal novelliert, das ASVG schaffte diese Zahl in nur 23 Jahren.38 Aus den 11 Paragraphen des AVG über die Zustellung entstanden in der Regierungsvorlage eines eigenen Zustellgesetzes 29 Paragraphen für die Zustellung im Verwaltungsverfahren.40 Und das in den Erläuternden Bemerkungen dieser Regierungsvorlage u. a. ausgewiesene Ziel des Gesetzentwurfes, eine Vereinheitlichung der für die Zustellung maßgebenden Rechtsvorschriften zu erreichen, meint der Entwurfsverfasser durch folgende Bestimmung des Entwurfes (Abschnitt X Abs. 2) verwirklichen zu können: „Soweit in Verfahrensvorschriften auf Bestimmungen über Angelegenheiten des Zustellwesens hingewiesen ist, die im Zustellgesetz geregelt sind, sind sie als Hinweis auf die entsprechenden Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu verstehen. Im übrigen bleiben Bestimmungen über die Zustellung in anderen Vorschriften Gesetzesperfektionismus und Beamtenschwemme, München/Wien 1979; Frido Wagener: Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 37, Berlin/New York 1979, S. 244 ff.; 254 ff.; Sozialintegrierte Gesetzgebung (Symposion in Vill/Innsbruck), Wien 1979; Kosten-Nutzen-Analyse der Gesetzgebung (7. österreichischer Juristentag 1979 in Salzburg, mit Beiträgen von Egon Matzner, Peter Henseler, Wolfgang Schmitz, Stephan Koren); Carl Böhret/Werner Hugger: Test und Prüfung von Gesetzentwürfen, Köln/ Bonn 1980; Peter Fricke/Werner Hugger: Test von Gesetzentwürfen, 2 Teile, Speyer 1979/1980; Fritz Schönherr: Gedanken zur Gesetzessprache, in: Österreichische Juristen-Zeitung 1980, S. 537 ff.; Carl Böhret (Hrsg.): Gesetzgebungspraxis und Gesetzgebungslehre, Speyer 1980; Günther Winkler/Bernd Schilcher (Hrsg.): Gesetzgebung, Wien/New York 1981; Gesetzgebung im Rechtsstaat (Beratungsgegenstand der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1981, Referate von Kurt Eichenberger, Richard Novak, Michael Kloepfer); Theo Öhlinger (Hrsg.): Methodik der Gesetzgebung, Wien/New York 1982. 38 Franz Martin Schmölz: Gesetzesflut und Gesetzesentrümpelung, in: Der Staatsbürger 1979, S. 85, 90, 94. 39 Günther Engelmayer: Paragraphen-Inflation, in: Der öffentlich Bedienstete Nr. 4/1979, S. 5. 40 162 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates, 15. GP. An der Vermehrung der Vorschriften über die Zustellung im Verwaltungsverfahren ändert der Umstand nichts, daß das Zustellgesetz die Zustellung in gerichtlichen und verwaltungsbehördlichen Verfahren allgemein regeln will.

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unberührt, soweit nicht in den Abschnitten III–IX des Zustellgesetzes anderes angeordnet ist.“ Ein kleines Beispiel für Volumen und Komplexität bietet auch die Wärmeschutzverordnung, BGBl. 1980/135. Auf rund 6 Seiten Bundesgesetzblatt wird umschrieben, was der Gesetzgeber in § 8 Abs. 4 Z. 5 (vorzeitige Abschreibung) und § 18 Abs. 1 Z. 3 lit. d (Sonderausgaben) des Einkommensteuergesetzes 1972, BGBl. 440, in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. 1979/550, unter energiewirtschaftlicher Zweckmäßigkeit und unter dem Ausmaß des Wärmeschutzes verstanden wissen wollte. Die Verordnung ist aber nicht nur umfangreich, sondern sie bedient sich auch der Regelungstechnik der Kasuistik im höchsten Maß und ist überdies so kompliziert abgefaßt, daß Steuerberater als Helfer beim Lesen und Verstehen nicht genügen werden; auch Techniker wird der Bürger – und übrigens auch der Jurist –, der sich an diese Verordnung heranwagt, brauchen, um sich halbwegs zurechtzufinden. Klar ist, daß das Problem der Regelflut nicht so gelöst werden kann, wie es einer Novelle zu Art. 49 B-VG ex 1972, BGBl. 105, vorschwebt, nämlich daß Staatsverträge nicht unbedingt im Bundesgesetzblatt kundgemacht werden müssen. Das Problem wird nicht nur nicht aus der Welt geschafft, es wird sogar noch verschärft, weil im Falle der Dislozierung nicht nur das Bundesgesetzblatt, sondern auch ein anderes Kundmachungsblatt konsultiert werden muß. Nun könnten für die Flut, aber auch für die Komplexität und sonstigen Charakteristika der Regeln zahlreiche Gründe, darunter gute, wie z. B. Vorhersehbarkeit des Verwaltungshandelns, gleiche Rechtsanwendung, Kontrollmöglichkeit etc., angeführt werden. Daß die genannten Charakteristika der Regeln jedoch zahlreiche Probleme aufwerfen, und zwar sowohl innerhalb der Verwaltung als auch in der Beziehung zwischen Verwaltung und Verwaltungsumwelt, liegt auf der Hand. Das Verwaltungspersonal ist mitunter außerstande, die Regeln zu verarbeiten. Sie werden oftmals, um mit Frido Wagener zu sprechen, „nur noch hemmungslos vervielfältigt und – wenn es gutgeht – ordnungsgemäß (an hervorragender Stelle) weggeheftet“.41 Weiters führt die Ordnungsgemäßheit der Verwaltung als Handlungsmaßstab, d. h. die Beurteilung des Verwaltungshandelns danach, ob es den Regeln entspricht, angesichts der Flut von Regeln dazu, daß andere Handlungsmaßstäbe – Wirtschaftlichkeit, Flexibilität, Problemorientierung, Innovationsfähigkeit – ins Hintertreffen geraten oder, wenn sie beachtet werden, mitunter dem Verwaltungspersonal in ihrer Karriere bestenfalls keinen Vorteil, schlechterenfalls Nachteile bringen. 41 Wagener, Dienst (Anm. 37), S. 245.



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Und auch das Verhältnis des Bürgers zu den Regeln ist aus den genannten Gründen ein getrübtes. Dabei geht es weniger um eine Regelungsgroteske, wie sie z. B. vor kurzem von der Personenstandsverwaltung im Zusammenhang mit der Schreibweise von Familiennamen inszeniert worden ist.42 Vielmehr sind viele Regeln für den Bürger unüberschaubar und unverständlich. Wer, so weist Rudolf Reiser in der „Süddeutschen Zeitung“ nach, 1966 ein Haus baute, hatte 48 Rechtsvorschriften zu beachten, 1978 waren es schon 250.43 Eine ähnliche Verdichtung beim Erfassen von Lebenssachverhalten durch Regeln dürfte auch in Österreich zutreffen. Ein Beispiel für Unverständlichkeit des Rechtes bietet die Urheberrechtsgesetznovelle 1980, BGBl. 321: 1. Der Abs. 2 des § 17 hat zu lauten: „(2) Einer Rundfunksendung steht es gleich, wenn ein Werk von einer im In- oder im Ausland gelegenen Stelle aus der Öffentlichkeit im Inland, ähnlich wie durch Rundfunk, aber mit Hilfe von Leitungen wahrnehmbar gemacht wird.“ [...] 9. Der Abs. 7 des § 74 hat zu lauten: „(7) Die §§ 5, 7, 8, 9, 11, 12, 13, 14 Abs. 2, § 15 Abs. 1, §§ 16, 17, 18 Abs. 3, § 23 Abs. 2 und 4, g 24, 25 Abs. 2 bis 6, §§ 26, 27 Abs. 1, 3, 4 und 5, § 31 Abs. 1, § 32 Abs. 1, § 33 Abs. 2, §§ 36, 37, 41, 54 Z. 3 und 4, 56 und 59a sowie die für Werke der bildenden Künste geltenden Bestimmungen des § 42 Abs. 1 bis 3 und 5 bis 7 gelten für Lichtbilder entsprechend.“ Auf besondere Kritik stößt ferner der Hang zur Verwaltungsfachsprache44 und zum komplizierten Formular.45 Bemängelt wird, wenn schon nicht auf Formulare verzichtet werden kann, das Fehlen höflicher Anredeform für den Bürger, inhaltlicher Einheitlichkeit aller Formulare für einen gleichen Sachverhalt, übersichtlicher Gliederung und graphisch sinnvoller Gestaltung mit ausreichendem Platz, beklagt werden Amtsdeutsch, Fachausdrücke und Fremdwörter, unübersichtlicher Satzbau und unzumutbare Satzlänge, nicht zur Entscheidung gehörende Fragen, mangelhafter Datenschutz. Auch könnten Bescheide bürgergerechter dadurch abgefaßt werden, daß in der Begründung der Spruch gemeinverständlich erläutert, die Begründung unter Verzicht auf Fachsprache abgefaßt und die Rechtsmittel­ 42 Erlaß vom 14. 12. 1979, Zl. 10703/1-IV/4/79, abgedruckt in: Österreichisches Standesamt Nr. 1/1980, S. 2. 43 Zitiert nach Schmölz, Gesetzesflut (Anm. 38), S. 85. 44 Vgl. dazu z. B. Walter Otto: Die Sprache als Verwaltungsmittel, in: Bayerische Verwaltungsblätter 1978, S. 481 ff. 45 Zu den Bemühungen zur Verbesserung der Formulare vgl. z. B. in Österreich die Richtlinien für die Gestaltung von Formularen, hrsg. vom Bundeskanzleramt (1980); die Richtlinien für die Gestaltung und Herstellung von Vordrucken beim Amt der Salzburger Landesregierung (Erlaß vom 14. 7. 1981, Kennzahl 0/85, Zahl 0/02-2605/11–1981); für die BRD vgl. z. B. die Vorläufigen Empfehlungen für arbeitsgerechte und bürgernahe Vordrucke, hrsg. vom Bundesverwaltungsamt – Bundesstelle für Büroorganisation und Bürotechnik (1979).

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belehrung in der Weise erweitert wird, daß dem Bürger auch andere Rechtsschutz­ instrumente als jene im administrativen Instanzenzug genannt werden. All dies könnte ohne Änderung der Bestimmungen der Verwaltungsverfahrensgesetze betreffend die Form von Bescheiden praktiziert werden. Hinzuweisen ist weiters darauf, daß Flut und Komplexität der Regeln auch rechtsstaatgefährdend sind. Das mit dem Publizitätsgebot verbundene Anliegen, der Rechtsunterworfene müsse in die Lage versetzt werden, anhand des Rechtes das Verhalten der staatlichen Behörden vorausschauend festzustellen und das Recht auch zur Durchsetzung seiner Interessen einsetzen zu können, ist nämlich kaum noch verwirklichbar. Rechtskenntnis wird zunehmend zu einem Exklusivwissen hochspezialisierter Fachleute, ein Sachverhalt, der nicht nur den gleichen Zugang zum Recht erschwert, sondern auch zu einer Abwertung des Rechtes führt. Und auch das Anliegen, Gleichbehandlung durch Verrechtlichung sicherzustellen, kann pervertiert werden, wenn Flut und Komplexität der Regelungen ganz einfach zu einer regelunabhängigeren Vollziehung zwingen. Dies mag einer der Gründe dafür sein, daß für den Fall erhöhter Staatsintervention nur 8 % der befragten Österreicher sagen, es komme diesfalls zu weniger Ungerechtigkeiten.46 Mit der Regelhaftigkeit der Amtsführung ist noch ein Sachverhalt verbunden, der kurz gestreift werden soll. Regelhaftigkeit ist eine der Voraussetzungen für die automationsunterstützte Verwaltungsführung. Letztere wirft zahlreiche Probleme47 auf, nur eines der Probleme, das weniger beachtet wird, soll angesprochen werden. Durch automationsunterstützte Verwaltungsführung werden Kapazitäten frei, die zu weiterer Einengung bürgerschaftlicher Disposition verwendet werden können. So hat die Computerisierung der Finanzverwaltung Personal freigesetzt, das nunmehr zur Betriebsprüfung eingesetzt werden und sich dabei überdies der EDV-Anlagen im Bundesrechenamt bedienen kann. Die Chancen, Steueransprüche des Staates auch durchzusetzen, steigen. Nun könnte man sagen, das sei nicht nur recht und billig, sondern sogar ein Beitrag zur Effektivitätssteigerung. Die Antwort darauf müßte dann eine Frage sein: Hat auch der Bürger gleichwertige Instrumente, um seine berechtigten Ansprüche gegenüber der Verwaltung ebenso effizient durchzusetzen?

46 Vgl. die in Anm. 3 zitierte Umfrage des Dr. Fessel + GfK-Instituts zum Thema „Staat und Bürokratie“. 47 Hinsichtlich der den Bürger betreffenden Probleme vgl. z. B. Georg Weißmann: Möglichkeiten der EDV als Mittler zur größeren Bürgernähe, in: Österreichische Notariats-Zeitung 1980, S. 65 ff.



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b) Zweckrationalität Die Überlegenheit bürokratisch strukturierter Verwaltung liegt u. a. im Prinzip der Zweckrationalität. Wer nach diesem Prinzip handelt, setzt Handlungszwecke, einzusetzende Mittel und etwaige Nebenfolgen des Handelns ständig in eine Beziehung und beurteilt die Beziehung unter rationalen, d. h. z. B. weder emotionalen noch traditionsgeprägten Aspekten. Unter den rationalen Aspekten dominieren die materiellen, auf Vermehrung und Verteilung von Gütern ausgerichteten Aspekte. Zweckrationalität des Verwaltungshandelns liegt demnach vor, wenn das Output, die Güter und Dienstleistungen, optimiert, das Input, die aufzuwendenden Ressourcen, minimiert werden. Wirtschaftlichkeit, Leistungsfähigkeit als Handlungsmaßstab rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung, was sich nicht zuletzt daran zeigt, daß die Effektivitätsdiskussion vorwiegend aus betriebswirtschaftlicher Sicht geführt wird. Gebietsreformen48 z. B. sind, wenn dadurch optimale Betriebsgrößen geschaffen werden, sicherlich höchst effektiv im Sinne betriebswirtschaftlicher Überlegungen. Dieser Effektivität sind aber die Verluste an die Seite zu stellen, die dadurch entstehen, daß überschaubare Lebens- und Gestaltungsräume zerschlagen werden, die Bereitschaft zum Engagement in politicis reduziert wird, das Gefühl des Ausgeliefertseins an anonyme, weil größer werdende Dienststellen steigt. Analoge Verluste gelten für manche Funktionalreformen.47 In das Optimierungskalkül der Verwaltung sind daher zunehmend auch immaterielle, emotionale, nicht-rationale Aspekte der vorhin genannten Art einzubeziehen, damit das Output der Verwaltung sowie die Mitwirkungschancen und das Wohlbefinden des Bürgers tatsächlich optimiert erscheinen. c) Sachgerechtigkeit und Unparteilichkeit Sachgerechtigkeit liegt u. a. vor, wenn die Charakteristika des Lebenssachverhaltes, auf den sich das Verwaltungshandeln bezieht, in der administrativen Entscheidung Berücksichtigung finden. Dem dienen Fachwissen und Fachschulung des Verwaltungspersonals, Vorschriften über die Erhebung des Sachverhaltes, Zuziehung von Sachverständigen, Anwendung von Methoden der Entscheidungsfindung etc. Sachgerechtigkeit – das darf nicht übersehen werden – wird aber auch dadurch gefördert, daß beteiligte Interessen erhoben,49 Mitwirkung der Betroffenen ermöglicht und Informationen an die Betroffenen weitergegeben werden.

48 Vgl. dazu die bei Brünner, Verwaltung (Anm. 13), zitierte Literatur; vgl. auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. 3. 1981 – G 87/80, mit dem eine Gemeindezusammenlegung aufgehoben worden ist. 49 So auch der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis Sammlung 8280/1978 (betreffend die Gesetzmäßigkeit eines Flächenwidmungsplanes).

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Unparteilichkeit bedeutet, daß die öffentliche Verwaltung ihre Handlungen unbeeinflußt von Stand, Geschlecht, Klasse, Bekenntnis derer, auf die sich diese Handlungen beziehen, treffen muß. Dem hat z. B. auch die Regelhaftigkeit des Verwaltungshandelns zu dienen. Nun liegt es fern, der öffentlichen Verwaltung parteiisches Verhalten vorzuwerfen. Unparteilichkeit ist nicht nur durch Vorschriften gesichert – zu verweisen ist z. B. auf § 43 Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 –, sie zählt auch zum Berufsethos der Angehörigen des öffentlichen Dienstes, und ein Ethos – so muß in Erinnerung gerufen werden – entfaltet normative Kraft. Dennoch müßte durch die Verwaltungstatsachenforschung intensiver geprüft werden, ob nicht doch Parteilichkeit existiert,50 insbesondere unreflektierte, unbewußte Parteilichkeit. Es ist nämlich zu vermuten, daß Unterschiede in der Sprachfähigkeit, im Bildungsniveau, in sonstigen sozialen Merkmalen des Bürgers zu unterschiedlichem Verwaltungshandeln führen, ferner dazu, daß die Bürger das ihnen zur Verfügung stehende Rechtsschutzinstrumentarium wegen dieser Unterschiede nur in unterschiedlicher Intensität nutzen und nutzen können.

III. Verwaltungsreformen 1. Innovationsfähigkeit der Verwaltung Festzuhalten ist, daß Gesetzgeber und Verwaltung den negativ bewerteten Charakteristika öffentlicher Verwaltung durch Reformen bereits entgegengetreten sind. Nur beispielhaft seien genannt die Errichtung der Volksanwaltschaft, die Verankerung einer Auskunftspflicht in § 4 Abs. 3 Bundesministeriengesetz 1973, die Verstärkung der Mitwirkungsbefugnisse des Bürgers z. B. in der Raumordnung, die Schaffung von Beratungs- und Beschwerdestellen, z. B. des Büros für Bürgerinitiativen in der Stadt Graz, die Reform bzw. Intensivierung der Aus- und Fortbildung des Verwaltungspersonals, die Berücksichtigung geänderter Bedingungen des Verwaltungshandelns im Dienstrecht, das Bemühen um mehr Bürgernähe dadurch, daß Behördenführer aufgelegt, Information intensiviert, Formulare entrümpelt, Kontaktbeamte z. B. bei den Bundespolizeibehörden namhaft gemacht und BeamtenKnigges herausgegeben worden sind. Man ist somit nicht untätig geblieben, was schließlich auch als Zeichen für die oft skeptisch beurteilte Innovationsfähigkeit des Systems bzw. der Verwaltung zu werten ist. Dennoch wäre zu prüfen, ob in allen Verwaltungszweigen und Dienststellen bereits das Mögliche getan worden ist, um die Verwaltung zu verbessern. Darüber hinaus ist über ungelöste Probleme nach 50 Für die BRD vgl. z. B. Richard Albrecht/Eckart Reidegeld: Bürger und Verwaltung, in: (Deutsches) Verwaltungsarchiv 1977, S. 246 ff.



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wie vor eine Reformdiskussion zu führen, zu der im folgenden einige Aspekte beigesteuert werden sollen. Ähnlich wie bei der Analyse der Charakteristika gegenwärtiger öffentlicher Verwaltung steht man auch im Zusammenhang mit Reformmaßnahmen vor dem Problem der Fülle, nicht nur betreffend den möglichen Inhalt von Verwaltungsreformen, sondern auch betreffend die Bedingungen, die gegeben sein müssen, um Verwaltungsreformen tatsächlich durchführen zu können.51 Der Aspekt der Bedingungen muß im vorliegenden Zusammenhang gänzlich beiseite gelassen, jener der Inhalte von Reformen auf drei Punkte beschränkt werden, nämlich Privatisierung der Aufgabenerfüllung, Abbau von Regeln sowie Ausbau von Partizipation und Bürgernähe. Vorauszuschicken ist, daß aus den Gründen, die einleitend angeführt worden sind, nur eine Reform der kleinen Schritte möglich ist, ferner daß jene Verwaltungsreform größere Chancen des Erfolges hat, die nicht gegen, sondern mit dem Verwaltungspersonal diskutiert, konzipiert und durchgeführt wird. 2. Ungelöste Probleme a) Privatisierung Um Mißverständnissen vorzubeugen, ist festzuhalten, daß es, wenn in der vorliegenden Analyse von Privatisierung gesprochen wird, nicht darum geht, die VOEST oder die Länderbank zu reprivatisieren. Unter Privatisierung52 soll dreierlei 51 Zur Verwaltungsreform vgl. dazu die in Anm. 12 und Anm. 35 zitierte Literatur, ferner weiters für Österreich z.  B. Norbert Wimmer: Verwaltungsreform in Österreich, in: Die Verwaltung 1974, S. 465 ff.; Heinz Wittmann/Franz Berner: Verwaltungsreform in Österreich, Wien o. J. (1974); Norbert Wimmer, Das Einmaleins der Verwaltungsreform, Berlin 1977; Brünner, Verwaltung (Anm. 12), Sp. 3240 f.; Peter Pernthaler: Bundesstaatsreform als Voraussetzung einer wirksamen Verwaltungsreform, in: Peter Oberndorfer/Herbert Schambeck (Hrsg.): Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gesellschaft, Festschrift für Ludwig Fröhler, Berlin 1980, S. 69 ff.; Eva Kreisky: Modelle einer demokratischen Verwaltungsreform, Wien 1981; Mantl, Verwaltung (Anm. 12), S. 42 ff.; hinsichtlich der Verwaltungsreform auf Bundesebene vgl. insbesondere den jüngsten Bericht der Bundesregierung über Maßnahmen zur Verwaltungsreform in den Jahren 1975 bis 1980, III-78 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates, 15. GP; betreffend die Bundesländer vgl. z. B. das Modell Steiermark (Anm. 3); die Arbeiten der beim Landeshauptmann von Salzburg eingerichteten Salzburg-Kommissionen (dazu Barbara Wicha: Die Salzburg-Kommissionen, in: Andreas Khol/Alfred Stirnemann [Hrsg.]: Österreichisches Jahrbuch für Politik 1979, München/Wien 1980, S. 99  ff.); den Vorschlag für ein Reformkonzept „Lebensnahe Verwaltung“ der ÖVP Oberösterreich (1979) etc.; weiters für die BRD Frido Wagener: Neubau der Verwaltung, Berlin 1969; Wirtschaftlicher und sozialer Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1977; Carl Böhret (Hrsg.): Verwaltungsreformen, Bonn 1978; weiters z. B. für die Schweiz Pius Bischofberger: Regierungs- und Verwaltungsreform in der Schweiz, in: Schweizerisches Jahrbuch für politische Wissenschaft 1977, S. 33 ff. 52 Zur Privatisierungsdiskussion in Österreich vgl. z. B. Alexander van der Bellen: Finanzierungs-Verstaat-

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3. Wissenschaft

verstanden werden, nämlich erstens eine Entstaatlichung dadurch, daß Güter und Dienstleistungen nicht oder nicht mehr durch die öffentliche Hand, sondern von Privaten bereitgestellt werden, zweitens die Verbesserung der staatlichen Aufgabenerfüllung durch Verselbständigung des Aufgabenträgers und Organisation der Aufgabenerfüllung nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen (z. B. durch ausgegliederte Rechtsträger) und drittens Vorkehrungen, daß zwischen der Leistung des Staates und der Gegenleistung des Bürgers häufiger eine direkte, für den Bürger erkenn- und kalkulierbare Beziehung hergestellt wird. Es liegt auf der Hand, daß eine Diskussion über Privatisierung höchsten ideologisch-programmatischen Gehalt hat, es wäre falsch, sie nur anhand von Rationalitätskalkülen zu führen. Dennoch und vielleicht gerade deswegen ist eine Diskussion unerläßlich. Staatsaufgaben sind dahin gehend zu durchforsten, ob nicht manche der von der öffentlichen Hand produzierten Güter und Dienstleistungen vom privaten Sektor allein oder in Konkurrenz zum öffentlichen Sektor zur Verfügung gestellt werden könnten. Kriterium für die Ausgliederung der Aufgaben sollte nicht nur die Effizienz, sondern auch der Abbau von Staatsabhängigkeiten, die Stärkung der privaten Leistungskraft und die Intensivierung der Chance sein, durch eigene Anstrengungen Lebenssinn und Glück zu erfahren. Werden einzelne Güter und Dienstleistungen vom privaten und vom öffentlichen Sektor produziert, so führt diese Konkurrenzsituation überdies zu einer wirksamen Kontrolle, vorausgesetzt, daß der öffentlichen Hand keine Wettbewerbsvorteile eingeräumt werden. Eine solche Schlankheitskur für den Staat ist nicht nur, wie Beispiele in Lienz, Wiener Neustadt, Wien etc. zeigen,53 auf den Gebieten der Entsorgung und Versorgung lichung oder -Privatisierung?, in: Wirtschaft und Gesellschaft, Heft 2/1976, S. 43 ff.; Michaela Dorfwirth: Reprivatisierung kommunaler Betriebe, in: Zeitschrift für Kommunalpolitik, Heft 4/1976, S. 16 f.; Heft 3/1977 der Zeitschrift für Kommunalpolitik (Privatisierung kommunaler Betriebe); Kommunalpolitische Enquete des Österreichischen Wirtschaftsbundes 1977, Informationen des ÖWB, Heft 12 (mit einer Dokumentation betreffend Reprivatisierungs-Projekte); Ludwig Fröhler/Ernst Kubin (Hrsg.): Privatisierung kommunaler Aufgaben? Linz 1978; Tilman Brandl u. a.: Beurteilung von Privatisierungsbestrebungen auf der Ebene von Gemeinden. Am Beispiel der Müllabfuhr und der Schlachthöfe, Wien (Kommunalwissenschaftliches Dokumentationszentrum) 1978; Ludwig Fröhler/ Ernst Kubin (Hrsg.): Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Wien 1979; Siegbert Morscher: Staatstheoretische und verfassungsrechtliche Aspekte der (Re)Privatisierung öffentlicher Unternehmen, in: Österreichische Juristen-Zeitung 1979, S. 141 ff. – Für die BRD vgl. z. B. Horst Hanusch (Hrsg.): Reform öffentlicher Leistungen, Baden-Baden 1978; Gerhart Baum u. a.: Privatisierung – Gewinn für wen? Bonn 1980; Heinrich Siedentopf: Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Begriff und Formen, in: Verwaltungsführung, Organisation, Personalwesen 1980, S. 62 ff. – Für die Schweiz vgl. z. B. Martin Lendi/Robert Nef: Erfüllung öffentlicher Aufgaben ohne Staat, in: Dokumente und Informationen zur Schweizerischen Orts-, Regional- und Landesplanung, Nr. 54/1979, S. 23 ff.; Walter Wittmann: Privatisierung öffentlicher Aufgaben, in: NZZ v. 18./19. 10. 1980, S. 37. 53 Vgl. die in Anm. 52 zitierte Literatur.



3.7. Verwaltete Bürger

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möglich; grundsätzlich reprivatisierungsfähig sind Aufgaben im Bereiche des Verkehrs und der Kommunikation, des Gesundheitswesens, der Bestattung, der Ernährung, des Sozialen, der Bildung und Erziehung, der kulturellen Einrichtungen, der Wohnungs- und Grundstückswirtschaft, des Kreditwesens etc., wenn Kosten und Nutznießer individualisierbar sind. Gerade die in letzter Zeit zunehmende gesellschaftliche Selbstorganisation54 produziert darüber hinaus Erfahrungsmaterial, ob Leistungen, die der einzelne aus eigener Kraft nicht erbringen kann und die er daher von der Gemeinschaft erwarten darf, durch spontane Selbstorganisation und engagierte Selbsthilfe bedarfsgerechter, effizienter und menschlicher erbracht werden können, als dies der Staat zu tun vermag. Und sind aus sozialen Gründen niedrigere Preise und Tarife wünschenswert, als sie marktwirtschaftlicher Mechanismus erzeugt, so könnte der soziale Zweck über eine Subjektförderung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Vorteile marktwirtschaftlicher Organisation erreicht werden. Die Sozialpolitik im allgemeinen und die Sozialleistungen im besonderen sollten ferner dahin gehend überprüft werden, ob nicht dem Staatsbürger mehr Selbstverantwortung zugemutet werden kann. Das gilt für den Bereich der Sozialversicherung, zum Beispiel Abbau des Medikamentenkonsumunwesens durch stärkere Belastung mit einer direkten Gegenleistung, genauso wie für die Schulbuchaktion, die unsozial dann wird, wenn die Staatsleistung auch von den Nichtbedürftigen in Anspruch genommen werden kann. Eine verstärkte Anwendung des Prinzips von Leistung und Gegenleistung bei großzügiger Unterstützung der wirklich Bedürftigen könnte dazu beitragen, die Illusion abzubauen, Leistungen ohne Gegenleistung und auf Kosten anderer in Anspruch nehmen zu können, sowie dazu, ein kostenbewußteres Nachfrageverhalten der Leistungsadressaten herbeizuführen. Die Verselbständigung von Verwaltungsaufgaben im Bereich der öffentlichen Verwaltung durch Ausgliederung und die Organisation der Aufgabenerfüllung nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen ist dann zu forcieren, wenn dadurch Verantwortung und Motivation des Verwaltungspersonals, Überschaubarkeit und damit Kontrolle öffentlicher Aufgabenerfüllung, Wirtschaftlichkeit sowie Mitwirkung des Staatsbürgers intensiviert werden können. Voraussetzung der Verwirklichung dieser Ziele (und der damit gleichzeitig erzielbaren Entlastung der zentralen Staatsverwaltung) ist es allerdings, den verselbständigten Verwaltungsträgern präzis umschriebene Aufgaben zu übertragen, sie mit zur Aufgabenerfüllung erforderlichen finanziellen und personellen Mitteln sowie echten Entscheidungs54 Vgl. dazu z. B. Christoph Badelt: Selbstorganisation: Alternative zur Bürokratie, Wien 1979; Heft 2/1980 der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (Selbstorganisation: Tendenzen, Chancen, Erfahrungen); vgl. auch Heft 1/1980 dieser Zeitschrift.

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kompetenzen auszustatten und den Grad der Aufgabenerfüllung als Erfolg oder Mißerfolg festzuhalten. Staatsentlastung durch mehr oder minder technische Vorkehrungen muß schließlich jedenfalls dadurch ergänzt werden, daß sowohl die Bürger ihre Wünsche an den Staat als auch die politischen Repräsentanten ihre Versprechungen einem Räsonnement unterziehen, um die Inflation der Ansprüche etwas zurückzuschrauben. In Erinnerung zu rufen ist die bereits im zweiten Teil aufgestellte Hypothese, daß eine staatlich verordnete Wohlfahrt mit ihrer Grundtendenz, Abhängigkeit zu fördern, auf die Dauer nicht ohne Auswirkungen auf die an der Idee der Selbstbestimmung orientierten Demokratie bleiben kann. Weder soll einer Freiheit der Eigennutzmaximierung und Solidaritätsminimierung noch der Entlassung des Staates aus der Gemeinwohlverantwortung das Wort geredet werden. Zu den staatsbürgerlichen und staatlichen Tugenden zählt ohne Zweifel das Sich-verantwortlich-Fühlen für Schutz- und Hilfsbedürftige im Sinne der Sozialgebundenheit der individuellen Freiheitsentfaltung und Selbstverwirklichung. Es darf aber andererseits nicht ein mögliches Spannungsverhältnis zwischen Abhängigkeit vom Staat einerseits und Engagement des Bürgers auf dem Feld der Mitwirkung und Kontrolle gegenüber dem Staat andererseits übersehen werden. b) Abbau von Regeln Weniger ideologie- bzw. programmbedingte Schwierigkeiten bereitet der Abbau von Regeln. Dafür stehen solchem Bemühen andere Faktoren nicht minder gewichtig entgegen, die insbesondere mit rechtsstaatlichen Erfordernissen, darunter Sicherung des Gleichheitssatzes durch die Regelhaftigkeit und Regelgebundenheit des Verwaltungshandelns, ferner mit dem erhöhten Bedarf an Regelungsfunktion in der pluralistischen Gesellschaft unmittelbar in Verbindung stehen. Abbau von Regeln kann daher einerseits nur innerhalb sehr eng gesteckter Grenzen möglich sein, muß aber andererseits gerade deswegen in Angriff genommen werden. Darüber hinaus bietet die qualitative Seite der Regeln, d. h. insbesondere legistischtechnische Unzulänglichkeiten, Regelungsdisfunktionalitäten und pragmatischsemantische Ungereimtheiten, für Anwender wie Bürger ein Feld reformatorischer Aktivitäten, das weit größer ist als das für quantitative Reformen. Die Palette möglicher Reform55 kann in zwei Abschnitte geteilt werden. Erstens geht es um Rechtsbereinigung, d. h. um Reduzierung und Verbesserung des derzeit geltenden Rechtes. Während auf der Bundesebene seit Jahren diesbezügliche Bemühungen – weiter gediehene sind im wesentlichen nur orientiert am Instrument der Wieder-

55 Vgl. die in Anm. 36 und Anm. 37 zitierte Literatur.



3.7. Verwaltete Bürger

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verlautbarung – laufen,56 ist z. B. Niederösterreich zur Tat geschritten.57 Durch § 1 des Niederösterreichischen Rechtsbereinigungsgesetzes werden sämtliche vor dem 1. 1. 1972 erlassenen bzw. übergeleiteten Landesgesetze mit Wirkung vom 30. 4. 1979 außer Kraft gesetzt; Ausnahmen sind in den §§ 2 und 3 taxativ aufgezählt. Darüber hinaus werden durch drei Rechtsbereinigungsverordnungen in Niederösterreich auch die vor dem 31. 12. 1971 erlassenen Verordnungen aufgehoben. Dadurch und durch häufigere Wiederverlautbarung könnte bereits einiger Fortschritt erzielt werden. Eine Rechtsbereinigung muß aber auch die Verwaltungsverordnungen, Erlässe, Richtlinien erfassen, und zwar hinsichtlich Reduktion und Konzentration in der Form der Wiederverlautbarung, aber auch betreffend Zugänglichkeit für den Staatsbürger, letzteres nicht zuletzt deshalb, weil die Kategorie der Verwaltungsverordnung ihres Charakters eines vorrechtsstaatlichen Phänomens zu entkleiden ist. Schließlich ist Vorsorge dafür zu treffen, daß insbesondere Gesetze kontinuierlich auf ihre Erforderlichkeit und Zweckmäßigkeit und damit daraufhin überprüft werden, ob sie ihrer Regelungsfunktion gerecht werden. Ein diesbezügliches Instrument könnten die zahlreichen Berichte sein, die von der Regierung bzw. von Regierungsmitgliedern aufgrund von Gesetzen oder Entschließungen der Parlamente oder freiwillig an die Parlamente erstattet werden. Um den Zweck einer Kontrolle der Regelungsfunktion auch zu erfüllen, müßten die Berichte jedoch tatsächlich ausgewertet und nicht nur an hervorragender Stelle abgeheftet werden. Und effektiv ausgewertet können sie nur werden, wenn sie nach standardisierten Gesichtspunkten erstellt werden müßten und auch die Parlamente, insbesondere die jeweiligen Oppositionen, mit Personal und sachlichen Mitteln auswertungsgemäß ausgestattet wären. Zweitens bedarf es institutionalisierter, verfahrensmäßiger Kontrollen bei der Produktion von Gesetzen und sonstiger Regeln dahin gehend, ob eine Regel notwendig ist und – zutreffendenfalls – daß sie insbesondere regelungsfunktional sowie anwender- und bürgernah konzipiert ist. Besondere Beachtung verdienen in diesem Zusammenhang die Leitsätze, die die Landesregierung von BadenWürttemberg für den Erlaß von Rechts- und Verwaltungsvorschriften beschlossen hat.58 Aus österreichischer Sicht ist im Hinblick auf die Möglichkeit schneller 56 Vgl. dazu zuletzt Franz Unterasinger: Rechtsstaat und Rechtsbereinigung, in: Juristische Blätter 1980, S. 247 ff. 57 Vgl. dazu Willibald Liehr: Die Rechtsbereinigung in Niederösterreich, St. Pölten/Wien o. J. (1980?). 58 Vgl. den Bericht der Landesregierung Baden-Württemberg „Bürgernähe in der Verwaltung“ vom Juni 1979, S. 16 f. (vgl. auch S. 12 ff.); vgl. weiters z. B. die Dokumentation der Tätigkeit der (Bayerischen) Kommission für den Abbau von Staatsaufgaben und Verwaltungsvereinfachung, München 1980, sowie zwei diesbezügliche Berichte der Bayerischen Staatsregierung (Bayerischer Landtag, Drucksachen 9/4256 und 9/8041); Anträge der CDU betreffend Prüfung der Notwendigkeit von Gesetzesvorhaben, Deutscher Bundestag, Drucksachen 8/3804 und 9/156.

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3. Wissenschaft

Realisierung jedenfalls zu fordern, Verweisungen auf andere Rechtsvorschriften weitestgehend zu vermeiden59 und sicherzustellen, daß die Veränderung einer Stammvorschrift durch eine dritte Vorschrift gleichzeitig bei der Stammvorschrift selbst vorzunehmen ist. So sollen durch das im Entwurf vorliegende Zustellgesetz nicht weniger als sieben andere Gesetze geändert werden, ohne daß bei diesen Gesetzen die Änderung gleichzeitig ersichtlich gemacht werden würde. 60 Für das Bundesverfassungsrecht wäre überdies eine Bestimmung analog Art. 79 Bonner GG wünschenswert, die der Zersplitterung des Verfassungsrechtes Einhalt gebietet und alles Verfassungsrecht weitestgehend in eine Urkunde konzentriert. c) Ausbau von Partizipation und Bürgernähe Während Privatisierung von Verwaltungsaufgaben und Abbau von Regeln auch in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden, scheint sich eben diese Öffentlichkeit weitestgehend unisono für eine Intensivierung von Partizipation und Bürgernähe auszusprechen, woraus günstige Bedingungen für ein leichteres und schnelleres Reformverfahren abgeleitet werden könnten. Dem ist jedoch nicht so. Erstens dürfte der Schein trügen, zweitens ist die Diskussion außerhalb der Öffentlichkeit ebenso kontrovers wie bei den zwei vorhin dargelegten Reformpaketen, und drittens können, wie bei jeder Reform, die Schwierigkeiten erst dann in ihrem vollen Umfang erkannt werden, wenn ein detaillierter, d. h. umsetzungsfähiger Reformvorschlag vorliegt. Die Vorschläge, die an mehr Partizipation, d. h. an mehr unmittelbarer Teilnahme des Bürgers an der administrativen Sachentscheidung, und an größerer Bürgernähe der öffentlichen Verwaltung orientiert sind, sind bereits Legion.61 59 Vgl. dazu die vom Bundeskanzleramt herausgegebenen „Legistischen Richtlinien 1979“, Punkte 16–18. 60 Eine solche Ersichtlichmachung würde freilich eine andere Art der Verlautbarung voraussetzen. 61 Vgl. dazu die in den Anm. 3, 12, 35 und 50 zitierte Literatur, ferner weiters für Österreich z. B. Clemens A. Andreae/Erich Thöni: Bürgernähe und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung – ein Gegensatz?, in: Das öffentliche Haushaltswesen in Österreich 1980, S. 219  ff.; Peter Oberndorfer: Bürgernahe Verwaltung, in: Peter Oberndorfer/Herbert Schambeck (Hrsg.): Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gesellschaft. Festschrift für Ludwig Fröhler, Berlin 1980, S. 183 ff.; Mantl, Verwaltung (Anm. 12), S. 39 ff., 42 ff.; Bürgernahe Verwaltung, hrsg. vom Bundeskanzleramt, Wien o. J. (1981); Memorandum „Bürger und Verwaltung“ der Bundesparteileitung der ÖVP (Redaktion: Raoul F. Kneucker, 1981); 25 Vorschläge der Wiener ÖVP für bürgernahe Verwaltung (vgl. „Die Presse“ vom 4. 8. 1981, S. 9); weiters für die BRD z. B. Franz-X. Kaufmann (Hrsg.): Bürgernahe Gestaltung der sozialen Umwelt, Meisenheim am Glan 1977; Friedhart Hegner: „Bürgernähe“ von Politik und Verwaltung als Anliegens- und Problemgerechtigkeit, in: Die Verwaltung 1979, S. 187 ff., 311 ff.; Gerd B. Müller: Die bürgerfreundliche Verwaltung, Stuttgart u. a. 1980; Werner Istel: Bürgerfreundliche Verwaltung, in: Deutsche Verwaltungspraxis 1981, S. 141 ff.; Bericht des Senators für Inneres, Berlin, über Maßnahmen zur Verbesserung der Bürgerfreundlichkeit in der Verwaltung, 1977; Berichte Nr. 4/1979



3.7. Verwaltete Bürger

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Zunächst sollen einige jener Vorschläge herausgegriffen werden, die schnell und im Landesbereich verwirklichbar wären. Erstens könnte einerseits dem Bürger ein durchsetzbares Recht auf Auskunft auch gegenüber der Landesund der Gemeindeverwaltung eingeräumt werden, andererseits könnten unter extensiver Ausschöpfung des Gesetzesvorbehaltes in Art. 20 Abs. 3 B-VG der Amtsverschwiegenheitspflicht nur Sachverhalte unterworfen werden, deren Geheimhaltung im Interesse einer Partei oder aus Gründen der nationalen Sicherheit geboten ist. Zweitens sollten alle Formulare dahingehend überprüft werden, ob sie notwendig sind, und zutreffendenfalls, ob sie u.  a. folgende Bedingungen erfüllen: übersichtliche Gliederung, graphisch ansprechende und funktionelle Gestaltung, d. h. auch ausreichender Platz zum Ausfüllen, Vermeidung von Amtsdeutsch, übersichtlicher Satzbau. Drittens müßte darauf hingewirkt werden, die Beteiligten an einem Verwaltungsverfahren vom Stand der Dinge zu benachrichtigen, wenn innerhalb bestimmter Zeit, z. B. von zwei Monaten, eine Erledigung nicht erfolgen konnte. Ein längerfristiges, aber notwendiges Projekt ist eine Reform der Landesverfassung, um politischen und gesellschaftlichen Sachverhalten auch eine konstitutionelle Fassung zu verleihen. Aufwertung des Abgeordneten und des Landtages, Ausbau der Kontrolle (z. B. Reform des Modus der Einrichtung und des Verfahrens der Untersuchungsausschüsse; Landesrechnungshof; Vergabe-Kontrollkommission), Verbesserung und Ausbau der direktdemokratischen Instrumente (Volksabstimmung, Volksbegehren, Volksbefragung, Bürgerbegutachtung bei Gesetzes- und Verordnungsvorschlägen etc.), Initiativrechte für Gemeinden usw. müßten Inhalte der Verfassungsreformdiskussion, an der auch der Bürger zu beteiligen ist, sein.62 Längerer und gründlicher Diskussion bedarf auch der Vorschlag, die Bezirke der Stadt Graz durch eine Stadtrechtsänderung selbständiger zu machen und der in manchen Stadtteilen praktizierten Bürgerbeteiligung auch eine institutionell besser abgesicherte Grundlage zu geben.63 Bezirksvorsteher könnten mit mehr Rechten und Nr. 10/1981 der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung zum Thema „Bürger und Verwaltung“; Beitrag zur Bürgerfreundlichkeit in der Verwaltung, Bericht der Kommission „Bürgernähe in der Verwaltung“ beim Senatsamt für den Verwaltungsdienst, Hamburg 1980; weiters für die Schweiz Gerd B. Müller. Zur Selbstdarstellung der Verwaltung, in: Verwaltungspraxis (Solothurn), Nr. 3/1980, S. 5 ff. 62 Konkrete Vorschläge für eine Reform der Landesverfassung finden sich z. B. im Modell Steiermark (Anm. 4), S. 86 ff. 63 Zur Stadtteilsgliederung bzw. intrakommunalen Dezentralisierung vgl. z.  B. für Österreich Peter Oberndorfer: Stadtrechtsreform in Österreich, Linz 1976, S. 95  f.; das Programm Wien der Wiener ÖVP (1979?); den Vorschlag der Salzburg-Kommission „Bürgerbeteiligung“ (Anm. 51) für eine Stadtteilsgliederung; das Modell Steiermark (Anm. 4), S. 96 ff.; vgl. auch die Novelle zur Wiener

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ausgestattet werden, die kommunalpolitischen Arbeitskreise als Bürgerforen, an denen alle im Stadtteil wohnhaften Bürger teilnahmeberechtigt sind, ins Stadtrecht eingebaut werden und u. a. Beratungsrechte sowie Antragsrechte gegenüber Bezirksvorsteher und Gemeinderat eingeräumt erhalten. Freilich darf derjenige, der dem Bürger mehr Mitwirkungsrechte geben möchte, auch nicht die faktischen Bedingungen der Teilnahme bzw. Nichtteilnahme (z. B. das Bildungsniveau) übersehen, wie Analysen der Bürgerinitiativen64 zeigen.

Stadtverfassung, LGBl. für Wien 1978/12. – Für die BRD z. B. Wilhelm von Loebell: Stadtbezirke in den kreisfreien Städten Nordrhein-Westfalens, in: Die Öffentliche Verwaltung 1979, S. 425 ff.; Martin J. Sattler: Demokratie in Stadtteilen?, in: Zeitschrift für Politik 1979, S. 254 ff.; Kleinräumige Gliederung, hrsg. vom Deutschen Städtetag, Köln 1979; Burkhard Hofmeister: Die Stadtstruktur, Darmstadt 1980; Paul Kevenhörster u. a.: Die Bezirksverfassung – eine neue Chance kommunaler Demokratie? Eine Fallstudie, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1981, S. 335 ff.; Projekt „Stadtteilvertretungen in Großstädten“ des Deutschen Instituts für Urbanistik; eine Übersicht über innergemeindliche Gliederungen in der BRD findet sich bei Gerd Schmidt-Eichstaedt u. a.: Die Gemeindeordnungen in der BRD, Stuttgart u. a. 1975 ff. 64 Vgl. z. B. Wolfgang Mantl: Repräsentation und Identität, Wien/New York 1975, S. 271 f.



3.8. Anforderungen an eine „Geometrie“ der Staatsgewalten

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3.8 Christian Brünner, Anforderungen an eine „Geometrie“ der Staatsgewalten1

in: Funk/Klecatsky u. a. (Hrsg.), Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandels. FS Adamovich, Wien/New York 1992, 36–44

Mein Statement möchte ich in drei Teile teilen. Nach ein paar Vorbemerkungen zur Kultur (oder Unkultur) politischer Diskussion werde ich im zweiten Teil eine „Geometrie der Staatsgewalten“ zeichnen und im dritten Teil über ein paar persönliche Erfahrungen aus meiner kurzen Tätigkeit als Abgeordneter berichten. Dabei soll auch der eine oder andere Reformvorschlag zur Debatte gestellt werden.

I. Eine erste Vorbemerkung: Es ist uns in der Politik weitestgehend die Gabe der Differenzierung abhanden gekommen. Man malt oft schwarz oder weiß; man beurteilt vieles schnell als gut oder schlecht. Sachverhalte und Probleme sind jedoch differenzierter. Dem Rechnung zu tragen ist auch ein Gebot politischer Bildung. Es ist daher sehr zu begrüßen, wenn Diskussionen wie z. B. die über eine Direktwahl von Bürgermeister, Landeshauptmann und Bundeskanzler explizit mit „pro und contra“ betitelt werden. Pflegt man nämlich die Gabe der Differenzierung, stärkt dies auch die Glaubwürdigkeit von Politik und Politikern. Ich wünschte mir ferner, daß Politiker einen „Verhaltenskodex“ mit folgender „Bestimmung“ entwickelten: Pro-Argumenten müssen auch Contra-Argumente zur Seite gestellt werden und umgekehrt; erst dann soll die persönliche Meinung zum Ausdruck gebracht werden. Das Gleiche wünschte ich mir übrigens auch von den Journalisten. A propos Wünsche: Schön wäre es auch, wenn politische Parteien im Dienste der Glaubwürdigkeit auf Vordergründigkeiten verzichteten. Zwei Beispiele für das, was ich meine. Ich halte nicht viel davon, wenn Herr Klubobmann Fuhrmann die Diskussion um die Direktwahl des Landeshauptmannes und des Bundeskanzlers als „Führerideologie“ apostrophiert, und Herr Innenminister Löschnak gleich1 Schriftliche Fassung eines Statements, das ich auf einer Veranstaltung des „Modell Steiermark“ mit dem Thema „Pro und Contra Direktwahl Bürgermeister, Landeshauptmann, Bundeskanzler“ am 24. 4. 1991 abgegeben habe. Der Vortragsstil wurde beibehalten.

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zeitig den Entwurf einer Nationalratsordnung mit der Bestimmung vorlegt, ein Stimmzettel sei auch dann gültig, wenn nur der Name des Spitzenkandidaten auf den Stimmzettel geschrieben werde. Genausowenig schätze ich es, wenn einerseits Teile der Bundes-ÖVP den Vranitzky-Vorzugsstimmenwahlkampf der letzten Nationalratswahl kritisieren, andererseits die steirische ÖVP ein Vorzugsstimmenmodell für die Landtagswahl vorlegt, das einen Vorzugsstimmenwahlkampf für Landeshauptmann Krainer erlaubt. Entweder ist beides legitim oder beides illegitim. Fest steht jedenfalls, daß die Wählerinnen und Wähler personenorientierter entscheiden wollen. Freilich ist das bestehende Vorzugsstimmenwahlmodell nicht der Weisheit letzter Schluß; wünschenswert wäre eine massive Personalisierung des Wahlrechts (in Kombination mit einer ausreichenden Fraktionsplanung); dafür müßte jedoch das System grundlegend verändert werden. Eine zweite Vorbemerkung: Ich möchte primär demokratiepolitisch argumentieren und nicht verfassungsdogmatisch. Es geht nämlich in einem ersten Schritt darum, einen „vernünftigen“ politischen Willen zu bilden. Erst dann soll geprüft werden, ob dieser Wille mit dem geltenden Verfassungsrecht in Einklang steht. Ist dies nicht der Fall, muß das Verfassungsrecht geändert werden, um den notwendigen Schritt tun zu können. Eine dritte Vorbemerkung: In der Diskussion sollte zwischen der Direktwahl des Bürgermeisters auf der einen Seite und der Direktwahl des Landeshauptmannes und des Bundeskanzlers auf der anderen Seite unterschieden werden. Bei der Direktwahl des Bürgermeisters tauchen nämlich weniger demokratiepolitische und verfassungsrechtliche Probleme auf als bei der Direktwahl des Landeshauptmannes und des Bundeskanzlers. So ist z. B. die Gemeindepolitik viel stärker mit Sachfragen konfrontiert, deren Sachstruktur Maßstab für eine „vernünftige“ Politik ist. Kommt die Gemeinde z. B. ihren Aufgaben der Entsorgung und Versorgung nicht adäquat nach, schlägt dies unmittelbar auf den Grad des Wohlbefindens der Gemeindebürger durch und löst in der Folge aktives politisches Verhalten der Gemeindebürger aus. Dieses wiederum hat mehr Chancen auf Erfolg, weil die Gemeinde eine überschaubarere Einheit ist. Eine vierte Vorbemerkung: Für mich ist das Thema „Direktwahl“ nur eine Chiffre für eine Diskussion, wie das gegenwärtige Regierungssystem so fortentwickelt werden kann, daß es seinen Funktionen besser entspricht als das gegenwärtige. Die Frage „Direktwahl“ ist nur ein Mosaikstein in dieser Diskussion. Es wäre daher auch nicht zielführend, wollte man das Thema mit einer Einführung der Direktwahl als erledigt betrachten. Staatstheorie und Staatspraxis kennen unterschiedliche Modelle der Beziehung zwischen Regierung und Parlament. Nennen möchte ich das parlamentarische Regierungssystem, die Präsidentschaftsdemokratie und die Ausschußregierung,



3.8. Anforderungen an eine „Geometrie“ der Staatsgewalten

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Modelle, die sich mehr oder minder idealtypisch oder in gemischter Form in der Wirklichkeit nachweisen lassen. Weil im parlamentarischen Regierungssystem österreichischer Prägung das Parlament eine schwache Stellung hat, ich mir jedoch ein starkes Parlament wünsche, bin ich für eine Veränderung unseres Systems. Meine Sympathien gehören dabei einem System, in dem einer starken Regierung ein starkes Parlament gegenübersteht; die Präsidentschaftsdemokratie amerikanischer Prägung ist ein diesbezügliches Beispiel.

II. Ein paar Worte zur Geometrie der Staatsgewalten. Diese hat verschiedene Gesichtspunkte. Zunächst geht es um die Gewaltenteilung. Staatsgewalt soll geteilt werden in der Erkenntnis, daß dadurch die Freiheit des Bürgers am besten gesichert werden kann. Da totale Teilung zur Auflösung des Staates führen würde, muß der Teilung eine gewisse Verschränkung zur Seite treten. Ferner muß die Staatsgewalt so geteilt werden, daß die Träger geteilter Gewalt einander kontrollieren. Dabei darf es nicht nur auf formelle Gesichtspunkte ankommen. So ist zwar die Regierung (Verwaltung) von der Gesetzgebung getrennt. Hinter den Kulissen ist jedoch über manche Strecken Gewaltenfusion eingetreten. Die Kontrollinteressen verlaufen daher anders, als sie in der Verfassung zum Ausdruck gebracht werden. Zwei Kontrollinteressen möchte ich ansprechen. Zum einen will die Parlamentsminderheit die Parlamentsmehrheit und die Regierung kontrollieren. Zum anderen werden regionale Interessen überregionaler Politik entgegengestellt. Ein Wort zu den kurzen mündlichen Anfragen an die Mitglieder der Bundesregierung, zur sogenannten Fragestunde. Zweck des Interpellationsrechtes ist es, die Vollziehung zu kontrollieren, soweit sie durch die Bundesregierung bzw. deren Mitglieder zu verantworten ist. So mancher mündlichen Anfrage von Mitgliedern der Parlamentsmehrheit fehlt jedoch das Kontrollinteresse. Sie dienen vielmehr dazu, Fragen von Mitgliedern der Parlamentsminderheit zu konterkarieren und/ oder dem Minister der eigenen Partei einen Ball zuzuspielen. Beides widerspricht der Funktion des Instrumentes „kurze mündliche Anfragen“. Das Instrument sollte daher den Angehörigen der Parlamentsminderheit vorbehalten sein, ferner im Falle einer Regierungskoalition von den Angehörigen der Parlamentsmehrheit nur gegenüber den Ministern der anderen Fraktion gehandhabt werden dürfen. Anmerken möchte ich freilich, daß das Instrument der kurzen mündlichen Anfrage (wie auch andere Kontrollinstrumente) völlig ritualisiert ist. Mangel an Spontaneität, Schlagabtausch und Auseinandersetzung ist die Folge. Ich wünschte mir im Parlament auch Plattformen, auf denen frei und ohne Unterlagen innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens pro und contra diskutiert

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wird. So könnte man z. B. Regierungsberichte einer Forumsdiskussion unterziehen. Die Regierungsparteien machen je einen, die Oppositionsparteien je zwei Forumsdiskutanten namhaft. Diskutiert wird unter Einbeziehung des zuständigen Regierungsmitglieds und unter der Leitung eines „neutralen“ Moderators, der abwechselnd von den Fraktionen gestellt wird. Die Diskussionsdauer ist limitiert. Die Stellungnahmen („Reden“) der übrigen Mitglieder des Nationalrates werden dem Protokoll beigefügt, ohne daß sie verlesen werden müssen. Anforderung an eine Geometrie der Staatsgewalten ist es ferner, daß Ziele erreicht und Aufgaben erfüllt werden. Daraus folgt unter anderem, daß die Regierung Leitungskapazität und Leitungsbefugnis haben muß. Sie hat einerseits Entscheidungskontinuität und damit Stabilität zu sichern, andererseits dem Bedarf an Dynamik und Innovation Rechnung zu tragen. Innerhalb des Kollegialorgans Bundesregierung sind Macht und Befugnisse unterschiedlich verteilt. Eine Schlüsselrolle kommt Bundeskanzler und Finanzminister zu. Im Falle einer Koalitionsregierung kann dem Vizekanzler (faktisches) Gewicht zukommen. Das Parlament soll – nach meinen Vorstellungen – die Regierungspolitik substantiell mitgestalten und die Regierung wirksam kontrollieren können. Beides läßt zu wünschen übrig. Substantiell mitgestalten kann ein Parlamentarier vielleicht dann, wenn er in die Regierungsentscheidungsverfahren des vorparlamentarischen Bereichs integriert ist. Im Parlament sind der Mitgestaltung oft schnell Grenzen gesetzt. So laufen z. B. die Verfahren, die zum Abschluß von Staatsverträgen führen, weitestgehend am Parlament vorbei. Ein Beispiel, das ich selbst erlebt habe, ist das Abkommen zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über weitere Gleichwertigkeiten von Studien, Prüfungen und akademischen Graden (BGBl. 304/ 1991). Das Parlament erfuhr von diesem Staatsvertrag erst, als er bereits paraphiert war und dem Parlament zwecks Genehmigung vorgelegt wurde. Der Staatsvertrag beinhaltet Bestimmungen, die die Autonomie der Universitäten einschränken, die die Bemühungen, das Technikum Vorarlberg zu einer Fachhochschule auszubauen, erschweren und die die Positionierung etwaiger Fachhochschulen im tertiären Bildungssektor präjudizieren. Aufgrund des Staatsvertrages werden nämlich die in der Liechtensteinischen Ingenieurschule (LIS) durchgeführten Studien im Umfang von sechs Semestern voll angerechnet und die abgelegten Prüfungen als erste Diplomprüfung in Österreich anerkannt, wenn der Abschluß durch das Diplom der LIS nachgewiesen wird. Der LIS werden ferner u. a. jene Anstalten gleichgestellt, die das Fürstentum Liechtenstein außerhalb seines Hoheitsgebietes amtlich fördert und deren Diplome es mit dem in seinem Hoheitsgebiet erteilten gleichstellt. Dies trifft derzeit auf das Neue Technikum Buchs zu. Umgekehrt kann dem



3.8. Anforderungen an eine „Geometrie“ der Staatsgewalten

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Technikum Vorarlberg, das um die Anerkennung als Fachhochschule kämpft, dieses Privileg nicht eingeräumt werden, es sei denn, über den Umweg der Förderung und Anerkennung seitens der LIS. Trotz dieser Ungereimtheiten ist der Staatsvertrag im Parlament einstimmig genehmigt worden. Ich hatte nicht die Kraft, einmal mehr gegen eine Vorlage der Regierung zu stimmen. Der Dritte im Bunde der Staatsgewalten ist das Volk. Es sollte substantielle Mitwirkungsrechte haben. Ich wünschte mir z. B. auf Bundesebene das Instrument des Volksbegehrens mit nachfolgender obligatorischer Volksabstimmung. Was die Mitwirkungsrechte des Volkes anbelangt, hat die Steiermark übrigens mit dem Volksrechtegesetz einmal mehr Maßstäbe gesetzt.

III. Ich möchte somit ein starkes Parlament haben, das einer starken Regierung gegenübersteht, ferner, daß beide Seiten über substantielle Mitwirkungsrechte an das Volk zurückgekoppelt sind. Wie schaut es aber de facto mit der Stärke des Parlaments aus? Auch wenn das Parlament in den letzten Jahren stärker geworden ist und die Stärke des Parlaments von führenden Politikern immer wieder beschworen wird, bin ich noch nicht zufrieden. Ich möchte ein paar Problembereiche ansprechen: 1. Die Arbeitsteilung hat nicht nur in Wirtschaft und Gesellschaft Fuß gefaßt, sondern auch in der Politik. Ich arbeite als Parlamentarier schwerpunktmäßig in den Bereichen Hochschulen, Forschung und Bildung. In diesen Bereichen kenne ich mich auch aus. Abgesehen von Wissenschafts- und Unterrichtsausschuß arbeite ich noch im Verfassungs- und im Justizausschuß. Obwohl ich als Jurist Vorwissen für die Arbeit in diesen Ausschüssen mitbringe, habe ich dafür kaum Zeit. In anderen Politik-Bereichen – Pensionssystem, Transit, DBB-Reform etc. – kenne ich mich im großen und ganzen nicht aus. Ich könnte lediglich Fragen aufgrund meines Hausverstandes und meiner Eigenschaft als Bürger stellen. Dafür gibt es aber wenig „Raum“. In diesen mir fremden Politik-Bereichen muß ich darauf vertrauen, daß meine sachkundigen Kolleginnen und Kollegen vernünftige Politik machen; pflichtgemäß bringe ich ihnen meine Stimme. Verschärft wird diese Situation noch dadurch, daß ich über keine mir persönlich zugeordnete Infrastruktur verfüge. Ich kann auf kein Verbands- oder Parteisekretariat zurückgreifen. Ein Assistent/eine Assistentin wäre das mindeste, was ich brauchte. Diese Person könnte mir durch Organisationsarbeit, Materialrecherche, Briefing etc. helfen, daß ich als einzelner Abgeordneter stärker werde. So habe ich z. B. im Zusammenhang mit der Wahlrechtsreform Sympathien für das

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Stimmen-Splitting; es werden mir freilich negative deutsche Erfahrungen mit dem Stimmen-Splitting eingewendet. Die diesbezügliche Literatur würde ich mir gerne anschauen. Dazu habe ich jedoch keine Zeit. Fest steht, daß die Stärkung des einzelnen Abgeordneten auch etwas kostet. Ich hoffe, daß letzteres nicht eingewendet wird, um ersteres zu verhindern. Jedenfalls habe ich kein Verständnis dafür, wenn die Notwendigkeit adäquater Infrastruktur für den einzelnen Abgeordneten zwar bejaht, aber im Hinblick auf die Kosten als längerfristiges Vorhaben deklariert wird. Effektive Demokratie muß heute gelebt werden, nicht morgen oder übermorgen. Außerdem sind die Kosten, die sich übrigens in Grenzen halten, schnell hereingespielt, wenn Abgeordnete effektiver als bisher arbeiten können. Die Professionalisierung der Politik führt ferner dazu, daß einem Zivilberuf, dessen Erfolgsstruktur nicht analog dem politischen Mandat ist (eine solche Analogie bestünde z. B. zwischen politischem Mandat und dem Zivilberuf Parteifunktionär oder Verbandsfunktionär), immer weniger adäquat nachgegangen werden kann. Ich habe die größten Probleme, die Anforderungen meiner Professur an einer Universität und meines politischen Mandats unter einen Hut zu bringen. Selbst wenn ich in der Politik erfolgreich wäre, hat das übrigens keinen Einfluß auf meinen „Wert“ im sozialen System Universität. Andererseits kann und will ich meinen Zivilberuf nicht aufgeben. Er sichert mir meine Unabhängigkeit sowie die Verbundenheit mit den Lebensbereichen, die ich in der Politik vertrete. Darüber hinaus möchte ich nach einer gewissen Zeit der Präsenz in der Politik in meinen Zivilberuf zurückkehren können. 2. Die Wählerinnen und Wähler wünschen sich die Personalisierung des Wahlrechtes nicht nur in der Form der Verkleinerung der Wahlkreise, sondern auch so, daß sie die präsentierte Parteiliste substantiell verändern können. Ein solcher Wunsch ist begründet, und es sollte ihm auch Rechnung getragen werden. Trotzdem darf die Notwendigkeit adäquater Fraktionsplanung der Kandidatenliste nicht übersehen werden. So können die Chancen von Minderheiten (und dazu müssen angesichts männerorientierten Wahlverhaltens von Frauen auch Frauen gezählt werden) durch Personalisierung des Wahlrechtes (bzw. durch Demokratisierung des Nominierungsverfahrens) sinken. Oder: Eine Parlamentsfraktion braucht für bestimmte Politik-Bereiche auch Fachleute. Ich empfinde es z. B. als ein Manko, daß der Schul- und Bildungssprecher der ÖVP trotz unbestrittener Fachkompetenz nicht im Parlament sitzt. Darüber hinaus muß durch Fraktionsplanung auch dem Erfordernis Rechnung getragen werden, daß Politik nicht nur regional (durch die Interessen des Wahlkreises) determiniert wird, sondern daß sie auch überregional formuliert wird. Anmerken möchte ich nur, daß der dem Parlament übermittelte Entwurf einer Nationalratswahlordnung hinsichtlich der Personalisierung des Wahlrechts einiges zu wünschen übrigläßt.



3.8. Anforderungen an eine „Geometrie“ der Staatsgewalten

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3. Wir haben keine Struktur und keine Kultur, die den „rationalen“ Diskurs optimiert. Entscheidungen sind daher oftmals zu schnell durch partei- und/oder interessenpolitische Aspekte determiniert und zu wenig durch die Rationalität von Argumenten, die an der Sach- und Problemlage orientiert ist, geprägt. Ich kann mich manches Mal des Eindrucks nicht erwehren, daß Argumente von Vertretern der Oppositionsparteien nicht deshalb verworfen werden, weil sie unvernünftig wären, sondern weil man den (politischen) Erfolg nicht gönnen will. Partei- und/oder interessenpolitische Barrieren, die den Rationalitätsgehalt einer Diskussion nicht voll zum Tragen kommen lassen, sollten durchlöchert werden. Zwei diesbezügliche Wege möchte ich nennen: Zum einen sollten explizit koalitionsfreie (bzw. „regierungsfreie“) Räume bzw. Sachthemen definiert werden, bei denen im Parlament unabhängig von der Art der Regierungskoalition „freie“ Mehrheiten gesucht werden können und gesucht werden müssen. Dies könnte nicht nur zu höherer, an der Sach- und Problemstruktur orientierter Rationalität der Entscheidung führen; die Erfahrung, daß dadurch weder die Regierungsfähigkeit leiden, noch der Parteienstaat einstürzen würde, wäre auch Motor dafür, selbständiger, selbstbewußter und freier in den anderen „Räumen“ zu agieren. Zum anderen sollten sich die Klubs, insbesondere die der Regierungsparteien, häufiger dazu durchringen, bei einem konkreten Sachthema durch einen formellen Beschluß das Abstimmungsverhalten explizit freizugeben. Beispiele könnten Fragen der Neutralität, des Zivildienstes, der Anerkennung von Staaten etc. sein. A propos Klubzwang: Die Klubdisziplin wird im großen und im ganzen nicht mit Hilfe von Donner und Blitz seitens der Klubführung gesichert. Sie stellt sich auf subtilere Weise ein, nämlich über psychisch-emotionale und gruppendynamische Kanäle. Als ich verlauten ließ, daß ich gegen die im Zusammenhang mit dem Golfkrieg eingebrachten Novellen zum Kriegsmaterialgesetz und zum Strafgesetz (BGBl. 30a/1991) stimmen würde, ließ man mich im großen und im ganzen in Ruhe. Niemand machte massive Versuche, mich davon abzuhalten, niemand versuchte, mich unter Druck zu setzen. Ich hatte in den Stunden vor der Abstimmung „lediglich“ das (wahrscheinlich „lediglich“ eingebildete) Gefühl, in den Augen vorbeigehender Kolleginnen und Kollegen lesen zu müssen: „Du verrätst uns.“ Nochmals: Im Kopf wußte ich, daß das in vielen Fällen meine Einbildung war. Trotzdem ging es mir schlecht wegen des Gefühls, „angeklagt“, weggestoßen, nicht angenommen zu werden. Als es zur Abstimmung kam, hielt ich mich am Sessel fest, um dem über meine Gefühle und weitgehend auch durch Einbildung erzeugten Druck standzuhalten. Ich erzähle dies nicht, um mich zu produzieren; es ist mir jedoch wichtig, das „Funktionieren“ des Klubzwangs transparent zu machen. Das Funktionieren des Klubzwangs kann übrigens jeder, der sich einer Gruppe, welcher Art auch immer, zugehörig fühlt, ausprobieren. Er braucht sich

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3. Wissenschaft

nur in einer bestimmten Frage gegen die Gruppe zu stellen, dann weiß er, wie der Klubzwang im Parlament (zumindest teilweise) funktioniert. Den subtilen psychisch-emotionalen und gruppendynamischen Mechanismus des Klubzwangs kann man jedoch nicht dadurch ausschalten, daß ein Klub davon redet oder abstrakt beschließt, keinen Klubzwang zu haben. Dies würde, wegen des Fehlens eines konkreten Anlaßfalles, kein „Gewicht“ haben; es würde von Angehörigen der Gruppe wahrscheinlich nicht ernst genommen, nicht geglaubt werden. Kurz zurück zur Direktwahl: Ein direkt gewählter, parteiloser Bürgermeister kann nur dann „regieren“, wenn er sich im Gemeinderat Mehrheiten sucht. Dabei wird es wahrscheinlich zu unterschiedlich gebildeten Mehrheiten kommen. Beides würde helfen, die eine oder andere partei- und/oder interessenpolitische Barriere zugunsten einer stärker an der Sach- und Problemstruktur orientierten Rationalität zu durchbrechen. Wahrscheinlich ist es ferner, daß im Fall der Direktwahl des Bürgermeisters der da oder dort feststellbare „Postenschacher“ bei der gemeinderätlichen Bürgermeisterwahl wegfällt. 4. Demokratie lebt von der Vielfalt und vom Wettbewerb der Parteien und damit auch der politischen Standorte und politischen Konzepte. Dennoch darf nicht jedes Thema zum Steinbruch für den Stimmengewinn gemacht werden. Es gibt Politikbereiche und Problemfelder, die einen Grundkonsens voraussetzen, um politisch erfolgreich – und das heißt im Dienst am Menschen und an der Gesellschaft – beackert werden zu können. Minderheiten, Ausländer, Randgruppen, Angst vor dem „Fremden“ sind solche Themen. Ich habe keine Achtung vor einer Partei, ganz gleich, welche Couleur sie hat, die solche Bereiche und Felder mit populistischem Umtrieb verwüstet. Vielleicht bin ich ein Illusionist. Aber war es wirklich nicht möglich, sich z. B. im Zusammenhang mit dem Golfkrieg oder mit der Jugoslawien-Krise auf VierParteien-Entschließungen zu einigen? Liest man die Entschließungen durch, entdeckt man weitgehende Identität. Hätte es sich nicht im Interesse einer gemeinsamen Antwort auf Grundfragen gelohnt, auch für den Rest einen Konsens zu finden? 5. Das Parlament und der einzelne Abgeordnete werden auch dadurch gestärkt, wenn Auswüchse der Parteienstaatlichkeit abgebaut und die Parteipolitisierung von Lebensbereichen, in denen die Parteien nichts zu suchen haben, eingestellt wird. Ich möchte ein paar Beispiele dafür geben, was ich meine. Der kroatische Volksgruppenbeirat kann u. a. deshalb nicht beschickt werden, weil sich rote und schwarze Minderheitengruppen nicht auf die Vertreter im Bei-



3.8. Anforderungen an eine „Geometrie“ der Staatsgewalten

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rat einigen können. Warum lassen Vereine, Gruppen etc. von Minderheiten ihre Parteipolitisierung zu? Sehen sie nicht, daß sie damit eine effektive Minderheitenpolitik verhindern? Oder: Als wegen der Reduzierung der Zahl der Berufsberechtigungen von Absolventen/-innen der Handelsschule und der Handelsakademie die Wogen hoch gingen, erlebte ich immer wieder Diskussionsbeiträge folgender Art: Wir können doch nicht „unsere“ Union Höherer Schüler im Regen stehen lassen und der sozialistischen Schülerorganisation und der Schülerorganisation der Angestelltengewerkschaft das Feld überlassen. Geht es primär um Felder, die überlassen werden, oder um eine vernünftige Bildungspolitik? Geht es primär um ein detailliert reglementiertes Berechtigungswesen oder – am Vorabend des EGBeitritts – um ein auf Wettbewerb und Leistung hin orientiertes Wirtschafts- und Arbeitssystem? Oder: Der Steirische Landesverband der Pflichtschul-Elternvereine ist wegen der parteipolitischen Ausrichtung der Elternvertreter und des Scheiterns der Bemühungen, im Dachverband Überparteilichkeit zu erreichen, aus dem bundesweiten Dachverband ausgetreten. Geht es primär um parteinahe Fraktionierung und fraktionsparitätische Vertretung oder geht es darum, einen Beitrag zur Lösung der zahlreichen Probleme der Schulen, der Lehrer/-innen, der Schüler/innen und der Eltern zu leisten? 6. Ich halte die vierjährige Legislaturperiode für zu kurz. Eine Verlängerung ist notwendig, um Regierungs-, Entscheidungs- und Problemlösungskapazität zu erhöhen. Bis nach einer Wahl das Regierungsgeschäft halbwegs läuft, vergeht ein halbes bis ein dreiviertel Jahr. Das letzte Jahr der Legislaturperiode wird dominiert vom Blick auf die nächste Wahl. Die dazwischen liegende Zeit ist angesichts der Komplexität der Probleme und der Entscheidungsvoraussetzungen zu kurz. Verschärft wird dieser Sachverhalt noch dadurch, daß während der Legislaturperiode des Nationalrates zahlreiche andere Wahlen stattfinden, die mitunter dazu verlocken, sich beim Regierungsgeschäft ablenken zu lassen. Unbestreitbar ist, daß die Verlängerung der Legislaturperiode zu einer Verdünnung demokratischer Legitimation führt. Dies muß durch den Ausbau und die Verbesserung direktdemokratischer Mitwirkungsinstrumente wettgemacht werden. In diesem Zusammenhang würde ich gerne über eine Weiterentwicklung des Bundesrates und eine Neubestimmung des Verhältnisses von Nationalrat und Bundesrat phantasieren: Es sollten zwei gleichberechtigte und gleich große Kammern, von denen die eine über Einerwahlkreise und die andere über Parteilisten beschickt wird, eingerichtet werden. Ob man es wahrhaben will oder nicht, Wahlen sind über weite Strecken zu einem Plebiszit über Parteiführer geworden. Viele Bürger spüren, daß auf der Basis ideologischer Gegensätze, also des „entweder – oder“, Probleme immer weniger

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3. Wissenschaft

adäquat gelöst werden können und daß die Politik immer häufiger des „sowohl als auch“ bedarf. In einer von der ÖVP Niederösterreich gestarteten Umfrage wollen 70 % die Wahl des Landeshauptmannes mitbestimmen. Ist dies alles nicht auch ein Grund, die Umwandlung unseres Regierungssystems offen, fair, mit allen Pros und Contras auf der Grundlage einer an der Wirklichkeit und nicht an frommen Wünschen orientierten Einschätzung der Funktion und der Rolle des Parlamentes und unter Abkehr von Unterstellungen, wie z. B. Führerideologie, Cäsarismus oder Bonapartismus, zu führen?



3.9. Selbstbeschreibung der Abteilung für Verwaltungswissenschaften

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3.9. Christian Brünner, Selbstbeschreibung der Abteilung für Verwaltungswissenschaften, Umweltrecht und Geschlechterbeziehungen, Graz 1988

Typoskript, vorgelegt im Zuge einer Evaluierung der Forschungs- und Lehreinheit

0. Vorbemerkung § 20 UG 2002 beinhaltet Regelungen u. a. betreffend die innere Organisation der Universität. Als mögliche Organisationseinheiten nennt § 20 Abs. 4 UG 2002 Departments, Fakultäten, Institute oder andere Organisationseinheiten. Der Organisationsplan der Universität Graz weist als Organisationseinheiten fünf Fakultäten und die Einheit Administration und Dienstleistungen aus. Die Rechtswissenschaftliche Fakultät hat die bisherige Institutsgliederung als innere Gliederung beibehalten, somit auch das Institut für Österreichisches, Europäisches und Vergleichendes Öffentliches Recht, Politikwissenschaften und Verwaltungslehre. Das Institut war bisher in Abteilungen gegliedert, darunter in die Abteilung für Verwaltungswissenschaften, Umweltrecht und Recht der Geschlechterbeziehungen. Es wird von einer Abteilung für Verwaltungswissenschaften, Umweltrecht und Recht der Geschlechterbeziehungen als eine weiterhin existierende Subeinheit der Subeinheit Institut ausgegangen. Gestützt wird diese Annahme u. a. durch die Delegation von Befugnissen des Leiters der Subeinheit Institut an die Leiter der SubSubeinheiten Abteilung.

1. Kurzcharakterisierung 1.1. Geschichte und Leitbild bzw. mission statement Die Abteilung wurde unter dem Regime des UOG 1993 eingerichtet. Ihr Tätigkeitsbereich in den Aufgabenfeldern der Universität wurde mit Verwaltungswissenschaft, Umweltrecht und Recht der Geschlechterbeziehungen umschrieben. In der letzten Sitzung der Institutsversammlung am 2. April 2004 wurde beschlossen, dass auch unter dem Regime des UG 2002 die Abteilungsgliederung aufrechterhalten werden soll.

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3. Wissenschaft

§ 3 UG 2002 nennt die Aufgaben der Universität und § 1 die Ziele der Aufgabenerfüllung. § 2 normiert die leitenden Grundsätze bei der Erfüllung der universitären Aufgaben. Die Abteilung ist Teil der Universität. Sie hat bei der Entfaltung ihrer Tätigkeiten daher die genannten Paragraphen zu beachten. Die genannten Bestimmungen sind allgemeiner Teil des Leitbilds der Abteilung. Besondere Eckpunkte des Leitbildes der Abteilung sind: • Das Recht wird nicht nur systematisch analytisch dargestellt, sondern es wird auch der Steuerungsfunktion des Rechtes Augenmerk zugemessen. Bei der Steuerungsfunktion des Rechtes geht es insbesondere darum, dass das Recht auf Lebenssachverhalte dergestalt einwirkt, dass erwünschte gesellschaftliche Zustände herbeigeführt und nicht erwünschte gesellschaftliche Zustände hintangehalten werden. Wenn von gesellschaftlichen Zuständen gesprochen wird, wird nicht zwischen Staat und Gesellschaft differenziert. Im Mittelpunkt steht das Zusammenleben von Menschen auf Basis von sollensmäßig formulierten Ordnungs- und Entwicklungsvorstellungen, die in den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen formuliert werden. Aus diesem Ansatz folgt dreierlei: a) Der rechtsdogmatischen Analyse wird immer wieder eine Wirksamkeitsanalyse des Rechts zur Seite gestellt. b) Der Rechts- und Systemreform wird Augenmerk zugemessen. Dabei wird auch rechts- und systemvergleichend vorgegangen. c) Das sozial-reale Umfeld des entsprechenden Rechtsgebietes bzw. der entsprechenden Rechtsnorm wird dargestellt und das Recht als Produkt politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse beschrieben. • Durchführung außeruniversitärer Aktivitäten und Übernahme außeruniversitärer Verantwortungen zwecks Nutzung und Umsetzung der Forschungsergebnisse in der Praxis und zwecks Beitrages zur gedeihlichen Entwicklung von Staat und Gesellschaft. • Förderung der sozialen Kompetenzen der Studierenden und Unterstützung der Studierenden über die engere rechtswissenschaftliche Ausbildung hinaus beim Erkennen und Entwickeln ihrer Individualität und Eigenart sowie der verschiedenen Dimensionen ihres Menschseins. • Gleichstellung von Frauen und Männern inklusive Frauenförderung. • Schutz von Minderheiten und Umweltschutz als besondere Anliegen. • Mitwirkung an Kooperationen mit Süd- und Südosteuropa in Umsetzung des Schwerpunktes „Südosteuropa“ des Fakultätsleitbildes.



3.10. Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftliches Prinzip

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3.10. Christian Brünner, Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftliches Prinzip1, 2, 3

in: Kopetz/Marko/Poier (Hrsg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. FS Wolfgang Mantl Wien/Köln/Graz 2004, 489–521

1. Eigenverantwortlichkeit – ein boomender Appell Ein schlankerer Staat ist seit geraumer Zeit Ziel und Inhalt von Reformen und Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Beispiele für den Rückzug des Staates sind der Rückbau des Wohlfahrts- und Sozialstaates, die Pensionsvorsorge, der Bildungssektor, insbesondere der tertiäre Bereich (Universitäten und Fachhochschulen), die Privatisierung öffentlicher Unternehmungen, die Liberalisierung des Energiesektors, der Gesundheitsbereich. Der Rückzug erfolgt freilich nicht wegen des Wegfalls der Notwendigkeit zur Gestaltung des jeweiligen Lebensbereichs. An die Stelle des Staates als Gestalter der Lebensverhältnisse treten andere Kräfte bzw. müssen andere Kräfte treten. Es wird in diesem Zusammenhang immer häufiger auch von der Zivilgesellschaft4 gesprochen. Wenn es um die Gestaltung durch andere Kräfte als jene des Staates geht, steht die Fähigkeit des Menschen zur Selbstorganisation im Zentrum der Aufmerksamkeit. Kern der Fähigkeit zur Selbstorganisation ist die Eigenverantwortlichkeit. Diese ist freilich, auch wenn der Blick auf sie im Zusammenhang mit der vorhin skizzierten Entwicklung fällt, dem Grunde nach keine gesellschaftliche, sondern eine anthropologische Kategorie. Eigenverantwortlichkeit und das Erkennen meiner Individualität stehen in untrennbarem Zusammenhang. Dabei geht es darum, 1 Schriftliche Fassung eines Vortrages, der auf einer Veranstaltung der Akademie Graz und des Kulturzentrums bei den Minoriten „Kann der Mensch wollen, was er will? Von der Willensfreiheit zur Eigenverantwortung“ am 23. 11. 2002 gehalten wurde. Die essayistische Vortragsform wurde beibehalten. Für das Referat war ursprünglich Eva Kreisky vorgesehen gewesen. 2 Ich danke Wolfgang Mantl für die Jahre guter Freundschaft, dies seit den Tagen, als wir gemeinsam Assistenten bei unserem akademischen Lehrer, Gustav E. Kafka, gewesen sind. 3 Für die Mithilfe bei der Materialrecherche danke ich Frau Dr. Edith Walter und Frau Andrea Lauer. 4 Vgl. unten bei Fn. 41.

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3. Wissenschaft

mir Antwort zu geben auf die Fragen: Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich, was ist meine Lebensaufgabe? Wenn durch eine solche Sichtweise das, was mich in meiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit ausmacht, in das Zentrum meiner Reflexion rückt, ist jedenfalls drei möglichen Missverständnissen zu begegnen. Erstens hat Eigenverantwortlichkeit nichts mit jenem Egoismus zu tun, der zu einem Leben auf Kosten der anderen führt. Zweitens ersetzt Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Menschen nicht die Verantwortung von Politik, staatliche und gesellschaftliche Strukturen so zu gestalten, dass sie dem Menschen förderlich sind. Dazu gehört nicht nur, der Eigenverantwortung des Menschen Raum zu geben, den Menschen nicht zu bevormunden, sondern auch die Lebensbedingungen – Umwelt, Arbeit etc. – so zu gestalten, dass die Verantwortung des Einzelnen für sich, für seine Lebensqualität Förderung erfährt. Drittens steht dem Ich das Du, dem Individuum die Gesellschaft gegenüber. Mag man sich je nach dem vertretenen Menschenbild auch mehr oder minder der einen oder der anderen Seite verpflichtet fühlen, so werden die durch das Gegenüber ausgelösten Spannungen niemals ganz aufgelöst werden können. Eigenverantwortlichkeit soll nicht nur insbesondere dort Motor der Gestaltung sein, wo sich der Staat zurückzieht. Verschiedene Scheinwerfer richten sich auf Individualität und Eigenverantwortlichkeit. Einige Beispiele sollen dies demonstrieren. Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie fordern mehr Eigenverantwortlichkeit und ein soziales Umfeld des Menschen, das seine Autonomie stärkt (empowerment)5. Die „Ich-AG“ boomt – faktisch6, auf dem Buchmarkt7 und in Trendszenarien.8 5 Vgl. z.B. Christina Maria Hack: Die Psychotherapie der Zukunft wird mehr Eigenverantwortung fordern. In: „Die Presse“, 4.  12.  2002. Der Beitrag befasst sich mit den Arbeiten der Klinischen Psychologin und Psychotherapeutin Elisabeth Lukas; vgl. z. B. Elisabeth Lukas: Lehrbuch der Logotherapie. Menschenbild und Methoden. 2.A., München/Wien 2003. Lukas ist Schülerin von Viktor E. Frankl, dessen Menschenbild von der geistigen Dimension des Menschen, von seiner Freiheit und Verantwortlichkeit geprägt ist; vgl. Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. 4.A., Frankfurt am Main 1987. – Roman Freihsl: Von der Psychiatrie zur Autonomie. In: „Der Standard“, 10. 10. 2003. Zum Empowerment-Ansatz vgl. z. B. Norbert Herriger: Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 2.A., Stuttgart 2002. 6 Laut einer Aufstellung des Kreditschutzverbandes sind 41 % der Einzelfirmen, 26 % der Kapitalgesellschaften (GmbH) und 33 % der Personengesellschaften (OHG, KG) Ein-Mann- oder Eine-FrauBetriebe; vgl. „Kleine Zeitung“, 29.8.2003, 32. 7 Manfred Greisinger: Ihr ICH als unverwechselbare Marke. Mehr Erfolg und Glück durch persönliche, wertorientierte Öffentlichkeitsarbeit. 4.A., Allentsteig 2002; Conrad Seidl/Werner Beutelmeyer: Die Marke ‚ICH‘. 2.A., Frankfurt am Main/Wien 2003. 8 Vgl. z. B. David Bosshart/Karin Frick: Trendreport. Megatrends Basic. Trends und Gegentrends für Wirtschaft, Gesellschaft und Konsum. Rüschlikon/Zürich 2003.



3.10. Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftliches Prinzip

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Aus der empirischen Glücksforschung ist die „Happyologie“ entstanden. Sie lehrt, was wir tun können und müssen, um glücklich zu werden. Einer der Vertreter der Happyologie ist Alan Epstein.9 Er hat fünf Basisregeln für die Ausformung unseres Glücksvermögens gefunden. Zu diesen gehört u. a. die Basisregel, Verantwortung für sich selber zu übernehmen. Unsere eigene Lebenssituation und -gestaltung liege in unseren eigenen Händen. Eine weitere Basisregel ist es, zu leben, was in einem steckt. Unsere Fähigkeiten, Talente und Wünsche müssten entdeckt werden. Wir müssten das tun, was wir selber für richtig hielten, d. h. unter anderem unsere Ideale verfolgen, unsere Stimme erheben, auf unsere inneren Impulse achten. „Future Living“, die jüngste Studie des von Matthias Horx gegründeten Deutschen Zukunftsinstituts, weist die Individualisierung als einen von sechs Mega­ trends aus. Sie zeigt auf, dass sich eine neue Vielfalt individualisierter Lebensformen und von Beziehungsformen bzw. Formen einer Lebenspartnerschaft herausbildet.10 Für den Zukunftsforscher Andreas Reiter ist jeder Mensch ein Individuum und will immer mehr als solches wahrgenommen werden. Das habe nichts mit Egoismus zu tun.11 Die Erziehungswissenschaften rücken offensichtlich das Kind als Akteur seiner eigenen Entwicklung ins Scheinwerferlicht.12 Kinder werden nicht mehr (nur) als Werdende betrachtet, sondern die Kindheit (auch) als eigenberechtigter Abschnitt des Lebens. Die Trendforschung zeigt, dass sich in einer Biografie zwischen die Phasen Jugend/Ausbildung und Erwerbsleben/Familienleben die Phase „Post­

9 Alan Epstein: Glück ist, was du täglich tust. 365 gute Ideen für Lebensfreude und Glücklichsein. Bergisch-Gladbach 1997; vgl. Vision-Rundschau Nr. 81, März 2003, 8 f. 10 Christiane Friedemann/Andreas Giger/Matthias Horx: Future Living. Lebensstile und Zielgruppen im Wandel. Kelkheim 2002; vgl. auch die oben zitierte Studie von Bosshart und Frick (Fn. 8), in der die Individualisierung ebenfalls als Megatrend angesprochen wird. Diesem Megatrend wird ein Gegentrend in der Form der Neotribalisierung gegenübergestellt, d.  h. eine Hinwendung zu einem Netz von Beziehungen, die sich in einem Individuum verbinden. Vgl. auch Klaus Burmeister u. a.: Deutschland und Europa 2020 – Ein Zukunftsszenario (http://www.brandeins.de/magazin/ archiv/2003/ausgabe_10/schwerpunkt/artike113.html [6. 2. 2004]). Dieses „Chancen-Szenario“ setze als Grundbedingungen des Wandels „eine hohe gesellschaftliche und individuelle Lernfähigkeit voraus sowie die Bereitschaft von uns allen, Verantwortung zu übernehmen und sich auf Veränderungsprozesse einzulassen, die auch scheitern können“. Im Trendreport 2004 (Matthias Horx/Eike Wenzel: Der Trendreport 2004 – Die 11 wichtigsten „Driving Forces“ des kommenden Wandels. Kelkheim 2004) wird von „Selfness“ als einem Weg in eine Kultur der „Selbstkompetenz“, einer Kompetenz, das eigene Leben in den Griff zu bekommen, gesprochen. Zunehmend laute die Überzeugung der Kunden (im Zusammenhang mit Gesundheitsmärkten), dass ich selbst für mich verantwortlich sei (vgl. Vision-Rundschau Nr. 95, Februar 2004, 2 f.). 11 Vgl. das Interview mit Andreas Reiter in: „Die Kleine Zeitung“, 25. 12. 2003, 35. 12 Vgl. die Diskussion zum Thema Kindheit in: „Der Standard“, 14. 3. 2002, 2.

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3. Wissenschaft

adoleszenz“ im Sinne einer Zeit der Selbstfindung schiebt.13 Kinderrechte werden formuliert und postuliert. Zu nennen ist das Übereinkommen über die Rechte des Kindes aus 199014. 2002 hat in New York ein UNO-Kindergipfel stattgefunden.15 Er hat als erste UNO-Konferenz Kindern ein Mitspracherecht eingeräumt. Laut Helmut Sax vom Ludwig Boltzmann-Institut für Menschenrechte in Wien sei das „Recht auf gewaltfreie Erziehung“ das am meisten verletzte Kinderrecht.16 Auch die Altersforschung zeigt eine empirisch nachweisbare wachsende Tendenz zur Eigenverantwortung.17 Dabei spielen ökonomische Faktoren und solche der Bildung, d. h. das Ausmaß des Handlungsspielraumes, eine große Rolle. Ein relevanter Faktor für die Eigenverantwortung ist aber auch das Maß der Einbettung in Kommunikationsbeziehungen. Leopold Rosenmayr spricht in diesem Zusammenhang von „Selbstverhältnis“.18 Die Schule der Zukunft ist auf ein ganzheitliches Menschenbild ausgerichtet. Als Unterrichtsfächer von morgen nennt Matthias Horx u. a. Fächer wie Körperwissen, Selbstdarstellung und (vielleicht auch) Selbsterkenntnis.19 In einem zunächst vom Pädagogischen Institut des Bundes in Graz, dann von der Pädagogischen Akademie des Bundes in Steiermark angebotenen Lehrgang, in dessen Mittelpunkt die Bildung der Persönlichkeit der Kinder steht, wird der Frage nachgegangen, wie Lehrer/-innen das Selbstwertgefühl sowie die Fähigkeit der Kinder zu Kommunikation und Konfliktbewältigung stärken können.20 13 Siehe oben Friedemann/Giger/Horx, Future. 14 Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes aus 1990 wurde von Österreich ratifiziert, aber mit einem Erfüllungsvorbehalt – dieser führt dazu, dass das Übereinkommen nicht unmittelbar anwendbar ist – versehen; vgl. BGBl. 1993/7. 15 Vgl. die Resolution der Generalversammlung der UNO „A world fit for children“ vom 10. 5. 2002 (A/RES/S-27/2). 16 Vgl. den Bericht in: „Der Standard“, 13.  5.  2002, 5. – Der Stimme des Kindes wird Augenmerk geschenkt. Vgl. den Bericht von Malcolm Hill und Beate Scherrer für das Young Voices-Seminar in Straßburg vom 19./20. 11. 2001, veranstaltet vom Europarat (Direktorat für Jugend und Sport) und der UNICEF. Dem Bericht lag eine umfangreiche Umfrage des deutschen GfK Marktforschungsinstituts zugrunde: Young Voices. Opinion Survey of children and young people in 35 countries of Europe and Central Asia, 2001. Liselotte Wilk hat für das genannte Seminar die Situation in Österreich analysiert (The world of children in Austria); vgl. http://www.coeint/T/E/cultural_co-operation/ Youth/4._Activities/5_Research/2.3apers/World-Children-Austria.asp#Top0fPage (14. 1. 2004). 17 Vgl. z. B. Leopold Rosenmayr/Franz Böhmer (Hg.): Hoffnung Alter. Forschung, Theorie, Praxis. Wien 2003. 18 Leopold Rosenmayr: Von Lust und Last. In: „Die Presse“, 7. 6. 2003, Spektrum, III. 19 Vgl. das Interview mit Matthias Horx in: „Die Kleine Zeitung“, 4. 7. 2003, 2 f. („Wir stehen vor einer Revolution“). 20 Akademielehrgang Persönlichkeitsbildung – „Vom Ich zum Du“. Selbstwert, Kommunikation und Konfliktbewältigung mit Kindern und Jugendlichen. Es gibt einen Lehrgang für Volksschullehrer/innen und einen für AHS-BHS-Hauptschullehrer/-innen.



3.10. Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftliches Prinzip

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Die Botschaft eines neuen Buches von Engelbert Obernosterer ist, dass Kinder und Jugendliche viel zu schnell an die Normen der Erwachsenen angepasst werden. Er nennt sein Buch „Die Mäher und die Grasausreißer. Eine Bilanz“.21 Matthias Horx gibt in einem Kommentar „Das Neue Lernen“22 eine berührende Passage aus einem Weihnachtsbrief einer Kindergärtnerin an die Eltern wieder. Es heißt dort: „Wir beobachten die Kinder, wie sie ihr Selbstbewusstsein aufbauen und Widerstände überwinden. Wir sind Zeuge, wie jedes Kind eigene Talente und Persönlichkeit entwickelt. Wir freuen uns mit ihnen, wenn sie Erfolge erzielen. Es ist eine so große Ehre für uns, Zeuge dieses Prozesses zu sein. Wir sind so stolz auf sie!“ In einem Bildungsmanifest23 wird zur Neuordnung des Schulwesens angeregt. In einer Auflistung des Manifestes, was junge Menschen können sollen, finden sich u. a. folgende zwei Punkte: sich selbst, andere Menschen, andere Kulturen entdecken; Verantwortung tragen – für sich selbst und andere. Jede Schule, so das Bildungsmanifest, sollte ihren eigenen Bildungskatalog transparent machen und beschreiben, wie sie diese Ziele erreichen möchte. Es geht – bereits seit längerer Zeit24 – um die Individualisierung des (schulischen) Bildungsangebots. Probleme, die damit verbunden sind, dass nicht ich mich lebe, sondern dass ich gelebt werde, werden offensichtlich bewusster. In einer Befragung des GallupInstituts nach persönlichen Hindernissen und einer allgemeinen Einschätzung von Erfolgshemmern sagen 12 %, in der Vergangenheit schon einmal dadurch behindert worden zu sein, dass sie einen ungewollten Beruf ausübten, 36 % sagen, dass dies grundsätzlich behindern kann; 5 %, dass sie durch den Mangel an eigener Persönlichkeit schon einmal behindert worden sind, und 26 %, dass dieser Mangel grundsätzlich behindern kann.25

2. Erkennen seiner Individualität – eine Voraussetzung der Eigenverantwortlichkeit Eigenverantwortlichkeit setzt voraus, dass ich um meine Identität weiß, dass ich meine Eigenart kenne. Eigenverantwortlichkeit ist Glied einer Kette, die auch aus 21 Engelbert Obernosterer: Die Mäher und die Grasausreißer. Eine Bilanz. Klagenfurt/Wien 2002. 22 In: „Die Presse“, 7. 5. 2003. 23 Heidi Schrodt u.  a.: Bildungsmanifest für die grundlegende Veränderung der Schule. Wien 2003 (http://www.bildungsmanifest.at [6. 2. 2004]). 24 Vgl. im Zusammenhang mit universitärer Bildung Christian Brünner: Bildung zwischen individuellem Bedürfnis und gesellschaftlichem Bedarf. In: Christian Brünner/Ernst Steinbach (Hg.): Bildung ohne Schule? Wien 1992, 23 ff. (32 ff.). 25 Vgl. „Kurier“, 27. 9. 2003.

