Bildung vor Bildern: Kunst - Pädagogik - Psychoanalyse 9783839432778

In the presence of art, education involuntarily takes place - and not just there. However it is certainly easier to noti

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German Pages 370 Year 2015

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Bildung vor Bildern: Kunst - Pädagogik - Psychoanalyse
 9783839432778

Table of contents :
Cover Bildung vor Bildern
Vorwort
1 Bildung, die
2 Bilder, die
3 Vorbild, das
4 Kunst existiert nicht, es sei denn als angewandte
5 Angst, die Waffen abzugeben
6 Nachträglich unvorhersehbar
7 Haut. Berührungssehnsucht, Juckreiz, Schauplatz
8 Caravaggios Powerpoint
9 Zeige-Stöcke und andere Medien. Zur Aggressivität von Medien in der Bildung
10 Beachtung der Medialität
11 Schnittstellen
12 Shirin Neshat: eine »leidenschaftliche Forscherin«
13 Einfallende Bilder. Was kann Pädagogik gegen Bildung tun?
14 Geniale Epigonen. Kunst als Bildungsforschung
15 Das zu Lesende
16 Berge versetzen, erzählen können
17 Berühren, glauben, verinnerlichen
18 Liebe, Medium, Schnitt
19 Stimmung. Plädoyer für das Transindividuelle
Literatur
Abbildungen
Dank

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Karl-Josef Pazzini Bildung vor Bildern

Theorie Bilden | Band 38

Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Andrea Sabisch und Michael Wimmer, im Auftrag der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Karl-Josef Pazzini (Prof. Dr.), geb. 1950, hat Philosophie, Theologie, Erziehungswissenschaft, Mathematik und Kunstpädagogik studiert und arbeitet als Psychoanalytiker in Berlin und Hamburg. Er war von 1993 bis 2014 Professor für Bildende Kunst und Bildungstheorie an der Universität Hamburg. Zu seinen Forschungsthemen gehören: Bildung vor Bildern, Psychoanalyse & Lehren, Kindliche Unschuld, Schuld sowie das Konzept der Übertragung.

Karl-Josef Pazzini

Bildung vor Bildern Kunst – Pädagogik – Psychoanalyse

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Miriam Elia: We Go To The Gallery. Published by Miriam Elia/Harlequin Ladybird, January 2014, S. 13. www.wegotothegallery.com, vgl. S. 8/9. Lektorat: Susanne Gottlob Satz: Johanna Meyer Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3277-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3277-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt' ' Vorwort''11' ''1' Bildung,'die''19' ''2' Bilder,'die''27' ''3' Vorbild,'das''43' ''4' Kunst'existiert'nicht,'es'sei'denn'als'angewandte''51' Der$Anlass$(51)$Anwendung$(52)$Missbrauch$(53)$Anwendung$und$Missbrauch$(54)$Das$ Problem$ mit$ der$ Didaktik$ (55)$ Was$ ist$ Anwendung?$ (58)$ Aporie$ (59)$ Rücksicht$ auf$ Darstellbarkeit$(61)$Anwendung$und$Rezeptivität$(63)$Anwendung$(64)$

''5' Angst,'die'Waffen'abzugeben''69' Subjectile$ (70)$ Methodisches$ (71)$ Nicht$ lesbar$ (72)$ Widerstand$ (75)$ Fraß$ oder$ Augenweide$(77)$Ränder$(78)$Blick$als$Waffe$und$Objekt$(78)$Trieb$(81)$Blickfalle$(82)$ Medusa$ (83)$ Absichten$ (86)$ Unpassend$ (86)$ Perspektive$ (88)$ Überraschung$ durch$ Genauigkeit$ (88)$ Zähmung,$ Entsagung$ (90)$ Liebhaber$ (90)$ Verletzung$ (91)$ Sieh$ das!$ (92)$ Sich$ sehen$ sehen$ (93)$ Unheimlich$ (96)$ Betrachter$ vor$ dem$ Kunstwerk$ (97)$ Psychose$(98)$Beobachtung$(99)$

''6' Nachträglich'unvorhersehbar''107' Messias$ (108)$ Unvorhersehbares$ hegen$ (108)$ Unterricht$ als$ Umgang$ mit$ dem$ Unvorhersehbaren$ (109)$ Fetisch$ (110)$ Perversion$ (110)$ Pathologisierung$ (112)$ Ver` mittlung$–$pervers$(112)$Masochismus$–$Sadismus$(113)$Eingriffe$in$die$Integrität$(114)$ Angstlust$(116)$Tseng$Yu`Chin$(116)$Identifizierende$Wahrnehmung$(117)$Ideale$(119)$ Genuss$ (120)$ Polymorph$ pervers$ (121)$ Beglaubigungsgesten$ (122)$ Komplizenschaft$ und$Angst$(123)$Blick$(124)$Ansteckung$(124)$Vertrauen$(125)$Parallelproduktion$(125)$ Naivetät$(126)$

''7' Haut.'Berührungssehnsucht,'Juckreiz,'Schauplatz''131' Berührungssehnsucht$ (131)$ Juckreiz$ (132)$ Verlust$ der$ Zentralperspektive$ (132)$ Der$ neue$ Augenpunkt:$ Mutter`Kind`Dyade$ (136)$ Trennung$ und$ Grenze$ (137)$ Symbiose$ (138)$Fröhliche$Wissenschaft$(139)$Hinter$der$Haut$(140)$Masochismus$(141)$Kontakt$ und$ Trennung$ (143)$ Beobachtung$ (145)$ Haut,$ ein$ Schauplatz$ der$ Näherung$ und$ der$ Abgrenzung$(146)$

''8' Caravaggios'Powerpoint''151' Didaktik$(151)$Sprechen$und$Zeigen$(152)$Powerpoint$(152)$Hier&Jetzt$(156)$

''9' ZeigeSStöcke'und'andere'Medien.'Zur'Aggressivität'von'Medien'in'der' Bildung''161' Mark$ Tansey:$ The$ Innocent$ Eye$ Test$ (161)$ Komödie$ (164)$ Zeigen$ (164)$ Das$ Reale$ erreichen$ (165)$ Aggressivität$ des$ Zeigens$ (166)$ Medialität$ der$ Medien$ (167)$ Suture$ (169)$ Pseudo`Identifikation$ (169)$ Schreck$ (170)$ Signifikanz$ (171)$ Bilder$ als$ Näh` maschinen$ 1$ (172)$ Symbolisch$ kastrierende$ Medien$ (173)$ Unsichtbares$ (173)$ Sprung$ beim$Zeigen$(174)$Kanäle$(175)$Neue$mediale$Entwicklungen$(175)$

10' Beachtung'der'Medialität''181' Angstfreiheit$ und$ Zugehörigkeit$ (182)$ Ironische$ Nutzung$ (182)$ Stiftung$ von$ Relation$ (183)$ Leerer$ Signifikant$ (184)$ Bilder$ als$ Nähmaschinen$ 2$ (184)$ Christus$ (185)$ Kunst` forschung$(185)$Krystufek:$Suture$(186)$Maschinen$als$sedimentierte$Relationen$(188)$ Bilder$ und$ Schrift$ (188)$ Vernetzung$ als$ Punkt$ (190)$ Videonanie$ (190)$ Schutz$ der$ Privatheit$durch$Veröffentlichung$(195)$

11' Schnittstellen''199' Neurochipforschung$ (199)$ Blutegel$ (200)$ Vampire$ (202)$ Egel$ und$ Chips$ (203)$ Ver` mittlung:$Rausschmiss$aus$dem$Paradies$(203)$Abstraktion$und$Stimulation$(204)$

12' Shirin'Neshat:'eine'»leidenschaftliche'Forscherin«''207' Anschauung$ (209)$ Urteilen$ (211)$ »Ich$ verstehe$ meine$ Arbeit$ als$ bildlichen$ Diskurs«.$ (212)$Unbewusstes$Wissen$(212)$Imaginäres$Wissen$(213)$Symbolisches$Wissen$(214)$ Bildlicher$ Diskurs$ (215)$ Ohne$ moralische$ Urteile$ (215)$ Shirin$ Neshat$ sagt$ (218)$ Ergebnisse$der$Forschung$(219)$Rücksicht$auf$Darstellbarkeit$(220)$

13' Einfallende'Bilder.'Was'kann'Pädagogik'gegen'Bildung'tun?''225' Mediengebrauch$ und$ Verhalten$ (225)$ Was$ tun?$ (226)$ Kunst$ als$ Erforschung$ der$ Bildungen$ des$ Unbewussten$ (227)$ Beispiel$ Com&Com$ (227)$ Bildungen$ des$ Un` bewussten$ (229)$ Ironie$ (231)$ Autorschaft,$ Zurechenbarkeit$ (231)$ Mimesis$ (232)$ Energie$ (233)$ Cross`Mapping$ (233)$ Hirnphysiologische$ Hinweise$ (234)$ Glauben$ (234)$ Mut$zum$Vergnügen$am$Kopieren$(235)$Das$Verwirrende$an$den$Bildern$(236)$Schwer$ fassbare$ Einfälle$ (237)$ Pädagogische$ Aufgabe$ (238)$ Didaktische$ Innovation$ (239)$ Subjekt,$auch$der$Didaktik,$unbewusst$(239)$Vor`Bilder$(240)$Bildungsforschung$gegen$ Ein`Bildung$(241)$Trojanisches$Pferd$(241)$Medienangst$(242)$Anhang$(243)$

14' Geniale'Epigonen.'Kunst'als'Bildungsforschung''249' Generationenwechsel$(249)$Drittes$(249)$Um$was$geht$es$beim$Generationenwechsel?$ (250)$Kristallisationspunkt$(250)$Nachkommen$(252)$Entbindung$und$Entbildung$(254)$ Schwierigkeiten$ in$ der$ Generationenabfolge$ (256)$ Identifikatorische$ Prozesse$ (257)$ »Die$ Mutter,$ die$ ihres$ Sohnes$ Tante$ ist«$ (257)$ Individuum$ (258)$ Künstlicher$ Wahn$

(259)& Kultur& als& Fiktion& (259)& Singularität& und& Wiederholbarkeit& (260)& Vorkenntnisse& (260)&Verdichtung&–&Entfaltung&(261)&Déja&vu&(263)&Einfall&der&Bilder&(264)&

15# Das#zu#Lesende##267# Wie& es& wirklich& war& (268)& Eine& Fiktion& ist& keine& bloße& Fiktion& (271)& Kultivierung& der& Aggressivität&(274)&Ironie&(275)&Paranoischer&Zug&(276)&

16# Berge#versetzen,#erzählen#können##279# Herstellung&von&Wundern&(281)&Suggestion&(282)&Praktische&Ironie&(283)&Gemeinsame& Macht& (283)& Minimal& kontraintuitive& Konzepte& (284)& Suggestion& in& Gestalt& der& ÜberY tragung& (285)& Magie& und& Zauber& als& Didaktik& (286)& Camping& im& Himmel& (287)& ÜberY schuss&(288)&

17# Berühren,#glauben,#verinnerlichen##291# Suche& nach& der& Wahrheit& (291)& Subjekt& (291)& Religion& (292)& Nam& Jun& Paik& (293)& Wahrheit& und& Fundamentalismus& (293)& Masaccio& (294)& Interface& (296)& Kunst& und& Wissenschaft& (297)& Kunst,& Reaktion& auf& den& Prozess& der& Rationalisierung& (298)& Kunst& und&Psychoanalyse&(299)&Kunst&als¶doxaler&Aufenthaltsraum&–&Bilderverbot&(299)& Fortschritt& in& der& Geistigkeit& (300)& Engpass& der& Psychoanalyse& (300)& Glauben& (301)& Ausgang&(302)&

18# Liebe,#Medium,#Schnitt##305# Film&(306)&Einbildungen&ins&Offene&bringen&(306)&Ich&(308)&Subversive&Stabilität&(309)& Lasso&(310)&Forschung&und&Bildung&(311)&Einfälle&(311)&Grausam&und&souverän&(313)&

19# Stimmung.#Plädoyer#für#das#Transindividuelle##317# In&den&Metropolen&des&Kapitalismus&leben&Gespenster&(318)&Unbestimmt&(318)&ÜberY tragung&(319)&»Wie&ist&denn&die&Stimmung&heute&Abend?«&(321)&Zigarettenrauch&und& Vanillearoma& (321)& Objektivität& (322)& Moment& von& Lalangue& (323)& Stimmung& in& anderen& Diskursen& (324)& Historisch& (324)& Resonanz& (326)& Mischung& aus& den& unbeY wussten& Erfahrungen& (328)& Genießen& (329)& Illusion& (329)& Lalangue& (330)& Witz& && Konversion&(332)&Fazit:&ein&Arbeitsprogramm&(333)&

Literatur##341# Abbildungen##359# Dank##367#

Miriam Elia: We Go To The Gallery. Published by Miriam Elia/Harlequin Ladybird, January 2014, www.wegotothegallery.com

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Vorwort& »Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.«1

»Ich merke das schon bei der Betrachtung von Kunst, spätestens bei der Beschreibung. Ich kann mich nie mehr ganz geben«, sagte eine Analysantin. Das klingt so, als verhindere Kunst etwas. »Ich kann mich nie mehr ganz geben«, könnte auch klingen wie eine Beruhigung. Und man könnte sich auch dazu denken, dass die Kunst viel mehr gegeben hat, als die Analysantin bemerken, begreifen, formulieren kann. Sie hat etwas am Leib, das sie nicht mehr los wird, ihr wurde etwas zugefügt, es kam etwas hinzu, was sie nie mehr ganz sein lässt, es gibt dann etwas, das nicht zu ihr gehört, aber an ihr ist. Und das Ergebnis ist, dass sie sich vielleicht nur noch ein wenig geben kann, vielleicht nur kurze Zeit. Oder: Sie bemerkt vor der Kunst, dass sie sich nicht ganz und gar auf das Angebot einlassen kann, dass vielleicht ein Sog entstanden war, vor dem sie zurückschreckte, eine Form von Kunstraub. Die Kunst raubt ihr die vorgestellte Ganzheit, die Kunst gibt ihr etwas, das sie so ohne Weiteres nicht integrieren kann, sie nimmt sich etwas von der Kunst, um den Verschluss durch Ganzheit zu öffnen. Aus dieser aus einer Analyse herausgegriffenen Äußerung höre ich, dass Bildung nicht ausschließlich eine Bereicherung ist, jedenfalls nicht im Sinne einer Akkumulation, dem Erreichen einer Ganzheit. Aus einzelnen Zeugnissen kann man wissen, dass vor Kunst vielfältige Bildungsprozesse stattfinden, auch solche, die den Widerstand erhöhen. Zwei Studentinnen kommen nach einer Einführung in die Ausstellung von Mark Rothko (2008) in der Hamburger Kunsthalle und einer anschließenden genaueren Betrachtung zum veranstaltenden Hochschullehrer und sagen: »Bei uns passiert nichts. Was sollen wir machen?« Das, was vor Kunst geschieht, zumal vor Bildender Kunst, vor Bildern ist vielfältig, berührt die Konstitutionsbedingungen des individuellen Subjekts. Man könnte vermuten, dass das selbst noch in den horrenden Summen deutlich wird, die seit den 90er Jahren auf dem Kunstmarkt gezahlt wer11

den. Als wenn der Besitz an der Kristallisationsform des ehemaligen Begehrens des Anderen, des Künstlers, der bloße Besitz noch symbolisches Kapital zur Aufbesserung der individuellen Verfassung abwürfe. Dieses »Als ob« scheint zu wirken. Bildende Kunst setzt Forschungsprozesse in Gang, die vorher als Momente in sie eingegangen sind. Diese werden nicht unbedingt als solche eins zu eins beim Betrachten reproduziert oder gar erkannt. Es können forschungsähnliche Prozesse oder Erfindungen beim Betrachter geweckt werden. Fragen nach den Motiven, auch denen des Künstlers, wie es gemacht ist, wieso andere das für so wichtig halten, dass es in einer Ausstellung hängt, in einem Buch auftaucht. Warum hat der Künstler etwas, was ich nicht habe, könnte ich es haben? Was geschieht da gerade mit mir? Solche Fragen knüpfen wohl an die alte Neugier aus Kindertagen an. Daraus kann ein gesteigertes Interesse an oder gar eine Liebe zur Kunst oder zur Wissenschaft entstehen, aber auch das Gegenteil, denn die Kindertage können so beschaffen gewesen sein, z.B. die Reaktionen auf die Neugierbewegungen, dass man das Verlangen nach mehr Wissen über Bord wirft. Ein Kind wird auf vieles und auf anderes als der Erwachsene aufmerksam. Diese Differenz kann zur Produktion werden. Gerade wegen des Hiatus’, der Holperigkeit des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen, bestehen hier Chancen dafür, die Aufmerksamkeit aus der Zweckgerichtetheit zu lösen. Das ist das, was Adorno mit Naivetät zweiter Potenz bezeichnet.2 Sie erscheint in dem Sinne als nicht zweckhaft ausgerichtet, als sie keinen genuinen Anschluss hat an das, was gegenwärtig als zweckdienlich auf einem gesellschaftlichen Hintergrund interpretiert wird. Für den Betrachter, der nicht Künstler ist, wiederholt sich in entgegen gesetzter Richtung etwas, das ihn vielleicht Anschluss gewinnen lässt, an frühere Forschungsbewegungen, an Interessen, an Genüsse, die gegenwärtig aber nicht ins Alltagsleben eingelassen sind oder eingefügt werden können. Sie werden außerordentlich oder fremd. Oft steht dafür keine Darstellungsmöglichkeit zur Verfügung, die diese Erfahrungen formulieren könnte. Kunstwerke können in dieser Hinsicht zum (nicht unbedingten) spektakulären Ereignis werden. In Begegnungen mit Kunstwerken werden die gewohnten, unwillkürlichen medialen Übersetzungsprozesse bemerkbar, hauptsächlich Übersetzungen aus den verschiedenen Aggregatzuständen von der Sichtbarkeit / vom Visuellen ins Sprechen. Betrachter werden gestört, Kunst lässt sie aushaken und ermöglicht ihnen, sich über die vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten in Raum und Zeit anders zu kombinieren, nicht nur intern, sondern auch mit anderen Menschen und der Umgebung. Beispielsweise kann das Gesehene oft nicht oder nur mit Gewalt schlüssig gedacht werden; Figuratives ist zwar als solches, aber nicht im Kontext zu verorten; der Gleichgewichtssinn meldet eine Schieflage, während 12

doch sonst nichts dafür spricht, dass etwas schief wäre; Zeit dehnt oder verkürzt sich; Rot erzeugt plötzlich fast einen Geschmack; Material und Form trennen sich; Videos evozieren Filme als bekannt, die man nie gesehen hat; es entsteht das Gefühl, zusammenzuhängen mit dem, was man vorher als distantes Objekt wahrzunehmen gewillt war, ohne die Bindung genau benennen zu können. Im Gegensatz zum Produzenten erfährt der Betrachter das meist handlungsentlastet. Es mag dadurch manchmal die Angst entstehen, dass der Ausweg zu veränderter Handlungsfähigkeit nicht gefunden wird, aber auch die umstandslose Rückkehr zum Gewohnten nicht so ohne Weiteres möglich ist. Das macht Bildende Kunst seit langem schon als Gegenstand für die Schule empfehlenswert. Ihrem Gebrauch werden Beiträge zur Bildung zugesprochen. Solche Bildungsförderung, so hofft man, gehe über die Aneignung von Kenntnissen, über das kulturelle Phänomen »Bildende Kunst«, über deren Geschichte und Geschichten, über Fertigkeiten, solche zu produzieren, hinaus. Vor Kunst findet aber auch unfreiwillig Bildung statt – nicht nur dort. Dort kann man sie vielleicht wegen anderer Randbedingungen eher bemerken als im Alltag. Auch das empfiehlt sie für pädagogische und unterrichtliche Prozesse, die Bildung wahrscheinlich machen wollen. Schreibt man so von Bildung, begibt man sich in ein Spannungsfeld, dessen Pole heißen: Bildung findet statt, sowieso und immer. Und: Es gibt institutionelle Anstrengungen, die Bildung befördern. Bildung kann intentional nicht gelingen, es muss aber etwas gesucht, erstrebt, gewünscht, gewollt werden, soll die Wahrscheinlichkeit für differenzierte Bildungen erhöht werden. Und das gilt nicht nur für den, der möchte, dass Bildung stattfinde, sondern auch für denjenigen, welcher der Adressat solchen Ansinnens ist. Bildung findet dauernd statt, weil dauernd Bilder einfallen. Dies kann man weder stoppen noch präzise befördern. Dennoch zeigt z.B. die psychoanalytische Erfahrung, dass eingefallene Bilder, Bilderschichten bilden und zu Verhärtungen führen können. Der notwendige Schutz durch Bilder und Einbildungen kann zu einer großen Distanz zur Welt (einer eingebildeten Autonomie und Souveränität) führen, so dass unbewusste Schutzbilder, Phantasmen genannt, kaum noch Variationen der Aufmerksamkeit zulassen. Einbildungen können Neubildungen verstellen oder in einem Wiederholungszwang Situationen produzieren, die den Vorteil haben, bekannt zu sein, aber auch die Leiden verursachen, die man eigentlich meiden wollte. Aus diesen und ähnlichen Erfahrungen heraus, kann man wünschen, dass in schulischen Erziehungs- und Sozialisationsprozessen, im Unterricht dafür Sorge getragen wird, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene eine Aufmerksamkeit entwickeln können, die Bildungsprozessen auf die Spur kommt. Man kann auch sagen: Bildungsprozesse brauchen ein selbstreflexives Moment, in dem man sich der Bildung bei sich selbst oder an anderen über anderes gewahr wird. Man 13

braucht Diagnose- und Kontrastmittel mittels derer auffallen, in die Nähe der Darstellbarkeit rücken kann, was sich dauernd bildet, einen Bruch in der Wiederholung. Sei es an anderen, sei es historisch, sei an sich selbst. Um dies zu erreichen, braucht man Fehlleistungen, Bildungen des Unbewussten.3 Bildungsförderlich sind der Struktur nach Situationen, die gleichzeitig entbilden, einbilden und somit bilden und das immer so weiter. Bei der Entbildung tauchen die meisten Schwierigkeiten, Widerstände, Abwehren auf. Es geht dabei um Loslassen, auch eine Art Enteignung, Verzicht, Anerkenntnis von Grenzen, Umwandlung, Auflösung. An einigen Arbeiten aus der Bildenden Kunst möchte ich mit unterschiedlichen Schwerpunkten und immer wieder neuen Anläufen untersuchen, wie man sich solche Prozesse vorstellen kann. Ich nehme dabei Kunst als einen Forschungsbereich, der sich genau diesem Punkt widmet, ihn ansteuert und bemerkbar macht. Mit der Bildenden Kunst haben zunächst europäische Gesellschaften einen besonderen Bereich der Bildung durch Bilder allmählich etabliert. Wahrscheinlich ist er als ein Produkt der Säkularisierung zu verstehen. Aber das wird hier kaum Thema sein. In den Künsten findet implizit, selten auch explizit, eine Auseinandersetzung mit dem Bildungsgeschehen, so wie es Pädagogik intentional befördern will, statt. Resultat des Bildungsgeschehens ist das je individuelle, singuläre Subjekt, wie es eher als relationales, denn als substanzielles Geflecht auftaucht. Vor Urzeiten war mit der Bezeichnung »Bildung« eine Aktion der Herstellung von Gebilden im dreidimensionalen Raum gemeint. Diese Gebilde waren nicht nur auf das Sehen bezogen. Von den Gebilden, so nahm man an, gingen bildende Wirkungen aus, weil sie den Menschen in seinen Bewegungen wiederum bildeten, nicht nur formten. Forma und materia waren verschränkt gedacht, eigentlich nicht separierbar. Schon früh war man der Ansicht, dass auch die Beschäftigung mit den schon fabrizierten Werken, ihren Entstehensbedingungen, ihren Eigenschaften, ihren Formen, ihren Inhalten, ihrer Analyse, ihrer Interpretation und, was die Zugänge auch seien, eine bildende Wirkung entfalten könnten.4 Im vorliegenden Buch wird Bildende Kunst als ein Forschungsbereich zur Fassung der (individuellen) Subjektkonstitution verstanden. Fassung heißt hier Darstellung, Produktion und Begreifen. Bildung als Prozess und Resultat wird nicht gleichgesetzt etwa mit Erziehung, Unterricht und Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten. Werke und Prozesse der Bildenden Kunst werden als mögliche Auskünfte über Bildungsprozesse von Subjekten und gleichzeitig als Möglichkeit wieder anderer Bildung genommen. Beides zusammengenommen wird verstanden als Vermittlung. Bei der Vermittlung kommen Widerstände, Überraschungen, Unverständnis, Ablehnung, Begeisterung, Angst, Widerstand, Abwehr, Suggestion, Lust, Freude, 14

Irritation zum Tragen. Sie tragen diesen Prozess. Die unterschiedlichen Momente der Beziehungsaufnahme und deren Umarbeitung machen die bildende Wirkung aus. Um diese Behauptung fruchtbar zu machen und zu belegen, werden hier Suchbewegungen in Konfrontation mit einzelnen Werken notiert. Angespielt ist im Titel des Buches auch auf Vorbilder. Dies soll hier verstanden werden im Sinne eines Bildes, das vorher da ist, das sich als Hindernis oder als Schlüssel für die Bilder, die dann kommen, erweist. An diesen Übergängen ist Sprache nicht unwesentlich beteiligt. Das zeitliche und logische Vorbild als Ideal und Orientierung wird in der Bildenden Kunst thematisiert, kritisiert, überschritten. Aber gerade darin bekommt sie wiederum vorbildlichen Charakter bis dahin, dass es scheint, dass ein Bild des Künstlers zum Modell, zum Vorbild der normalen Sozialisation wird. Das Vorbild ist natürlich auch ein Nachbild. Das Interessante dabei ist, dass Bildende Kunst sich in der Gegenwart unter anderem mit der Verweigerung des Zeigens in eine bestimmte Richtung, auf einen bestimmten Sinn eingerichtet hat und dabei (paradoxerweise) diese Verweigerung zeigt. Sie enthüllt nicht5 etwas, das wesentlich ist oder dem explizit zu folgen sei, sondern sie zeigt die Undurchdringlichkeit von Hüllen als Oberflächen mit Fehlstellen und Rissen, ohne dass angebbar wäre, was hier eigentlich hingehört oder dahinter zu sehen sein könnte. Die Spannung, die daraus resultiert, dass sich da etwas zeigt, anderes verborgen ist, sich dem Zugriff entzieht, führt zur Unschlüssigkeit. Zusammen mit dem dem Sichtbaren und Wahrnehmbaren kann das zum Angebot eines spielerischen, reizvollen Zusammenhalts mit dem Rezipienten werden. Die Herstellung eines Zusammenhangs wird in einer noch sehr allgemeinen und unspezifischen Form als Vermittlung bezeichnet. Das Dispositiv der Vermittlung, auch unmittelbar vor den künstlerischen Arbeiten selbst, ist angewiesen auf Repräsentation, (Wieder-) Vergegenwärtigung, auch von etwas, das im Moment nicht da ist, von dem man nicht weiß, ob es da war, wobei etwas entsteht, das nicht identisch ist mit dem sich nähernden Subjekt oder dem Werk. Wenn nun der Reiz und die bildende Wirkung von Kunst darin läge, dass man über das, was dabei geschieht, nie im Detail Bescheid wissen kann, was passiert dann, wenn im Rahmen von Schule oder Hochschule in den Vermittlungsprozess bestimmte Ziele oder Standards hineinragen, die erreicht werden sollen? Das vorliegende Unternehmen fokussiert den Moment der Bildung, nicht den des Unterrichts. Es werden nicht schon stattgehabte Formen der Vermittlung untersucht. Unterricht lässt sich in einem eingeschränkten Verständnis als die Weitergabe formulierten Wissens und Fertigkeiten sicherlich leichter unter Standards bringen. Dieser Zugang wird hier eingeklammert. Er wird nicht ausgeklammert, weil man selbstredend Wissen und Fertigkeiten braucht und es auch solches gibt. Er 15

wird nicht denunziert, sondern es wird dafür plädiert, die Besonderheit von Bildungsprozessen angesichts von Kunst nicht zu vergessen. Nur so kann eine Ausrichtung auf ein Ziel verfolgt werden, das jetzt und hier nicht da ist, genauso fehlt wie der einzige Sinn eines Kunstwerks. Das ist unter den Vorzeichen eines mitteleuropäischen und nordamerikanischen dreifachen Fundamentalismus’ nicht ganz leicht durchzuhalten. Nicht genaue Bestimmbarkeit von Zielen, Verwirrung durch unbekannte Anforderungen, Inkommensurabilität, Spannung, Ratlosigkeit werden durch die Forderungen nach Marktgerechtigkeit (Volks- und Betriebswirtschaftslehre treten an Stelle der Theologie), nach Praxisbezug (Umsetzbarkeit direkt) und Empirie (nach dem Modell der Berührbarkeit und/oder Sichtbarkeit) schnell zum Verschwinden gebracht. Ängste werden eskamotiert und dazu Intelligenz, Denkfähigkeit, Empfindlichkeit partiell lahm gelegt und Zusammenhangsblindheit durch garantierte Anschlussfähigkeit überspielt. Bildung, die man nicht intentional herbeiführen kann, wäre Grundlage für Sprünge aus der Gegenwart hinaus in eine Vergangenheit oder Zukunft, aber auch in gleichzeitig oder ehemals existierende Räume woanders und in deren Zeit samt ihrer Geschichtlichkeit. Das, was zwischen dem, was jetzt ist und als umrissen den Sinnen zugänglich ist, und dem zukünftig zu Erreichenden liegt, ist dennoch vernehmbar, vor allem als etwas, das lenkt, ab- oder hinlenkt, aber nicht immer deutlich repräsentiert werden kann. Man kann das als Wünsche oder Begehren bezeichnen. Standards und die verbundenen Kompetenzen dagegen werden im Indikativ geschrieben. »Der Schüler kennt ...«. Die Betonung von Bildung setzt auf Ereignisse. Und solche Ereignisse, die nicht herstellbar sind, sind die, in denen sich die Intention der Vermittlung umsetzt oder eben auch nicht. Um die Wahrscheinlichkeit für solche Ereignisse zu erhöhen, kann man eine ganze Menge tun, Rahmungen anbieten. In der Bildenden Kunst hat man es mit Sehen zu tun. Dieses nun scheint eine Art Gewissheit zu erzeugen: Das ist es, was ich sehe. Und oft kann man das wiederholen. Und dem Sehen eignet eine andere Zeitform als dem Hören. Das Sehen ist plötzlicher und eine Betrachtungszeit ist (mit Ausnahmen, z.B. der Filmwahrnehmung) nicht festgelegt. Das greift selbst, wenn man weiß, dass man vielleicht nicht alles sieht, dass etwas verborgen bleibt. Jedenfalls sieht man etwas. Und man hat immer wieder den Eindruck, dass man alles sieht. Die alltägliche Gewöhnung an einen allmählich sich entwickelnden grauen Star lässt die Welt farbig wie eh und je erscheinen. Das ist eine reizvolle Ambivalenz in der Wahrnehmung Bildender Kunst. Nur ganz kleine Kinder wiegen sich vielleicht in der Illusion, dass sie lesen könnten, indem sie auf bedruckte Seiten blicken, weil sie dort Schrift und einzelne 16

Buchstaben erkennen. Später wissen sie, dass man lesen lernen muss. Dazwischen liegt etwa der beleidigte Ruf eines vierjährigen Mädchens, das lange Zeit auf die Seiten des Buchs gesehen hatte, das Buch schüttelte: »Papa, es liest sich nicht!« Es geht darum: erfahren lernen, wie man gebildet wird von dem, was man sieht, indem man immer etwas dazu tut, was nicht zu sehen ist. Dies kann man nicht lernen, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie man technisch lesen lernen kann. Nur weil bei den meisten Menschen ein Mechanismus des Sehens funktioniert, ihre Augen also von Seheindrücken erreicht werden, heißt das noch nicht, dass sie sehen können, präziser, dass sie merken, wie sie gebildet werden. Die These ist, dass man das mit der Kunst ganz gut lernen kann. Das vorliegende Buch geht aus Notizen entlang eines Zeitraumes von nahezu zwanzig Jahren hervor. Einige Kapitel waren Vorträge, andere Buch- oder Zeitschriftenbeiträge. Sie wurden mehr oder weniger stark überabeitet. Es bleibt aber meist der jeweilige Anlass, Diktion und Zusammenhang gewahrt. Es entsteht eine umkreisende Didaktik, die dennoch eine Ausrichtung hat, die versucht mit aller Thetik Öffnungen zu erreichen, Öffnungen als Loslösung für andere Bindung – immer wieder.

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Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam, S. 30. – Es versteht sich von selbst, dass in einer Wendung wie ›die‹ Kunst, ›der‹ Betrachter, ›die‹ Bildende Kunst, ›die‹ Künstler, ›die‹ Analytiker, ›der‹ Forscher etc. prinzipiell je beide Geschlechter einbezogen sind. – Nach der Erstnennung einer bibliographischen Quelle folgen Kurztitel. Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M., S. 10. Vgl. Lacan, Jacques (1998): Die Bildungen des Unbewussten. Das Seminar. Buch V. Übers. von Hans-Dieter Gondek, Wien, 2006. Nicht als einzige Begründung diente diese Ansicht dazu, für die produzierende und rezipierende Befassung mit Bildender Kunst ein Schulfach einzurichten. Es hieß zwar immer wieder anders, hat aber vielleicht am ehesten noch das erhalten, was die Breite des Bildungsbegriffes einmal ausgemacht hat. Allerdings geht das nur unter einer Bedingung, behaupte ich: Bildende Kunst kann Bildung auch in ihrer Widersprüchlichkeit nur aktualisieren, wenn sie sich im Rahmen von pädagogischen Veranstaltungen in den Widerstreit mit anderen Inhalten und Verfahrensweisen begibt. Widerstreit heisst hier, dass sie weder unter eine Pädagogik oder Didaktik an sich subsumiert werden kann, noch dass sie von sich behauptet, sie sei etwas ganz anderes. Vgl. Reiche, Reimut (2001): Mutterseelenallein. Kunst, Form und Psychoanalyse. Basel, Frankfurt a. M., S. 16.

1&Bildung,&die&!

Bildung ist ein spezifisch deutsches Wort ebenso ein Begriff, der so in anderen Kulturen meines Wissens nicht vorkommt. Er führt zu Übersetzungsschwierigkeiten – auch im Deutschen. Diese lassen sich hier nicht einholen, sondern nur andeuten, im Versuch so zu tun, als sei eine definitorische Bestimmung möglich.1 Bildung steht im Deutschen da, wo in der lateinisch-römisch-christlichen Tradition formatio steht. Bildung gilt auch als Übersetzung des französischen2 »formation«, wie es z.B. in Jacques Lacans Le Stade du miroir comme formateur de la fonction du Je als Bildner erscheint.3 Bildung, so wie der Begriff hier verwendet wird, ist nicht auf das Feld der Pädagogik beschränkt. Sie kann überall passieren – darin der Übertragung ähnlich, die ja auch nicht nur im Feld der psychoanalytischen Kur wirkt, sondern da in den entspannten Fokus der Aufmerksamkeit gerät. Bildung ist also keineswegs mit Erziehung, Lernen oder Lehren gleichzusetzen. All dies sind Dispositive, Bildung geschehen zu lassen. Bildung kann auch als die Übersetzung des lateinischen eruditio gelten. Eruditio wird dem Wortgebrauch nach als Gelehrsamkeit, Belesenheit übersetzt. Wörtlich – von erudire – heißt es: aus dem Rohen herausarbeiten, eine Form geben, entrohen (also vielleicht kochen), bearbeiten, verarbeiten. Zur schwierigen Übersetzbarkeit des Bildungsbegriffs hat Birgit Sandkaulen eine Geschichte geschrieben: »Als eingangs des 19. Jahrhunderts die Universitäten in Deutschland revolutioniert wurden, stand ein neuer Bildungsbegriff Pate: Zweck in sich selbst, gleichwohl auf Praxis bezogen. Dieser Begriff der Bildung war jung und kritisch zugleich, ein entschiedener Einspruch gegen die Zweckrationalität und Funktionalität von Wissen. Als Studentin habe ich vor mehr als zwanzig Jahren ein Auslandsjahr in Poitiers verbracht, am dortigen Centre de la Recherche sur Hegel et Marx, wie die Einrichtung damals noch hieß (heute ist sie umbenannt in ein Zentrum zur Erforschung des Deutschen Idealismus). Ich studierte dort die Phänomenologie des Geistes, Hegels Hauptwerk […]. In diesem Werk spielt der Begriff Bildung eine hervorragende Rolle. Das ganze Buch handelt von der Bildung des Bewusstseins. Als individuelles wie als kulturelles Bewusstsein soll es auf dem Weg einer langen und breiten Erfahrungsgeschichte verstehen lernen, was es selber ist. Das

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aber kann nur gelingen, wenn das Bewusstsein begreift, auf welch mannigfache Weise es mit der geschichtlichen Welt vermittelt ist. Dieser Gedanke hat mich fasziniert, und ich beschloss, über Bildung bei Hegel eine Arbeit zu schreiben, auf französisch, denn schließlich studierte ich in Frankreich. Nun machte ich eine verblüffende Erfahrung: Ein Wort, das im Französischen dem deutschen Ausdruck Bildung entsprochen hätte, fand sich nicht. Im Französischen braucht man eine Serie von Wörtern, um die vielfältigen Aspekte wiederzugeben, die in Bildung stecken und die alle in Hegels Verwendung des Begriffs eine Rolle spielen: formation (Gestalten oder als Produkt davon die Gestalt: die Kinder bilden einen Kreis, die Autos bilden eine Schlange), développement (Entwicklung: Pflanzen bilden Knospen aus), création (bildende Tätigkeit: Bildende Künste), fondation (Gründung: Bildung eines Staates), organisation (Aufbau: die Bildung eines Unternehmens, ein Unternehmensgebilde), éducation oder culture (Erziehung: Ausbildung) und schließlich noch connaissances (Wissen, etwa im Bildungskanon). […] Da es lästig gewesen wäre, ständig alle diese Wörter aufzuzählen, habe ich es in meinem französischen Text kurzerhand bei dem deutschen Ausdruck Bildung belassen. So machte es im übrigen auch mein französischer Dozent. Noch heute höre ich ihn ›la Bildung‹ sagen [...]. In der englischen Sprache ist es nicht anders. Auch hier sagt man education, wenn man Erziehung oder Ausbildung meint, und spricht andererseits von formation und development, wenn man den Vorgang des Gestaltens, das Profil einer Gestalt oder aber derlei wie eine Entwicklung im Auge hat«.4

Zu erinnern ist daran, dass der deutsche Begriff der Bildung in einem theologischen Kontext erstmals bei Meister Eckhart gebraucht wurde und dort eng verknüpft ist mit dem Prozess einer gleichzeitigen Entbildung und einer neuerlichen Einbildung. Schon der neue Einfall von Bildern lässt die vorhandenen nicht unverändert, es kommt zu Überlagerungen, Löschungen und Schichtungen. Zuweilen – so kann man sich vorstellen – »entstehen« die älteren Bildungen erst mit dem Einfall der gegenwärtigen. Manche neuen überraschenden Bildungen können auch ältere so zerlegen, dass sie bisweilen nicht mehr greifbar sind und sich vielleicht zu einem neuen Bild konstellieren. In der zunächst theologischen Version ist Referenz und Bezugspunkt das Bild »Gottes«, das aber im Umfeld von Meister Eckhart nicht mehr (wie zuweilen davor) als Ursache der Bildung gedacht ist, sondern als Wirkung – und umgekehrt.5 Hier werden Theoriezüge vorformuliert wie dann in der Psychoanalyse insbesondere bei Lacan: Aus der Zukunft ergeht eine Wirkung auf Gegenwart und Vergangenheit, z.B. über Idealbildungen, das Gegenwärtige, von dem normalerweise angenommen wird, es sei die Ursache späterer Wirkungen, wird so gleichermaßen zur Wirkung. Ebenso geschieht dies der Vergangenheit, die als wirksame Ursache auf einmal zum Effekt einer gegenwärtigen oder zukünftigen Ursache wird. Das ist nicht linear zu denken. Aber es ist die einzige Chance, bildend oder psychoanalytisch wirksam tätig zu werden, weil sonst die Ursachen als immer schon vergangene fundierend und bestimmend gedacht werden müssen. 20

Hierin kann man also Vorboten einer dann erst in der Psychoanalyse wieder genauer ausgearbeiteten Logik der Nachträglichkeit erkennen. Nachträglichkeit und Chock der Präsenz transportieren andere Zeitqualitäten als die der Linearität. Meister Eckhart spricht von einer Verkehrung von Ursache und Wirkung in sich, zumindest von einem Ineinander. Bildung spielt mit den Zeiten, so wie wir gewohnt sind, sie zu sortieren. Bildung hat etwas von einer Konjektur, einer Vermutung, wobei das Mut machende des Einfalls von Bildern mit zu beachten ist. Der Einfall, so bin ich geneigt anzunehmen, hat einen energetischen Aspekt, er setzt etwas ins Werk. Vielleicht gibt es Bildung nur im zweiten Futur. Deshalb ist sie kaum direkt planbar und bindet das Sprechen über Bildung, ihr ins Werk setzen immer mit einem »Als ob«. »Wir tun jetzt so, als ob wir das planen könnten« (Aber wir tun es dann tatsächlich). Das hat etwas Fiktionales, Augenzwinkerndes, Ironisches, Kontrafaktisches, aber deshalb Wirksames. Ich fahre fort mit den pseudodefinitorischen Setzungen: Bildung besticht mit formal interessanter, nicht unbedingt »schöner« Präsentation, die materialiter wirkt, und verführt so auch. Sie hat performativen Charakter, verflüchtigt sich, wird vergessen oder erstarrt im Stillstand. Bildung hat eine ästhetische Dimension. So hat sie Teil am Imaginären (dem Vorgestellten, Vorstellbaren, Phantastischen, Geträumten, Eingebildeten, ...) und setzt, wie in Lacans Spiegelstadium beschrieben, über das Symbolische, z.B. über ein Sprechen, immer wieder die Differenz zum bildlichem Ichideal vom sprechenden Ich aus in Gang: Wenn »ich« spreche, dann hat dieses Ich, das da spricht, eine mehr oder weniger explizierbare Vorstellung von sich, eine Imagination, die aber mit dem tatsächlich sprechenden Ich nicht übereinstimmt. Gerade aus diesem Grund, wegen der Nicht-Übereinstimmung, spricht man. Und weil man die Differenz nicht beherrscht, kann man davon sprechen, dass es sich bildet. Es bildet sich im Sprechen unter Beteiligung der Vorstellungen, die nicht einsehbar sind für andere, ruft aber im adressierten Anderen wiederum Vorstellungen hervor, bildet sie dort, von dorther kommt eine symbolisierte Antwort, so dass sich das Mitgeteilte weiter bildet. All das geschieht mit etwas vom Realem, etwa der Lebenszeit, dem Einsatz von Energie und Körper. Das Reale ist im Akt der Bildung und durch diesen als solches nicht greifbar, auch nicht ganz begreifbar. Bildung transformiert räumlichen Stillstand und Gegenüberstellung notwendig in eine zeitliche Bewegung: Erst in Zukunft wird es gut sein, sagt man nachher immer wieder auf die Zukunft und das Zukünftige hin. Bildung bezeichnet eher einen Prozess und eine Relation denn eine Substanz und bildet eine Textur, in der sich allerlei fängt. Bildung ist auch wie ein Fangnetz, also eine Struktur von Aufmerksamkeit. 21

Bildung hat eine ethische Dimension, weil und insofern sie es notwendig macht, dass das Subjekt jenseits des Regelvollzugs erscheint. Es wird erfinderisch und taucht so als singulär bemerkbares zur Formulierung herausfordendes Subjekt auf. Es hat so etwas Einzigartiges (Singuläres), das jenseits, gegen und in noch nicht geregelten Situationen in Erscheinung tritt. Bildung verlangt Urteils- und Einbildungskraft und zieht zur Verantwortung – in die Richtung vom Anderen her, der gerne etwas über die Gründe des Denkens, Handelns und Fühlens wissen möchte. Sie verlangt nach einer Ethik, die der Nichtabschaffbarkeit des Mangels (er entsteht immer wieder anders neu) und Unüberschreitbarkeit der Grenzen zum Anderen Rechnung trägt. Es geht immer weiter. Man kann auch sagen: Bildung greift immer zu kurz. Der Mangel wird aber auch immer begleitet von einem Überfluss, von einem Reichtum an Möglichkeiten, die in der Fülle unerträglich sind. Es braucht Mut zur Auswahl und Entscheidung. Das muss gebildet werden. Überfluss wird sprechend in ein Medium gebracht. Ein Säugling hat so nicht nur Mangel, sondern auch einen Überschuss an ungebündelter, ungeformter Energie – Form ist etwas Soziales. Säuglinge bringen in Gang. Und wird eine »Naivetät zweiter Potenz« (Adorno)6 errungen, werden Überschuss, Neugier und Rücksichtslosigkeit als Produktionsweise weiterhin wirksam. Sonst erscheinen Freiheitsgrade als Mangel an Orientierung. Bildung ist also keine Fütterung. Bildung arbeitet mit der Begrenztheit des Individuums, seiner Endlichkeit, elaboriert einen Konnex zum Sozialen und gibt in dieser Arbeit Beziehungen Kontur. Sie ist vorläufige Antwort auf fehlenden Zusammenhalt. Sie ist nichts, was drinnen stattfindet und dann auf etwas Äußeres einwirkt, oder umgekehrt von außen nach innen wirkt. Sie ist als Relation dazwischen. Eine Frucht aus den Befassungen mit einem weiter geschriebenen Bildungsbegriff ist auch die Erfahrung: Bildung ist ein aktiv-passivisches Geschehen, medial. Dementsprechend kann man Bildung nicht haben, lediglich einige Dispositionen als Voraussetzung, um bildende Relationen einzugehen, Bereitschaften. Bildung als Eigenschaft ist nichts anderes als Einbildung. Und diese muss in Anlehnung an Meister Eckhart dann in die nächste Runde gehen, die Entbildung. Von da wieder zu anderer Bildung. Bildung erweist sich als genau die Relation, die das Subjekt, im Unterschied zum Individuum, in Existenz hält, sonst zerbröselt es und ist nirgendwo mehr auffindbar. Lacan spricht von einem »authentifizierenden Gefühl«7. Es tritt ein, wenn das zur Aktion herausfordernde Reale zumindest gestreift wird. Bildung lebt von der Beeindruckbarkeit, von der Irritierbarkeit, von Haltung und Stil. Bildung als Relation und Diskurs (d.h. als soziales Band) hat wie jede Relation reale, imaginäre und symbolische Schichten, bzw. Register. Direkt dem Bewusstsein zugänglich sind zuweilen die imaginären und symbolischen Dimensionen. Das ergibt ein Ge22

fühl einer zumindest partiellen Unbeherrschbarkeit der Beziehungen, in denen die Individuen leben, sie bekommen eine Ahnung davon, dass es ein unbewusstes Subjekt gibt, das als darunter Geworfenes und dann Darunterliegendes (griech. ὑπερκείµενον) fundierend wirkt. Wegen ihrer Nichtbeherrschbarkeit macht Bildung Angst, verunsichert, steigert damit die Neugier und das Existenzgefühl. So entsteht die Versuchung der Rationalisierung von Bildungsprozessen, dem Wunsch der Überprüfung und Steuerung. Der Gegenentwurf der Bildung gegen die tatsächlich existierende Angst wäre Stabilisierung durch Bewegung, durch eine Sehnsucht, durch unablässiges Wünschen, das sich ausruht in Momenten gelungener Verknüpfung, Beziehung, Freundschaft mit anderen und dem Gefühl, dass es stimmt. Die Verknüpfungen der Register gelingen und verändern sich; das wäre Bildung als Prozess, der aus sich heraus Bildung als Verknüpfung, als Inhalt und Resultat, als Abfall und Stützen entlässt. Gebildete Menschen, also die, die eine wahrnehmbare Struktur entwickeln und Spannungsbögen handelnd zur Existenz bringen können, sind selber wieder Attraktoren für Bildungsprozesse, Vorbilder. Alle Bildung ist ästhetisch, weil sie Übergänge vom Sinnlichen in Sinn provoziert, aber diesen Sinn auch immer wieder, vom Sinnlichen, Physischen her untergräbt. Unfassbar. Reine, vergeistigte Bildung ist für pädagogische Zusammenhänge nicht geeignet, denn sie verflüchtigt sich leicht nach oben. Und deshalb gibt es sie auch nicht. Bildung als Prozess und als Haltung – unterfüttert mit unbewusstem Wissen auf der Grenze zur Formulierbarkeit – braucht Darstellung. Dabei geht es nicht um eine Darstellung von etwas, das vorher da ist und nur noch eines Mediums bedarf. Die Darstellung selber bringt etwas in Existenz, das vorher so nicht war. Erst so kann Bildung bemerkt werden. Vielleicht kommt Bildung immer auch an die Grenze ihrer Darstellbarkeit, der bisher möglichen Darstellbarkeit, sie entsteht in Rücksicht auf Darstellbarkeit – so wie die Traumerzählung in Freuds Traumdeutung. Solche Darstellung, Performanz geschieht z.B. in Institutionen, die durch diesen Darstellungsprozess am Leben gehalten werden, sonst werden sie tödlich, zumindest langweilig. In Institutionen – wie Schulen, Universitäten, auch einzelnen Vermittlungssituationen vor Bildern in Museen etwa – stehen je nach Institution unterschiedliche Dispositive bereit, die die jeweilige Grenze der Darstellbarkeit markieren, die Rücksicht auf Darstellbarkeit erzwingen – und zuweilen andere Darstellungsweisen provozieren. Das Museum erfordert aus konservatorischen Rücksichten und der oft kunsthistorischen Ausrichtung andere Inszenierungen in der Umgangsweise mit Kunst als etwa eine Schulsituation, in der die Originale fehlen. So kommt Bildung zur Perfektion, das heißt abgeleitet vom Lateinischen wört23

lich, zu einem »durch Handlung erreichten Prozess und Zustand«. Erst durch die Handlung wird etwas ins Werk, ins Wirkliche gesetzt. Und kann in den nächsten Schritt der Bildung als Prozess übergehen. Am Rande gefragt: Warum spricht man eigentlich nie von »Permaterianz«, nur von Performanz? Bildung geht doch auch durch Materie hindurch. Wie lassen sich in einem so skizzierten Bildungsbegriff die Verhältnisse von Materie und Form, von Bewusstsein und Unbewusstem, Bedeutung und Bedeutungslosigkeit klären? Dieses bipolare Denken entspricht nicht dem hier favorisierten und skizzierten Bildungsverständnis. Aber ich schlage vor, die Pole zu lassen und Bildung streng als Vermittlung zu verstehen, die die Pole aus sich entlässt. Bildung ist in der Mitte zu suchen, aber nicht ohne Berührung zu den Polen.

Abb. 1 Muntean/Rosenblum: »Where else«. Ausstellung in der Secession, Wien vom 27.1.-19.3.2000, Wien: Wiener Secession 2000.

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Vgl. Ritter, Joachim; Gründer, Karlfried; Gabriel, Gottfried, u.a. (1971-2007): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt. 13 Bde, hier Bd 1, S. 921-937. Vgl. Wimmer, Michael (2014): Pädagogik als Wissenschaft des Unmöglichen. Bildungsphilosophische Interventionen. Paderborn. Ursprünglich natürlich des lateinischen Begriffs formatio. Lacan, Jacques (1973): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1949). Übers. von Peter Stehlin. In ders.: Schriften I. Olten: Walter, S.62-70. Sandkaulen, Birgit (2004): La Bildung. Frankfurter Allgemeine Magazin, Heft Nr. 271, 19.11.2004. Pazzini, Karl-Josef (1991): Von Meister Eckharts »Bildung« zu Brunelleschis »Abbildung«. In: Rittelmeyer, Christian; Wiersing, Erhard (Hg.): Bild und Bildung. Ikonologische Interpretationen vormoderner Dokumente von Bildung und Erziehung. Wiesbaden, S. 187-214. Vgl. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 10. Lacan, Jacques (1978): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Seminar XI. Übers. von Norbert Haas. Olten: Walter, S. 78.

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2&Bilder,&die&

Ein Bild ist etwas, das Aufmerksamkeit einfängt und kein Lebewesen ist. Aber es kommt dem manchmal sehr nahe.1 Bilder fangen oft in einer Weise Aufmerksamkeit ein, wie es sonst nur Lebewesen tun. Man kann ihnen sogar zusprechen, dass sie wirken, sogar aktiv sind. Davon handelt Horst Bredekamp: »Dass sich der Betrachter angeblickt wähnt, obwohl er selbst die Hoheit des Augenmerks zu besitzen glaubt, gehört zu den Berichten und Reflexionen, in denen sich der MedusaMythos in immer neuen Varianten im Kunstwerk selbst zeigt.«2 Es gibt einen Bildakt, einen Akt auch im psychoanalytischen Sinne. Ein psychoanalytischer Akt ist daran bemerkbar, dass er den bisherigen Zusammenhang von Signifikanten, den Zusammenhang von Imaginärem und Symbolischem, und damit die »Abdeckung« des Realen für einen Moment löst, und neue Verknüpfung möglich macht. Sie ergeben sich nicht notwendiger Weise und sind auch nicht bewusst herstellbar. Solche Akte können riskant werden; sie können auf der semantischen Eben ausgelöst werden, mit einem Räuspern oder einem Lichteinfall, sie können durch einfallende Bilder ausgelöst werden, die sich durch gesicherte Assoziationsketten durchfressen und auf eine blande Stelle kommen, bzw. solche produzieren, die dann wieder umgarnt werden müssen. Dabei ist das Bild Akteur, wie Bredekamp schreibt. Dieser Status ist aber nicht einfach gegeben, ereignet sich nicht ohne Weiteres, sondern bedarf einer Bereitschaft, einer Suche, eines Begehrens beim Betrachter. Dementsprechend ereignet sich dann die Art des Aktes. Er bleibt bemerkt oder unbemerkt wirkungsvoll, wird bewusst und hat möglicherweise, aber nicht immer kalkulierbare Folgen im Denken, Handeln und Fühlen. Spuren wird er wohl lassen. Auch wenn, bzw. gerade da, wo die Folgen unbewusst bleiben, haben sie Anteil an der Bildung vor Bildern. Manche Wirkungen bleiben in der Latenz, bis sie irgendwann einmal beiläufig im Wach- oder Schlafzustand geweckt werden. Bilder kann man so als aufgeladen denken, sie haben ein Potential, sind sozusagen Energiespeicher. Sie halten offenbar etwas von dem fest, was in sie hineingelegt wurde und setzen etwas frei, wenn ihnen ein Betrachter mit einem anschlussfähigen und anschlusswilligen Speicher und Neugierenergien begegnet. Theweleit spricht diese Potenz 27

zur Übertragung, damit zur Aktivität3, sogar Dingen zu: »Nicht anders ist es zwischen Leuten. Wo eine Übertragung passiert, ist man angeschlossen an einen Speicher von Geschichtlichkeit, weiß man, was los war und ist und dass der andere es weiß. / Die außerhalb der Übertragung machen den Eindruck der Nicht-Existenz und erfüllen einen selbst mit dem Gefühl, nicht zu existieren. Allein bleibt man angewiesen auf Erinnerung; sie macht traurig und zutage fördert sie (fast) nichts. / Leute die in einer Übertragung sprechen, zeichnen ebenfalls auf, wie die Platten und Filme beim Laufen. / Daß manchmal Leute an mich denken, fühle ich und denke, sie nehmen es ebenfalls wahr, wenn ich an sie denke.«4 Bredekamps Bildakt ist irgendwo zwischen dem Bild und dem Betrachter in Aktion. Eine extrem zugespitzte Formulierung bezieht sich auf Albertis Emblem Quid tum (Was dann). Es »zeigt, wie Bildakte das Auge durch die Sogkraft der zu erblickenden und ertastenden Dinge aus dem Körper reißen, so dass seine die Leidenschaften verkörpernden Tentakeln mitgerissen werden. Es offeriert die dramatische Version von Leonardos Bild der Gefangenschaft, in die der Betrachter eines kostbaren Gemäldes geraten kann. Seine fliegende Allmächtigkeit ist das Produkt eines von den Objekten ausgehenden Losrisses. Mit der Macht des Auges verkörpert es dessen Grausen. Es wird als tastende und betrachtende Wunde zum autonomen Flugorgan.«5

Abb. 2 Matteo de’ Pasti, Medaille des Leon Battista Alberti, um 1446/50, Bronze, ø 92,5 mm, Paris, Bibl. Nationale, Cabinet des médailles, Méd. ital 580. Abb. 3 Leon Battista Alberti, Schlussseite von Della famiglia, um 1438, Bibl. Nazionale Centrale, Florenz, cod. II.IVV.38, fol. 119v.; aus: AK Leon Battista Alberti, hg. von Rykwert, Joseph, Mailand 1994, S. 21, dort Abb. 4.