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einem Selbst und einem Selbstbewusstsein besteht. Eigenverantwortlichkeit impliziert einen freien Willen. Ich bin mir bewusst, dass es die Freiheit determinierende Faktoren gibt – genetische, physiologische, gesellschaftliche etc. Insbesondere die Hirnforschung und Neurophysiologie scheinen auf dem Weg zu sein, die Annahme eines freien Willens zu relativieren oder gar zu widerlegen. So hat Heiner Römer bei der Veranstaltung „Kann der Mensch wollen, was er will?“ empirische Befunde vorgetragen,26 die der Annahme der Willensfreiheit entgegenzustehen scheinen. Die Tagung 2003 der Arbeitsgemeinschaft „Topologien des Menschlichen“ der Österreichischen Forschungsgemeinschaft war dem Thema „Autonomie – Personalität – Verantwortung. Der Mensch – ein freies Wesen?“ gewidmet. Hintergrund dieser Themenstellung sind Erkenntnisse der Naturwissenschaften und technologische Entwicklungen, die in die Lage versetzen, „vieles von dem, was man landläufig als freies menschliches Verhalten ansieht, als Abfolge neuronaler Prozesse zu begreifen, die sich im menschlichen Gehirn abspielen und die sich mit naturwissenschaftlichen Methoden beschreiben, rekonstruieren und prognostizieren lassen. Sie stellen damit nicht nur den freien Willen, sondern auch die Annahme eines Ich-Zentrums innerhalb der menschlichen Erkenntnis in Frage.“27 Und: Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung „Gehirn & Geist“ widmet sich in seinem Dossier Nr. 1 aus 2003 dem Thema „Angriff auf das Menschenbild. Hirnforscher suchen neue Antworten auf alte philosophische Fragen.“ Ich kann und möchte naturwissenschaftliche Erkenntnisse betreffend kausaler Zusammenhänge in neuronalen Prozessen nicht leugnen. Selbst wenn sich die Kette Selbst – Selbstbewusstsein – freier Wille – Eigenverantwortlichkeit so nicht halten ließe, ist sie für mich Realität. Sie entspricht meinem Selbstverständnis und meiner Erfahrung, dass ich ein Ich habe, dass ich mein Leben gestalte und dass ich dafür auch verantwortlich bin, dass ich mich nur als Ich begreifen kann, wenn Freiheit mit meiner Personalität untrennbar verbunden ist, mag die Freiheit auch nur eine relative sein. Auch wenn der freie Wille eine Illusion wäre, gesteht man ihm doch Sinn und Zweck zu. Die Neurophilosophin Bettina Walde sagt in diesem Zusammenhang: „Der Eindruck, dass wir die Urheber unserer Handlungen sind, erlaubt es uns, die eigenen Handlungen von denen anderer Personen zu unterscheiden. Das ist grundlegend für unser gesamtes soziales Leben und dabei spielt es zunächst einmal keine Rolle, ob unser Eindruck berechtigt ist oder auf einer Illusion beruht. Wie 26 Empirische Befunde zur Willensfreiheit; vgl. Fn. 5. 27 Aus der Motivenbeschreibung der Tagung. Die Publikation der Tagungsergebnisse ist in Vorbereitung.



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unsere sozialen Kompetenzen beeinträchtigt werden, wenn dies nicht mehr gegeben ist, sieht man an pathologischen Veränderungen des Willens.“28 Es geht mir in diesem Zusammenhang gleich wie mit der Frage, ob die Sonne oder die Erde das Zentrum der Welt ist. Seit ein paar Jahrhunderten wissen wir, dass nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne kreist. Die Naturwissenschaft hat das geozentrische zugunsten des heliozentrischen Weltbildes verdrängt. Meine tägliche Erfahrung ist jedoch, dass am Morgen die Sonne aufgeht und am Abend untergeht. Meine tägliche Erfahrung ist, dass diese meine Welt mein Lebensmittelpunkt ist, dass ich hier meine Aufgaben erfüllen muss, dass ich hier gefordert und gefördert werde, dass ich hier meine Beziehungen gestalten muss und dass ich hier meinen (endlichen) Lebenssinn finden muss. Und diese Erfahrung, mag sie auch dem heliozentrischen Weltbild entgegengesetzt scheinen, ist für mich gleich relevant wie die von den Naturwissenschaften dargestellte Realität. Worin besteht die Eigenverantwortlichkeit? Ich möchte einige mir wesentlich erscheinende Aspekte meiner Eigenverantwortlichkeit ansprechen. Eigenverantwortlichkeit erfordert zunächst, dass ich mir die Frage stelle, wer bin ich, was macht mich als Person, was macht meine Individualität aus. Um dieser Frage nachzugehen, hat sich von alters her der Mensch immer wieder verschiedener Erkenntnis- und Darstellungsmittel bedient. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang jedenfalls die Hermetische Philosophie des Alten Ägypten, die Griechische Mythologie, die Symbolsprache der Astrologie und die Archetypenlehre des C. G. Jung. Nach C. G. Jung sind die sogenannten Archetypen die Inhalte des kollektiven Unbewussten. Dieses ist nicht individueller, sondern allgemeiner Natur, „d. h., es hat im Gegensatz zur persönlichen Psyche Inhalte und Verhaltensweisen, welche überall und in allen Individuen cum grano salis die gleichen sind. Es ist, mit anderen Worten, in allen Menschen sich selbst identisch und bildet damit eine in jedermann vorhandene, allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur.“29 Mein Ich ist geprägt durch diese Archetypen, durch diese Grundmuster menschlicher Erfahrung, durch diese Urprinzipien, die die Grundbausteine des Lebens darstellen. Um dieses Ich, diese Individualität bewusst zu machen, bedarf es der Arbeit mit Symbolen,30 mit Bildern für diese Grundmuster, für diese Ur28 Bettina Walde in einem Interview, das im obgenannten Dossier des Magazins für Psychologie und Hirnforschung „Gehirn & Geist“ abgedruckt ist (57). 29 C. G. Jung: Archetypen. 10.A., München 2001, 7. 30 Zu den abendländischen Symbolen vgl. die höchst informative Arbeit von Werner Weissmann: Sonne, Gral, Dämonen  ... Bedeutende abendländische Symbole in Mythos, Religion und Kunst. 2.A., Wien 2003.

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prinzipien. Diesen Symbolen etc. liegt seit alters her die Zahl Zwölf als ordnende Aufteilung eines Ganzen zugrunde: die zwölf Götter des klassischen griechischen Pantheon, die zwölf Stämme Israels, die zwölf Apostel, die zwölf Asen der Germanischen Mythologie, die zwölf Monate des Jahres, die zwölf Tierkreiszeichen. So sind z. B. die Symbole der Astrologie Repräsentanten von Persönlichkeitsanlagen.31 Dabei geht es darum, die Anlagen nicht nur zu „erkennen“, sondern sie auch voll zu entwickeln, sie zu „erlösen“, und durch die Entwicklung, die „Erlösung“ aller Anlagen, einem Ganzen zuzustreben. Auch Geheimlehren, Mythen und Märchen sind – so wie Symbole – Instrumente, die Inhalte des Unbewussten in bewusste Formen zu bringen. Die Archetypen stellen nämlich einen unbewussten Inhalt, eine unmittelbare seelische Gegebenheit dar. Durch die genannten Instrumente werden die Inhalte des kollektiven Unbewussten einer bewussten Bearbeitung unterworfen. „Der Archetypus stellt wesentlich einen unbewussten Inhalt dar, welcher durch seine Bewusstwerdung und das Wahrgenommensein verändert wird, und zwar im Sinne des jeweiligen individuellen Bewusstseins, in welchem er auftaucht.“32 Eine weniger geformte Erscheinung der Archetypen finden wir in unseren Träumen und Visionen. Symbole, Märchen etc. zeigen Urbilder vom Lebensweg des Menschen, wie Geburt, Tod, Leid, Glück etc. Sie verkörpern grundlegende Bedürfnisse des Menschen, z. B. nach Geborgenheit, nach Liebe, nach Selbstverwirklichung. Den Bedürfnissen liegen Anlagen zugrunde, und die Befriedigung der Bedürfnisse kann nur erfolgen, wenn entsprechende Fähigkeiten entwickelt werden. Dabei geht es darum, seine eigenen, „natürlichen“ Anlagen zu entwickeln und sich nicht in das Korsett von Maßstäben, Normen und Idealen pressen zu lassen. Es geht darum, die Anlagen in ihrer ursprünglichen Form, nicht in der Form der Maßstäbe, Normen und Ideale zu leben, und sich von den die ursprünglichen Anlagen hemmenden oder kompensierenden Mechanismen zu befreien.33 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch das Denken in Analogien. Es steht im Zentrum der Hermetischen Philosophie.34 Die These lau31 Vgl. z. B. Brigitte Hamann: Die zwölf Archetypen. Tierkreis und Persönlichkeitsstruktur. München 1991; vgl. auch unten Fn. 33. 32 Jung, Archetypen, 9. 33 Vgl. dazu Hermann Meyer : Befreiung vom Schicksalszwang. Astropsychotherapie. 4.A., Wettswil 1999. 34 Stammvater der Hermetischen Philosophie soll Hermes Trismegistos, ein Priester und Eingeweihter im alten Ägypten gewesen sein. Er soll die Quintessenz aller Weisheit in 15 Thesen auf eine Tafel aus grünem orientalischem Korund, die Tabula Smaragdina, geschrieben haben. Der Text der Tafel ist abgedruckt bei Thorwald Dethlefsen: Schicksal als Chance. Das Urwissen zur Vollkommenheit des Menschen. 28.A., München 1990, 28 f.; zur Hermetischen Philosophie vgl. Kybalion. Eine Studie über die Hermetische Philosophie des alten Ägypten und Griechenlands. Sauerlach bei München



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tet: Wie oben so unten, wie unten so oben. Der Makrokosmos findet sich im Mikrokosmos, der Mikrokosmos im Makrokosmos. Die Philosophie des Holismus nimmt an, dass das Universum ein Ganzes ist, und dass es innerhalb dieses großen Ganzen kleinere Ganzheiten gibt, deren Strukturen, Muster und Funktionen vollständig mit denen des größeren Ganzen übereinstimmen. Man spricht auch vom Prinzip der Entsprechung. C. G. Jung nennt dieses Prinzip „Synchronizität“, ein akausales Verbindungsprinzip, das identische Manifestationen von physischen Phänomenen in der Dimension der Zeit zueinanderführt.35 Eigenverantwortlichkeit heißt für mich, dass ich meiner Individualität entsprechend alle Dimensionen des Menschseins lebe. Dabei geht es darum, Körper, Seele und Geist als Ganzheit zu sehen, meine kognitiv-rationale, meine emotionale, meine spirituelle Dimension zu leben, ferner auch um ein Räsonnement darüber, was meine Aufgaben in dieser Welt, an diesem Platz, den ich einnehme, sind und welche Begabungen ich habe. Vereinfacht auf den Punkt gebracht, heißt für mich Eigenverantwortlichkeit: Ich lasse mich ein auf mein Leben. Ich nehme mein Leben in die Hand. Ich gestalte es entsprechend meiner Eigenart. Ich mache niemanden anderen verantwortlich für Fehlschlag oder Gelingen. Ich trage die Verantwortung für mein Leben. Spätestens an dieser Stelle wird wahrscheinlich die Frage gestellt werden, welche Rolle das Du, der Mitmensch, die Gesellschaft in dieser meiner Sichtweise von Eigenverantwortlichkeit spielt. Ich möchte wie folgt antworten. Indem ich mit dem, was meine Individualität ausmacht, an den Archetypen, an den Inhalten des kollektiven Unbewussten teilhabe, bin ich dadurch mit allem und mit allen verbunden, bin ich Teil eines Ganzen. Weil ich Teil eines Ganzen bin, trage ich auch für das Ganze Verantwortung: für die mich umgebenden Menschen und für die mich umgebende Welt. Und: Du, Mitmensch, Gesellschaft sind mir Spiegel und Lernfelder auf meinem Weg durch die Zeiten. Sie sind mir Herausforderung für das, was meine Eigenart ausmacht. Sie fordern mich, mich meiner Eigenverantwortlichkeit zu stellen, und indem sie fordern, fördern sie mich in der Entwicklung meines Menschseins. Umgekehrt können und sollen Du, Mitmensch, Gesellschaft so agieren, so beschaffen und strukturiert sein, dass sie mich in meiner Individualität, in dem, was mich ausmacht, in meiner Eigenverantwortlichkeit fördern. Verhaltensweisen und 1997; vgl. auch Rüdiger Dahlke/Nicolaus Klein: Das senkrechte Weltbild. Symbolisches Denken in astrologischen Urprinzipien. 4.A., München 1993; Ellynor Barz: Götter und Planeten. Grundlagen archetypischer Astrologie. Zürich 1988. 35 Vgl. Stephen Arroyo: Astrologie, Psychologie und die vier Elemente. Reinbek bei Hamburg 1995.

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Strukturen, die mich in der Entwicklung meiner Individualität behindern, lehne ich ab. Dabei verkenne ich nicht, dass es sich bei solchen Verhaltensweisen und Strukturen im Außen um Projektionen von Schatten meiner selbst handeln kann, von Seiten an mir, die ich nicht sehen möchte, die ich auf meine Umwelt projiziere und die ich im Außen bekämpfe. Der libanesische Schriftsteller, Philosoph und Maler Kahlil Gibran hat in der Rede des Propheten von den Kindern die Achtung der Eigenart des Anderen berührend zum Ausdruck gebracht. Es heißt dort: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Es sind die Söhne und Töchter von des Lebens Verlangen nach sich selber. Sie kommen durch euch, doch nicht von euch; und sind sie auch bei euch, so gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, doch nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Leib behausen, doch nicht ihre Seele, denn ihre Seele wohnt im Hause von morgen, das ihr nicht zu betreten vermöget, selbst nicht in euren Träumen. Ihr dürft euch bestreben, ihnen gleich zu werden, doch suchet nicht, sie euch gleichzumachen.“36

3. Eigenverantwortlichkeit und Politik Was den Menschen und was die Gesellschaft ausmacht oder ausmachen soll, wie die Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft gestaltet ist oder gestaltet sein soll, welche Rolle, welchen Stellenwert Mensch und Gesellschaft in ihrem wechselseitigen Beziehungsgeflecht einnehmen oder einnehmen sollen, ist nicht nur Gegenstand anthropologischer, philosophischer, theologischer, sozial- und geisteswissenschaftlicher etc. Reflexionen, sondern ist auch Gegenstand der Politik. Politik ist und bezweckt nämlich nichts anderes, als die Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen dergestalt, dass diese einen Beitrag leisten, damit der Mensch ein „gutes“ Leben führen kann. Darüber, was ein „gutes“ Leben ausmacht und welche gesellschaftlichen Strukturen dafür förderlich oder hinderlich sind, gibt es insbesondere in einer pluralistischen Gesellschaft zwangsläufig unterschiedliche Auffassungen. Diese Auffassungen werden in politischen Ideen, politischen Bewegungen, Programmen politischer Parteien, aber auch in politischen Programmen und Vorstellungen anderer politischer Akteure – Bürger/-innen, NGOs, Interessenverbände, Kirchen und Religionsgemeinschaften – artikuliert. Diese politischen Ideen, Bewegungen, Programme und die daraus abgeleiteten politischen Aktivitäten lassen immer wieder mehr oder weniger die „großen“ politischen Ideologien – ich nenne insbesondere 36 Kahlil Gibran: Der Prophet. Wegweiser zu einem sinnvollen Leben. 11.A., Olten/Freiburg im Breisgau 1980, 16 f.



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Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus und Katholische Soziallehre – durchschimmern. Dichotomisch (und damit verkürzt) einander gegenübergestellt, lassen sie sich in zwei Gruppen teilen: Die eine misst dem Staat, der Gesellschaft, der Ordnung, der Autorität größeres Gewicht bei, die andere dem Individuum sowie seiner Gestaltungskraft und seiner Eigenverantwortlichkeit. Die eben skizzierte Dichotomie zeigt auch die in den USA der 1980er-Jahre begonnene Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Verkürzt dargestellt besteht das Gemeinwohl nach liberal-individualistischer Auffassung eines John Rawls37 in der Freiheit des Einzelnen als Rechtsperson in Freiheitsspielräumen, die Gesellschaft aus Personen, die miteinander die Grundstruktur ihrer Gesellschaft, d. h. ihre Gerechtigkeitsprinzipien festlegen wollen. Dem (aus seiner Sicht) gemeinschaftsfeindlichen Individualismus mit seiner „negativen“ Freiheit – „der Freiheit von“ – stellt der Kommunitarismus eines Charles Taylor, eines Alasdair Macintyre, eines Amitai Etzioni38 die Gemeinschaft und den Gemeinsinn als „positive“ Freiheit gegenüber. Der Mensch ist demnach darauf angelegt, in Gemeinschaften, Traditionen und sozialen Bindungen aller Art zu leben. Theoretische und programmatische Auseinandersetzungen um Stellenwert und Relation von Individuum und Gesellschaft mögen abstrakt erscheinen. Wenn man sich der politischen Realität zuwendet, kann jedoch das Maß staatlich-gesellschaftlicher Aktivität und Ingerenz einerseits und das eigenverantwortlicher Gestaltung andererseits – jedenfalls indizienmäßig – sichtbar gemacht werden. Dann ist auch der Schluss möglich, was Priorität hat, das Individuum oder Staat und Gesellschaft. Ein wenn auch nur kursorischer Indikator für die Wirkkraft politischer Ideen, Bewegungen und Programme ist die Staatsquote. Sie gibt an, welcher Teil des Bruttoinlandsproduktes zur Finanzierung von Staatsausgaben ausgegeben wird. 1913, am Ende des liberalen Nachtwächterstaates des 19. Jahrhunderts, betrug die Staatsquote in Österreich 13 %.39 Heute (2001) beträgt sie 50,1 %. In den USA (2001: 31,2 %) oder in der Schweiz (2001: 38,6 %) ist die Staatsquote signifikant geringer. In Schweden betrug sie Ende der 1960er-Jahre – nach jahrzehntelangen

37 Vgl. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1975; John Rawls: Politischer Liberalismus. Frankfurt am Main 1998. 38 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt am Main 1996; Alasdair Macintyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt am Main 1995; Amitai Etzioni: Der Geist der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995. 39 Heinz Schäffer: Verwaltungspersonal. In: Karl Wenger u. a. (Hg.): Grundriß der Verwaltungslehre. Wien/Köln 1983, 183.

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sozialdemokratischen Regierungen – mehr als 60 % (2001: 52,2 %).40 Die politischgesellschaftlichen Systeme der USA oder der Schweiz gestehen somit dem Staat weit weniger Regulierungsmacht zu und schenken der Gestaltungskraft des Individuums offensichtlich größere Beachtung als das seinerzeitige schwedische System, das heute – so wie das heutige Österreich – trotz Rückbau des Staates eine nach wie vor beachtliche Staatsquote hat. Ansprechen möchte ich in diesem Zusammenhang auch die Diskussion um die sogenannte Zivilgesellschaft41 als einen Bereich zwischen Staat und Markt. Hintergrund dieser Debatte ist u. a. der Rückzug des Staates als Regulierungsmacht, die Erfahrung der Ohnmacht des Staates durch Globalisierung auf der einen Seite und die Isolierung der Bürger/-innen auf der anderen Seite. Dieses Vakuum soll die Zivilgesellschaft auffüllen, d. h. eine Gesellschaft, deren Mitglieder bereit sind, ehrenamtlich öffentliche Aufgaben zu erfüllen. Die Forderung nach einer Zivilgesellschaft forciert die Gemeinschaft als einen positiven Wert und fordert Gemeinsinn als Tugend ein. Die Individualität als Wert tritt in den Hintergrund.

4. Ist Eigenverantwortlichkeit wirklich gewollt? Im letzten Teil meines Beitrages möchte ich einige politische, gesellschaftliche und zwischenmenschliche Sachverhalte bzw. Strukturen skizzieren, die nicht auf die Förderung von Individualität und Eigenverantwortung ausgerichtet sind, sondern auf Bevormundung, auf Abhängigkeit, auf – um mit der Psychologie zu sprechen –, Bewertung und Beurteilung des Einzelnen anhand von Maßstäben, Normen, Idealen eines Über-Ich. Es sind Sachverhalte bzw. Strukturen, die darauf ausgerichtet sind, im Anderssein eine Bedrohung zu sehen; mein So-sein-Wollen, wie ich bin, als Egoismus abzuqualifizieren; Individualität zu sanktionieren; dem Pochen auf die Individualität den Mangel an Solidarität, den Mangel an Verantwortlichkeit für den Mitmenschen und für die Gesellschaft zu unterstellen. Wenn ich solche Sachverhalte bzw. Strukturen benenne, dann geschieht dies auf der Basis meines Wertekanons, der meiner Individualität, meiner Eigenart, meiner Eigenverantwortlichkeit einen hohen Stellenwert zumisst.

40 Betreffend den Staatsquotenvergleich 2001 vgl. http://www.efv.admin.ch/d/finanzen/intvergl/pdf/ intstaq.pdf (6. 2. 2004). 41 Vgl. z. B. Emil Brix (Hg.): Zivilgesellschaft zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. Wien 2003; Rolf Keibich/Christian Trapp (Hg.): Bürgergesellschaft. Floskel oder Programm. Baden-Baden 2002.



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4.1. Politische Partizipation Über die Instrumente direkter Demokratie lässt sich wissenschaftlich-theoretisch und praktisch-politisch trefflich streiten. Pro-Argumenten stehen Kontra-Argumente gegenüber. Die Bundesverfassung trifft eine Grundentscheidung zugunsten mittelbarer (repräsentativer) Demokratie. Daraus folgt, dass die Gesetzgebung und damit die Kompetenz, allgemein verbindliche politische Sachentscheidungen zu treffen, grundsätzlich einem gewählten allgemeinen Vertretungskörper vorbehalten ist.42 Modifiziert wird diese Grundentscheidung durch die (verfassungsrechtlich vorgesehenen) Instrumente direkter Demokratie. Diese sehen eine Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung vor, dem Nationalrat ist jedoch auch in diesem Zusammenhang eine maßgebliche Rolle vorbehalten.43 Unabhängig von der rechtlichen Ausgestaltung des demokratischen Systems ist es legitim, die Forderung nach stärkerer unmittelbarer Beteiligung des Wahlvolkes an der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung zu erheben. Ebenso legitim ist es, einen gegenteiligen politischen Standpunkt zu beziehen, wie es auch legitim ist, die Handhabung der rechtlich vorgesehen Instrumente direkter Demokratie generell oder im Einzelfall als politisch unzweckmäßig zu kritisieren. Als Beispiel diene das Volksbegehren gegen den Ankauf von Abfangjägern im Jahr 2002. 606.482 Österreicher/-innen haben dieses Volksbegehren unterschrieben. Für Christian Ortner ist dies „kein Sieg der Demokratie, sondern ein Triumph der Unvernunft“. Er titelt seinen Kommentar im „Format“44 mit „Ein Sieg gelebter Blödheit“. Er vertritt in seinem Kommentar die Hypothese, dass der Forderung nach einem Verbot des Abfangjägerkaufs die Forderung nach Abschaffung des Neutralitätsgesetzes voranzustellen gewesen wäre. Wer nicht neutral sei, sei völkerrechtlich nicht verpflichtet, seinen Luftraum zu kontrollieren; wer neutral sei, schon. Er schreibt: „Der relativ beachtliche Erfolg des jüngsten Volksbegehrens gegen Abfangjäger belegt eigentlich nur eines: dass eine erschreckend hohe Anzahl von Menschen in diesem Land nicht imstande oder nicht willens ist, einen auch nur halbwegs klaren und konsistenten rechtlichen Gedanken zu fassen. Dass es trotzdem möglich ist, dabei das Wahlrecht zu behalten, ist eigentlich schon fast bedenklich.“ 42 Vgl. VfSlg. 13.500/1993; 16.241/2001. Anders ist die Situation auf Gemeindeebene. Der Landesgesetzgeber könnte auch das Gemeindevolk als Gemeindeorgan einrichten und mit Entscheidungsbefugnissen im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde ausstatten (Art. 117 Abs. 7 B-VG). 43 Instrumente direkter Demokratie finden sich auch im Landesverfassungsrecht. Die Stellung der Landtage ist im Zusammenhang mit Instrumenten direkter Demokratie mitunter eine schwächere. 44 „Format“, Nr. 33/02, 5.

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Einmal ganz abgesehen davon, dass der Schluss, der in Frage stehende Abfangjäger-Ankaufsakt sei zwingende Folge der Neutralitätsverpflichtung, nicht zwingend ist,45 ist die Abqualifizierung jener Österreicher/-innen, die das AbfangjägerVolksbegehren unterschrieben haben, als „blöde“, nicht nur ein Gipfel politischer Unkultur. Christian Ortner verkennt auch das Wesen der Demokratie, wenn er – wegen der „Blödheit“ – das Wahlrecht der am Volksbegehren teilnehmenden Österreicher/-innen infrage stellt. Der Demokratie immanent ist nämlich eine praesumptio iuris et de iure, eine unwiderlegbare Annahme, dass alle Bürger/-innen in gleicher Weise befähigt sind, ihren politischen Standpunkt einzunehmen, zum Ausdruck zu bringen und durchzusetzen. Nun gibt es zweifellos faktische Ungleichheiten zwischen den Staatsbürgern/innen. Wer daraus aber rechtliche Ungleichheiten in der Trägerschaft politischer Rechte ableiten möchte, untergräbt die Demokratie. In den USA war bis zur Mitte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts das Wahlrecht davon abhängig, dass ein Lese- und Schreibtest bestanden worden war.46 Diese Einschränkung des Wahlrechtes war eindeutig gegen die schwarze Bevölkerung gerichtet, weil Schwarze wegen ihres – sich aus ihrer Diskriminierung ergebenden geringeren – Bildungsniveaus reihenweise beim Test durchfielen. Wenn sich ein Journalist in die Höhen politischer Unkultur und in die Tiefen eines undemokratischen Demokratieverständnisses versteigt, könnte man die Sache noch damit abtun, dass Papier, auf dem geschrieben wird, geduldig ist. Wenn ein Mitglied des Nationalrates jedoch Christian Ortner auf den Gipfel politischer Unkultur und in die Tiefen eines undemokratischen Demokratieverständnisses folgt, dann muss dem entschieden entgegengetreten werden. Nach einem Hinweis auf den genannten Leitartikel von Christian Ortner und unter Zitierung der von mir vorhin wiedergegebenen Passagen des Leitartikels (Blödheit, keine klaren und konsistenten rechtlichen Gedanken, Bedenklichkeit des Wahlrechtes) führt Cordula Frieser in einer Plenardebatte des Nationalrates aus: „Wenn Christian Ortner diese Überlegungen zu Recht anstellt, dann weise ich als Steirerin ganz stolz darauf hin, dass lediglich 9,37 % der Steirer dieses Volks45 Im B-VG über die Neutralität Österreichs heißt es in Art. 1 Abs. 2, dass Österreich die Neutralität mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen wird. Was zu Gebote steht, ist nicht ausdrücklich gesagt und bedarf daher der Interpretation. Dabei sind z. B. die volkswirtschaftliche Leistungskraft oder die geopolitische Lage oder Alternativen zu einem konkreten, ins Auge gefassten Mittel miteinzubeziehen. 46 Mit dem Voting Rights Act des Jahres 1965 sollte den schwarzen Wählern/-innen das Wahlrecht gesichert werden. Vom Justizminister entsandte Beobachter überwachten die Eintragung schwarzer Wähler/-innen in die Wählerlisten. Darüber hinaus hob das Gesetz die Lese- und Schreibtests in bestimmten Staaten der USA auf.



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begehren unterstützt haben. Die Steiermark hat die geringste Beteiligung aller Bundesländer an diesem Volksbegehren.“ Die Abgeordnete ist also stolz darauf, dass wir in der Steiermark die geringste Anzahl „blöder“ Bürger/-innen haben. Sie präzisiert dabei auch den von Christian Ortner verwendeten Begriff „Wahlrecht“, sie nimmt nämlich an, er habe das aktive und das passive Wahlrecht gemeint. Dem Fass den Boden schlägt dann der vorletzte Satz des Debattenbeitrages von Cordula Frieser aus. Sie sagt: „Nach Volksbegehren pflegen wir immer zu sagen – dies müssen wir auch im Sinne des Leitartikels von Christian Ortner tun –: Selbstverständlich müssen wir dieses Volksbegehren ernst nehmen.“47 Überheblicher, zynischer, unernster betreffend das politische Engagement von Bürger/-innen und das rechtliche Gebot, über einen Gesetzesantrag in der Form eines Volksbegehrens zu beraten (Art. 41 Abs. 2 B-VG und die entsprechenden Bestimmungen des Volksbegehrensgesetzes und des Geschäftsordnungsgesetzes des Nationalrates) geht es nicht mehr. Demokratie braucht Lebendigkeit, braucht Bürger/-innen, die ihre jeweiligen politischen Standpunkte einnehmen, ferner auf der Basis dieser Standpunkte sich politisch engagieren und an der politischen Willens- und Entscheidungsfindung mitwirken. Auch wenn die hohe Zeit der Demokratiereformen im Sinne des Ausbaus der Demokratie vorbei zu sein scheint, bedarf es dennoch der Reflexion, ob die rechtlichen und faktischen Rahmenbedingungen Engagement und Mitwirkung der Bürger/-innen fördern oder hemmen. Seit längerer Zeit wird über die Einführung des Instrumentes der Volksabstimmung diskutiert, die nicht mehr von einem diesbezüglichen Beschluss des Nationalrates oder des Landtages abhängig ist, sondern durch ein eine bestimmte Unterschriftenzahl aufweisendes Volksbegehren, also ein Volksbegehren mit nachfolgender Volksabstimmung, erzwungen werden kann.48 Ich wünsche mir die verfassungsrechtlich fundierte Einführung eines solchen Instrumentes. Wenn politische Entscheidungsprozesse ins Stocken geraten, weil zwischen den politischen Entscheidungsträgern eine Art Pattsituation eintritt oder weil starke Lobbys am Werk sind, könnten Instrumente direkter Demokratie aus einer solchen Blockade heraushelfen. Hilfreich wäre dies freilich nur, wenn politische Entscheidungssituationen den Bürgern/-innen nicht einseitig oder propagandistisch präsentiert, sondern argumentativ und mit den Pros und Contras aufbereitet werden. 47 StenProtNR 21.GP., 113. Sitzung, 102 f. 48 Auf Landesebene gibt es solche Regelungen; vgl. Theo Öhlinger: Verfassungsrecht. 5.A., Wien 2003, 202 f. Sie erscheinen vor dem Hintergrund der obzitierten Rechtsprechung des VfGH als problematisch.

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Eine Volksbefragung auf Bundesebene ist vom Nationalrat mit Mehrheit zu beschließen. Die Durchführung einer Volksbefragung sollte jedoch auch von einer qualifizierten parlamentarischen Minderheit erzwungen werden können. Von Bürgern/-innen, Bürgerinitiativen, Verbänden, Vereinen etc. werden immer wieder zahlreiche Vorschläge und Anliegen vorgebracht bzw. eingeholt. Oftmals besteht der Eindruck, dass die politischen Repräsentanten diesen Anliegen und Vorschlägen nicht ernsthaft nähertreten. Es sollte daher nach Wegen gesucht werden, dass – in Bürgerforen – die Kommunikation zwischen den politischen Repräsentanten und den Bürgern/-innen zu einer größeren Verbindlichkeit führt. Eine kürzlich erschienene Untersuchung des Instituts für Höhere Studien in Wien49 beschäftigt sich mit verschiedenen Formen politischen Engagements 16bis 25-Jähriger in Ost- und Westeuropa. Der Begriff des Politischen wird dabei sehr weit gefasst, um politisches Interesse, politische Aktivitäten, zivile und politische Partizipation, Demokratiebewusstsein, Vertrauen in politische Institutionen sowie neue Formen von Politik miteinzubeziehen. Die Analyse zeigt entgegen oftmals geäußerter Meinung, dass Jugendliche nicht generell von Politik entfremdet sind, sondern sich in vielen verschiedenen Formen politisch interessieren und engagieren. Die Ergebnisse der Analyse deuten eine Entwicklung von „LifestylePolitik“ an, die eine größere Bedeutung für politisches Handeln hat als traditionelles parteipolitisches Engagement. Es wäre notwendig, diese nicht traditionellen Formen politischen Interesses und politischen Engagements in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess der „großen“ Politik zu integrieren. In einer Atmosphäre, in der ein eingenommener politischer Standpunkt als Blödheit abgetan zu werden droht, werden Jugendliche (aber auch Erwachsene) jedenfalls auf der Hut sein, sich politisch zu äußern. Eine Demokratie lebt davon, dass Bürger/-innen bereit sind, den Freiheitsraum auszufüllen und die politische Meinung zu äußern, auch wenn es sich dabei mitunter um eine kritische Position bzw. um eine solche handelt, die nicht dem Meinungsmainstream folgt. Aus einer Befragung aus den 1970er-Jahren50 ergibt sich, dass sich diese Bereitschaft – jedenfalls damals – in Grenzen hielt. Nur ein Fünftel der Befragten nahm von sich an, den Freiheitsraum voll auszunützen, 21 % sagten, dass sie ihn gar nicht, und 55 %, dass sie ihn zuwenig ausnützten. Fast die Hälfte, nämlich 44 %, bejahte die Frage: „Haben Sie schon einmal Nachteile gehabt, weil

49 Vgl. Christian Haerpfer u. a.: Young people and politics in Eastern and Western Europe. Wien 2002. Im Weißbuch der Europäischen Kommission „Neuer Schwung für die Jugend Europas“ aus 2002 wird als eine der wichtigsten Botschaften jene genannt, dass die befragten Jugendlichen verlangten, als verantwortungsvolle Bürger betrachtet zu werden. 50 Herwig Schmidl: Die Angst vor dem Mut. In: Berichte und Informationen, 1977. H. 8. 10 ff.



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Sie unverblümt ihre Meinung gesagt haben?“ Als Gründe für die Rücksichtnahme im Falle der Meinungsäußerung wurden berufliche Nachteile (23 %), der Rat der Freunde (24 %) und üble Nachrede (48 %) genannt. Ich fürchte, dass die Situation heute nicht wesentlich anders ist!?51 Auch im Bereich Wirtschaft lassen sich Sachverhalte aufzeigen, die das Selbstständig-Sein und das Selbstständig-Werden offensichtlich behindern. Ein Indikator dafür ist die Selbstständigenquote. Die Selbstständigenquote in Österreich ist verglichen mit anderen Ländern unterproportional. Eine für 2001 veröffentlichte Statistik52 zeigt, dass der Anteil der Selbstständigen an den Erwerbstätigen (ohne Landwirtschaft) z. B. in Griechenland 27,8 %, in Italien 22,4 %, in den Niederlanden 9,1 %, in Österreich aber nur 7,8 % beträgt. Damit liegt Österreich unter dem EU-Durchschnitt von rund 12,3 %. Im „2004 Index of Economic Freedom“, einer Studie der Heritage Foundation und des „Wall Street Journal“ befindet sich Österreich (Platz 20) mit Deutschland (Platz 18) und den Niederlanden (Platz 19) in der zweiten Gruppe, nämlich jener, in der die Wirtschaft als „überwiegend frei“ angesehen wird. Während die Durchschnittsnote für Österreich 2,08 betrug, benoteten die Studienautoren die Regulierung in Österreich mit 3, die Steuerlast mit 4,3.53 In einer 1998 durchgeführten Studie über das Selbstwertgefühl der 9- und 10-Jährigen der Steiermark kommt Herbert Harb54 zu folgenden Schlüssen: 14 % der befragten steirischen Kinder verfügen über starke Selbstzweifel und werden von enormen Minderwertigkeitsgefühlen geplagt. Jedes dritte Kind hat ein nur mittelmäßig ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Die Attribute kontaktfreudig, eigeninitiativ und mutig, ferner auf das persönliche Leistungspotenzial vertrauend, treffen nicht einmal auf jedes zweite Kind zu. Mich auch damit zu beschäftigen, was meine Individualität ausmacht und mich in meiner Individualität als wertvoll zu sehen, sollte das Erziehungsideal schlechthin sein. So haben z. B. Suchtverhalten und Essstörungen55 u. a. den Man51 Zum Thema Zivilcourage ist vor Kurzem in Deutschland eine umfassende Studie erschienen; vgl. Gerd Meyer u. a. (Hg.): Zivilcourage lernen. Analyse – Modelle – Arbeitshilfen. Tübingen 2004; vgl. ferner Gerd Meyer/Angela Hermann: Zivilcourage im Alltag. Ergebnisse einer empirischen Studie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 7–8, 2000. 52 Quellen: Eurostat, OECD. 53 Vgl. den Bericht in: „Die Presse“. 11. 1. 2004, 22. Der Index ist abrufbar unter: http://www.heritage. org/research/features/index/ (6. 2. 2004). 54 Herbert Harb: Wie selbständig sind unsere Kinder? Graz 1998. 55 Nur 11 % der 15-jährigen Mädchen (39 % der Burschen) in Wien sind mit ihrem Körper zufrieden. 34 % der Mädchen (7 % der Burschen) haben starke oder sehr starke Angst, zuzunehmen. 12,7 % der Mädchen (1,5 % der Burschen) gaben zu, dass sie bereits absichtlich erbrochen haben, um ihr

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gel an Selbstwert als Hintergrund. Das Erziehungsideal „immer offen seine Meinung sagen“ hat in einem 20-Jahres-Vergleich (leider) abgenommen. 1973 nannten es 43 % der österreichischen Bevölkerung, 1999 42 %. Obwohl das Erziehungsziel „gehorsam sein gegenüber Eltern und Vorgesetzten“ stark abgenommen hat (von 50 % im Jahre 1973 auf 36 % im Jahre 1999), heißt dies noch lange nicht, dass das Erziehungsideal, die Individualität und Eigenart des Kindes zu fördern, an seine Stelle getreten ist.56 4.2. Eigenverantwortung in der Gesundheitsvorsorge Seit einiger Zeit fordert die Gesundheitspolitik Eigenverantwortung betreffend die Gesundheit ein. Man müsse weg von der Reparatur- und hin zur Vorsorgemedizin. Eine „nationale Gesundheits-Bewegung“ solle von fünf Säulen getragen sein, nämlich Ernährung, Bewegung, Unfallverhütung im Haushalt und in der Freizeit, psychische Gesundheit und klassische medizinische Vorsorge.57 Im Zusammenhang mit Gesundheitsvorsorge soll auch an ein Belohnungssystem gedacht werden, um mehr Menschen zu Teilnahme an Gesundenuntersuchungen zu motivieren.58 Ob ein Bonus-Malus-System im Zusammenhang mit der Eigenverantwortlichkeit für die Gesundheit praktikabel ist, ist freilich höchst fraglich.59 Zusammenhänge, die z. B. zwischen einem bestimmten Lebensstil und den damit verbundenen Gesundheitsproblemen und den daraus resultierenden Kosten für das Gesundheitssystem hergestellt werden, mögen sie auch nur statistischer Art sein, unterstreichen die Eigenverantwortlichkeit des Menschen für seine Gesundheit und die damit verbundene Verantwortung für die (kostentragende) Ge-

Gewicht zu reduzieren. Vgl. den Bericht über ein 1999 gelaufenes Projekt an Wiener Schulen, um Essverhaltensauffälligkeiten aufzuspüren. In: „Der Standard“, 4. 8. 2000, 9. 56 IMAS-Erhebung. In: „Profil“, 2. 9. 2002, 113. 57 Vgl. ein Pressegespräch mit der Bundesministerin für Gesundheit und Frauen Maria Rauch-Kallat, wiedergegeben in: „Die Presse“, 4. 7. 2003. – Diesem Postulat steht die Realität entgegen. Für Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation sind 2001 sage und schreibe nur 2,95 %, für stationäre und ambulante Behandlung 97,05 % ausgegeben worden; vgl. Statistisches Jahrbuch Österreichs 2004, 189. 58 Vgl. den Hinweis im „Profil“, 29. 9. 2003, 111. 59 Der Präsident der Oberösterreichischen Ärztekammer, Dr. Otto Pjeta, forderte vor Kurzem einen einmaligen „Gesundheitszuschlag“ beim Kauf bestimmter Sportgeräte. Für Snowboards, Schier oder andere Geräte, mit denen laut Statistik besonders häufig Unfälle passierten, sollte ein zweckgebundener Betrag eingehoben werden. Nur bei Hobbysportlern mit privater Zusatzversicherung könnte dieser entfallen. In: „Der Standard“, 11. 12. 2003.



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sellschaft. In der Zeitschrift „gesund + vital“60 wurde eine Studie von Internisten zitiert, aus der ein statistischer Zusammenhang zwischen Übergewicht und der Verschreibung von Medikamenten gezeigt wird: In Österreich weisen rund 30 % der erwachsenen Bevölkerung einen Bodymass-Index von über 25 auf und gelten damit als übergewichtig. Die Mehrkosten für die durch Übergewicht benötigten Medikamente sollen hochgerechnet auf diese rund zwei Millionen Österreicher/innen jährlich rund 167 Millionen Euro betragen. Der Anwendung des „Verursacherprinzips“ für solche Kostentragung stehen freilich einige gewichtige Argumente entgegen. Der Selbstbehalt im Gesundheitssystem ist aber ein Instrument, das der Eigenverantwortlichkeit mehr Raum gibt. Er muss freilich aus sozialen Gründen gestaffelt sein.61 Nun darf insbesondere bei politischen Appellen für mehr gesundheitsorientierte Eigenverantwortlichkeit nicht übersehen werden, dass rund 80 % der für den Gesundheitszustand relevanten Einflussfaktoren struktureller Natur sein sollen. Einkommen, Bildung, Wohn- und Arbeitsverhältnisse, Umweltfaktoren und das soziale Umfeld des Menschen werden in diesem Zusammenhang genannt. Der Ruf nach mehr Eigenverantwortlichkeit für die Gesundheit darf daher kein Manöver sein, um von der politischen und daher gemeinschaftlichen Verantwortung abzulenken, die eben genannten Einflussfaktoren dergestalt zu verändern, dass sie krankheitshemmend bzw. gesundheitsfördernd sind. Andererseits ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen Eigenverantwortlichkeit und Gesundheit ins Blickfeld zu rücken. Dieser Zusammenhang wird auch durch den strukturellen Einflussfaktor „Bildung“ sichtbar. Bildung schärft offensichtlich das Problembewusstsein für die gesundheitlichen Risken. Einer Eurobarometer-Umfrage zufolge stufen nur 50 % der Menschen mit einem Bildungsabschluss unterhalb der Sekundarstufe II, im Vergleich zu fast 75 % der Menschen mit einem Bildungsabschluss des Tertiärbereichs, ihre Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ ein.62 Übersehen werden darf freilich nicht, dass Eigenverantwortlichkeit für meine Gesundheit mehr ist als die Erstellung eines persönlichen Risikoprofils, eine Vorsorgeuntersuchung63 und eine Lebensstiländerung. Eigenverantwortlichkeit für 60 September 7/2002, 14. 61 Aus einer Market-Umfrage aus dem Jahr 2003 geht hervor, dass 54 % der Befragten sagen, die Patienten sollten sich bis zu einem gewissen Ausmaß selber an den Behandlungs- und Medikamentenkosten beteiligen (vgl. den Bericht in: „Der Standard“, 28. 7. 2003, 6). 62 Bericht der Europäischen Kommission betreffend die soziale Lage in der Europäischen Union 2003, 16. 63 Die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen hat sich gemäß einer Statistik des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger zwischen 1990 und 2002 verdoppelt. Vorsorgeuntersuchungen werden aber

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die Gesundheit verlangt nach einem Paradigmenwechsel in der Medizin, nämlich von der kurativen, krankheitsorientierten Medizin zu Gesundheitsförderung und Saluto-Genese (bei dieser steht nicht die Entstehung von Krankheit, sondern die Frage nach der Genese von Gesundheit im Mittelpunkt).64 Die heutige Medizin vertritt über weite Strecken das deterministisch-mechanistische Weltbild der Naturwissenschaften, obwohl sich die Naturwissenschaften langsam von diesem Weltbild zu verabschieden scheinen. Im Zentrum dieses Weltbildes steht die Kausalität. In der „evidenzbasierten Medizin“ werden nur Erkenntnisse akzeptiert, die aus einem eindeutigen, reproduzierbaren und messbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung hervorgehen. In seinem Plädoyer für eine evidenzbasierte Medizin vertrat Günter J. Krejs, Vorstand der Medizinischen Universitätsklinik in Graz, bei einer Enquete betreffend Homöopathie65 die Auffassung von der Homöopathie als „Hokuspokus-Medizin“. Er begründete seine Auffassung damit, dass es keine rationale Grundlage für Homöopathie gebe, die prüfbar sei und einer kritischen Überprüfung nach den heutigen Gesichtspunkten der Wissenschaft standhalte. Dem deterministisch-mechanistischen Welt- und Menschenbild sollte ein ganzheitliches Welt- und Menschenbild gegenübergestellt werden. Gesundheit ist dann ein Zusammenwirken von Körper, Seele, Geist und Umwelt, Krankheit nicht mehr (nur) ein Sachverhalt, der mithilfe biologisch-chemischer und technischer Manipulationen beseitigt wird bzw. werden kann, sondern (auch) eine Störung dieser meiner Ganzheitlichkeit. Heilkunde im Sinne einer „Ganzheitskunde“ setzt die Fähigkeit voraus, meine eigene Natur, meine eigenen Bedürfnisse, meine eigenen Anlagen im Zusammenhang mit diesen Bedürfnissen, also meine Individualität, zu erkennen und dieser Erkenntnis gemäß zu leben. Heilkunde im Sinne nur von 13,6 % jener Personen in Anspruch genommen, die für solche Tests infrage kommen (vgl. entsprechende Berichte betreffend politische Pläne, die Vorsorgeuntersuchung zu modernisieren, in: „Der Standard“, 18./19./20. 8. 2003 und im „Profil“, 29. 9. 2003, 111 ff.). Die Alpbacher Technologiegespräche 2003 waren u. a. der Diskussion betreffend den Nutzen einer verstärkten Gesundheitsvorsorge gewidmet. Vorsorgeuntersuchungen sind freilich nicht unumstritten; vgl. z. B. Andreas Feiertag: Umstrittene Vorsorgetests. In: „Der Standard“, 20. 8. 2003, 21. Vgl. auch den Beitrag von Klaus Koch/Christian Weymayr: Vom Segen des Nichtwissens. In: „Die Zeit“, 18. 6. 2003, 27 f. 64 Vgl. dazu Leo A. Nefiodow: Der sechste Kontratieff. Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information. 5.A., St. Augustin 2001, 126 ff. Als einer der „Kandidaten“ des sechsten Kontratieff kommt die Gesundheit in Frage (98, 118 ff.). Vorschläge für eine konkrete Anwendung des Konzepts finden sich z. B. bei Joe-Petra Gabauer: Krise oder Quantensprung? Die Renaissance der Ganzheitlichkeit als einzig mögliches Wachstumskonzept. In: Pulsar 2003, H. 5, 14 ff. 65 Homöopathie. Integration des Gesundheitssystems? Enquete der Steiermärkischen Landesregierung, Gesundheitsressort, 12. 3. 1998; der Tagungsbericht wurde von der Österreichischen Gesellschaft für Homöopathische Medizin herausgegeben.



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einer Ganzheitskunde ist dann nicht mehr nur Sache der Gesundheitsberufe, sondern ureigenste Angelegenheit jedes einzelnen Menschen. Die Definition der Weltgesundheitsorganisation für „Gesundheit“ zeigt eine Sichtweise, die ganzheitlichem Denken näher kommt. Sie definiert „Gesundheit“ über sieben Kriterien, nämlich ein stabiles Selbstwertgefühl, ein positives Verhältnis zum eigenen Körper, die Fähigkeit zu Freundschaft und sozialen Beziehungen, eine intakte Umwelt, eine sinnvolle Arbeit und gesunde Arbeitsbedingungen, Gesundheitswissen und Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie eine lebenswerte Gegenwart und die begründete Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft.66 Wenn ich dem kausalen Denken das analoge Denken hinzufüge, und wenn ich den Menschen als Einheit von Körper, Seele und Geist begreife, dann werden die Homöopathie und andere Methoden der Naturheilkunde nicht mehr als Hokuspokus-Medizin abgetan werden und abgetan werden können. Wenn es um Eigenverantwortlichkeit für die Gesundheit und wenn es um die Heilkunde im Sinne einer Ganzheitskunde geht, dann hat dies und muss dies verschiedene Konsequenzen für das Gesundheitssystem haben. Ich nenne zwei: Zum einem geht es um Komplementaritäten und Alternativen, betreffend Methoden und Verfahren und betreffend die Gesundheitsberufe. Den schulmedizinischen Methoden stehen dann naturheilkundliche Methoden/Verfahren und Methoden/Verfahren ganzheitlichen Denkens zur Seite. Und: Heilkunde soll nicht mehr nur dem Arzt vorbehalten sein, sondern soll auch von anderen Berufen ausgeübt werden können. Daraus folgt, dass die bestehenden Arzt- und Ausbildungsvorbehalte des Ärztegesetzes67 und des Ausbildungsvorbehaltsgesetzes68 gelockert 66 Vgl. Nefiodow, Kontratieff, 134. In der WHO sollen Überlegungen im Gange sein, ein 8. Kriterium, nämlich die spirituelle Gesundheit, aufzunehmen (134). Eine weitere, die Ganzheitlichkeit noch stärker zum Ausdruck bringende Definition von Gesundheit ist jene von Abraham Maslow. Sie ist abgedruckt in Nefiodow, Kontratieff, 245 f. 67 Vgl. § 2 des Ärztegesetzes 1998, BGBl. I 1998/169, zuletzt i.d.F. BGBl. I 2002/91. Relevant im gegebenen Zusammenhang ist auch die Wortfolge im § 2 Abs. 2 leg. cit., dass die Ausübung des ärztlichen Berufes jede auf „medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen“ begründete Tätigkeit ist. Ist z. B. die Homöopathie eine auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen begründete Tätigkeit, dann ist sie dem Arzt vorbehalten (und könnte nicht als Hokuspokus-Medizin bezeichnet werden). Ist sie keine solche Tätigkeit, unterliegt sie nicht dem Ärztevorbehalt. Das Gleiche gilt für die Bachblütentherapie. Faktum ist freilich, dass Personen, die mit Bachblüten arbeiten, „gefährlich“ leben. Sie werden mitunter von der Ärztekammer wegen unlauteren Wettbewerbs geklagt. 68 Ausbildungsvorbehaltsgesetz BGBl. 1996/378, zuletzt i.d.F. BGBl. I 2002/30. Fällt die Ausbildung in Naturheilkunde unter die in §  1 Abs.  1 leg. cit. genannten Ausbildungen, insbesondere unter das Ärztegesetz? Letzteres nur dann, wenn die Naturheilkunde eine auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen begründete Tätigkeit ist (und keine Hokuspokus-Medizin). Der EuGH hat judiziert, dass beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts keine seiner Bestimmungen einen Mitgliedsstaat hindere, die Ausübung einer Tätigkeit wie der des Heilpraktikers im Sinne des

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und Ausbildungen sowie Berufsberechtigungen z. B. in Naturheilkunde auch für Nichtärzte/-innen eingeräumt werden müssen. Im Bericht der Europäischen Kommission betreffend „Die soziale Lage in der Europäischen Union“ heißt es in diesem Zusammenhang: „Der Wunsch nach mehr Wahlmöglichkeiten und mehr maßgeschneiderten Dienstleistungen zusammen mit dem Zugang zu einer breiteren Palette ärztlicher Behandlungen einschließlich derjenigen, die jenseits der Grenzen des traditionellen Gesundheitssystems liegen, ist nachweislich weit verbreitet. Daher ist es wichtig, die zugrunde liegenden Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung richtig zu bewerten und diese anzugehen.“69 Dieser Charakterisierung einer künftigen Herausforderung für das deutschen Rechts den Inhabern eines Arztdiploms vorzubehalten (Rs. C-294/00). In seinem Urteil vom 20. 8. 2002 hält der OGH fest, dass es in Österreich untersagt sei, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs die Berufsbezeichnung „Heilpraktiker/in“ zu führen (4 Ob 70/02a). Der OGH hat im genannten Urteil seine Auffassung bestätigt, dass der Einsatz von Testpersonen grundsätzlich nicht gegen die guten Sitten verstößt. Die Ärztekammer für Steiermark als Klägerin hat eine Mitarbeiterin der Kanzlei der Klagevertreter (!) beauftragt, in der Praxis der beklagten Heilpraktikerin als Testperson verdeckt Erhebungen durchzuführen. 69 Vgl. den Bericht (Fn. 62), 19. – Es geht mir nicht um das Entweder/Oder von Schulmedizin und anderen Methoden. Eine bei mir aufgetretene gedeckte Darmperforation musste operativ behandelt werden. Ich war dabei in ausgezeichneten medizinischen Händen. Als ich mich mit dem psychosomatischen Hintergrund dieser Erkrankung beschäftigen wollte, fand ich im Krankenhaus aber keinen Gesprächspartner. Die Lektüre des Buches von Ruediger Dahlke/Robert Hössl: Verdauungsprobleme. Be-Deutung und Chance von Magen- und Darmsymptomen. München 1999, hat mir einige Einsichten über mögliche psychosomatische Hintergründe meines Problems eröffnet. – Der Autor Theodor Much, Facharzt für Hauterkrankungen und Leiter der Hautambulanz im HanuschKrankenhaus in Wien, hat vor Kurzem eine kritische Übersicht alternativmedizinischer Methoden und paramedizinischer Richtungen verfasst, um Patienten/-innen die Möglichkeit zu geben, die verschiedenen Methoden der alternativen Medizin vor dem Hintergrund der modernen wissenschaftlichen Medizin zu bewerten; um der „Unfähigkeit vieler Mitbürger, zwischen Hokuspokusmedizin und seriösen, wissenschaftlich fundierten Therapiemaßnahmen zu unterscheiden“ (18), zu begegnen (Theodor Much: Der veräppelte Patient? Alternativmedizin zwischen [Aber-]Glauben und Wissenschaft. Wien-Klosterneuburg 2003). Dabei will er das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Darüber hinaus anerkennt auch er eine ganzheitliche Sichtweise, die nicht nur organische, sondern auch psychische, mentale, soziale und spirituelle Aspekte berücksichtigt, die den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele betrachtet. Much zieht freilich in seinen Bewertungen der Heilmethoden kaum Konsequenzen aus dieser ganzheitlichen Sichtweise. Im Zentrum seines Wissenschaftsbegriffes steht der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. „Einzelberichte über Therapieerfolge mit neuen Behandlungsmethoden sind nur dann von Wert, wenn die erforderlichen Untersuchungen nach klaren wissenschaftlichen Regeln (randomisierte, placebokontrollierte Doppelblindstudien) durchgeführt wurden und die Ergebnisse von unabhängiger Seite bestätigt werden konnten“ (181 f.). Demgemäß ist für Much die Traditionelle Chinesische Medizin, deren Teilgebiet die Akupunktur ist, auf „philosophisch-religiösen und nicht wissenschaftlichen Grundbegriffen aufgebaut“ (131). Der Homöopathie fehle es an beweisenden Doppelblindstudien (56 ff.). Ich möchte nicht missverstanden werden. Auch mir ist bewusst, dass sich auf dem Gesundheitsmarkt



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Gesundheitssystem ist nichts hinzuzufügen. Zum anderen muss der Arzt-Patienten-Kommunikation mehr Raum und mehr Bedeutung zugemessen werden. Die deutsche Akademie für Integrierte Medizin hat bei einer Tagung im November 200270 darauf hingewiesen, dass Ärzte wichtige Hinweise auf die Ursache einer Erkrankung verpassten, weil sie ihren Patienten zu wenig zuhören würden. Nur 18 Sekunden habe ein Patient bei einem Arztbesuch im Durchschnitt Zeit, bevor er zum ersten Mal unterbrochen und womöglich aus dem Konzept gebracht werde. 70 % der Diagnosen ließen sich durch Zuhören erstellen. Eigenverantwortlichkeit für die Gesundheit heißt, dass ich mich mit mir und meiner Lebenssituation beschäftige. Daraus folgt zwingend, dass ich mich und meine Lebenssituation in das Gespräch mit dem Arzt, der Ärztin einbringen können muss.71 4.3. Anderssein Das Anderssein, das Fremdsein, wird von vielen als Bedrohung empfunden. Dieses Sich-bedroht-Fühlen hat mehrere Hintergründe. So ist die soziale und wirtschaftliche Situation des Menschen ein Einflussfaktor. Bildungsmäßig schlechter gestellte Menschen fühlen sich schneller bedroht. In Zeiten der Sorge um den Arbeitsplatz oder um eine lebenswerte Zukunft steigt das Bedürfnis, andere auszugrenzen, um dadurch mehr Sicherheit zu gewinnen. Und: Je weniger ich meiner Individualität bewusst bin, meine Eigenart als wertvoll empfinde, umso weniger werde ich in der Individualität, in der Eigenart des anderen einen Wert sehen können. Je weniger ich mich für mich selbst verantwortlich fühle, umso schneller ma-

mancherlei tummelt, was inakzeptabel und/oder Nepp ist. Aber nicht alles, was nicht auf Basis des wissenschaftlich-kausalen Weltbildes bewiesen und erklärt werden kann, ist deswegen unwissenschaftlich (ein Begriff, der negativ konnotiert ist). Und: Hat nicht auch die „moderne wissenschaftliche Medizin“ (Theodor Much) ihre Prämissen? Der Verleger Walter Weiss bricht im Vorwort des Buches eine Lanze für den Autor. Dann aber schreibt er: „Primar Dr. Much glaubt an die Wissenschaft – unbedingt“ (13). Ich verwende übrigens nicht den Begriff Alternativmedizin, weil ich die Alternative „Alternativmedizin oder Schulmedizin“ für falsch halte. Der Begriff Komplementärmedizin trifft das, worum es geht, nämlich um eine für die Schulmedizin fruchtbare Ergänzung; um intensive wechselseitige Kommunikation und Kooperation zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin als einzig adäquatem Dienst am Menschen. 70 Vgl. „Frankfurter Rundschau“, 9. 11. 2002, 26. 71 Zu den Verbesserungsmöglichkeiten des ärztlichen Gesprächsverhaltens durch einen Wechsel von einem interrogativen zu einem narrativen Interviewstil vgl. Armin Koerfer/Karl Kohle/Rainer Obliers: Narrative in der Arzt-Patient-Kommunikation. In: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 2 (2000), 87 ff.; vgl. auch Howard B. Beckmann/Richard M. Frankel: The Effect of Physician Behaviour an the Collection of Data. In: Annals of Internal Medicine, 1984, 692 ff.

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che ich andere für meine Sorgen, Probleme und Schwierigkeiten verantwortlich, umso intensiver ist die Suche nach dem „Sündenbock“. Das Gefühl, durch das Anderssein, durch das Fremdsein bedroht zu werden, d. h. in meiner Lebenssituation und Lebensweise beeinträchtigt und in meinem Wertekanon verunsichert zu werden, schlägt sich insbesondere in der Haltung zur Homosexualität sowie zu ethnischen und religiösen Minderheiten nieder. Minderheiten aufgrund sexueller Ausrichtung Aus Art. 13 EG-Vertrag ergibt sich, dass u. a. aus Gründen der sexuellen Ausrichtung nicht diskriminiert werden sollte. Auch verschiedenen Rechten, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährt werden, liegt ein (eingeschränktes) Verbot der Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung zugrunde.72 Dennoch gibt es diese Diskriminierungen. In acht der bisher fünfzehn Mitgliedsstaaten der EU (ferner in zwei Beitrittsstaaten) ist die gesetzliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare durchgeführt. Österreich ist nicht unter diesen Ländern.73 Fünf Anläufe und sechzehn Jahre hat es gebraucht, bis der Verfassungsgerichtshof im Jahr 2002 das Mindestalter für sexuelle Handlungen zwischen männlichen Personen (18 Jahre, alte Fassung des § 209 StGB) als verfassungswidrig aufhob.74 Das Eintrittsrecht eines Lebensgefährten/einer Lebensgefährtin in den Mietvertrag eines Hauptmieters nach dessen Tod gemäß § 14 Mietrechtsgesetz wurde bisher nur in verschiedenge72 Die Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist im gegebenen Zusammenhang die folgende: Der Schutz der Familie in einem traditionellen Sinn ist im Prinzip ein gewichtiger und legitimer Grund, der Unterschiede in der Behandlung von Lebensgemeinschaften rechtfertigen kann. Dabei ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen; vgl. unten Fn. 76. 73 Eine Übersicht betreffend die genannten 8 Staaten enthält das „Thema – betreffend Homo-Ehe“ in: „Der Standard“, 7. 8. 2003, 2. - Betreffend Schritte einer Entdiskriminierung vgl. z. B. für Wien das Wiener Gleichstellungspaket für gleichgeschlechtliche Lebensweisen der Wiener SPÖ vom November 2002. In der Steiermark hat die Landesregierung Folgendes ausgeführt: Es sei unbestritten, dass eine ungerechtfertigte Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität und Orientierung nicht hingenommen werden könne. Von Diskriminierungen seien allerdings sachliche Differenzierungen zu unterscheiden. Solche sachlichen Differenzierungen seien in allen jenen Fällen gerechtfertigt, wo es um die Institution der Ehe gehe und der Gesetzgeber mit der Ehe eine Reihe besonderer Rechte und Pflichten verbinden wolle. Wenn hingegen aufgrund rechtlicher Vorschriften Vergünstigungen für alle Formen des Zusammenlebens gewährt werden, kämen auch homosexuelle Lebensgemeinschaften in den Genuss dieser Vergünstigungen. Die Landesregierung nennt als Beispiele die Wohnbauförderung (mit Ausnahme der wegen der Kinder gewährten Jungfamilienförderung) und die Pflegefreistellung für Landesbedienstete (Beschluss vom 11. 3. 2002, Vorlage an den Steiermärkischen Landtag, 14. GP., 2002, Einl.Zahl 606/2). 74 Vgl. VfSlg. 16.565/2002.



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schlechtlichen Lebenspartnerschaften zugestanden.75 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat vor Kurzem entschieden, dass gleichgeschlechtliche Lebensgefährten/-innen im Mietrecht verschiedengeschlechtlichen gleichzustellen sind.76 48 % der Österreicher befürworten die staatliche Autorisierung einer homosexuellen Partnerschaft.77 Der Durchschnitt in der EU der 15 ist 57 %. Ethnische Minderheiten Aus einer EU-weiten Umfrage der EU-Beobachtungsstelle für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit aus dem Jahre 200078 betreffend Minderheiten ergibt sich folgendes Bild: Bei der Einstellung der Bürger/-innen „aktiv tolerant“ nimmt Österreich mit 20 % den 11. Platz, bei der Einstellung „intolerant“ (12 %) den 8. Platz ein. Der EU-Durchschnitt bei „aktiv tolerant“ beträgt 12 %, bei „intolerant“ 14 %. In Österreich sehen sich 37 % als passiv tolerant (EU-Durchschnitt 39 %) und 30 % als ambivalent (EU-Durchschnitt 25 %). 17 % der EU-Bürger/-innen wollen Moslems ohne Beschränkung in der EU arbeiten lassen (13 % in Österreich), 20 % der EU-Bürger/innen würden Arbeitskräfte aus Osteuropa mit offenen Armen willkommen heißen (12 % in Österreich). Aus der Studie ergibt sich auch, dass in den sozial schlechter gestellten Schichten die Suche nach Sündenböcken stärker geworden ist.79

75 Vgl. z. B. OGH vom 5. 12. 1996, 6 Ob 2325/96x. 76 Im Falle des §  14 des österreichischen Mietrechtsgesetzes (Eintrittsrecht in den Mietvertrag des Hauptmieters) hätte ein Zusammenhang zwischen dem Ausschluss homosexueller Lebensgemeinschaften vom Eintrittsrecht und dem Schutzziel hergestellt werden müssen. Für einen solchen Zusammenhang sah der Gerichtshof jedoch keine Argumente. Er hat daher im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK (Verbot der Benachteiligung) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) angenommen (Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vom 24. 7. 2003, Appl.no 40016/98). – Jüngst hat der Verfassungsgerichtshof eine Beschwerde zweier Beschwerdeführer abgewiesen. Der Beschwerde lag die Abweisung eines Antrages auf Durchführung eines Verfahrens auf Ermittlung der Ehefähigkeit zugrunde. Der Verfassungsgerichtshof begründete die Abweisung der Beschwerde damit, dass weder der Gleichheitssatz noch die EMRK eine Ausdehnung der auf die grundsätzliche Möglichkeit der Elternschaft ausgerichteten Ehe auf Beziehung anderer Art gebiete (VfGH 12. 12. 2003, B 777/03). 77 Vgl. Survey an Homosexuality Across Europe des Institutes EOS-GALLUP Europe vom Jänner 2003. 78 Eva Thalhammer u. a.: Attitudes towards minority groups in the European Union. Wien 2001. 79 Doris Kraus bewertet das Ergebnis der Studie für Österreicher wie folgt: Österreicher/-innen seien gegenüber Minderheiten und Zuwanderern nicht mehr oder weniger intolerant als andere EUBürger/-innen. „Die bei weitem größte Zahl von Österreichern hält sich allerdings am liebsten von Minderheiten fern und mit ihrer Meinung zu dem Thema zurück.“ (Akzeptanz für multikulturelle Gesellschaft steigt EU-weit, in: „Die Presse“, 21. 3. 2001.)

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Interessant ist auch eine Studie zu „Deutschen Zuständen“. 71 % der Deutschen sind der Meinung, Muslime sollten hierzulande nicht nach ihren eigenen Glaubensgesetzen leben, für 53 % sind Moscheen ein Zeichen dafür, dass der Islam seine Macht vergrößern wolle, 46 % halten es für eher oder vollends schlimm, dass Frauen Kopftücher trügen. Aus dem Bericht ergibt sich, dass sich die Ablehnung des Islam durch alle Bildungsschichten zieht.80 Eine Untersuchung über die soziale Lage der zweiten Generation von Einwanderern in Österreich zeigt eine alarmierende Situation. Bei den zwei größten Herkunftsgruppen, nämlich Einwanderern aus Ex-Jugoslawien und der Türkei, handelt es sich nicht um eine kleine Subgruppe, die von Benachteiligung betroffen ist, sondern es ist von einer mehrheitlichen Benachteiligung auszugehen. Diese Benachteiligung ist in Bildungsinstitutionen und auf dem Arbeitsmarkt so stark ausgeprägt, dass die Studie von ethnischer Segmentierung spricht. Der Sachverhalt wiegt umso schwerer, als es weder eine erfolgreiche Elite noch eine Mittelschicht in diesen Gruppen gibt, die als Vorbilder für Jugendliche wirken könnten.81 Bereits im Jahre 1990 stellten Repräsentanten des Artikel-VII-Kulturvereins für Steiermark beim Bundeskanzleramt den Antrag, einen Volksgruppenbeirat für die Slowenische Volksgruppe in der Steiermark einzurichten oder Vertreter der Slowenischen Volksgruppe der Steiermark in den bestehenden Volksgruppenbeirat für die Slowenische Volksgruppe einzubeziehen. Im April 199682 stellte die Fraktion des Liberalen Forums, unterstützt von der Fraktion der Grünen, im Steiermärkischen Landtag den Antrag, der Landtag wolle beschließen, die Steiermärkische Landesregierung aufzufordern, an die Bundesregierung mit dem Ersuchen heranzutreten, die Verordnung betreffend die Einrichtung von Volksgruppenbeiräten dahin gehend zu ändern, dass im Beirat für die Slowenische Volksgruppe zwei Vertreter der steirischen Slowenen mit Sitz und Stimme aufgenommen werden. Alle diese Bemühungen führten lange Jahre zu keinem Ergebnis. Immer wieder wurden insbesondere seitens der Steiermärkischen Landesregierung negative Stellungnahmen abgegeben, die im Wesentlichen damit begründet wurden, dass es in der Steiermark keine Slowenische Volksgruppe gebe. Der genannte Antrag hat zur Einsetzung eines Unterausschusses des Verfassungsausschusses des Landtages geführt, der in mehreren Sitzungen, dies auch unter Beiziehung von Experten/-innen und Angehörigen der Volksgruppe, den 80 Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge I, Frankfurt am Main 2002; Folge II, Frankfurt am Main 2004. Vgl. auch den Bericht von Jochen Bittner: Deutschland: Wo jeder sich vor jedem fürchtet. In: „Die Zeit“, 7. 11. 2002, 10 f. 81 Barbara Herzog-Punzenberger: Die „2. Generation“ an zweiter Stelle? Soziale Mobilität und ethnische Segmentation in Österreich – eine Bestandsaufnahme. Wien 2003. 82 Steiermärkischer Landtag, 13. GP., 1996, Einl.Zahl 130/1.



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Antrag beriet. Der Unterausschuss führte auch Informationsveranstaltungen vor Ort durch, nämlich in der Gemeinde Soboth, in der Gemeinde Bad RadkersburgUmgebung und für die Gemeinden Glanz und Schloßberg in Glanz. Der Antrag wurde dem oft praktizierten Pingpongspiel zwischen Landtag und Landesregierung unterworfen: Beschluss des betreffenden Ausschusses des Landtages, den Antrag der Landesregierung zur Vorbereitung zuzuweisen; Vorlage eines Berichtes der Landesregierung zum betreffenden Antrag; Beschluss des Landtages, den Bericht zu genehmigen bzw. zur Kenntnis zu nehmen. Im konkreten Fall gab es nur einen Zwischenbericht mit dem Hinweis, dass es noch keine eindeutige Grundlage zur Beurteilung der anstehenden Frage gebe.83 Außerdem ist die Vorlage mit dem Zwischenbericht keinem Beschluss des Landtages zugeführt worden. 2003 ist – indirekt – ein Erfolg erzielt worden. Mit Bescheid der Bundesregierung vom 16. 12. 2003, adressiert an den Art VII-Kulturverein für Steiermark, ist eine von diesem Verein vorgeschlagene Person als Mitglied des Volksgruppenbeirates für die Slowenische Volksgruppe bestellt worden.84 Artikel 7 Z 3 des Staatsvertrages von Wien bestimmt, dass in den Verwaltungsund Gerichtsbezirken Kärntens, des Burgenlandes und der Steiermark mit slowenischer, kroatischer oder gemischter Bevölkerung die Bezeichnungen und Aufschriften topografischer Natur sowohl in slowenischer oder kroatischer Sprache wie in Deutsch verfasst werden müssen. In Ausführung dieser Verfassungsbestimmung setzte § 2 Abs. 1 Z 2 des Volksgruppengesetzes (BGBl. 1976/396) für die Gebietsteile, in denen topografische Bezeichnungen zweisprachig anzubringen sind, einen Mindestanteil der Volksgruppe von einem Viertel fest. Der Verfassungsgerichtshof hat die betreffende Wortfolge im Zusammenhang mit dem Mindestanteil als verfassungswidrig aufgehoben85 und spricht von 10 % Mindestanteil der Volksgruppe. Die dadurch notwendig gewordene Ausweitung der zweisprachigen Beschilderung ist in Kärnten bis heute nicht umgesetzt.86 Auch sind die aufgehobenen Bestimmungen nicht ersetzt worden.

83 Vorlage der Landesregierung an den Landtag, 13. GP., 1997, Einl.Zahl 130/6. 84 Der in Betracht kommenden Landesregierung steht gemäß § 4 Abs. 1 Volksgruppengesetz 1976 ein Anhörungsrecht zu. Wie dieses Anhörungsrecht von der Steiermärkischen Landesregierung im konkreten Fall ausgeübt wurde, konnte nicht eruiert werden. 85 VfSlg. 16.404/2001. Aufgehoben wurde auch eine Wortfolge in der Verordnung betreffend topografische Bezeichnungen, BGBl. 1977/306. 86 Zur Umsetzung der diesbezüglichen Bestimmungen des Art. 7 des Staatsvertrages von Wien sowie zur Umsetzung des genannten Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vgl. den vom Rat der Kärntner Slowenen erarbeiteten Vorschlag der Kärntner Slowenen zur Regelung der zweisprachigen Topografie in Kärnten, erhältlich beim Österreichischen Volksgruppenzentrum in Wien. – Vollständig umgesetzt war nicht einmal die Viertelregelung.

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In einer im „Format“87 abgedruckten Befragung des OGM-Marktforschungsinstituts wurde nach der Sinnhaftigkeit von Regelungen für Ortstafeln gefragt. 51 % der Bevölkerung (52 % der Opinion-Leader!) halten zweisprachige Ortstafeln ab 25 %, 18 % der Bevölkerung (36 % der Opinion-Leader) zweisprachige Ortstafeln ab 10 % Volksgruppenanteil für sinnvoll. Österreich befindet sich mitunter an vorderer Front, wenn es um den internationalen Schutz nationaler Minderheiten geht. Diesbezügliche Konventionen werden schnell unterschrieben. Die Ratifizierung erfolgt – wenn überhaupt – dann oft später. Außerdem werden solche Konventionen in der Regel nur mit Erfüllungsvorbehalt genehmigt, sodass sie in Österreich nicht unmittelbar anwendbar sind. Das am 1. 2. 1995 für die Mitgliedsstaaten des Europarates zur Unterzeichnung aufgelegte Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten wurde von Österreich bereits am selben Tag unterzeichnet. Die Ratifizierung erfolgte freilich erst drei Jahre später.88 Ähnliches gilt für die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen aus 1992. Sie wurde am 5. 11. 1992 von Österreich unterzeichnet. Die Ratifizierung erfolgte erst 2001.89 Das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO über Eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern aus 1989 (in Kraft getreten 1991) ist von Österreich nicht ratifiziert worden. Diesbezügliche Vorstöße im Parlament blieben bis dato erfolglos.90 Religiöse Minderheiten Von Beginn der Menschheit an ist dokumentiert, dass den Menschen eine für sein Leben zentrale Frage beschäftigt, nämlich: Wer bin ich, woher komme ich und wohin gehe ich? Bei Beschäftigung mit dieser Frage stößt der Mensch auch auf seine spirituelle Dimension, auf eine sein Selbst einschließende Transzendenz, auf ein Göttliches. Die Beschäftigung mit meiner spirituellen Dimension bedarf der Freiheit der Person. Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist daher ein zentrales Freiheitsrecht. Es ist nur folgerichtig, wenn die klassische Grundrechtstheorie 87 Nr. 3/02, 7. 88 Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten samt Erklärung, BGBl. 111 1998/120. Die Genehmigung des Nationalrates erfolgte überdies durch einen Erfüllungsvorbehalt, der zur Folge hat, dass das Rahmenübereinkommen in Österreich nicht unmittelbar anwendbar ist. 89 Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen samt Erklärungen, BGBl. III 2001/216. Die Genehmigung auch dieses Staatsvertrages erfolgte mit Erfüllungsvorbehalt. Die Charta ist daher in Österreich nicht unmittelbar anwendbar. 90 Vgl. den Bericht des Außenpolitischen Ausschusses des Nationalrates, 517 BlgNR 21.GP.



3.10. Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftliches Prinzip

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in diesem Recht den Ursprung und die Urmotivation für die Grund- und Menschenrechtskataloge der Gegenwart gesehen hat. Spiritualität und Religiosität werden aber nicht mehr nur oder primär in den „traditionellen“, „herkömmlichen“, „großen“, „etablierten“ Religionen und Konfessionen gelebt, wobei zu beachten ist, dass es Kulturkreise wie z. B. Asien gibt, wo das Christentum eine (kleine) Minderheitsreligion ist oder in denen – bei uns mitunter als Sekten apostrophierte – religiöse Gemeinschaften von der Zahl ihrer Anhänger her „große“ Religionen sind. Spiritualität und Religiosität werden heute auch und zunehmend in Gemeinschaften außerhalb des religiösen Mainstreams, in „Psycho-Gruppen“, der New-Age-Szene, esoterischen Bewegungen, „Sekten“ etc. oder ohne festere Bindung zu einer religiösen Gemeinschaft gelebt. Es liegt auf der Hand, dass insbesondere Gesellschaften, in denen eine „traditionelle“ Religion fest verwurzelt ist oder in denen eine Religion als „die“ Mehrheitsreligion angesehen wird, durch die vorhin geschilderte Entwicklung irritiert sind und irritiert werden. So kommt es nicht von ungefähr, dass z. B. Anti-Sektenbewegungen in „katholischen“ oder „christlichen“ Ländern heftiger sind oder dass in den USA mit ihrer Vielfalt an Religionen und Konfessionen die „SektenHysterie“ weniger Blüten treibt als in Europa. Auf der Hand liegt aber auch, dass Irritationen dadurch, dass Spiritualität und Religiosität nicht mehr nur oder primär in einer „Mainstream“-Religion oder -Konfession gelebt werden, das fundamentale Recht gefährden können, seine eigene Spiritualität und Religiosität zu leben, sich mit seiner Spiritualität und Religiosität einer frei gewählten religiösen Gemeinschaft anzuschließen, ferner auch – davon abgeleitet – Rechte der religiösen Gemeinschaft als Gemeinschaft gefährden können. Ein Land, in dem dieses fundamentale Recht beeinträchtigt ist, ist (leider) Österreich. Das österreichische Religionsrecht91 schafft drei Klassen von religiösen Gemeinschaften – nämlich die gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften, die staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften und Religionsgemeinschaften, denen dieser eine oder andere Rechtsstatus nicht zukommt. Der Rechtsstatus einer gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft ist ein privilegierter. Mit den beiden anderen Status sind – abgestuft – weniger Rechte verbunden. Das Bekenntnisgemeinschaftengesetz (BGBl. I 1998/19) ist in seinem § 11, der zusätzliche Voraussetzungen für eine Anerkennung nach dem Anerkennungsgesetz normiert, ein Anerkennungsverhinderungsgesetz. Ich halte die Bestimmung (wie auch andere des Bekenntnisgemeinschaftengesetzes) für verfassungswidrig.92 91 Vgl. nunmehr umfassend Herbert Kalb/Richard Potz/Brigitte Schinkele: Religionsrecht. Wien 2003. 92 Vgl. Christian Brünner: Christengemeinschaft und Zeugen Jehovas – Religionsgemeinschaften zwei-

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Das Bundesgesetz über die Einrichtung einer Dokumentations- und Infor­ mationsstelle für Sektenfragen (BGBl. I 1998/150) errichtet eine Bundesstelle für Sektenfragen. Deren Aufgabe ist es, Gefährdungen, die von Sekten oder von sektenähnlichen Aktivitäten ausgehen können, zu dokumentieren und darüber zu informieren. Die Arbeit der Bundesstelle – so die Erläuternden Bemerkungen93 soll sich auf die Aufklärung von Gefährdungen erstrecken, die die Schwelle strafbarer Handlungen nicht oder noch nicht erreicht haben, ohne dass diese Gefährdung in einem förmlichen Verfahren festgestellt werden muss. Das Gesetz findet auf gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften und ihre Einrichtungen keine Anwendung (§ 1 Abs. 2 leg. cit.). Bezieht sich das Gesetz auch auf eingetragene Bekenntnisgemeinschaften, die diesen Status nur erreichen, wenn von ihnen keine Gefährdungen ausgehen, ist das Bundesgesetz betreffend eine Bundesstelle für Sektenfragen entweder verfassungswidrig oder muss im Sinne verfassungskonformer Interpretation so interpretiert werden, dass es auch auf eingetragene Bekenntnisgemeinschaften und deren Einrichtungen keine Anwendung findet.94 Staatliche Information betreffend „Sekten“95 treibt besondere „Blüten“, dies in mehrfacher Hinsicht. Die Staatlichkeit der Information, die verschiedenen rechtlichen Bindungen und Konsequenzen unterliegt, wird verschleiert, sei es durch Beauftragung und Subventionierung kirchlicher oder sonstiger privater „Sekten“Beratungsstellen,96 sei es, dass man den Sachverhalt zu kaschieren versucht, dass eine bestimmte Information eindeutig einem Staatsorgan zugeschrieben werden muss.97 Die Bewertungen von Religionsgemeinschaften in staatlicher Sekteninforter Klasse! in: Bernd-Christian Funk u.  a. (Hg.): Der Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 70. Geburtstag. Wien 2002, 61 ff. 93 RV 1158 BlgNR 20.GP., 12. 94 Zur (rechtlichen) Problematik weiterer Bestimmungen des genannten Gesetzes vgl. Brünner, Christengemeinschaft. 95 Vgl. zum Komplex Sekten und Religionsfreiheit insbesondere Heinz Mayer (Hg.): Staat und „Sekten“ – Staatliche Information und Rechtschutz. Wien 2001; ferner Christian Brünner: „Sekten“ im Schussfeld von Staat und Gesellschaft: Ein Angriff auf Religionsfreiheit und Religionspluralismus (in Druck in der Reihe Colloquium). 96 Ein Beispiel ist eine in Oberösterreich produzierte CD-ROM, die Informationen über religiöse und weltanschauliche Gruppierungen und Strömungen enthält. Sie wurde in „Kooperation“ zwischen der Oberösterreichischen Landesregierung und dem Leiter der Sektenberatungsstelle der Diözese Linz produziert. Kritisch zu dieser CD-ROM Brünner, „Sekten“. Oder: Das Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz und die Stadt Wien fördern den privaten Verein „Gesellschaft gegen Sekten- und Kultgefahren“, dies ohne dass die Grundrechtsbindung, der der Staat unterliegt, in den Förderungsverträgen auf den Förderungsnehmer übertragen werden würde. 97 Ein diesbezügliches Beispiel ist die von zwei Grazer Polizeibeamten herausgegebene Broschüre „Sekten. Okkultismus. Satanismus“ (2.A., 20(11), in deren Vorwort die beiden Beamten bemerken,



3.10. Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftliches Prinzip

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mation wie z. B. in der genannten CD-ROM oder genannten Polizei-Broschüre erfolgt über weite Strecken – wenn nicht überhaupt „freihändig“ – auf der Basis einseitig ausgewählter Literatur oder aufgrund von (unüberprüfbaren) Aussagen von Informanten, wie Familienangehörigen oder „Aussteigern“. Manche Bewertungen in der Polizeibroschüre können vor dem Hintergrund von Faktenlagen, die von unabhängigen Institutionen erhoben worden sind,98 nur als haarsträubende Verunglimpfungen angesehen werden. Um nicht missverstanden zu werden, möchte ich Folgendes festhalten: Auch ich lehne den (oft tödlichen) Fanatismus von Sektenführern, die manchmal feststellbare rechtsextreme, faschistische Unterwanderung esoterischer Bewegungen, die ökonomische Ausbeutung von Menschen unter religiösem oder welchem Vorwand auch immer, das Zerbrechen von Individualität und Personalität unter religiösen oder welchen Vorzeichen auch immer, das Abhängigmachen des Menschen in psychischer, emotionaler, geistiger Hinsicht in religiösen oder in welchen Gemeinschaften auch immer ab. Ich lehne es aber auch ab, jede (minderheits-) religiöse Gemeinschaft, die nicht der Mainstream-Religion oder -Konfession entspricht, als „Sekte“ zu verunglimpfen und unter dem Deckmantel der Sektenbekämpfung das fundamentale Recht, die eigene Spiritualität und Religiosität allein oder in Gemeinschaft mit anderen zu leben, einzuschränken. Im Jahre 2001 hat „Der Standard“ in einem Barometer „Selbständiges Österreich“ die Meinung betreffend verschiedene Lebensbereiche und Politikaspekte (z. B. Förderung des Individuums, Wirtschaftspolitik, Arbeitsmarkt, Unternehmertum, Politik) zu erheben versucht. Claudia Wandl vom Gallup-Institut resümiert das Ergebnis der Studie wie folgt: „Die Teilnehmer am Standard-Barometer wollen mit großer Mehrheit eine liberale Bürgergesellschaft mit Eigenverantwortung, aber auch mit sozialem Gewissen.“ Das Prinzip der Eigenverantwortung ziehe sich wie ein roter Faden durch das Barometer.99 Das Standard-Barometer war keine Repräsentativumfrage. Das sich wie ein roter Faden durch das Barometer ziehende Prinzip der Eigenverantwortung ist daher dass die Broschüre nicht von der Bundespolizeidirektion Graz herausgegeben werde. Im Impressum scheinen als Herausgeber, Verleger und Medieninhaber der Broschüre die zwei Polizeibeamten auf. Als c/o Adresse wird die „ExekutivVerlags GmbH“ mit dem Sitz in Graz genannt. 98 Betreffend die Gruppe Osho (SOS-Broschüre, 63  ff.) vgl. das Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts, 1BvR670/91 vom 26.  6.  2002, betreffend die MUN-Bewegung (SOS-Broschüre, 71 ff.) vgl. Human Rights without Frontiers (Brüssel): The Federation of Families for World Peace/ Belgium. Founded by Rev. Moon. A harmful sectarian organisation? Judge for yourself! (Die Internetadresse dieser NGO lautet: http://www.hrwf.org) und für die Gemeinschaft „The Family“ (SOSBroschüre, 77) Human Rights without Frontiers: The Family (formerly Children of God). Problem cult or harmless Christian fellowship? Judge for yourself! Newsletter Mai 2000. 99 Robert Zwickelsdorfer: Liberal mit sozialem Gewissen. In: „Der Standard“, 23. 10. 2001.

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nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Dieser Sachverhalt schmälert aber nicht seine auch gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Die Realität ist eine komplexe. Mögen die von mir aufgezeigten Sachverhalte, die teilweise auf referierten empirischen Untersuchungen basieren, mitunter auch verkürzt erscheinen; mögen die Blickwinkel, unter denen diese Sachverhalte von mir betrachtet werden, auch anders eingestellt werden können, so zeigen die Sachverhalte vor dem Hintergrund meines Bewertungsschemas doch eines – und dies erscheint wie ein roter Faden – : Die privaten, gesellschaftlichen und politischen Räume dafür, dass Individualität, Eigenart und Eigenverantwortlichkeit gelebt werden können, sind mitunter eng. Sie müssen erweitert werden, sollen die Appelle nach mehr Eigenverantwortlichkeit mehr sein als schönes Gerede.



3.11. Rechtliche-politische Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften

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3.11. Christian Brünner, Rechtlich-politische Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften

in: Ozankom/Udeani (Hrsg.), Globalisierung – Kulturen – Religionen, Amsterdam/New York 2006, 183–202

I. Kampf der Kulturen? Als Jurist und Politologe möchte ich in einer Diskussion über die Grundlagen und die Perspektiven des Zusammenlebens in einer multireligiösen und multikulturellen Welt den Blick auf die rechtlichen Voraussetzungen lenken. Da das Recht immer Endprodukt gesellschaftlich-politischer Diskussion-, Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse ist, müssen dabei zwangsläufig auch gesellschaftlich-politische Aspekte betrachtet werden.1 Nach Wegfall des Ost-West-Konflikts als eines ideologischen Konflikts bietet Samuel P. Huntington in seinem „Kampf der Kulturen“2 ein neues Erklärungsmodell für die Weltordnung. Es basiert auf sieben Kulturkreisen, die durch historische Nähe, gemeinsame Wertesysteme, Lebensweisen und Weltbilder sowie entsprechende gesellschaftliche und politische Denkweisen geprägt sind. Ein zentrales Element von Kultur ist für Huntington die Religion.3 Konflikte mit weltweiten Gefährdungspotenzialen entstehen nach Huntington an den Grenzen, an den Bruchlinien der Kulturkreise. Dem Konfliktfeld „fremde Kultur“ stellt Huntington aber auch einen „konstruktiven“ Weg gegenüber. „Der konstruktive Weg in einer multikulturellen Welt“, so Huntington, bestehe darin, „auf Universalismus zu verzichten, Verschiedenheit zu akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten zu suchen“.4

1 Schriftliche Fassung des Statements. Die essayistische Vortragsform wurde beibehalten. Für die Mithilfe bei der Erstellung des Anmerkungsapparates bedanke ich mich bei Frau Mag. Alexandra Haynes und Frau Dr. Edith Walter. 2 S. P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Siedler Taschenbuch 75506, 8. Aufl., München/Wien 1998. 3 Ebd. 93: „In der modernen Welt ist Religion eine zentrale, vielleicht sogar die zentrale Kraft, welche die Menschen motiviert und mobilisiert“; vgl. auch 81. 4 Ebd., 526.

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Ich möchte im Folgenden rechtlich-politische Voraussetzungen einer multireligiösen Gesellschaft nennen. Wenn ich von einer solchen Gesellschaft spreche, erhebt sich zwangsläufig die Frage, ob ich mit den Voraussetzungen einen universalistischen Anspruch erhebe. Ich kann im gegebenen Zusammenhang keine der Frage gerecht werdende Antwort geben. Ich halte lediglich fest, dass ich dem Universalismus und universalistischen Ansprüchen mit großer Skepsis begegne, denn diesbezügliche seinsmäßige Analysen sind oftmals abstrakt, normative Erwägungen oftmals autoritär. Wenn ich einen Aspekt als universell sein sollend postuliere, dann die mit dem Menschsein untrennbar verbundene Menschenwürde und das aus dieser Menschenwürde fließende „Recht“, sein Leben entsprechend seiner Individualität und seinen individuellen Bedürfnissen und Vorstellungen leben und gestalten zu dürfen. Die oft behauptete und/oder postulierte universelle Geltung der Menschenrechte steht aber bereits auf weichem Boden. So kann nicht einmal in jenen Ländern, die dem Regime der Europäischen Menschenrechtskonvention unterliegen, ein gleicher Grad der Religionsfreiheit festgestellt werden, wenn ich z. B. die unterschiedliche Rechtssituation des Tragens eines Kopftuchs in den Ländern Frankreich, Baden-Württemberg und Österreich vergleiche, wie später ausgeführt. Die rechtlich-politischen Voraussetzungen für multireligiöse Gesellschaften, die ich kurz ansprechen möchte, sind die grundrechtliche Sicherung der Religionsfreiheit, die Prinzipien der religiösen Neutralität und der Säkularität des Staates, die Anerkennung von Pluralismus und Relativismus als Eckpfeiler der öffentlichen Ordnung und die Anerkennung der Eigenart und der Individualität des Menschen als Lebensprinzip.

II. „Wegweiser“ eines „konstruktiven“ Weges 1. Die grundrechtliche Sicherung der Religionsfreiheit Von Beginn der Menschheit an ist durch Zeugnisse dokumentiert, dass jeden Menschen eine für sein Leben zentrale Frage – mehr oder minder intensiv, bewusster oder weniger bewusst – beschäftigt, nämlich: Wer bin ich, woher komme ich und wohin gehe ich? Wie immer Antworten auf diese zentrale Frage ausfallen mögen, sie haben ihre Wurzeln darin, dass der Mensch sich als einmalige, unwiederholbare Person, aber auch als Teil eines – transzendental zu begreifenden – Ganzen versteht, sich mit seinem Selbst, seiner Welt, seiner Transzendenz auseinandersetzt, seine Dimensionen Körper, Seele und Geist als eine Ganzheit zu erfahren sucht, sein Bewusstsein um seine (Lebens-)Aufgabe entwickelt. Mit anderen Worten, Spiritualität – der Brennpunkt dieser zentralen Frage – ist in ihrem Ursprung ein personales Phänomen. Sie wird aber auch in Gemeinschaft gelebt,



3.11. Rechtliche-politische Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften

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was zu Religion- und Konfessionsgründungen und zum Entstehen religiöser Gemeinschaften geführt hat und führt. Weil die spirituelle Dimension ein personales Phänomen ist und der Freiheit der Person bedarf, ist die Gedanken-, Gewissens-, Weltanschauungs-, Glaubensund/oder Religionsfreiheit – die Unterschiedlichkeit der Terminologie spielt im Grundsätzlichen keine Rolle – eine fundamentales, zentrales Freiheitsrecht. Es ist daher nur folgerichtig, wenn die klassische Grundrechtstheorie in diesem Recht den Ursprung und die Urmotivation für die Grund- und Menschenrechtskataloge der Gegenwart gesehen hat. Die grundrechtliche Sicherung der Religionsfreiheit ist eine unter mehreren wesentlichen Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften. Im österreichischen bzw. europäischen Kontext möchte ich Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nennen, eine Bestimmung, die die Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit gewährleistet. Art. 9 Abs. 1 EMRK umschreibt diese Freiheit dergestalt, dass jedermann Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat; dieses Recht umfasst die Freiheit des Einzelnen zum Wechsel der Religion und der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist freilich nicht absolut gewährleistet. Sie steht unter dem Gesetzesvorbehalt des Art. 9 Abs. 2 EMRK. Demnach darf sie gesetzlich beschränkt werden durch in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen, die im Interesse bestimmter Schutzgüter – der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer – notwendig sind. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer ordre public-Klausel des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts. Es liegt auf der Hand, dass Umfang und Inhalt der Religionsfreiheit – ich beschränke mich auf diesen Aspekt des Art. 9 EMRK – mit zwei Sachverhalten korreliert: Wie wird der Begriff „Religion“ und wie werden die Schutzgüter, die die Beschränkung der Religionsfreiheit rechtfertigen, d. h., wie wird die ordre publicKlausel interpretiert? Eine extensive Interpretation des Begriffs „Religion“ und die restriktive Interpretation der ordre public-Klausel erweiterten das Grundrecht, die restriktive Interpretation des Begriffs „Religion“ und die extensive Interpretation der ordre public-Klausel schränkten das Grundrecht ein. Es stellen sich im Zusammenhang mit dem Begriff „Religion“ einige Fragen. Sind von diesem Begriff nur sekundäre oder Offenbarungsreligionen, das sind Religionen, die gestiftet worden sind, umfasst oder auch primäre oder Naturreli-

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gionen, die vor dem Hintergrund der Lebenswelt und Lebenserfahrung der Menschen in Weisheit und in Verantwortung formulierte Regeln für ein harmonisches Zusammenleben in der Gemeinschaft lehren? Sind von diesem Begriff nur monotheistische oder auch monistische und polytheistische Religionen erfasst? Was ist mit inklusivistischen Religionen oder mit Patchwork-Religionen, mit Religionen also, für die verschiedene Elemente aus verschiedenen Religionen zusammengetragen werden? Sind vom Begriff „Religion“ auch die Religionsgemeinschaften erfasst, die als „Sekten“5 bezeichnet werden?6 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann abgeleitet werden, dass dem Begriff „Religion“ in Art. 9 EMRK ein weiter Bedeutungsgehalt zuzumessen ist. So heißt es in einer Entscheidung aus 1996 wie folgt: „Das Recht auf Religionsfreiheit, wie es nach der Konvention gewährt ist, schließt jegliches Ermessen des Staates aus, zu bestimmen, ob religiöse Anschauungen oder die Mittel für den Ausdruck solcher Anschauungen berechtigt sind.“7 Auch wenn demnach der Begriff „Religion“ weit zu interpretieren ist, bedarf es letztlich einer definitorischen Vorstellung, was unter „Religion“ zu verstehen ist, ein Umstand, der einerseits erforderlich ist, um Art. 9 EMRK nicht zu einer Leerformel verkommen zu lassen, andererseits aber per se zu einer „Einschränkung“ der durch Art. 9 EMRK geschützten Freiheit führt. 5 Vgl. dazu C. Brünner, „Sekten“ im Schussfeld von Staat und Gesellschaft. Ein Angriff auf Religionsfreiheit und Religionspluralismus, Wien 2004. 6 In der Erfahrungswelt des Menschen spielt im Großen und Ganzen nur „seine“ Religion eine Rolle, er sieht sehr oft diese „seine“ Religion von anderen Religionen, darunter insbesondere den sogenannten „neuen Religionen“ gefährdet. Dass die Zahl der auf der Welt praktizierten Religionen unüberschaubar ist, davon hat der Mensch in der Regel keine Ahnung. – Eine Einführung in die Vielfalt der Religionen bietet z. B. H. Kling, Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg. München 1999, Sonderausgabe 2001. Kling unterscheidet auf dem Globus drei große „Stromsysteme“, nämlich Religionen indischer Herkunft (indisch-mystische Religionen), Religionen chinesischer Herkunft (chinesisch-weisheitliche Religionen) und Religionen nahöstlicher Herkunft (semitisch-prophetische Religionen). Dazu kämen noch die Stammesreligionen. Vgl. ferner A. Grabner-Haider/K. Prenner (Hg.), Religionen und Kulturen der Erde. Ein Handbuch. Darmstadt 2004. Eine kurze Charakterisierung zahlreicher Religionen findet sich auch bei A. Wilson (Ed.), World Scripture. A Comparative Anthology of Sacred Texts. St. Paul/Minnesota 1991, 1  ff. Im Bewusstsein vieler Menschen, im öffentlichen Bewusstsein und in ideologischen Diskursen stehen oft die Unterschiede im Mittelpunkt der Betrachtung, nicht so sehr die Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen. Letzteren geht Küng in seiner Spurensuche nach. In der von Wilson herausgegebenen Anthologie stehen ebenfalls die Gemeinsamkeiten der Religionen im Mittelpunkt. Sie werden dergestalt dargestellt, dass zu den einzelnen Fragestellungen von Religionen, wie z. B. Gott, Sünde, Erlösung und Heil etc., die entsprechenden Passagen aus den jeweiligen Heiligen Büchern in der Form einer Synopse dargestellt werden. Der Leser kann sich selbst davon überzeugen, wie groß in der Regel Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen sind. 7 EGMR vom 26. 2. 1996, 59/1995/565/691, in ÖJZ 1997/9.