Das Bild wird hier durchaus als belebt gedacht. In der Folge von Warburg traut sich Bredekamp an die vielleicht allzu scharf gezogene Grenze zwischen Logik und Magie, eine Grenze, die Freud auch immer wieder zieht und variiert. Warburg 28

schreibt: »Logik, die den Denkraum – zwischen Mensch und Objekt – durch begriffliche sondernde Bezeichnung schafft und Magie, die eben diesen Denkraum durch abergläubisch zusammenziehende – ideelle oder praktische – Verknüpfung von Mensch und Objekt wieder zerstört, beobachten wir im weissagenden Denken der Astrologie noch als einheitlich primitives Gerät, mit dem der Astrologe messen und zugleich zaubern kann.«6 Diesen Denkraum und seine bestimmenden Momente charakterisiert Warburg in der Einleitung zum Mnemosyne-Atlas. Gleichsam greife aus den Bildern »die volle Wucht der leidenschaftlich-phobischen, im religiösen Mysterium erschütterten gläubigen Persönlichkeit im Kunstwerk mitstilbildend ein, wie andererseits aufzeichnende Wissenschaft das rhythmische Gefüge behält und weitergibt, in dem die monstra der Phantasie zu zukunftsbestimmenden Lebensführern werden. [...] Zwischen imaginärem Zugreifen und begrifflicher Schau steht das hantierende Abtasten des Objekts mit darauf erfolgender plastischer oder malerischer Spiegelung, die man den künstlerischen Akt nennt. Diese Doppeltheit zwischen antichaotischer Funktion, die man so bezeichnen kann, weil die kunstwerkliche Gestalt das Eine auswählend umrissklar herausstellt, und der augenmäßig vom Beschauer erforderten, kultisch verwurzelten Hingabe an das geschaffene Idolon, schaffen jene Verlegenheiten des geistigen Menschen, die das eigentliche Objekt einer Kulturwissenschaft bilden müssten, die sich illustrierte psychologische Geschichte des Zwischenraums zwischen Antrieb und Handlung zum Gegenstand erwählt hätte.«7 Der Denkraum wird in einer mehrseitig von Leben und Bewegung gefüllten Raumzeit konstituiert, erkämpft; damit wird der Zeitraum gestaltet. Eigenartig ist, dass Warburg bei allen Bewegungsmetaphern nicht von der Denkzeit schreibt. Der Denkraum der Besonnenheit ist für Warburg einer, der in der dauernden Gefahr steht, sich zu schließen, das Ich als sprechendes und denkendes zum Verschwinden zu bringen oder aber es bei zu großer Distanz in Melancholie verfallen lässt.8 Zur Aktionsbereitschaft des Bildes eine weitere Überlegung: Manche Lebewesen fangen Aufmerksamkeit ein, die an ein Bild denken lassen. – »Das ist ein Bild von einem Mann!«, hörte ich meine Großmutter sagen. Damit will gesagt sein, vermute ich, dass dieser Mann mehr als übereinstimmt mit einem Bild, das man sich von einem Mann macht. Denn würde er einfach mit der Vorstellung übereinstimmen, würde nicht auffallen, dass er an etwas appelliert, das ihn außergewöhnlich erscheinen lässt. Vielleicht war eine Überraschung dabei. Vielleicht gingen dem Moment der Wahrnehmung viele Enttäuschungen voran und jetzt erschien der Bildmann oder das Mannsbild. Von irgendwo her tauchte eine Wunsch- oder Idealvorstellung auf, zumindest in dem Moment, den ich hier erwähne, aus dem Inneren, im Inneren, für andere nicht einsehbar. Damit wäre man bei einer anderen 29

Sorte von Bild, den als im Inneren gedachten oder, muss man sagen, vorgestellten Bildern, Phantasien, Phantasiebildern, Phantasmen. Das sind Bilder, über deren Eindruck man sich nur sprachlich oder mittels eines »äußeren« Umsetzungsmediums verständigen kann. Sie sind dem Sprechen vorgängig, begleiten die Artikulation in Bild, Schrift und Sprache(n) und verändern sich dabei auch in der Rückwirkung der Aufzeichnung. Ein mit gleichschwebender Aufmerksamkeit gleitender Blick kann an etwas hängen bleiben, er wird von etwas angezogen, bekommt dadurch eine Kontur fragend, rätselnd, amüsiert, erschrocken, begeistert, sich ekelnd. In dem Moment könnte man sagen, das, was sich da herausbilde, das sei ein Bild. Etwas wird zu einem Bild zumindest für einen Moment, wird aus dem Gewohnten genommen, das dadurch auch aus dem Bild fällt, das gerade gegriffen wird, es wird gerahmt. Es gibt Menschen, Landschaften, Gegenstände, Wolken, die derart wirken. Und dies muss nicht mit irgendeiner Form von bekannter Ästhetik, geschweige denn Schönheit zu tun haben. Es kann ein Schrei sein, etwas Reizendes oder etwas Abstoßendes. So können Bilder und Bildungen beginnen, immer wieder. Mehr als einen Verdacht, was denn alles ein Bild werden und sein könnte, kann man nicht haben. Bei den schon gerahmten Bildern kann man vermuten, dass hier jemand einen Moment der Bildung festhalten wollte. Es sei denn, man geht vor wie jene Bildwissenschaftler, die alle schwierig zu bestimmenden, zu handhabenden Bilder ausschließen müssen, um einigermaßen exakt definieren zu können.9 Im Unterschied zu den hier bedachten Bildern im Zusammenhang mit Bildung gibt es bildwissenschaftliche Ansätze, die Bilder zu abgegrenzten Objekten machen, die auch dadurch den Bildstatus zugeschrieben bekommen, dass sie etwas repräsentieren oder veranschaulichen. Sie existieren separat durch eine Mindestform von Rahmung. Auch solche Bilder sind hier Ausgangspunkt. Aber sie werden erst zu Bildern im Sinne von Bildung, indem sie wieder aufgelöst oder neu gerahmt werden. Der Prozess der Bildwerdung für ein individuelles Subjekt und damit der Bildung des individuellen Subjekts wird dann bedeutsam. Bilder im Sinne der Bildwissenschaft, wie Klaus Sachs-Hombach sie definiert, wenn auch nur wie er schreibt, um einen Anfang zu machen, sind damit zwar mögliche Ausgangspunkte, aber werden zugleich eher als Reste von Bildungsprozessen aufgefasst, die schon aus dem Verkehr gezogen sind. Die in diesem Buch avisierten Bilder können nie ganz zu wissenschaftlich anerkannten Gegenständen erhoben und als solche anerkannt werden,10 sondern Bilder sind jene Phänomene, die der Wissenschaft und der Sprache entgleiten. Sie drängen aber dorthin. Das heißt also nicht, dass man schweigen, nicht schreiben oder nicht forschen soll, sondern das Greifen danach erzeugt das, was Bilder sind, eben keine Sprache und auch keine Schrift, aber auch

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keine Lebewesen im strengen Sinn. Die Herausforderung durch diesen Entzug aus den sprachnahen Symbolisierungsmodi ist der Anlass von Bildung. Etwas deutlicher wird das aus Notizen aus einer analytischen Kur: Eine Analysantin läuft im Traum und kommt vor einer riesigen Mauer zum Stehen. Sie habe nicht darüber sehen können, nicht rechts und links vorbei, erzählt sie. Im Erzählen nennt sie die Mauer eine Brandmauer. Sie sagt, dass sie die Mauer zwar deutlich an eine Brandmauer erinnere, dass es aber keine Brandmauer im Traum gewesen sei. Sie hatte nichts von einer Zerstörung, die etwa das eigentlich daneben stehende Haus in Trümmer gelegt hätte, sie sei auch nicht bedrohlich gewesen, sie beruhigte sie eher. Es war ihr wichtig, das zu betonen. Sie sah die unterschiedlichen Steine, Steinfarben, Oberflächen. Sie gingen von Rot bis Braun, die Steine, so sagte sie, waren wohl unterschiedlich gebrannt. Sie waren in Reihen, wie Zeilen in einem Text, zum Lesen. Es gab aber nichts zu lesen. Es beruhigte sie kolossal. Ja, kolossal wie die Mauer. Aber, dass es eine Brandmauer war, wie es so viele in Berlin gebe – die Wunden des Krieges. Die Wunden als Folgen einer ungeheuer destruktiven Politik. Alles das, was sie eigentlich von Kindheit an schon gesehen habe. Der Analytiker fragte: »Brandmauer«? – Ja, der Signifikant (Die Analysantin sagte »Bezeichnung«) »Brandmauer« mache aus der Mauer etwas anderes als das Gefühl dazu im Traum. Das Wort zerstöre gleichsam das Gefühl zu dem, was sie nicht anders als »Brandmauer« nennen könne. Die Erinnerung an den Traum, die Traumbilder erzeugten eine Spur von Widerständigkeit und Differenz, die auch kaum von den nachfolgenden Signifikanten in der Rede verflüssigt werden konnten, erst recht nicht eliminiert wurden. Sie erklärte, dass eine Brandmauer ohne Fenster und Öffnungen sei, so dick, dass ein Feuer von einem Haus zum anderen nicht übergreifen könne. Und sie bestehe aus gebrannten Steinen. (Da brennt wohl doch was, fragte sich der Analytiker.) Und ihr fiele auf, dass die Beschreibung in einem Widerspruch zu dem Eindruck aus dem Traum stehe, der Traum bekäme dadurch in der Erzählung eine Note, die er ganz und gar nicht gehabt habe. Aber es sei das gewesen, was man als Brandmauer bezeichnet. Im Traum sei die Mauer nur eine Mauer gewesen. Sie habe so etwas wie angenehme Wärme ausgestrahlt. Insofern wäre ja eine Nähe zum Brand da. Aber nicht zu dem zerstörerischen Brand. Eher die Wärme von einem Kachelofen, der schon nicht mehr brenne. Die Ziegelreihen seien wie Zeilen gewesen mit Steinen als einzelnen Elementen, die man zwar nicht hätte lesen können, die aber von unterschiedlicher Farbe gewesen seien – wiederholte sie – und von der Farbe abhängig auch unterschiedliche haptische Qualität gehabt haben müssten. Angefasst habe sie sie nicht. Von Karminrot bis Orange, fast Braun und Violett-Ocker, eigentlich verschiedene Resultate von unterschiedlich intensivem Brand. In gewisser Weise habe sie die Mauer im Traum mit dem Blick aufgelöst. Sie sei keine Mauer 31

mehr gewesen. – Aber eine Mauer, intervenierte der Analytiker. – Analysantin: Ja, eine Mauer, die aber kein Hindernis war. – Schweigen. – Es war der Wunsch, dass sie kein Hindernis sein sollte. Sie wurde zum ästhetischen Ereignis. – Von unterschiedlichem Brand, sagt der Analytiker. – Analysantin: Ja, der Brand war beteiligt an der Farbe und an der Porosität der Oberfläche. Angeregt, was ihr denn noch zu Mauer und Brand einfiele, sagte sie in etwa: Das war wohl eine Mauer gegen die Übergriffigkeit, auch die aus der distanzierenden Ironie des Vaters, aber auch eines Lehrers, die sehr verletzend war, den anderen dumm da stehen ließ, wegen der spielerischen Überlegenheit. – Was auch einen Reiz hatte. Aber die Mauer musste sein, auch gegen die sexuelle Übergriffigkeit, die sie erlebt habe, die sie wegen der Sensationen mit Angst überschwemmt habe. Sie fuhr fort: Aber diese Menschen waren nicht schlecht, sie waren auch anziehend. Aber es braucht eine Mauer. Nur ästhetisch kann ich die auflösen, im Schutz von Bildern, tatsächlich kam dann daher das Interesse an der Kunst, an deren Verrücktheit. Hinter der Abriegelung aber Treue, Sehnsucht treu zu sein, was nur so schwer an den Mann und an die Frau zu bringen war. Sie habe zwar geschworen, sich nie mehr verletzen zu lassen, auch nicht von dem Englischlehrer, der ihre Denkversuche lächerlich gemacht habe. Ich habe die Kunst, die Bilder wichtig genommen, um zu zeigen, dass man das andere nicht so wichtig nimmt, wobei es sehr wichtig war. Und dabei bekam die Kunst eine eigene Qualität, nicht nur Schutz. – Eine Brandmauer schützt zweiseitig, sagte der Analytiker. – Sie ist zunächst etwas verwirrt. – Analysantin: Ja, das habe sie überhaupt nicht im Sinn gehabt. Damit sie nicht ausfalle, ins feindliche Gebiet. – Analytiker: Ausfallen? – Analysantin: Ja, übergriffig, aggressiv, zerstörend, rachsüchtig, wütend, all das bin ich ja. Da ist die Mauer schon moderierend. – Schweigen – Mir fällt gerade auf, dass durch die Mauer ja auch gar kein Klang kommt, kein Ton, kein Gesang. Der Klang fehlt einfach. Eine Mauer gegen Klang? Gibt es das? Vielleicht eher Krach. Vielleicht sollte es eher eine Mauer aus Theater geben, aus Performance. Der Wunsch spielt mit. Es können sich aber auch mehrere auf der gleichen Seite der Mauer versammeln, die dann dieses Bild sehen. Den Verästelungen der Traumdeutung ist hier nicht weiter nachzugehen. Gezeigt werden kann aber an diesen Notizen, wie stark Bild und Sprache miteinander verwoben und doch different sind, besonders am Beispiel vom »Brand« zeigt sich, wie sich die Analysantin gegen ein durch Sprache präformiertes identifizierendes Sehen wehrt, dennoch aber auf die sprachgeleitete Sicht zurückkommt und das Bild nutzt, es wieder zu lockern. Es ist schwer vorauszusehen, ob jemand, wann und unter welchen Bedingungen von einem Bild affiziert wird. Hier wird deutlich, dass bei der Konstitution dessen, was als Bild im Sinne von Bildung gelten kann, äußere und innere Bilder wohl zu32

sammenspielen. Gibt es diese scharfe Grenze, wie die Sprache es hier unterstellt? Sind die Bilder, ob äußere oder innere, jeweils schon da? Oder müssen sie wachgeküsst werden? Es gibt sicher etwas, das schon präexistiert, ein Kern, der aber als solcher auch vollkommen kalt lassen kann, bis dahin, dass der Eindruck entsteht, jemand sei blind. Es muss etwas überspringen. Und dieser Sprung kann ohne Intention und ohne Bewusstsein davon stattfinden, er kann ganz selbstverständlich sein, so selbstverständlich, dass nicht einmal auffällt, dass es eines Übersprungs bedarf. Es gibt wohl in allen Zivilisationen Einrichtungen, Institutionen, die sicherstellen wollen, ob oder wie etwas als ein Bild wahrgenommen werden soll. Der Aufmerksamkeit und Intention, wie etwa der kulturell erwünschten Verdrängung, wird nachgeholfen. Institutionen richten auf bestimmte Bilder aus, versuchen einen Pool von Bildern zu erzeugen, die allen gemeinsam sein sollen. Sie werden dann losgelöst von der Situation des Einfalls der Bilder, werden allgemein. Sie sollen für den Einzelnen zum inneren Maß gebenden Bestand werden. So orientieren Bilder und richten die Individuen auf gemeinsame Bildung aus. Das tut nicht nur, wie Humboldt beschrieb, die Sprache. Gesellungen versprechen sich eine Bildwirkung auf die Verfasstheit des einzelnen Menschen, der ein je vorbestimmtes Etwas als Bild wahrgenommen hat. Diese Bildwirkung, deren Ursache das suchende Individuum ist, wird zu einer Ursache des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit. Von Ideologie, ein Begriff der schwerlich seine Herkunft vom Sehen verleugnen kann, spricht man dann, wenn der Übergang von Bild zur Haltung und Gestimmtheit nicht deutlich wird, verborgen bleiben soll. Bilder werden zum Medium, durch welches etwas noch Mächtigeres sich artikuliert. Es bleibt dabei unklar, wer wessen (ontologischer) Grund ist und wer, was überhaupt bemerken kann (Erkenntnistheorie).11 Genau an dieser Stelle »entsteht« das Subjekt, jenes fehlende Glied in der Kette (missing link), durch das alles rund würde. Es »ist« – aber nicht, es »wird« und wir werden gerade,12 dauern, unbewusst.13 Die Bildungen des Unbewussten14 sind dasjenige an Bildern, was bildend wirksam werden kann. Bildungen des Unbewussten sind Abkömmlinge jenes Unbeschreiblichen, das sich über den Rand des Unvorstellbaren so gerade eben ins Imaginäre und Symbolisierbare hat vorarbeiten können: in Form von Fehlleistungen, Träumen, Symptomen. Abbilder sind spezielle Erscheinungsformen von Bildern. Viele Bilder haben Spuren davon, dass sie etwas repräsentieren. Von manchen Bildern vermutet man, dass sie etwas repräsentieren, auch wenn man nicht weiß, was das nun tatsächlich sei. So verleihen dann Bilder, indem sie selber Objekte sind, dem, was auf ihnen zu sehen ist, einen Objektstatus. Das geschieht z.B. in der die Hirnforschung begleitenden Visualisierung.15 Die mehrfachen Übersetzungsprozesse, etwa aus Datensätzen, die Anlehnung an alte Darstellungskonventionen, das Anhalten der Zeit33

lichkeit der Prozesse, die Performativität in Bezug auf die folgende Wahrnehmung der Forschungsergebnisse sind in der Kartographie verschwunden. Diese Momentaufnahmen – das in der Form eines stillgestellten Objektes namens Bild Anschaubare und dessen Wirkungen zusammengenommen – kann man als Bilden bezeichnen. Die Performativität des Prozesses von Bilden läuft manchmal auf ein Bild als Objekt hinaus. Bilden begleitet und animiert beim Produzenten Bildungsprozesse. Sie sind in der Bildenden Kunst von einer anderen Qualität als beim Abbilden; in der Bildenden Kunst kommen die jeweilige Technik (i.S. téchne/τέχνη) und das einem Bild mehr oder minder unbewusst innewohnende Schockierende des Bildaktes zum Zuge. So ist es einsichtig, dass die Bildaufnahme hier wie da auf eine modifizierte andere Weise beim Betrachter abläuft und in der Regel andere Prozesse der Konstruktion auslöst, um sie dem Bestand eigener Könnens- und Wissensvorräte zu assimilieren und diese dabei zu verändern. Gegen den Genuss des nach außen abgeschlossenen, »reinen« Imaginären setzen Bilder in einer sozialen Situation (Ausstellung, Unterricht) erste Verunreinigungen, um die herum sich dasjenige kristallisiert, was bisher zwar gewusst, aber lange noch nicht bewusst war, dessen Kenntnis sich dem Produzenten oder dem Rezipienten entzog. Es kann der Eindruck entstehen, als sei in den Bildern ein Wissen und Können – auch unbewusst. Oft hat dieses auch den Charakter des Unheimlichen: Es wird etwas Vertrautes, bisher nicht Geäußertes zu einem Zeitpunkt an einem Ort vorgefunden, das überrascht, übertölpelt, nicht sein soll.16 So kann durch Bilder etwas auftauchen, von dem selbst deren Produzenten nichts wussten. Damit unterscheiden sich solche Bilder zwar nicht messerscharf etwa von Geschriebenem (das auch nicht ohne Unbewusstes erscheint), aber im Unterschied zu diesem geben Bilder manchmal solche Kristallisationspunkte durch etwas, das in der Wahrnehmung schon zu einer Gestaltbildung reizt (ikonische Differenz), nicht erst durch die Bilder, die bei der Entschlüsselung von Text oder Gehörtem im Leser und Hörer entstehen. Bei Bildern kommt über den sinnlichen Reiz etwas deutlicher von außen in den Betrachter hinein, als dies der Fall bei der beiläufigen internen Bildproduktion etwa im Vorgang des Zuhörens oder des Lesens ist. Georges DidiHuberman beschreibt das ähnlich als Aktion, wie Horst Bredekamp, fast noch drastischer: »Jedes Bild geht vom Körper aus und kehrt zum Körper zurück […] Jedes Bild geht vom Körper aus – das heißt trennt sich davon – und kehrt zu ihm zurück.«17 »Das Bild reicht uns nicht nur die Hand. Es nimmt unsere Hand und zieht uns – atmet uns ein, verschlingt uns – ganz und gar in die ›magische‹, ›geheimnisvolle‹ Bewegung der einfühlenden Anziehung und der Einverleibung hinein.« 18 In Bezug auf Bilder sei hier »definitorisch« festgehalten: Der mediale Unterschied von Bild zu Gesprochenem und zu Geschriebenem legt auch sensorisch eine andere Beeindruckung und Bearbeitungsform nahe. 34

Hier noch eine weitere Metapher, um zu verdeutlichen, wie im vorliegenden Zusammenhang Bilder konzipiert werden: Wir sind infolge der Computertechnologie gewohnt, zwischen Hardware und Software zu unterscheiden. Wenn man sich mit Bildern beschäftigt, sie auffasst als Dinge, die etwa hart geworden an der Wand hängen, dann könnte man die Möglichkeit des Rezeptionsprozesses auf eine fast chemische Wechselwirkung zwischen zwei unterschiedlichen Arten von Hardware zurückführen, zwischen dem Bild und der sinnlichen, der gesamten körperlichen Ausstattung des Betrachters. Beide Versionen bedürften einer spezifischen Software, um in Existenz zu treten. Den Einpassungs- und teilweise notwendigen Übersetzungsprozess auf Seiten des Rezipienten leiste dann eine Software, ausgeformt und angereichert durch die bisherigen Lern- und Erfahrungsprozesse. Diese »Software« erst ermögliche die Entschlüsselung der Informationen, die man vor und von einem Bild beziehe. Sie koordiniere so, dass die Informationen, die ablaufenden Gestaltungen, »verstanden« werden können, oder eben das Urteil erlaube, dass dies und jenes nicht »verstanden« werden könne. Ich neige allerdings dazu anzunehmen, dass dieses Bild nicht besonders tauglich ist, um Bildungsprozesse zu begreifen – höchstens als Kontrast. Es gibt diesen Unterschied, der sich analog des Unterschiedes von Hard- und Software beschreiben ließe, in der Konfrontation von individuellen Subjekten und Bildern wohl nicht. Gerade davon, dass es diese Grenzen zwischen Hard- und Software hier nicht gibt, zeugen der Reiz und die Verführungskraft, aber auch heftige Ablehnungsreaktionen vor Bildern. Bei der Rekonstruktion von Bildwirkung oder Bildverständnis ergibt sich der Eindruck, dass sich die Hardware beiderseits im Moment des Beginns der Wirkung schon verändert hat, etwa dann, wenn man anfängt, über ein Bild nachzudenken. Eine von der Hardware eindeutig separierbare Software ist nicht abgrenzbar. Man könnte sogar vermuten, dass manchmal die »Hardware« Individuum durch ein Bild eine neue »Software« aufgespielt bekommt. Abwehrende Versuche einer Vereindeutigung, bilderstürmerische und bilderkritische Aktionen gehen wohl von einem Modell prinzipieller Abgrenzbarkeit aus: Der Wahrnehmende hat an sich nichts mit dem Bild zu schaffen, erst das Bild produziert in ihm einen Zustand, der von der jeweiligen, bestimmte Bilder verbietenden Gesellung unerwünscht ist. Oft geht es dabei auch um Neid und Eifersucht auf die im Verhältnis zu menschlichen Autoritäten mächtigeren Bilder. Dem Bild wird ein Einfluss unterstellt, den die jeweiligen, zensierenden, verbietenden oder auch nur ernsthaft kritisierenden Autoritäten gerne hätten, einen Einfluss, den sie gerne im Dienste von etwas anderem ausrichten möchte. Befürchtete Anhänglichkeit an die falschen, geheimen Verführer ist bei pädagogischer Bilderkritik oft Auslöser der Ablehnung. Davon spricht die Geschichte der Medienkritik bis Medienverdammung in der Geschichte der Pädagogik spätestens seit Erfindung des Buch35

drucks, dann der Photographie, des Films, des Videos und zuletzt der digitalen Bildwelten. »Es soll Dich kein anderes Bild ansehen als ich«, wäre so gesehen das Gebot der Pädagogen. Nur der Pädagoge soll Quell des Wissens und Objekt der Hinwendung sein. Eine vereindeutigte Form der vom rechten Weg abbringenden Bilder können neben den falschen »Göttern« auch pornographische Bilder sein. Diese führen bequem, vom Individuum in ihren Effekten im Wesentlichen kalkulierbare Bildwirkungen am eigenen Leib herbei, helfen relativ kurzfristig und erfolgreich, Befriedigung oder Spannungsreduktion herzustellen, sorgen für Erfolg, ohne dass dabei der irritierende Weg über das spannungsvolle Aushalten der Fremdheit genommen werden müsste. Sie machen Sublimation und ihre Spannungsbögen überflüssig. An diesem pornographischen Modell ist jegliche Art »sicherer« Bildwirkung orientiert, die einen kurzfristig evaluierbaren Effekt zeitigen will. Dieses Modell funktioniert scheinbar ohne die Irr- und Umwege einer auf der Basis von teuren Bildungsprozessen erst möglichen Übersetzung. Pornographie gibt direkt zu sehen, was zu sehen gewünscht wird, um zu einer Befriedigung, einem Abschluss, einem (Lern-)Erfolg zu gelangen. Sie kommt relativ schnell zur Sache. Das, was den Betrachter angeht,19 das geht ihn sehr bald an. Unverborgen. Das ist der Heidegger’sche Ausdruck für Wahrheit, Unverborgenheit.20 Das Unverborgene hat keine Geheimnisse, das Unbekannte, Fremde ist verschwunden, wie auch immer. Diese Form von scheinbarer Unmittelbarkeit eliminiert das Verbot, den fernen Reiz, die bedrohliche Fremdheit.21 Die Hüllen werden entfernt. Die Spaltung von Auge und Blick22 wird weitgehend reduziert. Das Objekt sieht mich nicht von einem verborgenen Punkt aus an, gerade noch so, dass das Sehen ahnt, dass da etwas auf dem Weg ist, anzublicken, sondern es geht direkt auf das Ding los, auf das, worum es »eigentlich« geht. Oft blicken Schauspieler in pornographischen Filmen direkt in die Kamera, was sonst ein absoluter faux pas wäre. Der Zuschauer wird zum Adressaten, ihm wird etwas verkauft, für das er schon gezahlt hat. Die Photos und Filme sind so eingerichtet, dass mit dem Zuschauer als Objekt etwas passiert. Das Bild, der Film wird zum Subjekt. »Somit ist Pornographie nur eine weitere Variation des Paradoxon von Achill und der Schildkröte, dass gemäß Lacan das Paradoxon der Beziehung des Subjekts zum Objekt seines Begehrens ist: natürlich, Achill kann die Schildkröte leicht überholen und sie hinter sich zurücklassen; der springende Punkt ist aber, dass er sie nicht erreichen, nicht einholen kann – das Subjekt ist immer zu langsam oder zu schnell, es kann niemals Schritt halten mit dem Objekt seines Begehrens.«23 Der Pornoregisseur – dem Kunstpädagogen teilweise nicht unähnlich – kämpft manchmal noch gegen die Entwertung der Geschichten und der Umwege.24 Er wird versuchen, doch noch eine Spannung aufzubauen oder deren Imitation, damit eine kleine Dis36

tanz eingehalten werden kann und der zum Objekt gemachte Betrachter nicht gleich in der Spannungslosigkeit des Erfolgs abstürzt. Es wird versucht, eine kleine Geschichte zu erzählen, den Rest eines begehrenden individuellen Subjekts zu installieren, damit der Betrachter nicht ganz und gar zum begehrenslosen Objekt wird durch die folgende Filmsequenz, in der alles gezeigt wird. Er erfindet eine mehr oder weniger blödsinnige Geschichte, einen didaktischen Umweg, um einen kleinen Vorwand zu bauen, ein Motiv für das, was dann gezeigt wird, das als unverborgene Wahrheit erscheinen soll, offen und ehrlich. Täte der Didaktiker das nicht, würde fast zwangsläufig die vorangegangene Geschichte vor der richtigen Antwort auf die gefälschte Frage als Vorwand verschlungen werden. Alleine von dieser Gefahr her ließe sich ein »Abbilderverbot« begründen.25 Diese Gefahr besteht auch in den alltäglichen Liebesgeschichten derart – und Bildungsgeschichten haben daran teil –, dass allen Detailhandlungen unterstellt wird, dass sie nur auf das Eine aus seien. Das Eine fungiert dabei gleichzeitig wie ein Reales, könnte man spekulieren, es zerstört die kunstvoll ornamentalen Bedeutungen, hebt das Suchen und immer wieder erneuerte Wünschen auf. Bilder und Bildung in einen Zusammenhang zu bringen, legt nahe, dass das Eine das Andere verändert. Bildung könnte eine Bezeichnung für den Prozess der Bildwahrnehmung sein und für das, was daraus resultiert. Dabei hat Bildung nicht nur mit etwas Imaginärem zu tun, sondern wird erst in einer Neukombination aller drei Register, des Imaginären, des Symbolischen und des Realen vernehmbar. »Interessant ist doch die Möglichkeit, sich selber zu verändern und Voraussetzungen dieses Veränderungsprozesses wahrzunehmen, das Scheitern der eigenen Kategorien oder der eigenen Begriffe von Welt zu erfahren, und dass dieses Scheitern keine Katastrophe ist, also nicht zur Psychose führt, zur Frustration, sondern – und das kann Kunst mit ihrer affektierten Kraft auch – zu etwas Anderem, wo sich andere Dinge eröffnen«26, führt Roger Buergel anlässlich eines Gesprächs zur documenta 12 aus. Mit Blick auf eine solche Konzeption von Bildung muss konsequenterweise davon ausgegangen werden, dass ein Bild nicht an sich ein Bild ist, dass das Bildsein nicht einer besonderen Substanz entspringt. Um ein Bild als solches wahrnehmen zu können, muss es gesucht werden, aufgesucht und konstruiert werden. Irgendetwas muss ein individuelles Subjekt zu einem Betrachter machen, es dahin bringen, wo das Bild ist, oder es muss die Bereitschaft entwickeln können oder haben, etwas als ein Bild wahrzunehmen, wenn es plötzlich unerwartet auftaucht. Was ein Bild ist, entscheidet sich in einer Relation. Ansonsten müsste man einem Gegenstand Bild eine bestimmte Wirkung bildender Art zusprechen. Das wäre magisches Denken. Das Treffen, also die Entstehung einer Relation zwischen Bild und Betrachter oder Produzent, ist aber offenbar keine isolierte, individuelle Veranstaltung, son37

dern ein gesellschaftlicher Prozess, der Orte und Zeiten schafft, wo man unter bestimmten Bedingungen solche Bilder antreffen kann, denen bildende Wirkung unterstellt wird. Letztere stellen eine erwünschte Herausforderung zur Umbildung dar. Die Bedingungen sind im wahrsten Sinne des Wortes bestimmt: Bevor Bilder diesen Zuspruch erhalten haben, etwa sich in einer Ausstellung befinden, wurde dazu gesprochen und geschrieben. Vor den Bildern fanden Gespräche statt. Beschriftungen sind verstehbar als Kurzformen aufgezeichneter Bestimmung. Zu solcher Bestimmung gehört ein wie immer reduziertes, aber noch merklich ritualisiertes Verhalten, das die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht, dass man auf Grund der Bestimmung in eine Stimmung gerät, die das Entstehen einer Relation begünstigt. Das heißt aber nicht, dass diese schon inhaltlich festgelegt sein muss. Das kann allerdings passieren, wie bei jeder Ritualisierung.27 Es kann vonnöten sein, dass man sich und dem Bild die Chance gibt, sich aufeinander zu beziehen, sozusagen als Übung. Es fällt schwer, eine bildende Beziehung zu einem Bild aufzubauen, wenn ein Betrachter schon genau weiß, was er sehen wird oder was er gesehen haben muss. Er spiegelt nur sich oder das Bild, das er meint, abgeben zu müssen. Er lässt sich keine Chance, etwas noch nicht Bekanntes, Fremdes wahrzunehmen, an sich oder dem Bild. Die Abwehr, die darin liegt, kann man natürlich auch auf mehr oder weniger elegante Art ans Bild delegieren, wie man das Schopenhauer unterstellen könnte. So jedenfalls wird es von Wolfgang Ullrich genüsslich aufgespießt. Hier stellvertretend erwähnt für ein, neben aller erfrischenden Aufmerksamkeit für die Blödsinnigkeit der Kunstverehrung, doch auch rationalistisches Bildverhältnis. Rationalismus, methodisch gewendet, dient einer Abwehr des auch beängstigenden Verhältnisses zu Bildern. »Vor ein Bild hat jeder sich hinzustellen wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und wie jenen auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen.«28 Das Einfallstor berechtigter Kritik an unterwürfiger Kunstverehrung ist der Vergleich des Bildes mit dem Fürsten. Nach 1844 ist es möglich, einem Fürsten zu widersprechen. Und es ist sicherlich eine unproduktive Einstellung, ein Bild in seiner Seltsamkeit nicht erst einmal wirken oder »sprechen« lassen zu wollen. Man kann in diesem Satz Schopenhauers aber auch die entscheidendere Aussage im zweiten Teil sehen. In der Tat gibt es Verehrung von Kunst, daraus folgend sogar Heilserwartung und Überschätzung vor Bildern insbesondere der Kunst, eine Haltung ähnlich der gegenüber Bildern von Heiligen und Reliquien. Das ist eine Abwehrhaltung, um sich vor Veränderung zu schützen und damit die der Verehrung innewohnende Unterwürfigkeit zu bewahren. Solche Abwehren und darin versteckte Erwartungen sind aber auch das Ferment der Bildwirkung, lassen sie entstehen. Gerade dann, wenn sich ein individuelles Subjekt nicht als totalitär, als Ganzes, als Ganzheitli38

ches erfährt, entstehen immer Erwartungen auf Orientierung, wie etwa an einen Fürsten, auf Kompensation oder Therapie und auf Mithilfe. Das ist niemanden streitig zu machen. Die Stückelung ist ja geradezu eine Bildwirkung und könnte den Versuch nahelegen, darin auch ein Heilmittel zu finden. In bildender Absicht kann der Moment von Ratlosigkeit vor Bildern nützlich sein. Der Beginn des Aufbaus eines Verhältnisses zum Bild ist eine Chance zur Befragung der Erwartungen, der Haltung, der lang gehegten Intentionen, die aus der Erfahrung eines Mangels resultieren, aber auch möglicher Weise aus der Sehnsucht danach, etwas, das zuviel ist, loszuwerden. So werde ich im Folgenden rekurrieren auf ausgestellte Bilder, auf solche, denen ein Publikum verschafft wird. Bilder tauchen dabei, auch wenn man gerade nur eins sieht, meist im Plural auf. Als einzelne müssen sie künstlich erst herauspräpariert werden. Mit einem Bild sind meist noch andere verknüpft. Wenn sie sich in einer Ausstellung befinden, ist das systematisch intendiert. Sie werden dann Bestandteil eines Gebildes, das idealer Weise Beziehungen zu nicht vorhandenen Bildern, inneren wie äußeren, knüpfen kann. Aber nicht nur zu anderen Bildern, sondern auch zum Wissen und zum Publikum. Bekanntere Bilder knüpfen sogar Beziehungen zu nicht aktuell anwesenden Betrachtern. Sie generieren ein unsichtbares Publikum, das eine Gemeinsamkeit darin hat, dass für es diese Bilder in irgendeiner Weise interessant geworden sind. Sie haben eventuell, so ahnt man, Strapazen auf sich genommen, Zeit und Geld investiert, um dieses Bild oder diese Bilder zu sehen. Es entsteht eine Gesellung, eine Gemeinsamkeit. Und die kann sogar soweit gehen, dass in diese Gemeinschaft Individuen aufgenommen sind, die nicht mehr leben. Wenn man schon diese nicht mehr sehen kann, so doch das, was sie gesehen haben, überliefert als immer noch existierende Bilder, Schriften, in denen Seheindrücke verzeichnet sind, Erzählungen, die Bilder evozieren. Aber es gibt dieses merkwürdig berührende Phänomen, dass man sagen kann: »Dieses Bild hat auch schon Goethe gesehen«. Was natürlich so einfach nicht stimmt. Die Art und Weise wie das gelingen kann, hängt u.a. vom Format der Ausstellung ab. Sie wird dabei selber zum Medium.29