3.11. Rechtliche-politische Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften

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Probleme bereitet auch – wie bereits gesagt – die Definition der Begriffe, mit denen die Schutzgüter in der ordre public-Klausel des Art. 9 Abs. 2 EMRK umschrieben sind. Je nach Standort des Interpreten sind unterschiedliche Auslegungshypothesen möglich. Dies zeigt sich nicht nur im nationalen Kontext, sondern auch im transnationalen Vergleich. Frankreich, Deutschland und Österreich sind Vertragsstaaten der EMRK. Diese ist – jedenfalls über Art. 6 des EU-Vertrages – für diese drei Staaten bindendes Recht. Dennoch kommen die drei Staaten bei der rechtlichen Bewertung des Tragens religiöser Zeichen im öffentlichen Raum zu unterschiedlichen Ergebnissen. Frankreich untersagte den Schülerinnen und Schülern in den Schulen, den Realschulen und öffentlichen Gymnasien das Tragen von Zeichen oder Bekleidung, mit denen die Schüler offenkundig (ostentativ) die religiöse Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen.8 Das diesbezügliche Gesetz ist mit Beginn des Schuljahres 2004/05 in Kraft getreten.9 Gemäß § 38 Abs. 2 des Schulgesetzes für Baden-Württemberg10 dürfen Lehrkräfte an öffentlichen Scshulen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. Ausgenommen von diesem Verbot ist u. a. die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte. Darunter könnte z. B. das Tragen des Habits christlicher Orden fallen.11 In Österreich waren die Fälle von türkischen Schülerinnen an der Handelsakademie in Traun und an einer Linzer Hauptschule Auslöser einer breiten öffentlichen Debatte über das Tragen eines Kopftuches in der Schule. So verbot die Direktorin der Hauptschule einem Mädchen nämlich unter Berufung auf das in der Hausordnung verankerte Verbot, eine Kopfbedeckung zu tragen, das Tragen eines Kopftuchs. Der Vater des Mädchens beschwerte sich daraufhin und bekam vom 8 Französische Nationalversammlung, Gesetz vom 10. 2. 2004, 12. GP. 9 Mittlerweile gibt es bereits einige Schulverweise und Hunderte von Streitfällen. Einige Sikhs, die seit Beginn des Schuljahres nicht am Unterricht teilnehmen dürfen, weil sie einen Turban (in einer diskreten Form) getragen haben, haben vor einem Pariser Verwaltungsgericht Klage eingereicht, das die Angelegenheit zur mediativen Bereinigung an Schule und Schuler zurückverwiesen hat. Vgl. Schülerinnen vom Unterricht ausgeschlossen, http://www.spiegel.de/unispiegel/schule/0,1518,324168,00. html, Stand: 29. 12. 2005; C. Wyatt, French Court Rules an Sikh Boys, http://newsvote.bbc.co.uk/2/ hi/europe/3943733.stm, Stand: 29.  12.  2005. R. Smonig, Schulverweis für Verschleierte, in: „Die Presse“ vom 30. 10. 2004, 16. 10 Schulgesetz für Baden-Württemberg vom 1. 8. 1983, GBl S 397, idgF. 11 Nach einem Urteil des deutschen Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 24. 6. 2004, 2 C 45.03) trifft das Verbot jedoch alle Konfessionen und Weltanschauungen gleichermaßen.

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Landesschulrat recht.12 In einem Schreiben betreffend das Tragen von Kopftüchern von Schülerinnen mit islamischem Glaubensbekenntnis teilte das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur verschiedenen Einrichtungen der Schulverwaltung Folgendes mit: „Das Tragen von Kopftüchern durch muslimische Mädchen (bzw. Frauen) fällt als religiös begründete Bekleidungsvorschrift unter den Schutz des Art. 14 Abs. 1 des Staatsgrundgesetzes 1867 bzw. des Art. 9 der MRK. Das Schulunterrichtsgesetz hingegen kennt keine, diese im Verfassungsrang stehende Norm einschränkende Bekleidungsvorschrift. Eine Einschränkung religiöser Gebote steht außer-kirchlichen Stellen nicht zu. Daher wäre auch ein allfälliger Beschluss des Schulgemeinschaftsausschusses bzw. des Schulforums, welcher das Tragen von Kopftüchern durch muslimische Mädchen im Unterricht per Hausordnung bzw. durch eine Verhaltensvereinbarung verbietet, rechtswidrig. Auf § 63a Abs. 17 bzw § 64 Abs. 16 SchUG wird hingewiesen.“13 Mittlerweile liegen zum Kopftuchverbot auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vor. Im älteren Fall, der bereits 2001 vor der Kammer II des Europäischen Gerichtshofs verhandelt wurde, geht es um die Beschwerde einer Primarschullehrerin gegen die Schweiz.14 Die Lehrerin an einer Primarschule im Kanton Genf war 1991 vom katholischen Glauben zum Islam übergetreten und hatte etwa zur selben Zeit damit begonnen, auch im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Im Jahr 1996 ordnete die zuständige Schulbehörde an, dass sie das Kopftuch im Unterricht nicht mehr tragen dürfe, weil dies im Widerspruch mit den geltenden Schulgesetzen wäre. Der Gerichtshof hielt das ausgesprochene Kopftuchverbot für mit Art. 9 EMRK vereinbar. Das Verbot beziehe sich nämlich ausschließlich auf die Lehrtätigkeit an der Schule und sei in Anbetracht des Grundsatzes der konfessionellen Neutralität der Schule in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Ähnliche Erwägung stellte der Gerichtshof einer Entscheidung der Kammer IV und nachfolgend der Großen Kammer in einem Fall gegen die Türkei an. Der Entscheidung liegt eine Beschwerde einer Studentin der Universität Istanbul zugrunde. Sie erachtete das Verbot, am Universitätsgelände ein Kopftuch zu tragen, als mit Art. 9 EMRK in Widerspruch stehend. Der Gerichtshof qualifizierte das Verbot wie folgt: Es stellt einen Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit dar. Der Eingriff war „gesetzlich“, nämlich in der ständigen Rechtsprechung des türkischen

12 Vgl. die Berichte von S. Winkler, Entscheidet ein Tuch, wer gut oder böse ist?, in: „Kleine Zeitung“ vom 18. 2. 2004, 2 f., und ders., Kein Kopftuch-Verbot an Schulen, in: „Kleine Zeitung“ vom 18. 5. 2004, 4 f. 13 Schreiben vom 23. 6. 2004, Zl 20.251/3411/3/2004. 14 EGMR, Second Section, Case of Lucia Dahlab v Switzerland, Appl no 42393/98 vom 13. 2. 2001.



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Verfassungsgerichts, vorgesehen. Die Maßnahme verfolgte in erster Linie das legitime Ziel des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der Rechte und Freiheiten anderer. Und: Der Eingriff war in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. In demokratischen Gesellschaften, in denen mehrere Religionen nebeneinander bestünden, so der Gerichtshof, könnten Beschränkungen der Freiheit der Religionsausübung erforderlich sein, um die Interessen der verschiedenen Gruppen zu berücksichtigen und sicherzustellen, dass der Glaube jedes Einzelnen respektiert werde. Der Eingriff beruhe insbesondere auf den einander bestärkenden und ergänzenden Grundsätzen des Säkularismus und der Gleichberechtigung.15 Wenn es um den normativen Bedeutungsgehalt von Art. 9 EMRK geht, ist darauf hinzuweisen, dass bei dessen Ermittlung – wie bei allen Grundrechten, die unter Gesetzesvorbehalt stehen – eine Güterabwägung vorzunehmen ist. Abzuwägen sind das in den Schutzgütern des Art. 9 Abs. 2 EMRK zum Ausdruck kommende öffentliche Interesse und die Verkürzung der Grundrechtsposition, die durch den dem öffentlichen Interesse dienenden Eingriff erfolgen soll. Die Güterabwägung macht eine Wertung und Bewertung der involvierten Schutzgüter, das ist die Religion einerseits, und das sind die im öffentlichen Interesse liegenden Schutzgüter andererseits, erforderlich. So hat der Verfassungsgerichtshof ein landesgesetzliches Verbot des rituellen Schächtens dem Grundrecht der Religionsfreiheit als widersprechend angesehen,16 weil er das Schutzgut „Religion“ höher bewertete als das im öffentlichen Interesse liegende Schutzgut „Tierschutz“.17 Art. 9 EMRK garantiert die positive und die negative Religionsfreiheit. Die positive Religionsfreiheit besteht – vereinfacht ausgedrückt – darin, sich religiös betätigen zu dürfen. Die negative Religionsfreiheit ist die Freiheit von Religion, d. h. z. B., dass der Grundrechtsträger nicht zur Teilnahme an religiösen Handlungen gezwungen werden darf, ferner auch, dass er das Recht hat, seine religiöse Überzeugung zu verschweigen oder aus einer Religionsgemeinschaft unbehindert auszutreten. Komplexe Sachverhalte im Kontext negativer Religionsfreiheit sind

15 Vgl. EGMR, Fourth Section, Case of Leyla Sahin v Turkey, Appl no 44774/98 vom 29. 6. 2004; http://www.sbg.ac.at/oim/docs/04 3/04_3 12, Stand 30. 9. 2004; EGMR, Grand Chamber, Case of Leyla Sakin v Turkey, Appl no 44774/98 vom 10. 11. 2005 16 Vgl. VfGH 17. 12. 1998, B 3028/1997, in JBl 1999, 453. 17 §  32 Abs.  5 des neuen Tierschutzgesetzes (BGBl. I 118/2004) erlaubt rituelle Schlachtungen ohne vorausgehende Betäubung der Schlachttiere, wenn dies aufgrund zwingender religiöser Gebote oder Verbote notwendig ist und eine behördliche Bewilligung, deren Erteilung an verschiedene Voraussetzungen gebunden ist, vorliegt. Rituelle Schlachtungen sind freilich nur gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften vorbehalten, nicht aber Bekenntnisgemeinschaften, eine Differenzierung, die ich wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und Art. 9 EMRK für verfassungswidrig halte.

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3. Wissenschaft

Kreuze in den Klassenzimmern18 und Kreuze in einem Landtag.19 Anzumerken ist, dass Art. 9 EMRK nicht nur ein Freiheitsrecht ist, sondern – wie alle Grundrechte – eine Gewährleistungspflicht zum Inhalt hat. Diese Gewährleistungspflicht besteht – wieder vereinfacht ausgedrückt – darin, dass der Staat jene Vorkehrungen treffen muss, damit Religionsfreiheit gelebt werden kann. Bei diesen Vorkehrungen geht es auch um solche, die interpersonal und interkorporativ, also zwischen den einzelnen Menschen und zwischen den Religionsgemeinschaften, die Religionsfreiheit sichern helfen. 2. Prinzipien der religiösen Neutralität und der Säkularität des Staates Das Prinzip der religiösen Neutralität des Staates besagt, dass es dem Staat verboten ist, sich mit einer bestimmten Kirche, Religionsgemeinschaft oder Religion zu identifizieren. Gemäß dem Prinzip der Säkularität des Staates sind der Staatszweck und die daraus abgeleiteten Staatsziele und Staatsaufgaben ausschließlich weltlichirdische. Beide Prinzipien sind Bestandteil der österreichischen Verfassungsrechtsordnung.20

18 Vgl. dazu T. Mayer-Maly, Das Kreuz in österreichischen Schulzimmern, JRP 1995, 219; H. Mayer, Das Schulkreuz und die Grundrechte, JRP 1995, 222; G. Strejcek, Grundrechtsdogmatische und rechtspolitische Gedanken zum Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes, JRP 1995, 228; H. Kalb/R. Potz/B. Schinkele: Religionsrecht, Wien 2003, 372 ff. Zur vergleichbaren Problematik in Deutschland siehe u. a. BVerfG B 16. 5. 1995, 1 BvR 1087/91, in NJW 1995, 2477; BVerwG 21. 4. 1999, 6 C 18.98. Zur vergleichbaren Problematik in Italien siehe u. a. Thomas Götz, Kruzifix-Streit – Gericht in Italien verfügte: Das Kreuz muss weg!, in: „Kleine Zeitung“ vom 27. 10. 2003, 4; „Kruzifix-Streit“ bringt Italiener in Rage, in: „Der Standard“ vom 27. 10. 2003; Kruzifix-Streit geht weiter, in: „Kleine Zeitung“ vom 28. 10. 2003, 6; Papst verteidigt Kreuz, in: „Kleine Zeitung“ vom 30. 10. 2003, 7; Kruzifixurteil aufgehoben, in: „Kleine Zeitung“ vom 1. 11. 2003, 8. 19 Für Aufregung sorgte beispielsweise im Jahr 2003 das vom ehemaligen St. Pöltner Bischof Kurt Krenn dem Niederösterreichischen Landtag geschenkte Kreuz samt Christusfigur. Die Grünen und die SPÖ waren gegen, die ÖVP und FPÖ für die Anbringung des Kruzifixes im Landtag. Nach den Regeln der Landtagsgeschäftsordnung war der Landtagspräsident Freibauer (ÖVP) darüber allein entscheidungsbefugt. Der Landtagspräsident entschied sich für einen Kompromiss, indem er das vom ehemaligen Bischof Kurt Krenn geschenkte Kreuz in der Landhauskapelle anbringen ließ und ein zweites (eher schlichteres) Holzkreuz für den Tagungsraum vorsah. Hierfür hagelte es schließlich wiederum heftige Kritik seitens der Grünen und der SPÖ. Vgl. dazu u. a. Irene Brickner, Zwist um Krenns Kreuz, in: „Der Standard“ vom 25.  11.  2003, 10; „Noch niemand beschwert“, in: „Profil“ Nr. 48 vom 24.  11.  2003, 12; Ein zweites Kreuz im St. Pöltner Landtag, in: „Der Standard“ vom 6./7./8. 12. 2003; Die Kreuzritter von St. Pölten, in: „Der Standard“ vom 20./21. 12. 2003, 31. 20 Vgl. zu diesen Prinzipien insb. H. Ortner: Religion und Staat – Säkularität und religiöse Neutralität, Wien 2000.



3.11. Rechtliche-politische Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften

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Herbert Kalb, Richard Potz und Brigitte Schinkele führen aus, dass sich das Gebot der konfessionellen und weltanschaulichen Neutralität des Staates in Österreich in zwei Ausprägungen verwirkliche, nämlich in einer distanzierenden Form und in einer Religion und Weltanschauung hereinnehmenden Form.21 Die distanzierende Neutralität gebiete, dass der Staat in den Kernbereichen hoheitlicher Staatsfunktion ohne Ansehung der Religion oder Weltanschauung tätig werde, d.  h., der staatlich-hoheitliche Bereich muss religiös und weltanschaulich neutral gestaltet werden, es kommt in diesem Bereich zur Ausgrenzung der Religion. Die hereinnehmende Neutralität komme im kulturund leistungsstaatlichen Aufgabenspektrum des Staates (Bildung, Erziehung und Schule, sozialkaritativer Bereich) zum Tragen, d. h., der Staat habe die Eigengesetzlichkeit des religiösen Lebens zu respektieren und nicht auszugrenzen. Bei dieser Form geht es somit um die Hereinnahme der Religion in den gesellschaftlich-öffentlichen Raum außerhalb des staatlich-hoheitlichen Bereichs. Stellt man dem Neutralitätsgebot in seiner distanzierenden und in seiner hereinnehmenden Form die Rechts- und die Sachlage gegenüber, so zeigen sich Widersprüche. Ich möchte zwei erörtern. Staatliche Informationen betreffend Religionen bzw. religiöse und weltanschauliche Gruppierungen werden der sogenannten schlichten Hoheitsverwaltung zugeordnet. Dabei handelt es sich um ein Verwaltungshandeln, das nicht in der durch bestimmte Rechtsakte konstituierten Hoheitsverwaltung, sondern lediglich im Zusammenhang mit dieser Hoheitsverwaltung erfolgt. Im Sinne der distanzierenden Form der Neutralität muss der Bereich religiös und weltanschaulich neutral gestaltet werden. Das Bundesgesetz über die Einrichtung einer Dokumentations- und Informationsstelle für Sektenfragen (Bundesstelle für Sektenfragen)22 widerspricht diesem Gebot. Zweck des Gesetzes ist die Einrichtung einer Stelle, deren Aufgabe es ist, Gefährdungen,23 die von Sekten oder von sektenähnlichen Aktivitäten ausgehen können, zu dokumentieren und darüber zu informieren (§ 1 Abs. 1). Die Gefährdungen sind in § 4 Abs. 1 des Gesetzes näher umschrieben. Gemäß § 1 Abs. 2 findet das Gesetz auf gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften und ihre Einrichtungen keine Anwendung. Vom Gesetz nicht ausgenommen sind freilich die auf der Basis des Bundesgesetzes über die Rechtspersönlichkeit von

21 Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (FN 17), 42 f., 16 f. 22 BGBl. I 1998/150. 23 Festzuhalten ist, dass das Gesetz kein rechtsstaatliches Verfahren vorsieht, in dem die Gefährlichkeit festgestellt wird.

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3. Wissenschaft

religiösen Bekenntnisgemeinschaften24 staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften. Die Eintragung setzt voraus, dass von diesen Religionsgemeinschaften keine Gefährdungen im Sinne des § 5 Abs. 1 des Gesetzes ausgehen. Das Bundesgesetz betreffend die Bundesstelle für Sektenfragen differenziert somit zwischen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften und staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften und unterwirft die beiden Typen von Religionsgemeinschaften unterschiedlichen Regelungen. Das Gesetz verletzt sowohl das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates als auch den Gleichheitssatz.25 Gleiches gilt für eine vom Bundespressedienst des Bundeskanzleramtes herausgegebene Broschüre „Religionen in Österreich“,26 die auch in englischer und in französischer Sprache erschienen ist. Die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften durften sich in dieser Broschüre selbst darstellen, die staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften nicht. Im Hinblick auf die hereinnehmende Form der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates bereitet das korporative Religionsrecht gravierende Probleme. Es schafft drei Klassen von Religionsgemeinschaften, nämlich die Klasse der gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften, die Klasse der staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften und die Klasse jener Religionsgemeinschaften, die weder den einen noch den anderen Status haben.27 Der Unterschied zwischen den Klassen besteht insbesondere in den Rechtsfolgen, die mit der Zugehörigkeit einer Religionsgemeinschaft zu einer bestimmten Klasse verbunden sind. Überblickt man das relevante Rechtsmaterial, zeigen sich Privilegierungen für den Typus „gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaften“ und umgekehrt Diskriminierungen für den Typus „staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft“. So genießt z. B. der erste Typus verschiedene Steuerbefreiungen, erhält ein bestimmtes Ausmaß freier Sendezeit im öffentlichen Fernsehen und Radio, darf in Schulen Religionsunterricht erteilen, genießt Ausnahmen im Fremdenrecht, darf Seelsorger in öffentliche Einrichtungen entsenden, darf die inneren Angelegenheiten selbst verwalten etc. Angesichts der Heterogenität der Religionsgemeinschaften, die diese beiden Typen bilden, im Allgemeinen sowie der Heterogenität der gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften im Besonderen lassen sich kaum

24 BGBl. I 1998/19. 25 Vgl. C. Brünner, Sekten. 26 Religionen in Österreich, herausgegeben vom Bundespressedienst, Wien 2004. 27 Mitunter sind sie auf Basis des Vereinsrechtes organisiert oder haben überhaupt keinen korporativrechtlichen Status.



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sachlich rechtfertigbare Gründe für die Differenzierung finden. So hat z. B. die Koptisch-orthodoxe Kirche mit rund 1.600 Mitgliedern den Privilegiertenstatus, die Zeugen Jehovas mit ca. 23.000 Mitgliedern den Diskriminiertenstatus. Geht man davon aus, dass die Hereinnahme von Religion in den gesellschaftlich-öffentlichen Bereich (außerhalb des staatlich-hoheitlichen Bereichs) nicht dem Neutralitätsgebot widersprechen darf, muss die Hereinnahme religiös und weltanschaulich neutral erfolgen. Wenn es um die Hereinnahme von Religion in den gesellschaftlich-öffentlichen Raum geht, ist somit der Religionspluralismus zu beachten und zu achten. Wird er missachtet bzw. werden bestimmte Religionsgemeinschaften bevorzugt, führt dies zwangsläufig zu gesellschaftlicher Diskriminierung bestimmter Religionsgemeinschaften, die über Rückkoppelungen bei der Rechtsanwendung, z. B. wenn es um Wertungen geht, auch zu einer bestimmte Religionsgemeinschaften bevorzugenden und bestimmte Religionsgemeinschaften benachteiligenden Rechtsanwendung führt.28, 29 Problematisch ist auch die undifferenzierte Verwendung des Begriffes „Sekte“, weil mit dem Begriff ein negativer Bedeutungsgehalt verbunden ist. Aus diesem Grund lehnte die Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des deutschen Bundestages in ihrem Endbericht die Verwendung des Begriffes „Sekte“ ab.30 In einer an die Bundesregierung gerichteten Empfehlung der NGO Human Rights without Frontiers International, Brüssel, wird angeregt, das Wort „Sekte“ nicht mehr zu verwenden, weil durch diese Terminologie Diskriminierung und Intoleranz erzeugt werden; das Wort solle durch „religiöse Minderheiten“ oder „Gruppe religiöser, esoterischer oder spiritueller Natur“ oder „neue religiöse Bewegungen“ ersetzt werden.31 Mitunter wird das Christentum als europäische Leitkultur, als zentraler Aspekt europäischer Identität etc. apostrophiert. Ich halte eine solche Denkweise für gefährlich, weil sie der Boden ist, auf dem Menschenrechte und Grundfreiheiten eingeschränkt werden, die Horizonte enger werden, das Anderssein als Bedrohung dargestellt werden kann. Das heißt nicht, dass unsere Gesellschaft keine Werte brauchte. Es bedarf jedoch des rechtlich gesicherten Schutzes, meine Werte und 28 Anmerken möchte ich, dass das korporative Religionsrecht nicht vom Grundrecht auf Religionsfreiheit abgekoppelt werden kann, oder anders formuliert, die an das Korporationsrecht geknüpfte Privilegierung bzw. Diskriminierung verletzt auch das Grundrecht auf Religionsfreiheit. 29 Zur korporationsrechtlichen Diskriminierung in Österreich vgl. auch die Broschüre „Religionsfreiheit. Intoleranz. Diskriminierung in der Europäischen Union. Österreich 2003–2004“, herausgegeben von Human Rights without Frontiers International, Brüssel 2004. 30 BT Drucksache 13/10950. Zum Sektenbegriff vgl. C. Brünner, Sekten, 58 ff. 31 Vgl. „Religionsfreiheit. Intoleranz. Diskriminierung in der Europäischen Union. Österreich 2003– 2004“, 32.

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3. Wissenschaft

Überzeugungen zu leben, auch dann, wenn sie nicht dem Mainstream folgen. Robert Spaemann hat diesen Aspekt auf den Punkt gebracht: „Das künftige Europa wird nur dann eine Rechtsgemeinschaft sein können, wenn es Gemeinschaften mit gemeinsamen Wertschätzungen ermöglicht und schützt, selbst aber darauf verzichtet, eine Wertegemeinschaft zu sein.“32 Anmerken möchte ich, dass man Geister, die man ruft, mitunter nicht loswird. Wer nämlich das christliche Europa beschwört und ideologisch überhöht, darf sich nicht wundern, wenn ideologisch überhöht zurückgeschlagen wird und Politiker/-innen wegen ihrer Überzeugungen und Werte bestraft werden (wie die Auseinandersetzungen um Rocco Buttiglione als EU-Kommissar gezeigt haben), obwohl es eine Selbstverständlichkeit sein müsste, dass auch Überzeugungen und Werte von Politikern/Politikerinnen unter dem Schutz des Rechtes stehen. Freilich muss klar sein, dass die in (verfassungs-)rechtlichen Verfahren zustande gekommene Ablehnung von mit Überzeugungen und Werten verbundenen politischen Implikationen zulässig sein muss. Die Verfassung des Landes Baden-Württemberg aus 195333 „dekretiert“ das Christentum als europäische Leitkultur. Art. 12 Abs. 1 der Verfassung bestimmt, dass die Jugend in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe etc. zu erziehen ist. Art. 12 Abs. 2 nennt als verantwortliche Träger der Erziehung u. a. die Religionsgemeinschaften. Sind demgemäß nicht christliche Religionsgemeinschaften keine verantwortlichen Träger der Erziehung? Gemäß § 16 Abs. 1 der Verfassung werden in den christlichen Gemeinschaftsschulen (das sind die öffentlichen Volksschulen – Grund- und Hauptschulen – gemäß Art. 15 Abs. 1 der Verfassung) die Kinder auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen. Unter Berufung auf diese Verfassungsbestimmungen nimmt das Schulgesetz für Baden-Württemberg die Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte vom Verbot aus, in der Schule politische, religiöse, weltanschauliche oder ähnliche äußeren Bekundungen abzugeben, die u. a. geeignet sind, den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören, wie bereits oben ausgeführt worden ist. Ich halte solche Apostrophierungen bzw. eine solche Positivierung für unvereinbar mit der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staats und dem Recht auf Religionsfreiheit. Festhalten möchte ich, dass das Neutralitätsgebot des Staates keine Ein­ bahnstraße ist. Die Gegenfahrbahn ist die Absage an jegliche Inbesitznahme des 32 R. Spaemann, Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? http://www.modernpolitics.at/de/zeit_schritt/9/europa.htm, Stand 7. 6. 2004. 33 Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. 11. 1953, GBl. S. 173, idgF.



3.11. Rechtliche-politische Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften

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Staates durch eine Religion, an alle theokratischen Staatsvorstellungen. Dies ist gerade im Dialog mit Religionen wie insbesondere dem Islam zu betonen, in deren Einflussbereich theokratische Staatsvorstellungen verwirklicht sind. 3. Pluralismus und Relativismus als Eckpfeiler der öffentlichen Ordnung Pluralismus und Relativismus sind Grundwerte der Aufklärung. Sie prägen sowohl den Staat als auch die Gesellschaft. Es gibt eine Vielzahl an gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen, politischen Parteien und Verbänden; zwischen den gesellschaftlichen Gruppen besteht Durchlässigkeit; mit keiner Gruppe sind politische Privilegien verbunden; gesellschaftliche Gruppen und Organisationen können sich – unter Berufung auf Grundrechte – frei bilden; es gibt eine Vielzahl von religiösen, moralischen oder politischen Anschauungen, Werten und Wertungen; eine Vielzahl von Interessen etc. Pluralismus bedeutet für mich Vielfalt von Werten und Interessen und damit Vielfalt diesbezüglicher Träger. Er bejaht Werte und Interessen und damit auch, dass sie von ihrem jeweiligen Träger mit Überzeugung, ja mit Vehemenz in die Debatte eingebracht werden. Er hat nichts mit Teilnahmslosigkeit oder Beliebigkeit zu tun, im Gegenteil, er verlangt nach Aktivität in der Verfolgung des je eigenen Wertes bzw. Interesses. Der Relativismus ist für mich nichts Oberflächliches und Unverantwortliches, der alle Werte und Maßstäbe „vergleichgültigt“, er hat nichts mit „billiger Toleranz“, mit einem Alles-gelten-lassen-Wollen, mit einem „anything goes“, mit einem falsch verstandenen Liberalismus, wo man die Wahrheitsfrage bagatellisiert oder gar nicht mehr zu stellen wagt – alles Charakterisierungen jenes Relativismus, den Hans Küng als christlicher Theologe von sich weist34 –, zu tun. Relativismus bedeutet für mich das Wissen um die Stückhaftigkeit des Erkennens, um das nur silhouettenhafte Erahnen, um die Bipolarität des irdischen Daseins und daher um das nur momenthaft mögliche Erspüren von Ganzheit. Verabsolutierungen von Werten, von Wahrheiten lassen keine multireligiöse Gesellschaft zu. Die Absage an die Inanspruchnahme absoluter Wahrheit ist daher für mich eine Voraussetzung einer solchen Gesellschaft. Die Absage gilt jedenfalls für den Staat und die gesellschaftlich-politischen Diskussions-, Willensbildungsund Entscheidungsprozesse. Was gilt jedoch für den interpersonalen, interreligiösen Dialog? Dialog setzt voraus, dass die Dialogpartner einander gleichwertig gegenüberstehen, dass der Di34 H. Küng: Zum Dialog, in: Hans Küng und J. van Ess, Christentum und Weltreligionen. Islam, 6. Aufl., München, 1908, 2003, 15 f.

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alog einen offenen „Ausgang“ hat, d. h., dass die Dialogpartner bereit sind, auch vom jeweils anderen zu lernen – Voraussetzungen, die dann nicht gegeben sind, wenn ich mich im Besitz absoluter Wahrheit weiß und auf dieser Basis den Dialog führe.35 Daraus ist nicht zu folgern, dass ich das Überzeugtsein von Etwas, das Wissen um eine Identität ablehne. Ich kann und muss – von einer Metaebene aus betrachtet – auch akzeptieren, dass es insbesondere unter Berufung auf eine Transzendenz, auf Dogmen und Lehren einander ausschließende Wahrheitsansprüche gibt. Ich meine lediglich, dass auf der Dialogebene der Anspruch, im Besitz absoluter Wahrheit zu sein, den Dialog behindert, wenn nicht unmöglich macht. Gerade das Herausarbeiten der Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen von Religionen im Glauben,36 in der Lehre und im Ritus einerseits und das Herausarbeiten der Unterschiede auf der Basis des wechselseitig gleichen Respekts vor dem Anderssein andererseits, sind für mich die beste Basis eines fruchtbringenden interreligiösen Dialogs. Hans Küng hat vor Kurzem eine Darstellung des Islam vorgelegt.37 Küng fordert vom Islam in der Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Kulturen „pragmatische“ Veränderungen. Erscheint dann der Wahrheitsanspruch des Islam als aufgegeben? Küng geht dieser Frage – leider – nicht in allen Facetten nach. Faktum ist, dass nicht jede Religion mit anderen Religionen gleich umgeht. Anton Grabner-Haider und Karl Prenner meinen zu beobachten, „dass monistische bzw. inklusivistisch ausgerichtete Religionen unverkrampfter mit aus ihrem religionskulturellen Milieu stammenden neuen Religionen umgehen, als dies bei den monotheistischen Religionen der Fall ist“.38 Und es kommt nicht von ungefähr, wenn behauptet wird, dass monotheistische Religionen aufgrund ihres Glaubens an den einen, einzigen Gott konstitutiv intoleranter und autoritätsfixierter sind.39 Betreffend den interreligiösen Dialog möchte ich Folgendes anmerken. Es erscheint mir unerlässlich, in den Dialog auch Agnostiker, Atheisten, sogenannte „Konfessionslose“ einzubeziehen. Dies gebietet der Respekt vor deren Entscheidung und die Notwendigkeit der Einbeziehung aller „Glaubensrichtungen“ in den interreligiösen Dialog. 35 Ebd., 16: „Wir brauchen einen Dialog in gegenseitigem Geben und Nehmen ...“ „... wir brauchen einen Dialog in gegenseitiger Verantwortung und im Bewusstsein, dass wir alle die Wahrheit nicht ,fertig‘ besitzen, sondern auf dem Weg sind zur ,je größeren‘ Wahrheit.“ 36 Eine hervorragende Analyse der Gemeinschaft in zahlreichen Heiligen Schriften hat Andrew Wilson vorgelegt; vgl. A. Wilson (Ed.), World Scripture. 37 H. Küng, Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München 2004. 38 Grabner-Haider/Prenner, Religionen, 295. 39 Vgl. zur diesbezüglichen Diskussion z. B. J. Manemann, Monotheismus unter Beschuss. Religionskritik in der „Berliner Republik“, in Herder-Korrespondenz 8/2003, 407 ff.



3.11. Rechtliche-politische Voraussetzungen multireligiöser Gesellschaften

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Und noch eine Anmerkung sei gestattet. Ein demokratisches politisches System verlangt nach mündigen, kritikfähigen, zu politischer Partizipation fähigen und bereiten Bürgerinnen und Bürgern.40 Obrigkeitshörige, unkritische, blind-gehorsame Bürger/-innen führen dazu, dass die Demokratie bestenfalls eine formale ist. Akzeptiert man diesen Zusammenhang, sind der Hierarchie-, Dogmen- und Lehrgläubigkeit Grenzen gesetzt. Art. 2 1. Zusatzprotokoll EMRK garantiert das Elternrecht. Demnach haben Eltern das Recht, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Der oben geschilderte Sachverhalt setzt auch dem Elternrecht Grenzen. Immer häufiger meint der Staat, Bürger/-innen fürsorgend bevormunden zu müssen. Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang von „Thera­ peutokratie“.41 Demonstrationsbeispiele in diesem Zusammenhang sind staatliche Warnungen vor „Sekten“ oder vor naturheilkundlichen Methoden. Eine der Lehren, die Mariano Delgado aus dem Experiment multikulturellen Zusammenlebens im spanischen Mittelalter zieht, lautet: „Das Schicksal der religiös-kulturellen Minderheiten im islamischen und christlichen Spanien ist nicht zuletzt ein Beweis dafür, dass die abrahamische Konvivenz unter der gesellschaftlich-politischen Vorherrschaft eines der drei Monotheismen auf die Dauer nicht möglich ist. Dies kann nur dort glücken, wo der Staat auf der Grundlage einer gemeinsamen ,civil religion‘ steht und die Religionsgemeinschaften überlagert werden durch das, was wir heute ,rechtsstaatliche Verhältnisse‘ nennen.“42 Die Sätze gelten uneingeschränkt auch für das heutige Zusammenleben von Religionen. 4. Anerkennung der Eigenart und der Individualität des Menschen als Lebensprinzip Bei diesem Lebensprinzip geht es darum, dass es Aufgabe jedes Menschen ist, seine Eigenart, seine Individualität zu erkennen, zu entwickeln und danach zu leben. Urbilder vom Lebensweg des Menschen, wie Geburt, Tod, Leid, Glück etc., verkörpern grundlegende Bedürfnisse des Menschen, z. B. nach Geborgenheit, nach Liebe, nach Selbstverwirklichung. Den Bedürfnissen liegen Anlagen zugrunde, und die Befriedigung der Bedürfnisse kann nur erfolgen, wenn entsprechende Fä40 § 2 Schulorganisationsgesetz lässt diesen Sachverhalt erkennen, wenn es in § 2 Abs. 1 u. a. heißt: Die jungen Menschen „sollen zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken“. 41 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, Frankfurt/M 1981, 533 f. 42 Vgl. M. Delgado in diesem Band.

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3. Wissenschaft

higkeiten entwickelt werden. Dabei geht es darum, seine eigenen, „natürlichen“ Anlagen zu entwickeln und sich nicht in das Korsett von Maßstäben, Normen und Idealen pressen zu lassen. Ferner geht es darum, alle seine Anlagen zu einer Ganzheit zusammenzuführen. Religion kann auch als Weg zu dieser Einmaligkeit, zu dieser Ganzheit begriffen werden, in dem sie dem inkarnierten Menschen hilft, sich aller seiner Anlagen, auch seiner spirituellen, bewusst zu werden. Mit dem Wissen um meine Eigenart und meine Individualität ist die Eigenverantwortlichkeit untrennbar verbunden. Wird das genannte Lebensprinzip und damit die Eigenverantwortlichkeit anerkannt, ergeben sich daraus auch gesellschaftspolitische Konsequenzen. Felder, auf denen diesbezüglich Konsequenzen sichtbar gemacht werden können, sind die politische Partizipation, die Gesundheitsvorsorge oder der Umgang mit dem Anderssein, mit dem Fremdsein. Auf letzterem Feld geht es insbesondere darum, dass eine offene Haltung gegenüber Minderheiten, darunter auch gegenüber religiösen Minderheiten, eingenommen wird.43

43 Vgl. dazu C. Brünner, Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftspolitisches Prinzip, in: H. Kopetz (Hg.): Soziokultureller Wandel in Verfassungsstaat, FS für W. Mantl, Wien/Köln/Graz 2004, Band I, 489 ff.



3.12. Zu erwartende Veränderungen im Bereich der Justiz

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3.12. Christian Brünner, Zu erwartende Veränderungen im Bereich der Justiz betreffend New Public Management, Haushaltsrecht und Budget1 (Auszug)

in: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), RichterInnen-Woche – Innsbruck 24.–28. 4. 2006, Wien/Graz 2007, 55–76

Vorbemerkung Anhand nachvollziehbarer, gegenwärtiger Sachverhalte skizziere ich mögliche Zukunftsszenarien im Hinblick auf die Herausforderungen für die Justiz. Dabei konzentriere ich mich im Großen und im Ganzen auf Trends, die aus diesen nachvollziehbaren, gegenwärtigen Sachverhalten abgeleitet werden können. Entsprechend dem mir gestellten Thema, nämlich mit welchen Veränderungen die Justiz in der Zukunft in den Bereichen New Public Management, Haushaltsrecht und Justizbudget konfrontiert sein könnte, geht es in meinen Ausführungen weniger um die zukünftige inhaltliche Palette justizieller Aufgaben – anzusprechen sind freilich Trends der Ausgliederung und Privatisierung –, sondern im Vordergrund stehen strukturelle Rahmenbedingungen für die Justiz und bei der Erfüllung der Aufgaben der Justiz. Unter dem Begriff „Justiz“ verstehe ich die Bereiche Gerichtsbarkeit, Staatsanwaltschaft, Justizverwaltung und Strafvollzug. Im Mittelpunkt der strukturellen Rahmenbedingungen steht insbesondere der Modus der Steuerung des Systems.

1. Das Staatsverständnis kann – bis weit ins 20. Jahrhundert – pointierend wie folgt umschrieben werden: Der Staat ist im Großen und im Ganzen alleiniger Garant für legitime Herrschaft. Charakteristika dieser legitimen Herrschaft sind insbesondere:

1 Für Materialrecherchen danke ich herzlich Frau Andrea Lauer, Frau Sabine Schert sowie Frau Dr. Edith Walter. Letzterer überdies für die Erstellung des Anmerkungsapparates.

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3. Wissenschaft

• •

ein ausgeprägtes Institutionengefüge in Staat und Gesellschaft; ein am Gemeinwohl und an (moralisch unterlegten) Verhaltenskodices orientiertes Staatspersonal; • demokratisch legitimierte staatliche Willensbildung und Entscheidungsfindung; • (zwangsweise) Durchsetzung staatlicher Entscheidungen; • Herrschaft des Rechtes; • Grundrechte als Begrenzung staatlicher Herrschaftsausübung; • die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit durch das Gewaltmonopol des Staates, durch eine funktionierende Gerichtsbarkeit sowie durch der zivilen Gewalt unterworfene effektive Polizei- und militärische Gewalt; • die Obsorge für ein (gutes) Leben der Bürger/-innen, indem der Staat hauptverantwortlich für die Erfüllung diesbezüglicher Aufgaben – von Gewährleistung der (Voll-)Beschäftigung und sozialer Absicherung über Bildungs- und Gesundheitsleistungen sowie Umweltschutz bis zur Pflege von Kultur – ist. Diesem – traditionellen – Staatsverständnis entspricht ein hierarchischer, hoheitlicher Steuerungsmodus2.

2. Das unter 1. pointierend skizzierte Staatsverständnis ist in den letzten fünfundzwanzig Jahren erodiert, und es erodiert weiterhin. Die Erosion betrifft alle vorhin aufgezählten Charakteristika staatlicher Herrschaft. Sie trägt die Etikette „mehr privat, weniger Staat“. Die Folge ist eine begrenzte Staatlichkeit, d. h. ein Staat, in dem die genannten Merkmale staatlicher Herrschaft zurückgedrängt bzw. ausgedünnt werden, eine „Qualität“ der Begrenzung, die mit den vom politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts erstrittenen Beschränkungen staatlicher Herrschaftsausübung wie Rechtsstaatlichkeit, Kontrolle, Grundrechte etc. nicht verglichen werden kann.

2 Zu den verschiedenen Steuerungsmodi vgl. bereits Christian Brünner, Wozu Universitätsreform? in: Christian Brünner/Wolfgang Mantl/Alfred J. Noll/Werner Pleschberger (Hrsg.), Kultur der Demokratie, Festschrift für Manfred Welan zum 65. Geburtstag, Böhlau Wien/Köln/Graz 2002, 353 (355). Siehe dazu auch Wolfgang Hoffmann-Riem, Governance im Gewährleistungsstaat. Vom Nutzen der Governance-Perspektive für die Rechtswissenschaft, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung: Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, Nomos Baden-Baden 2005, 195 ff.



3.12. Zu erwartende Veränderungen im Bereich der Justiz

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Dem Verständnis des begrenzten Staates entspricht ein nicht hierarchischer, kooperativer („unternehmerischer“) Steuerungsmodus. Die Steuerung ist eine „weiche“.3, 4

3. Das bevorzugte Feld geänderter Steuerung war zunächst die Verwaltung. Es ging primär um Aktivitäten als Folge von Aufgabenkritik, von Vollzugskritik, d. h. um Verbesserung der Aufgabenerfüllung durch Reform der Aufbau- und Ablauforganisation der Verwaltung sowie der Erfordernisse der Haushaltskonsolidierung. Die diesbezügliche Steuerung bzw. die diesbezüglichen Aktivitäten firmierten bald als New Public Management (NPM) oder als wirkungsorientierte Verwaltungsführung.5 Elemente des NPM sind u. a. Aufgaben/Zielorientierung (nicht Durchführungsorientierung), Ergebnisorientierung (nicht Prozessorientierung), OutputOrientierung (nicht Input-Orientierung), Optimierung der Aufgabenerfüllung durch Effektivität und Effizienz, flache Hierarchien und Dezentralisierung, Leistungsmessung (Evaluierung), professionelles und verantwortetes Management, Einsatz privatwirtschaftlicher Managementmethoden etc.6 Es liegt auf der Hand, 3 Harald Eberhard/Christoph Konrath/Rita Trattnigg/Stefan Zleptnig, Governance – zur theoretischen und praktischen Verortung des Konzepts in Österreich, JRP 2006, 35 (37); Thomas Risse, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Internationale Politik 2005 H 9, 6 (9). 4 Für eine Gegenüberstellung der Steuerungsmodi und ihrer Charakteristika siehe die Anlage unten. 5 Allgemein zum New Public Management siehe z. B.: Ayad Al-Ani, New Public Management – Neue Managementkonzepte für die österreichische Verwaltung, in: Herbert Strunz/Christine Fohler-Norek/ Karl W. Edtstadler (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung im Wandel, Verlag Österreich Wien 1996, 143 ff.; Kurt Promberger/Dagmar Koschar/Daniel Koler, Die Polizei als Manager von Sicherheit und Ordnung? (Teil 1), SIAK-Journal 2006 H 1, 3 ff.; Helmut Schreiner, Veränderungen rund um den Steuerungsfaktor Recht, in: Herbert Strunz/Christine Fohler-Norek/Karl W. Edtstadler (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung im Wandel, Verlag Österreich Wien 1996, 3 (5 ff.); Gunnar Folke Schuppert, Bürokratisches Regieren – Eine governancetheoretische Perspektive, in: Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Entbürokratisierung und Regulierung. Jahrestagung der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften vom 18. bis 19. November 2004 in Berlin, Nomos Baden-Baden 2006, 6 (18 f.); Franz Strehl, Die Arbeitsweise in der Verwaltung, in: Gerhart Holzinger/Peter Oberdorfer/ Bernhard Raschauer (Hrsg.), Österreichische Verwaltungslehre, Verlag Österreich Wien 2006, 237 (240 ff.); Norbert Wimmer, Dynamische Verwaltungslehre. Ein Handbuch der Verwaltungsreform, Springer Wien/New York 2004, 243 ff. 6 Ilan Fellmann, Implementierungsmanagement – Reformansätze in der Bundesverwaltung, in: Ilan Fellmann (Hrsg.), New Public Management. Fallbeispiele aus Österreich, Verlag Österreich Wien 2000, 7 (8 f.); Kurt Promberger/Dagmar Koschar/Daniel Koler, SIAK-Journal 2006 H 1, 4 f.; Reinbert Schauer, Braucht Österreich eine Harmonisierung des öffentlichen Rechnungswesens nach internationalen Standards? ÖHW 2006 H 1–2, 4 (10 ff.); Norbert Wimmer, Verwaltungslehre, 249 ff.

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dass diese Elemente nicht in gleicher Intensität in allen Bereichen der Aufgabenerfüllung bzw. der Verwaltung verwirklicht werden konnten bzw. können. Träger der Reformen der Aufgabenpalette, der Aufbau- und Ablauforganisation der Verwaltung sowie des Bemühens um Haushaltskonsolidierung konnte und kann aber nicht nur die Verwaltung sein. NPM ist auch eine Herausforderung für die Politik im Sinne von „New Politics“. „Politische“ Elemente sind die Aufgabenkritik (Welche Aufgaben soll der Staat erfüllen? Welche staatliche Aufgabe soll welche Ebene erfüllen?), die (Steuerungs-)Qualität von Rechtsvorschriften, die Differenzierung zwischen strategischer Ebene (diese entscheidet über das Was) und operativer Ebene (diese entscheidet über das Wie), ein leistungsorientiertes Personalmanagement, die Handlungsmaßstäbe der Effektivität und Effizienz (ein diesbezüglicher Diskussionspunkt sind die Zahl der Regierungsmitglieder und die Zahl der Abgeordneten in allen Gebietskörperschaften) etc. NPM ist somit nicht nur ein neues Steuerungsmodell für die Verwaltung, sondern auch für die Politik. New Public Management kann daher als (umfassendes) Steuerungsmodell für das politisch-administrative System gedeutet werden.

4. Da nicht alles durch den Staat und/oder durch den Markt besorgt werden kann oder – je nach politisch-ideologischem Standort – besorgt werden darf, ertönt seit einiger Zeit der Ruf nach bürgerschaftlichem Engagement, nach Selbstorganisation von Bürgerinnen, nach Gemeinsinn (statt Eigennutz):7, 8 Der sogenannte Dritte oder Non-Profit-Sektor9 soll jene Leistungen erbringen, die weder vom Staat noch vom Markt erbracht werden können oder dürfen. 7 Vgl. dazu z.  B. den Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“, Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft, an den deutschen Bundestag vom Mai 2002, Drucksache 14/8900, insbesondere das Vorwort des Vorsitzenden der Enquete-Kommission Michael Bürsch, 2 ff. 8 Das bestehende Ausmaß von bürgerschaftlichem Engagement in Deutschland wurde im Auftrag der deutschen Bundesregierung in zwei Freiwilligen-Surveys 1999 und 2004 erhoben. Die vollständigen Daten können von der Internetseite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter http://www.bmfsfj.de/Kategorien/forschungsnetz.html, Unterpunkt Forschungsberichte (6. 7. 2006) heruntergeladen werden. Für eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse siehe Thomas Gensicke, Bürgerschaftliches Engagement in Deutschland, APuZ 2006 H 12, 9 ff. 9 Siehe z. B. Christian Brünner, Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftspolitisches Prinzip, in: Hedwig Kopetz/Joseph Marko/Klaus Poier (Hrsg.), Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat, Festschrift für Wolfgang Mantl zum 65. Geburtstag, Böhlau Wien/Köln/Graz 2004, Band I, 489 (500); Eckhard Priller/Annette Zimmer, Dritter Sektor: Arbeit als Engagement, ApuZ 2006 H 12, 17; Norbert Wimmer, Verwaltungslehre, 77 ff.



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Da auch im begrenzten Staat Leistungen nachgefragt und (von wem auch immer) erbracht werden müssen, der bisherige Modus des „Regierens“ aber in den Hintergrund tritt, wird in „weicher“ Steuerung eine neue Form des Regierens gesehen.10 Diese neue Form des Regierens zielt auf eine „Gesamtsteuerung“.11 Ihr Adressat sind nicht mehr nur der Staat und seine Verwaltung, sondern – neben dem Markt – auch die Zivilgesellschaft12 bzw. der Dritte (der Non-Profit-)Sektor13. In der politik- und sozialwissenschaftlichen Forschung wird im Zusammenhang mit dieser neuen Form des Regierens von „governance“ oder – da es ein gutes Regieren sein soll – von „good governance“ gesprochen.14

5. Die Ursachen für das Zurückdrängen des Staates und von Staatlichkeit sind vielfältig. Ich möchte nur zwei – pointierend verkürzt – nennen. Die eine Ursache ist eine politisch-ideologische dergestalt, dass auf den Markt, den Wettbewerb, den Wert als ökonomische Größe als Steuerungsinstrumente gesetzt wird. Die Etikettierung lautet „Neoliberalismus“. Die andere Ursache für „mehr privat und weniger Staat“ besteht darin, dass der Staat an die Grenzen der Finanzierung gestoßen ist. „Grenzpfähle“ sind die bereits hohe Abgabenquote15 und der den Grad der Verschuldung beschränkende Stabili10 Thomas Risse, Internationale Politik 2005 H 9, 12. 11 „Globalsteuerung“ bei Norbert Wimmer/Thomas Müller, Leistungs- und Zielvereinbarungen in der Verwaltung – Rechtsnatur, Chancen und Risken für die Praxis, in: Karl Weber/Norbert Wimmer (Hrsg.), Vom Verfassungsstaat am Scheideweg, Festschrift für Peter Pernthaler zum 70. Geburtstag, Springer Wien/New York 2005, 445 (446). 12 Zum Thema Zivilgesellschaft siehe Christian Brünner, in: Hedwig Kopetz/Joseph Marko/Klaus Poier (Hrsg.), Wandel I, 500 ff. 13 Harald Eberhard/Christoph Konrath/Rita Trattnigg/Stefan Zleptnig, JRP 2006, 54; Ernst Hüper, Entbürokratisierung in der Bundesrepublik, in: Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Entbürokratisierung 41 (46 f.); Elke Löffler, Good Governance, Verwaltung innov@tiv 9. 11. 2004, 1 f. 14 Vgl. anstelle vieler: Rudolf Dolzer, Good Governance: Neues transnationales Leitbild der Staatlich­ keit? ZaöRV 2004, 535  ff., und Harald Eberhard/Christoph Konrath/Rita Trattnigg/Stefan Zleptnig,­ JRP 2006, 35  ff.; siehe zum Thema auch das Weißbuch der Europäischen Kommission vom 25. 7. 2001, Europäisches Regieren (englischer Titel: European Governance), KOM (2001) 428 sowie die zahlreichen­Veröffentlichungen von Weltbank, Internationalem Währungsfonds, Vereinten Nationen und OECD betreffend die Prinzipien für Good Governance. 15 In Österreich lag die Abgabenquote, der Anteil aller Steuern und Abgaben am Bruttoinlandsprodukt, 2005 bei 41,9 %, womit Österreich unter den 25 Mitgliedsstaaten der EU die fünfthöchste Abgaben­ quote vorzuweisen hat. Der EU-Durchschnitt der Abgabenquote lag 2005 bei 40 %, während sie in den USA nur 27 % und in Japan 16,4 % ausmachte. Vgl. dazu die Zahlen von EU-Kommission,

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tätspakt. Verschärft wird die finanzielle Situation durch teilweise rapide steigende Kosten in verschiedenen Feldern staatlicher Aufgabenerfüllung; ich nenne z. B. das Gesundheitswesen.16 Der Staat ist gezwungen, die Konsolidierung öffentlicher Haushalte und die Generierung von („frischen“) Finanzmitteln zur Erfüllung von Aufgaben anders als durch Abgabenerhöhung und Kreditaufnahme herbeizuführen.

6. In den letzten Jahren und Jahrzehnten lassen sich zahlreiche Aktivitäten, Reformen und Vorhaben nennen, die im Kontext bzw. als Konsequenzen der bisherigen Ausführungen zu sehen sind. Stichworte sind Staatsaufgabenreduzierung, Einsparungen, Ausgliederungen, Privatisierungen, Deregulierung, Rationalisierung, Modernisierung, Präkarisierung auch von öffentlichen Arbeitsverhältnissen, Ökonomisierung, Stärkung zivilgesellschaftlicher Verantwortungs- und Handlungsbereitschaft, Wertewandel etc.17 Angesichts von Verrechtlichungsintensität und Verrechtlichungserfordernissen haben diese Aktivitäten, Reformen und Vorhaben zur Änderung des Rechtsbestandes geführt und führen nach wie vor dazu. Die Rechtsbereiche, die insbesondere betroffen waren und sind, sind das Organisationsrecht18, das Verfahrensrecht19, das (öffentliche) Dienstrecht20 und das Haushaltsrecht21. Der Hauptträger staatlicher Leistungen im Dienste der Daseinsvorsorge und Wohlfahrtspflege ist die Verwaltung. Sie war und ist daher primärer Adressat dieser Aktivitäten, Reformen und Vorhaben. Ich verweise nur beispielsweise auf die zahlreichen Ausgliederungen und Privatisierungen im öffentlichen UnternehEUROSTAT und OECD, die von der Wirtschaftskammer Österreich statistisch aufbereitet wurden und unter http://wko.at/statistik/eu/europa-abgabenquoten.pdf (20. 6. 2006) abrufbar sind. 16 Vgl. diesbezügliche Medienberichte wie z. B. Dyrk Scherff, Das große Abkassieren, „FAZ“, 26. 3. 2006, 49; Viktoria Unterreiner, Gesundheit geht auch billiger, „Welt am Sonntag“, 16. 3. 2006, 25. 17 Zu den gegenwärtigen Wandlungstendenzen betreffend Verwaltungsaufgaben siehe Wimmer, Verwaltungslehre, 88 ff., vgl. auch Bernhard Raschauer, Aufgaben der Verwaltung, in: Bundeskanzleramt (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung, Österreichische Staatsdruckerei Wien 1992, 81 (94 ff.). 18 Vgl. z.  B. die Schaffung einer Vollzugsdirektion ab 1.  1.  2007 durch BGBl. I 2006/102 vom 26. 6. 2006; siehe dazu die Ausführungen unter Punkt 7.5. 19 Vgl. die zahlreichen Novellierungen der ZPO und der StPO aus den vergangenen Jahren sowie die Aktivitäten betreffend die Einführung von e-government bzw. elektronischem Akt. 20 Siehe die diesbezüglichen Reformen im Bereich der Universitäten oder die Diskussion um den von Finanz-Staatssekretär Alfred Finz vorgelegten Entwurf eines einheitlichen Bundes-Mitarbeitergesetzes für den Öffentlichen Dienst, der sich stark am Angestelltenrecht orientiert. 21 Vgl. die Ausführungen unter Punkt 8.



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menssektor, die Universitätsreform, die Reform der Sicherheits(polizei)verwaltung und das e-Government.

7. Die Justiz (insbesondere die Gerichtsbarkeit) war und ist nicht im direkten „Schussfeld“. Dennoch lassen sich Aktivitäten, Reformen und Vorhaben auch im Bereich der Justiz nennen, deren Hintergrund (zumindest auch) die bisher skizzierten Entwicklungen sind.22 Ich nenne einige dieser Aktivitäten, Reformen und Vorhaben. 7.1. Eine bereits klassische Alternative zum staatlichen (hoheitlichen) Rechtsschutz in der Form der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist die Schiedsgerichtsbarkeit23. Weitere Rechtschutzalternativen (im Zivilrecht) sind der prätorische Vergleich und der gerichtliche Vergleich. In den letzten Jahren hat eine weitere Form alternativer Streitbeilegung, die Mediation, Einzug in die Rechtsordnung bzw. in die Rechtspraxis gehalten.24 Seit 1988 kennt das Jugendgerichtsgesetz im Rahmen des außergerichtlichen Tatausgleichs die Funktion des Konfliktreglers25, die später auch auf das Erwachsenenstrafrecht ausgedehnt wurde.26 1999/2000 wurde die Mediation in ehe- und 22 Nobert Wimmer, Verwaltungslehre 248 FN 642. Ein sensibler Bereich der Verwaltung, nämlich die Polizei- bzw. Sicherheitsverwaltung, ist ebenfalls diesen Tendenzen unterworfen, siehe z.  B. Kurt Promberger/Dagmar Koschar/Daniel Koler, Die Polizei als Manager von Sicherheit und Ordnung? SIAK-Journal 2006 H 1, 3 ff. und 2006 H 2, 34 ff. 23 Christian Koller, Das neue österreichische Schiedsrecht (Teil I), JAP 2005/2006, 182. Darüber, ob die Schiedsgerichtsbarkeit bereits zur Alternative Dispute Resolution gezählt werden kann oder doch eher der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuzuordnen ist, herrscht Uneinigkeit. Siehe dazu z. B. Steffi Spitznagel, Alternative Dispute Resolution (ADR). Einsatzmöglichkeiten und Grenzen von ADR in Europa, in: Carl Baudenbacher (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Europäischen und Internationalen Wirtschaftsrechts, Band I, Luchterhand Neuwied-Kriftel 1998, 365 (372 und 379). 24 Die Mediation ist ein besonders typisches Beispiel für Enthierarchisierungstendenzen auch außerhalb der Verwaltung, siehe dazu Norbert Wimmer, Verwaltungslehre 248 FN 642. Kritisch zur zunehmenden Bedeutung nichtstaatlicher Konfliktmanagementmechanismen Pauline Collins, Costs of Cooperation Rather than Competition in the Provision of Justice? Australian Journal of Public Administration, Band 64, Nr. 3, September 2005, 100 (107 ff.). 25 Siehe §§ 7 und 8 Jugendgerichtsgesetz 1988 BGBl. 1988/599 in der ursprünglichen Fassung. 26 Siehe § 90g StPO in der seit BGBl. I 1999/55 geltenden Fassung, die am 1. 1. 2000 in Kraft getreten ist. Durch das Strafprozessreformgesetz, BGBl. I 2004/19, wird die entsprechende Bestimmung der StPO ab 1. 1. 2008 durch den im Wesentlichen gleichen § 204 StPO ersetzt.

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familienrechtliche Verfahren implementiert.27 Im Jahr 2000 verankerte man die Mediation auch im Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahren28. Das Zivilrechts-Mediations-Gesetz29 schafft 2003 einen generellen rechtlichen Rahmen für die Mediation in Zivilrechtssachen. Durch eine Ergänzung des § 204 ZPO wird das Gericht ferner angewiesen, im Zuge von gerichtlichen Vergleichsgesprächen auch auf (außergerichtliche) Einrichtungen hinzuweisen, die zur einvernehmlichen Lösung von Konflikten geeignet sind. Das Zivilrechts-Änderungsgesetz 200430 sieht in seinem Art. III schließlich einen zwingend vorgeschriebenen Versuch einer außergerichtlichen Streitbeilegung im Zusammenhang mit der Nachbarschaftsklage gem. § 364 ABGB vor. Die Mediation ist eine Form der Alternative Dispute Resolution (ADR), bei der die Verfahrens- und Entscheidungshoheit bei den beteiligten Parteien verbleibt. Alternative Dispute Resolution ist ein Begriff für Ende der 1970er-Jahre in den USA entwickelte Alternativen zu den herkömmlichen Streitbeilegungsverfahren.31 Neben der Mediation gibt es weitere Formen der ADR32. Zu nennen ist im Zusammenhang mit dem Zurückdrängen staatlichen (hoheitlichen) Rechtsschutzes auch die präventive Konfliktvermeidung. Mithilfe verschiedener Methoden, Taktiken und Strategien soll darauf hingewirkt werden, dass ein Streitfall gar nicht eintritt. 7.2. Auch die Strafgerichtsbarkeit ist von der „Enthierarchisierung“ nicht verschont geblieben, und sie bleibt auch weiterhin nicht verschont. Ich möchte dafür folgende Beispiele nennen: Seit einiger Zeit besteht die Möglichkeit, auf die Durchführung eines förmlichen gerichtlichen Strafverfahrens sowie dessen allfällige Beendigung durch Schuldspruch zu verzichten (Diversion). Als Diversionsformen sind der außergerichtliche Tatausgleich33, die Probezeit34, gemeinnützige Leistungen35 und die Zah27 Eherechts-Änderungsgesetz 1999, BGBl. I 1999/125 und Kindschaftsrechts-Änderungsgesetz 2001, BGBl. I 2000/135. 28 BGBl. I 2000/89 vom 10. 8. 2000. 29 BGBl. I 2003/29. 30 BGBl. I 2003/91. 31 Steffi Spitznagel, in: Carl Baudenbacher (Hrsg.), Probleme I, 379 ff. 32 Steffi Spitznagel, in: Carl Baudenbacher (Hrsg.), Probleme I, 384 ff. 33 Siehe § 90g StPO idF BGBl. I 1999/55. 34 Siehe § 90f StPO idF BGBl. 1 1999/55. 35 Siehe § 90d StPO idF BGBl. I 1999/55.



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lung eines Geldbetrages36 vorgesehen, die auch nach Inkrafttreten des Strafprozessreformgesetzes37 am 1. 1. 2008 inhaltlich unverändert erhalten bleiben werden. Alle diese Diversionsformen dürfen gemäß § 90j StPO38 u. a. nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Verdächtigen durchgeführt werden. Gemeinnützige Arbeiten als Alternative zur Freiheitsstrafe sollen forciert werden. Derzeit läuft ein Projekt, bei dem anstelle des Antritts einer Ersatzfreiheitsstrafe mittellose Delinquenten verstärkt zu gemeinnützigen Arbeiten eingeteilt werden.39 Mithilfe der elektronischen Fußfessel will man die Haftzahlen senken. Gefangene, die sich bereit erklären, diese Fußfessel zu tragen, werden im Gegenzug vorzeitig – und auf Bewährung – aus der Haft entlassen. Derzeit läuft ein Modellversuch.40 Ein (gesetzlich zu fundierender) Einsatz anstelle (kürzerer) Haftstrafen oder der Untersuchungshaft steht in Diskussion. Die Vormachtstellung des Richters – das sogenannte inquisitorische Prinzip – wird zunehmend infrage gestellt. An dessen Stelle sollen das Wechsel- oder Kreuzverhör und ausgedehntere Äußerungsrechte für Verteidiger treten.41 Auch die Forderung nach Abschaffung der sogenannten Anklagebank gehört in diesen Zusammenhang.42 Zu nennen ist weiters die Diskussion um das (formelle) „plea bargaining“, ein (weiteres) Beispiel einer „Amerikanisierung“ des Strafrechts. Dabei werden Schuldspruch und Sanktion zwischen Verteidigung, Staatsanwaltschaft und Gericht ausgehandelt.43 36 Siehe § 90c StPO idF BGBl. I 1999/55. 37 BGBl. I 2004/19 vom 23. März 2004. Die Regelung der einzelnen Diversionsformen ist ab 1. 1. 2008 im 11. Hauptstück der StPO in den §§ 200 bis 204 zu finden. 38 Ab 1. 1. 2008: § 208 StPO idF BGBl. 1 2004/19. 39 Vgl. diesbezügliche Berichte in den Medien, z. B.: Manfred Seeh, Neue Rekordzahlen bei Strafgefange­ nen, „Die Presse“, 22. 3. 2006, 1; Sitzen statt schwitzen: Gemeinnützige Arbeit soll ab März Haft ersetzen, „Der Standard“, 22. 2. 2006; Michael Simoner, Mehr Häftlinge sollen sich nützlich machen, „Der Standard“, 15. 2. 2006, 12; Arbeiten statt einsitzen, „Salzburger Nachrichten“, 15. 2. 2006; Gemein­ nützige Arbeit soll ab März Haft ersetzen, „Salzburger Nachrichten“, 14.  2.  2006; Gemeinnützige Arbeit leisten, statt hinter Gittern zu sitzen, „Kleine Zeitung“, 16. 4. 2006, 19. 40 Der entsprechende Erlass der Justizministerin trat am 9. 1. 2006 in Kraft. 41 Fair wäre Wechselverhör, „Salzburger Nachrichten“, 19. 4. 2005, abgedruckt in: Richard Soyer (Hrsg.), Kriminal-Politik. Kritik statt Dogmen, NWV Wien/Graz 2006, 152. 42 Reformpläne: „Die Anklagebank soll abgeschafft werden“, „Der Standard“, 10. 5. 2004, 7. 43 Wenn Milde gegen Kooperation getauscht wird, „Die Presse“, 10. 7. 1991, abgedruckt in: Richard Soyer (Hrsg.), Kriminal-Politik. Kritik statt Dogmen, NWV Wien/Graz 2006, 65; Gunther Arzt, Amerikanisierung der Gerechtigkeit: Die Rolle des Strafrechts, in: Festschrift für Otto Triffterer zum 65. Geburtstag, Springer Wien/New York 1996, 527; Richard Soyer, Vorstellungen zur „Hauptverhandlung neu“, in: Richard Soyer (Hrsg.), Strafverteidigung – Realität und Vision. 1. Österreichischer Strafverteidigerinnentag, Wien, 21./22. März 2003, NWV Wien/Graz 2003, 80 (82 f.).

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Mit der Strafgerichtsbarkeit galten bisher als untrennbar verbunden die Verfahrensgrundsätze des Anklageprinzips, der amtswegigen Wahrheitsermittlung und der Öffentlichkeit. Sie sind – wie die Beispiele zeigen – zurückgedrängt worden und stehen auch weiterhin in Diskussion. 7.3. Zahlreiche Reformen und Diskussionen der letzten Jahre drehten sich (und drehen sich nach wie vor) um Verfahrensökonomie, insbesondere um die Verkürzung der Dauer von Verfahren. Beispielsweise möchte ich folgende Sachverhalte nennen: Die Verfahrensbeschleunigung war ein herausragendes Anliegen der Zivilverfahrens-Novelle 200244. Eine Prozessförderungspflicht trifft alle am Verfahren Beteiligten, nämlich Kläger, Beklagte, Sachverständige und Richter. Die lange Dauer von Verfahren ist nicht nur rechtsrelevant im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK, der von einer „angemessenen Frist“ spricht. Sie wird auch als „Missstand“ empfunden. So hat die Volksanwaltschaft in ihrem Tätigkeitsbericht des Jahres 2003 angesichts von Beschwerden betreffend die Dauer gerichtlicher Verfahren eine Änderung des B-VG vorgeschlagen, die ihr ein Tätigwerden auch in diesen Fällen ermöglichen soll.45 Sie will bei Verzögerungen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK dem zuständigen Organ empfehlen können, die entsprechenden Verfahrenshandlungen vorzunehmen, und die Einleitung eines Disziplinarverfahrens anregen können.46 Die Diskussion betreffend eine Verkürzung der Verfahren ist auch nach der Zivilverfahrens-Novelle 2002 nicht verstummt. So räsonierte der Bundesminister für Justiz, Dr. Dieter Böhmdorfer, in diesem Zusammenhang, Richter auf Zeit zu bestellen.47 Er schlug ferner vor, die Amtshaftung für schuldhafte Verzögerungen auch auf Rechtsanwälte, Zeugen oder Gutachter auszudehnen.48 Gewünscht wird ferner die Pflicht, dass alle Beweismittel bis zu einem gewissen Zeitpunkt geltend gemacht werden müssen.49 44 BGBl. I 2002/76. 45 Siehe Anhang I zum 27. Bericht über die Tätigkeit der Volksanwaltschaft im Jahr 2003 an den Nationalrat und den Bundesrat, 336 f. 46 Vgl. den vorgeschlagenen Art. 148c Abs. 3 B-VG im Anhang I des Tätigkeitsberichts 328. 47 Böhmdorfer will gegen desinteressierte Richter vorgehen, „Der Standard“, 24. 9. 2003, 1, und Micheal Völker, Richterbestellung auf Zeit empört Opposition, „Der Standard“, 24. 9. 2003, 7. 48 Siehe dazu Michael Simoner, Milliardenverlust durch zu lange Zivilprozesse, „Der Standard“, 22. 4. 2004, 11. 49 Erich Witzmann, Pragmatisierte sollen mehr arbeiten, „Die Presse“, 21. 6. 2003.



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Kontrollen betreffend die Verfahrensdauer sind verstärkt worden. So sollen Monatslisten mit offenen Verfahren, die Verstärkung der Dienstaufsicht und die Berichtspflicht an übergeordnete Ebenen über lange Verfahren und Rückstände bei den Urteilsausfertigungen Verzögerungen hintanhalten. Intention der Kontrolle ist nicht nur eine etwaige Sanktionierung, sondern auch ein Leistungsanreiz. So soll in Bewerbungsformularen auch über den Verfahrensstand Auskunft gegeben werden. Eine Verkürzung der Verfahrensdauer vor den Gerichtshöfen öffentlichen Rechts intendiert der Entwurf eines Verfahrens- und Zustellrechtsanpassungsgesetzes 200650. In Rechtssachen, in denen eine Entscheidung binnen angemessener Frist gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK geboten ist, soll für den Verwaltungsgerichtshof und den Verfassungsgerichtshof eine Entscheidungsfrist eingeführt werden.51 Es liegt auf der Hand, dass die zeitliche Komponente eines gerichtlichen Verfahrens nur ein Aspekt ist und sein kann. Ein anderer ist die (inhaltliche) Richtigkeit einer Entscheidung. Beide Aspekte stehen in Spannung zueinander. Im Einzelfall kann ihnen mitunter nicht in gleicher Intensität Rechnung getragen werden. Für die Justiz ergibt sich aus dem bisher Gesagten zweierlei. Zum einen muss die Missstandskontrolle in der Form einer Selbstkontrolle ausgebaut werden. Zum anderen geht es um ein Räsonnement der Qualität richterlicher Entscheidung. Beides sollte Bestandteil eines umfassenden Qualitätssicherungssystems sein, dessen Anliegen u. a. auch die Pflege einer Qualitätskultur sein muss. 7.4. Die Justiz berührt das Leben der Bürgerinnen gravierend. Trotzdem stand und steht die Frage der Partizipation nicht im Scheinwerferlicht, wie dies seit Jahrzehnten für die Partizipation in der Verwaltung gilt. Einige Reformen bzw. Diskussionen der letzten Zeit zielen jedoch darauf, die „Klientel“ der Justiz bzw. die „Rechtsunterworfenen“ zu stärken. Zu nennen ist die Reform der Strafprozessordnung, nämlich jener Teil, der dem Ausbau der Beschuldigten- und Opferrechte gewidmet ist.52 Der Umfang z. B. der

50 Ministerialentwurf des Bundeskanzleramts 396/ME (22. GP). 51 Siehe dazu den vorgeschlagenen Text der §§ 41a VwGG und 86a VfGG in Art. 7 Z 42 bzw. Art. 8 Z 63 des Ministerialentwurfes 396/ME (22. GP). 52 Siehe Art. I des BGBl, 2005/119 vom 27. 10. 2005, mit dem die Strafprozessordnung 1975, das Staatsanwaltschaftsgesetz und das Tilgungsgesetz geändert werden. Das Bundesgesetz ist am 1. 1. 2006 in Kraft getreten.

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Opferrechte ist beachtlich. Er reicht vom Anspruch auf Prozessbegleitung53 über Belehrungs- und Informationsrechte54 bis zum Recht auf Beigebung eines kostenlosen Rechtsvertreters.55 Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch die Diskussion um die Laiengerichtsbarkeit. Die Diskussion zeigt, dass ihre gänzliche Abschaffung unwahrscheinlich ist. Der Akzeptanz der Strafgerichtsbarkeit in der Öffentlichkeit wird seitens der Justiz offensichtlich erhöhtes Augenmerk zugewendet. Im September 2003 initiierte der Bundesminister für Justiz, Dr. Dieter Böhmdorfer, die Einsetzung einer Expertenkommission, die sich allgemein mit der Frage der staatlichen Reaktionen auf strafbares Verhalten, mit deren Transparenz und Akzeptanz in der Öffentlichkeit, vorrangig und im Besonderen aber mit der Diversion befassen sollte. Die Expertenkommission legte im März 2004 ihren Bericht vor.56 Im Bericht finden sich auch Empfehlungen betreffend die Darstellung der Strafgerichtsbarkeit in der Öffentlichkeit bzw. in den Medien. 7.5. Gegenstand des Bundesgesetzes, mit dem das Strafvollzugsgesetz, das BundesPersonalvertretungsgesetz und das Ausschreibungsgesetz 1989 geändert werden,57 ist eine Neuordnung der Organisation des Strafvollzugs. Bei einer Vollzugsdirektion sollen die Verwaltungsaufgaben im Bereich des Strafvollzuges gebündelt werden. Die Vollzugsdirektion soll mit den einzelnen Vollzugsanstalten Ziel- und Leistungsvereinbarungen58 abschließen. Mithilfe dieser Instrumente soll für einen möglichst hohen Vollzugstandard gesorgt werden. In der Vollzugsdirektion sind u. a. Planstellen für Betriebswirte/-innen vorzusehen.59 Gemäß dem Vorblatt der Erläuterungen zur RV60 sollen strategische Entscheidungen und übergeordnete Aufgaben einerseits und operative Tätigkeiten ande53 Vgl. § 49a StPO, eingefügt durch BGBl. 2005/119. 54 Vgl. § 47a StPO, eingefügt durch BGBl. 2005/119. 55 Vgl. insbesondere § 49a Abs. 2 StPO. 56 Bericht der Expertenkommission zur Prüfung der staatlichen Reaktionen auf strafbares Verhalten in Österreich (März 2004) 29 ff., im Internet abrufbar unter: http://www.justiz.gv.at/_cms_upload/ docs/expertenbericht_reaktion_auf straftaten.pdf (21. 4. 2006). 57 BGBl. I 2006/102 vom 26. 6. 2006, in Kraft ab 1. 1. 2007. 58 Zu Funktion, Inhalt und Rechtsnatur von Ziel- und Leistungsvereinbarungen siehe ausführlich: Norbert Wimmer/Thomas Müller in: Karl Weber/Norbert Wimmer (Hrsg.), 445 ff. Vgl. dazu auch Franz Strehl, in: Gerhart Holzinger/Peter Oberdorfer/Bernhard Raschauer (Hrsg.), Verwaltungslehre, 249 ff. 59 Siehe dazu die Erl. zur RV 1426 BlgNR 22. GP. 60 1426 BlgNR 22. GP, 1.



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rerseits getrennt werden. Das Bundesministerium für Justiz soll (weiterhin) richtungsweisende Vorgaben für Planung, Organisation, Leitung, Steuerung, das Controlling, die Planstellenbewirtschaftung, das Organisationsmanagement und das Budget geben; die operativen Tätigkeiten werden der Vollzugsbehörde übertragen. 7.6. Privatisierung und Ausgliederung machen auch vor der Justiz nicht mehr halt. Soweit die Gerichtsbarkeit betroffen ist, wird die Debatte in unterschiedlicher Intensität geführt, je nachdem, ob die Straf- oder die Zivilgerichtsbarkeit in Rede steht. Im strafrechtlichen Bereich geht es zunächst um den Strafvollzug. Damit folgt die Diskussion in Österreich einem weltweiten Trend zur Privatisierung des kostenintensiven Strafvollzugs. So existieren bereits in mehreren Staaten private Haftanstalten, etwa in den USA und in Großbritannien. In Frankreich, Belgien und den Niederlanden soll eine Zusammenarbeit zwischen privaten und öffentlichen Unternehmen einer Kostensenkung im Strafvollzug dienen, wobei Sicherheitsund Kontrollaspekte im Zuständigkeitsbereich des Staates verbleiben und alle anderen „Serviceleistungen“ von Privaten übernommen werden.61 Auch in Deutschland wurde im Dezember 2005 ein erstes privates Gefängnis ähnlichen Typs eröffnet, und zwar in Hünfeld in Hessen.62 Einigkeit scheint in Deutschland und Österreich darüber zu bestehen, dass eine Vollprivatisierung einer Justizvollzugsanstalt mit der jeweiligen Verfassungsrechtsordnung unvereinbar wäre. Die Gesamtverantwortung für das Gefängnis und die Verantwortung für die Sicherheit müssten jedenfalls in staatlicher Hand bleiben. Alois Birklbauer63 sieht im staatlichen Gewaltmonopol die konkrete Privatisierungsgrenze. In anderen Bereichen der Strafgerichtsbarkeit und des Strafvollzugs – wie der Resozialisierung, der Überwachung der Probezeit durch Bewährungshelfer, beim außergerichtlichen Tatausgleich/bei der Diversion sowie bei der Überwachung der elektronischen Fußfesseln – ist die „Privatisierung“ in Österreich bereits jetzt weit 61 Alois Birklbauer, Weniger Staat, mehr privat! – Gilt das auch für das Strafrecht? JRP 2004, 38 ff.; Günther Kaiser, Strukturwandel des Strafvollzugs durch Privatisierung, in: Andreas Donatsch/Marc Forster/Christian Schwarzenegger (Hrsg.), Festschrift für Stefan Trechsel zum 65. Geburtstag, Schulthess, Zürich/Basel/Genf 2002, 869 (876 f.). 62 Siehe dazu die Pressemitteilungen des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 2.  11.  2005, vom 15. 11. 2005 und vom 12. 3. 2006, im Internet abrufbar auf unter http://www.hmdj.justiz.hessen.de (20. 6. 2006). Vgl. auch das Plenarprotokoll 16/51, 3438 ff. über die vorangegangene Debatte in der Sitzung des hessischen Landtags vom 24. 11. 2004. 63 JRP 2004, 38 ff.

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fortgeschritten. Anders als in Deutschland ist die Bewährungshilfe in Österreich als privater Verein organisiert,64 gemeinnützige Leistungen werden bei privaten Vereinigungen als „Dienstgeber“ erbracht, die elektronische Fußfessel kann nur mithilfe der privaten Telekommunikationsunternehmen überwacht werden, und der außergerichtliche Tatausgleich erfolgt mitilfe privater Konfliktregler, wobei das Gericht in die Verhandlungen nicht unmittelbar eingebunden ist und „nur“ das Ergebnis akzeptieren muss.65 Auch für den Bereich der Zivilgerichtsbarkeit sind Privatisierungen und Ausgliederungen im Gespräch, zumal nicht alle Aufgaben der Gerichte unmittelbar rechtsprechende Tätigkeiten sind. Auslagerungsfähig scheinen jene Bereiche der Justiz, die in Deutschland unter dem Begriff „freiwillige Gerichtsbarkeit“, in Österreich als Gerichtsbarkeit außer Streitsachen zusammengefasst werden. Die diesbezügliche Diskussion in Deutschland ist bereits wesentlich weiter fortgeschritten als in Österreich. So wird in einer Studie66, die im Juli 2004 für das Niedersächsische Justizministerium erstellt wurde, eine Ausgliederung des Gerichtsvollzieherund Vollstreckungswesens, des Registerwesens, des Nachlasswesens, einvernehmlicher Scheidungen und der Berufsaufsicht für sinnvoll erachtet. Für Österreich könnte zu diesen Bereichen noch das Beurkundungswesen, das in eine parallele Zuständigkeit von Gerichten und Notaren fällt, und weitere Bereiche des Verfahrens außer Streitsachen hinzugefügt werden. Auch könnte eine noch weitergehende Einbindung privater Vereine in das Pflegschaftsverfahren, insbesondere zu Zwecken der Gebarungskontrolle der Sachwalter, überlegt werden. Das Verlassenschaftsverfahren, das in Österreich bereits jetzt überwiegend in den Händen der Notare, die als Gerichtskommissäre tätig werden, liegt, könnte vollständig ausgegliedert werden. Im gegebenen Zusammenhang soll schließlich auf zahlreiche Beispiele bzw. Vorhaben verwiesen werden, Verkehrsüberwachungs-, Sicherheits- und Ordnungsaufgaben von Privaten erfüllen zu lassen. Beispielsweise sei auf die Zugangskontrolle an Flughäfen, die Parkraumüberwachung, die Radarüberwachung des Verkehrs auf Gemeindestraßen, die Mautkontrolle auf Autobahnen etc. verwie-

64 Betreffend Bewährungshilfe, Konfliktregelung und soziale Arbeit besteht ein Generalvertrag zwischen der Republik Österreich und dem Verein Neustart, vgl. die Informationen dazu auf den Internetseiten des Justizministeriums unter http://www.justiz.gv.at/justiz/content.php?nav=55 (22. 6. 2006). 65 Siehe dazu ausführlich Alois Birklbauer, JRP 2004, 38 ff. 66 Horst Eylmann/Christian Kirchner/Rolf Knieper/Hartwin Kramer/Thomas Mayen, Zukunftsfähige Justiz. Strukturreform durch Konzentration auf die Kernaufgaben (Juli 2004), im Internet abrufbar unter: http://cdl.niedersachsen.de/blob/images/C4531808_L20.pdf (4. 5. 2006).



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sen.67 Ferner sind zu nennen Zusammenschlüsse von Bürgern/-innen zu einer Bürgerwacht oder zu Selbsthilfegruppen zum Schutze der Bürger/-innen.68 In Bayern und in Sachsen ist eine private Sicherheitswacht, deren Befugnisse gesetzlich geregelt sind, im Auftrag der Polizei tätig.69 In einigen Hessischen Gemeinden gibt es „Nachbarn in Uniform“, das sind freiwillige Polizeihelfer.70 In BadenWürttemberg unterstützen Bürger als ehrenamtliche Polizeibeamte in Uniform die Arbeit der Exekutive vor allem im Rahmen der kommunalen Kriminalprävention.71 Ein weiteres Beispiel ist die SMS-Fahndung mithilfe von Bürgern/-innen.72 7.7. Wie ausländische Beispiele zeigen, ist mit weiteren Entwicklungen der Justiz in Richtung des nicht hierarchischen, kooperativen Steuerungsmodus bzw. diesbezüglichen Diskussionen zu rechnen. Einige Beispiele sollen dies demonstrieren. In verschiedenen Staaten sind Gesetze in Geltung oder in Ausarbeitung, die normieren, dass eine Entschuldigung einer Person oder einer Institution für Fehlverhalten keine rechtlichen Folgen per se wie z. B. Eingeständnis von Schuld oder Haftung nach sich zieht. Damit will man u. a. die Zahl der Streitfälle vor Gericht verringern.73 67 Für eine allgemeine Bestandsaufnahme zum privaten Sicherheitsmarkt, vor allem in Wien, siehe Christian Mayr/Klaus Stöger, Händler, ÖBB rüsten auf: Privatsheriffs boomen, „Die Presse“, 6. 5. 2006, 13. 68 Vgl. entsprechende Medienberichte wie nur z.  B. Hans Breitegger/Robert Engele, Vorsicht: Einbruchserie, „Kleine Zeitung“, 22. 10. 2003, 27; Bernd Hecke/Michael Saria, Grazer Polizei rückt ins zweite Glied, „Kleine Zeitung“, 12. 4. 2006, 22 f.; Otto Ranftl, Villach, bleib frei, „Der Standard“, 13.  2.  2006, 24; Andrea Waldbrunner/Hannes Schlosser, Helferlein sammelt Diebe ein, „Der Standard“, 7. 10. 2003, 9. 69 Siehe dazu das Gesetz über die Sicherheitswacht in Bayern (Sicherheitswachtgesetz – SWG), BayRS 2012-2-3-1 idFd Bekanntmachung der Neufassung vom 28. 4. 1997, GVBl. 1997, 88, welches das – inhaltlich im Wesentlichen gleiche – Sicherheitswachterprobungsgesetz vom 24.  12.  1993 ersetzt, und das Gesetz vom 16. 4. 1999 zur Änderung des Sächsischen Sicherheitswachterprobungsgesetzes, SächsGVBl. 1999, 186, mit dem die Sicherheitswacht auch in Sachsen flächendeckend zur regulären Einrichtung wurde. 70 Zu den Aufgaben und Befugnissen dieser freiwilligen Helfer siehe die Internetseiten der Polizei Hessen, insbesondere http://www.polizei.hessen.de/internetzentral/nav/7df/broker.jsp?uMen=60570ee1825a-f6f8-6373a91bbcb63046 (21. 5. 2006). 71 Vgl. die Informationen der Polizei Baden-Württemberg zum freiwilligen Polizeidienst im Internet unter http://www.polizei-bw.de/wir/pfw/index.htm (21. 6. 2006). 72 Die SMS-Fahndung in Deutschland hat als neue Form der Öffentlichkeitsfahndung ihre rechtliche Grundlage in den §§ 131 ff. dt StPO sowie in den Sicherheits- und Ordnungsgesetzen der Länder. Initiiert wurde sie vom deutschen Bundeskriminalamt, realisiert wird sie von einem privaten Telekommunikationsunternehmen. 73 Beispiele sind Kalifornien, Teilstaaten in Australien oder die kanadische Provinz British Columbia.

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In mehreren Bundesstaaten der USA sind Gesetze in Geltung gesetzt worden oder in Vorbereitung, die den rechtlichen Rahmen für Notwehr (drastisch) erweitern.74 Im Zentrum steht das Recht zur Tötung potenzieller Angreifer, dies nicht nur auf eigenem Grund und Boden, sondern auch in der Öffentlichkeit. Prangerstrafen scheinen an Popularität zuzunehmen.75 Grundlagen für solche Strafen sind nicht nur staatliche Entscheidungen76; auch private Initiativen, „Prangerstrafen“ zu verhängen, gibt es. Ein Beispiel ist ein Internet-Pranger in den USA, durch dessen Einsatz Pädophile im Cyberspace entlarvt und mithilfe der Polizei gefasst werden sollen.77 Ebenfalls in den USA gibt es mittlerweile eine private Internetseite, die als Forum dienen soll, in dem jeder gefahrlos gegen die tägliche Belästigung auf der Straße protestieren kann, die nicht notwendigerweise strafrechtlich relevant sein muss.78

8. Das geltende Haushaltsrecht ist über weite Strecken nicht geeignet, die Erfordernisse des unternehmerischen Steuerungsmodells zu erfüllen. Die Budgets sind weitestgehend Input-orientiert, die Buchhaltungsmethode der Kameralistik lediglich eine Art Einnahmen-Ausgaben-Rechnung, Budgeterstellung, Budgetvollzug im Großen und Ganzen dem Einjährigkeitsprinzip unterworfen.79 Vgl. dazu den Bericht des Ombudsmannes von British Columbia an das Parlament vom Februar 2006 (The Power of an Apology: Removing the Legal Barriers), im Internet abrufbar unter: http://www. ombud.gov.bc.ca/reports/Special_Reports/Special%20Report%20No%20-%2027.pdf (5. 5. 2006). 74 Sogenannte „shoot first“- oder „stand your ground“-Gesetze. Vorreiter war hier Florida, wo die 2005 Senate Bill 436, amending 2004 Florida Statutes 776.013 (Home protection; use of deadly force; presumption of fear of death or great bodily harm), am 26. 4. 2005 vom Gouverneur unterzeichnet wurde und am 1.  10.  2005 in Kraft getreten ist. Eine Übersicht über in den einzelnen Bundesstaaten der USA bereits verabschiedete ähnliche Gesetze bzw. eingebrachte Gesetzesentwürfe ist auf der nicht amtlichen Internetseite http://www.southsidesportsmanclub.com/stand-your-ground.html (24. 5. 2006) abrufbar. 75 Siehe dazu Information statt Prangerstrafe. Mediengesetz-Reform: Steht die Gerichtssaal-Berichterstattung vor dem Ende?, „Der Standard“, 6. 12. 1991, abgedruckt in: Richard Soyer (Hrsg.), KriminalPolitik. Kritik statt Dogmen, WA / Wien/Graz 2006, 68. 76 Im US-Bundesstaat Mississippi sollen Namen und Gesichter verurteilter Sexualstraftäter, insbesondere wenn es um den Missbrauch von Minderjährigen geht, auf Plakatwänden entlang von Schnellstraßen veröffentlicht werden; vgl. den diesbezüglichen Bericht im „Standard“ vom 21. 2. 2006, 6. Siehe zum Thema der sogenannten „shame sanctions“ in den USA auch den Feuilleton von Michael Pawlik, Seht dieses Schwein!, „FAZ“, 17. 11. 2004, 35. 77 http://www.perverted-justice.com (21. 4. 2006). 78 Unter http://www.hollabacknyc.blogspot.com (5.  7.  2006) finden sich Handy-Fotos von solchen „Tätern“ samt Berichten über die Belästigungen. 79 Reinbert Schauer, ÖHW 2006 H 1–2, 10 ff.; vgl. dazu auch den Allgemeinen Teil der Erläuterungen zur RV 1331 BlgNR 22. GP, 2.



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Seit Kurzem liegt ein neues Regelwerk für den Haushalt auf dem Tisch. Gegenstand des Regelwerks sind zwei Gesetzesvorschläge, nämlich eine Regierungsvorlage für ein Bundesgesetz, mit dem das Bundeshaushaltsgesetz geändert wird,80 und eine Regierungsvorlage betreffend ein Bundesverfassungsgesetz, mit dem das Bundes-Verfassungsgesetz und das Bundeshaushaltsgesetz geändert werden.81 Die Ziele und Grundsätze des Regelwerkes sind u. a. nachhaltig geordnete öffentliche Finanzen, Wirkungsorientierung, Transparenz, Effizienz und Effektivität der Aufgabenerfüllung etc.82 Instrumente zur Zielerreichung sind ein verbindlicher und vierjähriger Finanzrahmen mit Ausgabenobergrenzen für in fünf Bereiche – darunter ein Bereich für Sicherheit und Recht – zusammengefasste Aufgaben und die Rücklagenzuführung nicht ausgeschöpfter Ausgaben.83 Dem ersten Schritt sollen weitere Schritte folgen. In einem zweiten Schritt ab 2011 soll den Ministerien im Rahmen von Globalbudgets die interne Umschichtung von Budgetmitteln erleichtert und auch eine Rücklagenbildung für das Folgejahr ermöglicht werden.84 Statt der traditionellen Eingaben-Ausgaben-Rechnung soll eine kaufmännische Rechnungslegung, die doppelte Buchführung (Doppik) angewendet werden.85 Mit den Ministerien werden Leistungsvereinbarungen abgeschlossen werden. Die Ministerien werden konkrete „Leistungen“ – Bearbeitungsdauer von Anträgen, Aufklärung von Verbrechen etc. – definieren müssen, die sie mit ihrem Budget erbringen wollen und an denen sie dann gemessen werden können.86 Anzumerken ist, dass es Stimmen gibt, sich nicht mit der Bilanzierungsmethode der doppelten Buchführung zu begnügen. In Diskussion steht ein Konzernabschluss für Gebietskörperschaften, in dem nicht nur die Entwicklung der öffentlichen Haushalte dargestellt wird, sondern auch jene ausgelagerter Betriebe bzw. Krankenhäuser oder Schulen.87 Als Vorbild in Europa gilt der Kanton Zürich, der sich Anfang 2007 den internationalen Bilanzierungsstandards für öffentliche Körperschaften (International Public Sector Accounting Standards – IPSAS) unterwerfen wird, die das Pendant zu den für die an der Börse notierten Kon-

80 RV 1332 BlgNR 22. GP. 81 RV 1331 BlgNR 22. GP. 82 Vgl. jeweils den Allgemeinen Teil der Erl. zur RV 1331 bzw. 1332 BlgNR 22. GP. 83 Siehe §§ 12 ff und § 53 Bundeshaushaltsgesetz idF der RV 1332 BlgNR 22. GP, 1 f. und 6 f. sowie die Erläuterungen dazu. 84 Erl. zur RV 1332 BlgBR 22. GP, 3 ff. 85 Siehe dazu den in Art. 51 Abs. 8 B-VG der RV 1331 BlgNR 22. GP ausdrücklich enthaltenen Grundsatz der „möglichst getreuen Darstellung der finanziellen Lage des Bundes“ und die Erl. zur RV 1331 BlgNR 22. GP, 9 f. 86 Siehe dazu insbesondere die Erl. zur RV 1331 BlgNR 22. GP, 7 ff. 87 Reinbert Schauer, ÖHW 2006 H 1-2, 14 ff.

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zerne geltenden Regeln sind.88 Auch wenn der politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess betreffend das Reformwerk mit Schwierigkeiten konfrontiert sein wird und unter Umständen Abstriche gemacht werden müssen, ist der Entwurf eines neuen Haushaltsrechtes das markanteste Zeichen für einen Paradigmenwechsel bei der Steuerung, ja des Staatsverständnisses. Der Budgetexperte des Wirtschaftsforschungsinstitutes Dr. Gerhard Lehner hat diesen Paradigmenwechsel treffend umschrieben: „Der Geist geht weg von der Hoheitsverwaltung in Richtung Dienstleistungsunternehmen.“89

9. Flache Hierarchien und dezentrale Entscheidungsfindung sind Elemente des nicht hierarchischen Steuerungsmodus bzw. des New Public Management. Entscheidungen sollen auf jener unteren Ebene getroffen werden, auf der die Handlungsmaßstäbe der Effizienz und Effektivität am besten verwirklicht werden können. Der Entscheidungsspielraum – eingeräumt durch Delegation oder Gewährleistung verschiedener Stufen von Autonomie – kann unterschiedlich groß sein. Mit der Entscheidungskompetenz verbunden ist die Verantwortlichkeit dafür, eine optimale Entscheidung zu treffen. Ein Instrument der Sicherung der Verantwortlichkeit ist das Kontraktmanagement, d. h. ein Management durch Abschluss von Ziel- und Leistungsvereinbarungen.90,91 In der Diskussion betreffend die Effektuierung justizieller Aufgabenerfüllung wird seit ein paar Jahren die Frage gestellt, ob sich die Justiz nicht selbst verwalten sollte. Eine Arbeitsgruppe des Deutschen Richterbundes hat das 2002 bejaht

88 Peter Schiefer, Joseph II. schadet Österreichs Bonität, in: „Die Presse“, 4. 3. 2006, 28. 89 Peter Schiefer, Zweiter Anlauf für mehr Budget-Disziplin, in: „Die Presse“, 18.  2.  2006, 29. Siehe dazu den Beitrag von Gerhard Lehner, Von der Hoheitsverwaltung zum Dienstleistungsstaat, in: Industrieforum 2000-3: Staatsaufgaben neu!? 2, im Internet abrufbar unter: http://www.iwi.ac.at/ industrieforum/archiv_2000_3.pdf; vgl. auch Gerhard Baumgartner, Ausgliederung und öffentlicher Dienst, Springer Wien/New York 2006, 10  f., der in diesem Zusammenhang ebenfalls von einem Paradigmenwechsel spricht. 90 Zu Funktion, Inhalt und Rechtsnatur von Ziel- und Leistungsvereinbarungen siehe ausführlich: Norbert Wimmer/Thomas Müller in: Karl Weber/Norbert Wimmer (Hrsg.), 445 ff. 91 Vgl. die Reformen im Universitätsbereich durch das UG 2002. Ein Eckpunkt der Reformen sind Leistungsvereinbarungen zwischen dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und jeder Universität sowie Zielvereinbarungen innerhalb einer Universität. Die Leistungsvereinbarungen werden bis Herbst 2006 abgeschlossen sein. Im Musterentwurf einer Leistungsvereinbarung werden, basierend auf der Wissensbilanz-Verordnung – WBV (BGBl. II 2006/63 vom 15. 2. 2006), Kennziffern aufgelistet, die der Leistungsbeschreibung dienen.



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und das Ja 2005 bekräftigt.92 Die Antwort wurde damit begründet, dass jede Einflussnahme auf die Justiz verhindert und eine hohe Qualität der Rechtsprechung gesichert werden sollte. Zentraler Punkt der Vorschläge ist die Schaffung eines Justizverwaltungsrates als eigenständigen Verfassungsorgans mit Aufgaben, die derzeit den Justizministerien übertragen sind.93 In Österreich hat die richterliche Standesvertretung analoge Vorschläge in die Diskussion eingebracht. Die Diskussion wurde primär im Österreich-Konvent geführt. Gemäß den von der Standesvertretung vorgeschlagenen neuen Art. 85a bis 86a B-VG sollte ein Unabhängiger Justizsenat eingerichtet und mit – gegenüber dem Bundesministerium für Justiz autonomen – Befugnissen bei Budgeterstellung und Personalentscheidungen ausgestattet werden.94 Der Vorschlag der Standesvertretung konnte im Österreich-Konvent keinen Konsens erzielen.95 Ein Merkmal der Selbstverwaltung96 ist die Bestellung der Leitungsorgane durch Wahl seitens der Mitglieder nach demokratischen Wahlgrundsätzen. Vorschläge, eine Mitsprache von Mitgliedern des „Systems“97 bei der Richterbestellung einzuräumen, können auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Eine „Gegenbewegung“ zur Stärkung der „dritten Gewalt“ hat vor ein paar Jahren Ralf Dahrendorf markiert. In einem Kommentar für den „Standard“98 vertrat 92 Vgl. dazu das Abschlusspapier der Arbeitsgruppe Selbstverwaltung des Deutschen Richterbundes vom März 2001, http://www.drb.de/?http://www.drb.de/pages/html/texte/justizreform0508.html, (19.  5.  2006), den Beschluss der Bundesvertreterversammlung des Deutschen Richterbundes vom 15. 11. 2002 in Kiel, http://www.drb. de/?http://www.drb.de/pages/html/texte/justizreform0508.html (19. 5. 2006) und das Positionspapier des Deutschen Richterbundes zur Justizreform vom 15. August 2005, http://www.drb.de/?http://www.drb.de/pages/html/texte/justizreform0508.html (19. 5. 2006). 93 Vgl. das Abschlusspapier der Arbeitsgruppe Selbstverwaltung des Deutschen Richterbundes vom März 2001, http://www.drb.de/?http://www.drb.de/pages/html/texte/justizreform0508.html, (19.  5.  2006) und den Beschluss der Bundesvertreterversammlung des Deutschen Richterbundes vom 15. 11. 2002 in Kiel, http://www.drb.de/?http://www.drb.de/pages/html/texte/justizreform0508.html (19. 5. 2006). 94 Siehe dazu den Entwurf für die Einrichtung eines unabhängigen Justizsenats vom Oktober 2004, 619/AVORL-K. Zum Thema vgl. auch schon das vorangegangene externe Positionspapier der richterlichen Standesvertretung zur Stärkung der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit durch Einrichtung eines Rats der Gerichtsbarkeit vom Dezember 2003, 39/POSP-K, das im Ausschuss IX in den Sitzungen vom 16. 12. 2003 und vom 12. 2. 2004 beraten wurde. 95 Siehe die Ausschussberichte des Ausschusses IX vom 26. 4. 2004, 7/AUB-K, 6 f. und vom 18. 11. 2004, 19/AUB-K, 11 ff. sowie 63 ff. 96 Allgemeines zur Selbstverwaltung in Österreich siehe bei Wimmer, Verwaltungslehre, 213 ff. 97 Richter, Rechtsanwälte, Vertreter/-innen der Bürger/-innen etc. 98 Das Zeitalter der Richter und die Schwäche der Politik, Kommentar der Anderen, „Der Standard“ vom 18. 8. 2003, 23. Vgl. auch die Antworten auf diesen Kommentar: Lisa Nimmervoll, Die Rückeroberung der politischen Macht, „Der Standard“, 19. 8. 2003, 6; Gustav Schneider, An der unsichtbaren Kandare, „Der Standard“, 19. 8. 2003, 23; Richard Soyer, Mehr Mitsprache bei Richterbestellung, „Der Standard“, 26. 8. 2003.