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Es ist unmöglich, hier die in den letzten zwei Jahrzehnten differenzierte Theoretisierung dessen, was ein Bild sei, einzuholen. Es geht hier lediglich um die Niederschrift eines Vorzeichens für die Lektüre der anschließenden Kapitel. Bredekamp, Horst (2010): Theorie des Bildakts. Berlin, S. 237. Und das nicht nur in der Form der Radioaktivität. Theweleit, Klaus (1994): Buch der Könige. Frankfurt a. M., Basel, S. 379. Bredekamp, Theorie des Bildaktes, S. 332f. Warburg, Aby M. (1980): Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1919). In: Wuttke, Dieter; Heise, Carl G. (Hg.): Aby Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Baden-Baden, S. 199-305, hier S. 203. Warburg, Aby M. (2005): »Mnemosyne« Materialien (1929). Hg. Rappl, Werner; Swoboda, Gudrun; Pichler, Wolfgang; Koos, Marianne. München, Hamburg, S. 14ff. Vgl. Maikuma, Yoshihiko (1985): Der Begriff der Kultur bei Warburg, Nietzsche und Burckhardt. Königsstein: S. 39f. Christiane Brosius legt einige Materialien und Hinweise zum Bildungsbegriff von Warburg vor: Brosius, Christiane (1997): Kunst als Denkraum. Zum Bildungsbegriff von Aby Warburg. Pfaffenweiler. Sie zitiert aus dem Warburg-Archiv die Notiz 328 aus »Grundlegende Bruchstücke zu einer Pragmatischen Ausdruckskunde« (1888-1895): »Der Erwerb des Distanzgefühls zwischen Subjekt und Objekt [ist] die Aufgabe der sogenannten Bildung und das Kriterium des Fortschritts des Menschengeschlechts. Es wäre das eigentliche Objekt der Kulturgeschichte, den jeweiligen Stand der Besonnenheit zu beschreiben.« Bilder »werden im Unterschied zur sprachlichen Darstellung nicht als Beschreibung, sondern als visuelle Veranschaulichung eines (fiktiven oder realen) Sachverhalts aufgefasst. Als derartige Bilder im engen Sinn gelten Gegenstände, die materiell, in der Regel visuell wahrnehmbar, artifiziell und relativ dauerhaft sind«. Sachs-Hombach, Klaus (Hg.) (2005): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a. M., S. 12f. Vgl. Sachs-Hombach, Klaus (2003): Das Bild als kommunikatives Medium. Köln, S. 14ff. Vgl. Žižek, Slavoj (1994): Denn sie wissen nicht, was sie tun. Wien, S. 210ff. Vgl. den Beginn von Bloch, Ernst (1963): Tübinger Einleitungen in die Philosophie 1. Frankfurt a. M.. Individuelle Subjekte wie auch Bilder werden im Zusammenhang dieses Buches weniger als voraussetzbare Entitäten gehandelt, denn als Prozesse, von denen man bestenfalls wie aus einem Film heraus Stills produzieren kann. Dies steht im Gegensatz oder in Abgrenzung zu Überlegungen, wie sie beispielsweise zu finden sind bei: Sowa, Hubert; Uhlig, Bettina (2006): Bildhandlungen und ihr Sinn. Methodenfragen einer kunstpädagogischen Bildhermeneutik. In: Marotzki, W.; Niesyto, H. (Hg.): Bildinterpretation und Bildverstehen. Wiesbaden, S. 75-103, hier S. 78. Bilder sind bei Sowa und Uhlig als in einem Antwortverhältnis stehend konzipiert, hier eher in ihrer Eigenschaft als Frage. Sie sind dementsprechend, jedenfalls die Bilder in der Kunst (»kunstpädagogisch« im Titel des Aufsatzes von Sowa und Uhlig scheint sich ja darauf auch zu beziehen), nicht unbedingt auf eine Mitteilung (S. 83) angelegt, als vielmehr auf eine Auseinandersetzung. Bilder in der Kunst durchbrechen Regeln, an die man sich, laut Sowa und Uhlig, halten muss

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(S. 83). Den Thesen zur Bildhermeneutik im kunstpädagogischen Zusammenhang (S. 87ff.) ist einerseits zuzustimmen, insofern sie Kontexte und Prozesse für Bilder beachten. Anderseits verschwinden die Bilder sowie der Prozess ihrer Produktion und Rezeption immer wieder in einem jenseitigen pragmatischen Zusammenhang, sind nur Durchgangsmedium für Sinn bzw. dem Sinn dahinter. Die Position von Klaus Mollenhauer ist auch hermeneutisch orientiert; sie ist zwar weniger auf einen Handlungsprozess und die darin notwendige Verständigung aus, ist aber stark orientiert an den Inhalten von Bildern und deren Extraktion, als wenn sie ins Gespräch oder den Text gerettet werden müssten. Vgl. Mollenhauer, Klaus (1997): Methoden erziehungswissenschaftlicher Bildinterpretation. In: Friebertshäuser, B.; Prengel, A. (Hg.): Handbuch qualitativer Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. München, S. 247-264. Vgl. hierzu Lacan, Jacques (2006): Das Seminar, Buch V. Die Bildungen des Unbewussten. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien. Vgl. Flach, Sabine; Wübben, Yvonne (September 2004): Zur Wiederkehr der Phrenologie in den Neurowissenschaften. In: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung Berlin (11), S. 10-19, hier S. 14. Vgl. Freud, Sigmund (1919): Das Unheimliche. StA IV, S. 241-274. Didi-Huberman, Georges (2010): Das Nachleben der Bilder. Übers. von Michael Bischoff. Berlin, S. 444. Ebd., S. 453. Die Formulierung versucht die Dimension des Begehrens, das im Blick liegt, einzuholen. Regard (franz.) entspricht Blick (dt.): ça me regard – das blickt mich an, kann auch übersetzt werden: das geht mich an. Heidegger geht zurück auf den griechischen Begriff für Wahrheit άλήθεια. Heidegger, Martin (1949): Über den Humanismus (Brief an Jean Beaufret). Frankfurt a. M.. Psychoanalytisch betrachtet wäre das das Ausspielen einer perversen Struktur. Anspielung auf ein psychoanalytisches Theorem sowie den gleichnamigen Text von Jacques Lacan (1987): Die Spaltung von Auge und Blick. In ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 73-85. Žižek, Slavoj (1992): Der Hitchcocksche Schnitt: Pornographie, Nostalgie, Montage. In ders. (Hg.): Ein Triumph des Blicks über das Auge. Psychoanalyse bei Hitchcock. Wien, S. 43-68, hier S. 49. Siehe Minute 12ff in Raphaël Siboni (2012) »Il n'y a pas de rapport sexuel« »HPG, sa vie, son sexe, sa dévoration.« Siehe hierzu: http://www.capricci.fr/il-rapport-sexuel2011-raphael-siboni-16.html / 31.05.15. Kant hat dieses Dilemma reflektiert, wenn er Absichtslosigkeit und Urteilskraft als Voraussetzung von Vernunft exponiert: »Der Gesang der Vögel verkündet Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz. Wenigstens so deuten wir die Natur aus, es mag dergleichen ihre Absicht sein oder nicht. Aber dieses Interesse, welches wir hier an Schönheit nehmen, bedarf durchaus, daß es Schönheit der Natur sei; und es verschwindet ganz, sobald man bemerkt, man sei getäuscht, und es sei nur Kunst: sogar, daß auch der Geschmack alsdann nichts Schönes, oder das Gesicht etwas Reizendes mehr daran finden kann. […] Was wird von Dichtern höher gepriesen als der bezaubernd schöne

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Schlag der Nachtigall in einsamen Gebüschen an einem stillen Sommerabende bei dem sanften Lichte des Mondes? Indes hat man Beispiele, daß, wo kein solcher Sänger angetroffen wird, irgendein lustiger Wirt seine um Genuß der Landluft bei ihm eingekehrten Gäste dadurch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hatte, daß er einen mutwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der Natur ähnlich nachzumachen wußte, in einem Gebüsche verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug sei, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesänge zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel beschaffen.« Kant, Immanuel (1790/1968): Kritik der Urteilskraft. Hg. von Wilhelm Weischedel: Darmstadt, §42, B 173/ A 171. Buergel, Roger M. (2005): »Man muss sich klarmachen, dass Kunst nicht mit Wissen zu tun hat«. BDK – Mitteilungen. Auszüge aus einem Gespräch mit Bernhard Balkenhol und Heiner Georgsdorf (2), S. 10-14, hier S. 11. Vgl. Ullrich, Wolfgang (2003): Tiefer hängen. Berlin. Schopenhauer, Arthur (2014): Die Welt als Wille und Vorstellung. (1859). In: Guth, Karl-Maria (Hg) (2014): Schopenhauer. Vollständige Neuausgabe Berlin, S. 559. – Erwähnt bei Ullrich, Tiefer hängen, S. 13. Vgl. Buergel, Man muss sich klarmachen, dass Kunst nicht mit Wissen zu tun hat, S. 10.

3&Vorbild,&das&

Das Vorbild »spricht« von der Zeit und vom Raum.1 Die Zeit kann, linear gesehen, die Vergangenheit oder auch die Zukunft sein. Ein Bild, das aus einer Zeit vor der Gegenwart stammt, oder eines das vorschwebt, ist da, wohin man noch will. Und hier wird die Unterscheidung zum Raum schon unscharf. Ein Vorbild ist etwas, das zum Nachbild werden kann. Dann, wenn das Vorbild weg ist, entsteht ein Nachbild davon. Oder es wird erst erkennbar, wenn es nicht mehr da ist. Oft wird das Vorbild von den späteren Effekten her bestimmbar. Dabei ist noch nicht gesagt, dass es sich dabei um eine Person handeln muss, die hier zum Vorbild wird; es könnte auch tatsächlich ein Bild sein, vielleicht nicht ein Bild alleine, sondern ein Ensemble, ein umfängliches Gebilde, eine Stimmung, also etwas, in dem einzelne umreißbare Bilder hängen, auftauchen, schwimmen, sich tarnen. Vielleicht etwas, das einmal befriedigend war.2 Dieser Fall kann zu einer Verhaftung an die Vergangenheit führen. Darauf reagiert das zweite Gebot des Dekalogs. Dort ist die Rede davon, dass man sich kein Bild machen solle. Gott, so heißt es dort in der Bibel ganz zu Anfang, schuf den Menschen nach seinem Bilde. Der Mensch nun solle sich kein Bild machen von Gott. Hier wird Rekursivität und Kausalität aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft unterbrochen. Nach aristotelischer Logik könnte man nämlich schließen: Wenn Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, dann ist der Mensch das Bild Gottes. Und so muss es denn möglich sein, aus dem Bild des Menschen, dasjenige Gottes, des Vorbildes oder auch Urbildes, zu erschließen. Aber dieser Rückweg, der unmöglich ist, wird zusätzlich untersagt. Der Rückschluss ist deshalb unmöglich, weil Zeit vergangen ist und immer wieder Zeit vergeht.3 Gebräuchliche Formen der Logik tun so, als seien Schlussverfahren zeitlos, würden keine Zeit und Anstrengung, Lebenszeit und damit Berührung zum Realen kosten. Auch die Mathematik kennt keine qualitative Zeit, sondern t als Variable. Um eine solche (atemporale) Logik müsste man »gleichzeitig« die stattgehabten Veränderungen wieder eliminieren, bzw. das Sosein an ein separates Bild

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vorher delegieren. Das wäre eine Identifikation, wenn sie denn gelänge und bestimmend würde. Hilfreich, aber auch beschränkend.

Abb. 4 Diebstahl der Turner-Gemälde. Frankfurt. Schirn 1994, FAZ vom 31.12.94.

Dieses Photo deutet den plötzlichen Entzug der Bilder an, die vorher an der Wand waren. Es kann weder den Entzug zeigen, noch die verschwundenen Bilder. In der Schirn Kunsthalle Frankfurt wurden 1994 bei einer Turnerausstellung zwei Bilder gestohlen. Sie fehlten, hinterließen eine Leere. Das zeigt das Photo. Das geht nicht ohne Aufwand. Der Photograph inszeniert die Leere, er nimmt auf, wie zwei Kameramänner eine leere Wand filmen. Die Wand und deren Leere sind gut beleuchtet. Leer ist die Wand nur, wenn man etwas von dem Verlust weiß. Sonst könnte man die Kameramänner, die im Photo stellvertretenden Betrachter, für etwas seltsame Vögel halten. Dass beide gleichzeitig einen Weißabgleich für ihre Kameras machen, ist unwahrscheinlich. Es entsteht ein neues Bild, in dem die Leere zwar vorkommt, aber durch deren Betrachtung gefüllt wird. So in etwa kann man sich Bildung vor Bildern vorstellen. Dieses Bild kann als programmatisch gesehen werden für das, was das individuelle Subjekt im Moment seines Erscheinens zu leisten hat. Es ist nie unmittelbar, jedenfalls nicht ohne Vorinformation entscheidbar, ob im Wahrnehmungsfeld etwas weggenommen wurde, weg ist, ob es immer so war, ob etwas zuviel ist. Dieser Index muss durch eine Beschriftung, eine Erläuterung oder durch den Wunsch, die Vorstellungskraft des individuellen Subjektes hinzukom44

men. Oder soll im Beispiel des Photos noch mehr gesagt werden: Die Bilder werden nie mehr da, an dieser Stelle, zu sehen sein. Ist es sozusagen eine Aufforderung, sich zu verabschieden, zu trauern? Diese Mischung aus dem Vorbild, von dem man ahnt, dass es weg ist, und dem sichtbaren Bild, dessen Zusammenhang konstruiert werden muss, auch ganz spontan, versetzt in Spannung, macht (auch wieder spontan oder langsam) Hypothesenbildung notwendig. Sicher bzw. gewiss ist man nur bei unbemerkt gedankenloser Identifikation und der in ihr steckenden Gewalt, die in Halluzination umkippen kann. Niemand kann genau wissen, was vor dem Bild da war. Deshalb werden häufig in einer Betrachtungssituation Vorbilder einbezogen, sie werden situativ aufgerufen oder erinnert. Auch solche, die zu differenzieren helfen, sonst sieht man leicht nur den eigenen Schatten an der Wand oder das Bild in der Wasseroberfläche. Vorbilder sind das, was vom Anderen kommt und uns aufspannt, in Spannung versetzt. Sie müssen für Neues durchsichtig gemacht werden. Das, was als Identifikation bezeichnet wird, etwa im »Spiegelstadium«4, kommt nicht zustande ohne den Anderen. Die Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit, Wesen und Erscheinung ist eine notwendige Setzung und Fiktion. Der andere hilft zu unterscheiden, indem er spricht, Namen oder Pronomina braucht, Du und Ich, zumindest als Referenzpunkt wirkt für die merkwürdige Doppelung vor dem Spiegel, die anfangs gar nicht als solche erkannt wird und in dem Moment, wo sie erkannt wird, ihre Wirkung auf denjenigen schon getan hat, der vor dem Spiegel steht. Das Bild formiert.5 Das Spiegelstadium ist, so gesehen, ein Term, der ein Changieren zwischen Ort und Zeit anzeigt. Das Kind möchte möglichst bald zum Spiegelbild mit seiner sicheren Kontur und seiner scheinbaren Selbstständigkeit hinkommen. Es gibt dem Kind vor dem Spiegel Kraft zu stehen, zumindest ein Geländer. Das Kind ist aber nicht da und kann auch nicht dahin kommen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Das ist schon eine Differenzierung. Davor schon markiert das Spiegelbild die prinzipielle Unmöglichkeit einer Unterscheidung, die aus sich heraus sicher sein könnte. Eine Unterscheidung wird erst möglich mit der Einführung in eine Sprache. Von hierher können Setzungen unterstützt werden. So wird das Individuum in seiner Existenz zur Setzung oder zu einem subjectum, dem Bild unterworfen und dem Sprechen. Das wird zur Stütze einer Unterscheidung. Es wird möglich, ein Vorher und Nachher zu generieren, von denen man nie sicher sein kann, dass sie so schon existiert haben. Der Umgang mit dieser Ungewissheit, mit diesen Zweifeln vor dem Bild generiert dieses immer wieder neue singuläre Subjekt. Nur diejenigen, die sich schon im Sprachraum befinden, könnten als Zeugen dafür auftreten, dass für sie, die das Kleinkind begleiten, diese Unterscheidung schon existiert und dass sie sowohl das Werden von Unterscheidung als auch koextensiv oder kointensiv das Werden des 45

kleinen Menschen stützen, ihn beachten und beobachten. Durch die Bilder werden das Kleinkind und die Erwachsenen aus einer Schlaufen drehenden Innenperspektive herausgeholt, aus einer Illusion der Selbstbegründung. Derart irritieren, »stören« Bilder, sie deplatzieren. Zugleich wird die Spaltung zwischen Innen und Außen, je (Ich als sprechendes) und moi (Ich als Objekt) durch Bilder, die auch Wünsche sein können, ebenso wie durch konkrete Bilder oder Vorstellungen überbrückt, zusammengehalten. Ein solcher Bilderbogen muss aber immer wieder neu bestückt werden, sonst veraltet man. Sehnsucht nach Neuem führt möglicherweise zu anderen Bindungen. Sehnsucht, nah der Sehsucht, auch Neugier genannt, bewegt. Die Konturierung durch das Bild, die im Spiegelstadium geschieht, kann man, Lacans frühe Ausführungen aufgreifend,6 als das Eindringen eines Vorbildes auffassen. Es wirkt beim Kleinkind auf die Stückelung eines noch nicht erfahrenen Körperbildes organisierend, Halt gebend, beruhigend, gerade weil es von woanders (Außen) kommt. Eine andere Bezeichnung für den Eindringling ist das Vorbild. Das Eindringen des vage als ähnlich Vermuteten begründet das als Einheit des Ichs Erfahrene. – So kann man das sagen, wenn man schon spricht. – Das Ich ist also ein dauernder Prozess der Vereinheitlichung. Erst wenn dieser Prozess gestört wird, kann etwas Neues gebildet werden. Charakteristisch dafür ist, dass nicht mehr mit Sicherheit unterschieden werden kann, was das Eigene und was das Eingedrungene gewesen sein wird (Verschränkung von Vorher und Nachher). Diese Verwirrung nun ist für die weitere Lebensfähigkeit des individuellen Subjekts entscheidend. Ist es nicht mehr verwirrt, ist es fertig. Moment der Verwirrung ist die noch anstehende Unterscheidung von Ursache und Wirkung. Der Eindringling oder im Bild des Spiegelns das Abbild, das Spiegelbild werden zum Urbild einer Gestaltung des Subjekts. Es wird aber, da es selber der Ort dieser Gestaltwerdung ist, immer wieder versucht sein, sich als Ursache zu begreifen. Ganz konsequent geschieht dies im Größenwahn. – Weil das Kind nicht dahin kommt, wo es sich im Spiegel oder im Idealbild sieht, wird die räumliche Distanz in eine zeitliche umgebaut. Die medialen Eigenschaften z.B. eines Gemäldes, erfordern die abermalige Umwandlung dieses Umschlagens, der räumlichen Differenz in eine zeitliche, zurück in eine räumliche Anordnung. Gefragt wird danach, was das Bild zu bedeuten habe, was sie repräsentieren. Die Versuchung zur Identifikation liegt nahe, zu einer Gleichsetzung mit Bekanntem. Bedeuten kann aber entweder ein noch laufender Prozess sein oder etwas, das in der Vergangenheit festgelegt wurde, vielleicht auch etwas, das sich erst ergeben wird. Figurative Bilder werden fast zwangsläufig als Momentaufnahmen, als Stills eines »Films« erfahren.

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Die im Spiegel gesehene ganze Gestalt ist wegen des Interfaces, der Schnittstelle nicht erreichbar, liegt in einem logisch und topographisch anderen Raum. Das Sehen leistet ab der Bildoberfläche eine Übersetzung. Das bloße Sehen beginnt zu blicken. Der Blick als begehrender wird Übersetzer: Irgendwann, irgendwie wird das Ideal, der Wunsch, das Gezeigte einholbar, der Sinn verstehbar, werde ich genauso, wie das, was dort gezeigt wird. Und wenn dann noch die Weisheit dazukommt, dass diese Suche nur um den Preis des Todes abschließbar ist, dann geht es um Bildung. Z.B. wird beim Malen die vom Räumlichen ins Zeitliche umgeschlagene Relation in eine Anordnung auf der Fläche übersetzt. Dann später als Betrachter werden Produzent, Galerist, Käufer und Kunstliebhaber wieder in eine zeitliche Logik auf je unterschiedliche Art versetzt. Sie produzieren, stellen aus, kaufen und lieben immer auf andere hin und anderes hin, das gerade nicht da ist. Deshalb ist jeder Satz vor einem Bild, der in etwa so lautet: »Hier sehen Sie!« – oder – »Dort sehen Sie!« eine Irreführung, weil ohne die Hinzufügung der zeitlichen Dimension überhaupt nichts zu sehen ist, was auch nur einigermaßen identifizierbar wäre. Zeit bringt das Sprechen, das Schreiben, das Denken angesichts eines Bildes, aber auch die meist spontane Auflösung des Stills in ein Vorher und Nachher oder die Dynamisierung des Bildes durch die Frage nach dem, was der Produzent oder der Aussteller für den Betrachter wollte, will, was er für mich vorgesehen hat. Es ist ein Rate- und Konstruktionsspiel.7 Durch die Wahrnehmung, im Sinne von für wahr und wirksam nehmen, der hier virulenten logischen Zeit, die im Bild als einem Still – wie aus dem Prozess eines Films genommen – verpackt ist, werden die jeweiligen Plätze im Symbolischen eingenommen, vergeben, verweigert, modifiziert. Es ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Unmittelbarkeit, auf Berührbarkeit, Zugriff auf und Kontrollierbarkeit des Vorbildes. Von einer logischen Zeit zu schreiben, hebt diese ab von einer empirischen Zeit, in der wir gewohnt sind, ein Nacheinander zu denken, wahrzunehmen, zu formulieren. Diese empirische Zeit ist ihrerseits so komplex, dass sie in unserer alltäglichen Wahrnehmung und unserem Fühlen einer Abstraktion unterliegen muss, um überhaupt Abfolgen zu konstruieren, ein Nacheinander wahrzunehmen. Man kann sich das klarmachen an der Wahrnehmung selbst zunächst semantisch entleert scheinender Bilder, etwa derer des schon erwähnten Rothko’s. Solche Malerei nimmt man einerseits auf einmal wahr und kann auch verweilen. Doch konstruiert man in der Reflexion über die Bildwirkung und die Vermutungen über eine Bedeutung eine Folge von Wahrnehmungen, die allein schon dadurch zur empirischen Zeit werden, dass man dableibt oder darüber sinnt. Dabei spricht man in der Regel nicht von den Assoziationsfetzen, die gleichzeitig, also in der Dauer des Stehens vor dem Bild, ablaufen, sondern erzählt von einem ersten Eindruck, von oben und unten, von mehreren Bildbereichen, blendet dabei andere Besucher 47

einer Ausstellung artifiziell aus, auch einen Ausstellungsbesucher, der zwischen Bild und Betrachter vorbeiläuft und ungewollt dem Betrachtenden deutlich macht, dass man selbst sich und die Zeit still zu stellen versucht. Logische Zeiten ergeben sich aus einzelnen isolierbaren Momenten, die man als existent für einen Prozess annehmen kann, damit er dann als eine je unterschiedliche empirische Zeit wahrgenommen werden kann. Logisch muss z.B. zuerst der Beginn des Sprechens angenommen werden, der es dann ermöglicht wahrzunehmen, dass man dadurch etwas verloren hat, was davor lag. Empirisch ist die Reihenfolge andersherum: Zunächst sieht man, setzt das Bild als Voraussetzung des Gesprochenen und Wahrgenommenen. So führt die »erste« identifizierende Wahrnehmung der fest umrissenen Gestalt vor dem Spiegel (kann man nachher (re)konstruieren) zum Ideal eines später zu erreichenden Zustandes. Das »Zielbild« aber verweist auf die Vergangenheit einer doch nicht so klaren Kontur. Das Stehen vor dem als Still ergriffenen Bild, diese räumliche Anordnung, wird verwoben mit der Zeit. Raum und Zeit sind dabei nicht kompakt, gerade das aktuell den Betrachter angehende Bild sorgt für Aufbrüche. Raum und Zeit haben Maschen, Löcher, Geflechte. Diese erst halten. Im Abschnitt »Bildung, die« nahm ich zur Skizzierung des Bildungsbegriffes schon einmal Bezug auf Meister Eckhart. Auch in Bezug auf die Struktur des Vorbildes finden sich bei ihm Anhaltspunkte. Kurt Flasch fasst Eckhart dahin gehend zusammen: »›Je mehr du ein Bild als Seiendes auffasst, umso mehr führt es dich ab von der Erkenntnis des Abgebildeten.‹8 Das Bild als Bild verstehen heißt, es als Nicht-Seiendes denken. Der ontologisch Denkende (als solcher) verfehlt Repräsentationsphänomene. Das Wort als Seiendes denken, Bilder als Naturdinge konzeptualisieren, Gott, der die Wahrheit ist, als das subsistierende Sein bestimmen, dies alles heißt nach Eckhart, am Gesuchten vorbeigehen. Es heißt zugleich sich selbst verfehlen. Jemand, der denkt und spricht, gehört wie unvollkommen immer, auf die Seite der ›Weisheit‹, die nicht erschaffbar ist. Aber solange er ontologisch denkt, fasst er sich als ein Ding unter Dingen; er unterbestimmt sich, er verdinglicht sich«.9 Alles das sind Argumente gegen Feststellung, Identifikation, Verdinglichung und für Beweglichkeit, für Unbestimmtheit als immer wieder zu bestimmende. Es sieht so aus, als markiere Meister Eckhart schon die Gefahren eines definitorischen, positivistischen Denkens. Wenn er bildlich schreibt: »Wir erkennen nämlich etwas, was Gott nicht machen könnte, wie z.B. jemand das Feuer denkt, ohne seine Wärme mitzudenken [...]«10, dann verweist er auf das Übersteigen eines Abbildens und die Möglichkeiten der Variation, Abstraktion und Konstruktion durch den Intellekt, also durch die Möglichkeit, dazwischen zu lesen (inter legere). Zeichnet sich dann ein Vorbild vielleicht auch dadurch aus, dass da etwas vorher gemacht scheint, dass da jemand etwas vorgemacht hat, wie man sich etwas aneig48

net, das sich wieder entzieht, das sich nicht nur dem entzog, der etwas vormacht, sondern auch dem, der es rezipiert? Das Vorbild wäre also ein Begleiter, auch wenn es konstruiert wäre. Noch einmal anders: Vielleicht geht es beim Vorbild auch um ein Bild oder eine Bildung, die es möglich gemacht hat und machen wird, die Angst auszuhalten, die bei ästhetischen Erfahrungen entstehen kann, die Angst vor der Verwirrung, der Entbildung, der Entgrenzung des bisher Definierten, die Angst beim Kontrollverlust. Manchmal geht das sogar zusammen: Das Vorbild induziert die Angst und bietet sich gleichzeitig und danach an als Schutz. Erhalten wird der Schutz durch Begehren, unabschließbares Wünschen. Neugier und Lust.