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er die Meinung, dass die Richter in Westeuropa derzeit zu viel Einfluss hätten, und die Politik verlorene Macht wieder zurückgewinnen müsse. Die Diskussion um den „Richterstaat“ ist freilich nicht neu. Bereits 1957 hat Rene Marcic99 von einer Entwicklung „vom Gesetzesstaat zum Richterstaat“ gesprochen. Die im Juli 2006 vom Parlament einstimmig verabschiedete Reform der Unabhängigen Finanzsenate geht in eine einer Art Selbstverwaltung entgegengesetzte Richtung, indem sie die (weisungsgebundenen) Leitungsorgane des Unabhängigen Finanzsenates zwecks Effizienzsteigerung stärkt und die (unabhängige) Vollversammlung schwächt.100 So werden durch das Gesetz das Controlling und die damit verbundenen Berichtspflichten an das Finanzministerium – auch über die „Einzelperformance“ der Mitglieder – ausgebaut.101 Wie insbesondere das Ergebnis des Österreich-Konvents zeigt, ist eine Art Selbstverwaltung der dritten Gewalt nicht konsentierbar. Die dagegen sprechenden Argumente, insbesondere solche demokratiepolitischer Art, liegen offensichtlich zu schwer auf dem Tisch. Dies wird sich wahrscheinlich auch in absehbarer Zukunft nicht ändern.

10. Es liegt auf der Hand, dass die Ausstattung der Justiz mit Ressourcen, insbesondere personellen, mit rechtsstaatlichen Erfordernissen, z. B. einer angemessenen Verfahrensdauer, in unmittelbarer Beziehung steht. Die Frage, wann der Punkt einer Beeinträchtigung dieser Erfordernisse durch Mängel in der Ressourcenausstattung erreicht ist, kann freilich nicht eindeutig beantwortet werden. Eine diesen Zusammenhang relevierende Judikatur – zu nennen sind Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte102 und des deutschen Bundesverfassungsgerichts103 – gibt freilich einige Anhaltungspunkte. Vor dem Hintergrund des Zusammenhanges sind Forderungen nach einer „Ressourcenunabhängigkeit“ der dritten Gewalt verständlich. Freilich wird eine Ressourcenunabhängigkeit immer eine eingeschränkte sein müssen. Die Budgethoheit des Parlaments und das parlamentarische Regierungssystem sind nämlich 99 Rene Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat. Recht als Maß der Macht. Gedanken über den demokratischen Rechts- und Sozialstaat, Springer, Wien 1957. 100 Siehe § 10 UFSG idF BGBl. I 2006/143, in Kraft ab 1. 1. 2007. 101 Vgl. dazu die RV 1567 BlgNR 22. GP, insbesondere auch den Allgemeinen Teil der Erläuterungen. 102 Siehe anstelle vieler EGMR 4. 6. 2004, appl.no. 72159/01, Löffler gegen Österreich, Absatz 57. 103 Dieses spricht von einem Versagen des Staates, die Justiz mit den erforderlichen personellen und sachlichen Mitteln auszustatten. Vgl. BverfG, 2 BvR 1737/05, vom 29. 11. 2005, Absatz-Nr. 44, http:// www.bverfg.de/entscheidungen/rk20051129_2bvr173705.html.



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Eckpfeiler unseres demokratischen Systems. Anzumerken ist, dass eine ähnliche Diskussion betreffend den Zusammenhang zwischen dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit und der universitären Ressourcenausstattung geführt wurde und geführt wird104.

11. Bereits in mehreren vorangehenden Kapiteln ist deutlich geworden, dass der Paradigmenwechsel von hierarchischer, hoheitlicher Steuerung zu nicht hierarchischer, kooperativer („unternehmerischer“) Steuerung teilweise gravierende Probleme aufwirft und auch an Grenzen stößt. Die Probleme haben verschiedene Ursachen, die Grenzen sind mehrdimensional. Im Budgetprogramm der Bundesregierung 2003 bis 2006 vom Juni 2003 wird im Zusammenhang mit den Ausführungen betreffend Privatisierung vom Rückzug des Bundes auf seine unmittelbaren Kernaufgaben und von der Stärkung der Kernkompetenz des Staates gesprochen.105 Der Begriff der Kernaufgaben des Staates stammt aus der verwaltungswissenschaftlichen Aufgabenanalyse und -theorie. Richard Rose spricht von „Sine qua non Activities“106. Die Frage, was zu den Kernaufgaben des Staates zählt, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Die Sachverhalte, die die Liste der staatlichen Kernaufgaben beeinflussen, sind politisch-ideologische Standorte, ferner die konkrete Verfassungsrechtsordnung. Die österreichische Verfassung selbst enthält keinen Katalog der Kernaufgaben des Staates. Die Judikatur des VfGH zu diesem Thema ist kasuistisch, sodass sich daraus ebenfalls kein Katalog der dem Staat vorbehaltenen Kernaufgaben ableiten lässt. Der VfGH hat freilich wiederholt festgestellt, dass eine Ausgliederung oder Privatisierung von Kernaufgaben des Staates mit dem System der österreichischen Verfassung in Widerspruch steht und daher unzulässig ist.107 Zu den vom VfGH 104 Robert Brehm/Wolfgang Zimmerling, Die Entwicklung der Rechtsprechung zum Hochschullehrerrecht, WissR 2001, 329 (348 ff.); BVerfG 8. 2. 1977, 1 BvR 79/70 u. a., BVerfGE 43, 242 (285) = NJW 1977, 1049; 8. 7. 1980, 1 BvR 1472/78, BVerfGE 54, 363 (390) = NJW 1981, 163; 10. 3. 1992, 1 BvR 454/91 u. a., BVerfGE 85, 360 = NJW 1992, 1373; 15. 9. 1997, 1 BvR 406/96, 1 BvR 1214/97, NVwZ-RR 1998, 175 = ZBR 1998, 24; 26. 10. 2004, 1 BvR 911/00 u. a., Absatz-Nr. 180, http://www.bverfg.de/ entscheidungen/rs20041026_1bvr091100.html. 105 Seiten 11 und 30. 106 Vgl. dazu Christian Brünner, Aufgaben der Verwaltung, in: Karl Wenger/Christian Brünner/Peter Oberndorfer (Hrsg.), Grundriß der Verwaltungslehre, Böhlau Wien/Köln 1983, 89 (101). 107 VfGH 14. 3. 1996, G 269/01 u. a., Slg 14.473 (Austo-Control); 12. 12. 2001, G 269/01 u. a., Slg 16.400 (Wertpapieraufsicht); 2. 10. 2003, G 121/03 u. a., Slg 16.995 (EIWOG); 15. 10. 2004, G 36/04, V 20/04 (Zivildienst).

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namentlich genannten Kernaufgaben des Staates zählen jedenfalls die innere und äußere Sicherheit, also die Bereiche des Militärwesens und der Außenpolitik. Man kann davon ausgehen, dass – generell gesprochen – auch die Justiz zu diesen Kernaufgaben zählt,108 zumal das B-VG an mehreren Stellen Regelungen betreffend die Gerichtsbarkeit enthält. Nicht alle Bereiche, die der Gerichtsbarkeit zugerechnet werden, erscheinen freilich gleich schutzwürdig und damit ausgliederungsfest. In seinem Zivildienst­ erkenntnis109 zieht der VfGH jedoch eine Grenze für die Zulässigkeit der Ausgliederung einer Aufgabe, nämlich ob durch den privaten Rechtsträger – wenngleich aufgrund einer Beleihung – erheblich in die Grundrechtssphäre Dritter eingegriffen wird. Dass ein Kernbereich der Justiz ausgliederungsfest sein muss, ergibt sich jedenfalls aus den verfassungsrechtlichen Garantien der Art. 82 ff B-VG iVm Art. 6 EMRK.110 Auf rechtliche Grenzen, die freilich auch verschoben werden können, wurde bereits in vorhergehenden Kapiteln verwiesen, dies insbesondere im Zusammenhang mit Ausgliederung und Privatisierung von Aufgaben. Nochmals sei auf Erfordernisse des Rechtsstaates, so insbesondere Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Gleichheitspostulat, Grundrechtsschutz verwiesen. Kontraktmanagement setzt voraus, dass Ziele, Aufgaben, Leistungen definierbar, quantifizierbar, operationalisierbar sind. Auch die Feststellung der Wirksamkeit der Erfüllung verschiedener Aufgaben bereitet Probleme. Politikwissenschaftlich gesprochen wird zu beachten sein, dass ein gewisses Maß effektiver staatlicher Herrschaft erforderlich ist, damit funktionale Äquivalente für herkömmliche Elemente der Staatlichkeit und die Erfüllung von staatlichen Aufgaben in den beiden anderen Sektoren, nämlich Markt und Non-ProfitSektor/Zivilgesellschaft, wirksam sein können. So muss mit einer „Durchlöcherung“ des staatlichen Gewaltmonopols eine effektive staatliche Kontrolle „privatisierter“ Gewaltanwendung samt effektivem Rechtsschutz verbunden sein. Auch ist die Durchsetzung staatlich erzeugten Rechtes bzw. des (verbliebenen) staatlichen Herrschaftsanspruches zu sichern. 108 Norbert Wimmer, „Service public“ in Österreich. Öffentliche Aufgabenbesorgung im Spannungsfeld zwischen staatlicher Verantwortung und Marktmechanismus, in: Walter Fremuth (Hrsg.), Wirtschaft und öffentliches Interesse, Manz Wien 1998, 31 (35); siehe auch Hartmut Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben VVDStRL 54, 243 (255); Johannes Hengstschläger, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54, 165 (174 FN 35). 109 G 36/04 u. a. 110 Vgl. dazu auch Heinz Peter Rill, Staatsaufgaben aus rechtlicher und rechtspolitischer Sicht, in: Michael Potacs/Paolo Rondo-Brovetto (Hrsg.), Beiträge zur Reform der Kärntner Landesverwaltung, Manz Wien 2001, 9 (21).



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Die vorhin vorgenommene Aufzählung von Problemen und Grenzen unternehmerischer Steuerung ist nicht vollständig. Freilich dürfen Probleme und Grenzen des Paradigmenwechsels nicht als Vorwand genutzt werden, sich Reformerfordernissen zu stellen, da ansonsten die Gefahr besteht, dass Reformen über das hinwegfegen, was erhaltensnotwendig und erhaltenswert ist.

12. Eine (restringierende) Rahmenbedingung staatlicher Aufgabenerfüllung wird auch in den nächsten Jahren vorliegen, die Knappheit des Budgets bzw. die Notwendigkeit von (weiterer) Haushaltskonsolidierung.111 Davon wird kein Aufgabenfeld verschont bleiben, vielleicht mit Ausnahme jener Bereiche, die in den jeweiligen Budgets als Schwerpunkte – 2006 z. B. Forschung und Entwicklung oder innere Sicherheit112 – ausgewiesen sind.

13. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen möchte ich einige Herausforderungen, deren Forderungscharakter zunehmen wird, formulieren, denen sich die Justiz bzw. die Gerichtsbarkeit wird stellen müssen. Dabei bin ich weder erschöpfend noch unterlege ich den Herausforderungen eine Bewertung. • Das Selbstverständnis der Klientel der Gerichtsbarkeit, Kunden zu sein und an der justiziellen Aufgabenerfüllung mitwirken zu wollen, wird steigen. • Klientel und Öffentlichkeit werden zunehmend Rechte einfordern. Dabei wird es nicht nur um justizielle Rechte im Sinne der EMRK, z. B. das Recht auf ein faires Verfahren, und der EU-Grundrechtscharta (Teil II des Vertrags über eine Verfassung für Europa), wie z. B. das Recht, einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen; das Recht, dass innerhalb angemessener Frist verhandelt wird; das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen; das Recht auf Prozesskostenhilfe; das Recht auf Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen etc., gehen. Es wird auch ein Recht auf eine „gute Justiz/Gerichtsbarkeit“ gefordert werden (vgl. Art 11–41 des Verfassungsvertrages: Recht auf eine gute Verwaltung), dies nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Postulat des „good governance“ auch für die Justiz/die Gerichtsbarkeit. 111 Bundesministerium für Finanzen (Hrsg.), Budget 2006. Zahlen – Hintergründe – Zusammenhänge, Wien 2006, 18 ff. 112 Bundesministerium für Finanzen (Hrsg.), Budget 2006, 20.

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Die Optimierungspostulate der Effektivität und Effizienz für die Aufgabenerfüllung werden verstärkt werden. Die Diskussion, was richterliche Qualität ausmacht, wird zunehmen. Der Ruf nach Kennziffern – quantitativen wie qualitativen –, mit deren Hilfe die Qualität justizieller Aufgabenerfüllung „gemessen“ werden kann, respektive eine „gute Gerichtsbarkeit“ definiert wird, wird anschwellen. Die Forderung nach Evaluierung justizieller Aufgabenerfüllung wird heftiger werden. Der Druck in Richtung Ausgliederung (Outsourcing) bis Privatisierung justizieller Aufgaben wird zunehmen. Der Einsatz bzw. die Suche nach nicht hoheitlichen Instrumenten der Aufgabenerfüllung, die funktional adäquat den hoheitlichen Instrumenten sind, wird forciert werden. Das herkömmliche Berufsbild des Richters/der Richterin, des Staatsanwaltes/der Staatsanwältin, der Leitungsorgane von Gerichten, Staatsanwaltschaften, Vollzugsanstalten und ministeriellen Einheiten wird (weiter) erodieren; einem „neuen“ Berufsbild – dieses steht u. a. mit dem „weichen“ Steuerungsmodell in Zusammenhang – entsprechende Ausbildungserfordernisse – hochschulisch wie post-hochschulisch – werden formuliert werden. Die (institutionelle) Sicherung und Entwicklung von Qualität einschließlich der Förderung einer Qualitätskultur innerhalb der Einheiten justizieller Aufgabenerfüllung, also ein (umfassendes) Qualitätsmanagement auf allen Ebenen bzw. in allen Bereichen der Justiz/der Gerichtsbarkeit wird ausgebaut bzw. geschaffen werden müssen. Das interne Qualitätsmanagement wird einer externen Evaluierung unterzogen werden. Die Forderung, in den jeweiligen Arbeitsbereichen ethische Standards zu etablieren bzw. fortzuentwickeln, also die Forderung nach einer Justizbzw. Gerichtsethik, wird zunehmen. Allgemein: Der unternehmerische Steuerungsmodus wird auch für die Justiz/die Gerichtsbarkeit stärker wirksam werden.



3.13. Introductory Remarks

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3.13. Christian Brünner, Indroductory Remarks

in: Brünner/Soucek (Ed.), Outer Space in Society, Politics and Law, Wien/New York 2011, 3–5

For as long as mankind has existed, men and women have looked to the sky, they have watched with respect the rising and the setting of the Sun and the Moon and the stars glittering in the dark sky. Looking to the sky their thoughts have circled questions like: Where do the celestial bodies come from, is there an entity – God or whatever names were given to the Unknown – which has created all this and has implemented the rhythm which we can experience in our life and nature? Or: Do the Sun, the Moon and the stars influence our life? Or. Who am I in this immense and unknown universe? In the ancient Egyptian, Greek and Roman mythologies the celestial bodies were seen as Gods. Astrology, which is 5000 years old, teaches that the planets including the Sun and the Moon are symbols that represent certain aspects of man’s personality. For Hermes Trismegistos, a philosopher in ancient Egypt, it was a „natural law“ that how it is aloft, so it is beneath. According to this theory, the Sun for instance represents the male aspects, the Moon the female aspects in one’s personality or, Venus stands for feminity, love, female attraction and sexuality, Mars for the ability to assert oneself and for aggression – therefore, Mars is the God of war. The celestial bodies especially the Sun and the Moon have been early objects of astronomical calculation. They were also used for practical terrestrial needs, for instance for navigation on the seas. One example of the calculation of astronomical phenomena, which is by the way an example of the precise engineering skills of the ancient Greeks, is the mechanism of Antikythera. Scientists estimate that it was built between 150 and 100 BC. The assumption of scientists is that the mechanism had served to calculate and demonstrate the movements of the Sun and the Moon around the earth. Already in the second century BC, the distinguished Greek astronomer Hipparchos of Nikaia had discovered that the movement of the Moon in the sky shows small irregularities that are ascribed to its elliptical orbit. One can find signs, stones, buildings etc. that had an astronomical meaning or astronomical function in many places of the world. Examples are chapels and

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3. Wissenschaft

churches in Styria which are located in certain positions towards celestial bodies, Stonehenge in Great Britain, megaliths in Sardinia or in Brittany, or signs of the ancient cultures in South America. For millennia, astronomers, astrologers and philosophers have been developing theories that attempt to explain the material world and that are based upon astronomical calculations. These early space oriented activities already show the two main views when we talk about space: on the one hand the view from Earth “outside” with the objective of exploring the universe and, on the other hand, the view towards Earth to observe the place where we live, an observation that serves manifold purposes.



3.13. Introductory Remarks

463

Abbildung 49: Symposium „Raumfahrt und Recht. Faszination Weltraum. Regeln zwischen Himmel und Erde“ an der Universität Graz, unter anderem mit Franz Viehböck, am 17. 11. 2005 (Foto: Jürgen Radspieler)

Abbildung 50: Österreichische Studierende beim 20. ECSL-Summer Course on Space Law and Space Policy an der Rechtsfakultät in Rijeka/Kroatien mit Christian Brünner am 1. 9. 2011 (Foto: Nicole Ehlotzky)

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3. Wissenschaft

Abbildung 51: Vortrag von Christian Brünner beim 21. ECSL-Summer Course on Space Law and Space Policy zum Thema “Outer Space – quo vadis? Transportation – Exploration/Utilisation – Feasibility”, assistiert von Anita Rinner, einer Weltraumprojekt-Mitarbeiterin, an der Neapolis Universität in Pafos/Zypern am 30. 8. 2012 (privat)

Abbildung 52: Social Sciences Book Award für Christian Brünner und Alexander ­Soucek für das Buch “Outer Space in Society, Politics and Law”, Verlag Springer, Wien/New York 2011, vergeben von der International Academy of Astronautics (privat)



3.13. Introductory Remarks

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Abbildung 53: Abschluss des Forschungsprojekts „Outer Space in Society, Politics and Law“ mit Dekan Joseph Marko und den Mitarbeiter/Innen (von links) Anita Rinner, Andrea Lauer, Georg Königsberger, Thomas Neger und Hannes Mayer am 27. 12. 2012 (privat)

Abbildung 54: Das Weltall, gesehen von der Erde aus; gezeichnet von Valerie Mandl, vier Jahre alt, aus Passail 2012 (privat)

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3. Wissenschaft

3.14. Christian Brünner, Religion im säkularen Staat1

in: Mantl (Hrsg.), Lebenszeugnisse österreichischer Vizekanzler im soziopolitischen Kontext, Wien/Köln/Graz 2014 [in Endredaktion]

I. Zum Begriff „säkularer Staat“ Der säkulare Staat, aber auch seine tatsächliche oder vermeintliche Ablöse durch ein „postsäkulares“ Zeitalter, in dem das Religiöse wiederkehrt, steht mehr denn je im Fokus des Räsonnements.2 Pars pro toto möchte ich die „Plattform für Säkularismus in der Politik“ des Europäischen Parlaments nennen, deren erstes Treffen im September 2009 stattgefunden hat.3 1 Der nachfolgende Beitrag wurde bereits 2010 unter dem Titel „Religiöse Diskriminierung im säkularen Staat – Eine Einleitung“ publiziert (in: Religion – Staat – Gesellschaft, 11. Jg. 2010, 105 ff.). Er hat zwei Ausgaben der gesamten Zeitschrift zum Thema „Religiöse Intoleranz und Diskriminierung in ausgewählten Ländern Europas“ (Teil I 2010, Teil II 2011, LiT-Verlag Berlin) eingeleitet. Für den vorliegenden Band wurde der Beitrag ergänzt. Ich danke meinem Mitarbeiter Hannes Mayer für seine Mitwirkung an der Ergänzung. 2 Vgl. den Beitrag von Ulrich Riegel in Religiöse Intoleranz in ausgewählten Teilen Europas, in: Religion – Staat – Gesellschaft, Zeitschrift für Glaubensformen und Weltanschauungen, 11. Jahrgang, 2010, Heft 2, 259–284, ferner u. a. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit2, Münster 2007; Taylor, Charles: A Secular Age, Cambridge-London 2007 (Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009); Habermas, Jürgen: Ach, Europa, Frankfurt/M. 2008; Reder, Michael/Schmidt, Josef (Hrsg.): Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 2008; Liessmann, Konrad Paul (Hrsg.): Philosophicum Lech 11, Die Gretchenfrage „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?, Paul Zsolnay Verlag Wien 2008; Ziebertz, Hans-Georg/Riegel, Ulrich (Eds.), Europe: secular or post-secular?, Berlin 2008; Schneider, Rolf: Sind Religionen gefährlich?, Berlin 2008; Transit Europäische Revue, Den Säkularismus neu denken. Religion und Politik in Zeiten der Globalisierung, Heft 39 (Sommer 2010), Frankfurt/M. 2010; Das Jüdische Echo,Vol. 60, 2011/12/5772, „Religion heute. Wozu? Glauben in einer säkularisierten Welt“; vgl. auch unten Anm. 4. Zur geschichtlichen Betrachtung des Verhältnisses von Staat und Kirche vgl. z. B. Zippelius. Reinhold: Staat und Kirche. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1997. 3 Vgl. dazu die website www.humanistfederation.eu/index.php?option=com_content&view= article&id=272&/temid=77. Die Aktualität der Themen, die sich mit der Beziehung zwischen Staat und Religion beschäftigen, zeigt sich auch in den zahlreichen Konferenzen, die in letzter Zeit stattgefunden haben; vgl. die website des Strasbourg Consortiums www.strasbourgsoncortium.org. Vgl. ferner die consolidated documents der Cordoba Conference „Freedom of religion in democratic



3.14. Religion im säkularen Staat

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Im Kern des Räsonnements geht es um das Verständnis von Säkularität. Auf dem Feld der Auseinandersetzung findet sich eine Gemengelage von ideologischer Fixierung, politisch-programmatischer Intention und theoretischer Analyse, wenn es darum geht zu bestimmen, was unter Säkularität zu verstehen ist bzw. verstanden werden soll. Auf der Hand liegt, dass insbesondere in den Auseinandersetzungen mit dem Islam der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Religion besondere Bedeutung zukommt. Faktum ist, dass verschiedene Bedeutungsgehalte im Raum stehen. Ich nenne nur einige, nämlich: Religion als Privatsache; die institutionelle Trennung von „Kirche und Staat“; die Emanzipierung bzw. Ablösung weltlicher Bereiche – neben dem Staat unter anderem auch die Wissenschaft – von religiösen Institutionen und Normen; den Rückgang religiösen Glaubens und religiöser Praktiken, die im Kontext institutionalisierter, traditionell konfessioneller Formen der Religion gelebt werden („Entkirchlichung“), was aber nicht mit einem Verlust an Religiosität in der Gesellschaft gleichzusetzen ist; die biblische 2-Reiche-Formel „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“; die Absenz des Religiösen im öffentlichen Raum; Vernunft und Wissenschaft anstelle von Glaube und Religion; die „Unterwerfung“ von Religion bzw. Religionsgesellschaften unter die „allgemeinen Staatsgesetze“ (Art 15 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867/StGG), also die Ablehnung eines Staat-im-Staate-Konzepts bei Anerkennung von Autonomie für die „Verwaltung“ der „inneren Angelegenheiten“ (Art. 15 StGG) etc. Jeder dieser Bedeutungsgehalte des Begriffes „Säkularität“ mag einen Teil der Wirklichkeit widerspiegeln, aber eben nur einen Teil. Die Realität der Stellung von Religion in Staat und Gesellschaft ist differenzierter und komplexer zu sehen, als dies eine dieser Bedeutungen von Säkularität widerspiegeln könnte. Meine Sichtweise der Wirklichkeit möchte ich wie folgt skizzieren: 1. Religion ist nicht Privatsache, wenn und insoweit sie sich nicht nur auf den Menschen und seine Beziehung zu Gott (oder wie immer man diese Dimension nennen mag) beschränkt, sondern dem Menschen auch Verantwortung für ein den religiösen Lehren entsprechendes gesellschaftliches Umfeld abverlangt, was jedenfalls bei vielen Religionen der Fall ist. Gleiches gilt für die Negation von Religion. Auch diejenigen, die die Freiheit societies“ (2.–4. 5. 2010); die Konferenz wurde aus Anlass der Spanischen EU-Präsidentschaft und unter den Auspizien der UN Alliance of Civilisations veranstaltet. Die Abteilung Öffentliches Recht des 68. Deutschen Juristentages war dem Verhältnis von Staat und Kirche angesichts neuer Religionskonflikte gewidmet; vgl. dazu Waldhoff, Christian: Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität – Erfordern weltanschauliche und religiöse Einrichtungen Antworten des Staates?, in: NJW Beilage 3/2010 (zu NJW Heft 22/2010), 90 ff.

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3. Wissenschaft

von Religion postulieren, wollen gesellschaftliche Sachverhalte entsprechend ihrer Überzeugung gestaltet wissen. 2. In einer Demokratie werden Gläubige und Nichtgläubige die ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente zur Beeinflussung und Gestaltung des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einsetzen, um ihre religiös oder nicht religiös motivierten Vorstellungen vom Zustand einer Gesellschaft um- und durchzusetzen. Nicht zuletzt aus den beiden vorhergehenden Punkten folgt, 3. dass Religion und ihre Negation sichtbar sind und dass auch der öffentliche Raum nicht gänzlich frei ist und freigehalten werden kann von Religion bzw. der Negation von Religion. Kurz: Es ist offensichtlich geworden, dass die Säkularisierung den Blick auf eine Realität verstellt hat. Diese besteht darin, dass Religion und ein Leben in Übereinstimmung mit einer religiösen Vorstellung für den Menschen bedeutsam (geblieben) ist.4 Religion und die Negation von Religion sind also in Staat und Gesellschaft präsent, ja sie sind mit Staat und Gesellschaft „verwoben“. Dies ergibt sich schon allein daraus, dass der Mensch mit seiner religiösen oder nicht religiösen Dimension gleichzeitig Mitglied der Gesellschaft und Bürger/-in des Staates ist. Dieses „Verwobensein“ zeigt sich auch in rechtlichen Regulierungen und es wird in diesbezüglichen staatstheoretischen und religionswissenschaftlichen Modellen auch abgebildet. Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang Deutschland, Österreich und Frankreich. In Deutschland wird vom Konzept der „übergreifenden offenen Neutralität“ im Gegensatz zur „distanzierenden Neutralität“ gesprochen. Letztere verweise Religion tendenziell in den privaten und privat-gesellschaftlichen Bereich. Die übergreifende, offene Neutralität gäbe ihr darüber hinaus auch Entfaltungsraum im öffentlichen Bereich wie beispielsweise in Schulen, Bildungseinrichtungen etc. und in dem, was zusammenfassend als öffentliche Ordnung bezeichnet wird, dies 4 Vgl. dazu z. B. Nolte, Paul: Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?, Berlin 2009. Zur Religiosität in modernen Gesellschaften vgl. z. B. Höllinger, Franz: Volksreligion und Herrschaftskirche. Die Wurzeln religiösen Verhaltens in westlichen Gesellschaften, Opladen 1996; Berndt, Susanna/Grabner-Haider Anton (Hrsg.): Das neue Kulturchristentum, Münster/Hamburg/London 2002; Höllinger, Franz/Haller, Max/Valle-Höllinger, Adriana: Christian Religion, Society and the State in the Modern World, in: Innovation, The European Journal of Social Science Research, Vol. 20, No. 2, 2007, 133 ff.; Höllinger, Franz/Haller Max: Decline or Persistence of Religion? Trends in Religiosity Among Christian Societies Around the World, in: Haller Max u. a. (Eds.), The International Social Survey Programme 1984–2009, London/New York 2009, 281  ff.; Neuhold, Leopold: Einleitende Gedanken zur Studie „Religionen in Graz“, in: Strobl, Anna: Was Graz glaubt, Innsbruck/Wien 2010, 9 ff.; vgl. auch die Wertestudie für Österreich, Friesl, Christian u. a. (Hrsg.): Die Österreicherinnen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009, 143 ff.



3.14. Religion im säkularen Staat

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freilich ohne jede Form der Identifikation. Auswirkungen habe der Unterschied beider Konzepte vor allem in den Bereichen, die einen geistlich-religiösen und weltlich-politischen Aspekt zugleich hätten (res mixtae). Die übergreifende, offene Neutralität suche einen Ausgleich herzustellen, indem das Bekenntnis und die Lebensführungsmöglichkeit gemäß der Religion auch im öffentlichen Bereich, soweit mit den weltlichen Zwecken der staatlichen Ordnung vereinbar, durch die Rechtsordnung zugelassen und in sie hineingenommen werde.5 Ähnlich wird die Situation für Österreich charakterisiert. Der distanzierenden, ausgrenzenden Form der Neutralität, die in den hoheitlichen Kernbereichen des Staates zu wahren sei, stehe die pluralistische Hereinnahme von Religion und Weltanschauung in die gesellschaftliche Öffentlichkeit zur Seite, und zwar dort, wo der Staat grundsätzlich nicht in den hoheitlichen Kernbereichen agiere.6 Selbst in Frankreich, das als ein Prototyp eines strikt distanzierend neutralen, laizistischen Staates gilt, trägt man und muss man der Rolle der Religion in Staat und Gesellschaft Rechnung tragen. So hat Präsident Nicolas Sarkozy aus Anlass des Besuches von Papst Benedikt XVI. in Paris im Jahre 2008 von einem positiven Laizismus gesprochen, auf dessen Basis er der Religion eine bedeutendere Position garantieren möchte.7 Festgehalten werden muss, dass dieser Präsenz des Religiösen, diesem „Verwobensein“ im religiös und weltanschaulich neutralen Staat, Grenzen gesetzt sind. Sie ergeben sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung der Religionsfreiheit, die auch den Religionspluralismus umfasst,8 aus grundrechtlichen Grenzen der Religionsfreiheit und aus dem Grundsatz der Parität (der Gleichbehandlung) der Religionsgemeinschaften.9 5 So Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2009, 15 f.; zu Deutschland vgl. Czermak, Gerhard, Religiös-weltanschauliche Diskriminierung in Deutschland, in: Religion – Staat – Gesellschaft, 12. Jg. 2011, 143 ff., ferner Czermak, Gerhard (in Kooperation mit Hilgendorf, Eric): Religions- und Weltanschauungsrecht. Eine Einführung, Berlin-Heidelberg 2008. 6 Vgl. Brünner, Christian/Neger, Thomas: Österreich/Austria, in: Religion – Staat – Gesellschaft, 12. Jg. 2011, 89 f., ferner Kalb, Herbert/Potz, Richard/Schinkele, Brigitte: Religionsrecht, Wien 2003, 16 f., 42 f. 7 Vgl. die Nachweise bei Brünner, Christian: Challenges and Requirements of an Intercultural Dialogue, in: Brünner, Christian u. a. (Hrsg.): Mensch – Gruppe – Gesellschaft, Festschrift für Manfred Prisching, Wien/Graz 2010, 861 ff. (870); vgl. auch Garay, Alain: Religious Intolerance and Discrimination in France, in: Religion – Staat – Gesellschaft, 12. Jg. 2011, 175 ff.; ferner Kalb/Potz/Schinkele, 7. 8 Den heutigen Herausforderungen, die mit der Religionsfreiheit und deren Umsetzung verbunden sind, widmet sich das monumentale Werk von Lindholm, Tore/Durham, W. Cole/Tahzib-Lie, Bahia G. (Eds.): Facilitating Freedom of Religion or Belief: A Deskbook, Leiden 2004. Zum Verhältnis Menschenrechte/Christentum und Islam vgl. Ziebertz, Hans-Georg (Hrsg.): Menschenrecht, Christentum und Islam, Berlin 2010. 9 Vgl. dazu Brünner, Christian/Neger, Thomas in: Religion – Staat – Gesellschaft, 12. Jg. 2011, 87 ff.

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3. Wissenschaft

Religionsfreiheit ist jedenfalls nicht absolut gewährleistet, sie hat Grenzen, wie Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zeigt, der bei Vorliegen der Eingriffstatbestände des Abs. 2 und sonstiger Voraussetzungen zur Einschränkung der Religionsfreiheit ermächtigt. Die Diskussion um ein Verbot der rituellen Beschneidung im Judentum und im Islam10 zeigt freilich über weite Strecken, dass die Begrenzung der Religionsfreiheit nicht wahrgenommen wird oder wahrgenommen werden will. So wird im Zusammenhang mit einem etwaigen Beschneidungsverbot von einem „Akt der Gewalt“, von „geistiger Shoa“, von einem „Angriff auf die Religionsfreiheit“ oder auf die „Identität“ der involvierten Religionen, von „Missachtung von Tradition“, von Kulturkampf und Antisemitismus etc. gesprochen. Art. 9 Abs. 2 EMRK ermächtigt jedenfalls zur Beschränkung der Religionsfreiheit unter anderem, wenn dies für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Zu diesen „anderen“ gehören auch Kinder und deren Recht auf physische und psychische Unversehrtheit, eine Grenze, die auch dem Elternrecht des Art. 2 1. Zusatzprotokoll zur EMRK immanent ist.11

10 Mit Urteil vom 7. 5. 2012 hatte das Landgericht Köln die Auffassung vertreten, dass es sich bei der rituellen Beschneidung um eine rechtswidrige Körperverletzung im Sinne des deutschen Strafgesetzbuches handle (NJW 2012, 2128). 11 Das Bundesland Berlin hat klargestellt, dass Beschneidung künftig straffrei bleiben soll, wenn Bedingungen, darunter die Vornahme nach medizinisch fachgerechten Standards, das heißt, durch einen Arzt/eine Ärztin – so der Justizsenator – gegeben sind. Die Jüdische Gemeinde Berlin spricht trotzdem von Einmischung in die über 3000 Jahre alte Tradition des Judentums (vgl. den Bericht im „Standard“ vom 7.9.2012, 6). In Deutschland lag auf Bundesebene ein Gesetzesentwurf vor, der Beschneidungen unter bestimmten Bedingungen, darunter dass sie nur von jemandem durchgeführt werden dürfen, der eine ärztliche oder der ärztlichen Befähigung vergleichbare Ausbildung vorweist, erlaubt (vgl. Beschneidung von Jungen – Eckpunkte einer Regelung; http://docs.dpaq.de/1833-eckpunkte.pdf – 9. 10. 2012). Am 20. 12. 2012 hat der Bundestag ein Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes beschlossen (BGBl. I S.2749 [Nr. 61]). Der neue § 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuchs (Beschneidung des männlichen Kindes) lautet: Abs. 1: Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichtsund urteilsfähigen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. Abs. 2: In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Abs. 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.



3.14. Religion im säkularen Staat

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II. Multireligiöse Gesellschaft und vielfältige Präsenz des Religiösen Die Präsenz von Religion und ihrer Negation in Staat und Gesellschaft ist in den letzen Jahren deutlicher geworden und sie hat auch zugenommen. Folgende Sachverhalte zeigen dies: Wir haben es mit einer Vielfalt von Religionen und a- bis antireligiösen Gegenbewegungen zu tun. Diese agieren auch im öffentlichen Raum.12 Sachverhalte, die gerade in letzter Zeit Anlass für heftige Auseinandersetzungen sind, sind u. a. Stätten der Anbetung, wie z. B. Moscheen und Königreichssäle der Zeugen Jehovas; das Tragen religiöser Zeichen; das Kreuz im Klassenzimmer und in einem Parlament; Kopftuch, Niqab und Burka; das Läuten von Kirchenglocken; die Londoner Bus-Aktion „There’s probably no God“; die rituelle Beschneidung im Judentum und im Islam etc. Religion hat und nimmt auch Einfluss in und auf Politik und Gesellschaft. Dies zeigt sich einerseits in einer Instrumentalisierung von Religion durch die Politik. Bassam Tibi spricht in diesem Zusammenhang von „Religionisierung der Politik“.13 Andererseits instrumentalisiert Religion auch die Politik, um religiöse Vorstellungen betreffend die Gestaltung von Staat und Gesellschaft durchzusetzen.14 Durch die Vielfalt an Religionen wird ferner sichtbar, wie sehr Recht und auch Rechtsprechung durch das jeweils zugrunde liegende Glaubenssystem beeinflusst und überlagert sind.15 Schließlich haben Brauchtum und Tradition oftmals einen religiösen Ursprung bzw. Hintergrund, der nicht zuletzt angesichts der Vielfalt an Religionen sichtbarer und damit herausfordernder wird. Ich nenne z. B. die Auseinandersetzungen um den Heiligen Nikolaus, der Kindern Gaben bringt, um den Christbaum und die Weihnachtskrippe sowie um religiöse Feiertage. Die World Christian Encyclopedia verzeichnete im Jahr 2001 9.900 religiöse Vereinigungen und eine steigende Tendenz.16 Freilich sind die Unterschiede (Zahl 12 Vgl. dazu z. B. Gleißner, Friedrich u. a. (Hrsg.): Religion im öffentlichen Raum. Religiöse Freiheit im neuen Europa, Wien/Köln/Weimar 2007. 13 Tibi, Bassam: Religion und Gewalt: Die Verbindung von Djihad als Qital der islamischen Expansion und in der Gegenwart, in: Religion – Staat – Gesellschaft, 8. Jg. 2007, Heft 2, 197 (230). 14 Zu Beispielen in Österreich für beide Einflussrichtungen vgl. Brünner, Christian/Neger, Thomas in: Religion – Staat – Gesellschaft, 12. Jg. 2011, 107 ff. 15 Der International Congress of the Chamber of Lawyers in Frankfurt/M. im Oktober 2009 widmete sich dem Einfluss der Weltreligionen auf das nationale Rechtssystem; vgl. die diesbezügliche Information auf der Website www.strasbourgconsortium.org (10. 5. 2010). 16 Barrett, David B. et al. ������������������������������������������������������������������������ (Eds.): World Christian Encyclopedia, Oxford 2001. Zur Vielfalt an Religionen vgl. u. a. Küng, Hans: Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg, München 1999 (Son-

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3. Wissenschaft

der Anhänger/-innen, Organisationsform etc.) zwischen den Religionsgemeinschaften beträchtlich. Darüber hinaus erhöht sich das „Angebot“ dadurch, dass Religionen, und zwar gerade die Weltreligionen, keine homogenen Bewegungen sind, sondern unter dem jeweiligen Dach zahlreiche Strömungen festzustellen sind. Aussagen über die Vielfalt an Religionen sind allgemein und abstrakt. Zu begrüßen sind daher Analysen, die diese Vielfalt erfahrbar machen. In einer kürzlich veröffentlichten Studie „Was Graz glaubt. Religion und Spiritualität in der Stadt“ hat die Religionspädagogin Anna Strobl 72 in Graz ansässige Kirchen und Religionsgemeinschaften vorgestellt. Sie weist auch darauf hin, dass die Gruppe der Grazerinnen und Grazer, die ohne religiöses Bekenntnis sind, die zweitgrößte Gruppe nach den Katholiken ist.17 Es gibt mehrere faktische und rechtliche Gründe für die Vielfalt an Religionen. Die Dominanz tradierter Religionen und deren Bindungskräfte haben abgenommen. Die Menschen sind emanzipierter geworden. Der Individualismus hat zugenommen. Auf rechtlicher Ebene ist insbesondere die Verankerung der Religionsfreiheit als individuelles, aber auch kollektives Freiheitsrecht zu nennen, das gewährleistet, die Religion frei zu wählen und sie daher auch zu wechseln. Darüber hinaus hat die grundrechtliche Verbürgung der (individuellen) Religionsfreiheit dazu geführt, dass nicht mehr die institutionelle Verbindung von Staat und Kirche im Vordergrund steht, sondern die Beziehung zwischen Staat und Religion von den Grundrechten her gedeutet wird. Dies zeigt sich auch terminologisch darin, dass in Deutschland und Österreich weniger bzw. nicht mehr von „Staatskirchenrecht“, sondern von Religions(verfassungs)recht gesprochen wird.18 Hinzuzufügen ist, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit, wie es in Art. 9 EMRK verankert ist, den Religionspluralismus gleichsam in das Schutzobjekt aufnimmt. Zu verweisen ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, zuletzt auf die Entscheidung des Gerichtshofs Masaev derausgabe 2001); Grabner-Haider, Anton/Prenner, Karl (Hrsg.): Religionen und Kulturen der Erde. Ein Handbuch. Darmstadt 2004; Baer, Harald u. a. (Hrsg.): Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus, Freiburg i.  Br. 2005; Krecht, Hans/Kleiminger, Matthias (Hrsg.): Handbuch religiöser Gemeinschaften und Weltanschauungen6, Gütersloh 2006; Holl, Adolf: Wie gründe ich eine Religion, St. Pölten/Salzburg 2009; vgl. auch die Publikationen des 2007 gegründeten Verlags der Weltreligionen im Insel Verlag. 17 Strobl, Anna: Was Graz glaubt. Religion und Spiritualität in der Stadt, Innsbruck/Wien 2010. 18 Für Deutschland vgl. u.  a. Walter, Christian: Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, Tübingen 2006; für Österreich vgl. Brünner, Christian/Neger, Thomas in: Religion – Staat – Gesellschaft, 12. Jg. 2011, 79 ff.; vgl. auch Heinig, Hans Michael/Walter, Christian (Hrsg.): Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, Tübingen 2007.



3.14. Religion im säkularen Staat

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vs. Moldavien vom Mai 2009. Der Gerichtshof unterstreicht darin einmal mehr die Notwendigkeit, „to maintain true religious pluralism, which is inherent in the concept of a democratic society“.19 Wie ich bereits deutlich gemacht habe, sind in Religionsanalysen auch die Religionsskepsis und die Religionsnegation, der Agnostizismus und der Atheismus einzubeziehen. Sie sind die andere Seite jener Medaille der menschlichen Dimension, die sich mit den Fragen „Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?“ beschäftigt. Folgerichtig verankert Art. 9 EMRK daher nicht nur die positive Religionsfreiheit (die Freiheit zu Religion), sondern auch die negative (die Freiheit von Religion). Der verstärkte Einfluss und die verstärkte Präsenz von Religion haben zu Gegenbewegungen geführt. Nennen möchte ich z. B. die Bewegung der Neuen Atheisten in den USA, die Werbeaktion auf Londoner Bussen mit dem Aufdruck „There’s probably no God. Now stop worrying and enjoy your life“, die auch in anderen europäischen Städten (so z. B. in Barcelona, Madrid und Wien) nachgemacht wurde, die vor Kurzem erfolgte Gründung eines Zentralrates der ExMuslime in Deutschland und Österreich und eine Laizismusinitiative in Österreich. Verweisen möchte ich auch auf das von der englischen Soziologin Lois Lee gegründete Non-Religion and Secularity Research Network, mit dem die soziologische Erforschung von Agnostikern und Atheisten vernetzt werden soll. Die Europäische Wertestudie 2008 zeigt, dass der Anteil der bekennenden Atheisten von zwei auf vier Prozent gestiegen ist. Und die vorhin genannte Studie von Anna Strobl „Was Graz glaubt“ weist die nicht gläubigen Grazer/-innen als zweigrößte Gruppe (rund 28 %) im Zusammenhang mit den vorgestellten Religionsgemeinschaften aus. Auf einer Konferenz Europa der Religionen im Jahre 1994 wurde sichtbar gemacht, dass die Bemühungen um gemeinsame Grundlagen und eine unabhängige Ethik angesichts völlig neuer Herausforderungen – genannt wurde der „Einbruch“ der Agnostik und des Atheismus in unsere Gesellschaften – nicht mehr genügen könnten. Charles Taylor fand in diesem Zusammenhang Zustimmung mit seinem Vorschlag eines „Säkularismus des ‚overlapping consensus‘“.20 Der Religionspluralismus und seine Konsequenzen führen zu Konflikten, die nicht ohne Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Gesellschaft bleiben. Die Konfliktfelder sind mehrdimensional. Konflikten zwischen Religion bzw. Religionen einerseits und Gesellschaft, Wissenschaft, Politik, Staat andererseits stehen Konflikte zwischen Religionen, zwischen verschiedenen Richtungen innerhalb 19 EGMR 12. 5. 2009 (6303/05) Masaev vs. Moldavien. 20 Vgl. den Bericht im „Standard“ vom 2. 12. 1994, 3.

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3. Wissenschaft

einer Religion und zwischen Religion einerseits und a- bis antireligiösen Bewegungen andererseits gegenüber. Die „Entladungsmodi“ von Konflikten sind vielfältig. So gibt es heftige Auseinandersetzungen auf gesellschaftlicher und auf politischer Ebene um die Präsenz des Religiösen, was so lange kein Problem darstellt, als eine Streitkultur – zu dieser gehört die Faktenorientierung, die Abkehr von einem Schwarz-Weiß-Denken, die Begründung von Standpunkten, der Respekt vor der Meinung anderer – gepflogen wird. „Entladungsmodi“ sind aber auch „Hasspredigten“ und „Hassreden“, Diskriminierung und Phobie, Androhung und Anwendung von Gewalt wie zuletzt im Zusammenhang mit dem Anti-Islam-Video „Innocence of Muslims“. Diesen Entladungsmodi muss mit aller Entschiedenheit und mit unterschiedlichen Instrumenten entgegengetreten werden. Ein weites Feld der Auseinandersetzungen ist der konfessionelle Religionsunterricht in öffentlichen Schulen. Der Forderung nach Abschaffung steht die der Beibehaltung bei Einführung eines Ethikunterrichts für jene, die sich vom konfessionellen Religionsunterricht abmelden, bzw. ein Ethikunterricht als Pflichtfach für alle gegenüber. Für einen Religionsunterricht im Sinne eines „teaching about religions“ sind im Rahmen des OSZE/ODIHR Advisory Counsels of Experts on Freedom of Religion or Belief die sogenannten „Toledo Guiding Principles on Teaching about Religions and Beliefs in Public schools“ ausgearbeitet worden (2007), principles, die jedoch nicht die Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichtes fordern. Es ist nur verständlich, dass man deeskalieren und den Zusammenhalt der Gesellschaft sichern möchte. Nicht alles, was in Diskussion steht, scheint jedoch zielführend. Nennen möchte ich ein einseitiges, andere Grundrechte, wie insbesondere die Meinungsfreiheit, aber auch die Kunstfreiheit und die Wissenschaftsfreiheit weitgehend zurückdrängendes „Defamation of Religion“-Verbot, die Beschwörung einer christlichen europäischen Identität oder Leitkultur und den Rekurs auf einen für alle verbindlichen (undifferenzierten) Kanon von Werten, die Staat und Gesellschaft zusammenhalten sollen.

III. Defamation of Religion Seit der 1. UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban im Jahre 2001, jedenfalls aber seit dem Resolutionsentwurf der Genfer Folgekonferenz Durban II im Jahre 2009, die noch die Formel „Diffamierung von Religionen“ beinhaltete, ist insbesondere im Rahmen der UNO und ihrer Organe eine heftige Auseinandersetzung über die Zweckmäßigkeit eines Verbotes der Diffamierung von Religionen im Gange gewesen.



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Im Dezember 2011 verabschiedete die Generalversammlung der UNO einstimmig eine Resolution gegen religiöse Intoleranz, ohne aber auf das Konzept der „Defamation of Religion“ zu rekurrieren. Die Staaten sollen – so die Resolution – konkrete Maßnahmen ergreifen, um religiös motivierte Gewalt, Diskriminierung und andere Formen von Intoleranz zu bekämpfen, ohne aber die Freiheit der Meinungsäußerung einzuschränken.21 Befürchtet wurde und wird, dass ein Verbot der „Defamation of Religion“ ein Vehikel für Blasphemiegesetze (siehe weiter unten) sein könnte, mit denen vom Mainstream abweichende Religionen diskriminiert werden könnten. Auch in anderen internationalen Organisationen stand das Thema „Defamation of Religion“ auf dem Prüfstand. Zu nennen ist die Venedig-Kommission des Europarates22 und die OSZE.23 Hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf ein Alternativkonzept der internationalen NGO „Human Rights First“.24 Es umfasst folgende Punkte: 1. The need to combat violent hate crimes. 2. The importance of fighting hate speech through political – rather than legal – responses. 3. Counteracting the impact of hate crime and hate speech by addressing discrimination, and insuring respect for freedom of religion. Im Zusammenhang mit Regelungen betreffend „Defamation of Religion“ sei auch auf Regelungen betreffend die Blasphemie verwiesen. Irland stellt seit Kurzem die Veröffentlichung von Material unter Strafe, das gegenüber Glaubenssätzen stark 21 UNO-Resolution 19.  12.  2011, A/RES/66/168, http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/ N11/468/90/PDF/N1146890.pdf?OpenElement, (16. 10. 2012). 22 Vgl. den Report on the Relationship between Freedom of Expression and Freedom of Religion: The Issue of Regulation and Persecution of Blasphemy, Religious Insult and Incitement to Religious Hatred, adopted by the Venice Commission, 17./18.Oktober 2008. 23 Im Juni 2012 fand in Rom eine Tagung zum Thema „The Role of Civil Society in Combating Hate Crimes against Christians“ statt, die vom Office for Democratic Institutions and Human Rights/ ODIHR der OSZE organisiert wurde. Vgl. auch die von ODIHR herausgegebene Broschüre „Hate Crime Laws. A Practical Guide“, Warschau 2009. 24 Vgl. das Focus Paper on Defamation of Religions und den offenen Brief an die Delegationen der UNO-Mitgliedstaaten vom März 2010 (www.humanrightsfirst.org). Ferner die Dokumente „U.N. General Assembly Abandons Dangerous ‘Defamation of Religion’ Concept“ (19.  12.  2011), „Human Rights Groups Unite to Support Non-Judicial Methods to Combat Racist Hate Speech“ (28. 8. 2012), „U.S. Government Must Combat Hatred Without Restricting Speech“ (18. 9. 2012) im Zusammenhang mit dem Anti-Islam-Video „The Innocence of Muslims“, ferner die Empfehlung „Confronting Hatred While Respecting Freedom of Expression“ (www.humanrightsfirst.org, 26. 9. 2012); vgl. auch den Newsletter der NGO Human Rights Without Frontiers International, World: No more apologies; USA: Obama condemns anti-Islam video, highlights free speech, vom 26. 9. 2012.

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beleidigend ist, die von jeder Religion heiliggehalten werden.25 Auch in Österreich ist die Herabwürdigung religiöser Lehren unter Strafe gestellt.26 Der britische Historiker David Nash konstatiert im Zusammenhang mit Gotteslästerung in Europa eine Rückkehr zu Konzepten aus dem Mittelalter.27 In Deutschland hat das Cover des Satiremagazins „Titanic“, das den Papst mit Urinfleck auf der weißen Soutane zeigt, zur Forderung nach härterer Bestrafung für Blasphemie geführt.28 Jüngst hat der pakistanische Premier Raja Pervaiz Ashraf ein weltweites Blasphemieverbot gefordert.29 Pakistan hat seinerseits seit 1980 seine Blasphemiegesetze verschärft.30 Nach dem Protest der Punkband „Pussy Riot“ gegen Präsident Vladimir Putin in einer Kirche will Russland die Verletzung religiöser Gefühle künftig als Verbrechen bestrafen.31 Die problematischen Konsequenzen eine Kriminalisierung der „Defamation of Religion“ zeigt anhand von Fällen ein Report der NGO Human Rights First „Blasphemy Law Exposed“ vom März 2012.32 Die Studie des The New Pew Forum on Religion and Public Life „Rising Restrictions on Religion“ führt aus, dass Restriktionen besonders in Ländern üblich seien, die Blasphemie, Apostasie oder die Defamation of Religion verbieten.33 Im Zusammenhang mit einem Verbot der Defamation of Religion und Blasphemieregelungen sind zweierlei Sorgen berechtigt. Zum einen könnten hinter 25 Vgl. den Bericht im „Profil“ vom 11. 1. 2010, 56 f. 26 § 188 Strafgesetzbuch. Einige Blasphemieverfahren haben große Aufmerksamkeit nach sich gezogen. Vgl. auch § 283 Strafgesetzbuch, der die Verhetzung regelt. 27 David Nash: Blasphemy in the Christian World – A History; Oxford University Press, 2010 (first published 2007). 28 Vgl. insbesondere Martin Mosebach: Kunst und Religion. Vom Wert des Verbietens, in: „Berliner Zeitung“ v. 18.  6.  2012; Robert Spaemann: Beleidigung Gottes oder der Gläubigen?, in: „FAZ“ v. 25. 7. 2012. 29 Vgl. „Die Presse“ vom 22. 9. 2012, 7. 30 Jüngst ging der Fall eines pakistanischen christlichen Mädchens durch die Weltpresse. Es soll Seiten mit Koransuren verbrannt haben. Ein Imam soll verhaftet worden sein, der Beweise gegen sie manipuliert haben könnte; vgl. „Die Presse“ vom 3. 9. 2012, 6. 31 Vgl. „Die Presse“ vom 27. 9. 2012, 8. 32 www.humanrightsfirst.org (22. 8. 2011) 33 Das Strasbourg-Consortium „Freedom of Conscience and Religion at the European Court of Human Rights“ hat auf seiner Homepage auf die Studie verwiesen; vgl. www.strasbourgconsortium.org (22. 8. 2011). 34 Vgl. den Report on the Relationship between Freedom of Expression and Freedom of Religion: The Issue of Regulation and Persecution of Blasphemy, Religious Insult and Incitement to Religious Hatred, adopted by the Venice Commission, 17./18.Oktober 2008.



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einem solchen Paravent Freiheitsrechte, insbesondere Meinungsfreiheit, aber auch Kunstfreiheit und Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt werden. Zum anderen könnte aus solchen Verboten die Befugnis des Staates abgeleitet werden, zu ��� bestimmen, welche Ideen, Glaubenssätze und Weltanschauungen akzeptabel seien und welche nicht. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang noch zweierlei: Zum einen haben die involvierten Grundrechte der Religionsfreiheit und der Meinungsfreiheit ihre Schranken, aufgrund deren in den Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts auch eingegriffen werden darf (Art. 9 und Art. 10 EMRK), und die involvierten Grundrechte der Kunstfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit, die keinen expliziten Gesetzesvorbehalt kennen (Art. 17a und 17 StGG), haben immanente Gewährleistungsschranken, die sich u. a. durch entgegenstehende Grundrechte ergeben. Die Kollision von Grundrechten ist jedenfalls nichts Neues. Juristisch ist sie auf Basis des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu lösen. Zum anderen sollten die Sprache und sonstige Artikulationsformen der Kombattanten von einer gewissen Zurückhaltung geprägt sein. In einer kurzen Zusammenfassung des Report on Freedom of Religion and Religious Insult der VenedigKommission vom Oktober 2008 heißt es: „But reasonable self-restraint should be used if constructive debate is to replace dialogue of the deaf.“34 Ist Zurückhaltung die eine Seite der Medaille, dann darf die andere Seite nicht übersehen werden. Sie besteht darin, Kritik, mag sie auch zugespitzt sein, auszuhalten. Anmerken möchte ich, dass jedenfalls der Kunst ihre mitunter zuspitzende Ausdruckweise – ich denke in diesem Zusammenhang z. B. an die sogenannten Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ oder das „Crucifixion“ genannte Triptychon der französischen Künstlerin Bettina Rheims, das eine weibliche Gekreuzigte zeigt, oder Alfred Hrdlickas Radierung „Leonardos Abendmahl, restauriert von Pier Paolo Pasolini“, auf der einige Jünger bei sexuellen Handlungen zu sehen sind, oder das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“, das gegen den Klerus jedweder Religion stichelt, oder die Comics von Gerhard Haderer „Das Leben Jesu“34a – Jesus nimmt eine Prise Weihrauch/ Haschisch – oder der Film „Paradies: Glaube“ von Ulrich Seidl, in dem das Kruzifix an der Wand erotischen Zwecken dient – nicht genommen werden darf. ­Christoph Enders spricht vom „Schutz der geistigen Provokation“.35 34a Wien Ueberreuter, 2002. 35 Enders, Christoph: Toleranz als Rechtsprinzip? – Überlegungen zu den verfassungsrechtlichen Maßgaben anhand höchstrichterlicher Entscheidungen, in: Enders, Christoph/Kahlo, Michael (Hrsg.): Toleranz als Ordnungsprinzip? Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe,

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IV. Christliche europäische Identität Es ist zwar richtig, dass das Christentum in Europa prägenden Einfluss hatte und hat. Das Christentum jedoch zur europäischen Leitkultur zu erklären oder von einer christlichen europäischen Identität zu reden, ist freilich – nicht zuletzt angesichts zahlreicher anderer Europa prägender Faktoren – Ideologie, eine Ideologie, die einer der Nährböden dafür ist, dass – auch im Alltag – nicht christliche Religionen diskriminiert werden. Und denjenigen, die in den letzten Jahren – in Abgrenzung zum Wahlslogan einer österreichischen Partei „Abendland in Christenhand“ – zwar nicht (mehr) vom Christentum als europäischer Leitkultur, sondern vom Christentum als Basis des europäischen Wertekanons sprechen oder die die Frage stellen, ob es denn verwerflich sei, nach dem christlichen, spirituellen Erbe des Kontinents zu fragen und ob dieses Erbe noch tauge und wie es als Angebot für Zugehörigkeit und Identität bewahrt werden könne,36 sei gesagt, dass man – trotz „lauteren Herzens“ – schnell auf der gleichen schiefen Ebene landet, wenn man nicht explizit und nachdrücklich zweierlei klarstellt: Der Kulturbegriff darf nicht auf einen religiösen Aspekt verkürzt, die Identitätsfrage nicht auf nationale und/oder religiöse Aspekte reduziert und der Wertekanon, auf den man alle verpflichten möchte, nicht religiös legitimiert werden. Und: Man sollte in Bildungseinrichtungen und in den Medien dahin gehend informieren, dass in der Traditionslinie zwischen dem antiken Griechenland und dem christlichen Abendland die arabische Vermittlertätigkeit steht,37 und dass sich zu Europa und in Europa verschiedenste Kulturen, die keltische, die slawische, die romanische etc. verschmolzen haben. Wolf Lepenies hat dies in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Jahre 2006 mit einem religiösen Bild auf den Punkt gebracht, wenn er sagt, dass weder Europa noch der Islam eine reine Seele hätten.38

Paderborn 2007, 252; vgl. auch Dreier, Horst: Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, in: Rechtswissenschaft 1/2010, 38. 36 So Patterer, Hubert in: „Kleine Zeitung“ vom 24. 5. 2009, 12. 37 Vgl. aber die Gegenthese von Gouguenheim, Sylvain: Aristoteles auf dem Mont Saint-Michel. Die gesellschaftlichen Wurzeln des christlichen Abendlandes, Darmstadt 2010. 38 Vgl. die gekürzte Fassung der Dankesrede auf der Website von DIE WELT – WELT ONLINE, www.welt.de/print-welt/article158335/Selbstbewusste_Freiheit.html.



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V. Europa und Staat als Wertegemeinschaften Ein Aspekt der Säkularität des heutigen Staates besteht darin, dass er auf dem Gesetz basiert, dass die „rule of law“ als eine tragende Säule der Herrschaftsausübung darstellt, und dass einer der wichtigsten Staatszwecke die Sicherung der Freiheit der Bürger/-innen durch das Gesetz und im Rahmen des Gesetzes ist. Migration und der Islam in Europa haben freilich dazu geführt, dass zunehmend – gleichsam als Bollwerksstrategie – vom Staat und von Europa als einer „Wertegemeinschaft“ gesprochen und der Wertekanon beschworen wird, der den Staat und die Gesellschaft zusammenhalten soll. Den Werteplädoyers muss zweierlei entgegengehalten werden. Zum einen haben Werte wie die Würde des Menschen, die Gleichheit, die Menschenrechte, die Demokratie, der Grundsatz der Trennung von Staat und Religion keine präzisen Bedeutungsgehalte. So ist der Zugang verschiedener Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Tragen des Kopftuchs trotz ein und derselben Bestimmungen über das Recht auf Privatheit und das Recht auf Religionsfreiheit unterschiedlich, und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigt in dieser Frage nationale Besonderheiten wie z. B. im Fall des türkischen Kopftuchverbots den Laizismus türkischer Prägung.39 Oder: Die Modelle der Gestaltung der Beziehung zwischen Staat und Religion in Europa sind vielfältig und reichen von den englischen und skandinavischen Staatskirchen bis zum laizistischen Modell in Frankreich. Gleiches gilt für die Demokratiemodelle, die auf den Skalen mehr plebiszitär oder mehr repräsentativ bzw. mehr liberal bzw. weniger liberal angesiedelt sind. Die Folge ist, dass die unbestimmten Wertbegriffe nicht nur der Vielfalt ihrer Ausprägungen nicht Rechnung tragen. Sie können auch relativ beliebig „aufgeladen“ werden, um dadurch und damit Macht auszuüben. Zum anderen besteht die Gefahr, dass anstelle der Herrschaft des Rechtes die Herrschaft der Werte tritt. Der Kampf gegen Sekten z. B. ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie „andere“ religiöse Überzeugungen unter Berufung auf Werte diskriminiert werden. Um nicht missverstanden zu werden ist festzuhalten, dass dem Staat, der Rechtsordnung, der Gesellschaft Werte zugrunde liegen und dass diese zugrunde liegenden Werte auch ihren Beitrag zum Zusammenhalt, zu einer gemeinsamen 39 Der EGMR spricht in ständiger Judikatur von einem Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten („margin of appreciation“).

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Basis leisten. Diese Werte müssen aber, soll es nicht zu einer unkontrollierten und damit freiheitsgefährdenden Herrschaft der Werte über Menschen kommen, durch die Rechtsordnung mediatisiert werden. Nur als Rechtsnormen können Werte Verbindlichkeit beanspruchen. Wenn von Werten und deren Bedeutung für das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft gesprochen wird, wird immer wieder Ernst-Wolfgang Böckeförde mit dem Satz zitiert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“40 Übersehen und verschwiegen wird, was Böckenförde für eine Situation heterogener Vielfalt in ethischer, religiöser und kultureller Hinsicht vorschlägt, nämlich „die Stabilisierung einer offenen säkularen Freiheitsordnung“, wozu es freiheitsbezogener, aber auch freiheitsbegrenzender Gesetze bedürfe, deren Einhaltung und Beobachtung dann strikt durchgesetzt werden.41 Oder um mit Robert Spaemann zu sprechen: „Das Europa der Zukunft sollte eine rechtliche Gemeinschaft sein, die kleinere Gemeinschaften und deren eigene Werte schützt und akzeptiert, aber davon Abstand nimmt, selbst Wertegemeinschaft zu sein.“42

VI. Nichtdiskriminierung Was sollte im Zusammenhang mit Deeskalierung und gesellschaftlichem Zusammenhalt in vorderster Linie stehen? Zu nennen ist jedenfalls die Nichtdiskriminierung. Es gibt und es stehen in Diskussion zahlreiche Maßnahmen gegen Diskriminierung aus religiösen Gründen. Dabei geht es nicht nur um das Antidiskriminierungs- und Gleichbehandlungsrecht, sondern auch um ein antidiskriminatorisches sozial-reales Umfeld der Rechtsordnung mit seinen Akteuren, insbesondere Politik, Medien, Religionen (insbesondere die Mainstream-Religionen), Bildungseinrichtungen, Eltern und Familie etc. Nachfolgend sollen einige Vorschläge für Maßnahmen gegen Diskriminierung aus religiösen Gründen genannt bzw. erstattet werden. Das Gemeinschaftsrecht sieht eine begrenzte horizontale Wirkung von Rechten vor, auch wenn das diesbezügliche Antidiskriminierungsrecht gerade im Zusammenhang mit Religion noch lückenhaft ist. Die Lücke entsteht dadurch, dass die Rassendiskriminierungsrichtlinie43, die einen breiten Anwendungsbereich hat, 40 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Der säkularisierte Staat, 71. 41 Böckenförde, Der säkularisierte Staat, 35 f. 42 Spaemann, Robert: Die Diktatur der Werte, in: „Der Standard“ vom 23. 8. 2001, 31; vgl. auch ders., Europa – Rechtsordnung oder Wertegemeinschaft, in: NZZ vom 20./21. 1. 2001, 92 f. 43 Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. 6. 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl L 180/22 v 19. 7. 2000.



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lediglich Rasse und ethnische Herkunft, nicht aber Religion als Diskriminierungstatbestand betrachtet. Die Richtlinie zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf44 sieht demgegenüber auch den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung vor, hat aber einen engen Anwendungsbereich. Eine der Rassendiskriminierungsrichtlinie ähnliche Ausweitung des Anwendungsbereichs, nämlich auf Sozialschutz, soziale Vergünstigungen und Zugang/Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum, wäre wünschenswert. Derzeit liegt lediglich ein diesem Wunsch Rechnung tragender Richtlinienentwurf der Kommission vor.45 Codes of Conduct für die Politik, die politische Bildung, die Erziehung, das Bildungssystem, die Medien, die Religionsgemeinschaften etc. sollten vom jeweiligen Bereich erarbeitet werden. Die Codes sollten an einem respektvollen Verhalten gegenüber allen Religionen, aber auch gegenüber Agnostizismus und Atheismus orientiert sein. Als Beispiel möchte ich das OSZE/ODIHR Handbook on Human Rights and Fundamental Freedoms of Armed Forces Personnel nennen. Ein ganzes Kapitel widmet sich Richtlinien betreffend den Respekt für Religion und Glaube. Das Handbuch ist nicht nur für das Militär gedacht, sondern auch für Parlamentarier, Verwaltungsbeamte, Richter/-innen, NGOs etc.46 In Frankreich ist vor Kurzem ein erster Statusreport betreffend das Management der fait religieux in Unternehmen und in öffentlichen Institutionen und Dienstleistungseinheiten erstellt worden. Der Statusreport war Gegenstand eines Studientages, der von zwei Organisationen, nämlich L’ANVIE Sciences de l’homme & entreprises und Cultes & Cultures Consulting im November 2010 veranstaltet worden ist.47 Folgende Fragen wurden diskutiert: • Upon what criteria can management meet the difficult requirements of ensuring employees their freedom to belief without impeding for others the freedom not to believe?

44 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. 11. 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl L 202/16 v 2. 12. 2000. 45 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, KOM(2008) 426 endgültig vom 2. 7. 2008. 46 OSZE/ODHIR 2008; www.osce.org/odihr. 47 Vgl. den Bericht darüber im Newsletter des Strasbourg Consortiums (www.strasbourgconsortium. org vom 8. 6. 2010), Kontakt: www.anvie.fr.

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How may public services, guarantors of state secularism, guarantee the demands of users without provoking segregation among citizens? • What limits may be placed upon individual liberties without being discriminatory? Das Beispiel sollte Schule machen und könnte Basis sein für einen Leitfaden, wie mit religiöser Diversität in einem Unternehmen umgegangen werden soll. Im Zusammenhang mit Genderfragen und -problemen sind in den letzten Jahren Leitfäden für Gender Mainstreaming entwickelt worden. Zweck des Mainstreaming ist es, das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter im Wirkungsbereich von Rechtsnormen und sonstigen Regulativen, von Entscheidungen, von Verhaltensweisen etc. in der Weise zu verfolgen, dass sich das im jeweiligen Lebensbereich erreichte Niveau der faktischen Chancengleichheit möglichst nachhaltig erhöht und keinesfalls verschlechtert. Auch diese Leitfäden könnten Vorbild für Leitfäden für ein Religious Diversity Management sein. Im Zusammenhang mit Verhaltenskodizes von und für Religionsgemeinschaften sollte einem etwaigen Missionsauftrag der jeweiligen Religion besonderes Augenmerk zugewendet werden. Ernst-Wolfgang Böckenförde nennt zu Recht als positives Beispiel die Missionsenzyklika Johannes Pauls II., in der gesagt werde, die Kirche verkünde das Evangelium ohne es aufzudrängen, achte die Freiheit der Menschen, an die sie sich wende und respektiere die jeweilige Kultur. Kurz, so Böckenförde, die Kirche sollte sich zum Fürsprecher einer offenen Neutralität des Staates einschließlich der Gleichberechtigung aller Bekenntnisse machen.48 Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf einen Gastkommentar des Benediktiners Michael F. Köck. Köck konstatiert, dass die katholische Kirche durch die Medien in die Rolle des „Bollwerks gegen den Islam“ gedrängt werde und ein „Bollwerk-Syndrom“ entwickle, in dem sie den „Feind“ und dessen – nur vermeintlich – erfolgreiche Strategie kopiere, nämlich „intolerant, militant und obskurant (zu) spielen“.49 Samuel Huntington stellt dem Konfliktfeld „fremde Kultur (Religion)“ einen „konstruktiven“ Weg gegenüber. Der konstruktive Weg in einer multi-kulturellen (religiösen) Welt bestehe darin, auf Universalismus zu verzichten, Verschiedenheit zu akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten zu suchen.50 Für Letztes gibt Köck ein Beispiel: Man könnte die soziale Note des Islam „abkupfern“ und dabei an die 48 „Religionsfreiheit ist nicht teilbar.“ Ein Gespräch mit Böckenförde, Ernst-Wolfgang in: Herder-Korrespondenz 58 6/2004, 290. 49 Köck, Michael F.: Kollektives Bollwerk-Syndrom in der katholischen Kirche, in: „Die Presse“ vom 7. 2. 2009, 33. 50 Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert8, München/Wien 1998, 526.



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eigene Soziallehre und die Befreiungstheologie, aber auch den religiösen Sozialismus, wie er von jüdisch-christlichen Theologen entwickelt worden ist, anknüpfen.

VII. Eigenständigkeit und Kritikfähigkeit Das Angebot religiöser Orientierung ist vielfältig geworden. Aufgrund der Freiheit, sich eine Religion zu wählen, steht dem vielfältigen Angebot auch eine unübersehbare Nachfrage gegenüber. Auf diesem „Markt der Religionen“ finden sich nicht nur „anerkannte“ Religionen, sondern auch Psychogruppen (-kulte), New Age- und Esoterik-Bewegungen, Lebenshilfen, Branchen alternativer Heilkunde und das, was (abwertend und daher diskriminierend) als „Sekten“ bezeichnet wird. Dass mit manchen Angeboten am Markt auch Gefahren verbunden sind, ist evident. Will man den Staat nicht als „Therapeutokratie“ (Jürgen Habermas) installieren, der zu wissen meint, was für den Menschen gut und heilsam ist, und anerkennt man, dass staatlichen Aktivitäten gegenüber diesem Markt – von der Information über die Warnung bis zum Konsumentenschutz – Grenzen, darunter grundrechtliche Grenzen gesetzt sind, dann muss dem Erziehungsparadigma Augenmerk zugewendet werden. Es sollte darin bestehen, Menschen von Jugend an in ihrer Persönlichkeit, Kritikfähigkeit, Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit51 zu stärken, weil diese Eigenschaften geeignete Mittel gegen gefährliche Angebote, verlockende Versuchungen und repressives Gruppenverhalten sind. Die Menschenrechtskataloge sind umfangreich und Ausdruck der Würde des Menschen. Die Würde des Menschen besteht aber auch darin, einmalig zu sein und anders sein zu dürfen. Dieses Recht auf das Anderssein sollte von allen Sozialisierungseinrichtungen, d. h. von der Familie, der Schule etc., vermittelt werden.

VIII. Was kann zum Zusammenhalt in einer multi-religiösen Gesellschaft beitragen? 1. Fähigkeiten und Verfahren, mit Differenzen und Konflikten umzugehen Die Fragmentierung unserer Gesellschaft schreitet voran. Zentrifugale Kräfte nehmen zu. Soziale Kohäsion zu sichern ist somit eine der zentralen Aufgaben der Politik. 51 Vgl. dazu Brünner, Christian: Eigenverantwortlichkeit als gesellschaftliches Prinzip, in: Kopetz, Hedwig/Marko, Josef/Poier, Klaus (Hrsg.): Soziokultureller Wandel im Verfassungsstaat. Phänomene politischer Transformation. Festschrift für Wolfgang Mantl, Wien/Köln/Graz 2004 I, 519 ff.

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In seinem Beitrag „Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung“ in Heft 1/2010 der neuen Zeitschrift „Rechtswissenschaft“ erteilt Horst Dreier 52 dem Erfordernis einer verfassungskonformen Gesinnung oder entsprechenden Werteloyalität, um Kohäsion zu sichern, eine Absage. Vom Staatsbürger im Allgemeinen verlange der freiheitliche Verfassungsstaat gerade kein Treuebekenntnis, keinen Bürgereid auf die Verfassung und keine Identifikation mit ihren vermeintlichen oder tatsächlichen Werten. Freilich drängt sich auch Dreier die Frage auf, was bei so vielen Freiheitsgewährleistungen und Distanzierungsmöglichkeiten an Gemeinsamkeiten verbleibe. Dabei folgt er nicht gängigen Vorschlägen für das gesuchte gemeinsame Band wie Vaterland und christliche Kultur, Zivilreligion im Sinne einer Erhaltungsideologie und Verfassungspatriotismus. Die innere „Klammer“, das was eine freiheitliche und plurale Gesellschaft zusammenhalte, könne dabei – so Dreier – nicht auf ein einziges Konzept zurückgeführt werden und müsse im Übrigen vielleicht stärker prozedural gedacht werden. Horst Dreier macht daher Uneinigkeit und Dissens selbst zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen und vermutet, dass der Konflikt, der nach bestimmten Regeln und bestimmten Formen ausgetragene Konflikt, einen starken Integrationsfaktor bilden könne. „Homogenität“, so Dreier, „meint also im Wesentlichen prinzipielle Verständigungsmöglichkeit über Differenzen und die Fähigkeit und Bereitschaft, an den entsprechenden Prozeduren entweder mitzuwirken oder sie doch zumindest als aufmerksamer Beobachter zu begleiten.“ Voraussetzungen von Homogenität sind für Dreier die gemeinsame Sprache, ein Mindestmaß an sozialer Homogenität und eine „Emanzipationsstruktur der Gesellschaft“.53

2. Toleranz Als zweites einigendes Band nennt Dreier die Toleranz als Bürgertugend. Wenn als wichtigste Voraussetzung für gelingende und umfassende demokratische Selbstbestimmung die politische Inklusion ausgemacht werden könne, so stelle für den Bereich der privaten, persönlichen Selbstbestimmung Toleranz die wichtigste Tugend dar. Toleranz, verstanden als eine Forderung an den Bürger, nicht an den Staat, der ethisch neutral zu sein habe, bedeute im Kern, sich den Zumutungen der Unterschiedlichkeit der Einstellungen, Lebensstile, Werte etc. gewachsen zu zeigen.54 52 Dreier, Verfassungsstaat, 11 ff. 53 Dreier, Verfassungsstaat, 37, 36. 54 Dreier, Verfassungsstaat, 37  f.; Zur Toleranz vgl. ferner Mahlmann, Matthias/Rottleuthner, Hubert (Hrsg.): Ein neuer Kampf der Religionen? Staat, Recht und religiöse Toleranz, Berlin 2006; Enders,



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Toleranz muss nach meinem Verständnis freilich mehr umfassen, als sich den Zumutungen der Vielfalt gewachsen zu zeigen. Toleranz sollte das Andere, das Fremde nicht nur ertragen, sondern auch als Bereicherung empfinden. Darüber hinaus muss Toleranz gerade im interpersonalen, interreligiösen Dialog Bereitschaft inkludieren, einander gleichwertig gegenüberzustehen, einen offenen „Ausgang“ des Dialogs zuzulassen sowie vom jeweils anderen zu lernen, Voraussetzungen, die dann nicht gegeben sind, wenn ich mich im Besitz absoluter Wahrheit weiß und auf dieser Basis den Dialog führe. Daraus ist nicht zu folgern, dass ich das Überzeugtsein von etwas, ein „Wissen“ um meine Identität ablehne. Ich kann und muss – von einer Metaebene aus betrachtet – akzeptieren, dass es insbesondere unter Berufung auf eine Transzendenz, auf Dogmen und Lehren, einander ausschließende Wahrheitsansprüche gibt. Ich meine lediglich, dass auf der Ebene von Toleranz und Dialog der Anspruch, im Besitz absoluter Wahrheit zu sein, und eine Haltung, die die eigene Wahrheit für andere absolut setzen möchte, hinderlich sind, wenn nicht überhaupt Toleranz und Dialog unmöglich machen. Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade gegenüber monotheistischen, einer Wahrheit verpflichteten Religionen diesbezüglich Skepsis geäußert, ja mitunter sogar ihre Demokratie- und Pluralismusverträglichkeit infrage gestellt wird.55 Toleranz verlangt Einübung. Für Österreich verweist Art. 14 Abs. 5a der Bundesverfassung unter anderem auf Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen als Grundwerte der Schule. Freilich ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Schule gefordert, sondern, wie Horst Dreier es nennt, alle „Sozialisationsagenturen der Gesellschaft“. Auf eine nicht von der Hand zu weisende „Falle“ verweist Robert Spaemann, wenn die Toleranz in den Wertekanon aufgenommen werde. Wahre Toleranz und die Überzeugung, dass die Würde eines jeden unabhängig vom Glauben der Person sei, seien im Gesetz verankert. Werde die Toleranz jedoch zum integrierten Bestandteil einer Wertegemeinschaft, wandle sich die Forderung nach der Respektierung von Überzeugungen anderer um in die Forderung, keine Überzeugungen Christoph/Kahlo, Michael (Hrsg.): Toleranz als Ordnungsprinzip? Die moderne Bürgergesellschaft zwischen Offenheit und Selbstaufgabe, Paderborn 2007. 55 Vgl. zur diesbezüglichen Diskussion Manemann, Jürgen: Monotheismus unter Beschuß. Religionskritik in der „Berliner Republik“, in: Herder-Korrespondenz 8/2003, 407 ff. Vgl. ferner z. B. Misik, Robert: Gott behüte! Warum wir die Religion aus der Politik raushalten müssen, Wien 2008; Sloterdijk, Peter: Gottes Eifer: Vom Kampf der drei Monotheismen2, Frankfurt/M 2007. – Für Martin Odermann ist der Fundamentalismus in den traditionell-monotheistischen Religionen zu einem Massenphänomen geworden. In den Ländern und Kulturen nicht monotheistischer Religionen gäbe es jedoch kein fundamentalistisches Phänomen vergleichbarer Größe; Odermatt, Martin: Der Fundamentalismus. Eine Gott – eine Wahrheit – eine Moral? Psychologische Reflexionen, Zürich 1991.

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zu haben, mit denen andere nicht übereinstimmten.56 Wenn es um die Suche nach dem Zusammenhalt in einer multireligiösen, multikulturellen Gesellschaft geht, soll nochmals auf Samuel Huntington verwiesen werden. Er widmet sich zwar vorranging den Ursachen und Ausprägungen des Zusammenstoßes von Kulturen – ein Eckpfeiler seines Kulturbegriffs ist die Religion –, kommt dann aber am Ende seiner Analyse doch auf einen „konstruktiven“ Weg zu sprechen. Der „konstruktive“ Weg in einer multikulturellen (multireligiösen) Welt bestehe darin, auf Universalismus zu verzichten, Verschiedenheit zu akzeptieren und nach Gemeinsamkeiten zu suchen.57 Letzteres sei insbesondere den Religionen, aber auch Agnostizismus und Atheismus ans Herz gelegt.

56 Spaemann, Diktatur (Anm. 42). 57 Vgl. Huntington, Kampf (Anm. 50), 526.



3.15. Ist ein absolutes Bettelverbot grundrechtswidrig?

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3.15. Christian Brünner, Ist ein absolutes Bettelverbot grundrechtswidrig?

in: Schalk (Hrsg.), Abräumen! Zur Hierarchisierung von öffentlichem Raum im Zuge von Kapitalisierung und Profitausrichtung – soziale, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen, Graz 2014 [in Druck]

Gesetzliche Bestimmungen betreffend die Bettelei 1 In landesgesetzlichen Bestimmungen finden sich seit geraumer Zeit Regelungen betreffend die Bettelei.2 Kompetenzgrundlage ist die örtliche Sicherheitspolizei gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Bundesverfassung. In jüngerer Zeit sind die Bestimmungen betreffend Bettelei verschärft worden. Salzburg3 und die Steiermark4 haben absolute Bettelverbote erlassen,5 das heißt, dass nicht nur aufdringliches Betteln und das Betteln mit Minderjährigen verboten ist, sondern jede Form des Bettelns, auch das sogenannte stille (passive) Betteln. Die Verschärfungen haben zur Einschaltung des Verfassungsgerichtshofs geführt.6

1 Für die Mitwirkung bei der Erstellung dieses Beitrages bedanke ich mich bei Frau Anita Rinner und Herrn Hannes Mayer. 2 Alle Bundesländer bis auf das Burgenland haben Bestimmungen betreffend die Bettelei erlassen. In Eisenstadt gibt es eine ortspolizeiliche Verordnung (vom 24. 5. 2005), die aufdringliches Betteln und Betteln mit Kindern untersagt. 3 § 29 des Salzburger Landessicherheitsgesetzes vom 1. 6. 2009 LGBl. Nr. 57/2009. 4 §  3a des Steiermärkischen Landes-Sicherheitsgesetzes, LGBl. Nr. 24/2005, zuletzt idF LGBl. Nr. 37/2011. Im Unterschied zur Salzburger Regelung ermächtigt das Gesetz die Gemeinden, Erlaubnisbereiche für das Betteln einzurichten, mit Ausnahme des Bettelns unter Einsatz von unmündigen minderjährigen Personen oder in aufdringlicher Weise. 5 Ein absolutes Bettelverbot gab es auch in Tirol und Vorarlberg. Mittlerweile gibt es ein relatives Bettelverbot. 6 Beim VfGH sind Verfahren betreffend die Regelungen in Salzburg, in der Steiermark, in Wien, Oberösterreich und Kärnten anhängig gemacht worden.

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Mittlerweile liegen Entscheidungen des VfGH betreffend die Regelungen in Kärnten7, Oberösterreich8 und Salzburg9 vor. In den genannten Entscheidungen hat der VfGH Folgendes festgestellt: Dem Landesgesetzgeber steht es kompetenzrechtlich zu, im Rahmen der örtlichen Sicherheitspolizei gegen unerwünschte Erscheinungsformen der Bettelei Regelungen zu treffen (Entscheidung betreffend die Regelung in Oberösterreich). Bettelverbote, die bloß bestimmte Erscheinungsformen des Bettelns unter Strafe stellen („relative“ Bettelverbote), z. B. aggressives Betteln, Betteln mit Kindern, gewerbsmäßiges Betteln, sind nicht verfassungswidrig (Entscheidungen betreffend die Regelungen in Oberösterreich und Kärnten). Hingegen sind absolute Bettelverbote, die auch das „stille Betteln“ umfassen, verfassungswidrig. Ein solches absolutes Bettelverbot ist unsachlich und widerspricht der in Artikel 10 EMRK garantierten Freiheit der Meinungsäußerung (Entscheidung betreffend die Regelung in Salzburg). Bettelverbote verstoßen jedoch nicht gegen Artikel 8 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens), so der VfGH. Dementsprechend hat der VfGH die Bettelverbotsbestimmungen in Kärnten und Oberösterreich als nicht verfassungswidrig erkannt, das (absolute) Bettelverbot in Salzburg aber als verfassungswidrig aufgehoben. Die Sozialschädlichkeit des Bettelns10 wird mitunter damit begründet, dass die Bettelei in „organisierter“ Form erfolge. Bewusst oder unbewusst wird damit eine Sichtweise dergestalt ausgelöst, dass Betteln der organisierten Kriminalität zuzurechnen sei. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass das Gerichtsstrafrecht drei Straftatbestände beinhaltet, mit denen zu Recht als sozialschädlich bewertete Formen der Bettelei hintangehalten werden sollen.11 Anzumerken ist, dass der Verfassungsgerichtshof schon einmal mit einem Antrag befasst gewesen ist, ein in einer ortspolizeilichen Verordnung ausgesprochenes absolutes Bettelverbot auf seine Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Es handelte sich dabei um eine ortspolizeiliche Verordnung der Stadtgemeinde Fürstenfeld. Der Verfassungsgerichtshof hat diese Verordnung mit der Begründung 7 Erkenntnis vom 30.  6. 2012, G118/11-17. 8 Erkenntnis vom 30. 6. 2012, G132/11-23. 9 Erkenntnis vom 30. 6. 2012, G155/10-9. 10 Bestimmungen betreffend Bettelei (im Zusammenhang mit dem Armenwesen) haben eine lange Tradition; vgl. z. B. den Beitrag „Dem Publico überlästig. Bettlerinnen und Bettler in Graz im 18. Jahrhundert“ von Elke Hammer-Luza im Historischen Jahrbuch der Stadt Graz, Band 41, 2011. Einen historischen Rückblick (und eine rechtliche Analyse) bietet auch Michaela Ley-Schabus (Bettelverbote aus rechtlicher und rechtspolitischer Sicht, in Festschrift Charlotte Havranek, hrsg. vom Amt der Kärntner Landesregierung Klagenfurt, 2006, 137 ff.). 11 Die Straftatbestände sind unten im Kapitel 2.2. aufgelistet.



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aufgehoben, dass die Gemeinde nicht kompetent sei, diese Angelegenheit in der Form einer ortspolizeilichen Verordnung zu regeln.12 Trotz absoluter Bettelverbote sind bettelnde Menschen nicht aus dem Straßenbild verschwunden. Ausweichwege sind das Verkaufen von Straßenzeitungen und die Straßenmusik.13 Beides erfolgt mitunter in aufdringlicher Weise. Das seinerzeitige relative Bettelverbot – aufdringliches Betteln und Betteln mit Minderjährigen war verboten – bot jedenfalls eine Handhabe, zu Recht unerwünschte Formen des Bettelns hintanzuhalten. § 3a des Steiermärkischen Landes-Sicherheitsgesetzes regelt die Bettelei. Absatz 1 bestimmt, dass, wer an einem öffentlichen Ort um Geld oder geldwerte Sachen bettelt, eine Verwaltungsübertretung begeht, die – gemäß § 4 des Gesetzes – mit Geldstrafe bis zu EUR 2000,– zu bestrafen ist. Das Erworbene ist für verfallen zu erklären. Gemäß Absatz 2 wird die Gemeinde ermächtigt, durch Verordnung das Betteln – mit Ausnahme des Bettelns mit unmündigen minderjährigen Personen oder in aufdringlicher Weise – an bestimmten öffentlichen Orten für zulässig zu erklären (Erlaubnisbereich). Betteln im Erlaubnisbereich unter Einsatz unmündiger minderjähriger Personen oder in aufdringlicher Weise wird zur Verwaltungsübertretung erklärt, die gleich zu bestrafen ist, wie der Verstoß gegen das absolute Bettelverbot. Die Bestimmung des § 3a scheint in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig­ zu sein. Nachfolgend soll die Argumentation im Antrag an den Ver­ fassungsgerichtshof,14 die Bestimmung wegen Verfassungswidrigkeit aufzuheben, nachgezeichnet werden.

12 Erkenntnis des VfGH vom 5. 12. 2007, V41/07-10. 13 § 85 Absatz 3 der Straßenverkehrsordnung wird von einer „Lizenz zur Ausübung der Bettelmusik“ gesprochen. 14 Individualantrag gemäß Art. 140 Abs. 1 B-VG. Mittlerweile hat der Verfassungsgerichtshof §  3a des Steiermärkischen Landes-Sicherheitsgesetzes wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben und ausgesprochen, dass § 3a des Steiermärkischen LandesSicherheitsgesetzes LGBl. 24/2005 in der Fassung LGBl. 88/2005, das ist die Fassung vor der Novelle LGBl. 37/2011 – Verbot des aufdringlichen Bettelns und des Bettelns mit unmündigen Minderjährigen – wieder in Kraft tritt (Erkenntnis VfGH vom 6. 12. 2012 G 64/11-8). Der Verfassungsgerichtshof begründet sein Erkenntnis damit, dass eine umfassende, die Bettelei schlechthin ohne jegliche Differenzierung verbietende Regelung sachlich nicht zu rechtfertigen sei und dass sie zudem gegen Art. 10 EMRK verstoße. Die aufgehobene Bestimmung verstoße jedoch nicht – so der Verfassungsgerichtshof – gegen Art. 7 und Art. 8 EMRK.

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II. Verletzung von Grundrechten durch ein absolutes Bettelverbot 1. Verletzung des Rechtes „keine Strafe ohne Gesetz“ (Art. 7 EMRK) 1.1. Schutzbereich Art. 7 EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) ist auf strafrechtliche Verfahren und Tatbestände im Sinne des Art. 6 EMRK und damit auch auf das Verwaltungsstrafrecht anwendbar. Die Bestimmung enthält u. a. ein Bestimmtheitsund Klarheitsgebot für gesetzliche Straftatbestände. Der Straftatbestand muss somit hinreichend bestimmt und klar formuliert sein. Dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung muss im Sinne der notwendigen Vorhersehbarkeit der strafrechtlichen Verurteilung entnommen werden können, für welche Handlungen und Unterlassungen der Einzelne strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. 1.2. Verletzung des Bestimmtheits- und Klarheitsgebotes Das Bestimmtheits- und Klarheitsgebot des Art. 7 EMRK wird durch § 3a Abs. 1 Steiermärkisches Landes-Sicherheitsgesetz verletzt. Das Tatbestandelement (betteln) „an einem öffentlichen Ort“ ist nicht hinreichend bestimmt und klar. Damit ist nicht vorhersehbar, wann Betteln den Tatbestand der Verwaltungsübertretung erfüllt. Der Begriff „öffentlicher Ort“ kann Bedeutungsgehalte haben, die den Straf­ tatbestand weiter oder enger ziehen. So könnte unter einem öffentlichen Ort ein allgemein zugänglicher Ort oder ein Ort verstanden werden, der in öffentlichem Eigentum, nicht aber im Privateigentum steht. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs kann auch durch eine systematische Interpretation nicht beseitigt werden. So spricht z. B. § 2 Abs. 1 lit a des Steiermärkischen Sammlungsgesetztes15 von einem öffentlichen oder allgemein zugänglichen Ort, verwendet also offensichtlich die Begriffe „öffentlich“ und „allgemein zugänglich“ nicht synonym. Mitglieder des Landtages Steiermark verstehen den Begriff „öffentlicher Ort“ offensichtlich dergestalt, dass er nicht Orte umfasst, die im Privateigentum stehen. So hat der SPÖ-Klubobmann im Landtag, Walter Kröpfl, in der ORF-Fernsehsendung „Orientierung“ am 20. 2. 2011 wörtlich Folgendes gesagt: „Die Kirche kann auf ihren Privatgründen, auf vor allem sakralen Bauten, das Betteln weiter erlauben. Es können auch andere Einrichtungen auf ihren Privatgründen das Betteln weiterhin erlauben. Da gibt es ja keine Hindernisse. Das ist ja der Unterschied 15 LGBl. Nr. 82/1964, idF LGBl. Nr. 87/2005.



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zum generellen Bettelverbot.“ Unsicherheit über den normativen Bedeutungsgehalt soll auch im Minis­terrat und in der Grazer Polizeidirektion geherrscht haben, will man Zei­tungsmeldungen Glauben schenken. So berichtet die „Kleine Zeitung“ davon, dass der Ministerrat leise Kritik dahin gehend geäußert habe, dass das Gesetz genauer gefasst hätte werden können,16 ferner darüber, dass – so Vertreter der Grazer Polizeidirektion – der Gesetzestext Interpretationen zulasse, der Begriff „öffentlicher Ort“ aber von der Polizei weit, also den Privatbesitz inkludierend, verstanden werde, und dieser weite Bedeutungsgehalt der Tätigkeit der Exekutive zugrunde gelegt werden wird.17 Angemerkt werden soll, dass andere Gesetze den Begriff „öffentlicher Ort“ sehr wohl definieren. Zu nennen sind z. B. das Tabakgesetz18 und das Übereinkommen zur Bekämpfung terroristischer Bombenanschläge.19 2. Verletzung des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) 2.1. Schutzbereich Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privatund Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Von den Gewährleistungen des Art. 8 EMRK ist im Zusammenhang mit dem Verbot des (passiven, stillen) Bettelns jedenfalls die Achtung des Privatlebens tangiert. Durch die genannte Bestimmung soll jeder Person ein Raum gewährleistet werden, in dem diese die Entwicklung und Erfüllung ihrer Persönlichkeit anstreben kann.20 Nach der Rechtsprechung der Organe der Menschenrechtskonvention ist der Begriff des Privatlebens weit auszulegen. Geschützt sind nicht nur die eigene Persönlichkeit, der Mensch für sich allein betrachtet, sondern auch die Beziehungen eines Menschen zu anderen Menschen.21 Der Schutzbereich der Achtung des Privatlebens umfasst mehrere Teilbereiche. Von diesen sind durch das Verbot des (passiven, stillen) Bettelns insbesondere der Schutz der Privatsphäre und die freie Gestaltung der persönlichen Lebensführung tangiert.

16 „Kleine Zeitung“ vom 13. 4. 2011, Seite 19. 17 „Kleine Zeitung“ vom 15. 3. 2011, Seite 12 „Bettelverbot greift auch vor Kirchen und Supermärkten“, ferner „Kleine Zeitung“ vom 31. 3. 2011, Seite 31 „Bettelverbot übersetzt“. 18 BGBl. Nr. 431/1995, idF BGBl. I Nr. 167/2004, § 1 Z 11. 19 BGBl. III Nr. 168/2001, Art. 1 Z 5. 20 EGMR, 1. 7. 1980, Deklerck, DR 21, 116 f. 21 ZB EGMR, EuGRZ 1993, 65, Z 29.

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Der Schutz der Privatsphäre umfasst nicht nur u. a. den Schutz der persönlichen Sphäre. Der Schutz umfasst auch, Beziehungen mit anderen Menschen und mit der Außenwelt zu pflegen. Diese Kommunikationsbeziehung kann sogar Tätigkeiten beruflicher oder geschäftlicher Art einschließen. Unter den Schutz der Privatsphäre fallen somit auch Aktivitäten, die in einem öffentlichen Kontext stattfinden.22 Zum Schutz der Privatsphäre zählt ferner auch das Recht auf Selbstdarstellung. Dabei geht es nicht nur um den Bildnisschutz. Der Mensch hat auch ein Recht, selbst zu bestimmen, in welcher Art und Weise er sich in der Öffentlichkeit darstellen und wahrgenommen werden will.23 Der andere Teilbereich des Schutzes des Privatlebens betrifft die freie Gestaltung der persönlichen Lebensführung. Geschützt ist das Recht, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu führen und zu organisieren. Wenn und insoweit es im Falle des Art. 8 EMRK um die freie Entfaltung der Persönlichkeit geht, müssen freilich auch die Voraussetzungen vom Schutz umfasst sein, ohne die eine freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht möglich ist. Zu diesen Voraussetzungen zählt jedenfalls auch, wie ein Mensch für sich und seine Familie seinen Unterhalt sichert, mögen solche Aspekte auch von anderen Grundrechten wie z. B. dem der Erwerbsfreiheit oder der Berufsfreiheit umfasst sein. Da die Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, Voraussetzung dafür ist, sein Leben frei gestalten zu können, hat der EGMR das Ergreifen eines Berufes zu Recht als Bestandteil des durch Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Privatleben angesehen.24 Vom Recht auf freie Lebensgestaltung umfasst ist ferner das Recht, einen gruppenspezifischen bzw. minderheitenspezifischen Lebensstil zu pflegen. So ging es z. B. im Urteil des EGMR vom 18. 1. 2001 um den Schutz des Umherziehens in Wohnwagen als eines besonderen Lebensstils.25 Schließlich schützt das Grundrecht auch die Achtung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Knüpfen solcher Beziehungen ist Bestandteil der Entfaltung der Persönlichkeit.26 Im gegebenen Zusammenhang geht es um die Frage, ob Betteln vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK umfasst ist. Die Frage ist zu bejahen. Bettler/-innen treten aus dem Kreis ihrer jeweiligen Privatsphäre hinaus in die Öffentlichkeit, wenn sie auf öffentlichen Straßen und Plätzen um Almosen bitten,

22 Vgl. z. B. EGMR, ÖJZ 2002, 911; EGMR ÖJZ 2004, 651. 23 Vgl. Grabenwarter: Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Auflage, München ua. 2009, 201 f. 24 EGMR, Urteil vom 27. 7. 2004, Sidrabas und Džiautas Nr. 55.480/00, Z 47 f. 25 Chapman, Nr. 27238/95, Z 73. 26 Vgl. Grabenwarter, a.a.O., 203.