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Und vom Über-Ich aus spricht es tatsächlich heimlich laut. Vgl. Freud, Sigmund (1900a): Die Traumdeutung. Gesammelte Werke (GW) Bd. II/III. Frankfurt a. M., S. 571. 3 Lacan hat sich mit der Temporalität der Logik und dem Zusammenhang von Raum und Zeit in Schlussverfahren, deren sozialer Dimension auseinandergesetzt: Lacan, Jacques (1980): Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit. Ein neues Sophisma. Übers. von Klaus Laermann. In ders.: Schriften III. Olten, Freiburg i. B., S. 101122. – Im Beispeile des Gefangenensophismas kann niemand einzeln zu einem Schluss kommen und dieser braucht verschiedene Zeiten. 4 Lacan, Jacques (1973): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1949). In ders.: Schriften I. Übers. von Peter Stehlin. Olten, S. 62-70. 5 Vgl. eine der vielen möglichen Interpretationen des Spiegelstadiums auch in Kunstnähe. Mahr, Peter (1998): Stil, Dalí und das Spiegelstadium. Zum Surrealismus Jacques Lacans. In: Stockreiter, Karl (Hg.): Schöner Wahnsinn. Beiträge zu Psychoanalyse und Kunst. Wien, S. 174-197. 6 Lacan, Jacques (1980): Die Familie (1966). In ders.: Schriften III. Hg. von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger. Übers. von Friedrich A. Kittler. Olten, S. 39-100. 7 Vgl. Freud, Sigmund (1937d): Konstruktionen in der Analyse. StA Ergänzungsband, S. 393-406. 8 Meister Eckhart: Quaest. Par. I n. 12 LW 5, 47, 15. Fn bei Flasch, Kurt (1986): Das philosophische Denken im Mittelalter von Augustin bis Machiavelli. Stuttgart. S. 409. – Die von Flasch indirekt zitierte Stelle: »Wie auch das Bild als solches ein Nichtseiendes ist; denn je mehr man das Bild seinem Seinsgehalt nach betrachtet, um so mehr lenkt es von der Erkenntnis des Gegenstandes, dessen Bild es ist, ab. Ähnlich verhält es sich, wie ich anderwärts gesagt habe, mit dem Erkenntnisbild, das in der Seele ist: hätte es die Wesensbestimmtheit eines Seienden, so könnte der Gegenstand, dessen Bild es ist, nicht erkannt werden; denn wenn es die Wesensbestimmtheit eines Seienden hätte, würde es als solches zur Erkenntnis seiner selbst hinlenken und von dem Gegenstand ablenken, dessen Erkenntnisbild es ist. / Was also zum Intellekt gehört, ist als solches ein Nichtseiendes. Wir erkennen nämlich etwas, was Gott nicht machen könnte, wie z.B. jemand das Feuer denkt, ohne seine Wärme mitzudenken. Gott aber könnte nicht machen, daß ein Feuer existierte und daß es nicht wärmte.« Eckhart, Meister (1936): Magistri Echardi Quaestiones Parisienses. Una cum quaestione Magistri Consalvi (1302/03 (1-3); 13111314 (4 u. 5)). Übers. von Bernhard Geyer. In: Geyer, Bernhard (Hg.) (1936): Magistri Echardi Quaestiones Parisienses una cum quaestione magistri Consalvi, LW 5, (S. 3783). Stuttgart, S. 47. 9 Ebd. 10 Siehe hier Endnote 8.

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4"Kunst"existiert"nicht,"es"sei"denn"als"angewandte"

Mit dieser These geht es um Mehreres. Ich möchte behaupten, • dass Kunst als solche nicht existiert, sondern nur in der Form der Anwendung. Dies gilt für die Produktion wie für die Produkte. Und ich behaupte, • dass es unterschiedliche Formen der Anwendung von Kunst gibt. Eine davon ist die Kunstpädagogik.

Der$Anlass$ Es war einmal: Es gab einen Kollegen an einer Hochschule für Bildende Künste, der dort im Fachbereich Kunstpädagogik lehrte. Er wollte mit mir zusammen ein Seminar machen. Das Seminar sollte den Titel haben »Entwicklung kunstpädagogischer Fragestellungen aus der eigenen künstlerischen Arbeit. – Fachdidaktik I«. Wir wollten das Seminar gemeinsam ankündigen. Es gab dann plötzlich zwei verschiedene Ankündigungen: Im Vorlesungsverzeichnis der Universität tauchte der vereinbarte Titel auf, im VVZ der HfBK tauchte als Seminartitel »Besprechung künstlerischer Arbeiten« auf. Der Kollege begründete das damit, dass er nicht in die kunstpädagogische Ecke gedrängt werden wolle. Außerdem: Es soll an Kunsthochschulen verbreitet sein, Bewerbern zu empfehlen: »Besser ist, du bewirbst dich bei den Kunstpädagogen, in der freien Kunst hast du keine Chance.« – Das sei auch die Einstellung mancher Bewerber, sowieso. Bestimmungen von Verhältnissen zur Kunst sind das allemal. Es ist klar, dass unter den Bedingungen von Schule im Unterricht keine Kunst produziert werden kann. Kunstpädagogik findet in einer Relation zur Kunst statt. Es gibt weder Kunst noch Kunstpädagogik als solche. Das ist die eine Möglichkeit. Alternativ wird versucht, Kunstpädagogik selber als Kunst zu etablieren. Das ist ein mögliches, aber schwieriges Unterfangen. Es ist auch klar, dass sich ein Kunstpädagoge in der Regel nicht mit den Ergebnissen des Unterrichts in Form von einzelnen Produkten am Kunstmarkt beteiligen kann. Es ist empirisch erhebbar, dass gegenwärtig kaum aktive Kunstpädagogen als Künstler im Betriebssystem Kunst prominent vorkommen, allerdings eine ganze Reihe, die als Kunstpädagogen aus51

gebildet sind und als solche gearbeitet haben. Im Grunde ist diese Feststellung genauso überraschend, wie die: Es gibt kaum Sprinter unter den Marathonläufern. Fehlt ein differenziertes Verständnis von Anwendung, werden falsche Einstellungen erzeugt und Minderwertigkeitskomplexe generiert, Gefühle von Versagen und Zweitklassigkeit. Ohne die Formulierung einer spezifischen Relation zur Kunst manövrieren sich Kunstpädagogen mit einer falschen Haltung in eine psychohygienisch ungesunde Situation, in der sie immer unterliegen. Das hat Konsequenzen für die Rekrutierung der Kunstpädagogen an den Hochschulen, für deren Stellung im Betriebssystem Kunst und für die von der Krankenkasse zu erbringenden Leistungen.

Anwendung! Angewandt kennen wir als Adjektiv zu Mathematik. Angewandte Mathematik ist gegenüber der reinen Mathematik eine abgeleitete Form, eine sozusagen niedrigere oder gar schmutzige. Die reine Mathematik heißt rein, weil man der Meinung ist, dass sie dem Imaginären entkommen sei, in ihr also keine Ideale, keine Bilder und Wünsche formuliert wären, sondern sie sei reine Struktur. Sie genügt sich selbst, im Prinzip, und kann nur unter Verlusten an Konsistenz und Stringenz außerhalb der eigenen Systematik zur Geltung kommen. Aber wahrscheinlich würde weder die Mathematik Wertschätzung erfahren, bzw. überhaupt in der Weise im Sozialen von Bedeutung sein, würde sie nicht angewendet. Ich gehe hier in Bezug auf Kunst und Pädagogik noch einen Schritt weiter in meiner Behauptung: Kunst existiert nicht, wenn sie nicht angewendet wird. Es gibt keine nicht angewendete Kunst. Diese Behauptung ist Teil einer Argumentation, die die Kunstpädagogik aus dem Ghetto derer holen will, die es nicht geschafft haben, Künstler zu werden, die angeblich eine zu niedrige Begabung für die Kunst haben, die nur zum Zwecke der Absicherung auch noch Kunstpädagogik studiert haben.1 Kunstpädagogik ist eine der möglichen Anwendungen der Kunst. Und sie ist als Pädagogik mit Bezug zur Kunst notwendig eine Anwendung, sonst ist sie lediglich Vermittlung2 von Kenntnissen über Kunst oder die Nutzung künstlerischer Mittel außerhalb der Kunst, so wie ein Anstreicher auch Pinsel benutzt. An Kunstpädagogik als Beruf sind dabei nicht geringere Anforderungen gestellt als an den Beruf des Künstlers, des Kunstkritikers, des Kunstvermittlers, des Galeristen. Kunstpädagogik ist eine, zudem eine spezifische Form der Anwendung von Kunst, der Wendung an Kunst, der Wendung von Kunst. Anwendung wird oft mit ärgerlicher oder verfälschender Verunreinigung assoziiert. Sowohl Mathematik als auch Kunst verändern sich dabei, nehmen nicht nur eine andere Form an, die auch auf den Ausgangspunkt, das unterstellte Reine, zurückwirkt, wenn es denn eine solche Reihenfolge überhaupt gibt. Kunst wird etwas 52

anderes, sie hat sich durch eine andere Berührung mit den Lebensbedingungen von Rezipienten und Konsumenten hindurch verwandelt. Es gibt kaum eine Kunsthochschule oder Kunstakademie, in der die Freie Kunst nicht umgeben wäre von Abteilungen für Design oder Architektur. Das ist aber wohl nicht unrein, sondern eine Existenzweise von Kunst. Will man nun trotz dieser Ausfaltungen der Kunst unverbrauchbare Reinheit, so etwas wie Ewigkeit, absolute Wiederholbarkeit, Unsterblichkeit, dann ist so etwas wie Kunstpädagogik, die Überschreitung der Grenze des Erträglichen. Der Vorwurf träfe zurecht, wenn es denn in der Kunstpädagogik um Vereinfachung ginge, wenn von der Kunst nur das genommen würde, was den Gesetzen einer anderswo vorformulierten Didaktik greifbar wäre. Imaginationen von einer reinen Kunst, die durch Pädagogik oder Theorie verdorben würde, sind der Struktur nach gebaut wie die Anorexia nervosa, jene häufig in der Pubertät entstehende Sehnsucht. Sie will vom reinen Nichts leben, sich nicht beschmutzen und damit auch keine differentielle Form annehmen, sich nicht sexuieren, nicht dem Begehren in seinen schmutzigen und komplizierten Seiten aussetzen. Dann wäre man autonom und frei, hofft man, eben in der freien Kunst. Es geht dabei um den Versuch, nicht schuldig zu werden, nichts schuldig zu bleiben. Aber die freie Kunst ist schon eine anzuwendende, nämlich in die Bedingungen des Betriebssystem hinein. Auch dazu braucht es Qualifikationen, die man entwickeln muss oder sich kaufen kann. Diese Qualifikationen braucht ein Kunstpädagoge allerdings kaum.3 Mit der Thematisierung von Schuld sind wir schon beim Verbrechen und beim Tatort.

Missbrauch$ Anwendung ist zu unterscheiden von Missbrauch. In einem Gespräch mit Ingo Arend, abgedruckt im Kunstforum 131, gesteht Gert Selle: »Mein ganzes Leben habe ich Kunst missbraucht: Ich bin, der ich bin durch Missbrauch von Kunst unter anderem. Der einzige Gebrauch, den man von Kunst machen kann, besteht in dem Missbrauch, den man mit ihr treiben kann als der Aneignung von etwas, das einem nicht gehört. [Man kann auch Missbrauch betreiben mit etwas, was einem zu gehören scheint, kjp] Kunst ist ein allgemeines Gut, und indem ich Kunst anschaue, eigne ich sie mir immer auf meine Weise an, immer missbräuchlich, immer anders als gemeint, als es der Künstler gemeint hat, als es auch derjenige gemeint hat, der es ausstellt. Es gibt etwas wie legitimen Missbrauch. Ohne Missbrauch von Kunst gäbe es ihren Gebrauch gar nicht. Sie würde in einem luftleeren Raum existieren – ohne Gebrauchswert für den einzelnen«4. Das war ein gesprochener Text. Abgesehen von den biblischen Anklängen »ich bin der, der ich bin« – und das durch Missbrauch –, zeugt er doch von einem potentiell schlechten Gewissen. Selle reiht sich ein in den Verein der Freunde des Verbrechens. Wenn er das so verstanden 53

wissen will, dass man der Kunst nicht gerecht werden kann, immer etwas schuldig bleibt, was dann auch für die freien Künstler gälte, dann bin ich mit im Verein. Die Rede vom Missbrauch unterstellt gleichwohl, dass man etwas Unerlaubtes tut, etwas, das so nicht sein darf. Selle setzt sich kühn über das Verbot des Missbrauchs hinweg. Erkennt er vielleicht doch an, dass es so etwas gäbe wie einen adäquaten, etwa vom Künstler so gemeinten Gebrauch? Und an diesem geht Selles biographisch gebundener Gebrauch vorbei. Er hat Kunst fürs »So werden, wie ich bin«, gebraucht. Es bleibt also ein Verbrechen übrig: Jemand benutzt die Kunst für seine Zwecke, weil sie sich nicht wehren kann, vielleicht sogar abhängig ist? – Aber irgendwie sei dieser Missbrauch doch legitim, hat er gesagt.

Anwendung$und$Missbrauch$ Man kann tatsächlich von Missbrauch der Kunst im Unterschied zu ihrer Anwendung reden. Damit knüpfe ich an das an, was Eisner unter »Mythologie der Kunsterziehung«5 herausgestellt hat. Sie entsteht, wenn man Kunst nicht anwendet, sondern irgendwelchen Vorsätzen unterordnet, also vorsätzlich handelt. Ich nenne einige Beispiele: • Wenn man in der Kunst ein therapeutisches Potential sieht gegenüber den notwendigen Zumutungen, die die Enkulturation an die Schüler heranträgt, Kunst also als eine Art Aspirin gegen Kopfschmerzen versteht, verursacht durch all die Theorie. Ohne Theorie gäbe es nämlich keine Kunst, gerade keine von solchen Künstlern, die selber weder reden noch schreiben können; • wenn man sich vorgenommen hat, endlich in Demut vor dem Kunstwerk zu schweigen, wenn man es gegen die böse Sprache ausspielt, wenn Kunst benutzt wird zur Kompensation fürs rationale Denken; • wenn man Kunst für kindgemäßer hält als Mathematik; • wenn man Kunst dafür einsetzt, nicht mehr als Lehrer aufzutauchen, sondern die Kunst und die Kunstproduktion für sich sprechen lässt. Zum Missbrauch käme hier auch noch Betrug hinzu; • Eine besonders schwere Form von Missbrauch ist die folgende Ableitung aus der Kunstproduktion: Es komme mehr auf den Prozess an als auf das Produkt. – Sie entspricht im Übrigen auf der individuellen Seite einer nicht unriskanten Erkrankung, dem Durchfall.6 Der nimmt nämlich keine Form an und entkräftet. Das ist der polare Gegensatz zu dem anderen Missbrauch von Kunst: Kunst kaufen und in den Safe einsperren. Das ist Obstipation. • Schließlich ist es Missbrauch und keineswegs Anwendung von Kunst, wenn Kunstpädagogen davon ausgehen, dass Kinder einen unverstellten, einen unverdorbenen Blick auf Kunst hätten. Dann missbraucht ein Lehrer die eigene Denkfaulheit oder neurotische Dummheit zur Idealisierung des noch unkultivierten 54

Kindes, zur Identifikation mit ihm gegen eine böse Welt, und sucht dabei Unterschlupf bei der Kunst. Das ist pseudonaiv. Ein Kind in der ersten Grundschulklasse versteht in der Regel von Kunst soviel wie von Fußball oder Schachspiel. Es findet Fußball toll, kann auch einen Ball durch die Gegend schießen und mit den Schachfiguren herumschieben – oder »Vater-Mutter-Kind« spielen.

Das$Problem$mit$der$Didaktik$$ Kunstpädagogen wollen historische oder gegenwärtige Kunst in irgendeiner Weise Schülern, meist minderjährigen Schülern nahe bringen, sei es durch Betrachtung und Analyse, die Vorstellung von Wissen über Kunst oder durch künstlerische, kunstnahe, in der Kunst auch gebräuchliche Produktionsweisen. Sehr bald wird dabei deutlich, dass etwa 87,5% der Schüler keine Künstler sind und etwa 72,2% der Kunstpädagogen auch nicht.7 Damit ist man in einer ähnlichen Situation wie ein Mathematiklehrer. Und viele gehen denselben Weg wie Mathematiklehrer. Sie verzichten auf die Kunst und fangen an, Didaktik zu lehren mit dem meist nachhaltigen Erfolg, dass die meisten Schüler für die Kunst wie für die Mathematik verloren sind. Didaktik ist im Moment das größte und wichtigste Unterrichtsfach. Daran geht die Schule zugrunde. Im Unterricht des Faches »Didaktik« lernen Schüler, dass etwas rauskommen muss, dass man Lehrern eine Freude machen soll, indem man das vorher versteckte Osterei auch findet, dass sie sich da abholen lassen müssen, wo sie stehen, also dahin gehen müssen, wo der Lehrer sie vermutet. Ferner wird im Fach Didaktik gelernt, dass man politisch korrekt ist, Ausländer nicht diskriminiert, Frauen und Behinderte auch nicht. All das findet meist losgelöst von einer Sachlogik statt, aber auch weit entfernt von der Logik der Affekte und des Begehrens. Es entsteht ein verdünnter Unterricht, eine Art Katechismus, eine »Religion«, was sich wie ein Firnis über alle Fächer legt. Das Fach und die Logik eines Inhaltes werden dadurch natürlich auch abgeschafft. Der Zugang zur Kunst scheint dagegen zunächst erleichtert. Er wiegt dann etwa 150g pro Ausgabe. So viel wiegt im Schnitt ein Heft von K+U.8 Das scheint mir auch kein Zufall zu sein, denn das heutige Verständnis von Didaktik wurde im 16. Jahrhundert zugrunde gelegt,9 von protestantischen Theologen. Was Wunder, wenn sie in katholischen Gegenden nach wie vor auf Vorbehalte stößt. In Frankreich beispielsweise ist Didaktik, auch Fachdidaktik, als eigenständige Disziplin kaum bekannt. – Dort ist es auch überhaupt keine Schande, Lehrer zu sein oder gewesen zu sein. Siehe z.B. wie Sartre, Beauvoir, Foucault über ihre Lehrertätigkeit schreiben und sprechen. Die Einführung des Terminus »Didaktik« von Ratke (1612) ist durch die Reformation motiviert. Es geht dabei auch um eine inhaltlich andere Ausrichtung. Es sollen alle, ohne Ansehung ihres Geschlechts (!) und ihrer Herkunft, befähigt wer55

den, die Bibel zu lesen und sich daraus Gottes Wort auszulegen, um die Streitigkeiten der Theologen, die immer gleich Spitzfindigkeiten genannt werden, überflüssig zu machen. Die Didaktik wendet sich gegen die scholastische Logik10 und tritt ein für eine Orientierung der Methode des Unterrichtens an der Natur (was immer das ist) und oft auch in der Natur. Diese emanzipatorische Wende hat zunächst noch einen Halt in der ungebrochenen Autorität der Schrift und derer, die sie auszulegen wissen. Der notwendige Aufbruch hat als Widerpart und Stabilisator noch eine Didaktik des Klosters,11 die aufgrund einer künstlichen Isolation von der Lebenswelt, eine symbolische Geschlossenheit imaginieren konnte. Es mussten nun andere Lösungen gefunden werden. In aller Verkürzung lässt sich sagen: Von da an wird immer wieder versucht, einen Ersatz für die Geschlossenheit zu finden. Das geht allerdings nur auf Kosten einer Einschränkung, die meist in der pragmatischen Forderung nach Anschaulichkeit (d.h. meist Überprüfbarkeit bis zur gegenwärtigen Seuche der Evaluation12) Orientierung an dem, was sinnliche Erfahrung genannt wird, sucht. Das ist so, als wenn man die kapitalistische Marktwirtschaft aushebeln wolle durch eine Orientierung an den Gebrauchswerten gegenüber der Tauschwertorientierung. Die Didaktik begibt sich auf ein Glatteis, indem sie das Ziel, ein Volk, das am Wissen teilhaben soll, das nicht mehr durch soziale Schranken davon ausgeschlossen werden soll, tendenziell zur erfüllten Voraussetzung macht. Damit bekommt sie dann einen antiintellektuellen Affekt, eine Vorliebe für Vereinfachung, eine harmonisierende Intention, eine Orientierung an vorgegebenen Ordnungen, die notfalls herbeiphantasiert werden, z.B. »Natur«. Das ganze Modell funktioniert mit einer Unterstellung: Das Volk ist vernünftig, es weiß es nur noch nicht, ihm muss man auf das Maul schauen, dann verschwinden alle Disharmonien und Orientierungslosigkeiten. Mit den didaktischen Anstrengungen soll eine einheitliche oder, wie es bei Ratke heißt, einträchtige Sprache gefunden werden, die auch die Eintracht im »Reich« zu befördern habe. Das Verdienst Ratkes ist zweifellos, gegen eine nicht mehr begründbare Exklusivität des Zugangs zum Wissen und den entsprechenden sozialen Positionen vorgegangen zu sein. Es wird aber auch die Illusion erweckt, als könne ohne Machtausübung gelehrt werden, wenn nur die Methode stimme. Dieser Illusion widerspricht die Widerständigkeit des Imaginären und der Notwendigkeit der unbeherrschbaren Dekonstruktion und Konstruktion der Inhalte im Prozess des Lehrens und Lernens, den Charakteristika von Übertragungsprozessen. Aus der kurz skizzierten Illusion stammt eine grundsätzliche Verwirrung im Bild des Lehrers von sich selbst, die so in anderen europäischen Ländern nicht anzutreffen ist: In Deutschland ist der Lehrer ein Mensch, der überflüssig ist, oder wenn er

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doch da ist, sich überflüssig machen muss. Das wird mit dem Auftrag zur Beförderung der Mündigkeit verwechselt. Es ist kein Zufall, dass dabei bis heute Bilder vernachlässigt werden. Ich möchte sogar noch schärfer behaupten: Die Didaktik ist bilderfeindlich, sie richtet die Bilder zu, sie werden zur Stützung und als Motivation eingesetzt – das ist wieder Missbrauch. Didaktik ist eine Methode zur Entschärfung der Bilder – jener Bilder, die zur Bildung führen – und speziell der Kunst. In so vorgezeichneter Didaktik liegt der naive Glaube an die Kinder und an das vernünftige Volk, das durch Wissen, das es eigentlich schon selber hat, an die Macht kommt. Dieser Gedanke hat gut erkennbare Metamorphosen bis heute – vom revolutionären Subjekt bei Marx bis zum Kind als Vorbild für Erwachsene im »Jahrhundert des Kindes«13; dies kennzeichnet eine letzte, eine pädagogische Umwandlung: An die Stelle des Volkes tritt das Kind. Und der offene Unterricht, in dem sich der Lehrer überflüssig macht, wird erfunden. Unter dieser eigentlich angenehmen demokratischen Oberfläche zeigt sich nach wie vor die Überzeugung, dass es der Lehrmeister bedarf, die zumindest das Volk oder die Kinder darauf aufmerksam machen, was sie alles können und wissen. Das ist ein geschickter Zug, sich über die eigene Tätigkeit zu täuschen und andere gleich mit. Darin werden die ganzen aggressiven Prozesse des Lehrens14 unsichtbar und unhörbar. Sie bleiben unsymbolisiert und kehren im Realen wieder. Demokratie ist aber kein Naturverhältnis, sondern eine hochgradig künstliche Errungenschaft, die hergestellt werden muss, deren Kränkungen verkraftet werden müssen, deren Charakter die Unvollendbarkeit ist.15 Eine Alternative zur preußisch-protestantischen Didaktik ist noch zu entwickeln. Das könnte bei und in der Kunst anfangen. Auf jeden Fall kämen damit Bilder wieder zur Sprache. In der Folge käme die gegenwärtige Kunst dadurch ins Spiel, da sie es nicht mehr mit dem Abbilden zu tun hat. Es mag seltsam anachronistisch anmuten, wenn hier mit Konfessionen argumentiert wird. Aber von diesen Momenten ist die Auseinandersetzung um Kunst und Pädagogik, um Bilder und Bildung immer noch gezeichnet, weil sie unbewusst geworden sind. Ganz zu schweigen von dem einmal fast in Deutschland liquidierten Judentum, das eine uns mittlerweile ziemlich unbekannte, andere Auffassung von Institution, der Trennung von privat und öffentlich, ein nicht leicht zu fassendes Verhältnis zu (Ab-)Bildern hat und vor allem zum Text. Dem Anspruch nach – so Lipowatz – ist das jüdische Subjekt auf der Suche nach Gott nicht allein, »sondern an einer Gemeinschaft von Suchern beteiligt [...], deren wesentliches Merkmal darin liegt [...], nicht eine Horde, eine Masse zu sein, die durch imaginäre Identifikationsmechanismen zusammengehalten wird, sondern vor allem symbolisch, durch das Wort und den Mangel.«16 Gott ist für Juden nicht alles, nicht das Ganze, sondern ein Rest: das, was 57

fehlt. Deshalb taucht er auch nie als Name geschrieben auf. Er ist der fehlende Hauptsignifikant, »dessen Mangel den Subjekten erst zu sprechen, zu handeln, zu begehren erlaubt«. Genau hier setzt Anwendung ein. Es geht so nicht um die Vorstellung eines Comenius’ als Gewissheit, alles zu haben, was man dann alle auf alle Weise lehren kann.17 In der Auffassung von Comenius vertritt das Bild, das man sich die Ordnung abbildend und in Parallelität zu Text und Sprache machen kann, immer einen Teil des Ganzen.18 Das ist der Struktur nach Fetischismus, die Macht, den Mangel auszugleichen. Wer Didaktik betreiben will, kommt an der Fortsetzung der Religionskritik nicht vorbei.

Was$ist$Anwendung?$ Was ist gegenüber dieser zugegeben polemisch skizzierten Form des Umgangs mit Wissen und Können Anwendung? Wie wendet man Kunst an? Wie kommt Kunst in der Schule zur Existenz? Bei der Beantwortung dieser Fragen greife ich auf eine Form von Anwendung zurück, die ich jetzt längere Zeit betrieben habe. Es gibt ein in Englisch geführtes Gespräch mit Jacques Derrida.19 Im englischen Original ist die Publikation überschrieben mit As if I were Dead. Übersetzt: Als ob ich Tod wäre, als ob ich tot wäre, als ob ich Vater wäre. Wir haben in einer kleinen Gruppe dieses Gespräch ins Deutsche übersetzt, eine Anwendung des englischen Textes ins Deutsche fabriziert.20 Dabei haben wir den Text unvermeidlich aus unseren jeweiligen momentanen Themen heraus angewendet. Und damit traten Schwierigkeiten in Erscheinung. Wir mussten immer wieder die Art, wie wir in den Text involviert waren, von uns ablösen, versuchen uns auszulöschen, versuchen uns vorzustellen, wie der Text funktioniert, wie er sich ins Deutsche übersetzen würde. Die Randbedingungen des zum Text transkribierten Interviews sind folgende: Derrida nimmt an einer Konferenz in Großbritannien teil, die den Titel hat Applied Derrida. Er nimmt teil, ohne dort vorzutragen. Danach führen Geoffrey Bennington und andere Mitveranstalter mit ihm ein Gespräch über das Problem der Anwendung. Ich zitiere daraus eine übersetzte Passage, in der ich für den hiesigen Gebrauch, für die hiesige Anwendung, listig das Wort »Dekonstruktion« am liebsten durch »Kunst« ersetzt hätte. Ich habe mich noch gebremst, weil das so einfach nicht geht, es wäre Missbrauch. Gleichwohl kann man beim Lesen eine Art Gedankenexperiment machen und immer, wenn das Wort »Dekonstruktion« auftaucht, vor sich hin ganz leise »Kunst« sagen. Eine solche Form von Ersetzung, Verschiebung und Verdichtung passiert ja allenthalben nicht nur bei der Befassung mit Kunst. Man kann das folgende Zitat aber auch noch anders hören, und das ist vielleicht der bessere Vorschlag: Sich pädagogisch auf Kunst zu beziehen, heißt Kunst zu dekonstruieren. 58

»Wenn Sie die Konferenz ›Deconstruction Applied‹ betitelt hätten,« sagte Derrida, wie wir auf Englisch lasen, »wäre es ganz anders, und ich würde vorhersehbare Dinge gesagt haben wie: ›Die Dekonstruktion kann nicht angewendet werden.‹ Warum? Sie kennen das Programm. Sie kann nicht angewendet werden, weil die Dekonstruktion keine Doktrin ist, sie ist keine Methode, noch ist sie ein Set von Regeln oder Werkzeugen. Sie kann nicht vom Performativen gelöst werden, von Signaturen, von einer gegeben Sprache. Wenn Sie also ›Dekonstruktion tun‹ wollen – ›Sie wissen, diese Sache, die Derrida tut‹ –, dann müssen Sie etwas Neues aufführen, in Ihrer eigenen Sprache, in Ihrer eigenen singulären Situation, mit Ihrer eigenen Signatur. Sie müssen das Unmögliche erfinden und mit der Anwendung im technischen, neutralen Sinn des Wortes brechen. Also, einerseits gibt es keine ›angewendete Dekonstruktion‹. Andererseits aber gibt es nichts anderes, weil die Dekonstruktion nicht aus einem Set von Theoremen, Axiomen, Werkzeugen, Regeln, Techniken oder Methoden besteht. Wenn die Dekonstruktion an sich also nichts ist, dann ist alles, was sie tun kann, anwenden, angewendet werden auf etwas anderes. Und das nicht nur in mehr als einer Sprache, sondern auch mit etwas anderem. Es gibt keine Dekonstruktion. Dekonstruktion hat kein spezifisches Objekt. Sie kann nur Bezug nehmen auf, angewendet werden, beispielsweise auf das irische Problem, die Kabbala, das Problem der Nationalität, das Gesetz, die Architektur, die Philosophie, unter anderem. Sie kann nur anwenden. Das wissen wir also, es ist absolut erschöpft. Ich will darauf nicht insistieren. Sie kennen die Antworten. Dekonstruktion kann nicht angewendet werden und kann nicht nicht angewendet werden. Mit dieser Aporie also müssen wir umgehen, und darum geht es bei der Dekonstruktion.«21