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dies in einer beim stillen Betteln üblichen Art und Weise, nämlich in einer spezifischen Haltung (durch Stehen, Sitzen, Knien), mit Behältnissen (dazu zählt auch die aufgehaltene Hand), mit einem Bild der Kinder bzw der Familie oder einem Text, der auf ihre persönliche Situation hinweist, und mit bittenden Augen oder einem still gesprochenen „Bitte“. Sie zeigen (in passiver Weise) vorbeigehenden Passanten/-innen, dass sie ein Bettler/eine Bettlerin sind und um ein Almosen bitten. Es ist – wie oben beschrieben – ihre Art und Weise, wie sie sich der Öffentlichkeit darstellen und wie sie wahrgenommen werden wollen. Betteln ist in vielen Fällen der einzige Weg, auf dem man für sich und seine Familie das für die Bestreitung des Lebensunterhaltes Notwendige bekommt, was eine unabdingbare materielle Voraussetzung dafür ist, das eigene und das Familienleben frei zu gestalten. Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass Angehörige von Minderheiten im Allgemeinen und der Minderheit der Roma im Besonderen in vielerlei Hinsicht und insbesondere auch im Zusammenhang mit Bemühungen, auf andere Art und Weise als durch Betteln den Unterhalt zu bestreiten, Diskriminierungen dergestalt erfahren, dass sie keine Arbeit finden. Es kommt wegen solcher Diskriminierungen nicht von ungefähr, dass manche Menschen z. B. bei den Roma das Betteln als (negativ bewerteten) „frei gewählten“ Lebensstil dieser Minderheit ansehen. Dabei kann angesichts anderer Alternativen für eine diskriminierte Minderheit gar nicht von freier Wahl der Bettelei als Form der Unterhaltsbestreitung gesprochen werden. Die Lebenssituation von Bettlern sich vor Augen haltend muss davon ausgegangen werden, dass diese das im Recht der freien Gestaltung der persönlichen Lebensführung inkludierte Recht darauf, sich den für sich und seine Familie notwendigen Lebensunterhalt, und zwar durch Betteln, zu beschaffen, in Anspruch nehmen, dies deshalb, weil es nicht möglich ist, den notwendigen Lebensunterhalt auf andere Weise zu erwerben. Das im Steiermärkischen Landes-Sicherheitsgesetz enthaltene absolute Verbot des Bettelns, das einen sanktionierten Straftatbestand darstellt – da das Verbot keine Ausnahmen vorsieht, muss es als absolutes Bettelverbot angesehen werden (auf die Ermächtigung der Gemeinde, einen Erlaubnisbereich einzurichten, wird weiter unten eingegangen) –, greift in die gemäß Art. 8 EMRK gewährten Rechte ein und verhindert insbesondere, dass ein Bettler/eine Bettlerin für sich und die Familie den Lebensunterhalt bzw. jedenfalls einen Teil seines Lebensunterhaltes erwirbt, einen Lebensunterhalt, ohne den die Lebensführung nicht frei gestaltet werden kann. Der EGMR hat judiziert, dass ein Eingriff in das Privatleben dann vorliegt, wenn der Staat die Möglichkeit, im privaten Sektor eine Beschäftigung aufzuneh-

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men, weitreichenden Beschränkungen unterwirft.27 Im gegebenen Zusammenhang geht es zwar nicht um die Aufnahme einer Beschäftigung, aber jedenfalls um den Zweck, um dessen willen die Aufnahme einer Beschäftigung erfolgt, nämlich durch Betteln für seinen Unterhalt zu sorgen. Ein absolutes Bettelverbot beschränkt diese Möglichkeit absolut. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ist nicht absolut gewährleistet. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK sind Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 dann gerechtfertigt, wenn der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, um die in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele zu erreichen bzw. zu sichern. Es ist daher zu prüfen, ob der Eingriff in das gegenständliche Grundrecht durch das (absolute) Verbot des Bettelns erstens gesetzlich fundiert ist und zweitens dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, wie es bei Grundrechten unter Gesetzesvorbehalt durch den VfGH bzw. dem EGMR entwickelt worden ist, entspricht. Festzuhalten ist, dass das gegenständliche Grundrecht ein Jedermannsrecht und kein Staatsbürgerrecht ist. 2.2. Zur Eingriffsermächtigung in Art, 8 Abs, 2 EMRK Art. 8 Abs. 2 EMRK ermächtigt unter den dort genannten Voraussetzungen zum Eingriff in die Ausübung des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Diese Voraussetzungen sind der Eingriff durch ein Gesetz und die Notwendigkeit des Eingriffes in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutze der in Abs. 2 genannten Schutzgüter, das heißt, der Eingriff muss einem zwingenden sozialen Bedürfnis und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.28 Grundlage des absoluten Bettelverbotes ist § 3a des Steiermärkischen LandesSicherheitsgesetzes, LGBl. Nr. 24/2005 zuletzt idF LGBl. Nr. 37/2011. Das genannte Gesetz ist ordnungsgemäß kundgemacht worden und die gegenständliche Novelle am 3. 5. 2011 in Kraft getreten. Das Erfordernis, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein muss, ist somit formal erfüllt. Freilich ist § 3a leg. cit. keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage. Auf das oben Gesagte wird verwiesen. Bei der Frage, ob der Eingriff einem zwingenden sozialen Bedürfnis entspricht, muss hinsichtlich der Art des Bettelns differenziert werden. Die Frage muss für das stille (passive) Betteln verneint werden; für das aufdringliche, „aggressive“ Betteln (z. B. Betteln durch Begrapschen, Berühren, Verfolgen von Passanten) und für das Betteln mit Kindern, kann die Frage bejaht werden. Stilles Betteln ist ein Zeichen persönlicher Armut. Es ist eine unaufdringliche 27 Urteil vom 27. 7. 2004, Sidrabas und Džiautas Nr. 55.480/00, Z 47 f. 28 ZB EGMR 25. 3. 1983, Silver, EuGRZ 1984, 151; VfSlg 12103/1989.



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Bitte, durch eine Spende diese persönliche Armut zu lindern. Stilles Betteln ist ein Zeichen, dass der Bettler/die Bettlerin seinen/ihren Unterhalt und den Unterhalt der jeweiligen Familie nicht anders sichern kann. Stilles Betteln ist ein (stiller) Appell an die Hilfsbereitschaft und die Solidarität von Menschen, deren Freiheit, sich hilfsbereit und solidarisch zu verhalten oder nicht zu verhalten, in keinerlei Weise beeinträchtigt wird. Stilles Betteln zeigt, dass so und nicht anders die Notlage gelindert werden kann. Stilles Betteln entbehrt somit jeglicher Sozialschädlichkeit. Indem stilles Betteln eine individuelle Notlage aufzeigt, ist es auch ein Zeichen dafür, dass sozialstaatliche Maßnahmen nicht in jedem Fall vor Notlage und Armut schützen (können). Wie eine jüngere Analyse der Statistik Austria zeigt, leben rund 420.000 Österreicher/-innen in „verfestigter“ Armut, in der sie erhebliche Einschränkungen ihres Alltagslebens hinnehmen müssen.29 Daher ist auch die Aussage verfehlt, dass, anstatt das stille Betteln zu erlauben, Armut durch sozialstaatliche Maßnahmen an der „Wurzel“ bekämpft werden sollte. Sozialstaatliche Maßnahmen greifen offensichtlich nicht immer bzw. zu kurz. Daher ist beides erforderlich: Stilles Betteln zu erlauben und gleichzeitig sozialstaatliche und zivilgesellschaftlich-solidarische Maßnahmen zu setzen bzw. auszuweiten. Staat und Gesellschaft entfalten zahlreiche Aktivitäten, damit durch sozialstaatliche Maßnahmen, durch zivilgesellschaftliche Aktivitäten, durch Spendenaufrufe und Sammlungen, durch Appelle zur Mitmenschlichkeit und zu solidarischem Verhalten, die Armut gelindert wird, wenn sie schon nicht verhindert werden kann. An „helfende Hände“, Armut linderndes Aktivsein und solidarisches Verhalten wird auch rechtlich (z. B. durch Rechtsvorschriften, deren Gegenstand das Sammeln von Geld- und Sachspenden ist) und politisch appelliert. Solidarität wird immer auch als ein (gefährdeter) Grundwert unserer Gesellschaft angesprochen. Betrachtet man die kurz skizzierten Aspekte des Sachverhaltes stillen Bettelns und den staatlich-gesellschaftlichen, auch rechtlich fundierten Wertungskontext, so muss die Bewertung des stillen Bettelns als sozial schädliches Verhalten verneint werden. Stilles Betteln stört nicht das Zusammenleben. Es mag sich zwar jemand, der an einem/einer unaufdringlich bittenden Bettler/-in vorbeigeht, also durch die bloße Anwesenheit eines Bettlers/einer Bettlerin „gestört“ fühlen, weil er mit Armut und mit einer Bitte um ein Almosen konfrontiert wird. Auch kann es sein, dass das schlechte Gewissen, nichts zu geben, bzw. das schlechte Gewissen vielleicht auch deshalb, weil es einem selbst besser geht, ein „seelisches“ Unbehagen verursacht. Wegen dieses Gefühls bzw. dieses Unbehagens kann jedoch stilles Betteln nicht als das Zusammenleben störend dargestellt werden. 29 Vgl. zu dieser Analyse den Bericht im „Standard“ vom 2. 5. 2007, Seite 6.

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Schließlich können noch folgende Erwägungen im Zusammenhang mit der Frage gestellt werden, ob stilles Betteln ein das Zusammenleben störender Missstand ist. Das Sammeln von Spenden durch zivilgesellschaftliche Organisationen zwecks Verteilung der Spenden an Bedürftige im In- und im Ausland ist ein mitunter zwar regulierter, aber kein absolut verbotener Sachverhalt, weil er offenbar nicht als störend für das Zusammenleben empfunden wird. Dabei kann manchmal beobachtet werden, dass solche Sammeltätigkeit sehr wohl „aktiv“, mitunter auch in aufdringlicher Weise durchgeführt wird. Ein sachlicher Grund, warum demgegenüber die stille Bitte eines Bettlers/einer Bettlerin um ein Almosen ein das Zusammenleben störender Missstand sein soll, kann nicht gefunden werden. Insoweit ist die Bestimmung auch dem Sachlichkeitsgebot widersprechend. Prüft man im Einzelnen, ob das Verbot stillen Bettelns als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK der Verfolgung eines der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dient, also eine Maßnahme darstellt, die für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist, dann zeigt sich ebenfalls, dass es keinen legitimen Grund für einen Eingriff gibt. Im Falle des stillen Bettelns kommen, wenn überhaupt, die Ziele der öffentlichen Ruhe und Ordnung, der Verteidigung der Ordnung und der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer in Betracht. Aus der Rechtsprechung des VwGH ergibt sich, dass unter „öffentlicher Ordnung“ alle ungeschriebenen Verhaltensweisen für den Einzelnen an öffentlichen Orten zu verstehen sind, deren Befolgung als eine unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinander der Menschen angesehen wird.30 Beispiele für solche Verhaltensweisen sind, jemand anderen anzuspucken, laut anzuschreien, etwas nachzuwerfen etc. Das Verhalten muss also sozial abträglich sein, das heißt, es muss das Gemeinschaftsleben nicht unerheblich beeinträchtigen. Darüber hinaus muss es typischerweise zu einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit führen können. Es liegt auf der Hand, dass stilles Betteln kein solches Verhalten darstellt. Die Judikatur des VfGH zu „eingriffsnahen Gesetzen“, das sind Regelungen, die nicht bloß zufällig und ausnahmsweise, sondern geradezu in der Regel und mit besonderer Intensität in ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut eingreifen,31 zeigt eine spezifische grundrechtliche Determinierungspflicht betreffend Eingriffs30 VwSlg 543 A/1948; VwGH 29. 1. 2001, 98/10/0372. 31 So z. B. VfSlg 5240/1966.



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tatbestände. Auch in diesem Zusammenhang ergibt sich, dass das Verbot stillen Bettelns wegen seiner intensiven grundrechtlichen Eingriffsnähe intensiverer gesetzlicher Rechtfertigung im Zusammenhang mit dem Begriff „Ordnung“ bedürfte. Im Übrigen sei nochmals auf die mangelnde Bestimmtheit und Klarheit des Straftatbestandes in § 3a leg. cit. verwiesen. Was das Schutzgut „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ betrifft, mag zwar durch aufdringliches, „aggressives“ Betteln z. B. das Recht auf Achtung des Privatlebens anderer tangiert sein und einen Eingriff in die Privatsphäre des Bettlers/der Bettlerin rechtfertigen, nicht aber stilles (passives) Betteln, bei dem ohne aufdringliches Herantreten an Passanten/-innen agiert wird, ganz abgesehen davon, dass es im Belieben der Passanten/-innen liegt, ein Almosen zu geben oder nicht; ihre diesbezügliche Freiheit wird in keinerlei Weise beeinträchtigt. Resümierend ist somit festzuhalten, dass das Verbot stillen, passiven Bettelns und damit der Eingriff in den Schutzbereich des dem Antragsteller eingeräumten Rechtes auf Achtung seines Privat- und Familienlebens durch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele nicht legitimiert werden kann. Nimmt man eine Abwägung zwischen dem Verbot stillen, passiven Bettelns, also zwischen einem massiven Grundrechtseingriff einerseits und den im öffentlichen Interesse liegenden Zielen des Art. 8 Abs. 2 EMRK bzw. deren etwaiger Beeinträchtigung durch stilles, passives Betteln andererseits vor (einmal ganz abgesehen davon, dass diese Ziele – wie oben ausgeführt – zum Eingriff nicht legitimieren), zeigt sich, dass der Eingriff in die Grundrechtsposition unverhältnismäßig ist und daher das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. Festzuhalten ist, dass ein gelinderes Mittel, nämlich das Verbot aufdringlichen, aggressiven Bettelns zur Verfügung steht, um einem etwaigen sozialen Bedürfnis zu dienen. Merkmale einer demokratischen Gesellschaft sind insbesondere Pluralismus und Toleranz.32 Pluralismus und Toleranz gebieten es, stilles, passives Betteln als Zeichen individueller Armut, als stille Bitte um ein Almosen, als eine bestimmte Form der Lebensführung hinzunehmen. Es ist – wie oben ausgeführt – kein sozial schädliches Verhalten. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass drei Gerichtsstraftatbestände sozial schädliche Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Bettelei inkriminieren, nämlich die §§ 104a (Menschenhandel) und 278a (Gründung bzw. Mitwirkung an einer kriminellen Organisation) StGB, ferner § 116 Fremdenpolizeigesetz (Ausbeutung eines Fremden). Es bedarf somit keines absoluten Bettelverbots. 32 Vgl. z. B. EGMR Urteil vom 7. 12. 1976, Handyside, Serie A 24, Z 49.

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3. Verletzung des Rechts der Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 13 Abs. 1 StGG, Art. 10 EMRK) 3.1. Rechtliche Erwägungen Art. 13 StGG und Art. 10 EMRK räumen jedermann u. a. das Recht der freien Meinungsäußerung ein. Von dem Grundrecht sind sowohl Meinungsäußerungen, also Äußerungen, die ein Werturteil enthalten, als auch Tatsachen betreffende Äußerungen umfasst. Die Freiheit der Äußerung einer Meinung (in diesem weiten Sinn) umfasst jede Form der Kommunikation mit anderen. Stilles, passives Betteln, wie es oben beschrieben worden ist, kann jedenfalls als Äußerung einer Tatsache, nämlich bedürftig und damit auf ein Almosen angewiesen zu sein, gewertet werden. Da die Meinungsfreiheit für alle Ausdrucksmittel gilt, unterliegt ihr auch die meist körpersprachlich artikulierte Äußerung eines Bettlers/einer Bettlerin. Meinungsfreiheit schützt, wie bereits gesagt, auch die Kommunikation mit anderen. Daraus folgt, dass dem/der die Meinung Äußernden Rezipienten/-innen gegenüberstehen, wie das auch im Falle des passiven Bettelns gegeben ist. Auch kommerzielle Werbung fällt gemäß der Rechtsprechung des VfGH33 unter den Begriff der Meinungsfreiheit. Kommerzieller Werbung stehen ebenfalls Rezipienten/-innen gegenüber. Wie gerade der Fall kommerzieller Werbung zeigt, ist dieses einander Gegenüberstehen kein absichtsloses. Kommerzielle Werbung (wie auch andere Fälle von Werbung, z. B. politische Werbung) ist darauf gerichtet, die Rezipienten/-innen nicht nur über das Beworbene zu informieren, sondern sie auch zu animieren, das Beworbene durch Kauf- oder anderes Verhalten zu unterstützen. Auch dem stillen, passiven Betteln liegt die Intention zugrunde, die Passanten/innen dazu zu bewegen, ein Almosen zu geben. Wenn schon Werbemaßnahmen, die auf die Anbahnung einer Angebots- und Nachfragebeziehung gerichtet sind, vom Recht der Meinungsfreiheit umfasst sind, dann auch – wenn nicht umso mehr – ein Verhalten, das nicht auf die Herstellung einer Marktbeziehung gerichtet ist, sondern auf ein helfendes, Solidarität zum Ausdruck bringendes Verhalten, dem vonseiten des „Werbenden“ keine materielle Leistung, sondern – wie im Falle des stillen, passiven Bettelns – eine immaterielle Leistung, nämlich Dankbarkeit für dieses Verhalten gegenübersteht.

33 Vgl. z. B. VfSlg 10.948/1986 etc.



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3.2. Ermächtigung zum Eingriff Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung sind gerechtfertigt, wenn sie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bzw. den Schranken dieser Freiheit, wie sie in Art. 10 Abs. 2 EMRK festgelegt sind, entsprechen. Prüft man das Verbot des stillen, passiven Bettelns, also den Eingriff in das Grundrecht anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bzw. der in Art. 10 Abs. 2 EMRK enthaltenen Bedingungen für einen rechtmäßigen Eingriff in das Grundrecht, so kann angesichts weitgehend gleichlautender Bedingungen für die Rechtfertigung des Eingriffs auf das verwiesen werden, was oben im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gesagt worden ist, nämlich, dass diese Bedingungen nicht vorliegen. 4. Absolutes Bettelverbot / Erlaubnisbereich für das Betteln Fraglich ist, ob § 3a Abs. 2 leg. cit., der die Gemeinden ermächtigt, einen Erlaubnisbereich für das Betteln festzulegen, das absolute Bettelverbot in § 3a Abs. 1 leg. cit. dergestalt relativiert, dass nicht von einem verfassungswidrigen Eingriff in die verfassungsgesetzlich gewährleitsteten Rechte des Art. 8 EMRK und des Art. 13 Abs. 1 StGG, Art. 10 EMRK gesprochen werden kann. Die Frage ist zu verneinen. Betrachtet man die Regelung der Europäischen Menschenrechtskonvention, dann zeigt sich, dass in der Regel die Absätze 1 des jeweiligen Grundrechtes das Grundrecht einräumen und den Schutzbereich des Grundrechtes umschreiben, die Absätze 2 des jeweiligen Grundrechtes aber zum Eingriff in das jeweilige Grundrecht unter bestimmten Voraussetzungen ermächtigen. Das Zusammenspiel von Recht und Einschränkbarkeit des Rechtes liegt somit der Europäischen Menschenrechtskonvention zugrunde. Der Steiermärkische Landesgesetzgeber verwendet in § 3a leg. cit. eine umgekehrte Regelungstechnik. Zunächst wird ein absolutes Verbot ausgesprochen, und dann wird zur Lockerung dieses Verbotes ermächtigt. Diese Regelungstechnik widerspricht dem normativen Bedeutungsgehalt der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach zunächst das Recht eingeräumt und beschrieben und sodann zum Eingriff in das Recht unter bestimmten Vorraussetzungen ermächtigt wird. § 3a des Steiermärkischen Landes-Sicherheitsgesetzes ist daher auch und schon deshalb verfassungswidrig, weil seine Regelungstechnik der Regelungstechnik und somit dem normativen Bedeutungsgehalt der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht. Dass die Regelungstechnik der EMRK auch einen normativen Bedeutungsgehalt hat, zeigen auch die Präambel und Art. 1 EMRK. So wird auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948 Bezug genommen, eine Erklä-

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rung, die bezweckt, „die allgemeine und wirksame Anerkennung und Einhaltung der darin erklärten Rechte zu gewährleisten“. Artikel 1 der EMRK verpflichtet zur Achtung der Menschenrechte, indem die Vertragsstaaten allen ihrer Jurisdiktion unterstehenden Personen die in Abschnitt I der Konvention niedergelegten Rechte und Freiheiten zusichern. Den Focus auf die Rechte des Menschen zeigen nicht nur die EMRK und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, sondern auch andere Rechtsdokumente, nach denen jeder Mensch „angeborene“, „unveräußerliche“ Rechte hat. Zu nennen sind § 16 ABGB, die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 (unalienable rights) und die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (natürliche, unveräußerliche und heilige Rechte der Menschen). Es liegt auf der Hand, dass diese Sichtweise auch die nachfolgenden Menschenrechtsdokumente und damit auch die EMRK geprägt hat. 5. Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum Würde man dem Begriff „öffentlicher Ort“ in § 3a leg. cit. den Bedeutungsgehalt unterstellen, dass ein solcher Ort auch Orte umfasst, die im Privateigentum stehen, dann wären das Verbot des Bettelns und die Erlaubnis zum Betteln an einem solchen Ort auch eine Eigentumsbeschränkung. Es wäre daher zu prüfen, ob diese Eigentumsbeschränkung Art. 5 StGG verletzt. Eigentumseingriffe sind verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, einem öffentlichen Interesse dienen, dieses öffentliche Interesse mit verhältnismäßigen Mitteln verfolgen und sie außerdem nicht den Wesensgehalt der Eigentumsgewährleistung berühren.34 Prüfte man, ob die Voraussetzungen für einen zulässigen Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum gegeben wären, so wäre das Prüfergebnis negativ. Die Eigentumsbeschränkungen, dass auf privatem Grund nicht gebettelt werden darf bzw. dass das Betteln auf privatem Grund erlaubt wird, liegen nicht im öffentlichen Interesse. Was das absolute Bettelverbot anbelangt, sei auf das oben Gesagte verwiesen. Und auch für die Erlaubnis zum Betteln entgegen dem Willen des Grundeigentümers sind keine öffentlichen Interessen schlagend.

34 VfSlg 17.604/2005.



3.15. Ist ein absolutes Bettelverbot grundrechtswidrig?

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Epilog Wie bereits gesagt, sind beim Verfassungsgerichtshof Verfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Regelungen betreffend die Bettelei anhängig gemacht worden. Es ist zu begrüßen, dass in den dargestellten abgeschlossenen Verfahren nicht nur formelle Aspekte wie z. B. die Zuständigkeit zur Erlassung einer Regelung geprüft worden ist, sondern auch die Grundrechtsrelevanz von Bettelverbotsbestimmungen.

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3.16. „Kontrolle im politischen System“

Johannes Andrieu

Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner war vom 5. November 1990 bis 6. November 1994 als Nationalratsabgeordneter Wissenschaftssprecher der ÖVP und im Zeitraum von 12. Jänner 1996 bis 7. November 2000 Landtagsabgeordneter und Klubobmann des Liberalen Forums im Landtag Steiermark. In diesen Funktionen hat Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner Einfluss auf die unter­schiedlichen Gesichtspunkte und Herangehensweisen der Kontrolle im politischen System nehmen können. Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner hat das politische Kontrollsystem auf Bundesebene aus Sicht der Regierungsfraktion, aber auch im Rahmen seiner Tätigkeit im Landtag Steiermark aus Sicht eines Oppositionspolitikers kennengelernt. Insbesondere in der Zeit als Klubobmann des Liberalen Forums im Landtag Steiermark sowie als Obmann des Kontrollausschusses in den Jahren 1999 bis 2000 hat Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner die Stärken und Schwächen des Kontrollsystems analysiert und schließlich auch aufgrund eigener parlamentarischer Initiativen maßgeblich beeinflusst und weiterentwickelt. Die Steiermark hat im Jahre 1982 als erstes österreichisches Bundesland von der bundes­verfassungsrechtlichen Möglichkeit, einen eigenen Landesrechnungshof einzurichten, Gebrauch gemacht. Die Installierung des Steiermärkischen Landesrechnungshofes erfolgte mit dem Landesrechnungshof-Verfassungsgesetz vom 29. Juni 1982. Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner war neben Herrn Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Mantl und Herrn Univ.-Prof. Dr. Dietmar Pauger und dem damaligen Leiter des Verfassungsdienstes des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung und dem späteren Landesamtsdirektor, Herrn Univ.-Prof. Dr. Gerhart Wielinger, maßgeblich an der Gestaltung dieses in Österreich wegweisenden Verfassungsgesetzes beteiligt. Der erste Entwurf im Landtag Steiermark war verfassungsrechtlich nicht unumstritten, zumal damals Zweifel bestanden, ob die Landtage überhaupt das Recht hätten, eigene Kontroll­instanzen einzurichten. Selbst nachdem der Landesrechnungshof schon seine Tätigkeit aufgenommen hatte, wollten nicht wenige Verfassungsrechtsexperten/-innen mit ihren die Existenzberechtigung des Landesrechnungshofes bestreitenden Einwänden innehalten. Ungeachtet dieser wenig



3.16. Kontrolle im politischen System

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erfreulichen Begleitumstände bei seiner Gründung und während der ersten Jahre seines Wirkens hat sich der Landesrechnungshof letztlich durchgesetzt. Die unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten vorgebrachte Kritik wurde zum Ver­stummen gebracht, nachdem die Interpretation des Bundes-Verfassungsgesetzes der „relativen Verfassungsautonomie der Länder“ akzeptiert wurde. Außerdem trugen das Wirken des Landesrechnungshofes entscheidend dazu bei, dass die gegen ihn ins Treffen geführten Vorbehalte ausgeräumt werden konnten. Bei der Errichtung des Steiermärkischen Landesrechnungshofes war die sogenannte „Projektkontrolle“ in der öffentlichen Finanzkontrolle eine Besonderheit. Anlassfall für die Schaffung dieser sehr zeitnahen Ex-post-Kontrolle von dem Landesrechnungshof vorzu­legenden Bedarfs-, Soll- und Folgekostenberechnungen bei Großprojekten war die Bau­kostenüberschreitung der landeseigenen Therme Loipersdorf von 80 Millionen Schilling auf über 500 Millionen Schilling. Durch die Projektkontrolle und anschließende Kostenüber­wachung im Rahmen der Projektabwicklungskontrolle des Landesrechnungshofes beim Wiederaufbau der im Jahr 1983 durch einen Brand zerstörten Therme konnten die budgetierten Kosten von 207 Millionen Schilling und die Bauzeit sogar unterschritten werden. Der Landesrechnungshof Kärnten und der Stadtrechnungshof Graz haben diesen Prüftyp übernommen. Durch die Projekt(abwicklungs)kontrolle hat es in den letzten 30 Jahren in der Steiermark bei Großbauvorhaben keine wesentlichen Kostenüberschreitungen gegeben. Bemerkenswert ist, dass bereits bei der Gründung des Landesrechnungshofes im Jahr  1982 den Anforderungen, denen eine wirklich unabhängige Kontrolleinrichtung zu entsprechen hat, Rechnung getragen wurde. Diese Anforderungen sind im Wesentlichen in der von der Internationalen Organisation der Obersten Rechnungskontrollbehörden (INTOSAI) auf ihrem IX. Kongress in Lima (Peru) beschlossenen Deklaration über die Leitlinien der Finanz­kontrolle (Deklaration von Lima) im Jahr 1977 zusammengefasst; sie postulieren für eine Institution der Finanzkontrolle u. a.: • • • • • • • •

ihre organisatorische, funktionelle und finanzielle Unabhängigkeit, ihre verfassungsrechtliche Verankerung, ihre uneingeschränkte Prüfungsbefugnis über alle öffentliche Mittel, den ungehinderten Zugang ihrer Prüfer zu allen einschlägigen Unterlagen, ihre ausreichende personelle Ausstattung, ihr Recht auf Berichterstattung an das Parlament und an die Öffentlichkeit, ihre Kompetenz zur Prüfung wirtschaftlicher Unternehmungen, an denen die öffentliche Hand beteiligt ist, ihre Befugnis, subventionierte Einrichtungen zu kontrollieren.

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Der steiermärkische Gesetzgeber war damals der Vorreiter einer föderalen, aber kooperativen Kontrollbefugnis, die im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte weiterentwickelt werden sollte. Dem steirischen Vorbild zur Einrichtung eines Landesrechnungshofes folgten Salzburg im Jahr 1993, Kärnten im Jahr 1996, Niederösterreich im Jahr 1998, Vorarlberg und Ober­österreich im Jahr 2000, Burgenland im Jahr 2002 und Tirol im Jahr 2003. Einer der wesentlichen Initiativen von Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner als steirischer Landtagsabgeordneter und Klubobmann des Liberalen Forums war ein Antrag, den er gemeinsam mit der FPÖ und der Grünen-Fraktion im Jahre 1997 einbrachte, wonach die Steiermärkische Landesregierung binnen einer Sechsmonatsfrist einen Bericht über die Umsetzung der Anregungen des Landesrechnungshofes abzugeben hatte. Diese Umsetzung erfolgte mit dem Landesverfassungsgesetz vom 20. März 2001, LGBl. Nr 34/2001, mit dem das Landesrechnungshof-Verfassungsgesetz (LRH-VG) und das Landes-Verfassungsgesetz 1960 (L-VG 1960) geändert wurden. Aufgrund dieser parlamentarischen Initiative wurden die Maßnahmenberichte der Landesregierung obligatorisch eingeführt, und zwar mit § 28 Abs. 4 und 5 LRHVG. Heute sind sie in Art. 52 Landes-Verfassungsgesetz 2010 (L-VG) geregelt: „Enthält der Bericht des Landesrechnungshofes Beanstandungen oder Ver­ besserungs­vorschläge, so hat die Landesregierung spätestens sechs Monate nach der Behandlung des Berichtes im Landtag dem Kontrollausschuss zu berichten, welche Maßnahmen getroffen wurden (Maßnahmenbericht), sofern nicht der Kontrollausschuss mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder beschließt, von einem derartigen Bericht der Landesregierung abzusehen. Gegebenenfalls ist zu begründen, warum den Vorschlägen und Empfehlungen nicht entsprochen wurde.“ Von der verfassungsgesetzlichen Möglichkeit, mit Zweidrittelmehrheit von einem Maß­nahmenbericht abzusehen, hat der Kontrollausschuss des Landtages Steiermark bis heute keinen Gebrauch gemacht. Der Bundesländervergleich zeigt, dass die Vorlage eines Maßnahmenberichtes seitens der Landesregierung mit Ausnahme von Oberösterreich gesetzlich geregelt ist. In Oberösterreich erfolgt anstelle eines solchen, mit Beschluss des Kontrollausschusses, eine Folgeprüfung innerhalb von zwölf Monaten. Dieses kontrollpolitisch essenzielle Geschäftsordnungsinstrument stellt die Landesrechnungs­hofkontrolle zunehmend in den Fokus einer präventiv wirkenden Kontrolle. Die parlamen­tarische Kontrolle soll nicht nur der Aufdeckung vergangener Verwaltungsdefizite oder Miss­stände dienen, sondern vielmehr eine offensive Unterstützung der Regierungsarbeit für künftige vergleichbare Verwaltungshandlungen darstellen. Die Arbeit des Landesrechnungs­hofes soll als zeitnahe Beratungsleistung zur nachhaltigen Entwicklung beitragen.



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Den Anforderungen bzw. Verbesserungsvorschlägen des Landesrechnungshofes wird in der Regel von der Landesregierung Folge geleistet, jedoch werden die Maßnahmenberichte nicht immer verfassungskonform innerhalb der Sechsmonatsfrist dem Kontrollausschuss des Landtages Steiermark übermittelt. Die parlamentarische Kontrolle hat sich auf dieses verfassungsrechtlich vorgesehene Kontrollinstrument insoweit bereits eingestellt, so dass im Fall der Nichterfüllung der Berichtspflicht durch die Landesregierung entsprechende Nachfragen bzw. Aufforderungen vonseiten des Landtages erfolgen. Auf diese bereits seit 2001 geltende gesetzliche Regelung wurde z. B. mit Landtagsbeschluss vom 3. Juli 2007 noch einmal ausdrücklich hingewiesen. Aufgrund dieses einstimmigen Beschlusses wurde die Landesregierung aufgefordert, ihre verfassungsgesetzliche Pflicht gemäß § 28 Abs. 4 LRH-VG (jetzt Art. 52 Abs. 4 L-VG) zu beachten, über die bisher gesetzten Maßnahmen aufgrund der Beanstandungen und Verbesserungsvorschläge des Landes­rechnungshofes in der laufenden Gesetzgebungsperiode zu berichten und in Hinkunft dem Kontrollausschuss innerhalb von sechs Monaten nach Behandlung eines Landesrechnungs­hofberichtes im Landtag den entsprechenden Maßnahmenbericht vorzulegen. In einem selbstständigen Antrag der Grünen vom 29. Oktober 2012 wurde die wiederholte Missachtung von Art. 52 Abs. 4 L-VG gerügt. Die Landesregierung wurde aufgefordert, hin­sichtlich eines ausstehenden Maßnahmenberichtes zur Beteiligungsverwaltung diesen um­gehend dem Kontrollausschuss vorzulegen. Der Landesrechnungshof reagierte auf dieses verfassungsrechtlich eingeführte Kontroll­instrument erstmals in der XVI. Gesetzgebungsperiode mit dem umfassenden Landes­rechnungshofbericht „Maßnahmenberichte“, der am 14. Februar 2012 einstimmig im Landtag beschlossen wurde. Im Zuge seiner laufenden Aufzeichnungen fiel dem Landesrechnungshof auf, dass die Maßnahmenberichte auch für das Jahr 2009 unvollständig vorlagen. Bei 14 Berichten fehlte der seitens der Landesregierung vorzulegende Maßnahmenbericht. Im Prüfbericht wird auf die durch die Novellierung des LRH-VG im Jahr 2001 eingeführten Maßnahmenberichte der Landesregierung an den Kontrollausschuss hingewiesen und dar­gelegt, dass Maßnahmenberichte eine effiziente Wirkungskontrolle der vom Landes­rechnungshof aufgezeigten Einsparpotenziale ermöglichen. Die Landesamtsdirektion koordinierte die beteiligten Abteilungen, um den gesetzlich vorgeschriebenen Kontrollanforderungen gerecht zu werden, und ging in einem Sammel­bericht auf die Umsetzung der erbrachten Beanstandungen und Verbesserungsvorschläge ein.

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Aufgrund dieser umfassenden Berichterstattung konnte festgestellt werden, dass rund zwei Drittel der vom Landesrechnungshof empfohlenen Maßnahmen von den geprüften Stellen umgesetzt wurden. Das Instrument des Maßnahmenberichtes ist nach den Erfahrungen des Landesrechnungs­hofes daher neben den „Follow-up-Überprüfungen“ ein nützliches und unverzichtbares Mittel der Nachschau, ob und wie den Verbesserungsvorschlägen und Empfehlungen in den einzelnen Ressorts der Landesregierung nachgekommen wird. Die (vollständige) Maß­nahmenberichterstattung trägt zur nachhaltigen Finanzkontrolle bei, weil sie den Wert der Prüfungstätigkeit erhöht und die Wirksamkeit der Empfehlungen verstärkt. Der Landesrechnungshof ist gemeinsam mit dem Kontrollausschuss des Landtages und den überprüften Stellen bemüht, den bestmöglichen Einsatz der öffentlichen Mittel sowie die ehestmögliche Umsetzung der aufgezeigten Einsparungspotenziale sicherzustellen. Zur besseren Abstimmung und Wirksamkeit der verschiedenen Maßnahmen wurde vom Landes­rechnungshof empfohlen, dass solche Berichte bei mehreren zuständigen Regierungs­mitgliedern vorab koordiniert und gemeinsam vorgelegt werden sollten. Angemerkt wird, dass im Rahmen des PALLAST-Systems (papierloser Landtag) fünf Monate nach Beschlussfassung des Landesrechnungshofberichtes im Landtag automatisch eine „Erinnerung“ zur Erstellung eines Maßnahmenberichtes an die zuständigen Regierungsmit­glieder, den Obmann und Obmann-Stellvertreter des Kontrollausschusses ergeht, in dem auf das Ende der Sechsmonatsfrist hingewiesen wird. Ein weiterer von Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner mitinitiierter Antrag betraf die Novellierung des seinerzeitigen § 18 Abs. 4 L-VG 1960 betreffend die automatische Weiter­gabe von Landesrechnungshofberichten an den Landtag. Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner hat in zahlreichen Sitzungen des Steiermärkischen Landtages auf diese Problematik hingewiesen und die Abhaltung einer parlamentarischen Enquete zum Thema „Reform der Steiermärkischen Landesverfassung“ durchgesetzt. Im Februar 1999 wurde eine umfassende Landesverfassungsreform einstimmig beschlossen. Folgender Passus wurde als § 18 Abs. 4 in das L-VG 1960 aufgenommen: „Nach erfolgter Kenntnisnahme sind die Berichte dem Landtag zur Behandlung zuzuleiten, sofern der Kontrollausschuss nicht einstimmig einen gegenteiligen Beschluss fasst.“ Seit dem Jahr 2005 ist die automatische Weitergabe der Landesrechnungshofberichte an den Landtag im § 32b Abs. 3 Geschäftsordnung des Landtages Steiermark (GeoLT 2005) normiert.



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Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner musste im Rahmen seiner politischen Karriere im Landtag Steiermark selbstverständlich auch die Erfahrung machen, dass nicht alle seine Ideen, betreffend die Stärkung der Kontrolle und der Kontrollinstrumente im politischen System, Mehrheiten fanden. Als wichtige Beispiele seien genannt: In einem Entschließungsantrag aus dem Jahr 1996 wollte er die Landesregierung auffordern, dass diese vor der Vorlage des Landesrechnungsabschlusses an den Landtag obligatorisch eine Stellungnahme des Landesrechnungshofes einzuholen hätte und diese Stellungnahme dann gemeinsam mit dem Landesrechnungsabschluss dem Landtag vorlegen sollte. Im Oktober 1997 brachte Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner einen Antrag ein, wonach dem Landesrechnungshof sowohl das obligatorische Recht zur Stellungnahme zum Budget­entwurf als auch zum Landesrechnungsabschluss eingeräumt werden sollte, und zwar jeweils vor der Beschlussfassung durch den Landtag. Im Anschluss (November 1997) brachte Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner einen weiteren Entschließungsantrag ein, wonach der Landesrechnungsabschluss – analog zur Rechtslage im Bund – gleich vom Landesrechnungshof erstellt werden sollte. Als Ausbau und Stärkung der Kontrolle im politischen System sieht auch der Landes­rechnungshof, wie es Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner bereits in seinen Anträgen 1997 getan hat, die Schaffung einer grundsätzlichen gesetzlichen Verpflichtung des Landes­rechnungshofes zur Kontrolle des Rechnungsabschlusses des Landes. Dies sollte mit Regelungen einhergehen, die gewährleisten, dass der Prüfbericht für die Beratungen im Kontrollausschuss und sodann im Landtag vorliegt. Dazu gehört die möglichst frühzeitige Einsichtnahme in die Unterlagen für die Erstellung des Rechnungsabschlusses und die Zurverfügungstellung eines vorläufigen Rechnungsabschlusses. Ausdrückliche gesetzliche Regelungen bestehen derzeit in Kärnten und für den Rechnungshof des Bundes. Im Rahmen des mit 1.1.2014 in Kraft getretenen Landeshaushaltsgesetzes 2014 (StLHG) wurde dem Landesrechnungshof die Möglichkeit eingeräumt, binnen 4 Wochen eine Stellungnahme zum Entwurf des Landesrechnungsabschlusses abzugeben (Art 57a L-VG). Eine weitere Stärkung des Landesrechnungshofes als zentrales Kontrollinstrument im Land­tag Steiermark sah Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner darin, dass man dem Landes­rechnungshofdirektor – der vom Landtag in seiner Funktion einmalig für zwölf Jahre gewählt wird – sinngemäß einem Landesregierungsmitglied ein Rederecht in den Plenarsitzungen einräumen sollte.

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Auch diese Forderung fand keine parlamentarische Mehrheit. Der Landes­ rechnungshofdirektor verfügt gemäß § 14 Abs. 5 und 6 GeoLT 2005 über eine Redebe­rechtigung im Kontrollausschuss. Demnach ist dem Leiter des Landes­ rechnungshofes auf Verlangen, jedoch ohne Unterbrechung eines Redners, das Wort zu erteilen. Die Idee von Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner auf Einräumung eines Rederechts für den Landesrechnungshofdirektor im Rahmen­der Plenarsitzungen des Landtages war mit seiner Antragstellung­allerdings nicht vergessen, sondern fand bei der Erstellung des L-VG 2010 eine umfassende Diskussion, wurde aber auch in diesem Fall schließlich nicht beschlossen. Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner war es seit jeher ein Anliegen, auch die Gemeinden einer umfassenden Landesrechnungshofkontrolle zu unterziehen. Diesem Anliegen steht insbesondere die bundesverfassungsrechtlich garantierte Gemeindeautonomie im Wege. Bereits im Rahmen der Schaffung des Landesrechnungshofes fand man im Wesentlichen die Kompromissformel, dass man Gemeinden die Unterzeichnung eines Kontrollvorbehaltes im Falle von Gemeindeförderungen vorschreiben sollte, um die Gemeinden – wenn auch nicht auf verfassungsrechtlicher Ebene – auf vertraglicher Basis einer Landesrechnungshofkontrolle zu unterziehen. Herr Univ.Prof. Dr. Christian Brünner gestand ein, dass dies zwar ein Ausweg, aber kein „schöner Ausweg“ sei, weil man sich auf diese Art seitens der Gemeinden „um es offen zu sagen, in einer faktischen Erpressungssituation befindet“. Er regte damals an, über eine entsprechende bundesverfassungsrechtliche Änderung zu diskutieren, wonach die Gemeindegebarung generell auch durch die Landesrechnungshöfe geprüft werden sollte. Da der Landesrechnungshof Steiermark keine Behörde der allgemeinen staatlichen Ver­waltung ist, die Gebarungskontrolle in Wahrnehmung des Aufsichtsrechts des Landes über die Gemeinden aber aufgrund der Bundesverfassung nur von Behörden der allgemeinen staatlichen Verwaltung ausgeübt werden darf (Art. 119 Abs. 3 B-VG), ist die Begründung einer obligatorischen Prüfzuständigkeit über die Gemeinden für den Landesrechnungshof als Organ der Legislative unzulässig und auch nicht durch die steiermärkische Landesverfassung möglich. Diesem Umstand trägt das L-VG 2010 dadurch Rechnung, dass – wie erwähnt – es nur eine fakultative Prüfzuständigkeit des Landesrechnungshofes über die Gemeinden normiert. Der Gebarungskontrolle durch den Landesrechnungshof unterliegen daher nur solche Gemeinden, die vom Land Mittel erhalten, sofern sich das Land vertraglich eine solche Kontrolle vorbehalten hat (Art. 50 Abs. 1 Z 8 L-VG). Dies bedeutet, dass eine Prüfzuständigkeit des Landesrechnungshofes nur dann begründet werden kann, wenn eine Gemeinde vom Land Mittel erhält und sich



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freiwillig vertraglich verpflichtet, sich einer allfälligen späteren Prüfung durch den Landesrechnungshof zu unter­werfen. Eine solche Regelung, die verfassungsrechtlich und rechtssystematisch nicht unum­stritten ist, ist damit Grundlage für eine auf einer Unterwerfungserklärung der Gemeinde auf­bauende Prüfkompetenz des Landesrechnungshofes. Durch eine Novelle zum B-VG ist der Landesverfassungsgesetzgeber seit 1. Jänner 2011 zu folgenden Regelungen ermächtigt: • Prüfkompetenz des Landesrechnungshofes der Gebarung - von Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern, - von Unternehmungen, an denen solche Gemeinden beteiligt sind, - von öffentlich-rechtlichen Körperschaften mit Mitteln solcher Gemeinden, - von Stiftungen, Fonds und Anstalten, die von Organen einer Gemeinde oder - von Personen (Personengemeinschaften) verwaltet werden, die hierzu von Organen einer Gemeinde bestellt sind, - von Gemeindeverbänden mit einer Gesamtzahl der Einwohner der verbands­ angehörigen Gemeinden von weniger als 10.000. • Auf begründetes Ersuchen der Landesregierung bzw. auf Beschluss des Landtages kann der Landesrechnungshof auch die Gebarung von Gemeinden (Gemeinde­verbänden) mit mindestens 10.000 Einwohnern überprüfen. In jedem Jahr dürfen nur zwei derartige Anträge gestellt werden. Voraussetzung ist weiters, dass diese Gemeinden im Vergleich mit anderen Gemeinden über eine auffällige Entwicklung bei Schulden oder Haftungen verfügen. In Salzburg, Vorarlberg, Tirol und Kärnten wurden verfassungsrechtliche Grundlagen bzw. neue Gesetze für die Gemeindeprüfungskompetenz beschlossen. Während in Vorarlberg und Tirol von der bundesverfassungsgesetzlichen Kompetenz vollumfänglich Gebrauch gemacht wurde, ist in Salzburg die Prüfkompetenz mit zwei Prüfungen pro Jahr beschränkt und in Kärnten bezieht sich die Gemeindezuständigkeit ausschließlich auf Beteiligungsunternehmen. Von dieser bundesverfassungsrechtlichen Möglichkeit wurde in der Steiermark bis heute noch kein Gebrauch gemacht, doch wird dies in der augenblicklichen politischen Verfassungs­diskussion thematisiert. Eine qualitative Weiterentwicklung der politischen Kontrollorgane der Legislative gegenüber der Exekutive bestand und besteht darin, auch in personeller und budgetärer Hinsicht die Kontrollorgane von den kontrollierten Organen möglichst unabhängig aufzubauen. Eine diesbezügliche Forderung stellte Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner bereits im Rahmen einer parlamentarischen Enquete des Nationalrates am 17. November 1992, wonach Mitarbeiter/-innen

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der Landesrechnungshöfe, die der Diensthoheit der Landesregierung – also des geprüften Organs – unterstehen, kontraproduktiv wären. Diesbezüglich regte Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner eine entsprechende Verfassungsänderung an. Auch in diesem Punkt sollte der weitere Verlauf der Verfassungsgeschichte sowohl auf nationaler als auch auf Landesebene Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner recht geben. Mit Verfassungsgesetznovelle, LGBl. Nr. 34/2001, wurde § 23 Abs. 4 in das LRH-VG eingefügt, wonach dem Leiter des Landesrechnungshofes gegenüber den Bediensteten des Landesrechnungshofes eine Reihe von dienstrechtlichen Angelegenheiten zur weisungsfreien Besorgung übertragen wurde. Diesem Modell einer partiellen Diensthoheit für den Leiter des Landesrechnungshofes folgte schließlich auch der Landtag hinsichtlich der Bediensteten in der Direktion des Landtages. Die umfassende Personal- und Diensthoheit des Leiters des Landesrechnungshofes wurde, soweit es sich nicht um Zuständigkeiten der Disziplinar- und Dienstbeurteilungskommission handelt, mit LGBl. Nr. 27/2009 gesetzlich verankert und ist nunmehr in Art. 64 Abs. 2 L-VG 2010 normiert. Die Einräumung dieser umfassenden Personalhoheit des Landesrechnungshofdirektors stärkt sowohl die Position als Leiter des Landesrechnungshofes als auch die Position des Landes­rechnungshofes als Kontrollorgan. Die organisatorische Unabhängigkeit und Stärkung des Landeskontrollorgans entspricht auch den Empfehlungen und internationalen Standards der Rechnungshofkontrolle nach INTOSAI (Deklaration von Lima über die Leitlinien der Finanzkontrolle, Abkommen von Mexiko über die Unabhängigkeit der Obersten Rechnungskontrollbehörden). Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner war es neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im Bereich des öffentlichen Rechts als Politiker mit praktischen Erfahrungen in der Realverfassung sehr wohl bewusst, dass die Einrichtung diverser Kontrollinstrumente auch zu missbräuchlichen Verwendungen führen könnte. Er prangerte dies insbesondere im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Weitergabe von Landes­rechnungshofberichten an die Medien – und zwar vor Zuleitung an den Landtag – an. Er führt in diesem Zusammenhang im Jahr 2000 aus, dass es in der Steiermark bereits seit Längerem das Problem gebe, dass sogenannte Rohberichte des Landesrechnungshofes vor Zuleitung an den Landtag in den Medien veröffentlich würden. Seiner Erfahrung nach sei die Weiter­gabe zumeist nach Übermittlung des Rohberichtes an das zuständige Regierungsmitglied zwecks Abgabe einer Stellungnahme erfolgt, aber auch teilweise schon vorher, nämlich anlässlich der Schlussbesprechung mit den überprüften Stellen. Dadurch gelangten vertrauliche Informa­tionen an die Öffentlichkeit.



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Um dieser unbefriedigenden Situation Einhalt zu gebieten, wurden schließlich in der Landtagssitzung vom 14. März 2000 einstimmige Beschlüsse gefasst, wonach im Rahmen des Kontrollausschusses ein Unterausschuss eingesetzt werden sollte, der über die Weitergabe von Rechnungshofberichten vor Zuleitung an den Landtag beraten sollte. Der Präsident des Landtages wurde ersucht, unter Beiziehung der Präsidialkonferenz eine Expertengruppe ein­zusetzen, die sich mit einer Reihe zusammenhängender Fragen beschäftigen und einen ent­sprechenden Vorschlag, allfällig auch zur Reform der Landesrechnungshofkontrolle, erstatten sollte. Der eingesetzte Unterausschuss recherchierte neben diesbezüglichen Missständen und all­fälligen Reaktionsmöglichkeiten im Bundesländervergleich auch bei den Mitgliedern der Landesregierung, welche Vorkehrungen getroffen werden könnten, um die Weitergabe sogenannter Rohberichte zu verhindern, und verwies immer wieder darauf, dass die Nicht­einhaltung dieser verfassungsrechtlich gebotenen Vertraulichkeit selbstverständlich auch zivil- bzw strafrechtliche Verantwortlichkeiten nach sich ziehen könnte. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass im Rahmen der Einführung des papierlosen Landtages (PALLAST) im Jahre 2005 und der daran anschließenden Einbindung des Landesrechnungshofes in das PALLAST-System die technische Möglichkeit genutzt wurde, einen Landesrechnungshofbericht bereits während des Stellungnahmeverfahrens durch die Landesregierung gleichzeitig auch an die Mitglieder des Kontrollausschusses (seit 2009) zu übermitteln. Dieser Bericht wird automatisch mit dem Namen des Empfängers versehen. So soll die kopierte Weitergabe eines in diesem Stadium noch vertraulichen Berichtes verhindert bzw. zumindest erschwert werden. Eine weitere Idee von Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner war es, dass sich die Kontrolle selbst einer Kontrolle unterwerfen sollte. „Es täte den Kontrollinstanzen gut, wenn sie sich selbst der Kontrolle, der Fremdkontrolle unterwerfen müssten. […] Auch die Kontrollinstanz ist nicht davor gefeit, Fehler zu machen.“ Der Landesrechnungshof hat sich im Jahr 2009 einer externen Evaluierung der Qualität des Prüfungsbetriebes des Landesrechnungshofes durch eine renommierte Wirtschaftsprüfungs­gesellschaft unterzogen. Das Prüfungsurteil war sehr positiv: • Qualitätssicherungsmaßnahmen des Landesrechnungshofes sind angemessen, • wesentliche Elemente zur Sicherung der Prüfungsqualität sind implementiert, • fachliche und persönliche Kompetenz des Direktors sowie seines Prüfteams werden sowohl seitens der befragten geprüften Stellen als auch seitens der Politik bestätigt, • Qualität der Prüfberichte und Empfehlungen werden gemeinhin anerkannt.

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Externe Qualitätsprüfungen haben auch Landesrechnungshöfe anderer Bundesländer durchgeführt. Der Landesrechnungshof Steiermark orientiert sich auch an der Qualitätsbewertung im Rahmen des EU-weit anerkannten CAF (Common Assessment Framework). Dieses System ermöglicht einerseits den Vergleich mit ähnlichen Einrichtungen und zeigt andererseits im Zeitverlauf Veränderungen der Qualität der eigenen Organisation auf. Darüber hinaus wurden im Rahmen eines Peer-Review-Projektes mit dem Landes­rechnungshof Kärnten, ausgehend von internationalen Leitlinien und Checklisten der INTOSAI, mehrtägige Workshops zum Thema „Zeitnahe Kontrolle“, „Projektkontrolle und Gesamtkostenverfolgung“ abgehalten. Ziel war ein Erfahrungsaustausch, der Vergleich und die Optimierung der Abläufe und Prozesse bzw. die Bewertung, Sicherung und Steigerung von Qualität und Effektivität der Aufgabenerfüllung. Die von Kärnten und der Steiermark erarbeiteten Ergebnisse unter dem Titel „Idealtypus der zeitnahen Kontrolle“ sind die Grundlage für zukünftig durchzuführende Projektkontrollen und wurden bzw. werden auch an die relevanten Prüfkunden/-innen weitergegeben. Seit Gründung des Landesrechnungshofes im Jahr 1982 stehen Unabhängigkeit, Kompetenz und Objektivität an erster Stelle. Der Landesrechnungshof agiert als unabhängiges Organ des Landtages und bewertet mit einem neutralen Fokus. Das L-VG 2010 normiert die Weisungsfreiheit, das Auswahlverfahren für die Bestellung und die Rechtsstellung des Leiters des Landesrechnungshofes bzw. die Rechtsstellung der Bediensteten, die umfassende Dienst- und Personalhoheit über die Bediensteten, die Unver­einbarkeitsgründe und die rechtliche Gleichstellung des Leiters des Landesrechnungs­hofes mit den Mitgliedern der Landesregierung (Anklageerhebung beim Verfassungs­gerichtshof gemäß Art. 142 B-VG) und das Recht bei Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung von gesetzlichen Bestimmungen, die die Zuständigkeit des Landesrechnungshofes regeln, den Verfassungsgerichtshof anzurufen (Art. 50 Abs. 2 L-VG 2010). 2013 hat der Landesrechnungshof Steiermark als erster Landesrechnungshof eine Wissens­bilanz veröffentlicht, um seine Kompetenz offen und transparent darzustellen. Mit der Erstellung der Wissensbilanz soll eine zielgerichtete, nachvollziehbare und überprüfbare Bewirtschaftung des Wissens im Landesrechnungshof unterstützt werden und ein weiterer Schritt in Richtung Qualität und Effizienz von Prüfberichten gesetzt werden.



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Des Weiteren ist dem Landesrechnungshof als Expertenorganisation die ständige Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter/-innen ein zentrales Anliegen. Neben den regelmäßigen, verpflichtenden Besuchen von spezifischen Seminaren für die Mitarbeiter/-innen sieht eine Ausbildungsrichtlinie für neu eintretende Prüfer/-innen zwei Schienen vor: • den universitären Lehrgang Master of Business Administration (MBA) an der WU Executive Academy, • den Lehrgang zur Weiterbildung zum Akademischen Rechnungshofprüfer der Fachhochschule des BFI Wien. Die Installierung von Wissens- und Qualitätsmanagement im Jahr 2006 und der regelmäßig stattfindende Wissensaustausch mit dem Rechnungshof, den Landesrechnungshöfen der Bundesländer und dem Kontrollamt der Stadt Wien im Rahmen von Landesrechnungs­hofdirektoren-Konferenzen, Wissensgemeinschaften, Gastprüfungen bzw. die Teilnahme an EURORAI-Konferenzen zeigen die gute Vernetzung und den regen Wissensaustausch der obersten Rechnungskontrollbehörden national und international auf. Um die geforderte Objektivität zu gewährleisten, findet eine kontinuierliche Organisations­entwicklung statt: • regelmäßige Erstellung eines mittelfristigen und jährlichen Prüfprogramms, • strategische Schwerpunktsetzung, • risikoorientierte Prüfauswahl, • Einsetzung von Prüfteams statt Einzelprüfer, • verbindliche Prüfkonzepte, • obligatorische Schlussbesprechungen, • Erstellung von Arbeitsrichtlinien und Prüfstandards, • Datenschutz, • Transparenz durch eigene Homepage, • Vortragstätigkeiten. Des Weiteren wurde ein Verhaltenskodex, der sich am international anerkannten Verhaltenskodex der INTOSAI orientiert, erstellt. Vorrangiges Ziel dieses Verhaltenskodex ist die Stärkung des Bewusstseins der Mitarbeiter/-innen um die besondere Verantwortung, die mit der Prüftätigkeit verbunden ist, sowie die Bedeutung, die das Verhalten jedes Einzelnen für die Glaubwürdigkeit der gesamten Institution hat. Die Prinzipien des Verhaltenskodex sind u. a.: • Vertrauenswürdigkeit, Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit, • Integrität, • Unabhängigkeit, Objektivität und Unparteilichkeit, • Vermeidung von Interessenkonflikten im beruflichen Umfeld,

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• •

3. Wissenschaft

berufliche Verschwiegenheit, Fachkompetenz und berufliche Weiterbildung.

Die aktuelle Entwicklung in der Verfassungsdiskussion zeigt, dass die von Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts thematisierten grund­legenden, aber auch mitunter sehr detaillierten Anregungen und Überlegungen zur Rechnungshofkontrolle auf Landesebene bis heute ihre Aktualität nicht verloren haben und auch Verfassungsrechtler der Gegenwart und der Zukunft beschäftigen bzw. beschäftigen werden. Entsprechend des Selbstverständnisses des Landesrechnungshofes als Anwalt der Steuer­zahler fordert er daher nicht nur Qualität bei seinen Prüfkunden ein, sondern auch im eigenen Bereich. Herr Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner hielt diesbezüglich im Rahmen einer Landtagsrede am 13. Mai 1997 ausdrücklich fest, dass die Rechnungshofkontrolle eine Ex-post-Kontrolle sei, die aufzeige, ob den verschiedenen Prüfmaßstäben und Handlungszielen, welchen die Verwaltung unterliegt, entsprochen wurde. Die Rechnungshofkontrolle ist darüber hinaus im Sinne einer Ex-ante-Kontrolle auch als ein kooperatives Hilfsinstrument für die Verwaltung anzusehen, um deren Aufgaben zu erfüllen, so dass die Ideale der Prüfmaßstäbe, nämlich jene der Wirtschaftlichkeit, der Zweckmäßigkeit und der Ordnungsgemäßheit, erreicht werden können. Rechnungshofberichte haben für Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner demnach eine ganz starke Informationsfunktion gegenüber jenen Organen, die für die Führung der Verwaltung zuständig und damit auch verantwortlich sind. Für Herrn Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner folgt daraus, dass es notwendig ist, dass sich „die Verwaltung […], die Entscheidungsträger mit den Empfehlungen des Landesrechnungs­hofes auseinandersetzen und auch diesen Empfehlungen des Rechnungshofes, es sei denn, es sind begründete Einwendungen zu erheben, Rechnung tragen.“ Im Jahr 2010 wurden – durch einstimmigen Beschluss des Landtages – die Aufgaben des Landesrechnungshofes im 4. Abschnitt des Landes-Verfassungsgesetzes 2010 aufgenommen und erweitert. Damit hat der Landtag sein Kontrollorgan weiter aufgewertet und der Landesrechnungshof entspricht den internationalen Standards. Ein weiterer Ausbau der Kontrollrechte hinsichtlich einer Gemeindeprüfungskompetenz, eines Rederechtes des Leiters des Landesrechnungs­hofes im Landtag, der Ausbau von Kontrollrechten oder die jährliche Vorlage eines Beteiligungsberichtes ist anzustreben.



3.16. Kontrolle im politischen System

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Mit Beginn der XVII. Gesetzgebungsperiode wird das Majorzsystem eingeführt und die freie Regierungsbildung durch Mehrheitswahlrecht im Landtag Steiermark ermöglicht. Mit der Abschaffung des Proporzes sollten auch die Kontrollrechte für die nicht in der Landes­regierung vertretenen Landtagsparteien gestärkt werden. Damit wird auch die Kontrolle in Zukunft ein weiteres Gewicht bekommen.

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3. Wissenschaft

3.17. The United Nations Global Compact in Theory and Practice1

Caterina C. Hauser

1. Introduction In today’s world which is to a vast extent dominated by globalization and thus by large international trusts whose power exceeds the one of states in an increasing number of cases, numerous people are being affected by the international trusts’ power, their lives dependant on the wages paid by these global players, and even more people are being influenced by them on a daily basis. This issue of a yet not always existing relationship between human rights and international trusts is omnipresent and thus frequently causes mounting concern and criticism of international trusts through the distribution of outrageous reports about abuses committed by international trusts via news coverage. Popular brand companies (ab)use children or foreigners as labor forces and capitalize on a basis of environmental destruction, inhuman working conditions and exploitation. When I heard and read of the abuses against human rights, I was taken aback by the superficiality and inconsiderateness radiating from these corporations which build their capital on such an inhuman and ignorant basis. Simultaneously, I wondered if there was no such thing as a law preventing transnational corporations from these violations of human rights and consequently began to do research on the Internet, learned about the “United Nations Global Compact” and later on decided to write my thesis about the United Nations’ approach to the consequences of and fight against the far-reaching economical power of international trusts. Accordingly, a broad variety of governmental and nongovernmental organizations has been established so as to reach basically identical objectives: a restriction of international trusts’ power and their actions being in accord with human rights and further social and ethical responsibilities. For a description of all of these organizations’ approaches to the issue of human rights would have exceeded 1 The following text is the abridged version of the thesis “Human Rights and International Trusts” which was submitted to Prof. Mag. Gert Ponsold on March 1st 2013 and was assessed with grade “A”.



3.17. The United Global Compact in theory and practice

517

the framework of this thesis, the United Nations’ approach to the issue of international trusts in relation to human rights, nature and animals will be depicted with focus on human rights. Therefore, in the following sub-chapters of the second chapter (“United Nations Fundamental Area of Responsibility”), general information, a short history, measurements and examples of practice of the United Nations will be portrayed. Under the third chapter (“Global Economic Power Versus Human Beings and Nature”), the position and power of international trusts and their attitude to human rights, environment, sustainability, animals and humans will be elaborated on and two examples of international trusts of which one is a paragon of best practice and member of the United Nations Global Compact (“SAPPI”) and whose other one is an example of malpractice and non-member of the United Nations Global Compact (“UPS”) will be depicted via initially providing general information about these two corporations, which is followed by their practices. The fourth chapter (“United Nations Global Compact”) is dedicated to the United Nations Global Compact, describing the compact’s stage of development, functions, contents and local networks concluding with the United Nations Global Compact’s future perspective and potential. The summary outlook (chapter five) depicts inter alia precise proposals for improvement which may lend much more substance to the United Nations Global Compact and its objectives.

2. United Nations Fundamental Area of Responsibility In the following, the definition of the United Nations, a short history of its development, its founding assignment, purpose, development of the fundamental rights and examples of practice will be depicted. 2.1. History and Development of the United Nations The United Nations (UN) is an international organization founded in 1945 after the Second World War2. The name of the organization derives from the “United Nations” which initially named the allies of World War II, the countries which opposed the Axis powers. Nowadays, the UN has 193 member states and six principal organs with differing responsibilities and functions alongside which the organization encompasses agencies, programmes and bodies based in several states – e.g., the UN Head2 See generally: Churchill, The Second World War (2002) passim.

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3. Wissenschaft

quarters building is located in Manhattan, New York – USA, the “UN Office at Vienna” in Vienna, Austria. The current Secretary General, the head of the UN Secretariat (which is one of the six principal organs3) has been Ban Ki-moon since his election in 2007, which was followed by a unanimous re-election in 2011.4 The predecessor of the United Nations, the League of Nations5, was founded after the First World War6 with the primary purpose to maintain world peace through disarmament, the arbitration of international disputes and collective security. Even though the League of Nations achieved a number of successes, it proved unable to accomplish its primary purpose as the organization was incapable to avert the Second World War. When the League of Nations was dissolved in 1946, all its functions, agencies and warrants were transferred to its successor, the UN.7 The first step toward the foundation of the United Nations was a declaration which was signed by the representatives of the allies in London on June 12th 1941, followed by the American-British Atlantic Charter on August 14th 1941, which already outlined parts of today’s Charter of the United Nations (UN-Charter). On January 1st 1942 a document which later came to be known as the United Nations Declaration was signed by twenty-six governments. On the occasion of the Moscow Conference, a declaration expressing the necessity of an international organization to ensure peace was published in 1943 – this declaration was reinforced by a similar statement during the Tehran Conference. As a consequence of these statements of intent, a conference of the four powers took place at Dumbarton Oaks (Washington D.C., USA) during August and October 1944 which led to a first draft of the Charter of the UN that left open the voting procedure in the Security Council. The question of voting was resolved at the Yalta Conference, which was held at the beginning of the next year.8 The San Francisco Conference ended with delegates of the 50 nations signing the UN-Charter9. After the UN-Charter had been ratified by the majority of the member states on October 24th 1945, the UN came into existence.10

3 ������������������������������������������������������������������������������������������������� These are the General Assembly������������������������������������������������������������������� , the Security Council, the Economic and Social Council, the Trusteeship Council, the International Court of Justice and the Secretariat. 4 For more on this topic, see: http://www.un.org/sg/biography.shtml (23. 9. 12) 5 Cf.: http://en.wikipedia.org/wiki/League_of_Nations (10. 9. 2012) 6 See generally: Stevenson, 1914–1918: The History of the First World War (2004) passim. 7 Cf.: Krüger, Introduction in: Krüger (ed.), Charta der Vereinten Nationen/Statut des Internationalen Gerichtshofes (1982) p. 5 ff. 8 Ibid. 9 For more on this topic, see: http://www.un.org/en/documents/charter/ (23. 9. 2012) 10 Cf.: http://www.un.org/en/aboutun/history/sanfrancisco_conference.shtml (21. 9. 2012)



3.17. The United Global Compact in theory and practice

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2.2. Founding Assignment and Purpose of the United Nations The purposes and founding assignment of the UN was laid down in the Charter of the United Nations which is composed of an introductory note, a preamble and 19 chapters. As primary objective and purpose the UN-Charter names the maintenance of international peace and security (Art. 1 Par. 1 UN-Charter). In order to accomplish this end, the UN is bound to “[…] take effective collective measures for the prevention and removal of threats to the peace, and for the suppression of acts of aggression or other breaches of the peace, and to bring about by peaceful means, and in conformity with the principles of justice and international law, adjustment or settlement of international disputes or situations which might lead to a breach of the peace” (Art. 1 Par. 1 UN-Charter).11 The second purpose of the UN is aimed at the development of “[…] friendly relations among nations based on respect for the principle of equal rights and self-determination of peoples, and to take other appropriate measures to strengthen universal peace” (Art. 1 Par. 2 UN-Charter).12 The third purpose outlines the UN’s pursuit “to achieve international co-operation in solving international problems of an economic, social, cultural, or humanitarian character, and in promoting and encouraging respect for human rights and for fundamental freedoms for all without distinction as to race, sex, language, or religion” (Art. 1 Par. 3 UNCharter).13 The fourth point portrays the UN as “a centre for harmonizing the actions of nations in the attainment of these common ends” (Art. 1 Par. 4 UN-Charter).14 Art. 2 of the UN-Charter presents seven central principles which are to be taken in account with the achievement of the purposes pursuant to Art. 1 of the Charter; these include in particular the principle of sovereign equality of all Member States (Art. 2 Par. 1 UN-Charter), the resolution of international disputes via peaceful measurements (Art. 2 Par. 3 UN-Charter) as well as the principle of fundamental renunciation of the use of force (Art. 2 Par. 4 UN-Charter).

11 12 13 14

http://www.un.org/en/documents/charter/ (4. 10. 2012) Ibid. Ibid. Ibid.

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2.3. United Nations and the Development of the Fundamental Rights in General Fundamental rights, human rights or fundamental human rights, can be defined as rights to which every human being regardless of gender, nationality, race, age, religious belief, language or social background is entitled. They belong to each and every one of us equally, without exception, simply because we are human and thus are regarded as universal – sc. as not being restricted to territory.15 The idea of human rights predates the UN for there were concepts which already featured important aspects all human beings should be granted that date back to quite a long time ago, however many of these early documents excluded or discriminated against – inter alia – women, people of colour or members of certain religious groups. One early written record asserting individual rights was the Magna Carta 16 (Engl.: Great Charter), which dates back to 1215. In this Charter, certain rights were established which belonged to all free men and could not even be violated by the king. The rights stated were – inter alia – the right of free men to own and inherit property, the right of prosperous widows to choose not to remarry and equality before the law.17 In the Preamble of the UN-Charter a significant reference to human rights is quoted: “We the people of the United Nations determined […] to reaffirm faith in fundamental human rights, in the dignity and worth of the human person, in the equal rights of men and women and of nations large and small […].”18 More emphasizing references to human rights and fundamental freedoms follow throughout the UN-Charter – e.g. in Art. 1 Par. 3.19 The Member States have to follow the obligations of the UN-Charter and thus are obliged to promote and respect human rights and collaborate with other nations and the UN in order to enable equal rights for everyone. However, neither a specification of human rights nor a way of implementation in member states is illustrated in the UN-Charter. The lack of implementation and specification provide a void which can be exploited and leads to abuses of human rights. Hence the UN took measures so as to solve these problems and this led to the establishment of the Universal Declaration of Human Rights (UDHR)20.

15 For more on this topic, see: http://www.humanrights.com/what-are-human-rights.html (6. 10. 2012) 16 For more on this topic, see: http://www.constitution.org/eng/magnacar.htm (6. 10. 2012) 17 Cf.: ibid. 18 http://www.un.org/en/documents/charter/preamble.shtml (29. 9. 2012) 19 Cf.: the above text, footnote 12 20 For more on this topic, see: http://www.un.org/en/documents/udhr/index.shtml (29. 9. 2012)



3.17. The United Global Compact in theory and practice

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Nevertheless, the significance the question of human rights represented at the San Francisco Conference resulted in Art. 68 of the UN-Charter: “The Economic and Social Council shall set up commissions […] for the promotion of human rights, and such other commissions as may be required for the performance of its functions.”21 A commission named the “Commission on Human Rights” (CHR) was thus established by the Economic and Social Council (ECOSOC) in 1946 and was suggested to devote itself to the creation of an international bill of human rights as its first task.22 At the first session in 1947 the members of the commission were authorized to formulate a (at first so called) draft international bill of rights. Subsequently, the work was taken over by a formal drafting committee which consisted of members selected with due regard to geographical distribution and was chaired by late President Franklin Roosevelt’s wife, Eleanor Roosevelt. The final drafting took place in 1948 in collaboration with 50 member states.23 At the General Assembly on December 10th 1948 in Paris the Universal Declaration of Human Rights (UDHR) was adopted and followed up by the adoption of the International Covenant on Civil and Political Rights and the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights in 1966. The UDHR, in combination with the International Covenant on Civil and Political Rights and its two Optional Protocols and the International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, form the International Bill of Human Rights.24 2.4. Selection of Examples from Practice of the United Nations Since the foundation of the UN in 1945, the organization’s area of responsibility has spread continuously. In the following, the three most significant sub-areas of the UN’s responsibility will be depicted – hence the UN’s measures to ensure peace, humanitarian measurements and measures in the area of the international economic policy. General information and one pointed example of each of the above three sub-areas will be presented for otherwise the dimensions of this thesis would be exceeded.

21 http://www.un.org/en/documents/charter/ (29. 9. 2012) 22 Cf.: http://www.un.org/en/documents/udhr/history.shtml (6. 10. 2012) 23 Ibid. 24 Cf.: http://asiapacific.amnesty.org/apro/aproweb.nsf/pages/bill (6. 10. 2012)

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2.4.1. Measures to Ensure Peace 2.4.1.1. General Aspects As stated in the above, the UN’s founding assignment is primarily to ensure, reinforce, restore, maintain and promote international peace as the organisation determines “to save succeeding generations from the scourge of war, which twice in our lifetime has brought untold sorrow to mankind […]”25 in the Preamble of the UN-Charter. Since its foundation, the UN has recurrently prevented disputes from generating into wars, it has helped to establish peace when armed conflicts emerged and furthermore has restored and ensured permanent peace in war-torn areas.26 The organs which hold an important function in the advancement of international peace are the General Assembly27 and the Security Council28 (which is – according to the UN-Charter – primarily charged with the maintenance of peace and security) and so does the Secretary General.29 The measures adopted by the UN in order to achieve world peace are – inter alia – peacemaking and preventive diplomacy, peacekeeping, peacebuilding, disarmament, actions to counter terrorism, electoral assistance and decolonization.30 2.4.1.2. Example: UNAMSIL On October 22nd 1999 the UN’s Security Council established the United Nations Mission in Sierra Leone (UNAMSIL), which terminated its predecessor, the United Nations Observer Mission in Sierra Leone (UNOMSIL). The UNAMSIL aimed to implement the Lome Peace Agreement, which had been signed by all parties in July of the same year, and support the implementation of the disarmament, demobilization and reintegration plan. The maximum of 6,000 military personnel (including 260 military observers) which was provided so as to conduct the mission was – after having been increased thrice – expanded to a maximum of 17,500 military personnel.31 In 2005 the UNAMSIL successfully completed its assignment and therefore “may serve as a model for successful peacekeeping, as well as a prototype for the UN’s new emphasis on peacebuilding. Over the course of its mandate, the 25 http://www.un.org/en/documents/charter/preamble.shtml (10.  10.  2012); see also Art.  33  ff. UNCharter. 26 Cf.: http://www.un.org/en/globalissues/peacesecurity/ (10. 10. 2012) 27 Art. 9 ff. UN-Charter. 28 Art. 23 ff. UN-Charter. 29 Ibid.; for more details, see: http://www.un.org/en/peace/ (11. 10. 2012) 30 Cf.: ibid. 31 Cf.: http://www.un.org/en/peacekeeping/missions/past/unamsil/background.html (14. 10. 2012)



3.17. The United Global Compact in theory and practice

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Mission disarmed tens of thousands of ex-fighters, assisted in holding national elections, helped to rebuild the country’s police force, and contributed towards rehabilitating the infrastructure and bringing government services to local communities.”32 The UNAMSIL was followed by another UN mission, the United Nations Integrated Office for Sierra Leone (UNIOSIL), which was established to help consolidate peace in the country.33 2.4.2. Humanitarian Measurements 2.4.2.1. General Aspects Humanitarian measurements are defined as measurements which are taken in order to protect, help, secure and support all human beings. There are several UN bodies of which each has adopted a subarea of humanitarian affairs. To give a short overview of these bodies in excerpts: The General Assembly Third Committee (Social, Humanitarian and Cultural)34, the Economic and Social Council (ECOSOC)35, the United Nations Children’s Fund (UNICEF)36, the World Food Programme (WFP)37 and the United Nations Population Fund (UNFPA)38. The above listed and further bodies such as the World Health Organization (WHO)39, which is a specialized agency of the UN40, assist refugees, help disaster victims, help reduce the effects of natural disasters, provide tsunami relief, medical treatment and food for the neediest.41 2.4.2.2. Example: World Food Programme (WFP) – School Meals The World Food Programme (WFP) is one of the UN bodies of humanitarian affairs and furthermore the largest humanitarian agency which is fighting hunger throughout the world. The WFP has set itself five objectives and in this manner everything the organisation does is coordinated with reaching these objectives, which run as follows: “1. Save lives and protect livelihoods in emergencies, 2. Prepare 32 http://www.un.org/en/peacekeeping/missions/past/unamsil/background.html (14. 10. 2012) 33 Ibid. 34 For more on this topic, see: http://www.un.org/en/ga/third/index.shtml (14. 10. 2012) 35 For more on this topic, see: http://www.un.org/en/ecosoc/ (14. 10. 2012) 36 For more on this topic, see: http://www.unicef.org/emerg/index.html (14. 10. 2012) 37 For more on this topic, see: http://www.wfp.org/ (14. 10. 2012) 38 For more on this topic, see: http://www.unfpa.org/public/home/emergencies (14. 10. 2012) 39 For more on this topic, see: http://www.who.int/en/ (14. 10. 2012) 40 Specialized agencies are autonomous organizations working with the UN and each other and may (not) have been originally established by the UN. At present, there are 17 of such agencies. http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_specialized_agencies_of_the_United_Nations (14. 10. 2012) 41 For more on this topic, see: http://www.un.org/un60/60ways/ha.shtml (16. 10. 2012)

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for emergencies, 3. Restore and rebuild lives after emergencies, 4. Reduce chronic hunger and undernutrition, 5. Strengthen the capacity of countries to reduce hunger.”42 The WFP’s project “School Meals” was one of many set up so as to accomplish the fourth point of the WFP’s objectives. It has been in progress for 45 years in collaboration with numerous non-governmental organizations (NGOs) and governments. Currently there have been WFP school meal programmes in 62 countries. “School meals can be used to effectively tackle hunger, nutrition, education, gender inequality and broader development issues. They transfer much needed income to food insecure households.”43 In developing countries, many people cannot afford food for the whole family and there are only few schools which are facilitated with a canteen or cafeteria. Thus, WFP provides school meals. These meals are for an alarming high amount of children the only nutritious meal they have access to on one day as their families are abjectly poor.44 In developing countries, school attendance is often very low; especially girls usually do not attend schools regularly – instead, they work at home and look after their siblings. However, school attendance and enrolment can be increased via daily school meals being provided for every child. Hence, the school meal programmes directly target the objectives of hunger being reduced by half, accomplishing universal primary education and gender equality in education and all that by 2015.45 2.4.3. Measures in the Area of the International Economic Policy 2.4.3.1. General Aspects Under Art. 1 Par. 3 of the UN-Charter the achievement of “[…] international cooperation in solving international problems of an economic […] character […]”46 is quoted, and further the UN shall promote “[…] higher standards of living, full employment, and conditions of economic and social progress and development; solutions of international economic […] problems […]” (Art. 55 Par. a and b UN-Charter). 47 The UN strives to reach worldwide prosperity and so as to reach this aim international economic measurements have to be taken. In order to spread prosperity, trade needs to be eased, promoted, encouraged and modernized. A broad variety of programmes and bodies have been established so as to accomplish the above quoted objective, such as the ECOSOC, the United Nations 42 www.wfp.org/our-work (16. 10. 2012) 43 http://www.wfp.org/school-meals/in-depth (17. 10. 2012) 44 Cf.: www.wfp.org/school-meals (17. 10. 2012) 45 Ibid. 46 http://www.un.org/en/documents/charter/ (27. 10. 2012) 47 http://www.un.org/en/documents/charter/ (27. 10. 2012)



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Conference on Trade and Development (UNCTAD)48, which has established various subordinate programmes e.g. the Trade and Development Board49; moreover, the General agreement on Tariffs and Trade (GATT)50 was established by the UN, which has been replaced by an independent organization – the World Trade Organization (WTO)51. 2.4.3.2. Example: United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods (CISG) The United Nations Convention on Contracts for International Sale of Goods (CISG)52 was adopted in 1980 with the objective of providing “[…] a modern, uniform and fair regime for contracts for the international sale of goods. Thus, the CISG contributes significantly to introducing certainty in commercial exchanges and decreasing transaction costs.” 53 The CISG is the fundamental base of all countries’ international trade regardless of the countries’ level of economic development and legal tradition and is thus regarded as one of the heart international trade law conventions whose global adoption is worthwhile. “The CISG governs contracts for the international sales of goods between private businesses, excluding sales to consumers and sales of services, as well as sales of certain specified types of goods. It applies to contracts for sale of goods between parties whose places of business are in different Contracting States, or when the rules of private international law lead to the application of the law of a Contracting State. It may also apply by virtue of the parties’ choice.” 54 The CISG significantly contributes to the facilitation of international trade making importing and exporting easier as in every Contracting State the same rather than entirely different rules apply. Furthermore, small or medium-sized companies and traders who are located in developing countries highly benefit from the CISG 48 For more on this topic, see: http://unctad.org/en/Pages/Home.aspx (27. 10. 2012) 49 For more on this topic, see: http://unctad.org/en/Pages/Meetings/TDB.aspx (27. 10. 2012) 50 The GATT is a multilateral agreement which was to create an open world trading system through reduction and of tariffs and prevention of the establishment of new trade barriers (http://www.freetrade.org/node/608 [27. 10. 2012]); it was amended into the General Agreement on Trade in Services (GATS) under the conduct of the WTO. For more on this topic, see: http://en.wikipedia.org/wiki/ General_Agreement_on_Tariffs_and_Trade (27. 10. 2012). 51 For more on this topic, see: http://www.wto.org/ (27. 10. 2012); and in German see generally: Senti, WTO. System und Funktionsweise der Welthandelsordnung (2000) passim. 52 For more on this topic, see: http://www.cisg.law.pace.edu/cisg/text/treaty.html (27. 10. 2012); see for details from primarily Austrian perspective: Karollus, UN-Kaufrecht (1991) passim. 53 http://www.uncitral.org/uncitral/uncitral_texts/sale_goods/1980CISG.html (27. 10. 2012) 54 http://www.uncitral.org/uncitral/uncitral_texts/sale_goods/1980CISG.html (27. 10. 2012)

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since the contract provides balanced trade which reduces the difficulties encountered by the oft-times weaker trading partners of small companies or in developing countries situated traders.55

3. Global Economic Power Versus Human Beings and Nature In the following sub-chapters, the initial position as regards the power of international trusts together with their attitude to human rights in particular will be elaborated and subsequently two examples of international trusts of which one is a paragon of best practice and member of the United Nations Global Compact (“SAPPI”) and whose other one is an example of malpractice and non-member of the United Nations Global Compact (“UPS”) will be depicted via initially providing general information about these two corporations.56 3.1. Initial Position and the Power of International Trusts An international trust57, also referred to as multinational corporation, global corporation, multinational enterprise or supranational agency, is a firm which operates beyond the borders of its home country – or country of origin, which means that it has shareholders, operations and sales in numerous countries all around the world. An international trust may thus have its origin in – say – Austria but may locate one stage of production in – say – China, India and Germany. One example of an international trust is Nestlé, Switzerland with employees “in over 150 countries and […] factories or operations in 83 countries.” 58 Those international trusts have emerged after globalization had been born and as it has spread, international trusts have begun their rise to power. Nowadays they maintain an important role in globalization. The 500 largest corporations implement a quarter of the world’s Gross National Product (GNP)59 and control 70 % of global trade even though employing only 0.05 % of the world’s population.60 In 55 Cf.: http://www.uncitral.org/uncitral/uncitral_texts/sale_goods/1980CISG.html (27. 10. 2012) 56 For further current generic examples, see: Hößle, Der Beitrag des UN Global Compact zur Compliance internationaler Regime (2013) passim. 57 Cf.: Sagafi-Nejad/Dunning, The UN and Transnational Corporations: From Code of Conduct to Global Compact (2008) p. 2 f. 58 http://www.nestle.com/AboutUs/Pages/AboutUs.aspx (11. 11. 2012) 59 For more on this topic, see: http://en.wikipedia.org/wiki/Gross_national_product (11. 11. 2012) 60 Cf.: Werner-Lobo/Weiss, Das neue Schwarzbuch Markenfirmen: Die Machenschaften der Weltkonzerne4 (2011) p. 16.



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many cases the economic power of international trusts exceeds the one of states: The Gross Domestic Product (GDP)61 of Austria used to be higher than the turnover of the world’s largest corporation; however, come 2001, Austria was exceeded by two international trusts.62 Thus it is not hard to imagine that global economic conditions are dictated by international trusts. When conditions concerning social or environmental aspects are toughened, corporations simply relocate manufacturing bases in poorer countries where standards are low and production is cheap. Since these aspects are already stricter in the USA and countries of the south, international trusts mainly determine less wealthy countries as hosts for manufacturing from the very outset. An international trust, especially a large one, with hundreds of affiliates and numerous subcontractors and suppliers can hardly be broadly supervised. One trust has too many branches to permit overseeing every single one, regardless of how small these branches may be. This difficulty of encompassing and precise supervision provides latitude which is regularly exploited for malpractice. As most corporations are profit-oriented, this latitude is most welcome if not even pursued (and therefore another cause for the relocation of manufacturing) by the affected international trusts. What might seem to be a “wonderful idea to bridge a gap in the market” often evolves into an exploitative (and thus worst example of an) international trust which cunningly circumnavigates all barriers to gain as much turnover as possible, at a minimal expense so as to maximize the profit – profit gained on a basis of global exploitation and avarice or in other words: Capitalization by means of environmental destruction63, inhuman working conditions64, (ab)use of children as labor force65 and existence threatening low payment – in sum, on a basis of violations of human rights. International trusts ignore or deliberately “overlook” 61 For more on this topic, see: http://en.wikipedia.org/wiki/Gross_domestic_product (14. 11. 2012) 62 These trusts are Wal-Mart and ExxonMobil; cf.: Werner-Lobo/Weiss, Schwarzbuch Markenfirmen4, p. 27. 63 For a dramatic example of environmental destruction committed by an international trust, see: http://www.guardian.co.uk/environment/2011/apr/20/deepwater-horizon-key-questions-answered (17. 11. 2012) 64 For more details of inhuman working conditions by way of example of sweatshops (= working environment considered to be unacceptably difficult or dangerous), see: http://www.guardian.co.uk/global-development/poverty-matters/2011/apr/28/sweatshops-supplying-high-street-brands (17. 11. 2012) 65 In Austria, the first abolition of child labor was implemented by Kaiser Josef II in 1786. Cf.: Radner/ Jud/Hauser, Arbeitsrecht3 (2005) p. 31; for a dramatic example of child labor, see: http://www.theguardian.com.au/story/351764/poor-children-made-to-stitch-sports-balls-insweatshops/?cs=5 (17. 11. 2012)

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that this attitude fosters abuses of human beings and even goes as far as to claim lives of people66 besides permanently damaging our planet. Even though most international trusts make shallow efforts to protect nature (which oft-times occur simultaneously with environmental destruction) or take similar measurements so as to do a good deed, these projects are in fact naught in comparison with all the inter-company problems, as is the amount of money spent compared to the trust’s turnover. The primary aim most international trusts pursue with these and similar measures, is plainly the enhancement of their image.67 During the past few years news coverage has been dominated by reports of outrageous abuses committed by international trusts68 and the fight to bring these reckless companies to justice and force them to compensate for the crimes which they have committed – with a rising frequency. One approach to urge international trusts to respect – inter alia – human rights and to prevent them of malpractice is the United Nations Global Compact, which will be discussed in the next chapter, after good- and malpractice by an example of two well-known international trusts will have been given. 3.2. An Example of Malpractice: UPS / Turkey In this section an example of an international trust’s malpractice will be depicted after some general information of this international trust will have been given. 3.2.1. UPS: General Information The United Parcel Service (UPS)69 headquartered in Atlanta, USA was founded by “[…] 19-year-old, James E. […] Casey (…)” 70 in Seattle, Washington, USA in 1907 as a messenger company which has grown into the world’s largest package delivery corporation through its pursuit to enable commercial intercourse all around the world.71 In other words, UPS nowadays is “[…] a leading global provider of specialized transportation and logistics services” 72 which manages “[…] the flow of goods, funds, and information in more than 200 countries and terri66 For a dramatic example, see: http://www.nytimes.com/2012/09/20/world/asia/pakistan-factorypassed-inspection-before-fire.html?pagewanted=all (17. 11. 2012) 67 See also: http://www.stopcorporateimpunity.org/?page_id=710 (17. 11. 2012) 68 For instance, see the above web pages which depict newspaper articles. 69 For more details, see: http://www.ups.com/content/us/en/index.jsx?WT.svl=BrndMrk (28. 12. 2012) 70 http://www.ups.com/content/us/en/about/history/1929.html (28. 12. 2012) 71 Cf.: http://www.ups.com/content/us/en/about/index.html?srch_pos=2&srch_phr=about (28. 12. 2012) 72 Ibid.



3.17. The United Global Compact in theory and practice

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tories worldwide” 73 every day. UPS was the first package delivery company that provided air service and “became the first package delivery company to serve every address in the 48 contiguous United States”74. UPS became a transnational trust through the offer of service in Toronto, Canada in 1975.75 In December 2011, the number of UPS’ employees was 398,300 and its turnover amounted to about $53.105 billion in the same year.76 “With its international service, UPS can reach over four billion people, twice the number of people who can be reached by any telephone network.” 77 3.2.2. The UPS Turkey Case As a trust operating worldwide, UPS is – inter alia – located in Turkey where it entered the marked through the parcel service ÜNSPED78, which was UPS’ service partner from 1988 until it was acquired by the international trust in 2009.79 As a consequence of the acquisition of ÜNSPED, “[…] UPS Worldwide became the employer for the majority of an estimated 5,000 workers (3,000 direct employees, the rest via subcontractors and local agencies) in Turkey”80. In 2008, an organizing campaign for UPS was initiated after a meeting of Türkiye Motorlu Taşıt İşçileri Sendikası (TÜMTIS)81, “[...] a Turkish trade union in the transport sector” 82, representatives of the labor union the “International Brotherhood of Teamsters” (IBT)83 and representatives of the Global Delivery Unions Network (GDN) 84 of the international trade union federation the “International Transport Workers’ Federation” (ITF)85. TÜMTIS upheld contact with UPS’ workers quietly for four months until unfortunately this was noticed by the international trust. UPS’ local management reacted with the dismissal

73 Ibid. 74 http://www.ups.com/content/us/en/about/history/1980.html (28. 12. 2012) 75 http://www.ups.com/content/us/en/about/history/1990.html (28. 12. 2012) 76 Cf.: http://en.wikipedia.org/wiki/United_Parcel_Service#cite_note-10K-1 (28. 12. 2012) 77 http://www.ups.com/content/us/en/about/history/1990.html (28. 12. 2012) 78 For more details, see: http://www.ugl.com.tr/ugm/eng/index.php (28. 12. 2012) 79 Cf.: http://pressroom.ups.com/Fact+Sheets/UPS+Turkey+Fact+Sheet?srch_pos=1&srch_phr=turkey (29. 12. 2012) 80 McGrath/Dinler, Strategic Campaigning in Multinational Companies: The Case of United Parcel Service (UPS) in Turkey, Juridikum (2011) p. 375. 81 For more details, see: http://tumtis.org/v2/ (29. 12. 2012) 82 McGrat /Dinler, Juridikum (2011) p. 374. 83 For more details, see: http://www.teamster.org/ (29. 12. 2012) 84 For more details, see: http://www.itfglobal.org/global-delivery/global-delivery-network.cfm (29. 12. 2012) 85 For more details, see: http://www.itfglobal.org/ (29. 12. 2012)

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of 163 employees who had joined the trade union and “[…] intimidated nonmembers by discouraging them from joining the union.” 86 “The union set up picket lines in front of three UPS transfer centers […] from May 2010 and started a public campaign for reinstatement of 163 fired workers. […] picket lines kept fired workers and their leaders together every day […]; made the union campaign visible and exerted pressure on the employer.” 87 After a global action day which took place on September 1st 2010 that spread the message: “UPS, deliver justice not abuse” 88 and caused additional pressure for UPS worldwide, a bridge for communication between TÜMTIS and UPS was erected by ITF, IBT and the UPS European Works Council which was followed by the first formal meeting of union and trust. Consequently, negotiations continued – should they seem to lead to a dead end, further pressure would be put on the employer by the ITF. On February 1st 2011, the campaign culminated with the reinstatement of the majority of the previously dismissed workers and the minority being given a severance package.89 Even though most of the workers initially dismissed for union membership have been rightfully reinstated, this case of UPS remains an example of malpractice. Also, numerous problems remain, as in Turkey – although the country ratified the UDHR and conventions of the International Labor Organization (ILO)90, which include workers’ rights to associate with, form or join unions so as to bargain collectively – the number of unionized workers as well as the one of workers covered under collective agreements is declining.91 Similar cases appear throughout the world: Unions, employees and law struggling and fighting to bring international trusts to justice.92 3.3. An Example of Best Practice: SAPPI In the first of the following two sub-chapters, general information about the international trust SAPPI will be given and thereafter – in the second sub-chapter 86 McGrath/Dinler, Juridikum (2011) p. 375. 87 Ibid. 88 Ibid., p. 380. 89 Ibid., p. 376. 90 For more details, see: http://www.ilo.org/global/lang--en/index.htm (29. 12. 2012) 91 Cf.: McGrath/Dinler, Juridikum (2011) p. 376 f.; Friedrich Ebert Stiftung (ed.), For Dignity and Justice: The Struggle of UPS Workers and TÜMTIS in Turkey (2010) p. 6 ff. 92 For instance, see: Müller-Hoff/Schmidt, Strafanzeige gegen Nestlé – Ein Präzedenzfall für menschenrechtliche Haftung von Unternehmen? Juridikum (2012) p. 261–269; Werner-Lobo/Weiss, Schwarzbuch Markenfirmen4, passim.