Aporie$ Es geht also um eine Aporie, um wegloses Gelände; es gibt keine schon vorher beherrschte Methode, wörtlich genommen eine Art, wie man etwas genau verfolgt. Deshalb muss nicht absolute Ratlosigkeit ausbrechen. Es heißt ja nicht, dass es keine Methode geben könnte, dass man keine erfinden kann. Es geht aber darum, eine Methode aus Kenntnis der Kunst und im Einsatz der eigenen Fähigkeiten zu finden – singulär zunächst und dann verantwortbar, also als einen besonderen Weg bezogen aufs Allgemeine, aber noch nicht verallgemeinert und auch gar nicht mit dem Anspruch auf Verallgemeinerung. Unwegsamkeiten sind notwendig mit pädagogischen Tätigkeiten verbunden. 22 Es kann Aufgabe sein, die Fiktion eines Weges zu institutionalisieren, also mit aller Überzeugungsfähigkeit so zu tun, als wenn man wüsste, wo es lang geht, um daraus einen Weg zu machen über dauernde Entscheidungen, die ein ums andere Mal durch nichts anderes gedeckt sind als durch die Einzelnen, die die Entscheidungen treffen, durch Lebenszeit und Verausgabung von Energie. Die Entscheidungen selber stabilisieren; weniger, dass man sich an bekannten Verfahren der Entscheidungsfindung orientiert, was nicht heißt, dass es gälte, alles neu zu erfinden; es gilt alles, das möglich ist zu wissen, um eine Anwendung ins Werk zu setzen. »Damit eine Verantwortung eine Verantwortung ist, muß man, sollte man wissen, was im59

mer man wissen kann. Man muß versuchen, das Maximum zu wissen, doch der Moment von Verantwortung oder Entscheidung ist ein Moment des NichtWissens, ein Moment jenseits des Programms.«23 Derrida erwähnt in dem Interview, das um die Anwendung kreist, die Kabbala. Die Kabbala kann man verstehen als eine solche Vorbereitung auf eine Anwendung, von der man nie weiß, wann und wie sie erfordert ist. Die Kabbala existiert seit dem 12. Jahrhundert in der hebräischen Literatur. Sie wurde als ein Projekt der Rezeption konzipiert: ein Vorhaben der Anwendung, der Aneignung, der Interpretation, der Transformation und der Kommentierung. »Kabbala bedeutet wörtlich: ›Empfang‹ und entspricht der lateinischen ›Receptio‹«24. Angesichts eines unwegsamen Geländes wäre auf Empfang umzuschalten, auf eine aktiv passive Haltung. Es geht weniger um ein aktives, identifizierendes Verstehenwollen, als vielmehr um eine aktiv rezeptive Haltung, Gehorsam. Die Rezeption der Kabbala ist demnach eine doppelte Rezeption, eine Potenzierung, eine strukturell disponierte, nicht auf bestimmte curricular hintereinander anordbare Inhalte, immanente und reflexive Form.25 Im Unterschied zur Hermeneutik, die den Ausdruck im Akt des Verstehens den Signifikanten in seiner Materialität als zufälligen annulliert, geht in der Rezeption der Kabbala die Seite der Semiose selbst nicht unter. Es geht also nicht einzig um einen Sinn jenseits dessen, was gerade auch medial, materialiter gelesen wird, sondern um die Artikulation selber. Die sprachliche und schriftliche Gestalt kommt nicht einfach als notwendiges Übel dazu, sondern die semiotische Ebene selber als die Ebene der notwendigen Form, wird wichtiger Bestandteil der Rezeption. Genau darin hat sie ihr ästhetisches Moment und wurde für die Romantik interessant. »Das Modell der Versprachlichung dagegen arbeitet nicht mehr dualistisch, sondern denkt das Semantische und das Semiotische als Einheit. Die Sphäre des Sinns ist nicht außerhalb, sondern innerhalb der Sprache lokalisiert. Bedeutung ist eine Art Erzeugnis oder ein Effekt des Semiotischen und fällt mit der Sprache zusammen.«26 Das gilt umso mehr für die Bildende Kunst. – Wenn ich das aufs Kunstpädagogische übertrage, heißt dies, dass ich Methoden üben muss, viele Methoden in unterschiedlichem Material, Methoden, die zeigen, dass sich ein Weg finden ließe, vielleicht. Es geht um das »Weg-finden« und auch die Weitergabe der Erzählung vom Weg, und das ist das Produkt, das unbedingt minimal erforderliche Produkt (siehe Kapitel 16). Eine weit verbreitete mutlose Haltung verbindet sich mit der Weigerung, etwas zu setzen und davon zu berichten. Erzählung macht Gesellung. Verschweigen von Setzungen führt geradezu in ein Auseinanderfallen von Einzelteilen, eine Vereinzelung in Gesellschaft, in der man keine Antwort geben kann. Antwort wird im Pädagogischen oft verwechselt mit einer Feststellung oder der Lösung eines Problems. Es geht aber um die Fähigkeit, zu antworten und die Vorbereitung darauf, im Gespräch zu bleiben. 60

Rücksicht$auf$Darstellbarkeit$ Freud hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gefahr der Vereinzelung und die Notwendigkeit anderer Formen der Forschung in ähnlicher Weise geahnt, wie die damaligen Künstler. Es bedarf neuer Diskurse, um den Erfordernissen der Individualisierung, der unterschiedlichen Freisetzungen, mit all ihren Ambivalenzen und den Folgen einer radikaler werdenden Immanenz neuer Darstellungsweisen gerecht werden zu können. Die freigesetzten Individuen müssen in die Lage versetzt werden, sich mitzuteilen, ohne sich dabei immer schon vorgefundener, von allen geteilten Formen bedienen zu können. Genau an den Stellen der Mitteilung wird ein künstliches Produkt entstehen, das nicht einfach die Erfahrung selber ist. Die Erfahrung selber kann man auch nur an leuchtenden Augen ablesen.27 Diese Künstlichkeit, das Etablieren von Spielregeln, ihr Institutionalisieren trotz des Wissens, dass es auch anders sein könnte und müsste, schützt gegen die Vereinzelung, gegen die Elementarisierung.28 Auf diese Situation sind Kunst und Psychoanalyse seit Beginn des Jahrhunderts vorbereitet. Die Psychoanalyse durch das Setting und die Grundregel: künstliche Begrenzung in Raum und Zeit mit gleichzeitigem Versuch ungewohnter Verknüpfung durch freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit. An die Stelle des Heilenwollens, als der Intention einer zielgerichteten Behandlung, tritt das Lernen und das Geld verdienen als erstrebenswerte bewusste Ziele. Geld verdienen ist die Bedingung für die Teilnahme am gesellschaftlichen Austausch, das Lernen wollen in der Arbeit setzt eine Ausrichtung auf Forschen und Wissen wollen, Neugierde.29 Heilende Effekte sind sehr willkommen. Damit kann in der Übertragung gedeutet werden, Übertragung ist Aggregatzustand der Liebe. Die Kunst, auch wenn sie selbstreflexiv wird und die Bedingungen ihres Erscheinens als Kunst in der Kunst thematisiert, geht gleichwohl in die Öffentlichkeit. Genau hier beginnt auch die unausweichliche Aufgabe der Pädagogik. Es kommt darauf an, trotz besseren Wissens und im Wissen darum, dass es auch begründbar, d.h. verhandelbar anders geht, suggestive Formen zu setzen, zu erfinden. Im Unterschied zumindest zur katholischen Variante der Fundierung eines Textes, kann sie sich dabei nicht auf irgendeinen offenbarten Text stützen, für dessen Auslegung es eine inkarnierte Autorität gäbe. Pädagogik wird deshalb zum riskanten Unternehmen.30 Freud stellte bei der Niederschrift seiner ersten psychoanalytischen Forschungsergebnisse fest, dass er nicht mit herkömmlichen wissenschaftlichen Mitteln arbeitet. Er bewegte sich dabei zwischen den Polen seiner naturwissenschaftlichen »Sozialisation« und einer eher literarischen Schreibweise, die »wie Novellen zu lesen« sei.31 Der gewohnte Darstellungsmodus war zunächst das wissenschaftliche Schreiben. Fünf Jahre später in der Traumdeutung schrieb er:

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»Mit den vorstehenden Erörterungen haben wir endlich ein drittes Moment aufgedeckt, dessen Anteil bei der Verwandlung der Traumgedanken in den Trauminhalt nicht gering anzuschlagen ist: Die Rücksicht auf die Darstellbarkeit in dem eigentümlichen psychischen Material, dessen sich der Traum bedient, also zumeist in visuellen Bildern [hier wird der Weg von innen nach außen angedeutet, von einer singulären ›Sprache‹ zu einer einigermaßen verständlichen, kjp]. Unter den verschiedenen Nebenanknüpfungen an die wesentlichen Traumgedanken [die Anknüpfung ist nicht eindeutig, kjp] wird diejenige bevorzugt werden, welche eine visuelle Darstellung erlaubt, und die Traumarbeit [er lehnt sich bei seiner Metaphorik an die Welt der Arbeit an, kjp] scheut nicht die Mühe, den spröden Gedanken etwa zuerst in eine andere sprachliche Form umzugießen, sei diese auch die ungewöhnlichere, wenn sie nur die Darstellung ermöglicht und so der psychologischen Bedrängnis des eingeklemmten Denkens eine Ende macht [die Formulierung ist ein vorläufiges Ende, ein Abschluss und auch ein Mord an der Sache, kjp].«32

Man kann den Eindruck gewinnen, als täte Freud an dieser Stelle so, als seien die Inhalte schon fertig und müssten nur in eine andere Form umgegossen werden. An anderen Stellen wird noch deutlicher, was uns heute beschäftigt: die Formwandlung, der Formungsprozess, die Formgewinnung und folglich die Wahrnehmbarkeit bei der Artikulation und damit auch die Verschiebung des Inhaltes selbst oder mehr noch seine Generierung im Prozess der Formulierung. Das ist die wirkliche mediale Herausforderung, die gegen jedes substantialistische Denken opponiert. Die »Rücksicht auf Darstellbarkeit«, die schon in der Formulierung ans Vergangene anknüpft, genau dies ist das Thema von Unterricht in der Nähe zur Bildenden Kunst. In der Bildenden Kunst liegen Symbolisierungssysteme und -fragmente vor, die helfen, das je Singuläre für andere zugänglich zu machen. Da die Grenzen der konventionellen Darstellungsformen ihr Thema ist, kommt alle Tätigkeit im Bereich der Kunst – und als Anwendung gehört Kunstpädagogik dazu – ganz schnell in Legitimationsschwierigkeiten. Sie kann keine Effektivitätsversprechen machen, die andere Fächer machen zu können glauben. Derrida führt im erwähnten Interview vor, wie er sprechend denkt, ohne etwas zu vereindeutigen. Gleichwohl trifft er Feststellungen: »Wenn ich mich selbst anwende, wenn ich mich auf irgend etwas anwende, die Dekonstruktion zum Beispiel, oder auf dekonstruktive Gesten, geschieht das in einem doppelten Sinn: zu versuchen, singuläre Ereignisse aufzuführen, singuläre Gesten, singuläre Performative, die nicht reproduziert oder imitiert werden können und die nur einmal auftreten, singulär und einmalig, Ereignisse oder Performative, die nur ich signieren kann. Aber wie Sie wissen, aufgrund des Gesetzes der Wiederholbarkeit, das ich zu formalisieren versucht habe – ich habe dieses Gesetz nicht entdeckt, gewiss, es ist nicht mein Eigentum, dennoch habe ich eine Art der wissenschaftlichen Formalisierung versucht –, wegen dieses Gesetzes ist die Einzigartigkeit einer jeden derartig einzigartigen Geste unmittelbar gefaltet, wiederholt, wiederholbar, das heißt 62

unmittelbar anwendbar.«33 Das »Gesetz der Wiederholbarkeit« hat Freud in seiner Zuspitzung formuliert.34 Es besagt, dass die Wiederholung auch wenn wenig lustvoll erscheint, dennoch dauernd vorkommt, dass sie Sicherheit verleiht bis zum Tod oder im Extrem den Tod herbeiführt. Es wird wiederholt, nur solange etwas nicht aufgegangen ist, dass eine Wiederholung, auch wenn sie identisch erscheint, keine exakte Wiederholung sein kann, weil dabei Zeit verfließt und zumindest die Erfahrung eines teilweisen Gelingens und eines Misslingens hinzukommt. Die unlustigen Wiederholungen können aufgebrochen werden dadurch, dass man aus der Spur gerät, aus der Spur gestoßen wird. Und der Skandal für den (noch) gesunden Menschenverstand ist, dass die Wiederholung Genuss bereitet.

Anwendung$und$Rezeptivität$ Anwendung bedarf eines Momentes von Rezeptivität, eine Umsetzung und eine Fähigkeit zur Verantwortung: »Wäre ich bei der Übernahme einer Verantwortung, beim Treffen einer Entscheidung aktiv, dann würde ich mir die Verantwortung einfach aneignen: Es ist meine Entscheidung, es ist meine Verantwortung. Und wenn sie meine ist, folgt daraus, dass sie meine eigene Möglichkeit entfaltet. Wenn eine Entscheidung und eine Verantwortung schlicht das entfalten, was mir möglich ist, dann handelt es sich weder um eine Verantwortung noch um eine Entscheidung. Die Entscheidung darf nicht folgen, darf nicht einfach ein Programm entfalten. Damit eine Entscheidung eine Entscheidung ist, muss sie das Programm unterbrechen oder mit ihm brechen, sie muss mit der einfachen Entwicklung oder Entfaltung einer Möglichkeit brechen. Darum ist eine Entscheidung das Unmögliche. Wenn also eine Entscheidung das Unmögliche ist, dann muss sie sich in Form einer bestimmten Passivität ereignen, in Form eines Zurückgehens oder eines Gehörens zum anderen.«35 Hier unterbreche ich Derrida und erläutere: Mit der Unmöglichkeit nimmt Derrida ein weiteres Mal Bezug auf Freud. Freud benutzt das Attribut ›unmöglich‹ z.B. in der Rede von den drei unmöglichen Berufen, dem des Politikers, dem des Pädagogen und dem des Psychoanalytikers. Deren Unmöglichkeit besteht darin, dass man sie nicht im Sinne einer Methode erlernen kann, dass sie auf einem unanalysierbaren Symptom beruhen, das immer einen blinden Fleck weitergibt, was aber gerade die Möglichkeit der Produktivität beinhaltet. Der Politiker bezieht sich auf das, was in der Gesellschaft nicht aufgegangen ist, der Pädagoge bezieht sich auf das, was in der bisherigen Erziehung nicht aufgegangen ist, und versucht zudem noch für eine kommende Generation, deren Lebensbedingungen er nicht kennen kann, eine Struktur zu geben. Der Psychoanalytiker schließlich versucht, dem Singulären gerecht zu werden, auf das er sich nicht vorbereiten kann. Der blinde Fleck dabei ist immer, dass alle drei Bestandteile eben jenes

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Problems sind, das sie zu lösen angetreten sind. Und sie müssen trotz (besseren) Wissens handeln, agieren, auch wenn sie um die möglichen Einwände wissen.

Anwendung$ Was heißt es, Kunst anzuwenden? Anwendung als eine regulative Vorstellung für Kunstpädagogik ist z.B.: • eine Wendung an die Kunst, als Orientierung, als Hilfe, als Halt für Pädagogik. • eine Anwendung aus der Kunst heraus auch an und gegen Pädagogik. • eine Wendung der Kunst, eine Version, eine Entfaltung, ein Eingriff in die Kunst. • das Hervorbringen einer anderen Oberfläche. • ein generativer Akt, der dafür sorgt, dass etwas nachkommt. • auch Dekonstruktion. • eine Wiederholung ohne Identität. • ein seltsames Mixtum von Aktivität und Passivität. • Sie bleibt etwas schuldig, ein wenig schuldig, mindestens.

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Wenn man in diesem Satz »nur« streicht, dann sieht die Sache schon anders aus. »Vermittlung« wird oft benutzt, um einem Stigma von Pädagogik zu entkommen, hat aber auch meist ein anderes Anliegen: Es geht lediglich um eine bessere Zugänglichkeit von Kunst, oft auch nur um eine Aufhübschung des life styles. Vgl. Ullrich, Wolfgang (2015): KUNST Stoppt die Banalisierung! In vielen Museen herrschen die missionarischen Kunstvermittler: Alles soll für alle möglichst verständlich aufbereitet werden. Doch das ist grundverkehrt. http://www.zeit.de/2015/13/kunst-vermittlung-museum/ komplettansicht / 13.04.2015. Anwendung liegt wohl dazwischen: jenseits der reinen Zwangsstruktur und jenseits der reinen Hysterie als Struktur. Selle, Gert (1995): »Ohne Mißbrauch von Kunst gäbe es ihren Gebrauch gar nicht.« Gert Selle im Gespräch mit Ingo Arend. Kunstforum International, 131 (August-Oktober 1995), S. 56-60, hier S. 60. Eisner, Elliot W. (1977): Die Mythologie der Kunsterziehung. Zeitschrift für Kunstpädagogik (1), S. 1-6. Den Anstoß für diese Metaphorik verdanke ich Eva Sturm. Untersuchung des Instituts zur Wahrscheinlichkeitsfindung. IWF. 1999 Hamburg. Publishing on demand. Ebd. Vgl. Knecht, Ingbert (1984): Zur Geschichte des Begriffs Didaktik, In: Gadamer, HansGeorg, Ritter, Joachim (†), Gründer, Karlfried; Scholtz, Gunter (Hg.): Archiv für Begriffsgeschichte. Bd. XXVIII, S. 100-121. Hamburg. Diese subsumiert eher und wendet kaum an, andernfalls würde sie sich und den Gegenstand verändern. Vgl. Reich, Kersten (1997): Systemisch-konstruktivistische Pädagogik. Einführung in Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik. Neuwied, Kriftel, Berlin. Vgl. Kemp, Wolfgang (2007): Die Selbstfesselung der deutschen Universität. Eine Evaluation. In: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften (2), S. 1118; vgl. Royl, Wolfgang (2000): Evaluation am offenen Lehrkörper. Gegenworte (5), S. 67-69; vgl. Schwarz, Christine (2005): Bürokratie oder Anarchie? 11 Thesen zum Evaluationsboom. http://evanet.his.de/evanet/positionen/positionen2005/Schwarz.pdf / 12.12.2005; vgl. Lind, Georg (2004): Jenseits von PISA – Für eine neue Evaluationskultur. In: Evaluation, Standards. Hg. von Institut für Schulentwicklung. PH Schwäbisch Gmünd. Baltmannsweiler. Vgl. Key, Ellen (1905): Das Jahrhundert des Kindes. Frankfurt a. M.. Dieses Buch ist übrigens in seiner ganzen Aporetik und inneren Widersprüchlichkeit ein äußerst produktives Lesevergnügen in Bezug auf die Struktur gegenwärtiger Pädagogik – immer noch. Vgl. Pazzini, Karl-Josef (2005): Aggressivität im Rahmen der psychoanalytischen Kur und der Bild-Künste. In: Michels, André; Müller, Peter; Perner, Achim (Hg.): Jahrbuch für klinische Psychoanalyse Bd. 6. Aggressivität. Tübingen, S. 241-280.

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15 Vgl. Nancy, Jean-Luc (2009): Wahrheit der Demokratie. Wien; vgl. Marchart, Oliver (Hg.) (1998): Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus. Wien. 16 Lipowatz, Thanos (1982): Die Nicht-Elite und die Differenz. Das auserwählte Volk. In: TUMULT. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft (4), S. 11-20. S. 12f. 17 Vgl. Comenius, Johann Amos (1991c): Pampaedia Allerziehung. Sankt Augustin. Vgl. auch Comenius, Johann Amos (1992): Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren. Stuttgart. 18 Comenius, Johann Amos (1991a): Orbis sensualium pictus. Dortmund. 19 Den Hinweis verdanke ich Dirk Jäger. Derrida, Jacques (1996): As if I were Dead: An Interview with Jacques Derrida. In: Robbins, Ruth; Brannigan, John (Hg.), S. 212-226. Houndmills, Basingstoke, Hampshire, London. 20 Derrida, Jacques (2000): As if were Dead. Als ob ich tot wäre. Hg. von Karl-Josef Pazzini. Übersetzt und kommentiert von Ulrike Dünkelsbühler, Norbert Frey, Dirk Jäger, Karl-Josef Pazzini, Rahel Puffert. Wien. 21 Derrida, Als wäre ich tot, S. 23f (dt.), S. 22f (engl). 22 Vgl. Wimmer, Michael (2006): Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik. Bielefeld. 23 Derrida, Als wäre ich tot, S. 43 (dt.), S. 41 (engl). 24 Vgl. Kilcher, Andreas (1998): Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der frühen Neuzeit. Stuttgart, Weimar, S. 7. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 12. 27 Oder in einem aufwendigen Prozess rekonstruieren: Sabisch, Andrea (2007): Inszenierung der Suche. Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung im Tagebuch. Enwturf einer wissenschaftlichen Grafieforschung. In: Schriftenreihe: Theorie Bilden, hg. von Faulstich, Hannelore; Koller, Hans-Christoph; Pazzini, Karl-Josef. Bielefeld. 28 Dies wird im Bestseller von Houellebecq, mit dem Titel »Elementarteilchen« in Szene gesetzt. Vgl. Houellebecq, Michel (1999): Elementarteilchen. Übers. von Uli Wittmann. Köln. Er beschreibt, wie der Kapitalismus in alle Poren der Gesellschaft dringt und alle Gemeinschaftsformen, alle Riten, alle Bindungen angreift, sich davon als Rohstoff nährt. Er macht zwar Agenten einen solchen Prozesses aus – die sogenannten Meisterdenker und die Achtundsechziger und verfällt dabei in die zu kritisierenden Argumentationsschemata – und thematisiert nicht die Chancen, die dieser Prozess enthält: Er diagnostiziert aber zutreffend, dass in Folge der Liberalisierung, der sexuellen Befreiung, der sogenannten (einige glauben ja wirklich, sie seien von der Sexualität befreit), die Zerstörung der letzten Gemeinschaftsformen stattfinde, die das Individuum vom Markt trennten. Daraus resultiert, dass alles bezahlt werden muss, alles der Konkurrenz von Angebot und Nachfrage unterliegt (was ja ein Mythos ist), dass eben Elementarteilchen die Folge sind. Flexibilität, Disponibilität und Mobilität beherrschen das Geschehen, über alles kann ge- und verhandelt werden. Das ist von der gleichen Struktur wie die Perversion, die über die Teilung und die Beherrschung des Teils, das Ganze zu haben glaubt, Regeln

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aushandelt oder setzt, die unter strikter Einhaltung zur erwartbaren Befriedigung führen. Die Perversion ist zugleich die höchste Stufe des künstlichen Arrangements der Zivilisation in der Abtrennung von dem, was man Natur nennt. Und hier ist die große Chance der Gestaltung, der Anwendung der bisherigen Kultur, insbesondere der Kunst. Das zeigt im übrigen auch Stanley Kubrick in Eyes Wide Shut (1999). »Ich sage mir oft: Nur nicht heilen wollen, lernen und Geld erwerben! Das sind die brauchbarsten bewußten Zielvorstellungen.« So Freud in einem Brief an Jung 25. 1. 1909. Freud, Sigmund; Jung, Carl Gustav (1974): Briefwechsel. (Hg.) Mcguire, William; Sauerländer, Wolfgang. Frankfurt a. M., S. 224. Vgl. Žižek, Slavoj: (1993): Das Phantasma durchqueren. Interview mit Slavoj Žižek von Karl-Josef Pazzini und Erik Porath. In: Spuren, 43 (Dez 93), S. 54-56. Vgl. hierzu den Abschnitt »Freuds Lösung vom naturwissenschaftlichen Materialismus« In: Worbs, Michael (1983): Nervenkunst: Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M., S. 68-73. Freud stellte bei der Niederschrift seiner ersten psychoanalytischen Forschungsergebnisse fest, dass er nicht mit herkömmlichen wissenschaftlichen Mitteln arbeitet. »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muss mich damit trösten, dass für dieses Ereignis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen.« Freud, Sigmund; Breuer, Josef (1895): Studien über Hysterie. GW I, S. 75-312 (ohne Breuers Beiträge). Frankfurt a. M., S. 227. Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung. StA II, S. 339. Derrida, Als ob ich tot wäre, S. 27. Siehe hierzu die recht komplexe Argumentation in Freud, Sigmund (1920): Jenseits des Lustprinzips. StA III, S. 213-272. Derrida, Als ob ich tot wäre, S. 41.

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5"Angst,"die"Waffen"abzugeben""

Blicke sind nicht ungefährlich. Wenn den Betrachter etwas angeht oder wenn Künstler dafür sorgen, dass eine Arbeit, jemanden etwas angehen solle, dann geschehen zumindest Eingriffe oder Übergriffe, vielleicht sogar Verletzungen der bisherigen Integrität. Damit geht es bei der Bildung vor Bildern um moralische und ethische Fragen.

Abb. 5 Ilana Salama Ortar: The Hyphen: Palimpsest. 50 x 70 cm. Black pencil, india ink, white gouache, black oil sticks and turpentine on paper. Ausstellung Urban Traces: 19902005. Works on Paper & Paintings. Tel Aviv, Artists House. September 2005.

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Abb. 6 Ilana Salama Ortar: The Hyphen: Palimpsest. 50 x 70 cm. Black pencil, india ink, white gouache, black oil sticks ad turpentine on paper. Ausstellung Urban Traces: 19902005. Works on Paper & Paintings. Tel Aviv, Artists House. September 2005.

Subjectile$ Nach einer Zeit der Orientierungsversuche, der allmählichen Formulierung dessen, was die Herausforderung der Arbeiten von Ilana Salama Ortar (Abb. 5, 6 und 7) sein könnte, nach Gesprächen mit der Künstlerin noch in der Ausstellung Urban Traces (2005), las ich eine Bemerkung von Jacques Derrida über deren Arbeiten, auf die ich hier Bezug nehme. »[...] Aujourd’hui, je tombe en arrêt devant cette nouvelle série. En arrêt devant le mouvement pourtant, emporté sur place dans le tourbillon de cette cellule mélodique (une sorte de Zim-Zum qui n’engendre, couche sur couche, sur sa propre archive, non pas sa mémoire, me la trace archivale de son effacement). / L’extraordinaire c’est que cela ne s’inscrit pas ou ne s’efface pas sur la subjectile, á même le support du papier. Cela émane du subjectile lui même, de sa plus intime secousse sismique. / Tout une histoire, toutes les histoires y trouvent et y perdent, catastrophe cartographique, la mémoire d’elles mêmes. [...]«.1 Derrida wählt für Ilana Salama Ortars Malerei die Bezeichnung subjectile. Die Verdichtung lässt sich lesen als etwas zwischen subtil und jectile. subtil: Das ist wörtlich das, was unter etwas anderes gewebt ist, es ist als teils verborgen, teils tragend, aber manchmal auch gar nicht direkt wahrnehmbar, und 70

damit kann es unterschwellig sein, in der Nähe von suggestiv, kann aber auch eine Feinheit mitschwingen lassen, eine große Sorgfalt beim Arbeiten, die im Ergebnis bemerkbar wird. jectile: Das hat mit dem Werfen2 zu tun, etwas Werfendes, etwas »im Wurf« und das auch im Sinne von Entwurf,3 als Geworfenes, Dahingeworfenes, in die Augen oder vor die Füße, so wie ein Problem. Und zusammengenommen, sub und jectile, weist auf etwas hin, das darunter geworfen wird, unter dem Widerstand, unter der Abwehr hindurch. Subjectile bezeichnet so etwas vom Subjekt, dem es jenseits des Widerstands aufzutauchen gelingt, fein gewebt.

Methodisches$ Die Erwähnung Derridas indirekt über einen Brief an Ilana Salama Ortar ist ein Schritt, etwas mitzuteilen über Erfahrungen, die Bilder mit dem Betrachter gemacht haben, ein Schritt auf dem Weg aus der Einmaligkeit zu einer Mitteilung: von der punktuellen Erfahrung des Blick zu dessen Einwickelung in einen Text; dabei werden Konstruktionen zum Vorschein kommen, die das Loch, das der Blick brennt, zum Ausgangspunkt für kleine Bildungen nimmt. Dieser Prozess wird so angegangen, wie es geht. Vorgestellt wird das, was bewusst zu fassen ist. Von der Erfahrung der Arbeiten Ilana Salama Ortars wird nicht behauptet, dass sie so, wie oben beschrieben, stattgefunden hätten, in einer Weise, dass sie jeder so hätte machen können. Dennoch schwingt das als Wunsch mit: sich der eigenen Wahrnehmung versichern als einer, die allen gemeinsam wäre. Sie entsteht aber erst nachträglich, wenn es dazu kommt. Dieser Sehnsucht entspricht noch die in fast allen Unterrichtsräumen vorhandene, von allen sichtbare Projektionsfläche, die Tafel – Tafeln sowie das (mittelalterliche) Tafelbild, später die Leinwand und der Bildschirm tragen zur Ausstellung von Kunstwerken in einem öffentlichen Kontext bei. Sie fordern zur Bildung eines gemeinsamen Wahrnehmungsbestandes heraus. Indem die Bilder einer Ausstellung samt ihrer Bildwirkungen zusammengebracht werden mit Theoremen, in der Nachbarschaft kleiner Abbildungen, Abstracts der ausgestellten Werke und Tonaufzeichnungen, bzw. Audioguides entsteht ein Spannungsfeld in Richtung Objektivierung des Künstlerischen, auch einer Freilassung aus dem doch begrenzten Kontext einer individuell-subjektiven Erfahrung, so dass sie nicht als einfache Behauptung stehen bleibt, sondern ein Gebilde entsteht, das in Übersetzung Auskünfte über Bildungsprozesse ermöglicht, die in diesem Moment auch enteignet werden. Es geschieht eine weitere Erfahrung beim nachfolgenden Lesen eines Textes, hier eines Briefes, ferner Reflex der originalen Situation vor dem Bild. Mutatis mutandis geschähe das auch mittels anderer Medien und Aufzeichnungstechniken, 71

wie etwa dem Erzählen, einer Skizze oder fortsetzender Malerei, einem Photo, Video oder einem Film. Die hier konstruierten Daten des Reflexes meines Ausstellungsbesuches in Tel Aviv sind nur insofern die Sache selbst, als diese ein Begehren angemeldet hat, gesehen zu werden, etwas mitteilen zu wollen. Da die Ausstellung vorbei ist, an einem anderen Ort war, so einfach auch schon damals nicht transportabel war, geschieht hier eine Abstraktion und eine neue Konkretion, was den Arbeiten von Ilana Salama Ortar eine Referenz erweist, sie aber nicht repräsentiert. Es wird nicht berichtet von Erfahrungen, die alle diejenigen gemacht haben müssten, die die methodischen Voraussetzungen akzeptieren. Die Erfahrung beim Wahrnehmen der Ausstellung damals und Lesen des Textes heute verlangen eine Menge größerer und kleiner Entscheidungen, also auch Abschiede, dann auch Trauer und Freude an der Freisetzung. Das Unbehagen in der Kultur (Freud) kann nicht gemildert werden, etwa durch die Produktion von Fakten, die den Anschein von Naturtatsachen erwecken könnten, dementsprechend unzweifelhaft, orientierend und im Ergebnis wie Steine relativ unsterblich wären. Objektivität ist künstlich hergestellt, so oder so. Sie wird hier auch konstruiert durch eine schreibende Argumentation, die durch den Publikationsprozess vom individuellen Subjekt getrennt wird. Die Entscheidungen, die Bilder in ihrer Wahrnehmung provozieren und so noch anders verdeutlichen, dass Übersetzen von Bild in Sprache, in Schrift und in weitere Abbildungen erforderlich wird, sind Momente des Bildungsprozesses.