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– SAPPI’s practices in accordance with the ten principles of the United Nations’ Global Compact (UNGC) will be given and additionally the information obtained via an interview with Mr. GK Ing. Wolfgang Kamedler, chairman of the works council of SAPPI Gratkorn, will be used primarily. 3.3.1. SAPPI: General Information The SAPPI Limited (initially South African Pulp and Paper Industries Limited, now the abbreviation is the official name) is an international trust which was founded in South Africa in 1936 so as to supply this area with on-site produced paper.93 In the following years, SAPPI acquired land for the growth of timber, established new mills and invested in new products.94 Approximately fifty years later, SAPPI became international with the acquisition of five fine paper mills in the UK followed by the establishment of SAPPI Europe.95 SAPPI’s manufacturing is based on three continents (Europe, America and Africa) with 20 mills and sales in over 100 countries. Its headquarters are located in Johannesburg, South Africa. The international trust is “[…] focused on providing chemical cellulose, paper-pulp and paper based solutions […]”96 producing yearly six million tons of paper, 800,000 tons of chemical cellulose and 3.4 million tons of paper pulp. SAPPI’s crucial three business divisions are SAPPI Fine Paper, SAPPI Forest Products and SAPPI Trading. The products of SAPPI are “fine paper, business paper, specialty paper, packaging paper, casting release paper and chemical cellulose pulp” 97. The international trust employs 14,900 people worldwide.98 SAPPI’s turnover amounts to approximately 1.633 Mio USD, as of Q2 2012.99 3.3.2. SAPPI’s Corporate Responsibility In 2008, SAPPI became signatory to the United Nations Global Compact (UNGC)100, 101 The UNGC is contracted between the UN and international trusts which thus oblige to the adherence and exercise of ten principles. (The UNGC will be further and more precisely described in the next chapter.) Even if the 93 http://www.sappi.com/regions/eu/SappiEurope/Pages/AboutUs.aspx (31. 12. 2012) 94 http://www.sappi.com/regions/eu/group/Pages/Company-history.aspx (31. 12. 2012) 95 Ibid. 96 http://www.sappi.com/regions/eu/group/GroupProfile/Pages/deFault.aspx (31. 12. 2012) 97 http://www.sappi.com/regions/eu/SappiEurope/Pages/AboutUs.aspx (31. 12. 2012) 98 Cf.: ibid. 99 Cf.: http://www.rzb.at/eBusiness/services/resources/media/831197035645054749826100030434411352_826102127452197958-828006864305061092-1-1-NA.pdf (3. 1. 2013) 100 For more details, see: http://www.unglobalcompact.org/ (31. 12. 2012) 101 Cf.:http://www.sappi.com/group/Sustainability/SDR11_UN%20Global%20Compact.pdf (31. 12. 2012); Cf.: http://www.unglobalcompact.org/participant/8204-Sappi-Limited (5. 1. 2013)

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Global Compact itself might not be known or spread throughout SAPPI102, the content and topics of the ten principles are – via the “SAPPI Code of Ethics”103, which is handed out to all of SAPPI’s employees.104 The three fundamental values of SAPPI forming “(…) the heart of the Sappi Code of Ethics”105 are “(…) ‘excellence’, ‘integrity’ and ‘respect’ (…).” 106 At SAPPI, employees are not dismissed for union membership or association with unions. In 2011, 63.5% of SAPPI North America’s employees were unionized, in South Africa 52% of SAPPI’s employees and in Europe 65.8% of SAPPI’s employees are represented by unions.107 The SAPPI European Works Council (EWC) represents SAPPI’s employees, their demands and rights.108 If there are conflicts, the Works Council mediates and establishes contact with unions so as to settle the conflict and reach agreements.109 Moreover, Europe’s Chief Executive Officer (CEO) organizes annual “roadshows” in collaboration with the technical director, meaning CEO and technical director visit all of SAPPI’s locations and present the trust’s strategy and innovations.110 102 “[…] Global Compact doesn’t really ring a bell. […] What is it, I am to ask? I can’t speak for all colleagues and employees but as it doesn’t mean anything to me, I don’t think that it is widely spread in the mill.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). 103 For more details, see: http://www.sappi.com/group/Sappi%20Code%20of%20Ethics/Sappi%20 Code%20of%20Ethics.pdf (31. 12. 2012) 104 “[…] It is less the term Global Compact itself – for me not in any form communicated, however the single topics are (communicated).” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). “[…] the SAPPI Code of Ethics; it is distributed in the whole firm, meaning every employee has received one. Reading through it – prosperity, people, environment – we encounter the single topics here. However, Global Compact is written nowhere, as one can see.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). 105 http://www.sappi.com/regions/eu/group/Pages/Code-of-Ethics.aspx (31. 12. 2012) 106 Ibid. 107 Cf.: http://www.sappi.com/group/Sustainability/SDR11_UN%20Global%20Compact.pdf (31. 12. 2012) 108 “[…] there are European Work Councils where the chairman is an employee-representative, just like here, where this would be me. At SAPPI, the topics which are being discussed are determined by the employees’ site.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). 109 ������������������������������������������������������������������������������������������������� “We’ve established contact with the South African and American union representatives of SAPPI repeatedly.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012); “We have launched activities in the USA, it was the American Union BAIS which negotiated with the management […] when SAPPI had acquired the American part of BODLEGE […].The negotiations lasted for five years after all. In the meantime, the European Works Council established contact with BAIS and I went to America with the CEO of SAPPI Gratkorn where we talked to the affected people. If this was the decisive factor or not – that is always the question. […] three months later, the agreement was concluded. Obviously, it caused some movement.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). 110 “Every year a so called ‘road-show’ is organized by the CEO of Europe in collaboration with the



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SAPPI furthermore arranges auditing: “[…] employees from South Africa travel to Europe and European employees go to America et cetera and a whole list of issues is being gone over; […] the approach to environment, to the surrounding communities, to suppliers and people – amongst others. […] This means it is reciprocally being checked, what is being done.” 111 In regard of fair labor conditions, SAPPI conforms “[…] to the core labour standards of the International Labour Organisation (ILO).” 112 The international trust also conforms “to – and in many cases exceed[s] – the labour conditions stipulated by the governments of the countries in which [they] operate.” 113 Labour conditions are comparable at related facilities and locations, as at any mills identical machines are used and employees perform similar actions.114 Child labour is nonexistent at SAPPI.115 One significant area of fair labour conditions for SAPPI is safety. Safety is essential when striving to prevent accidents and SAPPI tries to lower the rate of accidents every year.116 The SAPPI Code of Ethics urges the staff of SAPPI to adhere to “all reasonable measures to prevent workplace accidents and injuries; […] to all safety, health and environmental laws; […] to Sappi’s safety, health and environmental policies, regulations and procedures, and” 117 to “Refrain from putting others’ lives

technical director, where they travel from one location to the next […] and present SAPPI’s strategy […].” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). 111 Interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012. 112 http://www.sappi.com/group/Sustainability/SDR11_UN%20Global%20Compact.pdf (2.  1.  2013); for more details on ILO’s core labour standards, see: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/--asia/---ro-bangkok/---ilo-manila/documents/publication/wcms_126253.pdf (2. 1. 2013) 113 http://www.sappi.com/group/Sustainability/SDR11_UN%20Global%20Compact.pdf (2. 1. 2013) 114 “People, who work the machines, perform similar actions, meaning we have similar […] working conditions concerning the prevention of accidents and the like in all regions.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012); “The machines are the same everywhere […].” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). 115 Cf.: http://www.sappi.com/group/Sustainability/SDR11_UN%20Global%20Compact.pdf (2. 1. 2013) 116 Cf.: http://www.sappipositivity.com/people (1. 1. 2013); “[…] in all regions, regardless whether speaking of South Africa, North America or Europe, emphasis is put on safe labor conditions. This of course has a simple background: Any accident costs money. And if one has the possibility to save this money, one usually does save it.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). “[…] if someone has to work – say – on a scaffolding without a parapet or has to work a machine whose cables protrude and a short circuit […] threatens to happen or the worker is in danger of getting into the circuit. […] I can answer rather clearly, this is no problem for sure, to the contrary, care is taken that problems of this kind are nonexistent.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). 117 http://www.sappi.com/regions/eu/group/Pages/Code-of-Ethics.aspx (2. 1. 2013)

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and health at risk.” 118 The machines at SAPPI’s mills are modern as SAPPI has shut down all which – for lack of technology – were outdated and impaired workers’ health.119 One area, where differences of labour conditions can be found, is employability120. To enhance employability, “it is of course necessary to maintain health as long as possible. As not only the public will and cannot carry this, more and more firms start to operate workplace health promotions.” 121 And so did and does SAPPI: At SAPPI’s mill in Gratkorn, Austria, the implementation started twelve years ago, however, at various other locations, the topic has only just been given attention or is still developing.122 Campaigning for fair labour conditions, respectively accusations of unfair labour conditions being existent in other countries or affiliates are not countered with pressure or blackmailing. “If someone says that there are working conditions which are not fair at any location, this will be investigated: ‘Is it true? What has happened?’ At the European Works Council, one or two things have already been pointed out, also in order to get clear statements from the management.” 123 SAPPI’s list of good practices does not end here, there is even a broader range of issues coordinated with the ten principles of the UNGC, such as “[…] the elimination of discrimination in respect of employment and occupation […] precautionary approach to environmental challenges […] initiatives to promote greater environmental responsibility” 124, however, further listing would exceed the framework of this thesis. 118 Ibid. 119 “We don’t have any machines which date back to a ,technical Stone Age’.“ (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012). 120 “[…] the preservation of peoples capability to maintain work […]” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012); and for further information, see: http://en.wikipedia.org/ wiki/Employability (2. 1. 2013) 121 Cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012. 122 “In Gratkorn, we took up the topic workplace health promotion about 12 years ago and it was taken up at other locations only about two, three, four, five years ago. This means that it is slowly developing […]”; cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012. “In Gratkorn, we tried to take various measures based on the WHO’s definition on health – physical, mental and social well-being” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012); for more details on WHO’s definition of health, see: http://www.who.int/about/definition/en/print.html (2. 1. 2013) 123 Cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012. 124 http://www.sappi.com/group/Sustainability/SDR11_UN%20Global%20Compact.pdf (2.  1.  2013); see also: http://www.sappi.com/group/Sappi%20Code%20of%20Ethics/Sappi%20Code%20of%20Ethics.pdf (2. 1. 2013) and http://www.sappipositivity.com/ (2. 1. 2013)



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4. United Nations Global Compact In the following sub-chapters, the United Nations Global Compact (UNGC) will be depicted beginning with its development, followed by a description of the compact’s functions and contents – where the area of human rights will be investigated more precisely than the other areas – as well as its network dimension and – conclusively – the Global Compact’s future perspective and developing potential will be portrayed. 4.1. The Stage of Development of the United Nations Global Compact The previous chapter has depicted the ruthlessness of which numerous international trusts make an extensive use in their approach to people, universal human rights, environment and animals. It seems natural that the United Nations strive to teach international trusts a kinder way, make them respect international human rights and urge them to preserve and protect people, nature and animals. To this end, UN’s seventh and former Secretary-General, Kofi A. Annan, who held this position from 1997 until 2006, primarily presented the United Nations Global Compact (UNGC)125 in Davos, Switzerland at the World Economic Forum on January 31st 1999, addressing the world’s leading international trusts with a speech: “[…] This year, […] I propose that you, the business leaders gathered in Davos, and we, the United Nations, initiate a global compact of shared values and principles, which will give a human face to the global market. Globalization is a fact of life. But I believe we have underestimated its fragility. The problem is this. The spread of markets outpaces the ability of societies and their political systems to adjust to them, let alone to guide the course they take. History teaches us that such an imbalance between the economic, social and political realms can never be sustained for very long. […]” 126, 127 A year and a half later, in July of the following year, the UNGC was launched at a high-level meeting of the UN at its headquarters in New York, USA which was attended by representatives of approximately 40 international trusts, NGOs as well as trade unions and UN agencies.128 With this compact, the UN enables an 125 See generally: http://www.unglobalcompact.org/ (20. 2. 2013) 126 http://www.un.org/News/Press/docs/1999/19990201.sgsm6881.html (5. 1. 2013) 127 Cf.: http://www.un.org/sg/formersg/annan.shtml (05.01.13); cf.: Sahin, Der Global Compact als bloße Modeerscheinung oder wichtiges Instrument des globalen Wirtschaftslebens, ZfRV (2011) p. 135; cf.: Sagafi-Nejad / Dunning, The UN and Transnational Corporations, p. 195. 128 Cf.: Sahin, Modeerscheinung, ZfRV (2011) p. 135; Rasche / Kell, The United Nations Global Compact: Achievements, Trends and Challenges, (2010) p. 3.

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entirely new path for partnership between the UN and international trusts, offering the economic world participation in the fulfillment of the UN’s tasks, which is something only states would be able to do up to that point.129 With 10,000 participants of which over 7,000 are businesses operating in 145 countries – as of October 2012 – the “UN Global Compact is the world’s largest corporate citizenship and sustainability initiative […]” 130 involving not only international trusts – whom it strives to teach assuming social responsibility – but also governments, trade unions, civil society organizations and – of course – the UN, “the world’s only truly global political forum, as an authoritative convener and facilitator”.131 4.2. The Functions and Fundamental Contents of the United Nations Global Compact As stated in the above, the background of the UNGC is composed of Kofi A. Annan’s speech at the economic forum of 1999 and further a speech the former Secretary-General held at the economic forum one year earlier. The idea of the UNGC is based on the not equally fair distribution of benefits gained from globalization as well as exploitation and destruction of nature, resources and people committed by a large number of international trusts and on the assumption that these negative effects will sooner or later lead to a change of course in the whole world – meaning all people will have to face the negative side of globalization if there will not be any measures being taken in order to countersteer as well as directly eliminate the flaws of globalization along with the ignorance of which too many international trusts make an extensive use in their practices.132 Along these lines, the following statement can be found on the pertinent web page of the UNGC133: “[…] business, as a primary driver of globalization, can help ensure that markets, commerce, technology and finance advance in ways that benefit economies and societies everywhere.” In order to achieve these advances, international trusts and businesses in general are asked by the UNGC to support, distribute, implement and act in adherence with the UNGC’s ten universally accepted principles – which are divided into the areas ‘human rights’, ‘labour’, ‘environ129 Cf.: Sahin, Modeerscheinung, ZfRV (2011) p. 136. 130 http://www.unglobalcompact.org/ParticipantsAndStakeholders/index.html (5. 1. 2013) 131 Ibid. 132 Cf.: Sahin, Modeerscheinung, ZfRV (2011) p. 136; http://www.un.org/News/Press/docs/1998/19980130.SGSM6448.html (26. 1. 2013) 133 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/index.html (23. 1. 2013)



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ment’ and ‘anti-corruption’ as their main values – and further oblige their affiliates and suppliers – or more precisely, all other organs falling within their scope of influence – to adopt and respect the ten principles as well.134 “The UN Global Compact’s ten principles in the areas of human rights, labour, the environment and anti-corruption enjoy universal consensus and are derived from: 135 • The Universal Declaration of Human Rights; 136 • the International Labour Organization’s Declaration on Fundamental Principles and Rights at Work;137 • the Rio Declaration on Environment and Development; 138 • the United Nations Convention against Corruption.” 139 The principles one and two of the UNGC aim to help international trusts become aware of the significance of the promotion and respect of human rights alongside with the prevention of violations of these rights in the international trusts’ range of influence, reading as follows: “Businesses should support and respect the protection of internationally proclaimed human rights” (Global Compact Principle One)140 and “businesses should make sure they are not complicit in human rights abuses” (Global Compact Principle Two)141. The above cited principles one and two of the UNGC originate in the UDHR142 which quotes in its first article that “All human beings are born free and equal in dignity and rights […]” 143143 meaning that – as already stated in the foregoing text under sub-chapter 2.3. (“United Nations and the Development of the Fundamental Rights in General”) – human rights are universal rights to which every human being is entitled equally. “[…] the principles of the UDHR are considered to be international customary law and do not require signature or ratification by the state to be recognized as a legal standard […]” 144, hence, the UDHR is widely accepted and determines minimum standards for human rights applicable 134 Cf.: http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/index.html (26. 1. 2013) 135 Ibid. 136 For more details, see: http://www.un.org/en/documents/udhr/index.shtml (26. 1. 2013) 137 For more details, see: http://www.ilo.org/declaration/lang--en/index.htm (26. 1. 2013) 138 For more details, see: http://www.unep.org/Documents.Multilingual/Default.asp?documentid=78&articleid=1163 (26. 1. 2013) 139 For more details, see: http://www.unodc.org/unodc/en/treaties/CAC/index.html (26. 1. 2013) 140 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle1.html (26. 1. 2013) 141 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/Principle2.html (26. 1. 2013) 142 For more details on UDHR, see sub-chapter 2.3. or http://www.un.org/en/documents/udhr/index. shtml (26. 1. 2013) 143 http://www.un.org/en/documents/udhr/index.shtml (27. 1. 2013) 144 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/humanRights.html (27. 1. 2013)

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3. Wissenschaft

everywhere. Thus, there should be no “exception” for the validity of human rights in any country, any area, any business and international trust. As governments have the fundamental responsibility for law and ergo human rights, in developing countries, where standards are low, there can be an absence of laws which warrant human rights. In order to prevent the exploitation of this void, it is essential that international trusts support and respect human rights instead of infringing on a person’s rights so as to set an example. Furthermore, countries in which human rights are implemented and respected provide a considerably more stable foundation for the establishment of a company. In this manner, international trusts can help to prevent standards from slipping yet in lieu cause them to rise; a process from which both country and trust will benefit.145 “Business must ensure that its operations are consistent with the legal principles applicable in the country of operation. If national law falls short of international standards, companies should strive to meet international standards and not infringe on human rights.” 146 The foregoing chapters have given an insight into international trusts’ unjustifiable treatment of – inter alia – human beings through exploitation of their workforce, abject poverty and misery etc. rather than providing support and help where required. In this respect, it is necessary that international trusts part with these reckless and immoral actions and instead help promote safety, prosperity, happiness and health through the implementation and respect of human rights, however, the adoption and respect of human rights might not automatically cause employers to raise the salaries to a fair amount and probably will not improve the situation for nature if an international trust – say – continues to channel untreated toxic substances into a river. Therefore, the UNGC has established several more principles: Through principles three to six, fair labour conditions shall be ensured: “Businesses should uphold the freedom of association and the effective recognition of the right to collective bargaining” (Global Compact Principle Three)147, “[…] the elimination of all forms of forced and compulsory labour” (Global Compact Principle Four)148, “[…] the effective abolition of child labour (Global Compact Principle

145 Cf.: http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle1.html (27. 1. 2013); for the risk of infringing human rights in unstable areas is considerably greater than in stable areas, the UNGC provides the following guide to help businesses prevent violations of human rights: http://www.unglobalcompact.org/docs/issues_doc/Peace_and_Business/Guidance_RB.pdf (27. 1. 2013) 146 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle1.html (27. 1. 2013) 147 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle3.html (26. 1. 2013) 148 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/Principle4.html (26. 1. 2013)



3.17. The United Global Compact in theory and practice

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Five)149 and “should uphold the elimination of discrimination in respect of employment and occupation” (Global Compact Principle Six)150. Principle seven, eight and nine cover the area of environment quoting that “Businesses should support a precautionary approach to environmental challenges” (Global Compact Principle Seven)151, “[…] should undertake initiatives to promote greater environmental responsibility” (Global Compact Principle Eight)152 and “[…] should encourage the development and diffusion of environmentally friendly technologies” (Global Compact Principle Nine)153. The tenth and last principle, which was added a few years after the establishment of the UNGC, is the demand for measures being taken in compliance with anti-corruption: “Businesses should work against corruption in all its forms, including extortion and bribery” (Global Compact Principle Ten)154. Within the framework of the UNGC, international trusts and businesses in general should collaborate with organs and agencies of the UN inter alia so as to support and implement the above stated ten principles within their sphere of influence. Consequently, the UNGC strives to educate corporations to act on behalf of social and ethical responsibility and – in the course of this – participate in the establishment of a fair and sustainable global economy.155 Thereby, the UNGC purposefully refrains from legal norms to compel businesses to adhere to the ten principles, ergo, the UNGC works on a voluntary basis. Alternatively, the UNGC provides a platform for dialogue and collaboration between international trusts and NGOs or unions and plans for those sometimes contrary facilities to fuse to a well-working network.156 Participating international trusts are furthermore expected to be open-minded in relation to new cooperation, the support of global projects, the involvement in social projects and the implementation of innovative technologies and methods. The publication of an annual report, referred to as ‘Communication on Progress’ (COP)157, which elaborates the processes made in the implementation of the ten principles of the UNGC and processes made through support of other UNGC 149 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle5.html (26.  1. 2013) 150 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle6.html (26. 1. 2013) 151 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle7.html (26. 1. 2013) 152 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle8.html (26. 1. 2013) 153 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle9.html (26. 1. 2013) 154 http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/TheTenPrinciples/principle10.html (26. 1. 2013) 155 Cf.: Sahin, Modeerscheinung, ZfRV (2011) p. 136 f. 156 Cf.: ibid. 157 For the example of SAPPI’s COP 2011, see: http://www.unglobalcompact.org/system/attachments/10346/original/FINAL_Sappi_SD_2010_ LR.pdf?1305626000 (5. 2. 2013); http://www.unglobalcompact.org/COPs/detail/11748 (5. 2. 2013)

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projects is also required if the international trust wishes to remain a member of the UNGC.158 4.3. The Network Dimension of the United Nations Global Compact Since its foundation, the UNGC has evolved into a highly complex global network based on the collaboration of the Secretary General, the Global Compact Office (GCO)159, other UN facilities and social actors. The collaborating UN facilities are in general the United Nations High Commissioner for Human Rights (UNHCHR)160, the International Labour Organization (ILO)161, the United Nations Industrial Development Organization (UNIDO)162 and the United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC)163. These facilities are assigned to counsel and support economy, however, the UN facilities do not serve as supervisory bodies. The participating social actors are namely businesses164, governments165, employees, academic institutions166 and social organizations, i.e. for instance the NGOs Amnesty International167 and World Wide Fund for Nature (WWF)168, 158 Cf.: ibid.; http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/index.html (27. 1. 2013); http://www.unglobalcompact.org/COP/index.html (27. 1. 2013) 159 For more details, see: http://www.unglobalcompact.org/AboutTheGC/stages_of_development. html#GCO (1. 2. 2013) 160 For more details, see: http://www.ohchr.org/EN/Pages/WelcomePage.aspx (1. 2. 2013) 161 See in the above text under sub-chapter 3.2.2. footnote 90. 162 For more details, see: http://www.unido.org/ (1. 2. 2013) 163 For more details, see: http://www.unodc.org/ (3. 2. 2013) 164 For more details, see: http://www.unglobalcompact.org/participants/search?commit=Search&keyword=&joi ned_after=&joined_before=&business_type=2§or_id=all&listing_status_id=all&cop_ status=all&organization_type_id=&commit=Search (3. 2. 2013) 165 For more details, see: http://www.unglobalcompact.org/par ticipants/search?business_type=1&commit= Search&cop_status=all&joined_after=&joined_before=&keyword=&list ing_status_id=all&organization_type_id=4&page=1&per_page=250§or_ id=all (3. 2. 2013) 166 For more information, see: http://www.unglobalcompact.org/participants/search?commit=Search&keyword=&joi ned_after=&joined_before=&business_type=1§or_id=all&listing_status_id=all&cop_ status=all&organization_type_id=1&commit=Search (3. 2. 2013) 167 For more details, see: http://www.amnesty.org/ (3. 2. 2013); http://www.amnesty.de/umleitung/2002/deu07/034?lang=de&mimetype=text/html (3. 2. 2013); http://www.unglobalcompact.org/participant/610-Amnesty-International (3. 2. 2013) 168 For more details, see: http://wwf.panda.org/ (3. 2. 2013); http://www.unglobalcompact.org/participant/10201-WWF-International (3. 2. 2013)



3.17. The United Global Compact in theory and practice

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the International Chamber of Commerce (ICC)169, the World Business Council for Sustainable Development (WBCSD)170, and further unions from all over the world.171 These “non-business participants are an integral to the UN Global Compact. They contribute much needed perspective and expertise that complements the efforts of business participants.” 172 The continuously mounting number of the UNGC’s participants has led to the emergence of numerous local networks, which are steadily expanding as well, within this complex global network. Thus, the UNGC can be referred to as a “Network of (local) Networks.” 173 These local networks are gatherings where participants collaborate so as to promote and launch the ten principles of and the UNGC itself throughout a localized area and thus hold an important function in implementing the UNGC in territories with different language, national and cultural background and additionally ease the advancement of the involved businesses “[…] while also creating opportunities for multi-stakeholder engagement and collective action.” 174 So as to be acknowledged as a local network by the UN – referred to as ‘formal network’ by the UN – local networks are obliged to sign an annual Memorandum of Understanding (MoU)175 and are granted the authorization to use the UNGC logo in relation with network activities after the signature. At the Annual Local Network Forum176, the annual meeting of local networks chaired by the GCO, representatives of local networks and companies assemble to exchange experiences, present examples of best practices, reflect progress and compare advancements so as to learn from one another and enhance the networks’ efficiency.177 169 For more details, see: http://www.iccwbo.org/ (3. 2. 2013); http://www.unglobalcompact.org/participant/5389-International-Chamber-of-Commerce-ICC(3. 2. 2013) 170 For more details, see: http://www.wbcsd.org/home.aspx (3. 2. 2013); http://www.unglobalcompact.org/participant/10158-World-Business-Council-for-SustainableDevelopment (3. 2. 2013) 171 Cf.: Sahin, Modeerscheinung, ZfRV, (2011) p. 137. 172 http://www.unglobalcompact.org/HowToParticipate/non_business_participation.html (3. 2. 2013) 173 Rasche/Kell, Global Compact, p. 353. 174 http://www.unglobalcompact.org/NetworksAroundTheWorld/index.html (4. 2. 2013) 175 Cf.: http://www.unglobalcompact.org/NetworksAroundTheWorld/network_categories.html (5. 2. 2013); http://www.unglobalcompact.org/docs/networks_around_world_doc/FINAL_MOU_with_ GCLNs.pdf (5. 2. 2013) 176 For more details, see: http://www.unglobalcompact.org/NetworksAroundTheWorld/Meetings_and_Events.html (4. 2. 2013) 177 Ibid.

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3. Wissenschaft

In Austria178, the (formal) network was established in 2006 and comprises primarily businesses but also non-business organizations such as the Austrian Natural Resources Management and International Cooperation Agency (ANRICA)179, the International Network for Educational Change (INEX) 180, the ‘Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte’ (BIM)181, the Austrian Development Agency (ADA)182 and has been coordinated by respACT – Austrian Business Council for Sustainable Development183, the official focal point – i.e. “the key driver and main contact point in all GC issues” 184 – of the Global Compact Network Austria. By and large, the Global Compact Network Austria embraces 50 participants with every Austrian member of the UNGC being automatically a member of both the global and the local network.185 Networks similar to the Austrian one have been established in various countries all around the world varying in size, stage of development, experience and complexity.186 The interplay of national and international networks has been reinforced and a clear distribution of roles of the single actors has been accomplished. A main function has been distributed to those international trusts and businesses which the UNGC strives to influence and teach to assume corporate social responsibility (CSR)187. The other actors actively support or help to organize, that is the UN facilities which consult and / or support economy, depending on their area of functional responsibility. The GCO’s assignment is to maintain the (communication) network structure, promote best practices and convey the international trusts’ and businesses’ annual reports on a dedicated web page, moreover, it has to ensure that the UNGC as a dialogue and learning platform – organizing international meetings bringing together experts so as to compare and exchange experience and discuss global topics – is working.188 178 See generally: http://www.unglobalcompact.at/ungc/site/en/home (4. 2. 2013) 179 For more details, see: http://www.anrica.org/de (4. 2. 2013) 180 For more details, see: http://www.inex.org/ (4. 2. 2013) 181 For more details, see: http://bim.lbg.ac.at/en (4. 2. 2013) 182 For more details, see: http://www.entwicklung.at/ (4. 2. 2013) 183 For more details, see: http://www.respact.at/ (4. 2. 2013) 184 http://www.unglobalcompact.org/NetworksAroundTheWorld/local_network_sheet/AT.html (4. 2. 2013) 185 Cf.: ibid.; http://www.unglobalcompact.at/ungc/site/en/netzwerk/theaustriannetwork/article/5022. html (4. 2. 2013) 186 Cf.: http://www.unglobalcompact.org/NetworksAroundTheWorld/network_categories.html (4. 2. 2013); http://www.unglobalcompact.org/NetworksAroundTheWorld/find_a_network.html (4. 2. 2013) 187 See generally: http://en.wikipedia.org/wiki/Corporate_social_responsibility (4. 2. 2013) 188 Cf.: Sahin, Modeerscheinung, ZfRV (2011) p. 138;



3.17. The United Global Compact in theory and practice

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4.4. Future Perspective and Development Potential of the United Nations Global Compact As it can barely be assumed that the process of globalization will stop between nightfall and daybreak anytime in the near future, there is certainly not only now, yet will be a requirement of initiatives, programmes, campaigns and similar undertakings of both regional and particularly global nature which strive for globalization’s benefits being equally distributed and the process itself being considerate, respectful and moral rather than ruthless and exploitative. Regardless whether all of the UNGC’s participants truly unanimously strive for aims identical with those of the initiative, many a step will have to be taken before all of the UNGC’s aims will have been reached. After the operative phase of the UNGC was started in 2000, the initiative has indeed gained a fair number of participants and has enhanced and specified its methods. In spite of these facts, the UNGC is still in its infancy whereas globalization continues to primarily provide industrialized countries with an influx of capital – in this respect it has to be mentioned that projects similar to the UNGC initiative cannot be realized or utterly implemented overnight. Simultaneously, potential participants and stakeholders cannot be expected to become aware of the UNGC’s existence and contents at once either. Processes of learning are notoriously long standing processes, therefore an impact of a positive / negative character of this dialogue and learning platform may primarily be perceivable in a few years.189 Yet again, it may be argued that the UNGC encompasses great potential for development and provides a basis which may considerably contribute to a change of globalization to the better and actually achieve rethinking in international trusts’ “heads”, however, there are a few aspects of the UNGC which should be reconsidered, advanced or altered in order to accomplish its goals. First of all, as already stated in the above, the UNGC is an initiative of voluntary nature. If an international trust – say – commits to child labour and thus violates Principle 5190, the Charter of the United Nations provides no legal basis on whose grounds the representatives of the UNGC are entitled to take legal actions against the international trust. It is of course within international trusts’ direction to oblige their affiliates and suppliers to implement and adhere to the UNGC’s ten principles through a clause in their general terms and conditions of http://www.unglobalcompact.org/Issues/conflict_prevention/meetings_and_workshops.html (5. 2. 2013) 189 Cf.: Sahin, Modeerscheinung, ZfRV (2011) p. 138. 190 For more details on the Principles and Principle five, see the above text under sub-chapter 4.2.

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trade (GTCT) and additionally to ask their suppliers and affiliates to urge their subcontractors to the adherence of these standards and if the contractee determines thus in a clause of the GTCT, the contractee is authorized to terminate the contract should the contractor fail to adhere to the standards. In line with this, if – as an example – an Austrian contractee has included the before stated clause in its GTCT and its contractor purchases goods which originate from – say – China and have verifiably been produced by abusing children as workforce, the contractee has the right to take legal proceedings against his contracting party as the contracting party has covenanted to urge its subcontractors to recognize the standards.191 Moreover, it seems that joining the UNGC not necessarily implies that all employees of the participating international trusts are being informed of this event, have knowledge of the ten principles and the UNGC itself along with the measurements which are being adopted by the company in accordance with the compact.192 Even if the points comprised by the ten principles have been addressed previously to the formation of a treaty between the international trust and the UN, employees, affiliates and suppliers should be informed of the accession nonetheless, as this promotes a compact by which these parties are affected and included. Similarly, not all participants of the UNGC visibly state that they have joined the initiative on their web page – or do not mention this fact at all. Another critical point refers to the extent of information provided by the COPs193: There is a certain risk that these annual – hence not quite readily comprehensible – reports are only approached formally, i.e. a report is issued, however, no-one checks whether the contents equate to facts. Accordingly, these reports should be further investigated yet concurrently all reports should be thoroughly accessible to the public in order to warrant transparency. Judging from the continuously rising number of (business) participants and support the initiative gains by non-businesses, it may be deduced that the UNGC possesses important potential for further development in the future. To further develop and enable the UNGC to utilize its whole potential, an evaluation of the system and the establishment of a treaty under international law with binding effect for both national and international trusts and businesses alongside with the foundation of an international boarding-committee which encompasses the right 191 Cf.: Sahin, Modeerscheinung, ZfRV (2011) p. 139. 192 “[…] Global Compact doesn’t really ring a bell. […] What is it, I am to ask? I can’t speak for all colleagues and employees but as it doesn’t mean anything to me, I don’t think that it is widely spread in the mill.” (cf.: interview with Mr. Kamedler, conducted on December 10th, 2012); see also under sub-chapter 3.3.2. 193 For more details on the COP, see the above text under sub-chapter 4.2. and under footnote 157.



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of evaluation, the right of control and – where necessary – the right to impose sanctions, are measurements which need to be implemented and realized. Ultimately, in order to prevent international trusts from benefiting from the UNGC without contributing to the compact’s greater objective, the creation of a distinct legal basis under international law is required; particularly consequences for an absence of submission – such as no public contracts for corporations which are non-members of the UNGC – are indispensable. On condition that the establishment of a legal basis under international law will be achieved, the UNGC will provide a far more effective platform for the fight against the uneven distribution globalization provides and reckless approaches to human beings, environment and animals companies have adopted.

5. Summary Outlook Since the UNGC was established in 2000, this initiative has proved to be an exceedingly valuable instrument for the curbing of economic exploitation of humans, environment, animals and infringements of human rights committed by international trusts. This is even more remarkable as the UNGC is merely a nonbinding document which has been proposed by the former Secretary-General of the UN, Kofi A. Annan. In the meantime, over 7,000 businesses have submitted themselves to the UNGC voluntarily. In this concrete work, two entrepreneurial examples are cited of which one is an example of best practice and member of the UNGC (“SAPPI”) and whose other one is an example of malpractice and non-member of the UNGC (“UPS”). For the future it is to be expected that the UNGC will develop as regards both content and scope. So as to concurrently thoroughly live up to the intentions of the historical promoter of the UNGC, Kofi A. Annan, it will prove to be reasonable if a distinct legal basis under international law will be created on whose grounds consequences for an absence of submission can be adopted alongside with the establishment of an international boarding-committee which encompasses the right of evaluation, the right of control and – where necessary – the right to impose sanctions.

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3.18. Verbrechen darf sich nicht lohnen – Die Entwicklung der vermögensabschöpfenden Maßnahmen im Österreichischen Strafrecht

Konrad Kmetic

Unter dem Schlagwort „Verbrechen darf sich nicht lohnen“ geistert schon seit Jahren ein erweiterter kriminalpolizeilicher Ansatz durch Europas Strafgesetze. Auch in Österreich ist dieser Gedanke nicht neu – neu aber der jüngste Versuch der Umgestaltung des Umganges mit kriminell erwirtschafteten Vermögenswerten. Mit dem „strafrechtlichen Kompetenzpaket“ (kurz: sKp)1 reagierte die österreichische Legislative 2010 auf das sich seit der Weltwirtschaftskrise 2008 in der öffentlichen Wahrnehmung verdichtende Phänomen der „Wirtschaftskriminalität“. Damit einhergehend wurde auch zunehmend ein Versagen der traditionellen Strafverfolgungsmechanismen und -behörden empfunden. Jahre andauernde Ermittlungsverfahren, oft beendet durch überraschende und einer medial öffentlich aufbereiteten „Diskussion“ nicht standhaltende Entscheidungen hauptsächlich staatsanwaltschaftlicher, vereinzelt auch richterlicher Organe, veranlasste die Justizpolitik zu einer Art legistischem Befreiungsschlag. Das in Gesetz gegossene „Allheilmittel“ setzte sich selbst vier Schwerpunkte: Zum Ersten die Erhöhung der Transparenz. Hier sollte der Kritik an justiziellen Entscheidungen begegnet werden, wie sie im Zusammenhang mit komplexen, vornehmlich aber clamorosen2, also hohe öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Strafverfahren – manchmal synonym daher durchaus zutreffend auch als glamourös tituliert –in letzter Zeit oft zu vernehmen war. Vorgebracht wurde, sie wären nicht nachvollziehbar oder würden „im stillen Kämmerlein“ und damit unter vermutetem Ein1 Bundesgesetz, mit dem das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung 1975, das Staatsanwaltschaftsgesetz und das Gerichtsorganisationsgesetz zur Stärkung der strafrechtlichen Kompetenz geändert werden, BGBl. I 2010/108. 2 „Clamoros“, vom lat. clamorosus, laut, lärmend, abgeleitet, wurde als Begriff vom vormaligen Justizminister Foregger eingeführt. Er verwendete ihn im Kontext mit den in seine Amtszeit fallenden Anklagen im Noricum-Prozess und den Strafverfahren gegen die (Alt-)Politiker Sinowatz und Androsch. Die Bezeichnung wurde im Rahmen der Reformdiskussion zum neuen Vorverfahren im Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Korruptionsstaatsanwaltschaft und Berichtspflichten für solche Fälle mit besonderem öffentlichen Interesse wieder aufgegriffen.



3.18. Verbrechen darf sich nicht lohnen

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fluss „unsachlicher“ Argumente gefällt. Im Zentrum dieser Kritik standen dabei die Verfahrenseinstellungen, also die Entscheidungen der Staatsanwaltschaften, in einem Verfahren keine Anklage zu erheben. Die bisher nur den Verfahrensparteien selbst – und auch diesen oft nicht im gesamten Umfang – offenstehenden Überlegungen und Gründe, die die Anklagebehörden zur Einstellung eines Ermittlungsverfahrens bewogen, sollten – unter gewissen Umständen – jedem Interessierten zugänglich gemacht, also veröffentlicht werden. Dem Misstrauen in die Unvoreingenommenheit dieser weisungsgebundenen Justizorgane sollte mit dem Ausbau der Kontrolle ihrer Einstellungsentscheidungen durch die Stärkung der Rolle des Rechtsschutzbeauftragten entgegengetreten werden. Diese zuvor im Zusammenhang mit besonders sensiblen Ermittlungsmethoden – Stichwort „Lauschund Spähangriff“ – jeweils für die staatlichen Bereiche Justiz, Inneres und Landesverteidigung geschaffenen Institutionen erhielten im Bereich der Justiz nun das zusätzliche Recht, gleich einem Opfer von der Einstellung des Strafverfahrens verständigt zu werden, eine – ausführliche – Begründung für diese Entscheidung zu verlangen und – als schärfste „Waffe“ – eine gerichtliche Überprüfung dieser Nicht-Anklage-Entscheidung zu begehren. Die Stärkung dieser Position änderte – bislang – an der geübten Praxis, diese Aufgaben an verdiente, pensionierte Juristen aus Rechtssprechung und Lehre als Art „Ehrenamt“ zu vergeben, nichts. Zum Zweiten setzte sich das Gesetzeswerk die Steigerung der Effizienz in der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, organisierten Kriminalität und Korruption zum Ziel. Nachdem ein erster – auch in die Begutachtung verschickter – Entwurf die Schaffung von „Wirtschaftskompetenzzentren“ bei den Staatsanwaltschaften und Landesgerichten am Sitz der Oberstaatsanwaltschaften bzw. Oberlandesgerichte, also jeweils in Wien, Graz, Linz und Innsbruck, vorgesehen hatte, gelangte zur Beschlussfassung im Parlament schließlich jener abgeänderte Ministerialentwurf, der die erst mit Strafrechtsänderungsgesetz 20083 geschaffene Korruptionsstaatsanwaltschaft (KStA) unter Abänderung ihrer Zuständigkeiten (§§ 20a und 20b StPO) stufenweise in die „Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption“ (WKStA) überführte. Neben dieser organisatorischen Maßnahme waren dem Ziel auch die beiden übrigen Schwerpunkte der Gesetzesnovelle, nämlich die Schaffung der („großen“)4 3 Strafrechtsänderungsgesetz (StRÄG) 2008, BGBl. I 2007/109. 4 Seit dem „Bundesgesetz über die Besonderen Ermittlungsmaßnahmen“, BGBl. I 1997/105, kannte das österreichische Strafrecht ab 1. 1. 1998 auch bereits eine „kleine“ Kronzeugenregelung in § 41a StGB in Form einer „außerordentlichen Strafmilderung“ bei Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden. Im Unterschied zur neu gestalteten „großen“, in den §§ 209a und 209b StPO, wo anstelle der Durchführung eines förmlichen Strafverfahrens eine diversionelle Erledigung dem Kronzeugen als „Belohnung“ für die Offenbarung seines Tatwissens in Aussicht gestellt wird, winkt

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Kronzeugenregelung und schließlich auch die neue Regelung des Themenkomplexes „Abschöpfung von kriminell erwirtschafteten Vermögenswerten“ gewidmet. Dieses Thema war nicht neu und auch nicht auf Österreich beschränkt. Vorangegangen waren auf internationaler Ebene ein EU-Rahmenbeschluss aus 2005 (Rahmenbeschluss 2005/2012/JI) über die „Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten“. Auf OECD-Ebene zu nennen ist weiters das „Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr“ und – darüber hinaus – auf UNO-Ebene zwei Übereinkommen, die ebenfalls Auswirkungen auf diesen Themenbereich entfalteten. Dies sind das „Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus“ aus 2002 sowie das „Übereinkommen gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“ aus 2005. Neben diesen internationalen Vorgaben gab es – begleitend – auch Überprüfungen und Empfehlungen zahlreicher untergeordneter zwischenstaatlicher Einrichtungen. Hier anzuführen sind aufgrund ihres speziellen Österreich-Bezuges der Evaluierungsbericht zur Korruptionsbekämpfung in Österreich aus 2008 durch GRECO5 sowie die Länderprüfung Österreichs durch die FATF6 aus 2009. Hier wurde der bestehenden Rechtslage in Österreich durchaus hohe Qualität zugesprochen, kritisiert jedoch die zu geringe praktische Anwendung des vermögensabschöpfenden Instrumentariums. Dies war Anlass für das Bundesministerium für Justiz in seinem Erlass vom 11. September 20097 den österreichischen Strafverfolgungsbehörden diesen Kritikpunkt zur Kenntnis zu bringen und durch Hinweis auf die bestehende Rechtslage, insbesondere dass von vermögensabschöpfenden Maßnahmen im Rahmen eines Strafverfahrens nur bei Vorliegen bestimmter im Gesetz taxativ aufgezählter Ausnahmegründen abgesehen werden kann, ihre verstärkte Anwendung „nahezulegen“. Ähnliche Kritik wurde schließlich zuletzt auch auf EU-Ebene in einem Gutachten der Multidisziplinären Gruppe (MDG)8 geäußert, wo „[...] größere Aufmerk-

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hier dem (Mit-)Täter für ähnliches Verhalten (lediglich) eine mildere Strafe insbesondere durch die Möglichkeit, für die Tat im Gesetz vorgesehene Untergrenzen („Mindestmaß der Strafe“) zu unterschreiten. Die „Group d’etats contre la corruption“ wurde 1999 von 17 Mitgliedsstaaten des Europarates gegründet. Derzeit umfasst sie 49 Teilnehmer/-innen, darunter seit 1. 12. 2006 auch Österreich. Die „Financial Action Task Force on Money Laundering“ war 1989 als Expertengruppe im Rahmen der OECD gegründet worden, unter anderem auch um Vermögenswerte illegaler Herkunft aufspüren zu können. BMJ-L90.018/0001-II 1/2009. Die „Multidisziplinäre Gruppe Organisierte Kriminalität (MDG)“ war, in Umsetzung des von den Staats- und Regierungschefs der EU in Amsterdam im Juni 1997 gebilligten „Aktionsplan zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ eingerichtet worden. Gusy/Gimbal, Jahrbuch der Europäischen Integration 1997/98, 163.



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samkeit auf […] forensische Finanzanalyse, Aufspüren von Vermögenswerten, Sicherstellung und Abschöpfung“ empfohlen wurde. Unterstrichen wird die Bedeutung dieses Themas auch durch Schätzungen, wie viel an „Schaden“ durch kriminelle Handlungen alljährlich in den Industriestaaten entsteht. Dies sind laut OECD-Schätzungen 2 bis 5 %, laut EUROPOL sogar 1 bis 10 % jeweils des jährlichen BIP.9 Beeindruckende Werte, auch wenn man nicht der noch darüber hinausgehenden Ansicht Balzacs zuneigt, dass „hinter jedem großen Vermögen ein Verbrechen steht“. Mit der Änderung der Verfallsbestimmungen im Zuge der Gesetzesnovelle durch das sKp war dieser innerstaatliche Anpassungsprozess jedoch noch nicht abgeschlossen. Eine im September 2011 eingerichtete Arbeitsgruppe im BMJ befasste sich zuletzt mit dem Thema „vermögensrechtliche Anordnungen“. Das 2. Stabilitätsgesetz 201210 brachte schließlich Änderungen im prozessrechtlichen Teil, also den Umsetzungsvorschriften der neu geschaffenen Abschöpfungsregeln. Doch zunächst zu den materiell-rechtlichen Bestimmungen, wie sie sich gegenwärtig im StGB darstellen und wie sie sich zu ihrer jetzigen Gestalt entwickelt haben. Für das betrachtete Phänomen haben sich im Laufe der Zeit verschiedene Begriffe herausgebildet, die teilweise ihre Inhalte änderten, ja sogar tauschten. Am frühesten bekannt und verwendet wurden der Begriff der Einziehung und der des Verfalls, zwischendurch zum Teil verdrängt durch den Terminus Abschöpfung der Bereicherung. Komplettiert wird der Begriffsreigen durch die jüngste Wortschöpfung Konfiskation. 1987 fand erstmals der Begriff der „Abschöpfung der Bereicherung“ Einzug in das Österreichische Strafgesetzbuch. Dem bereits davor bekannten Verfall nach § 20 StGB wurde unter dieser Bezeichnung ein § 20a StGB an die Seite gestellt. Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 199611 kam es zur ersten großen Neugestaltung im Bereich der Instrumente zur Abschöpfung kriminell erwirtschafteten Vermögens. Dabei wurde als „Regelfall“ die Abschöpfung der Bereicherung in den § 20 StGB „verschoben“, der „Verfall“ in § 20b StGB auf die Sonderfälle einer Abschöpfung beschränkt, die auf Vermögenswerte einer kriminellen Vereinigung oder auf in Österreich vorgefundene Vermögenswerte griff, welche aus einer Auslandstat oder der Tat eines Ausländers stammten. Weiters brachte diese Gesetzesnovelle die inhaltlich-dogmatische Umgestaltung der Instrumente mit sich. Zuvor waren sowohl der Verfall als auch die Abschöpfung der Bereicherung als 9 BMJ, Arbeitsgruppe Vermögensrechtliche Anordnungen: Burkhard Mühl, EUROPOL, Verlautbarung der Kommission zu Verbrechenserlösen organisierter Kriminalität COM 2008/766. 10 2. Stabilitätsgesetz (StabG) 2012, BGBl. I 2012/35. 11 Strafrechtsänderungsgesetz (StrÄG) 1996, BGBl. I 1996/762.

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Nebenstrafen ausgestaltet, mit der Novelle erfolgte ihre Einordnung in die neu geschaffene Kategorie der „vermögensrechtlichen Unrechtsfolge“. Sie wurden als Ausgleichsmaßnahme gesehen, eine durch deliktische Handlungen geschehene Bereicherung sollte rückgängig gemacht werden. Bereits in diesem Zusammenhang wurde das Schlagwort „Verbrechen lohnt sich nicht“ als Signal und Programm vorgegeben. Eng verknüpft mit diesem Gedanken war das den vermögensabschöpfenden Maßnahmen nunmehr zugrunde gelegte „Nettoprinzip“. Das sKp brachte zunächst terminologische Änderungen, sodass im geltenden österreichischen Strafrecht nunmehr drei Instrumente zur Abschöpfung kriminellen Vermögens im weiteren Sinn zur Verfügung stehen. Es sind dies die Konfiskation nach § 19a StGB, der Verfall nach den §§ 20 bis 20c StGB sowie die Einziehung nach § 26 StGB. Diese drei Instrumente weisen jeweils unterschiedliche rechtsdogmatische Qualität auf. So handelt es sich bei der erstgenannten Konfiskation um eine Nebenstrafe, beim Verfall um eine vermögensrechtliche Unrechtsfolge und bei der Einziehung schließlich um eine vorbeugende Maßnahme. Wie sich diese unterschiedlichen Qualitäten auch in der praktischen Handhabung und den Konsequenzen aus dem jeweiligen Instrument auswirken, wird im Folgenden näher dargestellt werden. Der ursprüngliche Entwurf zum sKp hatte noch eine Kategorie weniger, die schließlich als „Konfiskation“ titulierte Maßnahme war der Einziehung in § 26 StGB als (erweiternder) Unterfall (Zahl 2) eingegliedert worden. Es mag der im Begutachtungsverfahren geäußerten Kritik geschuldet sein, hier würde dem Institut der Einziehung ein völlig neuer, fremder, weil „konfiskatorischer“ Inhalt beigegeben, der den Gesetzgeber schließlich veranlasste, bei unveränderter Textierung des § 26 StGB ein davon gesondertes, neues Instrument mit der Konfiskation im § 19a StGB zu schaffen. Da von der jeweiligen Tatbestandsformulierung weite Teile der beiden Gesetzesstellen ident sind – insbesondere was den Adressaten, also den Gegenstand der Anwendung, anbelangt – gilt es, die Unterschiede in den beiden Anwendungsfeldern herauszustreichen. Beide Instrumente betreffen „Gegenstände“, und zwar die sogenannten „instrumenta sceleris“ und die „producta sceleris“. Dies sind an sich keine neuen Begriffe, beschreiben die körperlichen Sachen, die der Täter bei der „Tat“ verwendete oder zumindest – wenn die Tat selbst etwa im Versuchsstadium stecken geblieben ist – für diese „bestimmt hat“, sie dafür also zu verwenden beabsichtigte (instrumenta sceleris: Die Tatwerkzeuge). Weiters erfasst sind hier jene Dinge, die die „Tat“ hervorbrachte (producta sceleris). Ist dieser Gegenstandsbegriff in beiden Instrumenten gleich formuliert, besteht der erste Unterschied im Verständnis der dem Werkzeug bzw. „Produkt“ zugrunde liegenden „Tat“. Im Fall der Konfiskation schränkt der Gesetzgeber den Anwendungsbereich auf eine vorsätzliche Straftat ein, was neben den Fahrlässigkeitsdelikten des StGB



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vor allem jene Fälle ausschließt, wo der Täter nicht rechtswidrig – bei Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes, wie etwa Notwehr oder Notstand – oder nicht schuldhaft – etwa bei mangelnder Zurechnungsfähigkeit – handelte. Hier zeigt sich bereits der dogmatische Charakter von § 19a StGB als Nebenstrafe. Dieser setzt nämlich voraus, dass auch tatsächlich ein Täter in einem Gerichtsverfahren schuldig erkannt und zu einer (Haupt-)Strafe (Geld- oder Freiheitsstrafe i. S. §§ 18 und 19 StGB) verurteilt wird.12 Die Konfiskation teilt ihre Eigenschaft als Nebenstrafe mit dem Verfall nach § 17 FinStrG, dem Wertersatzverfall nach § 19 FinStrG sowie der Ausgestaltung von Verfall und Abschöpfung der Bereicherung im StGB in der Fassung vor dem Strafrechtsänderungsgesetz 1996 (Näheres dazu im Folgenden). Anders bei der Einziehung nach § 26 StGB. Hier spricht der Gesetzestext nicht von einer vorsätzlichen Straftat, sondern von einer „mit Strafe bedrohten Handlung“. Dies deutet an, dass hier (zumindest) ein Element zur „vollen“ Straftat fehlt. In der Praxis der häufigste Fall ist tatbestandsmäßiges und rechtswidriges Verhalten, welches jedoch nicht schuldhaft gesetzt wurde. Eine solche Formulierung ist geradezu typisch für vorbeugende Maßnahmen, wie es das Strafgesetzbuch neben § 26 StGB auch in den §§ 21 bis 23 StGB in den sogenannten „mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahmen“ der Unterbringung in Anstalten für geistig abnorme, entwöhnungsbedürftige oder gefährliche Rückfallstäter kennt. Es kannte und kennt diese Formulierung jedoch auch im Zusammenhang mit den vermögensrechtlichen Anordnungen außerhalb von Einziehung und Konfiskation, also vormals in der Abschöpfung der Bereicherung und aktuell im Verfall (neu). Der zweite Unterschied zwischen Einziehung und Konfiskation besteht schließlich im Anknüpfungspunkt der jeweiligen Maßnahme. Stellt die Konfiskation lediglich auf das Eigentum des Täters im Zeitpunkt der Konfiskationsentscheidung ab, knüpft die Einziehung – typisch für eine vorbeugende Maßnahme – auf die Gefährlichkeit des Gegenstandes an. Unterschiede ergeben sich auch in jenen Fällen, wo das Gesetz ein Unterbleiben dieser Maßnahmen vorsieht. Während die Einziehung konsequenterweise dadurch abgewendet werden kann, dass die Gefährlichkeit des Gegenstandes beseitigt wird, sieht die Konfiskation lediglich ein „Verhältnismäßigkeitskorrektiv“ in § 19a Abs. 2 StGB vor. Während nach § 26 Abs. 2 StGB bei Vorliegen der vorangeführten Umstände von der Einziehung abzusehen ist, so ist nach § 19a Abs. 2 StGB von der Konfiskation abzusehen, sofern der zusätzliche Ausspruch dieser Strafe zum Unrechtsgehalt der Tat oder zum Schuldvorwurf dem Täter gegenüber unverhältnismäßig wäre. 12 Zur Charakteristik der Nebenstrafe: Fuchs, Österreichisches Strafrecht Allgemeiner Teil I4, 45.

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Ein weiterer Unterschied zwischen diesen beiden Instrumenten ergibt sich bei der Betrachtung, inwieweit Gegenstände, die sich im Besitz eines unbeteiligten Dritten befinden, eingezogen oder konfisziert werden können. Letztere Maßnahme ist ausgeschlossen, da ja eben Anwendungsvoraussetzung ist, dass sich der Gegenstand zum Zeitpunkt der Entscheidung im Eigentum des Täters befindet. Die Einziehung eines gefährlichen Gegenstandes bei einem Dritten ist nicht völlig ausgeschlossen, kann jedoch nur dann stattfinden, wenn dieser keine Gewähr dafür bieten kann, dass der Gegenstand nicht (abermals) zur Begehung einer Straftat verwendet wird (§ 26 Abs. 2 Satz 2 StGB). Konsequenterweise kann eine Konfiskation auch nicht außerhalb oder „ohne“ ein gegen den Täter geführtes Strafverfahren durchgeführt werden. Dem gegenüber ist eine Einziehung auch in einem „objektiven Verfahren“ möglich (§ 26 Abs. 3 StGB). Knüpfen diese beiden Instrumente zwar mit unterschiedlichen Zielrichtungen und Einsatzgebieten, so doch bei dem gleich gestalteten Begriff des „Gegenstandes“ an, so konzentriert sich der Anwendungsfall des nunmehr wieder Verfall genannten Instrumentes auf den Vermögenswert. Für Vermögenswerte stellt sohin der „Verfall-Neu“, so wie vom sKp neu bezeichnet, nunmehr den „Spezialfall“ dar, wenn es darum geht, solche „Gegenstände“ dem Täter wegzunehmen, die einen Vermögenswert darstellen, die als Vermögenswert anzusehen sind. Das Gesetz geht dabei durchaus von einem sehr weiten Verständnis des Vermögensbegriffes aus, gleich einem „arithmetischen Ansatz“ sollen unter Vermögenswert alle wirtschaftlichen Vorteile verstanden werden, die sich in Zahlen ausdrücken lassen. Für Verwirrung und Kritik sorgten die Ausführungen in den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage, wonach es sich um einen „gegenstandsbezogenen Verfall“ handeln soll. Verwirrung deshalb, da doch die Abgrenzung des Verfalls von den anderen Instrumenten der Konfiskation und der Einziehung eben danach vorzunehmen ist, ob es sich um einen Vermögenswert oder einen Gegenstand handelt. Insofern darauf hingewiesen wird, dass auch der Vermögenswert ein Gegenstand ist, verschwimmt eine klare Trennlinie, anhand der eine eindeutige Zuordnung vorgenommen werden könnte. Kritik erntete die Betonung der „Gegenstandsbezogenheit“ in diese Richtung, dass gerade daraus eine Einschränkung auf einen tatsächlichen, „physischen“ Vermögenswert abzuleiten wäre.13 Somit könnten nach vorherrschender Kommentarmeinung dem Vermögensbegriff des § 20 StGB und somit dem Verfall etwa empfangene Dienstleistungen nicht unterworfen werden. Beispielhaft dafür werden etwa sexuelle Gefälligkeiten als „Belohnung“ für die Begehung eines Verbrechens angeführt.14 Ebenso wenig könnte eine gegenstands13 Fuchs/Tipold in WK2 StGB Vor §§ 19a-20c, Rz 16ff. 14 Fuchs/Tipold in WK2 StGB Vor §§ 19a-20c, Rz 20.



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bezogene Betrachung eines Vermögenswertes auf ersparte Aufwendungen greifen lassen. Auch hiefür wird ein praktisches Beispiel angeführt: im Zusammenhang mit einem Umweltstrafverfahren könnten die vom Täter sorgfaltswidrig unterlassenen Umweltschutz-Investitionen als eine „Bereicherung“ aus einem strafbaren Verhalten betrachtet werden, die nach dieser Auffassung dem gegenstandsbezogenen Verfallsbegriff jedoch nicht unterstellt werden könnte.15 Der Gesetzgeber relativiert jedoch die strenge Bedeutung des Begriffes „gegenstandsbezogen“ zum einen dadurch, dass er in § 20 Abs. 2 StGB auch sämtliche Nutzungen und Surrogate den Vermögens-„Gegenständen“ an die Seite stellt. Beispielhaft werden für Nutzungen dazu ausdrücklich Zinsen, Dividenden oder Miet- und Pachteinnahmen genannt, für Surrogate Verkaufserlöse und ganz allgemein jeder Ersatz, der etwa für die Zerstörung, die Beschädigung oder die Entziehung für den ursprünglichen „Originalvermögenswert“ in das Vermögen des Täters getreten war. Weiters kennt das Gesetz in § 20 Abs. 3 StGB auch den sogenannten „Wertersatzverfall“, der genau in jenen Fällen eintreten soll, wo der eigentliche Vermögenswert nicht sichergestellt ist und/oder auch nicht mehr sicherstellbar ist. Beispielhaft wird hierzu in den Erläuternden Bemerkungen angeführt, dass etwa der Vermögenswert selbst nicht aufgefunden werden kann oder es sich dabei um eine rein rechnerische Größe, wie eben ersparte Aufwendungen oder die Nutzung von Gebrauchsvorteilen, handelte. Es scheint daher so zu sein, dass der Begriff des „gegenstandsbezogenen Verfalls“ die Fälle des § 20 Abs. 1 und Abs. 2 StGB bezeichnen soll, hier den vom Gesetzgeber vorgestellten „Idealfall“ beschreibt, wo – aus Ermittlungssicht – ein Vermögenswert „physisch“ vorhanden ist, auf dem die Strafverfolgungsbehörde durch strafprozessuale Sicherungsmaßnahmen (Sicherstellung und Beschlagnahme iSd § 109 StPO) greifen kann. Dieser „gegenstandsbezogene Verfall“ soll hier wohl begrifflich zum Fall des § 20 Abs. 3 StGB, dem Wertersatzverfall, abgrenzen, wo eben ein solcher physischer Vermögenswert nicht greifbar ist. Dies wird vor allem vor dem Hintergrund der oben bereits angesprochenen, teilweise auch international geäußerten Kritik an der zu wenig geübten Praxis vermögensabschöpfender Maßnahmen zu sehen sein. Durch die Betonung dieser „Gegenstandsbezogenheit“ soll hier offenkundig den Strafbehörden vor Augen geführt werden, zunächst einmal jedenfalls jene Vermögenswerte, die im Zuge von Ermittlungshandlungen „vorgefunden“ werden, für nachfolgende Verfallsentscheidungen sicherzustellen. Keinesfalls scheint hier weder eine Einschränkung der vom Verfall bedrohten Vermögenswerte auf Vermögensgegenstände im engeren Sinn intendiert zu sein noch ein „Zurückgehen“ auf die Rechtslage vor dem Strafrechtsänderungsgesetz 1996. 15 Fuchs/Tipold in WK2 StGB Vor §§ 19a-20c, Rz 22.

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Im Gegenteil ist aus der Novellierung im sKp deutlich der gesetzgeberische Wille erkennbar, ein durchaus schärferes Werkzeug für diesen Bereich zu schaffen. Besonders deutlich wird dies in der Aufgabe des sogenannten „Nettoprinzips“, wie es mit der Umgestaltung der Abschöpfung der Bereicherung durch das Strafrechtsänderungsgesetz 1996 Einzug in den österreichischen Strafbestand gefunden hat. Hinter diesem Begriff verbirgt sich, dass alle Aufwendungen zur Erlangung der Bereicherung bei einer Abschöpfungsentscheidung zu berücksichtigen waren, d. h. vom festgestellten Bereicherungsbetrag abzuziehen waren. Dies folgte konsequent dem Gedanken der Abschöpfung als vermögensrechtlicher Unrechtsfolge. Es sollte eben nur das Ausmaß der tatsächlich eingetretenen „unrechtmäßigen Bereicherung“ abgeschöpft werden, also nur das, von dem der Täter auch tatsächlich etwas hatte. Dieses Prinzip wird nunmehr mit der Novellierung durch das sKp aufgegeben, der Gesetzgeber kehrte zum sogenannten „Bruttoprinzip“ zurück. Dies bedeutet nichts anderes, als dass alles, was als unrechtmäßig erlangt festgestellt wird, für verfallen erklärt werden kann. Als Argument dafür werden internationale Vorgaben und Beispiele (Deutschland) sowie die leichtere Bestimmbarkeit genannt. Dem liegt offenbar die Vermutung des Gesetzgebers zugrunde, dass mit ein Grund für die zögerliche Anwendung der vermögensabschöpfenden Bestimmungen im Rahmen von Strafverfahren Probleme in der Ausmittlung der tatsächlich eingetretenen Bereicherung waren. Tatsächlich mag auch in den wenigen Fällen, wo an die Gerichte eine Abschöpfungsentscheidung herangetragen worden war, vom Angeklagten mit behaupteten Aufwendungen eine solche Entreicherungsmaßnahme abzuwehren versucht worden sein. Solches Vorbringen, prozesstaktisch möglichst zu einem recht späten Verfahrenszeitpunkt erstattet, verminderte zweifellos den Anreiz, diesbezüglich weitere gesonderte Ermittlungen bei sonstiger Entscheidungsreife des Falles zu pflegen. Hier jedoch die Hauptursache für die zahlenmäßig wenigen Abschöpfungsentscheidungen zu suchen, wird der tatsächlichen Problematik sicherlich ebenfalls nicht gerecht. Die gegenwärtigen Verfallsregeln sehen im § 20 StGB den Grundtyp des „gewöhnlichen“ Verfalls vor, § 20b StGB kennt einen darüber hinausgehenden Spezialfall des sogenannten „erweiterten“ Verfalls. Für verfallen zu erklären sind jene Vermögenswerte, die für oder durch die Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung erlangt wurden (§ 20 Abs. 1 StGB). Abgestellt wird hier also, wie auch schon bei der Einziehung, nicht auf Straftaten, wo also der „Bereicherte“ auch tatsächlich für die der Bereicherung zugrunde gelegte Tat verurteilt und bestraft wird. Es reicht tatbestandsmäßiges Verhalten, die Erfüllung der weiteren Bedingungen der Strafbarkeit (Rechtswidrigkeit, Schuldhaftigkeit) sind nicht erforderlich, schaden aber auch nicht. Deshalb gibt es auch im Bereich des Verfalls ein objektives Verfalls-Verfahren (§ 445 StPO). Neben den vermutlich weniger häufig



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vorkommenden Fällen eines gerechtfertigt oder nicht schuldhaft handelnden Täters kommt dies auch in jenen Fällen zur Anwendung, wo man des Täters nicht habhaft wird, wohl aber auf die Vermögenswerte greifen kann. Einen diesbezüglichen Sonderfall stellt die Möglichkeit dar, auf Verfall – Gleiches gilt auch für die Einziehung – zu erkennen, wenn der Angeklagte freigesprochen wird (§ 446 StPO). Die Voraussetzungen für den Verfall nach § 20b StGB sind insofern „erweitert“, als hier die Herkunft des betreffenden Vermögenswertes aus einer konkreten strafbaren Handlung nicht erbracht werden muss. Dies ist auf zwei Unterfälle beschränkt, bei denen der Gesetzgeber davon ausgeht, dass bereits der Nachweis dieser Umstände eine Verfallsentscheidung rechtfertigt bzw. die kriminelle Erlangung von Vermögenswerten geradezu indiziert. Der erste im § 20b Abs. 1 StGB beschriebene Fall könnte mit dem Schlagwort „9/11-Verfall“ bezeichnet werden und gilt für jene Fälle, wo Vermögenswerte in der Verfügungsmacht einer kriminellen Organisation (§ 278a StGB) oder gar einer terroristischen Vereinigung (§ 278b StGB) festgestellt werden oder es sich dabei um Mittel zur Terrorismusfinanzierung (§ 278d StGB) handelt. Diese Fälle waren bereits in der Vorgängerbestimmung des § 20b Abs. 1 StGB-alt enthalten. Die zweite – neue – Variante des erweiterten Verfalls nach § 20b Abs. 2 StGB, Schlagwort „Anscheins-Zusammenhangs-Verfall“, kommt zur Anwendung, wenn Vermögenswerte in einem (engen) zeitlichen Zusammenhang mit bestimmten „Anlasstaten“ erlangt werden. Hier wird davon ausgegangen, dass beim Nachweis des Vorliegens dieser im Gesetz taxativ aufgezählten Deliktstypen geradezu typisch auch kriminelle Geldflüsse verbunden sind. Das Gesetz zählt hier als erste Gruppe von Anlasstaten das Vorliegen einer rechtswidrigen Tat nach § 165 StGB, Geldwäscherei, § 278 StGB, kriminelle Vereinigung und § 278c StGB, terroristische Straftaten, auf. Als zweite „Gruppe“ nennt es die Kategoriebezeichnung „Verbrechen“, stellt dabei auf die Einteilung der Delikte des StGB nach § 17 Abs. 1 StGB ab, wonach vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind, als Verbrechen, alle übrigen strafbaren Handlungen mit dem Begriff „Vergehen“ bezeichnet werden. Neben dem Vorliegen einer solchen Anlasstat ist zu erweisen, dass aus dieser oder für diese auch (irgendwelche) Zahlungen geflossen sind. Bei Vorliegen (und Nachweis) dieser Voraussetzungen kommt es nun neben dem Verfall dieser unmittelbar zuordenbaren Verbrechenserlöse auch hinsichtlich solcher (weiteren) Vermögenswerte zum Verfall, bei denen die Annahme naheliegt, dass auch sie aus einer rechtswidrigen Tat stammen und – in einer Art Bescheinigungslastumkehr – dem Betroffenen es nicht gelingt, nachzuweisen, dass diese Vermögenswerte rechtmäßig erworben wurden. Gedacht wurde hier offenkundig an jene Fälle, wo

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die Begehung einer bestimmten strafbaren Handlung nachgewiesen werden kann, auch dass daraus eine bestimmte Bereicherung erwuchs – diesbezüglich wäre ja bereits der „gewöhnliche“ Verfall nach § 20 StGB möglich. Darüber hinaus werden jedoch auch weitere „verdächtige“ Vermögenswerte beim Täter festgestellt, die nun dem erweiterten Verfall unterliegen. Nach dem Gesetzeswortlaut wäre der erweiterte Verfall jedoch auch in solchen Fällen möglich, in denen zwar nachgewiesen werden kann, dass es zu Bereicherungen aus der Straftat kam, es diesbezüglich jedoch keinerlei Anhaltspunkte zur tatsächlichen Höhe dieser Bereicherung gibt. In diesem Fall würde sich ein erweiterter Verfall nicht zwangsläufig an einen „gewöhnlichen“ Verfall anschließen, sondern kommt es eben nur zum erweiterten Verfall. Aus der Formulierung, dass lediglich die Annahme vorliegen muss, der Vermögenswert stamme aus einer rechtswidrigen Tat, ist zu schließen, dass es auch keinen Zusammenhang zwischen Bereicherung und der festgestellten Anlasstat geben muss (müsste sonst im Gesetzestext von der rechtswidrigen Tat gesprochen werden). Zu beachten ist weiters, dass als Anlasstat bei Geldwäscherei, krimineller Vereinigung und terroristischen Straftaten lediglich auf das Vorliegen einer rechtswidrigen Tat abgestellt wird, beim Verbrechen offenkundig jedoch auf das Erfordernis, dass dieses auch schuldhaft begangen wurde, scheinbar nicht verzichtet wurde. Diesbezüglich ist die Textierung des Gesetzes unklar, inwieweit der Verweis „ein solches Verbrechen“ sich nur darauf bezieht, dass im Zusammenhang damit Vermögenswerte erlangt wurden oder auch den Verweis darauf umfasst, die Zurechenbarkeit des Verbrechens ebenso wie bei den in der ersten Fallgruppe aufgezählten Delikten auf der Stufe der Rechtswidrigkeit enden lassen zu können. Im Zusammenhang mit der Anlasstat aus der ersten Fallgruppe, nämlich jener der Begehung einer rechtswidrigen Tat nach § 278 StGB, ist noch darauf hinzuweisen, dass dies sowohl Handlungen der Bildung einer solchen, aber auch solche der (bloßen) Beteiligung an der kriminellen Vereinigung umfassen. Neben diesem Vorfelddelikt der „Bandenkriminalität“ sehen jene Delikte, wo es in der Praxis tatsächlich zu einem häufigen Auftreten einer Tätermehrheit kommt, gesonderte Qualifikationen vor. Diese kommen – das „Bandenbildungsdelikt“ § 278 StGB verdrängend – zur Anwendung, wenn die Tat tatsächlich zur Ausführung gelangt. So erfasst § 130 StGB das Phänomen des Diebstahls im Rahmen einer kriminellen Vereinigung („Diebesbande“), § 143 StGB die „Räuberbande“. In den §§ 104a Abs. 4 Fall 2, 216 Abs. 3 StGB findet sich die Menschenhändler- und Zuhälterbande. Auch in den Nebengesetzen gibt es in § 114 Abs. 5 FPG Bestimmungen für die „Schlepperbande“, in den §§ 28 Abs. 3., 28a Abs. 2 Z 2 SMG jene für die Drogenbanden. All jene Delikte erreichen Kraft ihrer Strafdrohung die Verbrechenskategorie, wären insofern unproblematisch Anwendungsfälle für den



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erweiterten Verfall nach § 20b Abs. 2 StGB. Hier erschiene es jedoch systematisch unverständlich, weshalb im Fall des „Vorfelddeliktes“ nach § 278 StGB bereits der Nachweis einer rechtswidrigen Tat genügen sollte, wohingegen im Fall, dass die Bande bereits „zugeschlagen“ hat, also entsprechend ihrer Gründung tatsächlich strafbare Handlungen setzte, die „volle“ Zurechnung verlangt würde. Dies spricht dafür, dass auch die Anlasstat „Verbrechen“ zur Begründung eines erweiterten Verfalls lediglich in das Stadium der Rechtswidrigkeit gelangt sein muss. An beide Arten von Verfall, also sowohl beim „Grundtyp“ nach § 20 StGB als auch beim erweiterten Verfall nach § 20b StGB schließen sich Gründe an, aus denen der Verfall zu unterbleiben hat. Aus beiden ist das Grundmuster ableitbar, dass es zu einem Ausschluss des Verfalls zum Ersten kommt, wenn von der Maßnahme nicht mehr der unmittelbare Täter, sondern ein redlicher Dritter betroffen wäre. Redlich ist dieser im Sinne des gewöhnlichen Verfalls, wenn er den infrage kommenden Vermögenswert in Unkenntnis der kriminellen Herkunft erworben hat. Im Sinne des erweiterten Ausschlusses beim erweiterten Verfall wird er als redlich angesehen, wenn er selbst nicht Mitglied der kriminellen Vereinigung war. Liegt also ein solcher redlicher Dritter vor, kommt es zu keinem Verfall von Nutzungen oder Surrogaten und zu keinem Wertersatzverfall (§ 20a Abs. 1 StGB), Vermögenswerte bei Dritten also nur, wenn tatsächlich der ursprüngliche Vermögenswert noch vorhanden ist. Weiters ist der Verfall (jedenfalls) ausgeschlossen, wenn der redliche Dritte den Vermögenswert entgeltlich erworben hat (§ 20a Abs. 2 Z 1 StGB), wobei hier nicht auf die Entgeltlichkeit alleine, sondern auch auf die Gleichwertigkeit dieser Gegenleistung abgestellt wird. Schließlich spielt der gutgläubige Dritte als Ausschlussgrund auch beim erweiterten Verfall eine Rolle (§ 20c Abs. 1 StGB). Hier ist der Zugriff auf die Vermögenswerte krimineller Organisationen, terroristischer Vereinigungen oder Mittel der Terrorismusfinanzierung verwehrt, so darauf Rechtsansprüche von Personen bestehen, die sich selbst nicht an diesen verbrecherischen Strukturen beteiligt haben. Als zweiter Ausschlussgrund findet sich ein Vorrang für die Befriedigung, aber auch bereits die Sicherstellung zivilrechtlicher Ansprüche von Geschädigten (§ 20a Abs. 2 Z 2 StGB) und der Vorrang des „gelinderen Mittels“. Ähnlich der Haftverschonung nach § 173 Abs. 4 StPO ist vom Verfall abzusehen, soweit seine Wirkung auch durch andere rechtliche Maßnahmen erreicht wird (§ 20a Abs. 3 StGB). Neben diesen Fällen des Ausschlusses des Verfalles (Betroffenheit eines redlichen Dritten oder Vorrang anderer Rechtsinstitute) kennt das Gesetz schließlich noch den Fall des Absehens vom Verfall (§ 20a Abs. 3 StGB) für den Fall der Unverhältnismäßigkeit zwischen Verfahrensaufwand und voraussichtlichem „Ertrag“ aus dem Verfall.

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Ergänzt werden die materiell-rechtlichen Bestimmungen durch konkrete Umsetzungsvorschriften in der StPO. Diese finden sich für das Ermittlungsverfahren im ersten Abschnitt des achten Hauptstückes („Ermittlungsmaßnahmen und Beweisaufnahme“) unter den Vorschriften zur Sicherstellung und Beschlagnahme in den §§ 109 bis 116 StPO, wobei insbesondere in den Bestimmungen der §§ 115a bis 115e Vorschriften zur Verwertung der sichergestellten oder beschlagnahmten Vermögenswerte aufgenommen wurden. Im Kern fanden diese Bestimmungen Eingang in den österreichischen Strafbestand bereits mit dem Budgetbegleitgesetz 200916, eine jüngste Anpassung erfolgte durch das 2. Stabilitätsgesetz 2012.17 Dies scheint insofern erwähnenswert, als die prozessualen Bestimmungen somit bereits vor der Neugestaltung der materiell-rechtlichen Bestimmungen mit dem sKp 2010 verfasst und mit diesem im Wesentlichen nur leicht terminologisch angepasst worden waren. Für den Bereich des Hauptverfahrens finden sich die einschlägigen Bestimmungen im – noch nicht der „modernen“ Diktion der StPO nach der Strafprozessreform 2004 angepassten – 21. Hauptstück in III (nach neuer Bezeichnung: Abschnitt), und zwar in den §§ 443 bis 446 StPO. Auch in anderen strafrechtlichen Bereichen finden sich damit im Zusammenhang stehende Bestimmungen. So enthält das III. Hauptstück des EU-JZG den Abschnitt „Vollstreckung vermögensrechtlicher Anordnungen“ und werden dort in den §§ 52 bis 52n jene Regeln entworfen, nach denen derartige von einem Gericht eines anderen Mitgliedsstaates getroffene Anordnungen in Österreich vollstreckt werden bzw. unter welchen Voraussetzungen ein anderer Mitgliedsstaat um die Vollstreckung einer österreichischen Verfalls-, Einziehungs- oder Konfiskationsentscheidung ersucht werden kann. Der mit Neugestaltung durch das sKp auch im StGB „wiederbelebte“ Verfallsbegriff blieb, unberührt durch die zwischenzeitige Verdrängung durch den Begriff der „Abschöpfung der Bereicherung“ im StGB, im Finanzstrafrecht über die Jahre relativ unberührt. § 17 FinStrG kennt die „Strafe des Verfalls“, § 19 FinStrG die „Strafe des Wertersatzes“. Wie bereits aus den jeweiligen Überschriften erkennbar, handelt es sich bei diesen Namensvettern also um Nebenstrafen, was sie schon vom Verfall nach StGB unterscheidet. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass der Begriff des „für verfallen Erklären“ auch noch in einem anderen Zusammenhang im Strafrecht verwendet wird. So sind gemäß § 172a Abs. 4 StPO Sicherheitsleistungen, gemäß § 180 Abs. 4 StPO Kautionen für verfallen zu erklären.

16 BudgetbegleitG 2009, BGBl. I 2009/52. 17 2. Stabilitätsgesetz (2. StabG) 2012, BGBl. I 2012/35.



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Die Neugestaltung der vermögensabschöpfenden Instrumente im österreichischen Strafrecht mit dem sKp 2010 war vor dem Hintergrund internationaler Entwicklungen und zunehmender Kritik an der praktischen Umsetzung angetreten, das dafür zur Verfügung stehende Instrumentarium zu erweitern und systematisch auf neue Beine zu stellen. Zur Erleichterung der praktischen Umsetzung des gesetzten Zieles, dass sich Verbrechen tatsächlich nicht lohnen sollen, wurde insbesondere die Abkehr vom Netto- und Zuwendung zum Bruttoprinzip als auch die Möglichkeit der „richterlichen Schätzung“ genannt. Ist der ziffernmäßige Nachweis der tatsächlich eingetretenen Bereicherung nur schwer bis gar nicht erbringbar, kann das Gericht nach seiner freien Überzeugung ein Maß der Bereicherung festsetzen (§ 20 Abs. 4 StGB für den gewöhnlichen Verfall, § 20b Abs. 3 StGB beim erweiterten Verfall mit Verweis auf die vorgenannte Bestimmung). Letztere „Erleichterung“ hatte bereits ihren inhaltsgleichen Vorgänger im „alten“ Rechtsbestand, die Aufgabe des mit der letzten großen Umgestaltung der vermögensrechtlichen Maßnahmen mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1996 eingeführten Nettoprinzips hat sich als der zentrale Kritikpunkt an der Novelle herauskristallisiert. Vom Einwand, dass sich dadurch der Charakter von einer vermögensrechtlichen Unrechtsfolge zu einer (weiteren) Nebenstrafe entwickelt hat, reichen die Vorbehalte bis zu verfassungsrechtlichen Bedenken, durch den weitreichenden Verzicht auf den Nachweis der schuldhaften Handlung gegen die Unschuldsvermutung zu verstoßen. Inwieweit die vorliegenden jüngsten gesetzgeberischen Bemühungen das zweifellos auch mit der Entwicklung neuer Kriminalitätsformen immer drängender werdende Problem wachsender Vermögen krimineller Provenienz wirksam bekämpfen kann, wird von einer Gruppe bezweifelt. Für die andere sind die Bemühungen hier weit über ihr Ziel hinaus geschossen. So kurz nach Einführung kann dies wohl noch nicht verlässlich beurteilt werden. Der Blick zurück in die Geschichte dieses Bereiches zeigt jedoch, dass auch bereits die Novellen in der Vergangenheit durchaus mit den gleichen Zielen und den gleichen Erwartungen angetreten waren, um Jahre später vor einem unveränderten Problem zu stehen. Vermutlich braucht es mehr als terminologische Neubezeichnungen und dogmatische Nuancierungen. Die Abkehr des traditionellen Strafverfahrens von seiner Täterorientierung hin auf einen bisherigen „Nebenschauplatz“ krimineller Begleiterscheinungen, wie eben der Frage der strafrechtlichen Aufarbeitung ökonomischer Unrechtsfolgen, wird über eine punktuelle Regelung der einschlägigen Normen des materiellen und prozessualen Strafrechts weit hinausgehen. Hier werden Fragen für eine grundsätzliche Diskussion über die allfällige Neuausrichtung der Strafverfolgung aufgeworfen: Was kann und soll das traditionelle Kriminalstrafrecht leisten? Die Diskussion über diese Fragen wird jedoch erst zu führen sein. Aktuell scheint jedoch die intensive öffentliche Aufmerksamkeit, die dieses Thema

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zuletzt erlangt hatte, wieder abgeebbt zu sein. Und auch dazu drängt sich ein Zitat des französischen Schriftstellers und Philosophen Honoré de Balzac auf: „Das Gedächtnis ist so kurz, das Leben so lang.“



3.19 Beschränkungen im öffentlichen Raum

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3.19. Beschränkungen im öffentlichen Raum – Bekämpfung der „urbanen Unordnung“. Am Beispiel der Bettelverbote

Georg Königsberger

Inhaltsverzeichnis Ausdruck der Herrschaft über den öffentlichen Raum Nutzungsexklusion bestimmter Personengruppen Die Bettelthematik Vorbemerkungen Rechtliche Bedenken gegen Bettelverbote Kompetenzwidrigkeit der Erlassung von Bettelverboten auf Landesebene Das Recht auf Achtung des Privatlebens Das Recht auf Meinungsfreiheit Der Gleichheitsgrundsatz Weitere vorgebrachte grundrechtliche Bedenken Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs bezüglich der Länder Salzburg, Oberösterreich, Kärnten, Wien und der Steiermark VfGH 30. 6. 2012, G155/10 – Salzburg VfGH 30. 6. 2012, G132/11 – Oberösterreich VfGH 30. 6. 2012, G118/11 – Kärnten VfGH 12. 10. 2012, G134/10-17 – Wien VfGH 6. 12. 2012, G64/11 – Steiermark Nach der Entscheidung ist vor der Entscheidung Rundschau in Österreich Reaktionen der betroffenen Länder und verbleibende Unklarheiten Salzburg Steiermark Gewerbsmäßiges und organisiertes Betteln

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Ausdruck der Herrschaft über den öffentlichen Raum In den letzten Jahren war ein immer größerer Vertreibungsdruck auf missliebige Einzelpersonen und Personengruppen zu beobachten. Die Auseinandersetzung um die Inanspruchnahme des öffentlichen Raumes, welche als Phänomen allerdings nicht neu ist, nimmt kontinuierlich an Vehemenz zu. Schon in der Vergangenheit war der öffentliche Raum ein hart umkämpftes Terrain, wobei bei diesen Auseinandersetzungen immer die besitzende und beherrschende Klasse im Vorteil war. Jene Bevölkerungsteile, die in unterschiedlicher Weise die Ordnung störten (wie Bettler/-innen, Obdachlose, Süchtige, jugendliche Rand­gruppierungen etc.), wurden und werden durch verschiedene Arten der Regulation verdrängt. Die Vorherrschaft im öffentlichen Raum zeigt sich beispielsweise durch die Benennung von Straßen. Während bis ins späte 18. Jahrhundert amtlich festgelegte Straßen­namen die Ausnahme waren (z. B. zur Ehrung von Mitgliedern der kaiserlichen Familie), begann man zu dieser Zeit in Wien erstmals Straßennamen ersichtlich zu machen.1 Diese folgten grundsätzlich dem gewohnheitsmäßigen Sprachgebrauch (z. B. Schmiedgasse, Bäckergasse udgl.). Bald wurde dieses Terrain allerdings als Möglichkeit des Herrschafts­ausdrucks entdeckt und es folgten Namensänderungen mit jedem Systemwechsel. In Graz stand beispielsweise 1899 die Neubenennung von 69 Straßen auf dem Programm des Gemeinderates. Während sich auf der einen Seite Abgeordnete dafür erklärten, eingebürgerte Straßennamen beibehalten zu wollen, sprach sich die deutschnationale Seite vehement dagegen aus. Graz sollte Straßennamen bekommen, die einer Großstadt gerecht waren.2 Ebenso sollte sich die Identität der Stadt, als südöstlichstes Bollwerk der deutschen Kultur, in den Namen ihrer Straßen widerspiegeln. Auch heute sind solche Umbenennungen allgegen­wärtig und immer Anstoß für Diskussionen. Zu beobachten ist dies z. B. an der Umbenennung des Wiener „Karl-Lueger-Rings“ in „Universitätsstraße“. In Graz sei stellvertretend nur die Diskussion zur „Jahngasse“ genannt.3 Ein weiteres Indiz dafür, welche Interessengruppe an der Macht ist, ist die Errichtung von Denkmalen. Nicht expressis verbis aber faktisch wird damit aufgezeigt, welche Wert­vorstellungen vorherrschend sind. So wären Denkmale wie jenes 1 Dies wurde 1782 von der Regierung verordnet. Kurz davor wurde auch die Nummerierung der Häuser angeordnet, dies unter anderem mit dem Ziel, alle wehrfähigen Männer erfassen zu können. 2 Als Großstadt gelten seit einer Statistikkonferenz aus 1887 alle Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Graz überschritt diese Grenze ungefähr im Jahr 1870. 3 Zur Geschichte von Straßennamen siehe für Graz Kubinzky/Wentner, Grazer Straßennamen: Herkunft und Bedeutung (1998), und für Wien Autengruber, Lexikon der Wiener Straßennamen: Bedeutung, Herkunft, frühere Bedeutung3 (1998).



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von Che Guevara, Salvador Allende und Simon Bolivar, wie sie in Wien aufgestellt wurden, in einer nicht von einer linken Partei regierten Stadt wohl undenkbar. Ausgedrückt wird damit das Geschichts- und Ideologieverständnis der herrschenden Riege, welche ihre Machtposition im öffentlichen Raum demonstriert.

Nutzungsexklusion bestimmter Personengruppen Heute ist das bestimmende Merkmal des öffentlichen Raumes der Konsum. Bestimmte unerwünschte, nicht konsumierende Personen werden dabei ausgeschlossen. Ein zu beo­bachtendes Phänomen ist auch die Privatisierung des öffentlichen Raumes. Diese erschließt sich beispielsweise aus der fortschreitenden Inanspruchnahme von privaten Securitys, welche nicht erwünschte Personen vor Kaufhäusern vertreibt.4 Die Folge ist eine Sozialexklusion, welche als selbstverständlich gilt und nur gewisse – den Idealbildern des „Konsumismus“ entsprechende – Personen zulässt. Im Sinne einer Law-and-Order-Politik treten einem dabei verschiedenste Einschränkungen entgegen. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich zum Beispiel Bettelverbote, Alkoholverbote, Radfahrverbote, Grillverbote oder Einschränkungen für Kinder und Jugendliche. Homosexuelle Orientierung verwehrt beispielsweise die Nutzung des Trauungssaals der Stadt Graz.5 Körperlich Behinderte sind in ihrer Bewegungs- und Nutzungsfreiheit in vielen Bereichen immer noch eingeschränkt. Diese Beispiele zeigen exemplarisch, in welcher Art und Weise verschiedenste Personengruppen in deren Nutzung des öffentlichen Raumes eingeschränkt sind. Mögen zwar manche dieser Verbote notwendig und begründbar sein, mangelt es doch vielen an einer rationalen und nachvollziehbaren Grundlage. In den aktuellen Tendenzen ist die amerikanische „Broken-Windows-Theorie“ wiederzuerkennen, die sich in einer „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber allen Lebens­äußerungen, die nicht dem Zeitgeist entsprechen, ausdrückt. Die Theorie basiert im Wesent­lichen auf der Behauptung, dass sich durch eine kompromisslose Verfolgung alltäglicher Bagatelldelikte auch die großen Plagen der Zeit er4 Durch das Bedürfnis nach möglichst weitgehender Kontrolle hat sich hier ein neuer Wirtschaftszweig entwickelt. Für die Stadt Berlin wird beispielsweise davon ausgegangen, dass es bereits ebenso viel privates Sicherheitspersonal wie Polizisten gibt. Die Zahl der Sicherheitsdienste wird auf wenigstens 300 geschätzt. Diese Zahlen aus dem Jahr 2001 sind mittlerweile vermutlich noch weit höher. Vgl. Simon, Wem gehört der öffentliche Raum? Zum Umgang mit Armen und Randgruppen in Deutschlands Städten; gesellschaftspolitische Entwicklungen, rechtliche Grundlagen und empirische Befunde (2001) 23 f. 5 Vgl. Winter, Keine Zeremonien im Trauungssaal, in „Kleine Zeitung“,7. 11. 2009, http://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/graz/2193644/jawort-rathaus.story (6. 1. 2013); N.N., Keine Zeremonie im Trauungssaal, in „Der Standard“, 22.  12.  2009, http://derstandard.at/1259282484325/Eingetragene-Partnerschaft-Keine-Zeremonie-im-Trauungssaal-in-Graz (6. 1. 2013).

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folgreich bekämpfen ließen. Unruhe im öffentlichen Raum ist daher nur dann erlaubt, wenn sie viel Geld bringt. Dies zum Beispiel wenn der frisch gebackene Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel mit seinem Rennauto durch die vollends abgesperrte Grazer Innenstadt rast oder wenn sich 100.000 Menschen in Tracht beim „Aufsteirern“ durch Graz drängen. Kennzeichnend für unsere Gesellschaft ist des Weiteren ein „Alarmismus“, der Bedrohungen durch verschiedene Gruppierungen überzeichnet und folglich mehr Präsenz von Polizei sowie Ordnungswachen fordert.6 In einer jeder Grundlage entbehrenden Sicherheits­debatte werden die Menschen zielstrebig verunsichert, um diese auf der einen Seite freiwillig unter eine möglichst weitreichende Überwachung zu stellen und auf der anderen Seite bestimmte, aus welchen Gründen auch immer, unerwünschte Gesellschaftsteile auszugrenzen. So bleibt keiner Partei, die regieren will, die Möglichkeit, sich diesen Forderungen zu verschließen. In England werden z. B. bereits mehr als 85 Prozent aller Innenstädte mit Video überwacht.7 Der Mensch begibt sich freiwillig in die totale Überwachung und gibt damit ein gutes Stück seiner Freiheit preis, nur um sein, ihm einsuggeriertes, Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen. Die Frage, die sich stellt, ist, ob eine solche Law-and-Order-Mentalität wirklich einer offenen Stadt vorzuziehen ist. Die mediale Berichterstattung sowie die Versuche gewisser Interessengruppen, die nur auf eine Verunsicherung der Bevölkerung hinauslaufen, sollten daher kritisch hinterfragt werden. Zwangsläufig treten aufgrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse Bruchstellen auf, die Armut und Armutsfolgen öffentlich zeigen. Unterstützt durch mediale Berichterstattung wird hier der Ruf lauter, regulierend einzugreifen. Das Zurschaustellen von Andersartigkeit, ob nun Armut oder Sucht, in einer nicht nur passiv ertragenden Art verunsichert die Bevölkerung und löst Bedrohungsängste aus. Dieser Armut auf der Straße wurde bereits im 18. Jahrhundert durch die sogenannten „Bettlerschübe“ versucht Herr zu werden, indem man Arme über die Grenzen der benach­barten Länder abschob. Dies mit dem Ziel der „Ausrottung des schädlichen Gesinds“.8 Im Dritten Reich kam es zur konsequenten und erbar6 Erwiesenermaßen ist die Kriminalitätsrate in Österreich allerdings konstant rückläufig. So kamen im Jahr 1970 auf 1.000 Menschen noch 19,17 gerichtliche Verurteilungen, 1980 waren es 13,63, 1990 waren es 11,17, 2000 waren es 6,18 und 2011 waren es nur mehr 5,01. Vgl Statistik Austria, Gerichtliche Kriminalstatistik vom 31. 5. 2012, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/soziales/kriminalitaet/ verurteilungen_gerichtliche_kriminalstatistik/index.html (6. 1. 2013). 7 Vgl. Simon, Wem gehört der öffentliche Raum, 16 f. 8 Vgl. Scheutz, Alltag und Kriminalität: Disziplinierungsversuche im steirisch-österreichischen Grenzgebiet im 18. Jahrhundert (2001) 457 ff.



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mungslosen Verfolgung von sogenannten „Asozialen“. Die „Bettlerwochen“ des Jahres 1933 und die 1938 durchgeführte Aktion „Arbeitsscheu Reich“ brachten über 10.000 Menschen in Gefängnisse und Konzentrations­lager.9 Besonders der Alkoholkonsum weckt auch regelmäßig Ängste vor der Übertretung von Grenzen und vor Gewalt. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass immer wieder der Versuch unternommen wird, den Konsum von Alkohol auf touristischen Plätzen und Straßen, selbstverständlich ausgenommen sogenannte Freischankflächen, zu verbieten. Die Alkoholverbotszonenverordnung der Stadt Graz verbietet beispielsweise den Konsum von Alkohol auf öffentlichen Plätzen und Straßen in einem großen Teil der Grazer Innenstadt. Ausgenommen von diesem Verbot sind behördlich genehmigte Veranstaltungen sowie der Ausschank in Gastgärten und an den Marktständen.10 Kritisiert wird dieses Verbot vor allem von den Grünen, welche keine Lösung in der Aussperrung bestimmter Personen­gruppen sehen, sondern eine Verschärfung der Verelendung und Vereinsamung. Des Weiteren sehen sie darin einen ungerechtfertigten Grundrechtseingriff und kündigen an, dass dieses Verbot bald vom Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof zu prüfen sein werde.11 Anlass für diese Gesetzgebung waren einige unerwünschte Jugendliche, welche sich regelmäßig zum Alkoholkonsum am sogenannten „Billa-Eck“ beim Grazer Hauptplatz trafen. Anstelle des Versuches, dieses Problem zu lösen, indem man jenen Personen beispielsweise Räumlichkeiten zur Nutzung zur Verfügung stellt, was eine gute Kontrolle und Betreuung durch Sozialarbeiter ermöglicht hätte, entschied sich die Grazer Stadtregierung dazu, das Problem einfach weiterzuschieben. Diese Praxis, auch bekannt als „Junkie Jogging“, wurde in der Vergangenheit oft betrieben, hat aber immer nur zur Verlagerung und nie zur Auflösung des Problems geführt. Nichtsdestotrotz wird sie immer wieder praktiziert, um den Wählern zu signalisieren, man werde aktiv und nehme sich des Problems an. Dass durch eine solche Zerstreuung auch oft die filigranen und langjährig aufgebauten Beziehungen der Sozial­arbeiter zu besagten Personengruppen zu Bruch gehen, wird dabei nicht beachtet.12 9 Vgl. Sondermann-Becker, „Arbeitsscheue Volksgenossen“ – Evangelische Wanderfürsorge im „Dritten Reich“ in Westfalen – Eine Fallstudie (1995) 55. 10 Verordnung der Stadt Graz zur Erweiterung der Alkoholverbotszonen im innerstädtischen Bereich vom 2. 5. 2012, A 17-009850/2012. 11 Vgl. Baumann, Alkoholverbotszonen und die Vertreibung von Menschen aus dem öffentlichen Raum, http://www.graz.gruene.at/allgemein/alkoholverbotszone-und-die-vertreibung-von-menschen-aus-dem-oeffentlichen-raum/ (6. 1. 2013). 12 In Deutschland wurden derartige Bestimmungen schon an den Verwaltungsgerichtshöfen erfolgreich bekämpft. Vgl. zur Anfechtung der Bestimmung der Stadt Freiburg im Breisgau Thun, Zur

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Die Vereinbarkeit solcher Regelungen mit der verfassungsrechtlichen Rahmenordnung ist alles andere als gesichert und so wird letztendlich auch diese Thematik einer Klärung durch den Verfassungsgerichtshof bedürfen.13 Ein Blick über die Grenzen nach Deutschland zeigt, dass die Kommunen dort mittlerweile weg von einem Verbot des Alkoholkonsums an sich gehen. Dies unter der Prämisse, der bisherigen Rechtsprechung entgehen zu können, die den öffentlichen Alkohol­genuss als solchen beziehungsweise das Sich-Niederlassen zum Zwecke desselbigen für sich genommen als kein ordnungsrechtlich relevantes Verhalten qualifiziert hat. Daher wird der Alkoholgenuss oft mittelbar für unzulässig erklärt, da die Verbotsnormen meist allgemein an die im Einzelfall denkbaren „störenden“ Begleiterscheinungen des Alkoholkonsums an­knüpfen. So haben die deutschen Gesetzgeber z. B. das „Stören der öffentlichen Ordnung durch das Verweilen im Zustand der deutlichen Trunkenheit“ oder das „Belästigen anderer durch trunkenheits- oder rauschbedingtes Verhalten“ untersagt.14 Eine weitere Exklusion bestimmter Personengruppen aus dem öffentlichen Raum findet in Graz durch die Straßenmusikverordnung statt, welche der Grazer Armenpfarrer Pucher als „Antiziganismus“ kritisiert, da diese vor allem jene Roma betreffe, welche auf Grund des Bettelverbotes nun musizieren.15 Nach geltender Rechtslage ist nunmehr das Spielen mit maximal fünf Personen erlaubt, bei einem Mindestalter von 15 Jahren. Weiters ist das Vortragen nur zu bestimmten Zeiten erlaubt und es gelten einzuhaltende Mindestabstände von fünf Metern zu Hauseingängen, Geschäftseingängen und gewerblich benutzten Straßen­flächen sowie ein Mindestabstand von 50 Metern zu anderen Straßenmusikern sowie Schulen und Kirchen. Gespielt werden darf an einem Ort maximal für die Dauer von 30 Minuten. Danach muss ein Ortswechsel von mindestens 100 Metern erfolgen. Der bisherige Spielort darf 30 Minuten lang nicht mehr benutzt werden. Vor dem Auftritt müssen sich Musiker Platzkarten besorgen, welche pro Person maximal an drei Wochentagen ausgehändigt werden dürfen.16

Rechtswidrigkeit kommunaler „Randgruppenvertreibung“ durch Alkoholverbote im öffentlichen Raum, Juridikum 2011, 92. 13 Vgl. Bezemek/Fuchs, Alkoholverbote: Rote Linie, roter Faden, in „Die Presse“,7. 5. 2012, http://diepresse.com/home/recht/rechtallgemein/755334/Alkoholverbot_Rote-Linie-roter-Faden (3. 1. 2013). 14 Vgl. Finger, Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung im urbanen Raum. Zur Renaissance der „öffentlichen Ordnung“ im Kampf gegen aggressive Bettelei, öffentliche Trinkgelage und ähnliche Nutzungsformen des innerstädtischen Raums, in Die Verwaltung 40/2007, 105 (116 f ). 15 Vgl. Schmidt, Grazer Armenpfarrer: „Für mich ist das klar Antiziganismus“, in „Der Standard“, 6. 7. 2012, 10. 16 Vgl. Verordnung des Gemeinderates der Landeshauptstadt Graz vom 5. 7. 2012 betreffend die Darbietung von Straßenmusik (Grazer Straßenmusikverordnung 2012).



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Unter Berücksichtigung des örtlichen Geltungsbereiches ist diese Regelung eine starke Einschränkung. Das Musizieren in der Grazer Innenstadt wird dadurch enorm erschwert. Ist Straßenmusik etwa so bedrohlich oder lästig, dass es einer solch restriktiven Einschränkung bedarf? Natürlich gehen die Meinungen über die Qualität der gespielten Musik auseinander, aber lässt sich über Geschmack nicht immer leicht streiten? Wenn man allerdings die Qualität wirklich als Hauptkritikpunkt aufnimmt, dann geht eine solche Verbotspolitik in die vollkommen falsche Richtung. Guten Musikern, und Graz beherbergt immerhin eine Kunst­ universität, deren Musikstudenten/-innen sich teilweise ein Zubrot mit Straßenmusik verdienen, muss eine Plattform gegeben werden, damit sie sich willkommen fühlen. Verbote und strenge Reglementierungen vertreiben jene Musiker. In Graz, einer Stadt, die sich mit dem Festival „La Strada“ rühmt, welches sich der Straßenkunst verschrieben hat, ist es wahrlich keine Leistung, Straßenmusik, wenn sie nicht gerade während des Festivals gezeigt wird, derart streng zu reglementieren. Eine Stadt braucht Flair, soll nicht steril wirken und da gehört nun auch ein gewisser Klang dazu. Erfreut über die verschärfte Regelung zeigen sich die Geschäftsleute,17 dies verdeutlicht einmal mehr, welche Klasse den Kampf um den öffentlichen Raum für sich entscheidet. Im öffentlichen Raum sollte allerdings die jederzeitige, uneingeschränkte Zugänglich­keit für alle Bewohner/-innen und Besucher/-innen der Stadt gewährleistet sein. Eine Benutzung muss im Rahmen der gesetzlichen Regelungen des Gemeingebrauchs ohne Eintrittspreis oder Nutzungsentgelt möglich sein.18 Wobei der Gemeingebrauch dort seine Grenzen zu finden hat, wo entweder die Sache Schaden nimmt oder die Gemeinver­träglichkeit, also die den Gebrauch anderer nicht beeinträchtigende Nutzung, nicht mehr gegeben ist. Problematisch kann auch die großzügige Genehmigung von Sondernutzungen sein. Öffentliche Flächen, die zur Sondernutzung für Biergärten und Terrassen vergeben werden, schränken allgemein nutzbare Flächen ein und machen sie nur mehr für Konsumenten/-innen und Kunden/-innen nutzbar. Diese fortschreitende Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes führt im Endeffekt zu einer Qualitäts­veränderung, da vormals allgemein nutzbare Flächen in ihrer Zugänglichkeit auf Kunden und Konsumenten eingeschränkt werden.

17 Vgl. Bast u. a., Wenn die Musik in den Ohren zur ewigen Leier wird, in „Kleine Zeitung“, 6. 7. 2012, http://www.kleinezeitung.at/steiermark/leoben/3060788/wenn-musik-den-ohren-zur-ewigen-leier. story (6. 1. 2013). 18 Vgl. Reiß-Schmidt, Der öffentliche Raum: Traum, Wirklichkeit, Perspektiven, http://www.urbanauten.de/reiss_schmidt.pdf (6. 1. 2013).