Nicht$lesbar$ Steigen wir noch einmal ein: Im September 2005 geriet ich in Tel Aviv unversehens in eine Ausstellung, in der ich nichts lesen, wohl aber etwas sehen konnte. Ich ging durch die Ausstellung und war mir nicht einmal sicher, ob ich nicht entgegen der vorgesehenen Richtung lief. Die Arbeiten nahmen mich auf eine merkwürdige Weise in Anspruch. Locker, aber bestimmt. Ich hatte Bedarf, über die Arbeiten zu reden, ging von hier nach dort. Ich war hinter irgendetwas her, und es war fast gleichzeitig das Gefühl, dass etwas hinter mir her war. Ich fragte eine Frau um Übersetzungshilfe bei der Lektüre der Aushänge und Beschriftungen, die ausschließlich in Ibrit formuliert waren. Es war, so stellte sich später heraus, Ilana Salama Ortar. Ich erzählte ihr, was ich sah, was mich beschäftigte, sie gab etwas hinzu über den Kontext der Arbeiten. Später im Atelier sah ich viele weitere Arbeiten. Die Künstlerin wollte hören, was ich sah. Irgendwann kam ich auf den Blick zu sprechen. Auf die in den Arbeiten verborgenen Augen, auf die Trennung von Auge und Blick, auf das Palimpsestartige vieler Arbeiten. Palimpsest hat mit Zerstörung und Wiederauftrag zu tun, mit dem Wunderblock.4 72

Zu den Sujets der Künstlerin gehört die vielfältige Beschäftigung mit Übergangsund Notfallarchitekturen, u.a. mit der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern, wie sie auch in Bauvorhaben und deren Realisierungen zum Tragen kommt, in den Spuren, die dabei hinterlassen werden, die, wenn man dafür eine Aufmerksamkeit entwickelt hat, wieder gelesen und ausgelegt werden können. Ihre Malerei sei auch wie ein Protokoll solcher im tatsächlichen, wie im übertragenen Sinne archäologischer Tätigkeiten zu verstehen.

Abb. 7 Ilana Salama Ortar: The Camp of the Jews. 50 x 70 cm. Black pencil, india ink, white gouache, black oil sticks and turpentine on paper. Ausstellung Urban Traces: 1990-2005. Works on Paper & Paintings. Tel Aviv, Artists House. September 2005.

Übermalungen, die viele Schichten erkennen und verschwimmen ließen, Schleier und Vorhänge, die vor dem Blick schützen, ihn aber gleichzeitig evozieren und eine Erschwernis des Sehens darstellen, brachten mich zu einer genaueren Befassung mit dem Blick, dem Auge, dem Sehen. Beim stummen Sehen schälten und schälen sich immer wieder Augen aus den Arbeiten heraus oder auch Blicke, trübe, durchgestrichen, übermalt, eindringlich; Blicke in dem Sinne, dass der Betrachter sich angeblickt fühlt, so wie wenn es etwas zu sehen gäbe, was man nie gesehen hat oder eher noch etwas, was man immer wieder nicht fassen konnte. Zu sehen waren Installationen, die von Ferne und in diesem Kontext der Thematisierung von Sehen, Blick, im Verhältnis zur Architektur und zum Sprechen an die Erfindung der 73

Perspektive bei Brunelleschi erinnerten; denn es gibt da eine Ähnlichkeit in der Aufmerksamkeit, Architektur ins Sprechen zu bringen, die zugleich eine Unähnlichkeit im Umgang des Zeichens verdeutlicht: eine Idealisierung des Zeichens der Frührenaissance steht kontrapunktisch zum Einbruch des Zeichens, seiner Krise, nach den Desastern des 20. Jahrhunderts. Im Gespräch sagte die Künstlerin, diese Arbeiten seien der Versuch, den Angriffen einer gewalttätigen Realität in der Gegenwart ebenso wie aus der Geschichte, Widerstand zu bieten, ihr etwas entgegenzusetzen. In diesem Prozess des Aufnehmens und des Schutzes, der Abwehr – einmal ganz abgesehen von der Lust des Zeichnens mit Kreiden, des Malens mit Tempera, des Durchstreichens, des Kratzens, des Wiederübermalens – konnten sich die Arbeiten aus der Geschichte der Künstlerin heraus entwickeln und diese sich aus der Geschichte. Das ist eine Arbeit, wie sie ähnlich der Schild des Perseus’ angesichts des Blicks der Medusa verrichtet, des bedrohlichen Blicks von irgendwo her, des tötenden Blicks, insofern das Individuum an die Grenze des nicht Beantwortbaren, nicht Verantwortbaren geführt wird und das seinen Schutz durchschlägt. Die Schutzund Trostfunktion ist aber auch ohne diesen Kontext aus der Farbigkeit, der Materialität des Auftrags der Farben und der subtilen Zeichnung erfahrbar. Das Verwunderliche ist, dass die Arbeiten auch ohne Kenntnisse dieser Geschichte zumindest die Möglichkeit bieten, vielleicht mit anderen Inhalten versehen, alleine über den sichtbaren Bestand im Betrachter Bewegungen auszulösen, ihn in Auf- oder Anregung zu versetzen. Sie schaffen einen Zustand eines anregenden Wechsels zwischen verschiedenen Wahrnehmungen von, auf der Schwelle zum Entzifferbaren stehenden, Bedeutungen. Die Dringlichkeit einer Antwort bleibt aber aufgeschoben, weil die Bilder in ihrer Farbigkeit, in ihren Rhythmen, ihren vagen Erinnerungen an Bekanntes, das sich als Identifiziertes nicht aufdrängt und keinen Abschluss bietet, eine Art Pause schaffen, eine anregende, die dadurch von der Dringlichkeit der Antwort ablenken kann. Sie dispensieren kürzer oder länger von einem Schuldzusammenhang, der jenseits der manifesten Geschichten, die mit Vertreibung und Flucht zu tun haben, auf der Ebene der Fragen: ›Was willst Du mir?‹ – ›Was geht mich da an?‹ noch einmal wiederkehrt, weil keine genaue Antwort gegeben werden kann. Wenn die Arbeiten dennoch Muße gewähren, so heißt das wohl nicht, dass sie entschulden oder vorgeben, wieder gut zu machen, sondern zunächst die Chance geben, der Schuld gewahr zu werden, indem sie mit sanften Farben, fast Heilsalben Unruhe mildern. Adornos Satz fällt dazu ein: »Jedes Kunstwerk ist eine abgedungene Untat«. 5 Selbstverständlich kann das Kunstwerk nicht wiedergutmachen, es kann aber von Ferne erinnern und einen Abstand schaffen, um neue Bindungen einzugehen, aus der unmittelbaren Verstrickung auszusteigen, insofern es autonom ist, nichts Be74

stimmtes will, sondern das Risiko des Abstandnehmens eingeht. Dann kann es subjectile werden, sich stützend einflechten, um Schuld zu tragen. Diese Pause, das kurze Moratorium, in diesem Fall ausgelöst durch den Genuss an Form und Farbe, stellt noch ein weiteres Hin und Her still. Es lässt sich so beschreiben: Jacques Rancière charakterisiert zwei Positionen, die des Semiologen, der die verschlüsselten Botschaften der Bilder lesen will, und die des Theoretikers des punctum (Barthes) des wortlosen Bildes. Damals beim Betrachten der Bilder von Ilana Salama Ortar war ich sehr bald überzeugt, dass es eine Geschichte gäbe. Zugleich wollte ich aber auch mein Reden stoppen, das auffordernde Zuhören und nicht zuletzt das Erzählen der Künstlerin, das ich selbst ausgelöst hatte. Ich wollte ohne Zutat, mich eine Geschichte und eine Fortsetzung des Eindrucks finden lassen und bemerkte bald, wie lange Bereitliegendes zur denkenden und schreibenden Auseinandersetzung drängte. »Der Semiologe hat gezeigt, dass das Bild eigentlich das Vehikel eines stummen Diskurses ist, den er in Sätze übersetzen muss. Der Theoretiker sagt uns, dass das Bild in dem Moment zu uns spricht, in dem es stumm ist, indem es überhaupt keine Botschaft mehr weiter gibt. […] Der eine hat seine Stummheit zum Sprechen gebracht, der andere wird aus der Stummheit das Ende des langweiligen Geschwätzes machen. Aber beide spielen mit derselben Konvertierbarkeit zweier Vermögen des Bildes: das Bild als rohe sinnliche Präsenz und das Bild als Diskurs, der eine Geschichte verschlüsselt.«6 Es schälte sich aus der Vielfalt der Eindrücke, ausgelöst von den Bildern Ortars, eine Form heraus, die zunächst identifizierbar schien, dann zwischen Auge, Fisch und Boot changierte. Das Changieren kam aus den Bildern auf mich zu, setzte als Gegenwehr identifizierende Bewegungen in Gang und ließ sie nicht zum Schluss kommen. Die einzelnen Momente waren ausreichend widerständig, so dass es sich lohnte, dagegen und damit eine eigene Produktion zu beginnen, zu sprechen, Kontakt aufzunehmen. Das, was mir auffiel, lag als noch nicht formulierte Frage und partiell natürlich auch als Antwort bereit. Nach dem Wechsel ins Reden und später ins Schreiben ließ der Druck nach, die Bilder zu identifizieren. Sie konnten umspielt werden. Der Raum und die Zeit vor dem Kunstwerk – und durch dieses gehalten, dann auch ohne dessen Präsenz – wird ein Aufenthaltsraum.

Widerstand$ Widerstand zu haben oder zu produzieren, zu spüren, ist keine ausschließliche Eigenschaft von Kunst oder Kunstwerken. Widerstand ist ein relationales Geschehen. Er erscheint zwar zunächst meist als Hindernis;7 das Innehalten und die Überwindung birgt aber die Möglichkeit, in weitere Produktion zu kommen. Als Schutz wird Widerstand aufgebaut gegen zu konflikthafte Zumutungen. Im Ernst ist es nicht zu wünschen, dass er vollkommen wegbliebe; deshalb ist er zu pflegen als 75

Produktionsmittel, als Trennung, als Kontrastmittel, Schnittstelle. Subjekte ohne Widerstand in Beziehungen zeigen psychotische Symptome. Subjekte mit starkem Widerstand werden dumm. Beides kann zu Leiden für die betreffenden Individuen wie für die umgebenden Menschen führen. Mal kommt es also darauf an, den Widerstand zu fördern, mal ihn zu beseitigen, mal ihn in das Feld der Politik zu transponieren. – In der konkreten Situation und Beziehungsaufnahme ist nur ein minimaler Teil des Widerstands bewusst und damit intentional gestaltbar. Andersherum: Er lässt Gestalt annehmen, er bildet. Gegenüber den Arbeiten von Ilana Salama Ortar tritt Widerstand als Reiz auf. Er betrifft den Übergang zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, beides geht nicht ohne neuen Anlauf ineinander über. Auch wenn ich erfahre, dass einige der Arbeiten, die ich als palimpsestartig bezeichne, als eine Art Tagebuch entstanden sind, jeder Tag eine Schicht, bei den Architekturstudien und Ausgrabungen, so kann ich mich dabei nicht beruhigen, obwohl zunächst die Versuchung besteht, solche Auskünfte als Erklärung zu nehmen. Es schiebt sich vielmehr sogleich wieder etwas dazwischen, eine Differenz tut sich auf. Das Sichtbare und das Unsichtbare treten auseinander ebenso das Sagbare, das Hörbare und das Sichtbare, sie werden vom Bestand des Bildes wieder auseinander gezogen. Es ist erkennbar etwas anderes.8 Es geriert sich wie ein blinder Fleck, der ja auch das Auge beim Sehen in oszillierende Bewegungen versetzt. Es gelingt keine Übersetzung mehr, wie eventuell noch in der vormodernen Kunst, weil etwas fehlt. Es ist natürlich möglich, etwas zu den Bildern oder über diese zu sagen – da tue ich ja auch –, aber anders als bei der Schwierigkeit, von einer Sprache in eine andere zu übersetzen, wobei man merkt, dass immer etwas daneben geht, bleibt hier trotz der vielen Möglichkeiten des Sprechens, Schreibens, Theoretisierens immer eine Differenz bestehen, nicht nur im Sinne eines Verfehlens, eines nicht ganz Sagenkönnens, sondern eine mediale Differenz, die in etwa besagt: Da bleibt noch etwas anderes. Diese Differenz ist Trennung zweier Medien, die so unterschiedlich sind und doch aufeinander zu drängen, dass eine Herausforderung bleibt. Auch beim Übersetzen von einer in die andere Sprache stößt man an Grenzen, die nicht durch Äquivalenz zu überwinden sind. Aber man ist eher bereit, auch wenn man eine Verschiebung des Bedeutungshorizontes bemerkt, bei einer korrekten, nicht anders möglichen Übersetzung einfach weiter zu machen, es sei denn man verstummt. Im Unterschied zum Gegenüber von Bild und Sprache haben zwei unterschiedlich gesprochene und geschriebene Sprachen das Medium gemeinsam. Es kommen nicht zwei unterschiedliche mediale Materialitäten und Energien zusammen: »Alle Sprachen sind Sprachen, und alle haben miteinander gemein, dass man sie sofort als solche erkennt: ›In welcher Sprache redet der denn?‹ fragt das Kind. Jede Sprache ist übersetzbar, das ist ihr Wesen: die Übersetzbarkeit. Jede Sprache definiert sich 76

als verständlich: in ihr wird etwas gesagt, das ich verstehen könnte, wenn ich diese Sprache beherrschte; das Verständliche ist die Sprache selbst. Aber auch jenes Selbe, das anders von Sprache zu Sprache geht.«9 Man könne annehmen, so Goldschmidt, es gebe eine »Grundsprache«.10 Die Folge von deren Unerreichbarkeit, ja Nichtexistenz ist die Begrenztheit jeder Übersetzung: »Seit jeher hat die Übersetzung das Unmögliche versucht, nämlich den Text ›als solchen‹ durchzubringen, statt ihn zu umgehen. Die Übersetzung per se ist verstockt und kann nicht erkennen, dass das, was in ihr verhindert wird, genau das ist, was eigentlich übersetzt.«11 Im Verhältnis von Bildern und Sprechen oder Schreiben kann man sich kaum die Illusion einer präexistenten Gleichheit oder eines gemeinsamen Grundes machen, wie sie vor einem Turmbau zu Babel existiert hätte. Bilder sind nicht einmal Transportmittel von bestimmter Bedeutung, Rancière spricht von deren nackter, bedeutungsloser Präsenz.12 Das ist eine Zuspitzung, die vielleicht beim Schwarzen Quadrat von Kasimir Malewitsch zu halten ist. Bilder als Deutung generierende lagern sich ganz schnell im Rezipienten ein. Sie sind nicht einfach nur außen da. Sie schaffen ein konnotatives Netzwerk oder werden von einem abgestoßen. Präsenz ist blitzartige Verbindung. Die Gebrüder Grimm weisen auf die Verwandtschaft von Blick und Blitz hin: Der Blick leite sich ab von Blitz »schnell schieszender lichtstrahl«.13 Gerade weil Bilder keine gesicherte Couverture aus Bedeutung schon mitbringen, sind sie im Kontakt mit Menschen geeignet, Bedeutung an sich zu ziehen, sie sich als Treibstoff anzuverwandeln. So sind sie bildend.

Fraß$oder$Augenweide$ Lacan sagt in seinem Seminar Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse von 1964 – so wurde transkribiert – vom Maler, dass er ein Bild gibt, das eine Augenweide sein soll – so der Übersetzer Norbert Haas – (Il donne quelque chose en pâture à l’œil), dass er den Betrachter einlade, seinen Blick in diesem zu deponieren, wie man Waffen deponiert (à deposer là son regard, comme on dépose les armes).14 Man kann das auch lesen, als etwas dem Auge zum Fraße geben und den Blick ruhen lassen, wie man die Waffen streckt, im Sinne von aufgeben, wie man auch durch erotische Attraktion in Bann gezogen, etwas geschehen lässt und sich hingibt, der eigenen, der fremden und der gemeinsamen Lust.15 Die Spannung der Lust bekommt so eine Möglichkeit der Umsetzung. Zunächst wird sie zum Wunsch, dann zur Aktion. – Über den Weg des Wunsches kommt die Lust auch umformuliert, bildlich, in den Traum als Wunscherfüllung. Es gibt Menschen, die nie oder kaum in der Lage sind, die Blickwaffe zu deponieren oder sich hinzugeben.16 Sie sagen z.B., dass sie mit diesem und jenem Bild oder Kunstwerk nichts anfangen können. Im Extremfall, wenn das Bild mit ihnen 77

etwas angefangen hat, gehen sie sogar gegen das Bild mit Waffen vor, mit Säuren, Messern oder anderen Gegenständen.17

Ränder$ Die Angriffe sind nicht immer nur und ausschließlich vom Bild geleitet, sondern finden in einer Institution statt. Auch das angegriffene Kunstwerk scheint nicht als substanzieller Gegenstand gemeint zu sein. In der Konstellation zwischen Betrachter und Betrachtetem kann es zu nicht exakt zurechenbaren Zwischenfeldern kommen. Das, was als Gegenstand, als Bild gilt, ist der sich bildende Rand eines Feldes. Institutionen, wie Museen, Galerien, Lehranstalten sind beteiligt an der Bildung dieser Ränder. Dabei wandern sie in die Bilder zumindest als Halt ein. Vor Bildern, eingehängt in eine Institution, spürt man etwas, das treibt, über das man nur eine bedingt Kontrolle hat, das jederzeit auftauchen kann. Es scheint nicht so bedrohlich zu sein, dass man solche Bilder meidet, die Orte umgeht, an denen sie auftauchen könnten. Die Herausforderung liegt zwischen »das kennt man schon« und »vielleicht erfahre ich doch etwas Neues«. – In der Zerstörung wird dieses Hin und Her und das, was treibt, gewaltsam stillgestellt, indem ein Part der Relation zerstört wird, wie Pickshaus zeigt. Die Situation vor Bildern, die aus der alltäglichen Funktionalität, aus dem vielfältigen Stoffwechsel herausgenommen sind oder nie darin waren, öffnet ein Feld der möglichen Symbolisierung dessen, was sonst in seiner Rätselhaftigkeit in Kauf genommen und gespürt wird, aber nicht weiter zum Gegenstand der Artikulation werden kann. Dabei kann es in öffentlichen Ausstellungen beruhigend sein zu bemerken, dass auch andere mit dieser merkwürdigen Suche zu tun haben, dass andere etwas Ähnliches gesehen haben, dass man zumindest darüber reden könnte. Es kann auch verunsichernd wirken: Angenommen man geht durch die Ausstellung Sade. Attaquer le soleil18 und wird beim Flanieren auf einmal dessen gewahr, dass auch andere den sexuellen, erotischen, erregenden, anregenden Bildern ihr Interese schenken, sodass sich vermuten lässt, man sei an ähnlichen Themen interessiert; man sieht die anderen lächeln oder versonnen, dann fragt man sich manchmal, ob denn die Gewohnheit anhält, dass man in ehrwürdigen Museen nicht einfach den anderen nach dem fragt, was ihn denn gerade interessiert. Das würde ganz nahe heranrücken. Die Sehnsucht danach besteht wahrscheinlich zugleich.

Blick$als$Waffe$und$Objekt$ Was heißt es aber, den Blick wie eine Waffe zu konzipieren? Was könnte es heißen, den Blick ruhen zu lassen in einem Bild, ihn wie Waffen zu strecken, niederzulegen? In der eingangs als Auslöser beschriebenen Ausstellung von Ilana Salama Ortar gab es die Momente der Ruhe, es gab die An- und Aufforderung weiter zu 78

gehen, auch darin, nach Auskunft zu suchen. Die so angeregte Beweglichkeit ermöglichte eine Unterbrechung des imaginären Duells zwischen Bild und Betrachter. Der Blick selbst wird dabei nicht sichtbar, überhaupt nicht wahrnehmbar. Wir fühlen uns aber immer schon erblickt, was in vielen Mythen reflektiert wird. Aber immer, wenn man hinsieht, ist da nichts, höchstens die schon von Sartre erwähnten Minimalwahrnehmungen, die wir mit dem Blick verbinden.19 Es bedarf eines Schirms, damit wir den Blick wahrnehmen können, ein Epiphänomen des Blicks. Diese Funktion hatten in überdeterminierter, fast aufdringlicher Weise die Arbeiten von Ilana Salama Ortar. In ihnen wird der Blick sogar inhaltlich thematisiert. In der Lacan’schen Theorie ist der Blick als Objekt konzipiert, dessen wir habhaft werden, das wir erhaschen, das wir verstehen wollen. Wir wollen im Blick des anderen sein. Wir machen aber die Erfahrung, dass weder dieser Blick selber festzuhalten noch in seiner Qualität direkt bestimmbar ist. Der Blick ist ein Objekt, das immer schon schwindet, ein Objekt, das sich entzieht, ein Objekt, von dessen Existenz wir nur entlang seiner Spuren zu anderen sprechen können. Zugespitzt kann man sagen: Der Blick steht geradezu für das, was nicht zu sehen ist, für das Unsichtbare, das aber gleichzeitig das Subjekt angeht, dem das Subjekt unterstellt, dass es da ist. Er macht das Sichtbare interessant und lebensnotwendig. Man könnte den Blick auch mit einer physiologischen Metapher als den blinden Fleck bezeichnen oder den blinden Fleck als eine fiktionale Repräsentation des Blicks im Physiologischen. Er macht das Sehen an einer Stelle blind und löst eine Bewegung aus, diese Blindheit zu kompensieren. Und andersherum könnte man anthropomorph sagen: Wegen dieser punktuellen Blindheit muss sich das Auge bewegen und vermeidet so, dass sich ein Bild einbrennt und die Netzhaut unempfänglich wird. Der Blick kann sicher nicht als Objekt im Sinne des deutschen Äquivalents »Gegenstand« bezeichnet werden. Es scheint eher ein Grenzgeschehen zu sein, das in einer nicht genau definierbaren Verbindung zum individuellen Subjekt steht oder von diesem hergestellt wird, dieses auch herstellt in seinem Begehren. Und es wird zur Aufgabe für das individuelle Subjekt, diese merkwürdige Bildung an ihm selbst immer mit unzureichenden Mitteln je anders und neu zu festigen, das heißt aber auch, wieder aufzulösen. Der Blick wird virulent, wenn sich das Subjekt an den Anderen wendet und sich vom Anderen gemeint sieht. Dass es diese Unruhe gibt, die zur Ruhe kommen möchte, die ein Ziel finden möchte, findet seinen Reflex in verschiedenen Gebilden: Blinken, Lichtstrahl, Spotlight, Glitzern von Schmuck, Glanz der Augen, Reflexe des Haares, mit Architektur gelenktes Licht, gotische Kathedralen, Lichtdome der Nazis oder auch Blaulicht der Polizei sind allesamt noch auf einer physio79

logienahen Ebene solche Versuche, dem Nichtsichtbaren des Blicks einen Halt zu geben, zu locken, zu beeindrucken. Diese Anzeichen weisen darauf hin, dass es etwas braucht, um indirekt den Blick wahrzunehmen, zu sehen, einen Schirm, der abschirmt und sichtbar macht; aber auch eine Bereitschaft, dort etwas zu sehen, das auf etwas anderes verweist. Die latente Empfänglichkeit beinhaltet auch die Akzeptanz eines Ausgesetztseins, sich auszusetzen, Teil einer Szene zu sein, mit zu spielen und dabei das Skript mit zu erfinden in Spannung zu anderen Spielern. Das notwendige sich Aussetzen macht den Blick zur möglichen Waffe. Er konfrontiert mit einem Fehlen, einer Schwäche, einer Offenheit, Unkontrollierbarkeit. Dieses Doppel hilft dem individuellen Subjekt in Spannung von Ohnmacht und Allmacht zu bleiben und nicht in Katatonie zu verfallen. Der Blick ist mächtige Herausforderung, Abb. 8 Diego Velázquez: Mars, um 16391641. Öl auf Leinwand. 179 x 95 cm, © sich zwischen fremder und eigener BeMuseo Nacional del Prado, Madrid. grenztheit und Macht zu lozieren. Dabei erwischt der Blick auch das Entsetzen vor dem Bild der eigenen Macht und begrenzt es, fordert das individuelle Subjekt auf, trotz beschränkter Macht aus dem Eigenen herauszutreten. Der Blick nun in seiner Aggressivität kann gefangen und verwandelt werden in einem Bild oder vielleicht besser mittels eines Bildes, indem das Bild Artikulationsräume ermöglicht. »Das Bild, wie jedes andere Bild auch, ist eine Blickfalle. Welches Bild Sie auch nehmen, wenn Sie Punkt für Punkt dem Blick nachspüren, werden Sie sehen, wie dieser verschwindet.«20 Der Blick verschwindet, das Sehen geht weiter. Denn in dem Moment ist der Blick gefangen, eingefangen. Die Unruhe und Beunruhigung kann eine Zeitlang nachlassen, weil etwas zu sehen gegeben ist, anderswo, das zumindest kurz fesselt. Zunächst einmal merkt der Betrachter, dass er sieht, dass er etwas sieht, dass er gesehen wird. Für kurze Zeit spielt der Blick keine Rolle, weil er in der Falle steckt, d.h. angebunden ist, ihm etwas zum Fraß 80

Abb. 9 Hans Holbein d. J.: Die Gesandten. 1533 (Jean de Dinteville und Georges de Selve). Öl auf Eiche, 207 x 209 cm, National Gallery, London.

vorgeworfen ist. Einen Moment lang, könnte man nachträglich sagen, hat man wieder die Illusion, das gesehen zu haben, von dem man gesucht sein wollte. Das ist dann ein Moment von Harmonie.

Trieb$ In einem solchen Moment geschieht etwas, das Lacan in Ausarbeitung der Freud’schen Triebtheorie eine Montage bezeichnet,21 auf dem Hintergrund einer je individuellen Fügung, dem Triebschicksal, ergibt sich eine aktuelle Komposition von Drang, Quelle, Objekt und Ziel des Triebes. Die Montage des Triebs ist zudem reflexiv, vom individuellen Subjekt im Punkt der Erfassung oder Erfüllung sogar passiv zu formulieren: Das Bild macht – und hier kommt man an die Grenzen der Grammatik – ein Erblicktwerden und sich dabei zu spüren, nämlich in der Wahrnehmung. 81

Der Trieb, ein begriffliches Konstrukt, das die Abgrenzung und das Zusammen von Körperlichem und Seelischen, von Psyche und Körper versucht anzuzeigen, lässt sich neben den genannten vier Elementen, auch mithilfe von grammatischen Wendungen in seinem jeweiligen Zustand fassen. Bezogen auf die Begegnung mit Bildern in einer Ausstellung ließe sich das anhand des eingangs Erwähnten etwa so deutlich machen: Handlungen haben immer zwei Richtungen, die wechseln können: Aktivität und Passivität; ich sehe Bilder / die Künstlerin / (Subjekt und Objekt) und in den drei Formen des Verbs: aktiv: ich sehe Bilder, passiv: ich bin von Bildern affiziert, reflexiv: ich lasse mich sehen.22 Wenn die Montage nicht zeitweise gelingt, herrscht Unruhe und Desorientierung, droht Zerfall. Auf einer anderen Ebene generiert die Leugnung der Differenz von Auge und Blick Unverständnis gegenüber Kunst, eine weitere Version ist eine allgemeine Flucht in die Dummheit.23 Pädagogische Aufgabe ist es, Montageanleitungen vorzuleben und assimilieren zu lassen. Die von Freud ausgearbeitete grammatische Struktur des Triebs, insbesondere beim Sehen,24 lässt eine weitere Vermutung sprießen, dass die Konfrontation mit Bildender Kunst auch eine Herausforderung und Erleichterung bietet, zwischen dem Unsagbaren und dem Sagbaren hin und her zu schalten. Dieser Trieb »weiß« so, wie der Nachrichtensklave weiß, der nicht selber lesen kann und zum Adressaten rennt, um gelesen zu werden. Und er wird getötet, wenn er weiß, damit er es nicht verraten kann. Es rennen also immer wieder neue Sklaven los.25 Das Verschwinden des Blickes heißt also, dass er nunmehr transformiert wird, dass nicht mehr der Blick, als jenes verwirrend, faszinierend, nicht beherrschbar Bedrohliche da ist, der etwas aufdecken, durchdringen, öffnen, durchstoßen will. Statt seiner erscheint eine Transformation etwa als momentane Entspannung vor einem Bild, als Frage, als Vermutung, als Forschungsanlass.