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Die Bettelthematik Vorbemerkungen Die Bettelthematik ist zwar nicht neu, aber überaus aktuell. Bettelnde Menschen werden seit dem späten Mittelalter schon immer als „Problem“ empfunden, welches einer Regelung bedarf. So ist zum Beispiel für Wien bereits eine Bettelordnung aus dem Jahr 1443 belegt, die zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Bettlern/-innen unterschied und daran die Befugnis, betteln zu dürfen, knüpfte.19 In geringem Unterschied dazu steht die aktuelle Debatte, welche Arten des Bettelns erlaubt sein sollen oder nicht. Eine Wertung erfolgt hier ebenso wie vor mehr als 500 Jahren, allerdings nach unterschiedlichen Kriterien. Früher war entscheidend, ob die Bettler „starkch lewt“ waren, welche arbeiten konnten oder sonst über den notwendigen Lebensunterhalt verfügten, heute ist die Art und Weise, wie sie nach Almosen bitten – oder ob sie sich dazu organisieren –, maßgeblich.20 Im Gegensatz zum heute vorherrschenden „Konsumismus“, welcher christliche Werte auch bei Christen immer öfter in Vergessenheit geraten lässt, herrschte im mittelalterlichen Denken die kirchliche Almosenlehre vor. Neben dem Beten und Fasten war auch die Gabe von Almosen eine Möglichkeit, Buße für begangene Sünden zu tun. Bettler galten daher während dieser Zeit als integraler und gottgewollter Bestandteil der Gesellschaft, welcher den Almosenspendern/-innen die Möglichkeit bot, durch Spenden ihr Seelenheil zu fördern.21 Erst gegen Ende des Mittelalters und Beginn der Neuzeit begannen viele Städte, einhergehend mit dem sich einstellenden Wohlstand, Bettelordnungen zu erlassen. Es kam zu einer Differenzierung in würdige (einheimische, arbeitsunfähige) und unwürdige (fremde, arbeitsfähige) Bettler/-innen, wobei Letztgenannte zunehmend an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.22 Im Jahr 1885 wurde die Thematik des Bettelns durch das Zwangsarbeitsgesetz23 geregelt, welches die Vorgehensweise gegen Landstreicher, Bettler/-innen und arbeitsfähige Personen, welche kein Einkommen und keinen erlaubten Erwerb hatten, bestimmte. Dort hieß es in § 2: „Wegen Bettelns ist zu bestrafen: 1. Wer 19 Vgl. Csendes, Die Rechtsquellen der Stadt Wien (1986) 219 ff. 20 Vgl. Bräuer, „[…] und hat seithero gebetlet“. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich während der Zeit Kaiser Leopolds I. (1996) FN 8. 21 Vgl. Scherpner, Theorie der Fürsorge2 (1974) 25. 22 Vgl. Pichlkastner, „ze petln und almusen ze nehmen“ – Ein Querschnitt durch die Geschichte des Bettel(n)s in Wien, Juridicum 2011, 71 (74). 23 Gesetz vom 24. Mai 1885, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten getroffen werden, RGBl. 1885/89.



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an öffentlichen Orten oder von Haus zu Haus bettelt oder aus Arbeitsscheu die öffentliche Mildthätigkeit in Anspruch nimmt. 2. Wer Unmündige zum Bettel verleitet, ausschickt oder Anderen überläßt.“ Die Strafe war strenger Arrest von acht Tagen bis zu drei Monaten. Auch nach dem 2. Weltkrieg behielt dieses Gesetz seine Gültigkeit und wurde erst mit dem Strafrechtsanpassungsgesetz 197424 durch Art. XI Abs. 2 Z 8 mit Ablauf des 31. Dezembers 1974 aufgehoben. Den Materialien ist hier zu entnehmen, dass das Betteln aus dem Strafrecht genommen wurde, da „bloße Ordnungs­widrigkeiten sowie Gefährdungsdelikte geringen Unrechtsgehaltes zumal dann, wenn ihre Verfolgung im engen Zusammenhang mit einer Verwaltungstätigkeit steht, der verwaltungs­behördlichen Ahndung vorbehalten bleiben sollen“.25 Als Reaktion auf die Strafrechtsnovelle nahmen einige Länder Bettelverbote in ihre Landesgesetze auf.26 Dass diese Vorgehensweisen gegen Bettler nicht ohne Widerhall vonstattengingen, zeigen die Ausführungen des Schweizer Sozialwissenschaftlers J. J. Vogt aus dem Jahr 1854: „Wir fragen, welche Grenze man Mensch gegen Mensch zwischen den Lustreisen vornehmer Personen und dem Umherziehen armseliger Bettler ziehen sollte. Wo ist der Jurist, der angesichts göttlicher Gleichheitsprinzipien hier irgend ein Strafrecht zu begründen vermag? Die freie Bewegung ohne die Verletzung der Rechte Dritter ist eine Konsequenz des Rechts auf den Genuß der Selbstständigkeit, folglich unantastbar, und man wollte sie dennoch als strafbar erklären?“27 In jüngster Zeit hat die Kriminalisierung des Bettelns erneut einen Aufschwung genommen. Mediale Berichterstattungen und große Teile der politischen Landschaft Österreichs versuchen den Bürgern/-innen zu vermitteln, dass ein enormes Bettlerproblem vorliege und das Land von organisierten Bettlerbanden aus dem Osten überschwemmt werde. Dabei wird auf der einen Seite behauptet, dass es organisiertes Betteln gebe und die Hinter­männer in Schlössern in Osteuropa säßen, während für denselben Bereich vonseiten der Polizei festgehalten wird, dass organisiertes Betteln nur in der Form der gemeinsamen Anreise existiere. Kriminelle Banden gebe es keine.28 24 Bundesgesetz vom 11. Juli 1974 über die Anpassung von Bundesgesetzen an das Strafgesetzbuch (Strafrechtsanpassungsgesetz) BGBl. 1974/422. 25 JAB 1236 BlgNR 13. GP 4. 26 Salzburg: § 3b Gesetz vom 25. Oktober 1978, mit dem das Salzburger Landes-Polizeigesetz geändert wird LGBl. 1979/13; Tirol: § 10 Gesetz vom 6. Juli 1976 zur Regelung bestimmter polizeilicher Angelegenheiten (Landes-Polizeigesetz) LGBl. 1976/60. 27 Vogt, Das Armenwesen und die diesfälligen Staatsanstalten. Letztere mit besonderer Berücksichtigung der Zwangsarbeitsanstalt II (1854) 215, zitiert nach Bindzus/Lange, Ist Betteln rechtswidrig? – Ein historischer Abriß mit Ausblick, JuS 1996/06, 482 ff. 28 LH Voves, in „Kleine Zeitung“, 23. 5. 2010, 8, bzw. der Grazer Stadtpolizei-Kommandant Kemeter, in „Kleine Zeitung“, 23. 6. 2009, 16.

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Es scheint, dass Elend für unsere Gesellschaft, wenn es nicht an anderen Orten der Welt vorkommt und man seinen Seelenfrieden durch eine Spende an „Licht ins Dunkel“ oder Ähnliches finden kann, so unerträglich geworden ist, dass uns eine Vertreibung, und nicht die Hilfe, als unerlässlich erscheint. Während sich in einer Umfrage aus dem Jahr 200429 in Graz noch 24 Prozent der Befragten für ein Bettelverbot aussprachen, so waren es 201030 bereits knapp 70 Prozent. Was verstört uns beim Anblick von Bettlern/-innen so, dass wir sie am liebsten verschwinden lassen würden? Ist es die extreme Ungleichheit unserer Wohl­ standsgesellschaft, die uns dadurch vor Augen geführt wird und vor der wir selbige lieber verschließen? So wurde Unbarmherzigkeit in Wien quasi amtlich befohlen, als in der U-Bahn Durchsagen geschaltet wurden, die Fahrgäste aufforderten, Bettlern kein Geld zu geben.31 Vergessen werden dabei christliche Pflichten wie Nächstenliebe, die im Mittelalter wie auch in heutiger Zeit eigentlich in selber Art und Weise gelten sollten. Aber nicht genug, dass wir in unserer Gesellschaft oft Unbarmherzigkeit zeigen, wir suhlen uns auch noch in Selbst­gerechtigkeit, indem wir das, was wir nicht sehen wollen, einfach kriminalisieren und Bettler undifferenziert Verbrechern gleichsetzen. Der Reiche habe die Verpflichtung, allen Überfluss in Form von Almosen abzugeben, denn Besitz sei nur zur Verwirklichung des Gemeinwohls legitim, meinte der katholische Kirchenlehrer Thomas von Aquin dazu im 13. Jahrhundert.32 Rechtliche Bedenken gegen Bettelverbote Da selbstverständlich nicht alle Bevölkerungsteile eine solche Verbots- und Aus­ grenzungspolitik unterstützen, wurde vielerorts versucht, die Bettelverbotsregelungen vor dem Höchstgericht zu Fall zu bringen. Es bildeten sich dabei ungewöhnliche Interessen­koalitionen. Katholische Pfarrer und Laienorganisationen sowie Grüne und Kommunisten zusammen mit Teilen der Großparteien,33 welche der Parteilinie nicht blind folgten, machten gegen die Verbote mobil.34 Es folgten Be29 Vgl. Pegh, Verstimmte Töne gegen bettelnde Kindermusiker, in „Kleine Zeitung“, 5. 5. 2004, 24. 30 Vgl. Hecke, Graz sagt Ja zum Bettelverbot, in „Kleine Zeitung“ G7, 5. 12. 2010, 6. 31 Vgl. Coudenhove-Kalergi, Shoppen ohne Lazarus, in „Der Standard“ 30. 3. 2010, 27. 32 Vgl. z. B. Müller, Vom Almosen zum Spendenmarkt: sozialethische Aspekte christlicher Spendenkultur (2005) 130 ff. 33 Während die SPÖ in Wien, Salzburg und der Steiermark federführend bei der Erlassung der Bettelverbote beteiligt war, erhoben die sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten zusammen mit jenen der Grünen Verfassungsgerichtshofbeschwerde bezüglich der Kärntner Regelung. 34 Vgl. Schmidt, Breiter Widerstand gegen steirisches Bettelverbot, in „Der Standard“, 9. 2. 2011, 10; Höfler, Katholik neben Kommunist: Nein zum Bettelverbot, in „Die Presse“, 14. 2. 2011, http://diepresse.com/ home/panorama/oesterreich/634051/Katholik-neben-Kommunist_Nein-zum-Bettelverbot (6. 1. 2013).



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schwerden an den Verfassungsgerichtshof betreffend die Regelungen in Salzburg, Oberösterreich, Kärnten, Wien und der Steiermark. Die Hauptargumentationslinien, die aus den Beschwerden zu erkennen sind, werden in Folge kurz dargestellt. Kompetenzwidrigkeit der Erlassung von Bettelverboten auf Landesebene Aus kompetenzrechtlicher Sicht wurde vorgebracht, dass die Erlassung von Bettel­ verboten in den Bereich der allgemeinen Sicherheitspolizei fallen würde und damit dem Bund (Art. 10 Abs. 1 Z 7 B-VG) zukommen müsste. Eine Stützung auf den Aufgabenbereich der örtlichen Sicherheitspolizei (Art. 15 Abs. 2 B-VG) sei daher kompetenzrechtlich unzulässig. Angelehnt wurde die Argumentation an die verfassungsgerichtliche Aufhebung der landes­gesetzlichen Pönalisierung der Landstreicherei in Salzburg in den späten 70er- und frühen 1980er-Jahren. Der Verfassungsgerichtshof35 erkannte hierbei, dass die seinerzeitige Bestimmung verfassungswidrig war, da es sich schon rein begrifflich bei der Abwehr allge­meiner Gefahren, die von Personen ausgehen, die weder einen bestimmten Wohnsitz noch die Mittel für ihren Unterhalt besitzen und weder ein Gewerbe noch einen Beruf gewerbsmäßig ausüben, nicht um eine Angelegenheit handeln kann, die im ausschließlichen oder über­wiegenden Interesse einer Gemeinde gelegen ist. Behauptet wurde nun, dass all jene Argu­mente, welche zur Aufhebung des Landstreichereiparagrafen herangezogen worden waren, auch in genau der gleichen Weise auf die Betteleiregelungen zutreffen würden und diese daher ebenso als verfassungswidrig aufzuheben seien.36 Nach der Eliminierung des Bettelns als Straftatbestand aus dem Katalog gerichtlich strafbarer Handlungen in den 1970erJahren wurde damals auch von einem Teil der Lehre der Standpunkt vertreten, dass „[…] die Länder mangels bundesverfassungsgesetzlicher Kompetenz nicht befugt [sind], Liberalisierungs­maßnahmen auf dem Gebiet der Strafgerichtsbarkeit durch Polizeimaßnahmen rückgängig zu machen. Dies gilt für […] Landstreicherei oder Bettel“.37 Das Recht auf Achtung des Privatlebens Hinsichtlich des Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, welches durch Art. 8 EMRK als Jedermannsrecht geschützt ist, wurde ein nicht zu rechtfertigender Eingriff gesehen. Dieses Grundrecht umfasst das Recht, die eigene Persönlichkeit zu finden, zu entfalten und zu verändern, gewährleistet aber 35 VfGH 11. 12. 1986, G5-6/86. 36 Z.  B. VfGH 30.  6.  2012, G132/11 (Oberösterreich); VfGH 30.  6.  2012, G118/11 (Kärnten); VfGH 12. 10. 2012 G134/10–17 (Wien). 37 Nowak, Sicherheitsgesetze der österreichischen Bundesländer, ÖZP 1979, 440 FN 3.

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auch einen Schutz der einzigartigen Persönlichkeit eines Menschen in seiner physischen, seelischen und geistigen Existenz.38 Es schließt die freie Gestaltung der Lebensführung und des daraus erwachsenen Lebensstils ein sowie die persönliche Entwicklung, welche unter Umständen auch die Berufswahl umfassen kann. Hierbei ist aber zu beachten, dass nicht jedes menschliche Handeln zugleich eine iSd Art. 8 EMRK geschützte Ausdrucksform der Persönlichkeit ist.39 Die Argumentationslinien liefen in die Richtung, dass es im Sinne einer Gewähr­leistung eines selbstbestimmten Lebens einer Person freigestellt sein müsse, für sich zu entscheiden, ob man betteln wolle oder nicht. Betteln sei in vielen Fällen der einzige Weg, durch den man für sich und seine Familie das für die Bestreitung des Lebensunterhaltes Notwendige bekommt, was unabdingbare materielle Voraussetzung dafür ist, das eigene Familienleben frei zu gestalten. Das Recht der freien Gestaltung der persönlichen Lebens­führung inkludiere das Recht darauf, den für sich und seine Familie notwendigen Lebens­unterhalt durch Betteln zu beschaffen, weil das den betroffenen Menschen auf andere Weise nicht möglich sei. Bei der Frage, ob ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das Grundrecht vorliegt, müsse man nach der Art des Bettelns differenzieren und dabei zum Schluss kommen, dass zumindest das Verbot des stillen Bettelns keinem zwingenden sozialen Bedürfnis entspreche und daher nicht zu rechtfertigen sei. Diese Art des Bettelns sei ein stiller Appell an die Hilfsbereitschaft und die Solidarität von Menschen, deren Freiheit, sich hilfsbereit zu zeigen oder nicht, dadurch in keinerlei Weise beeinträchtigt werde. So ergebe eine Abwägung zwischen dem grundrechtlichen Eingriff durch das Verbot stillen Bettelns einerseits und den im öffentlichen Interesse liegenden Zielen des Art. 8 Abs. 2 EMRK beziehungsweise deren etwaiger Beeinträchtigung durch stilles Betteln andererseits einen unverhältnismäßigen Eingriff.40 Das Recht auf Meinungsfreiheit Die in Art 10 EMRK, Art. 13 StGG festgelegte Meinungsfreiheit, welche sowohl eine Meinungsbildungs- als auch eine Meinungsäußerungsfreiheit umfasst, wurde in den Argu­mentationen ebenfalls herangezogen. Diese liefen darauf hinaus, dass Betteln im Kern als nichts anderes als eine Äußerung über die Tatsache, dass jemand bedürftig sei, anzusehen ist und daher eine Kommunikation mit der Umwelt über die eigene persönliche Notlage stattfinde. Um grundrechtlichen Schutz zu genießen, müsse eine solche Kommunikation dabei nicht auf eine verbale Form beschränkt 38 Vgl. Wiederin in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg (2002) Art. 8 EMRK Rz 33. 39 Vgl. Öhlinger, Verfassungsrecht9 (2012) Rz 812, 814. 40 ZB VfGH 30. 6. 2012, G155/10 (Salzburg); VfGH 30. 6. 2012, G118/11 (Kärnten).



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sein. Auch stilles Betteln, mit meist körper­sprachlicher Artikulation, könne daher als Äußerung einer Tatsache, nämlich der eigenen Bedürftigkeit gewertet werden. Herangezogen wurde ein Vergleich zur kommerziellen Werbung, welche nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs unter den Begriff der Meinungsfreiheit fällt. So wie bei kommerzieller Werbung stehen daher auch dem stillen Betteln Rezipienten gegenüber und die Äußerung sei darauf gerichtet, nicht nur zu informieren, sondern auch ein Verhalten, nämlich das Geben von Almosen, zu unterstützen.41 Auch in der Lehre fand dies Zustimmung: so argumentiert z. B. Bezemek, dass unter Zugrunde­legung eines offenen Kommunikationsbegriffs alle Erscheinungsformen der Bettelei, von symbolischen Gesten der Hilfsbedürftigkeit bis hin zu kritischen sozialpolitischen Äußerungen vom Schutzbereich umfasst seien.42 Der Gleichheitsgrundsatz Vorgebracht wurde, dass eine Regelung, die sowohl das stille als auch qualitativ andere Formen des Bettelns ohne jegliche Differenzierungen verbiete (also generelle beziehungsweise faktisch generelle Bettelverbote), mit dem Sachlichkeitsgebot des Art. 7 B-VG nicht vereinbar sei. Notwendige sachliche Differenzierungen zwischen den vollkommen unterschiedlichen Formen des Bettelns (stilles Betteln, aggressives Betteln etc.) seien unterblieben, die Regelungen daher aufgrund Unsachlichkeit aufzuheben.43 Weitere vorgebrachte grundrechtliche Bedenken Kurz erwähnt seien an dieser Stelle weitere vorgebrachte Verfassungswidrigkeiten: Unter Berufung auf das Grundrecht der Freiheit der Erwerbstätigkeit gem. Art. 6 StGG wurde geltend gemacht, dass ein undifferenziertes Verbot jeglicher Bettelei weder erforderlich noch angemessen sei und daher ein ungerechtfertigter Grundrechtseingriff vorliege. Durch Art. 6 StGG sei nämlich jede Erwerbstätigkeit geschützt, die auf wirtschaftlichen Erfolg, also auf jede Art von Vermögen gerichtet ist. Verwiesen wurde hierbei auf eine Entscheidung des deutschen Verwaltungsgerichts Baden-Württemberg,44 mit der ein von der Stadt Stuttgart 41 ZB VfGH 30. 6. 2012, G155/10 (Salzburg). 42 Vgl. Bezemek, Einen Schilling zum Telefonieren. Bettelverbote im Lichte freier Meinungsäußerung, JRP 2011, 279 (285). 43 Z. B. VfGH 30. 6. 2012, G155/10 (Salzburg); VfGH 12. 10. 2012, G134/10-17 (Wien). 44 Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg 6. 7. 1998, 1 S 2630/97. Die Aufhebung des generellen Bettelverbotes in Stuttgart basierte allerdings nicht auf einem Verstoß gegen die Erwerbsfreiheit, sondern wurde damit begründet, dass es für ein generelles Bettelverbot keine gesetzliche Grundlage gebe, da „stilles“ Betteln weder nach dem deutschen StGB noch nach dem deutschen Ordnungswidrigkeitengesetz strafbar sei.

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verhängtes generelles Bettelverbot aufgehoben wurde.45 Auch wurden Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 18 Abs. 1 B-VG, Art. 7 Abs. 1 EMRK) vorgebracht, da nach den in den Bestimmungen formulierten Tatbildern keine präzise Grenze absehbar sei, wann Bettelverhalten strafbar ist und wann nicht. Insbe­ sondere wurde argumentiert, dass durch die Unterstrafstellung des Versuchs in § 1a Abs. 4 OÖ PolStrG die Grenzen zwischen erlaubtem und nicht erlaubtem Betteln vollends verwischt würden.46 Im Verfahren zum Bettelverbot in der Steiermark wurde vorgebracht, dass ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot vorläge, da der Begriff des „öffentlichen Ortes“ mehrdeutig sei und es für einen Bettler nicht ausreichend vorhersehbar sei, unter welchen Bedingungen er mit einer Bestrafung zu rechnen hätte.47 Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs bezüglich der Länder Salzburg, Oberösterreich, Kärnten, Wien und der Steiermark Der Verfassungsgerichtshof zeigte sich im Sommer 2012 überaus aktiv und sorgte für einige Klarstellungen auf dem Gebiet der Bettelverbote. So ergingen Ende Juni 2012 Entscheidungen hinsichtlich der Bundesländer Salzburg48, Kärnten49 und Oberösterreich50, im Oktober erfolgte die Entscheidung bezüglich Wiens51, und Ende des Jahres folgte jene zur Steiermark52. VfGH 30. 6. 2012, G155/10 – Salzburg Von besonderer Bedeutung ist die Entscheidung zur Regelung in Salzburg, welche das dort geltende generelle Bettelverbot aufhob. Die angefochtene Regelung, festgelegt in § 29 Salzburger Landessicherheitsgesetz besagte: „(1) Wer an einem öffentlichen Ort oder von Haus zu Haus von fremden Personen unter Berufung auf wirkliche oder angebliche Bedürftigkeit zu eigennützigen Zwecken Geld oder geldwerte Sachen für sich oder andere erbittet, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 500 € und für den Fall der Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu einer Woche zu bestrafen. (2) Bei Vorliegen von Erschwerungsgründen kann auch der Verfall des Erbettelten oder daraus Erlösten ausgesprochen 45 Z. B. VfGH 30. 6. 2012, G118/11 (Kärnten). 46 Vgl. VfGH 30. 6. 2012, G132/11 (Oberösterreich). 47 Vgl. VfGH 6. 12. 2012, G64/11 (Steiermark). 48 VfGH 30. 6. 2012, G155/10. 49 VfGH 30. 6. 2012, G118/11. 50 VfGH 30. 6. 2012, G132/11. 51 VfGH 12. 10. 2012 G134/10-17. 52 VfGH 6. 12. 2012 G64/11.



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werden.“53 Der Verfassungsgerichtshof entschied, dass die Regelung verfassungswidrig sei, da mangels Differenzierung zwischen sozial unschädlichem und etwaigem sozial schädlichem Betteln gegen das Sachlichkeitsverbot verstoßen wurde, und folgte damit dem Vorbringen des Antragstellers. Für eine Gleichbehandlung solcher im Wesen vollkommen unter­schiedlichen Erscheinungsformen des Bettelns fehlte es dem Verfassungsgerichtshof an einer sachlichen Rechtfertigung. Des Weiteren konstatierte er auch einen verfassungswidrigen Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung. Hierbei begründete er, dass die sich daraus ergebende Kommunikationsfreiheit sich nicht nur durch sprachliche, sondern auch durch andere Formen der Kommunikation wie Symbole, künstlerische Ausdrucksformen oder sonstige Verhaltensweisen ausdrücken kann, insoweit diesen gegenüber Dritten ein kommunikativer Gehalt zukommt. Die vom Land Salzburg zur Rechtfertigung des Eingriffs vorgebrachte Aufrechterhaltung der Ordnung und der Schutz der Rechte anderer vermochte nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs nicht auch das Verbot stiller Formen der Bettelei zu rechtfertigen. Die landesgesetzliche Regelung von bestimmten das Gemeinschaftsleben störenden beziehungsweise zum Schutz von Personengruppen gebotenen Bettelformen, wie dem aggressiven und organisierten Betteln oder dem Betteln mit Kindern, sah der Verfassungsgerichtshof aber als verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden an. Hinsichtlich des Eingriffs in Art. 8 EMRK, stellte der Verfassungsgerichtshof fest, dass sich aus der bisherigen Rechtsprechung des EGMR, welche seiner Ansicht nach keineswegs ein mit Art. 18 StGG vergleichbares Recht auf Berufsfreiheit statuiert, kein Recht darauf ableiten ließe, Bettelei als Beruf oder Erwerbszweig zu wählen. Bettelei stelle keine Teilnahme am Wirtschaftsleben dar, wie sie in den bisherigen Entscheidungen des EGMR Voraussetzung für die Anwendung von Art. 8 EMRK war. Das ebenfalls unter den Schutzbereich fallende Recht auf freie Gestaltung der Lebensführung ist laut Verfassungs­gerichtshof nicht berührt, da Bettelei, die im Kern die Behebung oder Linderung einer persönlichen Notlage bezweckt, nicht als Ausdrucksform eines individuellen Lebensstils iSd Art. 8 EMRK angesehen werden könne. Ein Eingriff wurde folglich nicht festgestellt. VfGH 30. 6. 2012, G132/11 – Oberösterreich Die Regelungen in Oberösterreich befand der Verfassungsgerichtshof im Gegensatz zu der in Salzburg für verfassungskonform. Diese sieht in § 1a Oberösterreichisches Polizei­strafgesetz54 kein generelles Bettelverbot, sondern ein Ver53 § 29 Salzburger Landessicherheitsgesetz – S.LSG, LGBl. 2009/57 idF 2011/56. 54 Gesetz vom 21. März 1979 über polizeirechtliche Angelegenheiten (Oö. Polizeistrafgesetz – Oö. PolStG.), LGBl. 1979/36 idF 2012/80.

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bot aggressiven, aufdringlichen oder organisierten Bettelns vor, wobei auch der Versuch unter Verwaltungsstrafe gestellt ist. In der Beschwerde geltend gemacht wurde hier im Unterschied zu Salzburg ein Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung. Der Verfassungsgerichtshof teilte diese Ansicht allerdings nicht und stellte klar, dass es dem Landesgesetzgeber zustehe, Regelungen betreffend unerwünschter Erscheinungsformen des Bettelns auf Basis des Kompetenz­ tatbestandes des Art. 15 Abs. 2 B-VG als Angelegenheit der örtlichen Sicherheits­ polizei zu erlassen. Es handle sich bei Regelungen, die spezifisch die örtliche Gemeinschaft störenden Formen der Bettelei verbieten, um keine Angelegenheiten, die – von Angelegenheiten des Strafrechtswesens iSd Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG abgesehen – der Bundesgesetzgeber zu regeln befugt sei. Des Weiteren wurden Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot sowie Art. 6 StGG und Art. 8 EMRK geltend gemacht. Der Verfassungsgerichtshof erkannte dabei weder einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot noch gegen Art. 8 EMRK, wo er ähnlich wie in der Entscheidung zu Salzburg argumentierte. Zum vorgebrachten Verstoß gegen die Erwerbs­freiheit stellt er fest, dass die Bettelei eine Methode darstellen kann, sich als Bedürftiger eine fortlaufende Einnahmequelle zu verschaffen, dies aber nicht ausreiche, den grundrechtlichen Schutz als Erwerbszweig zu begründen. Der Verfassungsgerichtshof vertritt dabei den Stand­punkt, dass Bettelei keinen Beruf und keine in den Schutzbereich von Art. 6 StGG fallende Erwerbstätigkeit darstelle. VfGH 30. 6. 2012, G118/11 – Kärnten Die Beschwerde gegen die Kärntner Regelungen, welche ebenfalls abgewiesen wurde, ähnelte in den grund- und kompetenzrechtlichen Anfechtungsgründen jener der beiden zuvor behandelten. Es soll daher im Wesentlichen bei einem Verweis auf die vorherigen Aus­führungen verbleiben. Hinsichtlich eines Punktes stellt sich die Kärntner Anfechtung aller­dings als besonders dar. Die angefochtene Regelung55 enthält nämlich unter anderem ein Verbot des „gewerbsmäßigen“ Bettelns. Hierbei wurde argumentiert, dass die Aufnahme des Tatbestandes „gewerbsmäßig“ faktisch ein generelles Bettelverbot festlegen würde, da ein solches Verbot zur Folge hätte, dass absolut jede Form der Bettelei, auch das sogenannte passive/stille Betteln in Kärnten unter Strafe gestellt wäre. Ein nicht gewerbsmäßiges Betteln sei rein begrifflich nicht denkbar. Diesen Einwand würdigte der Verfassungsgerichtshof allerdings keiner ausführlichen Prüfung, da seiner Ansicht nach kein generelles Bettelverbot bewirkt werden könne, da in § 27 Abs. 3 K-LSiG expressis verbis das 55 §  27 Gesetz über Angelegenheiten der Ortspolizei und die Bestellung von Aufsichtsorganen der Gemeinden (Kärntner Landessicherheitsgesetz – K-LSiG), LGBl. 1977/74 idF LGBl. 2012/89.



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stille Betteln vom Verbotstatbestand ausgenommen ist. Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Tatbestand des „gewerbsmäßigen“ Bettelns unterblieb daher. VfGH 12. 10. 2012, G134/10-17 – Wien Ähnlich der Kärntner Regelung ist auch in Wien der Verbotstatbestand des gewerbsmäßigen Bettelns in der Regelung enthalten,56 hier aber ohne die explizite Ausnahme des stillen Bettelns. Man konnte daher der Hoffnung sein, dass der Verfassungsgerichtshof für eine Klarstellung sorgen würde. Argumentiert wurde wie in Kärnten, dass ein nicht gewerbsmäßiges Betteln rein begrifflich nicht denkbar sei, weil Bettelei ja stets erfolge, um das (Über-)Leben des Bettelnden zu sichern. Ein Betteln, das nicht in der Absicht erfolgt, sich eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, stelle nach dem allgemeinen Sprachgebrauch kein Betteln dar. Es kam hier aber zu keiner Entscheidung, da der Verfassungsgerichtshof den Antrag mangels Legitimation zurückwies. Er führte aber aus, dass der Landesgesetzgeber aufgrund der den Materialien zu entnehmenden Informationen kein generelles Bettelverbot festlegen wollte. Der Verfassungsgerichtshof interpretiert die Materialien hier so, dass offen­bar gezielt gegen Personen vorgegangen werden sollte, die Wien offensichtlich organisiert und ausschließlich deshalb aufsuchen, um zu betteln und sich auf diese Weise eine fortlaufende Einnahmequelle zu verschaffen.57 Der Verfassungsgerichtshof konstatierte, dass der Wiener Landesgesetzgeber durch die Einbeziehung des gewerbsmäßigen Bettelns neben dem aufdringlichen oder dem organisierten Betteln nur eine weitere unerwünschte Erscheinungsform des Bettelns verbieten wollte. Dies normiere aber kein generelles Bettel­verbot, sondern bloß eine weitere qualifizierte Form der Bettelei, da zumindest die stille Bettelei zur Überbrückung einer Notlage weiterhin erlaubt sei. VfGH 6. 12. 2012, G64/11 – Steiermark Die Anfechtung der steiermärkischen Regelung58 ähnelte in ihren Punkten sehr jener in Salzburg, da in beiden Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner maßgeblich an deren Verfassung beteiligt war. Bezüglich Art. 8 EMRK sei daher auf die Ausführungen unter 3.3.1. verwiesen. Ebenfalls nicht als erfolgreich zeigte sich der Vorwurf der mangelnden Bestimmtheit, da der Verfassungsgerichtshof bezüglich des 56 §  2 Gesetz, mit dem Bestimmungen zum Schutz vor Beeinträchtigungen des örtlichen Gemeinschaftslebens erlassen werden, und das Gesetz, mit dem der Bundespolizeidirektion Wien die Mitwirkung an der Vollziehung bestimmter ortspolizeilicher Verordnungen übertragen wird, geändert wird (Wiener Landes-Sicherheitsgesetz – WLSG), LGBl. 1993/51 idF 2010/25. 57 Vgl. IA LG-00851-2010/001-KSP/LAT, 18. GP, 1. 58 § 3a Gesetz vom 18. Jänner 2005, mit dem ein Steiermärkisches Landes Sicherheitsgesetz erlassen wird (StLSG), LGBl. 2005/24 idF 2012/89.

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Begriffes „öffentlicher Ort“ eine Zugänglichkeit der Auslegung im Lichte der gefestigten Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts konstatierte. Bezüglich des Rechts auf Meinungsfreiheit und des Sachlichkeitsgebotes folgte der Verfassungsgerichtshof allerdings dem Vorbringen des Antragstellers und hob die Bestimmung als verfassungswidrig auf. Eine derartige Entscheidung war aufgrund der bereits vorliegenden Judikatur zu erwarten, denn wie das Salzburger Bettelverbot stellte sich auch das steiermärkische als ein generelles dar. Der Unterschied und auch der Hoffnungs­schimmer der Verfechter dieser Regelung war die Ermächtigung der Gemeinden, innerhalb ihres Wirkungsbereiches sogenannte Erlaubniszonen für das Betteln einzurichten. Der Verfassungsgerichtshof vertrat aber die Ansicht, dass die Ermächtigung nicht dazu führe, dass ohne ihr Tätigwerden das generelle Verbot, zu betteln, nicht gelten würde. Angefügt sei hier, dass keine einzige steiermärkische Gemeinde von dieser Möglichkeit Gebrauch machte. Nach der Entscheidung ist vor der Entscheidung Rundschau in Österreich Zusammenfassend ist zu den bereits ergangenen höchstgerichtlichen Entscheidungen festzuhalten, dass der Verfassungsgerichtshof alle Regelungen (das heißt auch solche, welche den unklaren Tatbestand „gewerbsmäßig“ beinhalten) für verfassungskonform hält, solange sie die stille Bettelei zur Überbrückung einer Notlage weiterhin erlauben. Eine Rundschau zu den restlichen Bundesländern zeigt, dass vermutlich auch jene Regelung in Tirol,59 welche ein weitreichendes Bettelverbot beinhaltet, als verfassungswidrig zu qualifizieren ist, da auch hier das stille/passive Betteln mit erfasst ist. Hinsichtlich Vorarlberg ist anzumerken, dass dort zwar kein landesgesetzliches Bettelverbot normiert ist, sich aber die Frage stellt, ob Betteln unter § 1 Vorarlberger Sammlungsgesetz60 zu sub­sumieren wäre, welches öffentliche Sammlungen nur mit behördlicher Bewilligung gestattet. Betteln jeglicher Art ohne behördliche Bewilligung wäre demnach unzulässig, was einem generellen Bettelverbot gleichkäme. Die Vorarlberger Landesregierung äußerte sich diesbe­züglich im Verfahren zur oberösterreichischen Regelung, dass Betteln an öffentlichen Orten als Sammeln von Spenden für sich selbst oder für Dritte anzusehen sei. Demzufolge würde dies dafürsprechen, dass damit ein generelles Bettelverbot vorgesehen ist. Die Vorarlberger Landesregierung erwägt daher bereits eine Novellierung, um ei-

59 § 10 Tiroler Landes-Polizeigesetz, LGBl. 1976/60 idF LGBl. 2012/94. 60 Gesetz zur Regelung öffentlicher Sammlungen, LGBl. 1969/48 idF LGBl. 2001/58.



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nem Rechtsstreit zu entgehen.61 In Niederösterreich ist in § 1a Niederösterreichisches Polizeistrafgesetz62 ein Bettel­verbot festgelegt, das aufdringliches, aggressives, gewerbsmäßiges und organisiertes Betteln sowie Betteln mit Kindern verbietet, was sich anhand der bisherigen Judikatur als zulässig erweist. Lediglich im Burgenland existiert kein landesgesetzliches Bettelverbot.63 Reaktionen der betroffenen Länder und verbliebene Unklarheiten Salzburg Nach der Aufhebung des generellen Bettelverbotes in Salzburg machte sich die Verzweiflung breit und man versuchte schnell eine neue, möglichst weit reichende Regelung zu schaffen. Angeheizt wurde die Stimmung durch die mediale Berichterstattung. Demnach sei nach der Aufhebung – als Folge des rechtlichen Vakuums – eine Bettlerflut über Salzburg hereingebrochen.64 Die neue Regelung,65 welche mit 28. Dezember 2012 in Kraft trat, orientiert sich an § 1a OÖ Polizeistrafgesetz, der immerhin vom Verfassungsgerichtshof bestätigt wurde, aber aufgrund seiner „teilweise sprachlich misslungenen“66 Formulierungen nicht gerade als Vorzeigemodell zu sehen ist. Den Gemeinden wurde darüber hinausgehend die Möglichkeit eingeräumt, durch Verordnung das Betteln an bestimmten öffentlichen Orten gänzlich zu untersagen, wenn durch das Betteln störende Missstände im örtlichen Gemeinschaftsleben zu erwarten sind.67 Den Materialien ist zu entnehmen, dass die Gemeinde per Durchführungsverordnung auch das stille Betteln untersagen kann, wenn es wegen der zu erwartenden Anzahl von Bettlern/-innen und der örtlichen Verhältnisse notwendig ist, um anderen Personen ein ungehindertes Benützen des öffentlichen Orts (im Rahmen deren Rechts auf Gemein­gebrauch) zu gewährleisten, oder sonst einem durch (stilles) Betteln hervorgerufenen Miss­stand auf diese Weise begegnet werden muss. Ob ein Missstand schon besteht oder un­mittelbar einzutreten droht, sei nach den konkreten Verhältnissen in der jeweiligen Gemeinde zu beurteilen.68 61 Vgl. Aichinger/Winroither, Betteln: Was ist verboten? Was ist erlaubt? In „Die Presse“, 11. 1. 2013, 11. 62 Niederösterreichisches Polizeigesetz, LGBl. 4000-0 idF LGBl. 4000-7. 63 In der Landeshauptstadt Eisenstadt existiert allerdings eine ortspolizeiliche Verordnung, die aufdringliches Betteln sowie Betteln mit Kindern als Verwaltungsübertretung sanktioniert. VO des Gemeinderates der Landes­hauptstadt Freistadt Eisenstadt vom 24. 5. 2005. 64 Vgl. N.N., Immer mehr Bettler in Salzburg, in „Kurier“, 17. 9. 2012, 16. 65 § 29 Salzburger Landessicherheitsgesetz – S.LSG, LGBl. 2009/57 idF LGBl. 94/2012. 66 Vgl. VfGH 30. 6. 2012, G132/11; siehe dazu auch Cms/ker/moe, Das Bettelverbot sorgt für Verwirrung bei Höchstrichtern, in „Der Standard“, 10./11. 3. 2012, 11. 67 Vgl. § 29 Abs. 2 S-LSG. 68 Vgl. RV 68 BlgLT 5. GP 14.

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Die Bürgerliste in Salzburg sieht diese Ermächtigung, durch Verordnung auch stilles Betteln zu untersagen, als verfassungswidrig an und verweist auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs zur steiermärkischen Stadtgemeinde Fürstenfeld. Aus dieser könne herausgelesen werden, dass stilles Betteln kein örtlicher Missstand sei und demnach kein Gegenstand einer ortspolizeilichen Verordnung sein könne.69 Hierzu ist zu entgegnen, dass an jener Entscheidung viel mehr ausschlaggebend war, dass kein in der Stadtgemeinde Fürsten­feld wurzelnder und konkret in dieser Gemeinde auftretender Missstand vorlag beziehungsweise ein solcher nicht ausreichend dargetan wurde. Die im Gemeinderat festgehaltene generelle Aussage, nicht aggressive Formen des Bettelns hätten in Fürstenfeld einen das örtliche Gemeinschaftsleben störenden Missstand zur Folge, wurde vom Verfassungsgerichtshof für sich alleine genommen als nicht ausreichend erachtet. Dass stilles Betteln per se keinen örtlichen Missstand darstellen könne, wurde nicht festgestellt. Es unterblieb lediglich die schlüssige und nachvollziehbare Darlegung der für die Verordnungserlassung ausschlaggebenden Gründe, also des Missstandes.70 Steiermark Nachdem der angefochtene § 3a des Steiermärkischen Landessicherheitsgesetzes aufgehoben wurde, tritt (im Gegensatz zu Salzburg, wo der Verfassungsgerichtshof aussprach, dass die frühere Bestimmung nicht wieder in Kraft tritt) das zuvor geltende partielle Bettelverbot71 in Kraft. Dieses verbietet aufdringliches Betteln sowie das Betteln mit Kindern. Insofern steht die Steiermark daher nicht vor dem Problem eines dringenden Handlungs­bedarfs. Die Reaktionen auf die Entscheidung konnten unterschiedlicher nicht sein. Während Pfarrer Pucher auf „Wolke Sieben“ schwebte,72 ließ Landeshauptmann Voves seinem Groll freien Lauf und merkte an, die Argumentation, dass es in der Steiermark kein absolutes Bettelverbot gegeben hätte, wäre nicht so ins Leere gelaufen, wenn einige Gemeinden Aus­nahmen verordnet hätten.73 69 Vgl. Neuhold, Salzburg: Auf Umwegen zum generellen Bettelverbot, in „Der Standard“, 25. 9. 2012; http://www.buergerliste.at/de/presse/detail.asp?id=1700 (6. 1. 2013). 70 VfGH 5. 12. 2007, V41/07; zum ortspolizeilichen Verordnungsrecht in Bezug auf Bettelverbote siehe auch Ley-Schabus, Bettelverbote aus rechtlicher und rechtspolitischer Sicht, in FS Havranek (2007) 137; Ranacher, Das ortspolizeiliche Verordnungsrecht im Spiegel der Rechtsprechung, RFG 2004/4, 161; Pflug, Grenzen des ortspolizeilichen Verordnungsrechts. Verfassungsrechtliche Determinanten auf Grund der Bettelverordnung der Stadtgemeinde Fürstenfeld, RFG 2011/8, 27. 71 § 3a Steiermärkisches Landessicherheitsgesetz idF LGBl 88/2005. 72 Vgl. Pucher, „Ich schwebe auf Wolke Sieben“, in „Kleine Zeitung“, 11. 1. 2013, 3. 73 Vgl. Rossacher/Winter-Pölser, Neuer Zwist um die Verbotszonen, in „Kleine Zeitung“, 11. 1. 2013, 4 f.



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Während die Freiheitliche Partei in der Steiermark auf eine umgehende Reparatur der Bestimmung nach dem Modell des Wiener Landessicherheitsgesetzes pocht, halten sich die anderen, ebenfalls an der Erlassung der Regelung beteiligten Parteien (ÖVP, SPÖ) eher bedeckt.74 Nur vonseiten der Grünen und der Kommunisten wird die Freude über die Aufhebung artikuliert.75 Gewerbsmäßiges und organisiertes Betteln Keine Aufklärung bringt die aktuelle Judikatur des Verfassungsgerichtshofs hin­ sichtlich des gewerbsmäßigen Bettelns. So muss konstatiert werden, dass ein solcher Terminus eine weite Einfallspforte zu einer strengen Vorgehensweise gegen Bettler darstellt. Auch wenn der Verfassungsgerichtshof dies als nicht rechtswidrig ansah, könne das de facto zu einem generellen Bettelverbot führen, welches aber in solcher Gestalt verfassungskonform wäre. Fraglich ist, wie „gewerbsmäßig“ zu verstehen sein soll. Eine entsprechende Legal­definition findet sich in § 70 StGB. Gewerbsmäßig handle demnach jener, der sich durch eine wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen gedenkt.76 An eigenen Definitionen für die Gewerbsmäßigkeit fehlt es sowohl den Regelungen in Wien, Nieder­österreich als auch in Kärnten. Dass sich dabei ein Auslegungsproblem für die Vollziehung ergibt, liegt auf der Hand.77 Wenn man hierbei das stille Betteln nicht dezidiert ausnimmt, trifft es wohl auf den überwiegenden Teil der Bettler zu. Die Wiener SPÖ brachte im Vorfeld der Verfassungsgerichtshofentscheidung zum Ausdruck, dass die Bettelmafia bekämpft werden soll und die Regelung so zu verstehen sei, dass das Betteln für den Eigenbedarf nicht unter Strafe stehen soll. Dies würde einer Orientierung an § 70 StGB entgegenlaufen, da hier auch das Betteln für den Eigenbedarf die Verschaffung einer fortlaufenden Einnahmequelle bedeuten kann. Wie unterschiedlich die Bestimmung gelesen werden kann, zeigen die Aussagen der anderen Parteien im Wiener Landtag, die allesamt von einem generellen Bettelverbot sprechen, während die SPÖ bemüht ist, genau dies zu verneinen. 78 Laut „Standard“ gab es im ersten Jahr des Verbotes der gewerbsmäßigen Bettelei in Wien bereits 161 einschlägige Anzeigen.79 Ob es sich dabei durchwegs um Ange74 Vgl. http://www.fpoe-stmk.at/news-detail/news/fpoe-kurzmann-betteln-ist/ (15. 1. 2013). 75 Vgl. Schmidt, Aus für verfassungswidriges Bettelverbot der Steirer, in „Der Standard“, 11. 1. 2013, 10. 76 Eine solche Heranziehung ist allerdings nicht zwingend, da es sich beim StGB um eine bundesgesetzliche Regelung handelt, die aus Gründen der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung nur für Regelungen des Bundes Gültigkeit besitzt. 77 Vgl. Weichselbaum, Betteln als Verwaltungsstraftatbestand – die grundrechtliche Sicht am Beispiel des Verbots „gewerbsmäßigen Bettelns“, JRP 2011, 93 (98 ff). 78 Vgl. Weichselbaum, Betteln als Verwaltungsstraftatbestand, JRP 2011, 99 insb FN 33–36. 79 Vgl. N.N., 161 Anzeigen nach einem Jahr Bettelverbot, in „Der Standard“, 17. 3. 2011, 14.

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hörige einer Bettelmafia handelt, welche nicht bloß zum Eigenbedarf betteln, darf bezweifelt werden. Die Stimmen, vor allem vonseiten der ÖVP, forderten nach Bekanntwerden des Verfassungsgerichts­hoferkenntnisses einen „wirksamen Vollzug“, während die Grünen von einer „mutlosen Entscheidung“ sprachen.80 Hinsichtlich des organisierten Bettelns muss angemerkt werden, dass auch hierbei ein sehr weiter Interpretationsspielraum zur Verfügung steht. So ist der Grad und die Art der Organisiertheit, welche für eine Anwendbarkeit dieses Verbotstatbestandes vorliegen muss, nicht klar. Auch hier ist daher ein weiter Anwendungsspielraum gegeben. Fraglich ist, ob es für eine Anwendung bereits ausreicht, dass sich Bettler in Fahrgemeinschaften organisieren, um nach Österreich zu kommen? Zum Vorwurf, dass Bettler in kriminellen mafiösen Organi­sationen formiert seien, kann nur die Stellungnahme vom Grazer Stadtpolizei-Kommandanten Kemeter wiederholt werden, die besagt, dass es keine kriminellen Bettlerbanden in Graz gebe.81 Organisiertheit tritt meist nur in Zusammenhang mit der Anreise auf.82 Soll eine solche „organisierte Solidarität“ nun auch betroffen sein? Der Autor schließt sich hier der Meinung des in dieser Festschrift zu ehrenden Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner an und beantwortet die Frage mit einem klaren „Nein“.83

80 Vgl. N.N., Wiener Bettelregelung bleibt aufrecht, in „Der Standard“, 16. 11. 2012, http://derstandard. at/1350261574855/Wiener-Bettelverbot-bleibt-aufrecht (6. 1. 2013). 81 Vgl. Kemeter, in „Kleine Zeitung“, 23. 6. 2009, 16. 82 Vgl. Lehermayr, Daheim bei den Bettlern in News, 14/10, 13 ff. 83 Vgl. Brünner, Das Strafrecht reicht völlig aus, in „Kleine Zeitung“, 14. 2. 2011, 20.



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3.20. Public Management1

Margit Kraker

Mit dem Rechtswissenschaftler em. ao. Univ.-Prof. Dr. Christian Brünner verbinden mich sehr grundsätzliche Standpunkte auf dem Gebiet des Verfassungs- und Verwaltungsrechts und der Verwaltungswissenschaften, die mir stets Leitlinien im beruflichen Alltag im Bereich von Gesetzgebung, Kontrolle und Verwaltung gewesen sind. Ich empfinde es daher als eine besondere Auszeichnung, in der Festschrift zu Ehren von Christian Brünner publizieren zu dürfen. Christian Brünner ist für mich ein Universitätslehrer, der immer nach neuen Wegen gesucht hat. Ich glaube behaupten zu dürfen, dass er sich nie mit den bestehenden Strukturen unkritisch abgefunden hat, sondern stets gefragt hat, ob neue Aufgaben des Staates ausreichend verankert sind und wie es um die Mitwirkung der/des einzelnen Bürgerin/Bürgers an der Staatswillensbildung bestellt ist. Während des Studiums war Brünner der einzige Professor des öffentlichen Rechts, der mich auf die Bedeutung von Aufbau- und Ablauforganisationen innerhalb der Verwaltung aufmerksam gemacht hat. Als Assistentin am Institut für öffentliches Recht wurde ich intensiv über das Professorenteam Brünner/Mantl/Pauger/Rack mit Verfassungspolitik und den Grundlagen für eine Landesverfassungsreform in der Steiermark konfrontiert, die auf einen umfassenden Erneuerungsprozess der Landesverfassung innerhalb der Verfassungsautonomie der Länder abzielten. Nach der Schaffung des ersten Landesrechnungshofs in Österreich zum Ausbau der Kontrolle des Verwaltungshandelns in der Steiermark sollte Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts die direkte Demokratie gestärkt werden. Im Parlament habe ich Christian Brünner als Politiker kennengelernt, der sich erstmals dem Interessenkonflikt um das komplexe Thema der Gentechnik, das zu einer neuen politischen Aufgabe geworden war, als Vorsitzender der Enquetekommission gestellt hat. Im Landtag Steiermark ging es in der Periode 1996 bis 2000 wiederum darum, u. a. die Geschäftsordnung des Landtages auf eine zeitgemäße Grundlage zu stellen. Was ich mit diesen einzelnen Themen, die ich als Mitarbeiterin in den verschiedenen Institutionen miterleben durfte, ausdrücken will: 1 Es wird darauf hingewiesen, dass der gegenständliche Beitrag bereits im Dezember 2012 verfasst wurde.

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Christian Brünner gehört für mich zu jenen Wissenschaftlern, die mir vor Augen geführt haben, wie wichtig es ist, im Management des Staates Aufgaben und Strukturen permanent zu hinterfragen und neue Lösungsansätze gerade auch für den öffentlichen Sektor zu finden, die in der Folge über Reformen in das staatliche System implementiert werden. Die permanente Interaktion von Gesellschaft, Politik und Verwaltung muss so gestaltet sein, dass sie unmittelbare Auswirkungen auf Strategien, Strukturen und Prozesse findet. Das öffentliche Management muss sich daher auch unabhängig von Krisen die Frage kritisch stellen, ob es die richtigen Dinge macht und ob es die Dinge richtig macht. Was sollen, was müssen staatliche Verwaltungen heute und in Zukunft aus welchen Gründen tun, um dem Public Value am meisten zu dienen? ist die zentrale Fragestellung im Public Management. Um innovatives Handeln in einem Staat mit einer seit Jahrhunderten entwickelten Bürokratie, die die nicht zu unterschätzenden Vorteile von Stabilität und Verlässlichkeit aufweisen kann, auch ohne Systemzusammenbruch und Krise zu ermöglichen, ist ein Kulturwandel in Richtung innovationsbereitem Reformklima in einem von Christian Brünner stets vertretenen Sinn notwendig.

Was versteht man unter Public Management? Public Management (PUMA) ist eine Disziplin der Verwaltungswissenschaft und bewusst interdisziplinär konzipiert. Während die betriebswirtschaftlichen Elemente dem Gebiet der Verwaltungsökonomie zuzuordnen sind, fällt die politische Steuerung und die Lenkung der jeweiligen öffentlichen Institution in die Disziplin der Politikwissenschaften. „Public Management weist in seiner Ausrichtung auf Effektivitäts-, Legitimations- und Legalitätsaspekte intensive Schnittstellen mit den Politikwissenschaften auf.“2 Allgemein ist PUMA jedoch eine Führungslehre für das Lenken/Managen öffentlichen Verwaltungshandelns.3 Dabei handelt es sich um eine Führungskonzeption für öffentliche Verwaltungen, die den Modernisierungsprozess vorantreibt und die im Spannungsfeld eines im Laufe der Zeit immer weiter gewordenen Aufgabenspektrums der öffentlichen Hand bei knapper werdenden Budgetmitteln agieren muss. Neben der Ergebnisorientierung (Output) sollen verstärkt auch die erreichten Wirkungen (Outcome) überprüft werden. Man spricht deshalb auch von wirkungsorientierter Verwaltungsführung (WOV) (Beispiel OÖ) bzw. vom wirkungsorientierten Steuerungsmodell (Beispiel Steiermark). 2 Reinbert Schauer, Öffentliche Betriebswirtschaftslehre – Public Management, 2. Auflage, 2010, S. 14. 3 Vgl. Norbert Thom/Adrian Ritz, Public Management, 4. Auflage, 2008.



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Das New Public Management gliedert sich in zwei Zweige: In die Außenperspektive (Public Governance) und in die Binnenperspektive (Public Management). 4 Im ersten Fall werden die Aufgaben des Staates und seiner Beziehungen zum Bürger neu bestimmt. In der Innensicht geht es um die Einführung von Management­o rientierung und Prozess- und Strukturreformen innerhalb der Verwaltung. Das gemeinsame Ziel der Kundenund Bürgerorientierung und die damit verbundene Erbringung der geforderten Leistungen in optimaler Qualität zur Erfüllung des Public Value verbindet wiederum die beiden Aspekte einer modernen Verwaltung. PUMA ist zu einem neuen Begriff für ein umfassendes Management des Wandels 5 geworden, das den Veränderungsprozess auf allen Ebenen einer öffentl­ichen Verwaltungseinheit fördert und umsetzt. Strategien, Strukturen und Prozesse werden neu ausgerichtet; Aufgaben und Organisationen an­ge­ passt, Budgetplanungen auf Wirkungsziele abgestellt, ein flexibleres Perso­ nalmanagement mit Ziel- und Leistungsvereinbarungen eingefordert und das Innovationsniveau durch Ideenrealisierung und technischen Support innerhalb der Verwaltung selbst gehoben. Anhand von Kennzahlen werden Leistungen und Kosten transparent dargelegt und permanent strategisch überprüft.

Public Management im Land Steiermark Das wirkungsorientierte Steuerungsmodell Das wirkungsorientierte Steuerungsmodell, das von der Steiermärkischen Landesregierung im Jahr 2008 als Strategie für eine leistungsfähige Verwaltung beschlossen wurde, ist der strategische Überbau für die Vorhaben der Verwaltungsreform. Es handelt sich dabei um eine Strategie zur Steigerung von Effektivität, Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Qualitäts­orientierung. Insbesondere wird die Rollenverteilung von Politik und Verwaltung im Prozess der Verwaltungsentwicklung klar definiert. Zwischen Politik („WAS ist das Ziel?“) und Verwaltung („WIE wird das Ziel erreicht?“) erfolgt nach diesem Modell ein Wirkungsdialog. Während die politische Ebene über die Ziele entscheidet, sorgt die Verwaltungsebene für die Umsetzung der Ziele. Output- und Wirkungssteuerung zeigen, ob das Verwaltungshandeln zur erforderlichen Zufriedenheit bei den Bürgerinnen und Bürgern entsprechend den zur Verfügung stehenden Ressourcen führt. Es ist erwünscht, dass eine Reflexion über die beabsichtigten bzw. nicht beabsichtigten Wirkungen des Verwaltungshandelns im Vergleich zu den eingesetzten Mitteln stattfindet. Bestehende Regeln 4 Reinbert Schauer, Öffentliche Betriebswirtschaftslehre – Public Management, 2. Auflage, 2010, S. 67. 5 Norbert Thom/Adrian Ritz, Public Management, 4. Auflage, 2008, S. 91–113.

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und Strukturen werden einer kritischen Überprüfung unterzogen. Zeitgemäße und auf die Bedürfnisse der Verwaltung angepasste betriebswirt­schaftliche Instrumente sollen die zentralen Elemente der traditionellen Verwaltung wie Budget, Stellenplan und Rechnungsabschluss ergänzen. Strategisches Controlling hat damit Eingang in das Verwaltungshandeln gefunden.6

Verwaltungsreform 2011 bis 2015 Auch wenn bereits im Jahr 2008 ein theoretisches Modell für eine moderne Verwaltungs­entwicklung gefunden war, konnte ein politischer Konsens über die tatsächliche Umsetzung einer umfassenden Verwaltungsreform im Land Steiermark erst nach der Landtagswahl 2010 im Zuge der sogenannten Reformpartnerschaft mit dem Regierungsübereinkommen 2010 bis 2015 für die XVI. GP hergestellt werden. Aufgrund des Drucks zur Konsolidierung des Landeshaushalts wurde ein Dialog zwischen Politik und Verwaltung über Aufgaben, Leistungen und deren Kosten und die Art der Aufgabenerfüllung in Gang gesetzt. Am 16. Dezember 2010 beauftragte die Steiermärkische Landesregierung die Umsetzung eines umfassenden Programms zur Verwaltungsreform 2011 bis 2015. Ziele Als wesentliche Ziele der Verwaltungsreform wurden angeführt: • Etablierung einer wirkungs- und ergebnisorientierten Steuerung in der Steirischen Landesverwaltung; • Mittelsteuerung über Wirkungs- und Ergebnisorientierung und Dezentralisierung der Ressourcenverantwortung inklusive laufende Aufgabenkritik; • Prüfung und Umsetzung der Ergebnisse der Aufgabenkritik auf Basis der Zielvorgaben und Entscheidungen der Landesregierung.8 6 Vgl.: www.verwaltungsreform.steiermark.at. 7 Quelle: www.steiermark.at, Das wirkungsorientierte Steuerungsmodell. 8 Vgl.: www.verwaltungsreform.steiermark.at.



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Steuerung Zur strategischen Steuerung des Programms innerhalb der Landesverwaltung wurde eine Steuerungsgruppe Verwaltungsreform eingerichtet. Dieser gehören an: Der Landesamtsdirektor (Leitung), die stellvertretende Landesamts­direktorin (stellvertretende Leitung), die Leiterin des Büros des Landeshauptmannes, der Leiter der Personalabteilung, der Leiter der Finanzabteilung, der Landesbaudirektor sowie weiters der Obmann der Landespersonalvertretung (Beiziehung im Bedarfsfall) und der Landesrechnungshofdirektor (beratend) (Stand: Dezember 2012). Für die Entwicklung, Aufbereitung und Umsetzung der einzelnen Arbeitspakete wurden eine Programmgruppe Verwaltungsreform und weitere abteilungsübergreifende Projektteams je Einzelprojekt eingerichtet. Das Projekt zur Verwaltungsreform in der Steiermark ist damit so aufgesetzt, dass die zentralen Verantwortungsträger aus der Verwaltung des Landes Steiermark in der Steuerungsgruppe die Themenfelder und Reformprojekte in regelmäßigen Sitzungen abarbeiten und gemeinsam das strategische Management bilden. Innovation und Bereitschaft zum Wandel auf Mitarbeiterebene finden nur statt, wenn die Reformziele vom gesamten Management einheitlich vertreten werden und auf diese Weise eine Kultur des Wandels auch im gesamten System implementiert werden kann. Die Erfahrung lehrt, dass man von folgendem Grundsatz ausgehen kann: „Menschen sind nicht grundsätzlich gegen Veränderung, aber sie sind dagegen, verändert zu werden, also lediglich Objekte der Veränderung zu sein.“9 Die Herausforderung besteht somit darin, einen allgemeinen Konsens über die gemeinsamen Reformziele herzustellen und bei der Umsetzung je nach Themenfeld und Aufgabenstellung Top-down und Bottom-up vorzugehen. Es geht bei Reformen darum, die Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter der Verwaltung vom Objekt zum Subjekt der Reform zu machen.10

Programm Verwaltungsreform 2011–2015 und Reformagenda Steiermark Die Einzelprojekte des Programms sind: • Aufgabenreform; • Organisationsreform; 9 Norbert Thom/Adrian Ritz, Public Management, 4. Auflage, 2008, S. 102. 10 Gerhard Steger, Öffentliche Haushalte in Österreich – Die Haushaltrechtsreform des Bundes, 3. Auflage, 2010, S. 487.

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• •

Optimierung des Personalmanagements; Haushaltsreform und der Ausbau der betriebswirtschaftlichen Basis (v. a. die Weiterentwicklung einer Kosten- und Leistungsrechnung und des Controllings). Am 30. Juni 2011 wurden in der Reformagenda Steiermark die Aufträge zur Verwaltungsreform konkretisiert. In der Reformagenda wurden Reformen in Politik, Verwaltung und bei den Gemeinden angekündigt. Die Reformbereiche in der Verwaltung beinhalteten die Aufgabenreform, die Organisationsreform im Amt der Steiermärkischen Landesregierung und die Bezirksreform in der Steiermark. Mittlerweile wurden die Strukturreformen in Politik und Verwaltung bereits beschlossen. Die Haushaltsreform ist eingeleitet, die Aufgabenreform soll in einem permanenten Steuerungs­prozess begleitet werden. Organisationsreform – Optimierung der inneren Strukturen des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung Am 1. August 2012 wurde die neue Organisation des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung wirksam. Das politische Ziel für die Reorganisation wurde bereits in der Reformagenda ein Jahr zuvor festgelegt. Es lautet: „Einfachere Strukturen durch Konzentration auf weniger Ebenen und Halbierung der Organisationseinheiten.“ Dass weniger Schnittstellen zur Bürgerin/zum Bürger führen sollen, dass Synergien durch direkte Zusammenarbeit und mehr Flexibilität gehoben werden sollen und dass die Steuerung der zusammengehörigen Aufgabenbereiche durch das zuständige Regierungsmitglied erleichtert werden soll, war bis zu diesem Zeitpunkt kein Thema. Trotz einer Reihe von Ausgliederungen von Aufgabenbereichen des Landes, war die Zahl der Abteilungen und Fachabteilungen kontinuierlich gewachsen und zunehmend unübersichtlich geworden. Die historisch sicherlich begründete Teilung in einen rechtlichen und technischen Dienst, nämlich die Gruppe Landesamtsdirektion und die Landesbaudirektion, die zu unterschiedlichen Kulturen im Amt geführt hat, entsprach längst nicht mehr der heutigen Lebenswirklichkeit, wo Umwelt, Soziales, Bildung oder Gesundheit einen mindestens ähnlichen Stellenwert in der Landesverwaltung aufweisen. Schließlich erforderte auch das Ziel des Stellenabbaus im Landesdienst eine Organisationsreform, um mit einem gezielteren Personaleinsatz die Leistungen für die Bürgerin/den Bürger sichern zu können. Neben Effizienzsteigerungen werden daher mit der Reform eine Erhöhung der Flexibilität und eine Verstärkung der Teamarbeit erwartet: • Sachlich zusammengehörige Aufgaben, unter einem Abteilungsdach gebündelt, vermeiden Doppelgleisigkeiten und verringern Schnittstellen.



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3.20. Public Managementt

• •



Flache Hierarchien führen zu schnelleren Entscheidungen und fördern die Teamarbeit. Angemessene Abteilungsgrößen und Führungsspannen verbessern die Steuerung, ermöglichen die Konzentration von Systemleistungen und erhöhen die Flexibilität im Personaleinsatz. Höhere Effizienz der Organisation in Verbindung mit einer Reduktion von Aufgaben führt mittelfristig zu einer deutlichen Senkung der Vollzugskosten.11

Die Anzahl der Organisationseinheiten wurde halbiert, eine Hierarchieebene wurde eingespart. Durch ein neues Amtsgebäude- und Standortkonzept wird zusammengehörige Infrastruktur zusammengeführt und werden kleinräumige Standorte – in Summe sind es neun Gebäudestandorte, die nicht mehr benötigt werden – aufgelassen. Die Systemleistungen Haushaltsführung, Controlling, Organisationsentwicklung, Personalmanagement, Kanzlei­dienste und Beschaffung wurden auf Abteilungsebene gebündelt. Organisationseinheiten

ALT (bis 31. 7. 2012)

NEU (ab 1. 8. 2012)

Gruppen

2



Abteilungen (AL)

20 (12 in Personalunion mit FAL, 8 waren AL ohne FAL)

16 & LAD

Fachabteilungen (FAL)

40

9

Referate

227

112

Ergänzend zu den Führungslaufbahnen sollen zukünftig die Möglichkeiten der Fachkarrieren weiterentwickelt und angeboten werden.12 Mit der Organisationsreform soll das Amt der Steiermärkischen Landesregierung auch auf die Umsetzung der Haushaltsreform, nach der jede Abteilung im besten Fall ein Globalbudget verwalten soll, vorbereitet sein.

11 Quelle: www.verwaltungsreform.steiermark.at. 12 Vgl.: www.verwaltungsreform.steiermark.at.

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Fusion von Bezirkshauptmannschaften In der Reformagenda wurde auch die Zusammenführung von Bezirkshauptmannschaften in der Steiermark als Ziel vorgegeben. Die Steiermark ist damit das einzige Bundesland, das politische Bezirke zusammenführt, um neue strukturelle Voraussetzungen für eine zeitgemäße Verwaltungsorganisation auch in den dezentralen Dienststellen zu schaffen. In der Zweiten Republik wurden zwar zusätzliche politische Bezirke eingerichtet, aber noch nie der umgekehrte Weg beschritten. Mit der Zusammenlegung der Bezirke Knittelfeld und Judenburg zum neuen Bezirk Murtal beschritt die steirische Landesverwaltung daher Neuland. Neben dem Gesetz über die Bezirkshauptmannschaften und der Sprengelverordnung mussten zahlreiche Anpassungen in bundes- und landesrechtlichen Bestimmungen getroffen werden, weil die Bezirke von der Bezirksfeuerwehrorganisation bis zum Bezirkspolizeikommando, vom Sozialhilfeverband bis zu den Bezirksschulräten, von Bezirkskammern bis hin zum Kraftfahrrecht eine Rolle spielen. Mit 1. Jänner 2012 wurde die Bildung des Bezirkes Murtal erfolgreich bewältigt, auch die politische Expositur Bad Aussee wurde aufgelassen. Mit 1. Jänner 2013 wurden in der Folge sechs weitere Bezirke zu drei neuen Bezirken zusammengeführt, nämlich zu den Bezirken Bruck-Mürzzuschlag, Hartberg-Fürstenfeld und Südoststeiermark. Für die Zusammenführung kann hier zur Gänze auf das bereits vollständig konzipierte Projekt Murtal aufgesetzt werden. Die Steiermark gliedert sich damit nur mehr in 13 Bezirke (inklusive Stadt Graz) und eine Expositur. Der markante Kostenunterschied zwischen großen und kleinen Bezirkshauptmannschaften über den Skaleneffekt machte die Reform notwendig, freilich spielte neben der Einwohnerzahl auch die Bezirksfläche bei der Bezirksreform eine ausschlaggebende Rolle. Optimierung des Personalmanagements Das Personalmanagement ist in Zeiten der Veränderung besonders gefordert. Zunächst sind die Bediensteten von der Notwendigkeit von Veränderung zu überzeugen und ist die Verantwortung insbesondere bei den Führungskräften für das Gelingen von Reformen einzufordern. Verwaltungsreform bedeutet Verwaltungsmodernisierung und -verbesserung, ein Prozess, bei dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als wichtigste Akteure, nicht zuletzt wegen des nur innerhalb der Verwaltung verfügbaren Wissens, einbezogen werden müssen. Es ist gelungen, die einzelnen Reformschritte zum größten Teil im Einvernehmen mit der Personalvertretung zu bewältigen – freilich mit dem Hinweis seitens der Politik und der Steuerungsgruppe Verwaltungsreform, dass eine Aufgabenreform zur Bewältigung der hohen Anforderungen zugesagt wird.



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Dementsprechend wurden die designierten Führungskräfte etwa bei der Reorganisation des Amtes sowie der Bezirkshauptmannschaften damit beauftragt, den Umbau ihrer Verwaltungseinheit anhand von vorgegebenen Kriterien zu einer sinnvollen Aufbau­organisation in eigener Verantwortung durchzuführen. Die größte Herausforderung im aktuellen Personalmanagement sind die Konsequenzen aus dem vorgegebenen Stellenabbauziel von 700 Stellen bis 2015. Nur auf diese Weise ist es möglich, dass das Personalbudget im Land Steiermark seit dem Jahr 2011 kontinuierlich sinkt, was der dem Personalbereich immanenten Logik von Vorrückungen und Gehalts­abschlüssen diametral entgegensteht. Die Nulllohnrunde 2012 für den Landesdienst wurde vom gesamten Landesdienst mitgetragen und hat einen nachhaltigen Struktureffekt für das Ziel der Budgetkonsolidierung. Gemeinsam mit den Führungskräften werden nun in Stellenplangesprächen einvernehmlich Personaleinsparungsziele für die neuen Organisations­ einheiten vereinbart und festgelegt. Die Verantwortung zur Zielerreichung wird erneut dezentralisiert und jede einzelne Personalnachbesetzung kritisch hinterfragt. Für die Bezirkshauptmannschaften bildet das Kennzahlenbasierte BH-Benchmarking die konkrete Planungsunterlage für das personelle Einsparungspotenzial bei Bezirkshauptmannschaften. Die Veränderungen erfordern aber auch neue Ansätze für ein strategisches Human Resource Management: • Die Personalabteilung zieht sich zunehmend auf die Rolle der Steuerung über Dienst- und Besoldungsrecht, des Personalcontrollings und der bedarfsorientierten Weiterqualifikation der Bediensteten zurück. • Die Abteilungen und Dienststellen erhalten einen größeren Handlungsspielraum beim Personaleinsatz und in der Personalentwicklung durch Personalführung, der zu nutzen ist. Mit der Haushaltsreform sind künftig erstmals Rücklagen durch sparsamen Personal­einsatz möglich, die in der Folge einer freien Verwendung, etwa auch in Form eines zusätzlichen Leistungsanreizes für die bestehenden Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter zugeführt werden können. • Die landesinterne Mobilität von Landesbediensteten wird durch Öffnung des internen Stellenmarktes auf im Eigentum des Landes stehende Gesellschaften erweitert. • Die öffentliche Verwaltung lebt vom ausgewogenen Mix an Fach- und Führungskompetenzen. Die Möglichkeit von Expertenkarrieren als Alternative zu klassischen Führungskarrieren besteht bereits seit der Besoldungsreform. Wissensaufbau und Wissensmanagement hebt die Qualität der Leistungserbringung. Künftig sollen Top-Expertinnen und -Experten für die Landesverwaltung vorgesehen werden. Arbeiten in Teams wird forciert.

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Haushaltsreform nach dem Vorbild des Bundes Der Bund hat in zwei Etappen die große Haushaltsreform umgesetzt, deren Kernelement es ist, eine wirkungsorientierte Haushaltsführung zu ermöglichen. „Im Budget soll also nachvollziehbar und nachprüfbar dargestellt werden, was mit den öffentlichen Ressourcen an Wirkungen erzielt und an Maßnahmen gesetzt wird.“13 Die neue Form der Budgeterstellung zielt auf einen tief greifenden Kulturwandel14 für Politik und Verwaltung ab. Die Steiermark ist als einziges Bundesland bisher dem Beispiel des Bundes gefolgt. Durch Flexibilisierung und Eigenverantwortung auf Ressortebene über Globalbudgets werden Budgetplanung und Budgetvollzug einander gegenübergestellt, erhöhte Transparenz durch Kosten- und Leistungsrechnung für alle Bereiche erzeugt sowie die Steuerung durch ein laufendes Budgetcontrolling für die gesamte Landesverwaltung sichergestellt. Durch die transparente Darstellung von Ressourcen und Wirkungen soll die Mittelzuteilung im Budget, die eine zentrale Machtfrage ist, transparent und durchschaubarer werden. Die Umsetzung ist erstmals für das Budget 2015 geplant. Aufgabenkritik und Aufgabenreform Wie bereits angedeutet, ist die Aufgabenreform die Königsdisziplin jeder Verwaltungsreform. Vergleichbar mit der Budgeterstellung geht es auch bei der Aufgabenkritik und bei der Reduktion des Umfanges von öffentlichen Leistungen um höchst politische Entscheidungen, die eng mit realen Macht- und Einflussverhältnissen zusammenhängen. In der Steiermark wurden auf Basis eines flächendeckenden Projekts Aufgabenkritik über sämtliche Leistungen des Landes unter einer Einsparungshypothese von 25 % Veränderungsoptionen erkannt. Sämtliche vorgeschlagenen, oft auch nur theoretischen Veränderungspotenziale wurden von der Steuerungsgruppe Verwaltungsreform in sogenannten Reformgesprächen mit Dienststellenleiterinnen/Dienststellenleitern reflektiert. Einige davon wurden von der Steuerungsgruppe Verwaltungsreform als Veränderungsoption definiert, die nach Aufbe­reitung als Detailprojekt der Landesregierung zur Entscheidung vorgelegt werden. Die Diskussionen reichen dabei von der Neustrukturierung dezentraler Einrichtungen bis hin zu klaren Berufsbilddefinitionen, der Evaluierung durchgeführter Ausgliederungen oder der Sinnhaftigkeit externer Leistungszukäufe. Dabei ist der Prozess selbst ein Wert für sich, weil erstmals 13 Gerhard Steger, Öffentliche Haushalte in Österreich – Die Haushaltrechtsreform des Bundes, 3. Auflage, 2010, S. 498. 14 Gerhard Steger, Öffentliche Haushalte in Österreich – Die Haushaltrechtsreform des Bundes, 3. Auflage, 2010, S. 499.



3.20. Public Management

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Leistungsangebote landesintern in einer weitgehend offenen Diskussion auf ihren Zweck und ihre Wirkungen überprüft werden. Führungskräfte werden mit der Frage konfrontiert, warum sie was wie tun. Die Umsetzung einer adaptierten Aufgaben- und Leistungspalette gestaltet sich freilich um einiges schwieriger, weil der Mut zur Lücke in Politik und Verwaltung nicht sehr ausgeprägt ist.

Resümee Die Verwaltungsreform 2011 bis 2015 in der Steiermark ist ein umfassendes Programm, wobei alle Facetten des Public Management in diesem großen Veränderungsprozess zum Tragen kommen. Erstmals hat die politische Spitze eine klare Strategie zur Erneuerung vorgegeben. Wichtig ist, dass der Mut zur Umsetzung vorhanden ist, auch wenn ein Nachjustierungsbedarf im Detail entsteht. Die gesamte Umsetzung der einzelnen Reformen erfolgt weitgehend ohne externe Beraterinnen/Berater, so dass die Verwaltung selbst mit dem eigenen Wissen der an der Reform beteiligten Dienststellen, speziell Organisation und IT, Personal, Finanzen und der fachlich betroffenen Dienststellen, die Prozesse abwickelt. Der Kulturwandel von der hierarchischen, starren Verwaltung hin zur optimierten, strategieorientierten Verwaltung hat damit eingesetzt. Für das heutige Verwaltungshandeln gelten drei Faktoren, die miteinander in Einklang zu bringen sind: • Sicherung der Rechtsstaatlichkeit; • Integration von Politik und Management; • optimaler Bürgernutzen im Sinne des Gemeinwohls. Diese Kriterien werden auch in Zukunft die wichtigsten Parameter für die Evaluierung der Reformprojekte und ihre Weiterentwicklung sein.

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3. Wissenschaft

3.21. Die religiös motivierte Beschneidung

Hannes Mayer

Die ältesten Hinweise auf die Beschneidung, im Sinne von Circumcision, der männlichen Geschlechtsorgane stammen aus dem alten Ägypten.1 Es gibt verschiedene Theorien über die Ursprünge der Tradition, etwa als Opferritus oder als rite de passage, der den Übergang ins Erwachsenenleben markierte.2 Die Beschneidung (‫ – ברית מילה‬Brit Milah) ist eine der ältesten Praktiken im Judentum.3 Die Beschneidung ist aber weder auf das Judentum beschränkt, noch wurde sie im Judentum erfunden.4 Im engeren Sinn versteht man unter Beschneidung bei Knaben bzw. Männern die operative Entfernung der Vorhaut des männlichen Glieds.5 Auch weitere – ähnliche – Praktiken können darunter subsumiert werden.6 Beschneidung von Frauen gibt es fast nur dort, wo auch Männer beschnitten werden. Sie wird aber viel seltener als bei Männern praktiziert. 7 Im folgenden Beitrag soll sich die Betrachtung auf die Beschneidung bei Männern und Knaben beschränken. Das Alter der Personen, an denen die Beschneidung vorgenommen wird, variiert von acht Tagen bis 20 Jahren.8 Juden, Samaritaner, Abessinier und manche südamerikanische Stämme pflegen Knaben am achten Tag nach der Geburt zu beschneiden. In manchen westafrikanischen Stämmen wird die Beschneidung im Alter von 20 Jahren praktiziert, wenngleich nur manchmal.9 In den meisten Fällen wird die Beschneidung vor der Pubertät oder zumindest vor der Hochzeit vorgenommen.10 1 “Male circumcision: Global trends and determinants of prevalence, safety and acceptability” (PDF). World Health Organization. 2007. Retrieved 2009-03-04. 2 Ebd. 3 http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Judaism/circumcision.html. 4 Blaschke, Andreas. Beschneidung: Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte. Tübingen und Basel: Francke Verlag, 1998, 2. 5 Ebd. 6 Ebd. – u. a. einreißen, einschneiden, abbrennen (…). 7 Blaschke, Beschneidung, 3. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd.



3.21. Die religiös motivierte Beschneidung

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Manchmal kommen auch Massenbeschneidungen vor, die etwa auch das unter Umständen unterschiedliche Alter der Beschneidungskandidaten in der gleichen Volksgruppe erklärt,11 zum Beispiel auch im Fall der Bekehrung der Idumäer zum Judentum unter Johannes Hyrkanus.12 Die Beschneidung findet sich außer bei den nicht semitischen Völkern Asiens, den Indoeuropäern, Babyloniern und Assyrern überall auf der Welt.13 Man geht heute davon aus, dass die Beschneidung mehrfach, unabhängig voneinander, entstanden ist. Trotz mancher Ähnlichkeiten deuten die bestehenden Unterschiede in der Beschneidungspraxis darauf hin.14 Zumindest für Amerika wird von einer gesonderten Entstehung der Beschneidung ausgegangen.15 Die Beschneidung ist wahrscheinlich die älteste Operation der Welt.16 Ihr Vorkommen ist in Oberägypten, Nubien und Nordsyrien im dritten Jahrtausend vor Christus bezeugt. Die Erwähnung des Gebrauchs von Steinmessern in Jos 5, 2 deutet auf ein steinzeitliches Alter der Beschneidung hin.17 Es gibt keine Berichte über die Entstehung des Ritus der Beschneidung, die nicht aus späterer Sicht überformt wurden. Die Frage nach der Entstehung beziehungsweise auch der ursprünglichen Funktion der Beschneidung hat zu Antwortversuchen geführt, die sich in vier, einander zum Teil über­schneidende Kategorien einteilen lassen: Religion, Sexualität, Soziales und Medizin.18 Die Idee der Erlangung kultischer Reinheit taucht erst in hoch entwickelten Kulturen auf, etwa in der Spätzeit des antiken Ägypten oder im Judentum. Ähnliches gilt für das Motiv der Abgrenzung des Profanen. Es kann nicht die ursprüngliche Begründung für das Ritual gewesen sein, sondern ist eine Funktion, die der Beschneidung nachträglich zugewachsen ist.19 Verschiedentlich wird in dieser Frage auch auf den Opfercharakter der Beschneidung verwiesen, meist im Zusammenhang mit Fruchtbarkeitskulten und Nachkommenschaft. So werden zum Beispiel Abraham im Zusammenhang mit der Beschneidung viele Nachkommen und das Schwangerwerden Sarahs20 verheißen.21 11 Ebd. 12 Josephus Ant 13, 257. 13 Blaschke, Beschneidung, 5. 14 Ebd. 15 Blaschke, Beschneidung, 6. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Blaschke, Beschneidung, 7. 20 Siehe auch Gen 17. 21 Blaschke, Beschneidung, 8.

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3. Wissenschaft

Für Amerika ist die Erklärung der Beschneidung als Opfer sehr wahrscheinlich. Dort ist sie nämlich mit anderen Blutriten verbunden und mit religiösen Handlungen, bei denen nicht nur am Glied Blut entnommen wird, sondern auch an anderen Körperteilen.22 Eine weitere Mutmaßung ist die Deutung der Beschneidung als apotropäischer Ritus, also als Schutzritus, einer Art „magischer Hygiene“ zur Abwehr von Dämonen, die das Leben des Neu­geborenen bedrohen, zum Wegzaubern von Krankheiten und zur Vorbeugung gegen Gefahren aus sexuellen Beziehungen.23 Im alten Ägypten kann die Beschneidung auch mit der Angliederung an die Verehrung eines Gottes gesehen werden, wobei die Beschneidung möglicherweise zur exklusiven körperlichen Kenn­zeichnung der Anhänger des betreffenden Gottes dient.24 Ein anderer Deutungsversuch wäre auch, dass die Allianz mit dem betreffenden Gott durch Blut ratifiziert werden soll. Varianten sind die Deutung als Symbol der Unterwerfung unter einen Gott.25 Diese Idee der Angliederung an einen Gott durch Beschneidung ist für das alte Ägypten aber nicht explizit belegbar und tritt auch gegenüber dem sexuellen Element in den Hintergrund.26 Anders verhält es sich im Judentum: in Gen 17 wird die Beschneidung explizit als Zeichen des Bundes JHWHs mit Abraham verstanden.27 Keine von diesen vorgeschlagenen Hypothesen kann die ganze Breite der verschiedenen Formen, Anlässe und Bedeutungen des Rituals der Beschneidung hinreichend erklären. Wenn man von der wahrscheinlichen Annahme ausgeht, dass die Beschneidung keine monokausale Ursache hat, ist es auch nicht möglich einen einzigen Entstehungsgrund zu finden.28 Der Mensch steht in den Lebensbereichen Religion, Soziales, Sexualität, Medizin zugleich, und zwischen diesen Lebensbereichen bestehen vielfältige Verbindungen und Abhängigkeiten. Eine mögliche Erklärung des Beschneidungsritus muss also immer das Ganze im Blick haben. Folglich ist die Beschneidung als ein Ritus zu sehen, dessen Grundlage Religion, soziale Gesichtspunkte und Sexualität bilden.29 In der hebräischen Bibel ist die Beschneidung in erster Linie ein Zeichen der Zugehörigkeit zu Israel und seinem Gott JHWH, als Ritus, der die nationale Identität und Selbstständigkeit Israels sowie dessen Herkunft von JHWH bezeich22 Ebd. 23 Blaschke, Beschneidung, 10. 24 Blaschke, Beschneidung, 9. 25 Blaschke, Beschneidung, 9 – ablehnend dazu Foucart, Circumcision, 676. 26 Blaschke, Beschneidung, 10. 27 Ebd. 28 Blaschke, Beschneidung, 17. 29 Ebd.



3.21. Die religiös motivierte Beschneidung

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net.30 Im frühen Christentum war die Beschneidung Gegenstand heftiger Kontroversen. Der Apostel Paulus forcierte die Heidenmission, schließlich unter Verzicht auf die Beschneidung.31 Paulus’ Reserviertheit gegenüber dem Gesetz und der Beschneidung war für seine judaistischen Mitapostel, darunter Petrus32, ein „Verrat am Judentum“.33 Paulus, ein jüdischer Rechtsgelehrter und somit selbst beschnitten, verlangte von den von ihm bekehrten Heidenchristen nicht die Beschneidung und die Übernahme des jüdischen Gesetzes, gestand ihnen aber die Abrahamssohnschaft, die Zugehörigkeit zum Gottesvolk Israel und das volle Heil zu.34 Warum gerade die Beschneidung zu so heftigen Streitigkeiten führte, erklärt sich aus der grundlegenden Bedeutung des Rituals für das Jüdischsein.35 Paulus verzichtete aber nicht etwa auf die Einforderung der Beschneidung, weil sie Nichtjuden anstößig erscheint, sondern weil er eine neue Sicht auf das Gesetz propagierte: die Beschneidung wird einge­tauscht gegen das Kreuz.36 Heute noch wird die Beschneidung bei den koptischen Christen Ägyptens, der orthodoxen Kirche Äthiopiens und in einzelnen anderen Kirchen Afrikas praktiziert, wobei sich zum Teil religiöse Vorstellungen und kulturelle Traditionen vermischen.37 Im Islam gilt die Beschneidung als sunna – als Brauch des Propheten, als nachdrücklich empfohlene Tradition38 – und wird in weiten Teilen der umma praktiziert.39 Heute ist die neonatale Beschneidung eine der am häufigsten durchgeführten Operationen in den Vereinigten Staaten.40 So wurden im Jahr 1965 bis zu 85 % aller Neugeborenen, unabhängig vom Religionsbekenntnis, beschnitten;41 im Jahr 2008 56 %.42 Auch in anderen – vorwiegend englisch­sprachigen – Ländern, wie Großbritannien oder Australien, wird die Beschneidung verbreitet prakti­ziert.43

30 Blaschke, Beschneidung, 43. 31 Blaschke, Beschneidung, 361. 32 Gal 2, 7. 33 Blaschke, Beschneidung, 361. 34 Blaschke, Beschneidung, 362. 35 Vgl. Gal 5, 3; Josephus Ant 13, 257 f. 36 Blaschke, Beschneidung, 383. 37 Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes. Drucksache 17/11295, 7. 38 Llyas, Ist die Knabenbeschneidung überhaupt Pflicht im Islam? http://islam.de/20776. 39 Ahmed/Ellsworth, To Circ or Not: A Reappraisal. Urologic Nursing, 32 (1), 10. 40 Ebd. 41 Ahmed/Ellsworth, To Circ or Not: A Reappraisal, 11. 42 Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes, 6. 43 Ahmed/Ellsworth, To Circ or Not: A Reappraisal, 11.

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3. Wissenschaft

Die WHO empfiehlt die Beschneidung bestimmten Bevölkerungsgruppen zur Prävention gewisser Infektionskrankheiten.44 Am 7. Mai 2012 urteilte das Landgericht Köln, dass die Vornahme einer [medizinisch] nicht indizierten Beschneidung an einem nicht einwilligungsfähigen männlichen Kleinkind den Tatbestand einer durch elterliche Einwilligung nicht zu rechtfertigenden Körperverletzung erfüllt.45 Dem Urteil war folgender Sachverhalt vorausgegangen: Der Angeklagte, ein Arzt, führte in seiner Praxis an einem zum Tatzeitpunkt vierjährigen muslimischen Buben eine Beschneidung mit einem Skalpell durch. Der Eingriff erfolgte auf Wunsch der Eltern und unter örtlicher Betäubung. Die Staatsanwaltschaft warf dem Arzt daraufhin vor, eine andere Person mittels eines gefährlichen Werk­zeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Alt 2 dStGB).46 Der Angeklagte räumte das äußere Geschehen auch im vollen Umfang ein. Ein Sachverständigengutachten stellte die fachlich einwandfreie Arbeit des Angeklagten fest. Es liegt kein Behandlungsfehler vor. Weiter stellte der Sachverständige fest, dass – zumindest in Mitteleuropa – keine Notwendigkeit einer Beschneidung zur Gesundheitsvorsorge bestehe.47 Der angeklagte Arzt wurde freigesprochen. Der äußere Tatbestand von § 223 Abs. 1 dStGB war erfüllt, nicht aber der von § 224 Abs. 1 Alt 2 dStGB: das Skalpell ist kein gefährliches Werkzeug, wenn es, wie im vorliegenden Fall, bestimmungsgemäß von einem Arzt verwendet wird.48 Das Gericht verneinte allerdings, dass die unter elterlicher Einwilligung aus religiösen Gründen durchgeführte Beschneidung eines nicht einwilligungsfähigen Buben wegen Sozialadäquanz vom Tatbestand ausgeschlossen sei.49 Weder den Eltern noch dem Beschneider wurden Entschuldigungs­gründe nach § 17 dStGB zugebilligt. Auch die rechtfertigende Wirkung wegen der Veranlassung der Beschneidung durch die Eltern wurde nicht zugestanden, weil das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung hinter das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung zurücktrete. Deshalb sei die Einwilligung der Eltern in die Beschneidung im Widerspruch zum Kindeswohl.50 Trotzdem sei der Vorgang sozial unauffällig, allgemein gebilligt und geschichtlich üblich und daher formell nicht strafbar.51 44 Ebd. 45 LG Köln, Urt. V. 7. 5. 2012 – Ns 169/11 (AG Köln). 46 Beenken, Strafbarkeit religiös motivierter Knabenbeschneidungen. MedR (2012) 30, 681. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd.



3.21. Die religiös motivierte Beschneidung

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Eine Rechtfertigung durch Einwilligung lehnte das Gericht ebenfalls ab. Das damals vierjährige Kind konnte mangels hinreichender Verstandesreife nicht einwilligen. Zwar hatten die Eltern in den Eingriff eingewilligt, diese Einwilligung konnte aber die tatbestandsmäßige Körperverletzung nicht recht­fertigen.52 Das Sorgerecht gemäß § 1627 BGB deckt nur Erziehungsmaßnahmen, die dem Kindeswohl dienen. Dass die Beschneidung dem Kindeswohl diene, wurde sowohl im Hinblick auf die Vermeidung einer möglichen Ausgrenzung innerhalb des jeweiligen religiös-politischen Umfelds als auch auf das elter­liche Erziehungsrecht abgelehnt.53 Außerdem würde der Körper des Kindes durch eine Beschneidung irreparabel und dauerhaft verändert, was dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit bestimmen zu können, widerspreche. Auch das Erziehungsrecht der Eltern würde nicht unzumutbar eingeschränkt, wenn sie warten müssen, bis das Kind mündig ist und sich aus freien Stücken für die Beschneidung als sicht­bares Zeichen der Zugehörigkeit zum Islam entscheiden kann.54 Der Freispruch des Arztes wurde damit begründet, dass er in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum und daher ohne Schuld gehandelt hat. Er konnte davon ausgehen, dass ihm als frommem Muslim und fachkundigem Arzt die Beschneidung des Buben aus religiösen Gründen auf Wunsch der Eltern gestattet sei. Also konnte er annehmen, dass sein Handeln gerechtfertigt ist.55 Es gibt in Rechtsprechung und Literatur auch andere Meinungen zur Frage der Rechtmäßigkeit religiöser Knabenbeschneidungen aufgrund der Einwilligung der Eltern.56 Bis zu diesem Zeitpunkt waren religiös motivierte Beschneidungen in Europa hingenommen worden,57 auch wenn es in der Literatur (insbesondere der deutschsprachigen – Anm. des Autors) vereinzelt kritische Stimmen zu finden waren.58 In einem Beschluss vom 2. Feber 200759 stellte das Landgericht Hanau fest, dass die Beschneidung zwar tatbestandlich eine Körperverletzung ist, ihr fehlt aber als gute Tradition die dem Vorbild des Propheten folgt, und als Ritus, der sich als erster Schritt eines Jungen in die männliche Erwachsenenwelt versteht, der Makel der Rechtswidrigkeit.60 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Beenken, Strafbarkeit religiös motivierter Knabenbeschneidungen, 682. 56 Ebd. 57 Kreß, Religiös motivierte Beschneidungen: Restriktionen aus ethischer Sicht. MedR (2012) 30, 682. 58 Z. B. Herzberg. Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung. JZ 7/2007, 332–339. 59 Az. 1 O 822/06. 60 Herzberg, Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung, 332.

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Es gibt auch Stimmen, die der Beschneidung dem Kindeswohl nützliche Aspekte zugestehen wollen. So dient das Beschneidungsritual laut Putzke61 insofern dem Kindeswohl, als es das Kind vor der Ausgrenzung, der Stigmatisierung als Nichtbeschnittener bewahrt und umgekehrt die religiöse Identifikation und Zugehörigkeit zur muslimischen (oder jüdischen bzw. u. U. christlichen – Anm. des Autors) Gemeinschaft bekräftigt. Die Behandlung ist auch nach wenigen Tagen verheilt und der Beschnittene hat keine Schmerzen und Beschwerden mehr. Zu den gesundheitlichen und hygienischen Vorteilen kommt noch die volle Zugehörigkeit zu seiner Religionsgemeinschaft, die ihm ein Leben lang religiöse Geborgenheit bieten kann.62 Die Beschneidung ist nicht nur ein Eingriff in die körperliche Integrität, sie ist auch bedeutsam für die grundrechtlich geschützte Religionsausübungsfreiheit. 63 Die Beschneidung ist auch von zentraler Bedeutung für das kulturell-religiöse Selbstverständnis der Betroffenen.64 Zwar ist das Elternrecht grundsätzlich ein Recht, das zum Wohl des Kindes ausgeübt werden soll, zugleich hat der Staat aber auch darüber zu wachen, dass die Pflege und Erziehung durch die Eltern vorgenommen wird. Die Eltern sollen ihre elterlichen Aufgaben wahrnehmen, und nur im Ausnahmefall soll der Staat ein Kind, das sich nicht selber schützen kann, davor bewahren, dass es durch einen Missbrauch elterlicher Rechte Schaden erleidet. Somit sind Eingriffe in das Elternrecht nur rechtfertigbar, wenn das Wohl des Kindes durch die Sorgerechtsausübung beeinträchtigt werden könnte. Laut Schwarz ist jedenfalls ein missbräuchliches Verhalten der Eltern in einer Beschneidung nicht zu sehen, sofern diese die Zuge­hörigkeit zu einer bestimmten Religion begründen und die Voraussetzung für eine dauerhafte Mit­gliedschaft in dieser schaffen soll.65 Eine Kindeswohlgefährdung muss eine gegenwärtige erhebliche Gefahr aufweisen, dass eine erhebliche Schädigung des körperlichen Wohls des Kindes mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit anzunehmen ist.66 Das elterliche Verhalten muss dabei ein Ausmaß erreicht haben, dass tatsächlich eine erhebliche Gefahr für das Kindeswohl unmittelbar bevorsteht. Insoweit wäre wohl eine erhebliche körperliche Misshandlung vorausgesetzt. Im Fall einer nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführten Beschneidung ist eine solche erhebliche Misshandlung aber nicht gegeben.67 61 MedR (2008), 272. 62 Ablehnend dazu Herzberg, Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung, 334 f. 63 Schwarz, Verfassungsrechtliche Aspekte der religiösen Beschneidung. JZ 23/2008, 1126. 64 Schwarz, Verfassungsrechtliche Aspekte der religiösen Beschneidung, 1128. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd.



3.21. Die religiös motivierte Beschneidung

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Man kann bei der elterlichen Einwilligung zu einer religiös motivierten Beschneidung auch keine irgendwie dahinter stehende „rohe Gesinnung“ annehmen.68 Nach dem oben erwähnten Urteil des Landgerichts Köln regte sich erwartungsgemäß Widerspruch von jüdischer, muslimischer, aber auch christlicher Seite.69, 70 Auch in Österreich kam es infolge des deutschen Beschneidungsurteils zu verunsicherten Reaktionen, sowohl von Religionsgemeinschaften71 als auch von betroffenen Ärzten. So sprach zum Beispiel der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch von einer geistigen Ver­treibung von Juden und Muslimen.72 Das österreichische Justizministerium sah in diesem Zusammen­hang keinen besonderen Handlungsbedarf und stellte fest, dass die Beschneidung aus religiösen Gründen in Österreich straffrei ist.73 Der deutsche Bundestag forderte mit Beschluss vom 19. Juli 2012 die Bundesregierung auf, „unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist“.74 Am 12. Dezember 2012 beschloss der Bundestag das Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes (MännlBeschnG).75 Durch dieses Gesetz wird ins Bürger­liche Gesetzbuch folgender § 1631d eingefügt: „§ 1631d Beschneidung des männlichen Kindes (1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird.

68 Ebd. 69 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Germany resumes ritual circumcisions after bitter dispute. http://www.hurriyetdailynews.com/germany-resumes-ritual-circumcisions-after-bitter-dispute.aspx?pageID=238&nid=31435. 70 Religionsvertreter: Beschneidung wie „Fingernägel schneiden“. http://derstandard.at/1342947868138/ Neue-Oekumene-in-Oesterreich-Beschneidung-wie-Fingernaegel-schneiden. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Umfrage: Österreich mehrheitlich gegen Beschneidung. http://religion.orf.at/stories/2570281/. 74 Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes, 1. 75 Will, Was das Beschneidungsgesetz regelt . http://www.tagesschau.de/beschneidungsgesetz106.html.

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3. Wissenschaft

(2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durch­führung der Beschneidung vergleichbar, befähigt sind. Durch dieses Gesetz soll klargestellt werden, dass die Personensorge der Eltern grundsätzlich das Recht beinhaltet, in eine nicht medizinisch indizierte Beschneidung ihres männlichen Sohnes einzuwilligen, wenn bestimmte Anforderungen eingehalten werden.76 In den ersten sechs Lebensmonaten des Buben darf der Eingriff auch von Personen vorgenommen werden, die von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehen sind, wenn sie dafür besonders ausgebildet worden und für die Durchführung einer Beschneidung ähnlich einem Arzt oder einer Ärztin befähigt sind.“77 Auf eine strafrechtliche Regelung wurde verzichtet, weil das Landgericht Köln seine Auffassung, dass die Einwilligung der Eltern die Beschneidung als tatbestandsmäßige Körperverletzung nicht recht­fertigen könne, nicht mit besonderen strafrechtlichen Aspekten begründet hatte, sondern mit einer (angenommenen) Überschreitung der durch das Kindeswohl bestimmten Grenzen des Sorgerechts. Die erforderliche Konkretisierung dieser Grenzen erfolgte also im Kindschaftsrecht.78 Durch die rechtliche Klarstellung, in Österreich durch die Feststellung des Justizministeriums, in Deutschland durch die gesetzliche Regelung, konnte die Rechtssicherheit hergestellt werden, durch die es möglich ist, dass Juden und Muslime sich weiterhin, durch ein seit Jahrtausenden gepflegtes Ritual zu ihrer Religion bekennen können, das nur in Zeiten extremer Unterdrückung und Verfolgung79 verboten gewesen war.

Bibliographie Ahmed, Asma/Ellsworth, Pamela: To Circ or Not: A Reappraisal. Urologic Nursing, 32(1). Beenken, Thomas: Strafbarkeit religiös motivierter Knabenbeschneidungen. MedR (2012) 30, 680–682. 76 Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes, 1. 77 Ebd. 78 Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes, 2. 79 So zum Beispiel unter Kaiser Trajan zur Zeit des Bar-Kochba-Aufstands und unmittelbar danach – Anm. des Autors.



3.21. Die religiös motivierte Beschneidung

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Blaschke, Andreas: Beschneidung: Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte. Tübingen und Basel: Francke Verlag, 1998. Carbery Baevin et al.: Need for Physician Education on the Benefits and Risks of Male Circumcision in the United States. AIDS Education and Prevention, 24 (4), 2012, 377–387. Flavius Josephus: Jüdische Altertümer. Wiesbaden: Marix Verlag, 2006. Herzberg, Rolf Dietrich: Rechtliche Probleme der rituellen Beschneidung. JZ 7/2007, 332–339. Kreß, Hartmut: Religiös motivierte Beschneidungen: Restriktionen aus ethischer Sicht. MedR (2012) 30, 682. Llyas, Nadeem: Ist die Knabenbeschneidung überhaupt Pflicht im Islam? http://islam. de/20776 – eingesehen am 19. 2. 2013. Schwarz, Kyrill-A.: Verfassungsrechtliche Aspekte der religiösen Beschneidung. JZ 23/2008, 1125–1129. Will, Laura: Was das Beschneidungsgesetz regelt. http://www.tagesschau.de/beschneidungsgesetz106.html – eingesehen am 19. 2. 2013 Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes. Drucksache 17/11295. Circumcision. http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Judaism/circumcision.html eingesehen am 2. 2. 2013 Germany resumes ritual circumcisions after bitter dispute. http://www.hurriyetdailynews.com/germany-resumes-ritual-circumcisions-after-bitter-dispute. aspx?pageID=238&nid=31435 – eingesehen am 20. 2. 2013 „Male circumcision: Global trends and determinants of prevalence, safety and acceptability” (PDF). World Health Organization. 2007. Retrieved 2009-03-04. Religionsvertreter: Beschneidung wie „Fingernägel schneiden“. http://derstandard. at/1342947868138/Neue-Oekumene-in-Oesterreich-Beschneidung-wie-Fingernaegelschneiden - eingesehen am 19. 2. 2013 Umfrage: Österreich mehrheitlich gegen Beschneidung. http://religion.orf.at/stories/2570281/ – eingesehen am 19. 2. 2013

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3. Wissenschaft

3.22. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Arbeitsrecht in der Rechtsprechung des EGMR

Katharina Pabel

I. Die jüngere Rechtsprechung des EGMR zur Religionsfreiheit Betrachtet man die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zum Grundrecht der Religionsfreiheit in den letzten Jahren, so lassen sich drei Bereiche ausmachen, in denen eine Reihe von Urteilen ergangen ist und eine Rechtsprechungs­entwicklung festzustellen ist. Dazu zählt erstens der Bereich der korporativen Religions­freiheit: Der EGMR hat in etlichen Entscheidungen über die Konventionskonformität des staatlichen Umgangs mit religiösen Vereinigungen befunden, etwa in Bezug auf Fragen der Verleihung von Rechtspersönlichkeit1 oder der Anerkennung als Religionsgemeinschaft.2 Einen zweiten Bereich innerhalb der Entscheidungen zur Religionsfreiheit bilden solche, die in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit fallen; hier geht es insbesondere um die Weiter­entwicklung der Judikatur zu Fragen der Wehrdienstverweigerung,3 die nicht zuletzt durch das Inkrafttreten der Grundrechtecharta der Europäischen Union angestoßen wurde. Ein dritter Bereich von Straß­burger Urteilen zum

1 EGMR 9. 12 .2010, 7798/08 (Savez crkava “Riječ života” ua/Kroatien); EGMR 31. 7. 2008, 40825/98 (Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas/Österreich). 2 EGMR 17. 7. 2012, 22218/06 (Fusu Arcadie ua/Moldawien); EGMR 10. 6. 2010, 302/02 (Zeugen Jehovas von Moskau ua/Russland); EGMR 1. 10. 2009. 76836/01 ua (Kimlya ua/Russland); vgl. zum Schutzbereich der kollektiven Religionsfreiheit auch von Ungern-Sternberg in Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK. Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Kommentar (2012) Art. 9 Rz 27 ff.; Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention5 (2012) § 22 Rz 107. 3 EGMR 17. 1. 2012, 5260/07 (Feti Demirtaş/Türkei); EGMR 10. 1. 2012, 37819/03 (Bukharatyan/Armenien); EGMR 10. 1. 2012, 37821/03 (Tsaturyan/Armenien); EGMR 22. 11. 2011, 43965/04 (Erçep/ Türkei); EGMR 7. 7. 2011, 23459/03 (Bayatyan/Armenien); EGMR 19. 3. 2009, 28648/03 (Lang/Österreich); EGMR 12. 3. 2009, 49686/99 (Gütl/Österreich); EGMR 12. 3. 2009, 42967/98 (Löffelmann/ Österreich); vgl. zum Thema Wehrdienstverweigerung auch von Ungern-Sternberg in EMRK (FN 2) Art. 9 Rz 12; Grabenwarter in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht (Loseblatt, Stand 2013) Art. 9 EMRK (2005) Rz 12.



3.22. Das Grundrecht der Religionsfreiheit

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Grundrecht der Religionsfreiheit betrifft dessen Auswirkungen im Arbeitsrecht.4 Diese letztgenannten Fallkonstellationen der Wirkung der Religionsfreiheit im Arbeitsrecht, mit denen der EGMR in den letzten Jahren befasst war, lassen sich ganz grundsätzlich in zwei Gruppen unterteilen. In einer ersten Gruppe finden sich jene Konstellationen, in denen die Religionsfreiheit durch den Arbeitgeber in Anspruch genommen wird. In diese Fallgruppe fallen vor allem die drei im Jahr 20105 bzw. 20116 ergangenen Urteile des EGMR zum so genannten kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland. Diese Rechtsprechung wurde mit einem weiteren Urteil gegen Spanien fortgesetzt.7 Die zweite Gruppe von Fallkonstellationen bilden jene, in denen das Grundrecht der Religionsfreiheit durch den Arbeitnehmer in Anspruch genommen wird. Im Mittelpunkt stehen hier vier Fälle, die der EGMR im Jänner 2013 entschieden hat.8 Sie sollen im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen.

II. Religionsausübung durch den/die Arbeitnehmer/-in: Das Urteil vom 15. Jänner 2013 Am 15. Jänner 2013 entschied der EGMR über vier Fälle gegen das Vereinigte Königreich, die er zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hatte.9 Das gemeinsame Thema, dass anlässlich der vier Individualbeschwerden zu beurteilen war, ist die Frage, in welchem Umfang Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz ihre Religion ausüben können und inwieweit daran geknüpfte negative Konsequenzen (Betrauung mit anderen Aufgaben, Kündigung) mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit bzw. dem Grundrecht auf Nicht­diskriminierung aus religiösen Gründen vereinbar sind. Bemerkenswert ist, dass sämtliche vier Fälle Arbeitnehmer betrafen, die ihre christlichen Überzeugungen auch im Arbeitsleben verwirklichen wollten.

4 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien); vgl. auch EGMR 23. 9. 2010, 425/03, (Obst/Deutschland) = EuGRZ 2010, 571  ff.; EGMR 23.  9.  2010, 1620/03 (Schüth/Deutschland) = EuGRZ 2010, 560  ff.; EGMR 3.  2.  2011, 18136/02 (Siebenhaar/Deutschland); EGMR 15.  5.  2012, 56030/07 (Fernández Martínez/Spanien). 5 EGMR 23. 9. 2010, 425/03, (Obst/Deutschland) = EuGRZ 2010, 571 ff.; EGMR 23. 9. 2010, 1620/03 (Schüth/Deutschland) = EuGRZ 2010, 560 ff. 6 EGMR 3. 2. 2011, 18136/02 (Siebenhaar/Deutschland). Zu diesen Fällen zum kirchlichen Arbeitsrecht s. Grabenwarter/Pabel, Das kirchliche Arbeitsrecht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, KuR 2011, 55 ff.; Schinkele, Kirchliches Arbeitsrecht in der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, öarr 2012, 155 ff. 7 EGMR 15. 5. 2012, 56030/07 (Fernández Martínez/Spanien). 8 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien). 9 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien).

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3. Wissenschaft

Zwei dieser Fälle betreffen das Tragen von religiösen Symbolen, und zwar eines deutlich sichtbaren Kreuzes an einer Halskette. Zwei Fälle betreffen die Verweigerung von einzelnen Aufgaben, die zum Arbeitsbereich der Beschwerdeführer­ innen gehören, aus religiösen Gründen. Unterscheiden lassen sich die vier Fälle dahingehend, dass bei zweien von ihnen der Staat im weitesten Sinn Arbeitgeber des Beschwerdeführers war, und bei den zwei anderen die Beschwerdeführerinnen hingegen bei privatrechtlichen Firmen angestellt waren. Beschränkung der Religionsausübung am Arbeitsplatz als Grundrechtseingriff Vor einer Darstellung und Analyse der vier Sachverhalte und Entscheidungen des genannten Urteils soll ein Aspekt zur Religionsfreiheit im Arbeitsrecht gewissermaßen vor die Klammer gezogen werden. Der EGMR befasst sich mit der folgenden Grundüberlegung ebenfalls im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den allgemeinen Prinzipien („general principles“) und stellt sie damit ebenfalls der Untersuchung der einzelnen Fallkonstellationen voran.10 Es geht um die Frage, ob überhaupt ein Eingriff in die Religionsfreiheit anzunehmen ist, wenn ein Arbeitgeber die Ausübung der Religionsfreiheit seines Arbeitnehmers am Arbeitsplatz einschränkt. Zu überlegen ist, ob der Arbeitnehmer darauf verwiesen werden kann, seine Arbeitsstelle zu wechseln und damit die Ausübung der Religionsfreiheit durch sein eigenes Verhalten zu ermöglichen. Verschiedene Entscheidungen der früheren Kommission für Menschenrechte weisen in diese Richtung.11 Der EGMR weist allerdings darauf hin, dass er selbst die Verhängung von arbeitsrechtlichen Sanktionen wegen der Ausübung von Grundrechten durch den Arbeitnehmer regelmäßig als Eingriff in das betreffende Grundrecht angesehen hat.12 Die insofern zitierten Entscheidungen beziehen sich auf das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK), das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) und die negative Freiheit, nicht zum Beitritt zu einer Gewerkschaft verpflichtet zu werden (Art. 11 EMRK).13 Diese Überlegungen überträgt der EGMR nun auch auf die Ausübung der Religionsfreiheit im Arbeitsverhältnis. Unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung der Religionsfreiheit hält es der Gerichtshof für den 10 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 79–87. 11 EKMR 9.  4.  1997, 29107/95 (Stedman/Großbritannien); EKMR 3.  12.  1996, 24949/94 (Konttinen/ Finnland). 12 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 83. 13 EGMR 13. 8. 1981, 7601/76 u 7806/77 (Young, James und Webster/Großbritannien) Rz 54 f.; EGMR 26. 9. 1995, 17851/91 (Vogt/Deutschland) Rz 44; EGMR 27. 9. 1999, 33985/96 u 33986/96 (Smith und Grady/Großbritannien) Rz 71.



3.22. Das Grundrecht der Religionsfreiheit

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angemessenen Zugang, bei der Behauptung einer Beschränkung der Religionsfreiheit am Arbeitsplatz einen Eingriff in das Grundrecht anzunehmen und nicht wegen der Möglichkeit, den Arbeitsplatz zu wechseln, bereits den Grundrechtseingriff abzulehnen. Vielmehr sei die Möglichkeit des Jobwechsels im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung als ein abwägungsrelevanter Aspekt zu berücksichtigen.14 Diese Vorgangsweise erscheint im Hinblick auf einen möglichst effektiven Grundrechts­schutz überzeugend. Sie bietet die Möglichkeit, die Belastung des Grundrechtsträgers im Hinblick auf die Ausübung der Religionsfreiheit auf der Rechtfertigungsebene zu gewichten. Auf diese Weise kann auch berücksichtigt werden, ob die Möglichkeit eines Wechsels des Arbeitsplatzes tatsächlich besteht und mit welchen Belastungen für den Betroffenen sie verbunden ist. Im Übrigen hat der EGMR schon in einem früheren Urteil betont, dass es mit der Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK vereinbar sei, dass der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber verpflichtet sei darzulegen, dass ein bestimmtes Handeln glaubens­geleitet sei, und er sich insofern hinsichtlich seiner religiösen Überzeugung erklären müsse, wenn er besondere Rechte – wie etwa das Fernbleiben von der Arbeit an einem religiösen Feiertag – für sich in Anspruch nehmen wolle.15 Das Tragen eines religiösen Zeichens während der Arbeit Bereits das Tragen eines religiösen Symbols durch den Arbeitnehmer während der Arbeit kann zu Konflikten mit dem Arbeitgeber führen, der im Rahmen der Aus­gestaltung des Arbeitsverhältnisses besondere Bekleidungsvorschriften erlässt. Zwei der vom EGMR am 15. Jänner 2013 entschiedenen Fälle betreffen arbeitsrechtliche Sanktionen, die wegen des Verstoßes gegen solche internen Bekleidungsregeln gegen Arbeit­nehmer verhängt wurden. Der erste Fall betrifft eine Mitarbeiterin von British Airways, Frau Eweida. Um Zeugnis für ihren christlichen Glauben abzulegen, wünschte Frau Eweida, während der Arbeit deutlich sichtbar ein Kreuz zu tragen. Damit verletzte sie die internen Firmenregeln von British Airways über das Tragen der Dienstkleidung und -uniform. Die Firma bot ihr an, einen Verwaltungsposten innerhalb des Unternehmens auszuüben, bei dem sie keine Uniform tragen müsse. Frau Eweida lehnte dieses Angebot jedoch ab und blieb stattdessen ohne Bezahlung zu Hause, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, an dem British Airways seine internen Regeln 14 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 83. 15 EGMR 13. 4. 2006, 55170/00 (Kosteski/Mazedonien) Rz 39.

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über das Tragen von Uniformen dahin gehend geändert hatte, dass nun das Tragen des Kreuzes erlaubt war.16 Der zweite Fall betrifft eine Krankenschwester, Frau Chaplin, die in einer Altenpflege­einrichtung beschäftigt war. Dort galt eine vom Gesundheitsministerium erlassene Bekleidungsvorschrift, die es grundsätzlich untersagte, Schmuck zu tragen, um die Verletzungsgefahr bei der Behandlung von Patienten möglichst gering zu halten. Auch Frau Chaplin wollte als Ausdruck ihres christlichen Glaubens ein Kreuz um den Hals tragen. Zwar schlossen es die Bekleidungsvorschriften nicht von vornherein aus, im Dienst religiöse Symbole zu tragen. Vielmehr war ausdrücklich vorgesehen, dass ein entsprechender Wunsch mit dem zuständigen Vorgesetzten abzuklären sei. Für die Beschwerdeführerin traten jedoch Probleme auf, als zu einem bestimmten Zeitpunkt neue Kittel eingeführt wurden, deren Ausschnitt sich derart änderte, dass nun die stets von der Beschwerde­führerin getragene Kette deutlicher sichtbar war. Sie wurde aufgefordert, die Halskette mit dem Kreuz nicht weiter zu tragen. Zu einer Kompromisslösung zwischen Arbeitnehmerin und Arbeitgeber kam es nicht. Daraufhin wurde die Beschwerdeführerin auf eine Stelle ohne pflegerische Aufgaben versetzt.17 In beiden Fällen sah der EGMR in dem Tragen des Kreuzes an einer Halskette eine Ausübung der Religion. In beiden Fällen wurde wegen der aus dem Arbeitsverhältnis resultierenden Pflicht, das Kreuz abzunehmen, ein Eingriff in das Grundrecht auf Religions­freiheit angenommen. Während die Altenpflegerin bei einer öffentlichen Stelle angestellt war, sodass der Grundrechtseingriff dem Staat im weitesten Sinne direkt zugeordnet werden konnte, war der Grundrechtseingriff im Fall der Mitarbeiterin von British Airways dem Staat nicht direkt zurechenbar. Hier war zu untersuchen, ob der Staat seine Gewährleistungs­pflichten („positive obligations“) im Hinblick auf Art. 9 EMRK erfüllt hatte, das heißt, ob das Recht auf Religionsfreiheit innerhalb der Rechtsordnung hinreichend geschützt wurde.18 Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Während der EGMR im Fall der Mitarbeiterin von British Airways eine Verletzung des Grundrechts der Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK annahm, sah er im Fall der Altenpflegerin keine Verletzung der Religionsfreiheit. Gerade angesichts der Verbindung der beiden Fälle und der Entscheidung des Gerichtshofs am selben Tag liegt es nahe zu fragen, welche Aspekte zu dieser unterschiedlichen Wertung geführt haben. Zunächst ist festzuhalten, dass auch im Fall der Mitarbeiterin von British Airways, also einer Angestellten einer privaten Firma, der Gerichtshof nicht feststellen 16 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 9–17. 17 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 18–22. 18 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 91.



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konnte, dass das inner­staatliche Recht keinen hinreichenden Schutz des Rechts der Beschwerdeführerin gewährt, ihre Religion durch das Tragen eines Symbols auszuüben. Der EGMR attestiert den englischen Gerichten, dass sie durchaus im Rahmen des arbeitsgerichtlichen Verfahrens die Bedeutung der Religionsfreiheit für die Angestellten berücksichtigt und geprüft hatten. Allerdings nahm der EGMR an, dass die Abwägung der betroffenen Interessen von Arbeitnehmerin und Arbeitgeber grundrechtswidrig zulasten der Arbeitnehmerin ausgefallen sei. Der Gerichts­hof stellt eine eigene Abwägung an, zwischen dem Recht auf Ausübung der Religion durch die Arbeitnehmerin auf der einen Seite und dem Interesse des Arbeitgebers auf der anderen Seite, ein bestimmtes einheitliches Erscheinungsbild zu erzielen. Diesem letztgenannten Ziel von British Airways hatten die Gerichte nach Auffassung des EGMR ein zu großes Gewicht beigemessen. Daher sah der Straßburger Gerichtshof die Grundrechte von Frau Eweida als verletzt an.19 Die Vorgehensweise des EGMR entspricht in ihrer Grundstruktur derjenigen, die von der Rechtsprechung des EGMR zum kirchlichen Arbeitsrecht bekannt ist. Eine ausdrückliche Bezugnahme auf diese Urteile findet sich allerdings in der Begründung im Urteil Eweida nicht. In den Fällen zum kirchlichen Arbeitsrecht kann sich die Kirche bzw. Religions­gesellschaft als Arbeitgeber auf das Grundrecht der (kollektiven) Religionsfreiheit berufen und, darauf gestützt, den Arbeitnehmern besondere, ihn in ihren Privat- und Familienleben beschränkende Loyalitätspflichten auferlegen.20 Die Religionsfreiheit schützt also den Arbeitgeber, nicht den Arbeitnehmer, wie in den hier erörterten Fällen. In der Grundkonstellation des Grundrechtskonflikts in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis entsprechen sich die Konstellationen jedoch. Der EGMR nimmt für sich die Kontrolle der staatlichen arbeitsgerichtlichen Instanzen am Maßstab der Konventionsrechte in Anspruch und nimmt eine eigene Abwägung der betroffenen Interessen vor. Zwei Aspekte sind im Rahmen dieser Argumentation bemerkenswert. Erstens weist der EGMR darauf hin, es sei im Rahmen der Uniformregeln von British Airways durchaus möglich gewesen, dass andere Angestellte etwa Kopfbedeckungen wie einen Turban oder ein Kopftuch trugen, ohne dass dies auf die Marke von British Airways oder sein Image einen negativen Einfluss gehabt hätte. Außerdem hebt der Gerichtshof hervor, dass die Uniformregeln von British Airways ohnehin später derart angepasst wurden, dass auch das Tragen eines Kreuzes möglich wurde. Zweitens geht der EGMR auf die Frage der Schwere der arbeitsrechtlichen Sanktion für die Beschwerdeführerin nicht ein. Er hält es zwar für richtig, dass die innerstaatlichen Gerichte diesen Aspekt in ihrer Abwägung berücksichtigen. Selbst 19 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 95. 20 Vgl. Grabenwarter/Pabel (FN 6) KuR 2011, 62.

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setzt er sich aber insbesondere damit nicht auseinander, dass British Airways der Beschwerdeführerin intern Ausweichmöglichkeiten (die Beschäftigung in einem Bereich ohne Uniformpflicht) angeboten hatte, um ihren persönlichen Konflikt mit der Religionsausübung zu lösen. Hier erscheint in Summe die Abwägung ein wenig kurz gegriffen. Im Fall der Altenpflegerin maß der EGMR dem Argument der Behörden, das Tragen von jeglichem Schmuck einschließlich religiöser Symbole zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit von Krankenschwestern und Patienten zu beschränken, größeres Gewicht bei. Zudem verwies der Gerichtshof darauf, dass die betroffene Angestellte die Möglichkeit gehabt hätte, durch das Tragen eines hochgeschlossenen T-Shirts unter dem vorge­schriebenen Kittel weiterhin das von ihr gewünschte Kreuz zu tragen. Ein mögliches Alternativverhalten – allerdings ohne einen Wechsel des Arbeitsplatzes im Unternehmen – wurde hier also anders als im Fall Eweida in Betracht gezogen. Insofern ging die Abwägung zulasten der betroffenen Arbeitnehmerin aus.21 Die Verweigerung von Aufgaben aus religiösen Gründen In den zwei weiteren Fällen, über die der EGMR am 15. Jänner 2013 entschied, ging es um die Nichterfüllung von dienstlichen Aufgaben der Arbeitnehmer aus religiösen Gründen. Der dritte und der vierte Beschwerdeführer sind streng gläubige Christen, die aus religiösen Überzeugungen gleichgeschlechtliche Verbindungen ablehnen. Die dritte Beschwerdeführerin arbeitete als Standesbeamtin, deren Aufgabe es unter anderem war, eingetragene Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare zu registrieren. Diese Tätigkeit lehnte sie aus religiösen Gründen ab, woraufhin gegen sie Disziplinarverfahren angestrengt wurden und sie schließlich ihre Anstellung verlor.22 Der vierte Beschwerdeführer, Herr MacFarlane, war bei einer privaten Firma angestellt, die Paarberatungen und sexual­therapeutische Beratungen anbot. In ihren internen Richtlinien verlangte sie von den Angestellten, die angebotenen Dienstleistungen in gleicher Weise heterosexuellen und homosexuellen Paaren anzubieten. Aufgrund seiner religiösen Überzeugung weigerte sich Herr MacFarlane allerdings, gleichgeschlechtliche Paare psychosexuell zu beraten. Auch in seinem Fall wurden arbeitsrechtliche Disziplinarmaßnahmen ergriffen, gegen die er sich vor den Gerichten wehrte.23

21 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 100. 22 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 18–22. 23 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 31–40.



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In beiden Fällen ging es um eine mögliche Verletzung der Diskriminierung aus religiösen Gründen (Art. 14 iVm Art. 9 EMRK). Der EGMR lehnte in beiden Fällen eine Grund­rechtsverletzung der Arbeitnehmer ab. Er anerkannte zwar, dass ihre Verweigerung der Arbeitsleistungen aus religiösen Gründen erfolgte. Gleichzeitig betonte er aber, dass beide Arbeitnehmer mit dem Eingehen des Arbeitsverhältnisses wissen mussten, dass die jeweiligen Arbeitgeber die Gleichbehandlung von heterosexuellen und homosexuellen Paaren von ihnen erwartete. Das Argument, dass der Arbeitnehmer beim Eingehen des Arbeitsvertrages also Kenntnis davon hatte, welche Aufgaben und welche Verhaltens­weisen von ihm erwartet wurden, stand hier im Vordergrund.24 Das maßgebliche Grundrecht Auffallend ist zunächst, dass der EGMR zur grundrechtlichen Beurteilung der Fälle unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe anlegt. Während der Gerichtshof bei den Fällen, die das Tragen eines religiösen Symbols während der Arbeitszeit betreffen, Art. 9 EMRK, das Grundrecht der Religionsfreiheit, für sich geprüft hat, zieht er in den Fällen der Verweigerung von Arbeitsleistungen aus religiösen Gründen (dritter und vierter Beschwerdeführer) Art. 9 in Verbindung mit Art. 14 EMRK, das heißt das Diskriminierungsverbot aus religiösen Gründen heran. Unabhängig von der Frage, ob nach innerstaatlichem Recht die betreffenden Fälle als Diskriminierungsfälle betrachtet werden, stellt sich für die Anwendung der EMRK die Frage, ob hier eine Begründung dafür vorliegt, zwei der Fälle als Diskriminierungsfälle und zwei der Fälle als freiheitsrechtliche Fälle zu betrachten. Wahrscheinlich hat der unterschiedliche Prüfungsmaßstab keinen Einfluss auf das Ergebnis. Es geht darum zu erfassen, wann der Gerichtshof Art. 9 alleine und wann er Art. 9 in Verbindung mit Art. 14 heranzieht. Das Argument, dass im innerstaatlichen Recht möglicher­weise ein Diskriminierungsfall vorliegt, ist für den Prüfungsmaßstab des EGMR ohne Bedeutung.25 Für die Frage des Prüfungsmaßstabs sollte es auch ohne Bedeutung sein, ob der Beschwerdeführer jeweils Art. 9 alleine oder in Verbindung mit Art. 14 für sich in Anspruch genommen hat. Interessanterweise legt der EGMR im Fall der dritten Beschwerdeführerin (der Standesbeamtin) offen, dass er eine mögliche Diskriminierung zwischen einem Standesbeamten, der auf Grund seiner religiösen Überzeugung gleichgeschlecht­ 24 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 105, 109. 25 Siehe dazu Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar3 (2009) Art. 14 Rz 1 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK (FN 2) § 25 Rz 1 ff.

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liche Paare nicht eintragen möchte, und einem Standesbeamten ohne eine solche religiöse Überzeugung prüfen wird.26 Zwischen diesen beiden Gruppen findet allerdings keine Ungleichbehandlung, sondern eine Gleichbehandlung statt. Es geht also eher um die Frage, ob zugunsten der religiösen Überzeugung eine Ausnahme von der generellen Pflicht zur Erfüllung der Arbeitsverpflichtungen zu machen ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es überzeugender, auch diesen Fall am Maßstab des Art. 9 EMRK ohne Heranziehung des Diskriminierungsverbotes zu prüfen. Entsprechendes gilt für den Fall des vierten Beschwerdeführers, wobei hier anzumerken ist, dass der EGMR die Frage des Vorliegens einer Ungleichbehandlung überhaupt nicht prüft. Anmerkungen zur Grundrechtsprüfung In einer Gesamtschau aller vier Fälle, die der Gerichtshof zur Entscheidung verbunden hat, fällt es schwer, eine argumentative Linie in den vier Begründungen zu finden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die jeweilig erreichten Ergebnisse nicht überzeugen können. Vielmehr fehlt es an einem Gesamtkonzept, nach welchem die Abwägungsprozesse in Fällen der Religionsausübung im Arbeitsrecht entschieden werden können. a) Abwehrrecht und Gewährleistungspflicht Der EGMR unterscheidet im Ansatz durchaus zwischen jenen Fällen, in denen der Staat im weitesten Sinne Arbeitgeber ist und die Grundrechte daher unmittelbar im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Anwendung finden, und jenen Konstellationen, in denen die Grundrechte auf ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis einwirken.27 In den letztgenannten Konstellationen untersucht der EGMR die mögliche Verletzung einer Gewähr­leistungspflicht („positive obligation“).28 Es wird also geprüft, ob die staatlichen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den zivilrechtlichen (arbeitsrechtlichen) Streit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Grundrechte, hier insbesondere das Grundrecht der Religionsfreiheit des Arbeitnehmers, hinreichend berücksichtigt haben. Entsprechend seiner inzwischen ständigen Rechtsprechung wendet der Gerichtshof trotz der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen positiven und negativen Verpflichtungen die gleichen Prinzipien zur Entscheidung des Falles an.29 Es geht 26 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 104. 27 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 84. 28 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 91, 108; siehe zu Schutzpflichten aus Art. 9 EMRK von Ungern-Sternberg in Karpenstein/Mayer (FN 2) Art. 9 Rz 52. 29 Aus dem Bereich des Arbeitsrechts s. etwa EGMR 23. 9. 2010, 1620/03 (Schüth/Deutschland) Rz 55; EGMR 21. 7. 2011, 28274/08 (Heinisch/Deutschland) Rz 62; aus der Lit. etwa Rebhahn, Zivilrecht



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im Kern um eine Abwägung zwischen den einander widerstreitenden Interessen.30 Dieses Grundkonzept des EGMR soll hier nicht von vornherein kritisiert werden, auch wenn zu fragen ist, ob mit der Nivellierung der beiden Grundrechtsdimensionen der Staat nicht doch zulasten der privaten Freiheit zu stark in Rechtsverhältnisse zwischen Privaten ein­greift.31 Zutreffend ist, dass es sowohl im Fall der direkten Anwendung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Bürger und Staat als auch bei der mittelbaren Anwendung der Grundrechte im Privatrecht Abwägungsprozesse gibt. Allerdings laufen diese Abwägungs­prozesse in den genannten Konstellationen nicht gänzlich gleich. Der entscheidende Unter­schied ist, dass bei einer direkten Anwendung der Grundrechte im Verhältnis zwischen Staat und Bürger eine Abwägung zwischen dem betroffenem Grundrecht einerseits und dem öffentlichen Interesse, zu dessen Förderung das Grundrecht beschränkt wird, andererseits durchzuführen ist. Der Staat hat sich also unter Berufung auf die Verfolgung eines öffentlichen Interesses für den Grundrechtseingriff zu rechtfertigen. Bei der Prüfung einer möglichen Grundrechtsverletzung im Arbeitsverhältnis zwischen Privaten ist zu prüfen, ob die staatlichen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den zivilrechtlichen Streit die Grundrechte hinreichend berücksichtigt haben. Eine Abwägung findet zwischen den betroffenen Grundrechten des Arbeitnehmers einerseits und den betroffenen Grundrechten des Arbeitgebers andererseits statt. Die Frage ist, ob die staatlichen Behörden bzw. Gerichte in der Abwägung dieser Grundrechte einen angemessenen Ausgleich („fair balance“) gefunden haben.32 Diese grundsätzlichen Unterschiede im Abwägungsvorgang hält der EGMR in den hier diskutierten Fällen nicht durchgehend ein. So ist im Fall der Mitarbeiterin von British Airways festzustellen, dass der EGMR prüft, ob die private Firma British Airways mit der Vor­schreibung einer bestimmten einheitlichen Kleidung ein legitimes Ziel verfolgt. Damit aber wird sie in die gleiche Position wie ein grundrechtsbeschränkender Staat gerückt, der sich durch die Anführung eines legitimen Ziels für seinen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen hat. Eine private Firma hingegen übt selbst Grundrechte aus, wenn sie etwa als Teil ihrer Geschäftspolitik ein einheitliches Erscheinungsbild vorschreibt. Anders als bei der Über­prüfung eines staatlichen Verhaltens geht es also aufseiten der Firma um die Ausübung grundrechtlicher Freiheit. Der Staat ist in der Position,

und Europäische Menschenrechtskonvention, AcP 2010, 489 (501 ff., 547); Seifert, Die horizontale Wirkung von Grundrechten, EuZW 2011, 696 (699 ff.). 30 Grabenwarter/Pabel, EMRK (FN 2) § 19 Rz 5 mN der Rsp und Lit. 31 In diese Richtung vgl. Seifert (FN 29) EuZW 2011, 699 ff.; Rebhahn (FN 29) AcP 2010, 547 ff. 32 Vgl. dazu Grabenwarter/Pabel, EMRK (FN 2) § 26 Rz 33.

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zwischen der Ausübung dieser Freiheit und der dadurch erreichten Freiheitsbeschränkung aufseiten des Arbeitnehmers eine Abwägung durchzuführen. Die Freiheitsausübung selbst ist jedoch nicht rechtfertigungsbedürftig. Der EGMR kommt bei der konventionsrechtlichen Überprüfung dieses Abwägungsvorganges zwischen zwei Grundrechtspositionen möglicherweise auch deswegen in Schwierigkeiten, weil wirtschaftliche Grundrechte, die in der vorliegenden Konstellation zugunsten des Arbeitgebers anzuführen wären, in der Konvention nur sehr rudimentär gewährleistet sind. Das grundrechtliche Dreiecksverhältnis, das für die konventionsrechtliche Überprüfung von Streitigkeiten aus dem Zivilrecht typisch ist, weist also eine Lücke auf. Das unterscheidet die Urteile zur Religionsausübung durch den Arbeitnehmer von jenen des kirchlichen Arbeitsrechts, in denen sich die Kirchen bzw. Religionsgesellschaften als Arbeitgeber auf das Grundrecht des Art. 9 EMRK, die Arbeitnehmer auf den Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) oder ebenfalls auf die Religionsfreiheit berufen können. Das grundrechtliche Dreiecksverhältnis ist vollständig, der EGMR sieht sich in der Aufgabe, die kollidierenden Grundrechte gegen­ einander abzuwägen. Umgekehrt nimmt der EGMR im Fall der dritten Beschwerdeführerin (der Standesbeamtin) an, dass die staatlichen Behörden hier zwischen einander widersprechenden Konventions­rechten abzuwägen hätten. Da die Standesbeamtin jedoch unmittelbar beim Staat angestellt war, kann dieser für sich keine Konventionsrechte in Anspruch nehmen. Hier müsste eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse auf der einen Seite und den Grundrechten der beschwerdeführenden Arbeitnehmerin auf der anderen Seite durchgeführt werden. Insofern verwundert es, dass der EGMR hier in Ansätzen diskutiert, ob die von der Beschwerdeführerin verlangte Eintragung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften vor dem Hintergrund der Konvention erlaubt oder sogar geboten ist.33 Diese Frage ist für die Beurteilung der Verweigerung einer Arbeitsleistung allenfalls dann relevant, wenn der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer strafbare oder aus anderen Gründen schlechthin unzumutbare Handlungen verlangt. b) Das Konzept des Beurteilungsspielraums Auch der Umgang mit dem Konzept des Beurteilungsspielraums („margin of appreciation“) überzeugt in den vorliegenden Entscheidungen nicht. Mit dem Konzept des Beurteilungs­spielraums hat der EGMR die Möglichkeit, die Kontrolldichte gegenüber staatlichen Ent­scheidungen bei der Überprüfung ihrer Kon-

33 EGMR 15. 1. 2013, 48420/10 ua (Eweida ua/Großbritannien) Rz 105.



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ventionsmäßigkeit zu differenzieren.34 Gerade bei der Entscheidung über Verfahren, die im Ausgangspunkt zivilrechtliche Verfahren sind, bietet das Konzept des Beurteilungsspielraums die Möglichkeit, eine Konventionsverletzung dann nicht anzunehmen, wenn auf der innerstaatlichen Ebene eine mögliche Grundrechts­ verletzung durch die zuständigen Zivilgerichte überprüft wurde und die betroffenen Belange sorgfältig gegeneinander abgewogen wurden.35 Im Fall der Mitarbeiterin von British Airways geht der EGMR auf den Beurteilungsspielraum überhaupt nicht ein, auch wenn dies aufgrund der Konstellation – einer Überprüfung des Falls von mehreren innerstaatlichen Gerichts­instanzen – nahegelegen hätte. Im Fall der Altenpflegerin erkennt der Gerichtshof den nationalen Behörden (konkret den Verantwortlichen im Krankenhaus) einen weiten Entscheidungsspielraum zu, da diese in einer besseren Position seien als der Gerichtshof, über die Sicherheit in der Klinik zu entscheiden. Damit nimmt der EGMR zwar auf ein „klassisches“ Argument zur Begründung eines weiten Beurteilungsspielraums Bezug, bezieht es aber nicht auf die nachprüfenden Gerichte. Eine Rücknahme der Kontrolldichte gegenüber den innerstaatlichen Gerichten kann so nicht begründet werden. Im Fall der Standesbeamtin nimmt der Gerichtshof des­wegen einen weiten Beurteilungsspielraum an, da hier eine Abwägung zwischen einander widerstreitenden Konventionsrechten zu treffen sei. Aus dieser Aussage, die in der Annahme einer Grundrechtskollision fehlgeht, werden allerdings keine weiteren Konsequenzen gezogen. Vielmehr erscheint hier die Annahme des weiten Beurteilungsspielraums als ein Abwägungskriterium. Im vierten Fall (Berater bei einer privaten Firma) begründet der EGMR den weiten Beurteilungsspielraum damit, dass der Arbeitgeber mit der Durchsetzung seiner Unternehmenspolitik erreichen wollte, dass die von ihm angebotene Dienstleistung ohne Diskriminierung erfolgt. Warum diese Zielsetzung des privaten Arbeitgebers allerdings zu einem weiten Entscheidungsspielraum für den Staat führen soll, bleibt unklar. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Erwähnung des Beurteilungsspielraums formel­haft in die Abwägung des Gerichtshofs Eingang findet. Eine Anwendung dieses Konzepts als Möglichkeit für die Anpassung der eigenen Kontrolldichte ist nicht festzustellen.

34 Grabenwarter/Pabel, EMRK (FN 2) § 18 Rz 20; von Ungern-Sternberg in Karpenstein/Mayer (FN 2) Art. 9 Rz 43 ff. 35 Pabel, Der grundrechtliche Schutz des Whistle-Blowing, in Feik/Winkler (Hrsg.), FS Berka (2013) 161 (167 f.).

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c) Kasuistik oder Entwicklung von Abwägungskriterien? Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass die Grundrechtsprüfungen des EGMR strukturell einige Schwächen aufweisen. Weder die Differenzierung zwischen Arbeits­verhältnissen im öffentlichen und privaten Bereich noch das Konzept des Beurteilungs­spielraums werden auf eine überzeugende Weise entwickelt. Nicht zuletzt muss auch festgestellt werden, dass aus den entschiedenen Fällen nicht ersichtlich ist, nach welchen Kriterien der EGMR die Abwägungsvorgänge prüft. Als Gegenbeispiel ließe sich hier etwa die Entscheidung des EGMR zum whistle-blowing im Arbeitsrecht anführen, in denen der Gerichtshof gewissermaßen eine Matrix von Gesichtspunkten ent­wickelt hat, die in den Abwägungsvorgang einfließen.36 Ein solches Vorgehen macht erstens den Abwägungsvorgang transparent, es ermöglicht zweitens den nationalen Behörden und Gerichten eine Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR und sorgt drittens dafür, dass künftige Straßburger Entscheidungen zu ähnlich gelagerten Fällen vorhersehbar werden.37 Ein solches Ergebnis lässt sich für die Berücksichtigung der Religionsausübung des Arbeitnehmers in Arbeitsverhältnissen nicht feststellen, obwohl die Entwicklung einer solchen „Matrix“ gerade bei der Verbindung von vier Fällen zur gemein­samen Entscheidung nahegelegen hätte.

Resümee Mit der Entwicklung einer eigenständigen Rechtsprechung zur Frage der Ausübung von Religion in Arbeitsverhältnissen auf Seiten des Arbeitnehmers gerät der EGMR in eine Situation, die mit jener eines innerstaatlichen Verfassungsgerichts vergleich­bar ist, das im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde Urteile von Gerichten überprüft. Das deutsche Bundesverfassungsgericht lehnt für sich (nicht immer erfolgreich) die Rolle einer Superrevisionsinstanz stets ab.38 Das sollte umso mehr für den EGMR gelten, einem völker­rechtlichen Gerichtshof, der eine Form der Letztkontrolle im Hinblick auf den Grundrechts­schutz wahrnimmt. Eine detaillierte Nachprüfung von fachgerichtlichen Entscheidungen, die in einem rechtsstaatlichen Verfahren, womöglich in mehreren Instanzen und womöglich unter Kontrolle eines nationalen Verfassungsgerichts ergangen sind, kann und soll nicht Aufgabe des EGMR sein.39

36 EGMR 21. 7. 2011, 28274/08 (Heinisch/Deutschland) Rz 65 ff. 37 Pabel, in FS Berka (FN 35) 161 ff. 38 Vgl. für alle Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht3 (2011) Rn 181 ff., mit vielen Nachweisen der Rsp. 39 Vgl. dazu Grabenwarter/Pabel (FN 6) KuR 2011, 69 f.; Pabel in FS Berka (FN 35) 170 f.



3.22. Das Grundrecht der Religionsfreiheit

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Diese Überlegungen haben Folgen für die Kontrolldichte des EGMR. Im Hinblick auf einen effektiven Grundrechtsschutz ist es Aufgabe des EGMR, zu prüfen, ob dem Beschwerde­führer innerstaatlich Rechtsschutz in einem ordnungsgemäßen Verfahren gewährt worden ist und ob seine Rechte gewürdigt wurden. Darüber hinaus kann die Erarbeitung von Kriterien, die bei den notwendigen Abwägungsvorgängen auf innerstaatlicher Ebene berück­sichtigt werden sollen, ein Schritt sein, um nicht nur verfahrensrechtlich, sondern auch materiell effektiven Grundrechtsschutz zu sichern. Zu den Aufgaben des Gerichtshofs gehört es dann aber nicht, eine eigene detaillierte Wertung von Sachverhalt und Abwägung im Einzelfall vorzunehmen. Problematisch an einer solchen Vorgangsweise des EGMR ist, dass er einen eigenen Beitrag zu seiner Überlastung leistet, ohne dass dies im Hinblick auf einen effektiven Grundrechtsschutz notwendig wäre. Zu befürchten ist außerdem, dass diese Vorgangsweise auf Dauer zu einer schlechteren Akzeptanz der Rechtsprechung aus Straßburg in den Konventionsstaaten beitragen kann.

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3.23 Minderheiten zwischen Recht und Politik – am Beispiel des Kärntner Ortstafelkonflikts. Anmerkungen zur wechselseitigen Bereicherung von Rechts- und Politikwissenschaft

Jürgen Pirker

Minderheitenfragen bewegen sich stets in einem Spannungsfeld zwischen (Verfassungs-)Recht und Politik.1 In diesem Feld bewegte sich auch Christian Brünner. Und er schaffte die Balance zwischen zwei weiteren Gegensätzen: der analysierenden Wissenschaft und der gestaltenden Politik. In seiner Funktion als gerade neu gewählter Minderheitensprecher der ÖVP stellte Christian Brünner 1992 fest, „dass Minderheitenfragen Mehrheitsfragen sind. Sie sind deswegen Mehrheitsfragen, weil die Volksgruppen unverzichtbare und bereichernde Teile unserer Gesellschaft und unseres Staates sind. […] Die Zeit ist heute leider nicht gerade förderlich, um Volksgruppenfragen öffentlich und mit großem Getöse zu diskutieren. Es geht darum, dass wir zielstrebig die Probleme der Volksgruppen angehen, […] aber dabei mit großer Sensibilität vorgehen, damit wir nicht unerwünschte Rückschläge erleiden.“2 Dass diese Feststellung auch nach zwanzig Jahren nicht an Gültigkeit verloren hat, zeigten zuletzt die Debatten um die Lösung der Kärntner Ortstafelfrage und eine Reform des Volksgruppenrechts. Christian Brünner hat vieles vorhergesehen. Er erhob bereits 1992 die Frage nach der Existenz einer slowenischen Volksgruppe in der Steiermark, regte an, über eine Novellierung des Volksgruppenrechts nach1 Der vorliegende Beitrag ist hervorgegangen aus einem Vortrag am Tag der Politikwissenschaft an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz am 30. 11. 2012. Er synthetisiert Erkenntnisse der Arbeiten Pirker, Reform des Volksgruppenrechts. Die Lösung der Ortstafelfrage 2011, ÖJZ 9 (2012) 396 ff.; Pirker, Über die „Mitte der Brücke“ – Der Weg zur Lösung der Kärntner Ortstafelfrage 2010–2011, in Anderwald/Filzmaier/Hren (Hrsg.), Kärntner Jahrbuch für Politik (2011) 78 ff.; Pirker, Kärntner Ortstafelstreit – Der Rechtskonflikt als Identitätskonflikt (2010) und entwickelt Perspektiven für die gegenseitige Bereicherung von Rechts- und Politikwissenschaft. 2 Sten Prot NR 83, 14./15. 10. 1992, 18. GP 9237 f.



3.23. Minderheiten zwischen Recht und Politik

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zudenken und setzte sich ein für eine Förderung zweisprachiger Kindergärten in Kärnten und eine Lösung der Ortstafelfrage im Burgenland – dies mit Vorschlägen, die sofort an die „Gemeindeklausel“ der Kärntner Ortstafellösung 2011 denken lassen: Dort mit der Umsetzung zu beginnen, wo einstimmige Gemeinderatsbeschlüsse vorliegen, „denn wenn einmal solche zweisprachigen Ortstafeln stehen, wird deutlich, dass das im Grunde genommen nicht weh tut“.3 Christian Brünner stellte diese Vorschläge zur Diskussion knapp zehn Jahre bevor die Ortstafelfrage im Burgenland ohne größere Widerstände gelöst werden konnte, aber auch zehn Jahre bevor die Debatte in Kärnten durch das „Ortstafelerkenntnis“4 des VfGH und die Reaktion der Landesbehörden eine neue Dynamik bekam und erst nach weiteren zehn Jahren intensiver Auseinandersetzungen und Verhandlungen einer Lösung zugeführt werden konnte.

I. Kärnten: Verfassung zwischen Recht und Politik Die Kärntner Ortstafelfrage barg vielfältige Herausforderungen an den Rechtsstaat und stellte die Autorität der Verfassung infrage, wie Magdalena Pöschl im Jahr 2010 urteilt: „Viel offener, geradezu zur Schau getragen werden die verfassungswidrigen Zustände, die in der Ortstafelfrage in Kärnten herrschen. Die wiederholte Weigerung der zuständigen Landesbehörden, die allseits bekannten Entscheidungen des VfGH umzusetzen, ist an sich schon skandalös genug. Zumindest ebenso bemerkenswert ist aber, wie man auf Bundesebene darauf reagiert: Zunächst natürlich mit Betroffenheit, davon abgesehen wurde aber so getan, als böte die Rechtsordnung gegen diese Zustände keine Handhabe und als sei es auch ‚nicht hilfreich‘, auf die Missstände in Kärnten immer wieder hinzuweisen, weil das die sensiblen Verhandlungen mit dem sensiblen Land Kärnten stören könnte – als ob die Geltung von Verfassungsrecht, das im konkreten Fall sogar völkerrechtlichen Ursprungs ist, Gegenstand von Verhandlungen zwischen dem Land Kärnten und dem Bund sein könnte!“5 Auch das Ende der Ortstafeldebatte brachte erst ein politischer Prozess, in dessen Rahmen die Ausgestaltung der Volksgruppenrechte 56 Jahre nach Abschluss

3 Sten Prot NR 83, 14./15. 10. 1992, 18. GP 9237 f. 4 VfSlg 16.404/2001. 5 Pöschl, Die Zukunft der Verfassung (2010) 39.

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des österreichischen Staats­vertrages (StV)6 neu verhandelt wurde: Als Novelle des Volksgruppengesetzes (VoGrG)7 regelt die Ortstafellösung neben den zweisprachigen Aufschriften auch die Amtssprache in Kärnten und im Burgenland (zum Teil) im Verfassungsrang und tritt in einzelnen Punkten neuerlich in ein Spannungsverhältnis zur Verfassung. Zu verstehen ist die Lösung nur als Ergebnis eines politischen Prozesses, der die widerstreitenden Interessen der Konfliktparteien auf einen gemeinsamen Nenner bringt und im Verfassungsrang absichert, um eine „dauerhafte und stabile Lösung“8 der Ortstafelfrage zu bieten. Der Leiter des Kärntner Verfassungsdienstes, Gerold Glantschnig, charakterisiert sie daher als „keine Lösung, die sich sklavisch an den juristisch determinierten Vorgaben des Verfassungs­gerichtshofes im Rahmen des Ortstafelerkenntnisses orientierte. Angesichts des hohen Abstraktionsgrades der Vorhaben im Staatsvertrag war aber offenkundig […], dass eine Umsetzungslösung keine juristische, keine wissenschaftlich exakt begründbare sein kann, sondern letztlich eine politische sein muss.“9 Ohne eine Analyse ihres politischen und historischen Kontexts sind diese Lösung und der Konflikt um zweisprachige topografische Aufschriften in Kärnten, wie auch seine Aus­wirkungen auf das Recht nicht zu verstehen. Sie erhellt Interessenlagen und Spannungsfelder hinter den Rechtsnormen und erklärt die intensiven Herausforderungen, die der Ortstafelstreit bis zu seiner verfassungsrechtlichen Lösung an den Rechtsstaat herantrug. Daher bildet der Kärntner Ortstafelstreit ein Paradebeispiel für die wechselseitige Bereicherung von rechts- und politikwissenschaftlicher Analyse – im Sinne der gelebten Tätigkeit Christian Brünners zwischen (Verfassungs-)Recht und Politik.

II. Hintergrund und jüngste Entwicklungen Im Zentrum der Auseinandersetzungen um zweisprachige topografische Aufschriften stand ein Konflikt um Symbole: Zweisprachige Ortstafeln symbolisieren Identitäten. Für Volks­gruppenangehörige sind sie ein Zeichen der Heimat und ein Ausdruck der Anerkennung der gemeinsamen Kultur – Ortstafeln zeigen an, 6 Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, BGBl. 1955/152 idF BGBl. I 2008/2. 7 Volksgruppengesetz, BGBl. 1976/396 idF BGBl. I 2011/46. 8 ErläutRV 1220 BlgNR 24. GP 6. 9 Glantschnig, 10 Jahre Ringen um eine Lösung, in Beclin/Karpf/Kassl/Platzer (Red.), Ein Kärnten. Die Lösung. (2012) 106 (114).



3.23. Minderheiten zwischen Recht und Politik

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dass die Volksgruppe willkommen ist. Zugleich stellen sie deutsch(national)e oder assimilierte Identitäten infrage und ließen sich als Symbole über viele Jahrzehnte hinweg politisch instrumentalisieren.10 Erst in den letzten Jahren verlor die Frage an Mobilisierungskraft: So gaben im Jahr 2010 in einer Umfrage 81 % der Befragten an, zweisprachige Ortstafeln würden sie nicht stören und 82 % wünschten sich eine Lösung der Frage anlässlich des 90-jährigen Jubiläums der Kärntner Volksabstimmung.11 Gefunden wurde sie erst ein Jahr danach. Diese Novelle des Volksgruppengesetzes dient der Verwirklichung der verfassungs- und völkerrechtlichen Verpflichtungen des Art. 7 Z 3 StV12, der in seiner vagen Formulierung bereits das Fundament bereitet für die späteren Divergenzen um seine Umsetzung. Ins­besondere lässt die Bestimmung offen, in welchen „Gerichts- und Verwaltungsbezirken“ ab welchem Anteil an „gemischter Bevölkerung“ welche Art von „Bezeichnungen und Auf­schriften topographischer Natur“ anzubringen sind. Innerstaatlich klärt diese Fragen erst der VfGH in seiner Judikatur zur Ortstafelfrage.13 Dementsprechend vielfältig ist die Bandbreite an früheren Lösungsversuchen: Während das Ortstafelgesetz14 der SPÖ 1972 einen 20 %-Anteil Slowenisch sprechender Bevölkerung als Kriterium heranzieht und 205 zweisprachig beschilderte Orte in 31 Gemeinden ausweist, in seiner Umsetzung jedoch am Widerstand von Teilen der Kärntner Mehrheitsbevölkerung scheitert (sogenannter Ortstafelsturm), stellt das Volksgruppengesetz 197615 nach einer Einigung der drei Großparteien auf einen Anteil von 25 % Slowenisch sprechender Bevölkerung ab, der durch eine geheime Erhebung der Muttersprache festgestellt werden soll. Wegen des weitgehenden Boykotts der Volksgruppenangehörigen bleiben die Ergeb-

10 Hierzu ausführlich Pirker, Kärntner Ortstafelstreit, 111 ff. 11 Humaninstitut, Ortstafeln bewegen Kärntner Seele nicht mehr (2010), abrufbar unter www.humaninstitut.at/humaninstitut/newsartikel.php?spr_id=1&chat_seite=1&news_id=637&seite=1&einszwo einszwo=29590 [7. 1. 2013]. 12 Art. 7 Z 3 StV bestimmt: „In den Verwaltungs- und Gerichtsbezirken Kärntens, des Burgenlandes und der Steiermark mit slowenischer, kroatischer oder gemischter Bevölkerung wird die slowenische oder kroatische Sprache zusätzlich zum Deutschen als Amtssprache zugelassen. In solchen Bezirken werden die Bezeichnungen und Aufschriften topographischer Natur sowohl in slowenischer oder kroatischer Sprache wie in Deutsch verfasst.“ 13 Für einen Überblick siehe u.  a. Adamovich, Verfassungsrecht und Minderheitenschutz, in Karpf (Hrsg.)/Kassl (Red.), Die Ortstafelfrage aus Expertensicht. Eine kritische Beleuchtung (2006) 9 (9 ff.); Öhlinger, Verfassungs­recht und Volksgruppenschutz, in Karpf (Hrsg.)/Kassl (Red.), Die Ortstafelfrage 124; Holzinger, Die Rechte der Volksgruppen in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, in FS Adamovich (2002) 193; Pirker, Kärntner Ortstafelstreit, 158 ff. 14 BGBl. 1972/270. 15 BGBl. 1976/396.

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nisse dieser „Volkszählung besonderer Art“ aber unbrauchbar und die Topografieverordnung 197716 normiert die Aufstellung von zweisprachigen Ortstafeln in 91 Orten in 16 Gemeinden. Da letztlich auch diese Regelung keine vollständige Implementierung erfährt, entzündet sich der Ortstafelkonflikt im Jahr 2001 erneut, als der VfGH in seinem „Ortstafelerkenntnis“ – unter Bezugnahme auf das „Amtssprachenerkenntnis“17 aus dem Jahr 2000 – das 25 %-Kriterium des Volksgruppengesetzes als verfassungswidrig aufhebt. Dieses Judikat gibt den Rahmen vor für viele weitere Anläufe zur Beendigung des Konfliktes, die fortan von dem Bemühen getragen sind, die Zahl der zweisprachigen Ortstafeln in politischen Verhandlungen festzulegen. Im Jahr 2002 scheitern erste Konsenskonferenzen auf Initiative von Bundeskanzler Schüssel (ÖVP) und erst ihre Neuauflage im Jahr 2005 bringt die erhoffte Einigung auf ein Paket, das 158 zweisprachige Ortstafeln umfasst. Da nun aber der Kärntner Landeshauptmann Haider gegen diesen Vorschlag opponiert, reduziert die Regierungsvorlage der ÖVP im Folgejahr die Zahl der Ortschaften auf 141. Ihr Beschluss im Nationalrat scheitert an der fehlenden Zustimmung der SPÖ. Diese legt 2007 ihrerseits einen Gesetzesentwurf vor, der die Anzahl der zweisprachigen Ortstafeln auf 163 erhöht, nun aber umgekehrt von der ÖVP abgelehnt wird.18 Diese Pattstellung beendet erst ein gemeinsamer Anlauf der SPÖ-ÖVPBundesregierung im Jahr 2010, die eine Reform des Volksgruppenrechts, verbunden mit der Lösung der Kärntner Ortstafelfrage, in Aussicht stellt. In Verhandlungen mit dem Kärntner Landeshauptmann Dörfler, den Slowenenvertretern und den betroffenen Bürgermeistern gelingt am 26. 4. 2011 die Einigung auf ein gemeinsames Memorandum. Es gibt die Leitlinien der Ortstafellösung vor: • eine taxative Aufzählung von 164 zweisprachigen Ortschaften im Verfassungsrang ohne Durchführung einer Minderheitenfeststellung, • eine Bestandsgarantie für bereits bestehende Aufschriften und • eine Neuregelung der Amtssprache in den Kärntner Gemeinden Eberndorf und St. Kanzian.19

16 BGBl. 1977/308. 17 VfSlg 15.970/2000. 18 Siehe hierzu Pirker, Kärntner Ortstafelstreit 69 ff.; Hämmerle, Die Retourkutsche: Das Ringen um zwei­sprachige Ortstafeln in Kärnten, in Anderwald/Filzmaier/Hren (Hrsg.), Kärntner Jahrbuch für Politik 2007 (2007) 39 (40 ff.). 19 Memorandum betreffend zweisprachige „topographische Aufschriften“, die Amtssprache sowie Maßnahmen für die Zusammenarbeit mit der slowenischen Volksgruppe. ErläutRV 1220 BlgNR 24. GP 3 f.



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Die Gemeinderäte dieser Gemeinden hatten sich in der Verhandlungsphase gegen weitere zweisprachige Ortstafeln und die bisherigen Erkenntnisse des VfGH zur Amtssprache ausge­sprochen.20 Nunmehr sollen – anstelle aller Gemeindebewohner – in beiden Gemeinden nur mehr jene Einwohner das Recht haben, Slowenisch als Amtssprache zu verwenden, die in Orten wohnhaft sind, die auch eine zweisprachige Ortstafel bekommen. Diese Regelung bleibt, ebenso wie die Absicht, die Novelle im Verfassungsrang zu beschließen, bis zuletzt heftig umstritten. Parallel zum anschließenden Gesetzgebungsprozess führt die Kärntner Landesregierung auf Betreiben der FPK-Regierungsmitglieder eine rechtlich unverbindliche „Volksbefragung“ durch, um – wie betont wird – nicht gegen den Willen der Bevölkerung zu entscheiden. Die Befragung ergibt eine Zustimmung von 67,9 % (bei einer Beteiligung von 33,2 %) für die gefundene Lösung.21 Davon unabhängig wird die Novelle im Nationalrat mit Zweidrittelmehrheit beschlossen und am 26. 7. 2011 kundgemacht.

III. Ausgewählte Spannungsfelder der Ortstafellösung 2010 bis 2011 Rund um die Verhandlungen der Ortstafellösung treten im Jahr 2010 bis 2011 wesentliche Konfliktfelder der Ortstafelfrage erneut zutage. Dazu gehört die Berufung auf den vermeintlichen Willen der Kärntner Bevölkerung, gegen den eine Lösung nicht durchgesetzt werden kann. Sie äußert sich in der Forderung der FPK, eine Minderheitenfeststellung durchzuführen, die letztlich durch die rechtlich unverbindliche Bevölkerungsumfrage ersetzt wird. Diese Einbindung der Bevölkerung entspricht der „Wir sind wir“-Strategie Jörg Haiders, mit der der Landeshauptmann noch im Jahr 2006 gegen weitere zweisprachige Ortstafeln polemisierte. Im Jahr vor der Ortstafellösung dient sie der Absicherung des Kompromisses. Das Bild vom „Diktat aus Wien“, das es nicht geben soll, bekräftigt auch Bundeskanzler Faymann am 10. 10. 2010. Es resultiert aus den Erfahrungen des Jahres 1972, als Teile der Kärntner Bevölkerung sich gegen das Ortstafelgesetz der SPÖ „zur Wehr“ setzten und in einem „Ortstafelsturm“ sämtliche zweisprachigen Ortstafeln demontierten. Letztlich basiert diese Argumentationslinie auf der traditionellen Zentrum-Peripherie-Spannung zwischen Kärnten und Wien, die sich

20 ORF, Widerstand gegen Ortstafeln in Eberndorf, in http://kaernten.orf.at/stories/510421/; Der Standard, Gemeinde St. Kanzian gegen zweisprachige Ortstafeln, in http://derstandard.at/1297821934222/ Gemeinde-St-Kanzian-gegen-zweisprachige-Ortstafeln (7. 12. 2011). 21 Kurier, Volksbefragung: 67,9 Prozent für Ortstafeln, in http://kurier.at/nachrichten/3915339.php (7. 12. 2011).

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stets am heftigsten an der nationalen Frage in Kärnten entzündete. Das Selbstbestimmungsnarrativ Kärntens wirkt hierin fort und kann im Sinne des Postulats „Kärnten wehrt sich“ sowohl für als auch gegen die Ortstafellösung instrumentalisiert werden.22 Die Kehrseite dieser Berufung auf den Willen der Bevölkerung ist freilich das demokratische Prinzip, in dem, wie bereits Hans Kelsen andeutet, an sich schon der Schutz der Minderheit angelegt ist,23 und rechtsstaatliche Argumente, die von Teilen der Slowenenvertretung in die Diskussion eingebracht werden. Sie berufen sich durchwegs auf die Judikatur des VfGH, die die völker- und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen aus Art.  7 StV konkretisiert, und lehnen es im Sinne des demokratischen Prinzips ab, dass die Mehrheit über die Minderheit abstimmt. Bereits 1981 stellt der VfGH fest, dass die österreichische Verfassung eine „Wertentscheidung des Verfassungsgesetzgebers zugunsten des Minderheitenschutzes ent­hält“24 und die Staatszielbestimmung in Art. 8 Abs. 2 B-VG aus dem Jahr 2000 bekennt sich klar zum Schutz und zur Förderung der autochthonen Volksgruppen.25 Im Hinblick auf die Bevölkerungsumfrage stellt sich außerdem die Frage, welches Volk befragt werden soll: das Landes- oder Bundesvolk? Da Volksgruppenangelegenheiten eine Bundeskompetenz dar­ stellen,26 wäre – wenn überhaupt – das Bundesvolk zu befragen. Aus diesem und einigen weiteren Gründen27 kann die Bevölkerungsumfrage der Kärntner Landesregierung nur recht­lich unverbindlich bleiben. Dennoch manifestiert sich in ihr der Versuch, die Bevölkerung einzubinden, ebenso wie in der Neuregelung der Amtssprache für die Gemeinden St. Kanzian und Eberndorf, in der den rechtlich unverbindlichen Äußerungen der Gemeinderäte auf Verfassungsebene entsprochen wird. Sie zeigt sich aber auch in den Auseinandersetzungen um eine „Gemeinde­öffnungsklausel“, die Slowenenvertreter/-innen einfordern: Eine Möglichkeit vorzusehen, die Zahl der zweisprachigen Ortstafeln zu erweitern, sofern die Bevölkerung eines Ortes ihren Willen dazu – in einem geregelten Verfahren – bekundet. Letztlich wird diese Option fallen gelassen und in den Erläuterungen der Novelle darauf 22 Pirker, Über die Mitte der Brücke, 81 ff. 23 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie2 (1981) 65 ff. 24 VfSlg 9.224/1981. 25 Pirker, Über die Mitte der Brücke, 83 ff. 26 VfSlg 3.314/1958. 27 Laut Korinek handelt es sich nicht um Angelegenheiten des „eigenen Wirkungsbereiches des Landes“ iSd § 1 Abs. 1 K-VBefrG. Hierzu Korinek, Volksbefragung ohne Rechtsgrund, in http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/660335/Kaerntner-Volksbefragung-ohne-Rechtsgrund (10. 1. 2013).



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verwiesen, dass die Gemeinden weiterhin die Möglichkeit haben, im eigenen Wirkungsbereich zweisprachige Ortsbezeichnungstafeln (nicht aber Ortstafeln nach der StVO) anzubringen.28 Weitere Spannungsfelder eröffnen sich zwischen den divergierenden Positionen innerhalb und zwischen den Volksgruppenorganisationen, Heimatverbänden und den politischen Parteien, etwa der SPÖ auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene, da die SPÖ im überwiegenden Teil der betroffenen Gemeinden die Bürgermeister stellt und diese zum Teil vehement gegen den Kompromiss auftreten. Neuerlich sichtbar wird auch die bilaterale und internationale Dimension der Ortstafelfrage in der Position Sloweniens und verschiedener internationaler Organisationen, aber auch der Rückbezug auf historische Narrative und die Kärntner Konfliktgeschichte am Rande der Verhandlungen.29 Diese Spannungen finden letztlich ihren Niederschlag in der Ortstafellösung, wie einzelne Problembereiche beispielhaft zeigen.

IV. Die Lösung der Ortstafelfrage und die Amtssprachenregelung Anstelle einer systematischen Lösung führt die Novelle zum Volksgruppengesetz in § 12 Abs. 1 iVm Anl. 1 VoGrG jene Ortschaften taxativ im Verfassungsrang an, die zweisprachige topografische Aufschriften erhalten. Dazu gehören • die schon bisher – nach der Topographieverordnung 1977 und 2006 – erfassten Orte, • jene, die für die Erkenntnisse des VfGH vorliegen, • und zusätzlich Ortschaften mit einem Anteil von 17,5 % an slowenischer Bevölkerung.30 Dass selbst diese Einteilung nicht systematisch beibehalten wurde, wie das Beispiel der Gemeinde Dobein zeigt,31 und der Anteil von 17,5 % weit über dem Prozentsatz von 10 % liegt, den der VfGH herangezogen hat, wurde vielfach kritisiert, ist 28 Pirker, Über die Mitte, 83 f. 29 Hierzu eingehend Pirker, Über die Mitte, 87 ff. 30 Zu Problemen dieser Auswahl siehe Pirker, Reform des Volksgruppenrechts 397 f; Kolonovits, Die „Ortstafellösung“ und Amtssprachenregelung in der Volksgruppengesetz-Novelle, BGBl. I 2011/46, migraLex 2011, 62. 31 Hier liegt ein entsprechender Anteil an slowenischer Bevölkerung vor, die Ortschaft wurde aber nicht berücksichtigt mit dem Argument, es handle sich um eine Streusiedlung. Tatsächlich wird dahinter der Widerstand des FPK-Bürgermeisters in der Gemeinde Keutschach vermutet, in der die Ortschaft liegt. Siehe „Kleine Zeitung“, Ortstafeln: Slowenen akzeptieren Lösung, in /www.kleinezeitung.at/kaernten/klagenfurtland/2735160/ortstafeln-slowenen-akzeptieren-loesung.story (10.  1. 2013).

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aber aufgrund des Verfassungsranges der Regelung keiner Überprüfung zugänglich.32 Fraglich ist auch der zugrunde liegende Topografiebegriff: Die österreichische Staatspraxis versteht darunter seit 1972 nur Ortstafeln, Ortsbezeichnungstafeln oder Wegweiser und § 12 Abs. 2 VoGrG schreibt dieses Verständnis fest.33 Andere Aufschriften topografischer Natur sollen – entgegen den Wünschen der Slowenenvertretung – keinesfalls erfasst sein: Auf­schriften auf öffentlichen Gebäuden, Bezeichnungen von Dienststellen (Gemeindeamt), Bezeichnungen in Landkarten, Aufschriften von Privaten (ÖBB, Österreichische Post).34 Diese Festlegung beruht zwar auf der innerstaatlichen Praxis, ein Vergleich der authentischen Textvarianten des österreichischen Staatsvertrages, wie ihn Art. 38 StV iVm mit Art. 33 der Wiener Vertragsrechtskonvention für die Auslegung dieses völkerrechtlichen Vertrages gebietet, spricht jedoch, wie Dieter Kolonovits zeigt, für einen weiten Topografiebegriff, der auch Hinweise auf örtliche Gegebenheiten umfasst: Orte, Flüsse oder Berge in zweisprachigen Bezirken. Hierzu hat der VfGH im Ortstafelerkenntnis festgehalten, dass Ortstafeln zwar typischerweise dem Topografiebegriff des Staatsvertrages unterliegen, aber offengelassen, ob dies auch für andere Bezeichnungen und Aufschriften gelten würde.35 Wie Kolonovits zeigt, wären darunter auch Aufschriften auf öffentlichen Gebäuden zu subsumieren, sofern sie einen „Ortsnamen-Bestandteil“ umfassen, da dies jedenfalls dem Ziel und Zweck des Art. 7 Z 3 StV entspricht, das der VfGH identifiziert: Anzuzeigen, dass im jeweiligen Ort eine „ins Auge springende, verhältnismäßig größere Zahl“ von Minderheitenangehörigen lebt.36 Dieser Interpretation stehen aber der eindeutige Wortlaut und die Intention des § 12 Abs. 2 VoGrG entgegen. Verfassungsrechtlich tritt diese Be­ stimmung nun gleichrangig neben Art. 7 StV. Im Hinblick auf seine völkerrechtliche Dimension kann die bisherige österreichische Staatenpraxis zudem als spätere unwider­sprochene Übung iSd Art. 31 Abs. 3 lit b WVK gewertet werden.37 In ein Spannungsverhältnis zur Verfassung tritt vor allem die Neuregelung der Amtssprache in den Gemeinden St.  Kanzian und Eberndorf: In beiden 32 Pirker, Reform des Volksgruppenrechts, 397 f.; Kolonovits, Die „Ortstafellösung“, 62 ff. 33 ErläutRV 1220 BlgNR 24. GP 5; Hesse, Einige rechtliche Anmerkungen zur Lösung der „Ortstafelfrage“ in Kärnten, in Beclin/Karpf/Kassl/Platzer (Red.), Ein Kärnten. Die Lösung. (2012) 115 (119). 34 ErläutRV 1220 BlgNR 24. GP 5. 35 Kolonovits, Art.  7 Z  2–4 StV Wien, in Korinek/Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht (2005) Rz 92–96; ders., Volksgruppenrecht im Jahr 2007 – Oder: Die weiterhin ungelöste Ortstafelfrage und die aktuelle Rechtssprechung des VfGH, in Lienbacher/Wielinger (Hrsg.), Öffentliches Recht Jahrbuch 2008 (2008) 189 (198); VfSlg. 16.404/2001. 36 VfSlg. 12.836/1991; Kolonovits, Volksgruppenrecht, 198 f. 37 Pirker, Reform des Volksgruppenrechts, 399 f.; Kolonovits, Die „Ortstafellösung“, 62 ff.



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Fällen sieht § 13 Abs. 1 iVm mit Anlage 2 VoGrG entgegen der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes Wohnsitzerfordernisse vor, um die slowenische Sprache als Amtssprache vor den Gemeindebehörden nutzen zu können. Der VfGH bezieht in seiner Judikatur zur Amtssprache den Begriff „Verwaltungs­bezirk“ auf die Gemeinde, da die Amtssprache im Gegensatz zu topografischen Aufschriften eine Erleichterung für die einzelnen Volksgruppenangehörigen darstellt und im Gegensatz zur Ortstafelregelung hierbei eine Orientierung an „ortschaftsbezogenen Siedlungsschwer­punkten“ nicht möglich ist, da es „unterhalb der Gemeinde keine kleinere Verwaltungseinheit mehr gibt“38. Das Amtssprachenerkenntnis stellt die Zulassung der slowenischen Amts­sprache für die (gesamte) Gemeinde Eberndorf zudem explizit fest.39 Von dieser Judikatur weicht § 13 Abs. 1 iVm mit Anlage 2 VoGrG ab, der darin zugrunde gelegte Widerspruch zu Art. 7 Z 3 StV und Art. 7 B-VG kann aber aufgrund des Verfassungsrangs der Bestimmung nicht geltend gemacht werden. Die Absurdität dieser Regelung wird besonders deutlich, wenn man die Judikatur des EuGH im Fall Bickel und Franz40 berücksichtigt, die Unionsbürgern/-innen das Recht zugesteht, sich einer Amtssprache vor den Behörden eines Mitgliedstaates zu bedienen, wenn diese Möglichkeit für Minderheitenangehörige besteht. Somit können sich vor den Gemeindeämtern in Eberndorf und St.  Kanzian zwar Unionsbürger/-innen der slowenischen Sprache bedienen, nicht aber Einwohner/-innen der beiden Gemeinden, die in Orten wohnen, die keine zweisprachigen Ortstafeln erhalten. Abgemildert wird diese Konstruktion nur durch § 13 Abs. 3 VoGrG, der es einfachgesetzlich auch anderen Organen als der in Abs. 1 bezeichneten Dienststellen erlaubt, eine Volksgruppensprache im mündlichen oder schrift­lichen Verkehr zu verwenden, wenn es „den Verkehr mit Personen erleichtert“. Diese Be­stimmung gewährt zwar kein subjektives Recht, sondern bildet lediglich eine Ermächtigung zur Verwendung der Volksgruppensprache, die der Verfassungsausschuss aber so versteht, dass Organe die Volksgruppensprache „verwenden sollen, wenn sie dazu grundsätzlich in der Lage sind“.41 Für die Gemeinden St. Kanzian und Eberndorf trifft dies jedenfalls zu. Beiden Gemeinden ist es daher gestattet, auch den übrigen Gemeindebürgern die Verwendung des Slowenischen im behördlichen Verkehr zu ermöglichen – eine Verpflichtung besteht jedoch nicht (mehr).42

38 Vgl. VfSlg 15.970/2000; 16.404/2001; 25. 2. 2011, V124/10. 39 VfSlg 15.970/2000. 40 EuGH, C-274/96, Bickel und Franz, Slg 1988, I-7637. 41 AB 1312 BlgNR 24. GP 2. 42 Pirker, Reform des Volksgruppenrechts, 401 ff.; Kolonovits, Die „Ortstafellösung“, 65 ff.

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Viele Bestandteile der Ortstafellösung sind nur aus der Geschichte des Ortstafelkonfliktes zu erklären und, wie Gerhard Hesse, Leiter des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt, darlegt, Ausdruck des „Antwortcharakters verfassungsrechtlicher Vorschriften“. Dabei „gibt der Normtext Auskunft über zuvor strittige Angelegenheiten und regelt Fragen, die in einer besonderen Situation gestellt wurden. Dies ist beim Jahrzehnte währenden ‚Ortstafelstreit‘ in besonderer Weise der Fall.“43 Antwortcharakter zeigen insbesondere die Abs. 2 und 3 des § 12 VoGrG. Sie verpflichten die zuständigen Organe, die betreffenden Bezeichnungen und Auf­ schriften unverzüglich und in gleicher Form und Größe wie die Bezeichnungen in deutscher Sprache anzubringen.44 Damit reagiert die Novelle auf die unzulässigen Umgehungsvarianten der Kärntner Behörden, die eine Aufstellung der Ortstafeln verzögerten, sie versetzten, Zusatztafeln unterhalb der zweisprachigen Ortstafeln anbrachten und diese Zusatztafeln zuletzt in die Ortstafeln hineinmontierten.45 Allein die Ortstafel von Bleiburg wechselte auf diese Weise innerhalb eines Jahres fünfmal ihre Gestalt.46 Die Ortstafellösung schließt derartige Umgehungsversuche von vornherein aus und normiert zugleich eine Bestands­garantie für den faktischen Bestand an topografischen Bezeichnungen und Aufschriften, damit die taxative Auflistung in Anl. 1 nicht zum Anlass gereicht, bereits bestehende Auf­schriften wieder zu entfernen.47 Insgesamt immunisiert der Verfassungsrang die Novelle vor einer Überprüfung der nicht unumstrittenen Systematik der Ortstafellösung und der problematischen Amtssprachen­regelung durch den VfGH.48 Zu Letzterer räumt Gerhard Hesse ein: „Es ist natürlich eine systemwidrige Lösung, die nur aus der Verhandlungssituation erklärbar ist. Da es sich aber um verfassungs­rechtliche Regelungen handelt, ist eine Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof nicht möglich, mag es auch eine sachfremde Regelung sein.“49 Erklärtes Ziel ist, den Kompromiss abzusichern und eine Fortführung des Konfliktes vor dem Höchstgericht zu unterbinden.50 Die Praxis, verfassungswidrige oder verfassungsrechtlich zumindest bedenkliche Regelungen selbst im Verfassungsrang zu erlassen, hat in Österreich Tradition 43 Hesse, Einige rechtliche Anmerkungen, 118 f. 44 Hesse, Einige rechtliche Anmerkungen, 118 ff. 45 VfSlg 18.044/2006; 18.318/2007; VfSlg 19.128/2010. 46 Hämmerle, Die Retourkutsche, 48. 47 Der Verfassungsausschuss stellt hierzu fest, dass „der Bestandschutz konsequenterweise für alle bestehenden Aufschriften gelten soll“ (AB 1312 BlgNR 24. GP 2); vgl. Pirker, Reform des Volksgruppenrechts, 404. 48 Eine Gesamtänderung der Bundesverfassung, wie sie teilweise in die Diskussion eingebracht wurde, ist darin aber nicht zu erblicken. 49 Hesse, Einige rechtliche Anmerkungen, 120. 50 Hesse, Einige rechtliche Anmerkungen, 116.



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und geht zurück auf die Zeiten der großen Koalition, in denen es die leicht verfügbare Verfassungsmehrheit im Parlament den Regierungsparteien ermöglichte, derartige Verfassungsänderungen auch gegen die Stimmen der Opposition zu beschließen. Die Grundlage dafür ist in der Verfassung selbst angelegt: Sie bindet die Voraussetzungen für das Zustandekommen von Verfassungsrecht lediglich an ein formales Verfahren, das erhöhte Anwesenheits- und Beschlussquoren und eine Bezeichnungspflicht vorschreibt (Art. 44 Abs. 1 B-VG). Wie Theo Öhlinger ausführt, fungiert die notwendige Zweidrittelmehrheit – soweit es sich nicht um legitime Anwendungs­fälle handelt – nicht als der erhoffte „Fels in der Brandung“, sondern macht das Verfassungs­recht selbst „– ganz entgegen der Vorstellung von einer rechtlichen Grundordnung des Staates – zu einem äußerst flexiblen Rechtsinstrument“.51 Das gilt besonders, wenn es im Kontext einfachgesetzlicher Bestimmungen erlassen wird.52 In der Tendenz ab den 1980er-Jahren, auf die Grundrechtsjudikatur zu reagieren und aufgehobene Regelungen im Verfassungsrang neu zu erlassen oder bedenkliche Bestimmungen vorbeugend zu immuni­sieren, sieht Öhlinger daher einen „Funktionswandel“ der Verfassung: Vom Rahmen der Politik wird sie nun selbst zu ihrem Instrument.53 Die veränderten Stärkenverhältnisse der Parteien im Nationalrat, die der Regierung die Verfassungsmehrheit nicht mehr per se einräumen, mildern diese Tendenz zwar ab, schließen sie aber nicht aus, sofern weitere Parteien für die Zustimmung gewonnen werden. Die Ortstafellösung 2011 stützt sich auf einen Grundkonsens aller Parlamentsparteien und wird mit nur drei (symbolischen) Gegenstimmen Grüner Abgeordneter beschlossen. Eine Gesamtänderung der Verfassung, die in einer gehäuften Einschränkung der verfassungs­gerichtlichen Prüfungskompetenz oder einer mehrfachen Durchbrechung der Grundrechts­ordnung begründet sein könnte, ist darin nicht zu erblicken.54 Wie Öhlinger zeigt, verdeutlicht sie aber die schwierige Bewertung „zweckentfremdeter“ Verfassungsbestimmungen: „Sie garantiert einerseits die einschlägigen Rechte der Volksgruppen auf Verfassungsstufe, schränkt aber andererseits in ihrer detaillierten Ausgestaltung jene Kontrollbefugnisse des VfGH ein, die zuvor diesen Rechten überhaupt erst zum Durchbruch verhalfen.“55 51 Öhlinger, Verfassung und Verfassungsrecht zwischen Politik und Recht, in Ehs/Schiegl/Ucakar/Welan (Hrsg.), Politik und Recht: Spannungsfelder der Gesellschaft (2012) 51 (58). 52 Öhlinger, Verfassung und Verfassungsrecht zwischen Politik und Recht, 58. 53 Öhlinger, Verfassung und Verfassungsrecht zwischen Politik und Recht, 58; vgl. Adamovich/Funk/ Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht, Band I Grundlagen2 (2011) 17. 54 Pirker, Reform des Volksgruppenrechts, 404; Öhlinger, Verfassung und Verfassungsrecht zwischen Politik und Recht, 63; zur Gesamtänderung durch „Korrektur der Verfassungsrechtsprechung“ allgemein Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht, 18. 55 Öhlinger, Verfassung und Verfassungsrecht zwischen Politik und Recht, 64.

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Um eine umfassende Beurteilung der Ortstafel- und Amtssprachenregelung vorzunehmen, bleibt der Ausgang der Reformbemühungen des Volksgruppenrechts insgesamt abzuwarten. Zumindest in ihrer konfliktregulierenden Dimension hat sich die Ortstafellösung inzwischen bewährt und setzt einen ersten Schritt für die weitere Aufarbeitung der Konfliktursachen, die in der Konfliktgeschichte und den daraus entspringenden Narrativen begründet sind. Im Hinblick auf die Lage der Volksgruppen insgesamt bleibt es dennoch bedenklich, dass diese in die Neugestaltung der Amtssprache, die letztlich im Paket mit der Ortstafelfrage geschaffen wurde, nicht eingebunden waren.56

VI. Zur wechselseitigen Bereicherung von Rechts- und Politikwissenschaft Die Ortstafelfrage in Kärnten bildet bis zu ihrer Lösung ein Paradebeispiel für das Auseinanderfallen zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, das ohne Ein­beziehen des gesellschaftlichen, historischen und politischen Kontexts nicht zu verstehen ist. Die Frage nach dem Woher und Warum der Normen, somit nach ihrem Entstehungs­zusammenhang, und zugleich nach dem Wozu – ihrer Intention – ist für dieses Verständnis der Verfassung notwendig.57 Wie Anton Pelinka ausführt, bedarf es dazu der Berücksichtigung politikwissenschaftlicher Kategorien wie „Interessen und Interessenartikulationen“,58 die in der Ortstafelfrage in den Positionen der Konfliktparteien und der Konfliktgeschichte sichtbar werden. Für die Politikwissenschaft, die sich vor allem mit der Verfassungswirklichkeit beschäftigt, ist dabei die Kenntnis des Verfassungsrechts ebenso notwendig wie die Berück­sichtigung seines Kontexts in der Rechtswissenschaft, um eine Erklärung zu ermöglichen, Funktion und Wirkung des Gesetzes zu verstehen und die Absicht des Gesetzgebers zu deuten: „Das Verstehen von Politik setzt das Verstehen von Recht voraus – und umgekehrt.“59 Aus Sicht der Rechtswissenschaft erachtet Bernd-Christian Funk daher die strikte Trennung zwischen Sein und Sollen für unangebracht, da sie den Blick verstellt auf die „Wechsel­wirkungen, die zwischen den beiden ‚Welten‘ bestehen“,60 56 Pirker, Reform des Volksgruppenrechts, 404; Pirker, Über die Mitte, 97 ff. 57 Vgl. Pelinka, Demokratie und Gesellschaft zwischen Politik und Recht: Anmerkungen zum Verhältnis von Rechts- und Politikwissenschaft in Österreich, in: Ehs/Schiegl/Ucakar/Welan (Hrsg.), Politik und Recht: Spannungsfelder der Gesellschaft (2012) 433 (440); zu Potenzialen für die Verfassungslehre Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht, 18. 58 Pelinka, Demokratie und Gesellschaft, 438 f. 59 Pelinka, Demokratie und Gesellschaft, 440. 60 Funk, Rechtswissenschaft als Erkenntnis und kommunikatives Handeln, in Journal für Rechtspolitik



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wie die politischen und sozialpsychologischen Implikationen des Streits um zweisprachige Ortstafeln als Konflikt um Symbole zeigen, die letztlich ihren Niederschlag in seiner verfassungsrechtlichen Lösung finden. Nicht ausgeblendet werden dürfen aber auch die finalen Strukturen des Rechts, da die Geltung der Normen von ihrer Effektivität abhängt und die Prüfung ihrer Eignung und Verhältnismäßigkeit nicht allein mit juristischen Argumentationen und Prämissen geklärt werden kann, sondern vielfach von der Beantwortung empirischer Fragestellungen abhängt.61 Daher müsse sich die dogmatische Rechtswissenschaft „Perspektiven und Methoden zu eigen machen, die als nicht dogmatisch gelten“, folgert Funk und sieht darin „kein Konzept zur Zerstörung dieser Disziplin, sondern zu ihrer Erneuerung“.62 Eine derartige Erneuerung – oder besser: Bereicherung – liegt auch in der Einbeziehung politikwissenschaftlicher Perspektiven, für die sich neben den Schnittstellen zwischen Verfassungsrecht und -wirklichkeit verschiedene Stufen des politischen Prozesses eignen. Diesen gliedert Werner Patzelt in einen Willensbildungsprozess, in dem um die Inhalte allgemein verbindlicher Regelungen gerungen wird, einen Entscheidungsprozess, in dessen Rahmen Regelungen beschlossen werden, und einen Implementationsprozess, in dem Entscheidungen in konkret wirksame Maßnahmen umgesetzt werden.63 Dabei interessiert sich die Rechtswissenschaft vor allem für die formellen Prozesse, ihr Normengefüge und wirft, wie Kathrin (Stainer-)Hämmerle darlegt, die Frage auf: „Was vermag die Politik innerhalb des Systems?“,64somit nach dem „rechtlichen Sollen, Können und Dürfen“65. Die Politikwissenschaft erforscht insbesondere die informellen Prozesse, die Träger politischer Macht und Entscheidungen und jene Inhalte, Beziehungen und Strukturen, die „bei der Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit eine Rolle spielen“66 – sie fokussiert also die Frage: „Was vermag die Politik auch außerhalb des Systems?“67 Erweitert man Patzelts Gliederung um die Aspekte des gesellschaftspolitischen Rahmens, der Historie und Machtverteilung der Akteure/-innen – also dem Aus8 (2000) 65 (70). 61 Funk, Rechtswissenschaft als Erkenntnis, 73. 62 Funk, Rechtswissenschaft als Erkenntnis, 75. 63 Patzelt, Einführung in die Politikwissenschaft, Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung (1992) 22; vgl. Hämmerle, Die Politikwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin und ihr Verhältnis zum Verfassungsrecht, in: Geiger/Hartlieb/Winkel (Hrsg.), Fokus Politikwissenschaft, Ein Überblick (2007) 246 (250). 64 Hämmerle, Die Politikwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin, 250. 65 Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht, 23; vgl. Hämmerle, Die Politikwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin, 250. 66 Patzelt, Einführung in die Politikwissenschaft, 23. 67 Hämmerle, Die Politikwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin, 250.

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3. Wissenschaft

gangspunkt des politischen und des Normsetzungsprozesses – und die Dimension der Finalität der Rechtsnormen, ihrer Intention und Wirkung, so entsteht ein Kreislauf, der letztlich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgeht und wieder zu ihr zurückführt: Vom gesellschaftlichen Hintergrund über den Willensbildungsprozess zur Gesetzgebung, ihrer Umsetzung und ihren Folgen. Während die Politikwissenschaft dabei primär den Hintergrund der Normen, den Prozess innerhalb ihres Rahmens und ihre Wirkung im Blick hat, konzentriert sich die Rechtswissenschaft auf die Phasen der Entscheidung, Umsetzung und Finalität, soweit diese für die Normativität von Bedeutung ist (Abb. 1). Am Beispiel der Ortstafelfrage lassen sich diese Zugänge und Analysestufen – im Blick auf die Konfliktgeschichte und -ursachen, die Interessenlagen der Akteure/-innen und die zugrunde liegende und daraus resultierende Rechtslage – zur gegenseitigen Erklärung verbinden.

Entscheidung

Umsetzung

REWI

Willensbildung

Wirkung

POWI Gesellschaftspolitischer Rahmen

Abb. 1: Politscher Prozess im Fokus der Rechts- und Politikwissenschaft

Eine wechselseitige Bereicherung ergibt sich aus der Zusammenschau beider Perspektiven, um die Wechselwirkungen zwischen Sein und Sollen zu erforschen: zwischen dem er­weiterten Entstehungszusammenhang der Normen, ihrer Implementierung und Wirkung. Die Bereicherung liegt somit in einer verschränkten



3.23. Minderheiten zwischen Recht und Politik

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Analyse von Norm und Kontext – im Sinne der Betrachtung eines Phänomens aus einer 2-Linsen-Perspektive (Abb. 2), freilich unter der Voraussetzung strikter methodischer Unterscheidung zwischen normativen und empirischen Fragestellungen ohne methodensynkretistische Vermengung.

Kontext

Norm

POWI

REWI

Kontext

Abb. 2: 2-Linsen-Perspektive

Inter- und Transdisziplinarität bedeutet dabei nicht das bloße Nebeneinanderstellen dieser Perspektiven, sondern ihre wechselseitige Verschränkung im gemeinsamen Blick durch beide Linsen, um den Erklärungswert für die jeweilige Disziplin zu erhöhen. Für die Rechts­wissenschaft kann dieser Mehrwert in der Erklärung liegen, aus welchen gesellschafts­politischen Entstehungszusammenhängen und Machtverhältnissen die Normen hervorge­gangen sind und welche (auch nicht intendierten) Wirkungen sie zeitigen. In diesem Sinne zeigt etwa das Vorgehen der FPK-Landtagsabgeordneten im Herbst 2012 die Probleme landesverfassungsrechtlicher Bestimmungen auf, die es den Abgeordneten er­möglichen, aus dem Landtag auszuziehen und das Anwesenheitsquorum zu unterlaufen, um die sichere Mehrheitsentscheidung der Oppositionsparteien für Neuwahlen zu verhindern. Zugleich manifestiert sich darin ein kontinuierlicher Wandel in der politischen Kultur und im Umgang mit dem Recht: Lücken in gesetzlichen Regelungen zu suchen, um öffentlich die Intention der Regelungen zu unterlaufen und letztlich die Autorität des Rechts und der Verfassung infrage zu stellen, wie es in der jüngeren Geschichte des Ortstafelkonfliktes häufig geschehen ist. Bedenkt man die liegen gebliebenen oder eingestellten Amtsmiss­brauchsverfahren im Zusammenhang mit dem Kärntner Ortstafelstreit, liegt darin vermutlich die weitreichendste Folge dieser Causa für das Rechtssystem insgesamt. Er hat ein Bild geschaffen, wonach missliebige Vorschriften nicht befolgt werden müssen – immer wieder auch mit dem Argument, das Volk als Souverän wolle es schließlich anders. Im Verhältnis von Verfassungsrecht und politischen Spielregeln sind dabei, wie Ludwig Adamovich und andere zeigen, jene Entwicklungen für das Verfassungsrecht besonders

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3. Wissenschaft

interessant, die zu einer Funktionsänderung oder Beeinträchtigung seiner Einrichtungen führen.68 Zugleich erlaubt die politikwissenschaftliche Perspektive die Analyse von Machtbeziehungen, die im Hintergrund (verfassungs-)gesetzlicher Regelungen und ihrer Anwendung stehen, da die Verfassung zwar den Rahmen der Politik vorgibt, selbst aber entscheidend von der Politik geprägt und die Rechtssetzung ein politischer Akt ist.69 Dazu gehört auch die Frage des Agenda-Settings und somit nach den Akteuren/-innen und Umständen, unter denen bestimmte Agenden im politischen Prozess auf die Tagesordnung für die Umsetzung gelangen. In diesem Sinne lassen sich die Folgen und Auswirkungen bestimmter Regelungen in die Untersuchung miteinbeziehen, um die Regelungssysteme zu adaptieren und Machtpositionen zu korrigieren oder zumindest die Angelpunkte dafür aufzuzeigen, da die Korrektur freilich keine juristische, sondern eine politische Aufgabe darstellt. Eine Analyse der Folgen und Wirkungen ist aber jedenfalls bedeutsam für die Fragen der Zweckerfüllung, Eignung und Verhältnismäßigkeit, deren juristische Beantwortung sich meist auf Prämissen beschränkt: Sohin könnte etwa untersucht werden, ob die Vorratsdatenspeicherung, die einen erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf Datenschutz bildet, tatsächlich der Bekämpfung schwerer Kriminalität zuträglich ist oder das Antikorruptionspaket seinen schon aus dem Namen ersichtlichen Zweck erfüllt oder welche neuen Graubereiche es eröffnet – hier wird es freilich notwendig sein, methodische Zugänge vieler weiterer Disziplinen miteinzubeziehen. Letztlich wäre auch eine politische Analyse der Judikatur zur Ortstafel- und anderen Fragen gewinnbringend. So wurde der VfGH mehrfach kritisiert, sich in den Erkenntnissen zur Ortstafelfrage – insbesondere in der Frage des Prozentsatzes an gemischter Bevölkerung – „weit auf politisches Terrain begeben“ und dem Prozentsatz eine „(politische) Annahme“ zugrunde gelegt zu haben.70 Umgekehrt argumentierten auch die Landesbehörden im Verfahren vor dem VfGH zum Teil mit politischen anstatt rechtlichen Argumenten, wenn die Landesregierung in ihrer Gegenschrift zum Prüfbeschluss im Zusammenhang mit dem Ortstafelerkenntnis auf die „athmosphärische Wirkung“ und die „volksgruppenpolitische Bedeutung“ dieses Beschlusses hinweist, die den sozialen Frieden im Land bedroht.71 68 Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht, 17. 69 Vgl. Kreisky, In schlechter Verfassung? Perspektiven einer österreichischen Verfassungsdebatte, in: Graf/Muther (Hrsg.), Streiten um Demokratie, Beiträge zur Verfassungsdiskussion (2002) 59 (60); Ehs, Politics & Law. So nah und doch so fern, ÖZP 40 (2011) 197 (198); Hämmerle, Die Politikwissenschaft als wissenschaftliche Disziplin, 248. 70 Hesse, Einige rechtliche Anmerkungen, 117. 71 VfSglg 16.404/2001; vgl, Glantschnig, 10 Jahre Ringen, 108; ähnlich Winkler, der das Erkenntnis als



3.23. Minderheiten zwischen Recht und Politik

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Am Beispiel des Kärntner Ortstafelstreits zeigt sich, dass ein Satz Immanuel Kants eigentlich eine doppelte Wahrheit transportiert: „Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden.“72 Verfassungsrecht gibt den Rahmen des politischen Prozesses vor. Politik bewegt sich innerhalb dieses Rahmens, schafft aber auch selbst (Verfassungs-)Recht und setzt damit den Rahmen des politischen Prozesses. Wo sie aus dem verfassungsrechtlichen Rahmen ausschert, kommt es zu Divergenzen zwischen Verfassungs­recht und Verfassungswirklichkeit. In diesem Sinne bewegen sich in der Kärntner Ortstafel­frage völkerund verfassungsrechtlich gewährleistete Minderheitenrechte zwischen Recht und Politik. Erklärbar ist dies nur unter Einbeziehung des historischen und politischen Kontexts, also unter Zusammenschau der Rechtsgrundlagen, Konfliktgeschichten, Interessen und Machtverhältnisse und den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen – verstanden als wechselseitige Bereicherung von Rechts- und Politikwissenschaft.

„Sprengstoff für den kulturell-sozialen und politischen Frieden in Kärnten“ beurteilt, siehe Winkler, Zweisprachige Ortstafeln und Volksgruppenrechte, Kritischen Anmerkungen zur Entscheidungspraxis des Verfassungsgerichtshofs bei Gesetzesprüfungen von Amts wegen aus den Perspektiven seines Ortstafel­erkenntnisses (2002) 2. 72 Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in ders. (Hrsg.), Vermischte Schriften, Bd. 3 (1799) 357 (366).

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3. Wissenschaft

3.24. A New Approach Towards Outer Space “Democratisation”? Legal, Political, and Economic Issues Concerning Small Satellite Missions1

Anita Rinner

1. Introduction Recent developments in small satellite technology have led to the emergence of Nano-, Pico-, and Cube-satellites. These are rather small spacecraft, in size no bigger than a shoebox, and tend to weigh less than 10 kg. There are several reasons why such satellites are increasingly “conquering” outer space. One aspect is their relatively low production cost. After all, small satellites can be launched into outer space “piggyback” as secondary payload on a launch vehicle. This paper examines how small satellites would enable developing, emerging, and non-space faring countries to participate in outer space activities at low cost. Additionally, it focuses on the benefits of small spacecraft resulting from shorter production times and reduced financial risks. Small satellite missions, in particular when being carried out by universities or research centres, are faced with legal challenges, such as cumbersome authorisation processes or expensive insurance policies. Since small satellite missions often rely on imported items, questions pertaining to technology (export) control are particularly relevant. Other challenging aspects are space debris mitigation, as well as frequency coordination, and future space traffic management systems.

1 The present topic is the title of the author’s diploma thesis. The present paper is an extract of research done by the author in her thesis, which was presented at the 9th IAA Symposium on Small Satellites for Earth Observation, 8.-11.4.2013, Berlin, Germany and published in the conference proceedings. I would like to express my utmost gratitude to Professor Christian Brünner, professor emeritus at the University of Graz, and Professor Lesley-Jane Smith, Leuphana University Lüneburg, and also to Mag. Alexander Soucek MSS, European Space Agency, and to Mag. Leopold Stollwitzer for providing me with professional assistance and truly personal guidance.



3.24. A New Approach Towards Outer Space “Democratisation”?

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3. General aspects The definition of small satellites is rather dynamic and largely depends on technological progress. However, no universal definition or classification has been accepted so far.1 A summary of various co-existing definitions shows that at least one indicator is critical to qualifying a satellite as small: the actual mass of the satellite. Mini satellite

100-500 kg

Micro satellite

10-100 kg

Nano satellite

1-10 kg

Pico satellite

0,1-1 kg

Femto satellite