Blickfalle$ Vielleicht hat Fontana eine solche Blickfalle nachbauen wollen. Fontana ritzt den Schirm auf, mit dem der Blick gefangen wird. Der Blick hat die Leinwand durchstoßen. Und er hat der anderen Seite einen Anhaltspunkt geliefert: Aus dem Dunkel, das der Schlitz ein wenig freigibt, locken Fragen: Ist da was? Wenn ja, was? Welche Bedeutung hat das für mich? Der Betrachter steht nun trotz der Tiefe vor einem sehr ähnlichen Rätsel wie bei einer unversehrten Leinwand. Er entdeckt dort nicht etwas, das ihn zufrieden stellen könnte, zumal es dort dunkel ist. Er fällt ein paar Mal vielleicht hinein in diesen Spalt, die Öffnung, die Fontana ihm geritzt hat. Wo sollte er auch anders hin? Die monochrome Fläche kann im Verhältnis zum deutlich erkennbaren Riss keine Anziehungskraft aufbauen. Im Unterschied zu anderen Bildern, wird die Frage direkter gestellt, bzw. der Hinweis gegeben, dass 82

auch dahinter (wahrscheinlich) nichts ist, nicht in der Tiefe, was das Subjekt in seinem Befragtsein und seinem Fragen stillen könnte – es sei denn die Dunkelheit. Die radikalere Reaktion wäre natürlich, zum Bild hinzugehen, mit beiden Händen den Riss zu weiten und nachzusehen, ob es nicht dennoch etwas gäbe, das bisher versteckt blieb. Das hindert das Ritual der Institution, diese Handlung ist nicht zugelassen. Da man davon ausgehen kann, dass das auch der Künstler weiß, kann man, auch wenn es schwer fällt, diesen Versuch unterlassen. Das rituelle Berührungsverbot macht darauf aufmerksam, Abb. 10 Lucio Fontana: Concetto Spaziale, ATTESE, um 1967, 65 x 54,3 cm. Museum dass man nicht der Einzige ist, der vor Frieder Burda, Baden-Baden. der Versuchung steht. Mit der Erfahrung der Unabschließbarkeit kann man sich abwenden, sich einem nächsten Bild zuwenden, man kann den Besuch der Ausstellung abbrechen, das alles für einen Unsinn erklären, für uninteressant, sich das, was man dort erlebt, vom Leibe halten. Weicht man aber nicht, will man etwas wissen. Diese Intention wird sich früher oder später in der einen oder anderen Weise symbolisch artikulieren müssen. Hier liegt ein weiterer Stolperstein. Man wird bemerken, dass man das Register verlässt, das die Irritation, die Rätselhaftigkeit, das Gefangensein ausgelöst hat. Man nimmt damit auch Abschied von dem Wunsch, genau unmittelbar und alles zu wissen. Dieser Abschied fällt nicht immer leicht.

Medusa$ Als Metapher für diese Abwendung könnte der Mythos von Medusa und Perseus stehen: »Der Anblick des Medusenhaupts macht starr vor Schreck, verwandelt den Beschauer in Stein. Dieselbe Abkunft aus dem Kastrationskomplex und derselbe Affektwandel! Denn das Starrwerden bedeutet die Erektion, also in der ursprünglichen Situation den Trost des Beschauers. Er hat noch einen Penis, versichert sich desselben durch sein Starrwerden.«26 Freud ist hier auf die Verkörperung als Gegengift gegen die Bedrohung aus. Die Bedrohung liegt im Reiz der Übersteigung der individuellen Grenzen, der Vereinigung mit dem Anderen, der Anderen. Bedrohung und Sehnsucht liegen eng beieinander. Sehnsucht vielleicht nach der Unmittelbarkeit. Sehnsucht danach, auch das Andere an sich als Ergänzung zu haben. 83

Sowohl das Erstarren im Moment des Reizes wie der Versuch, an die Vernichtung der Differenz zu glauben, kommen dem Tod nahe. »Die Versteinerung kommt dem Tod gleich, sie ist die ›Objektivation‹ jedes menschlichen Wesens durch den Blick. Der Mythos spricht die imaginär mörderische Macht des Blickes über das Lebende aus. Und die realistische Kunst aktiviert diesen Glauben, dies beherrschen zu können.«27 Der Blick, der dem Begehren amalgamiert ist, tendiert dazu, im Moment des Begehrtwerdens, dieses in eine bloß narzisstische Bestätigung umzuwandeln. Das wäre das Ende, die Unterbrechung des Austauschs, die Teilhabe am Tod – wie es auch der Mythos von Echo und Narziss in Szene setzt. Das reine Begehren ist gefährlich. Ist es das, wovon der Medusa-Mythos spricht? Gegen die Versteinerung, geAbb. 11 Michelangelo Merisi Caravaggio gen die Tötung durch den Blick wehrt (1597): Medusa. 60 x 55 cm, Öl auf LeinPerseus sich, indem er den Blick reflekwand auf Holz montiert. Uffizien Florenz. tiert, ihn mit seinem Schild zurückwirft und Medusa, die Verschlingende, enthauptet. Die Reflektion ist ein erzwungener Selfie. Perseus wird zur Metapher für den Künstler. Guiseppe Modica schreibt28 von der Transformation des Schreckens in Sprache, sie sei eine Passage, die nur möglich sei, indem man über die Leiche von Medusa gehe. Fallen sind in der Regel getarnt. Nicht selten sind sie zusätzlich noch mit einem Köder versehen. Ein Köder zeugt von der Kenntnis der Lebensgewohnheiten, der Bedürfnisse und Ansprüche dessen, den man in eine Falle locken will. Eine Blickfalle besteht darin, dass mittels des Blicks nichts zu haben ist, aber nur dieser in Existenz hält. Der Blick ist flüchtig, blitzartig, man kann ihn nicht besitzen. Von der Aufregung, der Verführung, den Augenblick festhalten zu wollen, gilt es, sich loszureißen, wieder ins Reden und in den Austausch zu kommen, die reizvoll mühseligen Übersetzungen. Die sprachliche Übersetzung der Verlockung durch den Blick, lässt sich übersetzen in die Frage: Was will das Bild von mir als Betrachter? Damit gerät der Blick in eine Falle. Wo immer er sich genauer hinrichtet, die Frage wird im Bild als Bild durchs Sehen nicht beantwortet werden. Lacan unterscheidet zwischen Sehen und Blicken. Der Maler gibt dem Betrachter etwas zu sehen. Sichtbares ist Voraussetzung für die Bildwahrnehmung, nicht aber gleichbedeutend mit der Funktion des Bildes. Es geht nicht nur darum, etwas zu sehen zu geben. Die Funktion des Bildes liegt auf dem Weg über das Sehen da84

rin, einen Bezug zum Blick herzustellen. »Die Funktion des Bildes – bezogen auf den, dem der Maler, buchstäblich, sein Bild zu sehen gibt – bezieht sich auf den Blick. Diese Beziehung ist nicht, wie man zunächst vielleicht meinen könnte, Blickfalle zu sein.«29 Die Verführung durch das Bild kann umgangen werden, indem nach dem Begehr des Künstlers gefragt wird. Der Maler präsentiert, wenn auch indirekt, das Bild selber, auch ohne leibhaftig präsent zu sein. Er hat etwas dafür getan, dass es ausgestellt wird. Es taucht die Frage auf, was dieser Maler als jenes singuläre Subjekt mit dem Bild zeigen will. Wir haben es zu tun mit Singularität auf dem Weg zur allgemeinen Anerkennung, damit auch Verallgemeinerung. Singularität bietet für eine glatte, unbefremdete Wahrnehmung zunächst einen Widerstand. Ausformuliert etwa: Was will der Maler, indem er uns dieses Bild zeigt? Welches Begehr hat er? – etwas altertümlich formuliert. Was sollen wir für ihn in dieser Beziehung sein? Wo oder wohin will er uns haben, als was? Was will der Maler uns damit sagen? Was erwartet der Maler von uns? Wie kommt er auf dieses Bild, diese Darstellungsform? Dazu müssen Künstler nicht mehr leben. Durch den Schutz der Institution wird unterstellt, dass er zumindest nach Ansicht von anderen, von Experten, etwas zu fragen oder zu sagen habe, dem es lohnt nachzugehen, weil es immer noch etwas zu entdecken ist, für jeden neu und vielleicht immer wieder anders. Die Beunruhigung für den Betrachter kann gesteigert werden gerade, wenn das Bild sich selber zu genügen scheint. Unabhängig vom Künstler kann das Bild mit seinen oft einzigartigen Zügen wie ein Eindringling wirken. Das muss nicht unmittelbar am Bild selber liegen. Diese Dynamik kann entstehen, wenn realisiert wird, dass das Bild zur Ausstellung ausgesucht, immer wieder restauriert, darüber geschrieben wurde, dadurch dass es jetzt einfach so da hängt. So können Ansprüche wahrgenommen werden, Anforderungen zur Stellungnahme, zur Annahme oder Ablehnung der vorausgegangenen Urteile, die das Bild da hängen lassen. Augustinus hat dies auf sich und seinen zufrieden an der Brust der Mutter saugenden Bruder mit invidia30 bezeichnet. Dabei geht es darum, dass da jemand einfach so genüsslich ist. Invidia kann dann heißen, dass da etwas nicht zu sehen ist, was den Genuss bereitet, es kann etwas im Sehen sein, was es schwer macht, den Blick loszureißen, und es kann zuletzt auch der Wunsch sein, etwas zum Verschwinden zu bringen (Hass, Zerstörung). Offenbar geht es beim Neid um die Erfahrung einer genüsslichen, harmonischen Abgeschlossenheit, die den Betrachter, der dann die invidia hat, dadurch nicht in Ruhe lässt, dass etwas nicht zu sehen ist. Lacan variiert das so: »Invidia kommt von videre. Die beispielhafteste invidia, für uns Analytiker, ist die, die ich schon seit langem bei Augustinus aufgezeigt und der ich ihre volle Bestimmung gegeben habe, die des kleinen Kindes nämlich, das seinen an der Brust der Mutter hängenden Bruder

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anblickt, ihn anblickt amare conspectu, mit bitterbösem Blick, der ihn dekomponiert und auf es selbst wie Gift wirkt. Um zu verstehen, was die invidia in ihrer Funktion als Blick ist, darf man sie nicht mit der Eifersucht verwechseln. Was das kleine Kind oder wer immer beneidet / envie, ist im eigentlichen Sinn durchaus nicht identisch mit dem, wonach es Neid verspüren könnte / avoir envie, wie man sich uneigentlich ausdrückt. Wer könnte sagen, daß das Kind, das sein Brüderchen betrachtet, noch das Verlangen hätte, an der Brust zu liegen. Jeder weiß, daß der Neid für gewöhnlich hervorgerufen wird durch den Besitz von Gütern, die dem, der neidet, von keinerlei Nutzen wären und deren wahre Natur dieser nicht einmal ahnt. So ist der wahre Neid beschaffen. Vor was lässt er das Subjekt erbleichen? Vor dem Bild einer in sich geschlossenen Erfüllung und davor, daß das kleine a, das abgetrennte a, an welches es sich hängt, für ein anderes einen Besitz darstellen kann, an dem dieses sich befriedigt, die Befriedigung*.«31

Absichten$$ Fragen nach den bewussten oder unbewussten, den expliziten und impliziten Absichten des Künstlers werden vielleicht dringlicher in Bezug auf Kunst, die nicht mehr in der Abbildfunktion steht, nicht mehr eine visuelle Realität jenseits des Bildes repräsentieren will. Denn da gaben in der Bildbetrachtung die Ähnlichkeit, die Übereinstimmung, das Erfassen des Typischen u.ä. eine Antwort auf die Frage danach, was der Künstler gewollt haben mochte, auch wenn das vielleicht der falsche Hebel war. Aber man konnte sich leichter im Bild einfinden. Die Frage bleibt und wandert von der figurativ ausgerichteten Kunst bis zur Konzeptkunst, bis zu den sehr unterschiedlichen Ausrichtungen in der Gegenwart und generiert unterschiedliche Modi und Freiheiten der Antwort. Die Frage nach der Absicht, nach dem, was der Künstler mit dem Bild will, danach, was mich das angeht, angehen sollte, hat Diskurse zur Folge von der Kunstgeschichte, über allgemeine Kunstwissenschaft, Kunstsoziologie, Kreativitätsforschung bis zur Kunstpädagogik. Manchmal erschöpft sich ein solcher Diskurs darin, den Künstler nach seinen Absichten zu befragen oder die nähere Verwandtschaft, wie die Mutter von Jonathan Meese. Von ihr erhofft man sich zu erfahren, wie er denn wirklich ist oder war, haben sie doch, so unterstellt der ins Happy end und ins Happy beginning immer Verliebte, einmal eine harmonische Einheit gehabt. Es wird nach der Biographie gefragt, nach prägenden Einflüssen, nach Lehrern, nach der Position in der Kunst, nach Bezügen zur Kunstgeschichte, zur sozialen und politischen Situation. Es bleiben nur produktive Ausweichmanöver.

Unpassend$ Die Suche nach einer Absicht des Künstlers und die Unterstellung einer intendierten Bildwirkung passiert dann ganz leicht, wenn die zur Verfügung stehenden Kategorien und Begriffe abgleiten. Der Moment, in dem solche Fragen auftauchen, ist prekär und Voraussetzung für Bildung. Die Lücke, die durch Fragen markiert wird, 86

kann auf ganz unterschiedliche Weise angegangen werden. Anders als in der Zeit, als Bilder noch in erkennbaren Funktionszusammenhängen von Kirche und Staat standen, der oder die Produzenten auftragsgemäß handelten, wird mit der Unterstellung eines künstlerischen Subjektes, welche hinter einem Bild einen individuellen Urheber vermutet, dieses selber zu einer der Eigenheiten des Bildes. Man könnte spekulieren, dass zu Beginn der perspektivischen Zeichnung und Malerei (u.a. Masaccio, Leonardo, Dürer) der damit auch verbundene Illusionismus – als wenn es ein Blick aus dem Fenster wäre – den Blick in eine Falle gehen lassen wollte. Die Grube, in die der Blick dann fiel, hieß: Man sehe etwas hier, wie an einem anderen Ort. Und: der Künstlerhandwerker ist in der Lage, einen naturidentischen Seheindruck zu erzeugen. Das könnte man für eine Bedienung von Allmachtsphantasien halten. Jedenfalls bringen solche Bilder zum Staunen, damals freilich mehr als heute, darüber, dass so etwas möglich sei. Dieses ist nicht ganz verschwunden, aber nicht mehr wie seinerzeit bestimmend für ein Innehalten vor Bildern, die im Zusammenhang mit Kunst auftauchen. Mit der neuzeitlichen, modernen und gegenwärtigen Kunst ändert sich die Erwartung gegenüber Bildern in der Kunst. Das präsentierte Bild, die präsentierte Malerei, die Kunstwerke stehen in keiner Abbildungs- und Täuschungsfunktion, sondern geben etwas von den Forschungs- und Gestaltungsprozessen eines Individuums über dessen Wahrnehmung, dessen Verhältnis zur Welt wieder, und weil dieses nicht in konventionellen Darstellungssystemen operiert, taucht um so eher etwas vom Subjekt des Unbewussten auf, vom Begehren, das über das bekannte Symbolische hinausgeht und in einer je besonderen Weise die Zumutungen veränderter differentieller Strukturen im Symbolischen und des dabei auftauchenden Imaginären formuliert. Die meisten Arbeiten werden erst als Überschreitungen konventionell gewordener Vorstellungen und Entzifferungen auffällig, weniger als unmittelbare Übereinstimmung mit etwas. Damit ist dann auch der Betrachter und dessen Blick als Einschreibung des Subjekts in die Grammatik und die physiologische Seite des Sehens aufgerufen.32 Es wird fast nie über eine identifizierende Einschreibung gelingen, den Suchprozess schnell zu beendigen. In der Folge versucht der Betrachter, das Bild zu komponieren, es zu organisieren und zu haben. »Es [das Subjekt, kjp] versucht, der Darstellung Einhalt zu geben in der Überzeugung, der Punkt zu sein, in dem die ganze geordnete Konstruktion entspringt.«33 Angesichts gegenwärtiger Kunst muss hingegen auch das Relationale der Relationen wahrgenommen werden, auch die Illusion (Umspielung) einer Besitzergreifung, die eine Einbildung wäre. Noch einmal anders: Das, was das individuelle Subjekt zum Bezugspunkt der Konstruktionen macht, nicht das Ergebnis, ist von Bedeutung, sondern wie diese Relation als eine Relation überhaupt entsteht. Die Relation wird zusätzlich zum Objekt 87

der Betrachtung. Das deutet eine vollkommen veränderte Ontologie an, die nicht mehr das Seiende als Beständigsein zum Bezugspunkt nimmt, sondern die bewegliche und flüchtige Beziehung als immer wieder zu (er)findenden (Ur)sprung.

Perspektive$ Ab wann sich diese Herausforderungen für die Produktion und für die Rezeption ändern, ist nicht einfach zu fassen. Die Berücksichtigung des Inbeziehungsetzens selber, des Begehrens als konstitutivem Bestandteil des Bildes, taucht mit der Moderne auf, und von da an scheint es kaum noch möglich, vergangene Kunst anders zu betrachten. Könnte es zunächst naheliegen, alle Kunst, die nach der so genannten naturgetreuen Abbildung verfährt, wie ein distanziertes Objekt zu betrachten, so wird bald deutlich, dass es durch die neu entwickelte Technik und Methode plötzlich möglich wird, gerade über die mögliche Genauigkeit der Abbildung und die Wahl des Sujets, die Frage nach dem Begehren zu Tage treten zu lassen. Georges Didi-Huberman berichtet von einem Schwenk durch eine das Begehren laufen lassende Betrachtung in den Korridoren des Klosters San Marco im Buch über Fra Angelico: »Das Auge sperrt sich gegen Überraschungen des Blicks: es hat sich mit Kategorien gewappnet, die an seiner Stelle über Sehen und Nichtsehen entscheiden, darüber, worauf der Blick gerichtet wird und worauf lieber nicht.«34 Und er berichtet davon, wie seltsame Flecken (pans de peinture),35 die ihn angingen, ihn lehrten, die Relation der Bilder zu den damaligen Betrachtern anders zu entdecken. Abgekürzt: Er entdeckte ein Mysterium, das nicht aufgelöst, nicht gemalt wurde. »Um welches Mysterium handelt es sich? Um das höchste und dunkelste Mysterium der christlichen Zivilisation, um das Mysterium des göttlichen Wortes, das Fleisch wird in der Person Jesu Christi. Kurz: um das Mysterium der Inkarnation.«36 Der Struktur nach ist das auch eine, wenn nicht die zentrale Frage der Bildungstheorie, wie Worte eigentlich Fleisch werden, oder auch Gedanken und Vorstellungen, genauso aber auch umgekehrt, wie sie sozusagen aus dem Fleisch, aus den einzelnen Zellen wieder versammelt und in Worte übersetzt und weitergegeben werden können. Hierzu im Folgenden weitere Notizen.

Überraschung$durch$Genauigkeit$ Nach der Überraschung über die Genauigkeit, über die Freude am Detail kann sehr bald die Frage auftauchen: Was hat den Maler getrieben, diese Sicht festzuhalten, warum hat dieser Künstler, Albrecht Dürer, der ganz wesentlich von Aufträgen lebte, sich so lange mit so etwas Banalem befasst? Was will er damit? Auf den Internetseiten zur Kunstpädagogik der Erich Kästner-Schule in Paderborn steht das in aller Naivität gut getroffen so: »Kann ein Stück Wiese Kunst sein? An einem Frühlingsmorgen im Jahre 1503 ist Albrecht in aller Frühe aufgestanden. Mit ei88

nem Spaten bewaffnet, geht er vor die Tore der Stadt. Die Stadtwachen, die vor den Toren Wache halten, um Nürnberg vor Räubern und unliebsamen Besuchern zu schützen, blicken Dürer erstaunt nach. Als er kurz darauf mit einem Stück ausgestochener Wiese auf seinem Spaten zurückkehrt, schüttelt man den Kopf. Seltsame Ideen hat er manchmal schon, der Herr Dürer! In seinem Atelier legt er das Stück Erde vorsichtig auf einen Tisch [...].«37 Mit dem Kopfschütteln der Wächter, die das stellvertretend für die heutigen Schüler tun sollen, wird Widerstand metaphorisiert. Mit dieser Körperbewegung wird etwas vom Übergang ins Fleisch thema- Abb. 12 Albrecht Dürer: Das große Rasentisiert. Lacan beschreibt die daraus sich stück. 1503. Aquarell und Deckfarben, mit Deckweiß gehöht, auf Karton aufgezogen, ergebende Konstellation: »Bleiben wir 40,8 × 31,5 cm, Albertina Wien. 1 fürs erste im Ungefähren und sagen, dass das Werk die Leute befriedet, die Leute erquickt, indem es ihnen zeigt, dass es andere Leute gibt, die von der Ausbeutung ihres Begehrens leben. Damit es aber zu einer solchen Befriedigung kommt, muss der zweite Umstand hinzutreten, dass ihr Begehren, ihr eigenes Begehren, zu schauen, hier einigermaßen sich befriedet sieht. Das hebt die Seelen, wie man sagt, das heißt, es ermutigt sie ihrerseits zur Entsagung. Sie können nicht übersehen, dass hier etwas von der Funktion anklingt, die ich Blickzähmung nannte.«38 Welchen Blick Dürer gezähmt haben mag, bleibt sein Geheimnis. Erschließen lässt sich aus dem Kontrast zur üblichen Malerei, dass es Dürer um etwas gegangen sein muss und dass es sich insofern um eine Zähmung handelt, indem er die Muße aufbringt, ein solches Stück zu malen, ungewiss, ob das außer ihn noch irgendjemand anders interessieren könnte. War es Übung, war es Experiment, war es eine veränderte Einstellung zur Welt, war es Meditation, was hier Zeit und Raum beanspruchen durfte? Nachträglich lässt sich dann auch erkennen, dass in einem solchen Vorgehen ein Kern des kommerziellen Werts von Kunst benannt werden kann: Die Ausbeutung des Begehrens der Anderen lässt sich das Publikum etwas kosten (und damit braucht es sich selbst nicht in dem Maße dem eigenen Begehren auszusetzen).

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Zähmung,$Entsagung$ Das ist nun polyvalent. Entsagung erinnert an religiöse Zusammenhänge – Entsagst du dem Satan und all seinen Werken? oder der fleischlichen Lust? – Entsagung (und auch das hier im Französischen gebrauchte Wort renoncement) findet sich im Taufritus: »Der Priester wendet den Täufling nach Westen, den Ort des Sonnenunterganges und der Finsternis, lässt ihn abwehrend die Hände erheben – ein Schwurgestus, der in der Antike die Lösung einer eingegangenen Bindung begleitete – und fragt ihn dreimal: ›Entsagst du dem Satan und all seinen Werken und all seinen Engeln (= Dämonen) und all seinem Dienst und seinem ganzen Pomp?‹ Das griechische Wort ›entsagen‹ entstammt der militärischen Fachsprache und bedeutet die förmliche Ausgliederung (Apotaxis) aus der Dienstordnung. Mit ›Pomp‹ ist der heidnische Kult gemeint: Zirkusspiele, obszönes Theater, ausschweifende Feste, Pferderennen, kurz: ›lauter Dinge, die der Teufel in dieser Welt anstiftet, um die Seelen der Menschen unter dem Schein von Vergnügungen ins Verderben zu stürzen‹ (Theodor von Mopsuestia).«39 Hier ist die Rede von einer Verrückung, eines Austrittes aus einer Ordnung, einer Entbindung, die Dämonen des Kurzschlusses, der schnellen Lust, der Verschwendung, der unmittelbaren Befriedigung und der Verzweckung werden beiseite geschoben. Zähmung macht aus Natur, einer vorgegebenen Ordnung, eine Ausrichtung. Es kann auch heißen, dass damit auf eine unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und die Antwort auf einen Anspruch verzichtet wird.40

Liebhaber$ Sicher führt der Künstler auch immer etwas vor, um dessentwillen er bewundert sein möchte, aber das ist meist nicht im Vordergrund, sondern es geht um die Ausrichtung und vielleicht den Wunsch, dass der Betrachter in der Ausrichtung folgen möge, um die Einsamkeit zu überwinden.41 Es geht nur ausnahmsweise darum, dass das Bild zum Stellvertreter, zu einer Maskerade, einem Paravent für den Künstler, der dahinter steckt, wird. Ein Verhältnis zum Blick des Liebhabers (amateur) wird gesucht. Das könnte Metapher für die angestrebte Bezugnahme sein. Aber es geht dabei um mehr. Die erotische Bezugnahme ist der Köder.42 Der Künstler, das Bild, der Betrachter suchen nicht nach einem Verhältnis zu etwas genau Bestimmbaren, sondern zu einem Verhältnis überhaupt, flüchtig der Bezug zum Blick des Liebhabers.43 Aber 90

Abb. 13 René Burri: Hibou de Picasso. 1957. Photo, noir et blanc. Villa California, France. Published by Magnum Photos et Nouvelles Images Sa. Editeurs 1986. 10,5 x 14,8 cm.

diese Liebenden sind getrennt; ihr Gemeinschaftliches besteht in der Teilhaberschaft an der Grenze, an einer oder mehreren Differenzen, Relationen, nicht einzelnen Besitztümern, Seienden. Daraus entsteht ein gemeinsames (topologisches) Territorium, in dem immer wieder die Differenzen, die Andersheit artikuliert werden. Liebe ist Selbstüberschreitung eines Subjekts auf ein anderes Subjekt, dessen Andersheit es auch verletzt,44 schreibt Marcus Steinweg.

Verletzung$ Verletzt wird in der Liebe durch Grenzüberschreitung, Transgression oder auch Übertragung. Lacan spricht davon, dass die Übertragung eine sei, also dass methodisch psychoanalytisch nur mit zweifelhaftem Nutzen zwischen Übertragung und Gegenübertragung zu unterscheiden sei. Streng genommen heißt das, dass es in der Übertragung nur ein Subjekt des Unbewussten gibt, aber zwei Individuen. Es ließe sich nun behaupten, dass genau diese Struktur vor einem Bild eher erfahrbar wird als im Alltag, anders als in einer Bildungseinrichtung. Es wird eine topo- und tempologische Struktur aufgebaut, die die Chance birgt, die Übertragung auf ihre Altlasten hin zu befragen (oder aus der Perspektive des Künstler) befragen zu lassen. Vor dem Bild, wie in der Übertragung, entsteht Reibung, Abstoßung, Wärme, Angst, Lust und eben Widerstand (der kann gegen eine Trennung aber auch gegen die Übereinstimmung gerichtet sein). Man kann nicht eins bleiben, kann aber auch nicht darauf verzichten, in einen Stoffwechselprozess einzutreten. Hier werden die aus der Erfahrung destillierten Wege, Kanäle, Modi des Filterns sowie des Urteilens wirksam, und das zuweilen blitzschnell und unbewusst. Widerstände, die zu eingeübten Abwehren gerinnen, verhindern den Austausch, verhärten die Widerstände und lassen Neubildungen nicht zu, es sei denn als Bestätigung der alten Einbildungen. Entweder bleibt ein Bild gleichgültig oder der Betrachter bricht in eine Übertragung auf. Gegen die Gefahr der Grenzenlosigkeit werden Waffen eingesetzt als Schutz, als Drohung, als Machtmittel, als Instrumente zur Gewaltanwendung, zur Verletzung, zur Übertretung der Integrität des Anderen, der Eigenlogik des Bildes. Eine unarmierte Auseinandersetzung einzugehen, sich auf einer symbolischen und imaginären Ebene herausfordern zu lassen oder nicht, kann eine Frage der Risikofreude sein, der Faulheit, aber auch der Klugheit. Niemand kann jemand anderen verpflichten, etwas Bestimmtes zu begehren, höchstens dazu verführen. Das Verletzende der Beziehungsaufnahme, der Formulierung eines Begehrens vor einem Bild liegt darin, dass man sich ins Verhältnis gesetzt wahrnimmt, also auch versetzt, verschoben, vielleicht verdichtet, bewegt. Dabei beginnt etwas Unvorhersehbares, fast Chaotisches zu wirken. Man ist durch einen ersehnten und doch nicht genau zu bestimmenden Blick infrage gestellt. Es wird eine Frage ge91

stellt, ungewiss, wohin die Beantwortung führt. Lässt sich etwas sagen? Welche Wirkung wird dies haben? Oft gibt es dabei den Moment, wo man noch nicht spürt, dass eine Artikulation erfordert ist. Diesen Moment könnte man Genuss nennen. Diesen Moment versucht man vielleicht zu dehnen und auszuhalten oder gewaltsam dabei zu bleiben, z.B. durch Schweigen vor dem Bild, ausgegeben als adäquate Möglichkeit, diesem gerecht zu werden. In Identifikation mit dem Künstler wird Goethes, allerdings auf Dichtung bezogener, Imperativ als verballhornter Spruch genutzt: Bilde, Künstler! Rede nicht!45 Der Betrachter erlebt sich selber als Künstler und redet auch nicht: Nur wenn der Betrachter nicht über Kunst redet, ist er dem Künstler nahe, unmittelbar, eine erschlichene Identifikation. Nicht wenig gewalttätig und bewaffnet, kommt harmlos daher und umgeht (verächtlich) die diskursive Herausforderung. – Natürlich kann es gut sein, nicht direkt drauflos zu plappern und sich schweigend dem Bild auszusetzen.

Sieh$das!$ »Der Maler gibt dem, der sich vor sein Bild stellt, etwas, das für einen Teil der Malerei wenigstens in der Formel zusammenzufassen wäre – »Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!«46 Konfrontativ setzt der Künstler etwas vor. Nicht wenig aggressiv. Nur Helden setzen sich dem ›unbewaffnet‹ aus. Es ist der Moment des Auftauchens von Phantasmen als Schutz, Artikulationshilfe, aber auch Verstellung. Nach Lacan nimmt der Künstler an, dass es Menschen gebe, die sehen wollen, überhaupt sehen wollen, nicht etwas Bestimmtes. Vom Betrachter her gesehen, wäre die produktive Unterstellung: Künstler haben ein Moment von Wissen, das gut für den Betrachter ist. Das sei das Ergebnis künstlerischer Forschung. Einfach das wollen sie sehen, ein unbestimmtes sujet. Das wäre dann doppelt zu sehen: im Bild, als nicht repräsentierender Gegenstand, als nicht direkt erkennbares Thema oder Sinn und als sujet, Subjekt des Unbewussten, als ein individuelles Subjekt, das nichts Bestimmtes will oder wollen muss.

Sich$sehen$sehen$ Der Künstler kann dem Wunsch oder auch dem Anspruch, sich sehen sehen zu wollen, nicht wirklich entsprechen. Aber einige haben versucht, dem nahe zu kommen, das Sehen sehen zu lassen, zu sehen zu geben, dabei den Blick als Begehren einzuklammern. Man denke nur an Malewitsch, an Rothko, an Newman, an Pollock. Vielleicht wollen dies auch Com&Com in ihrem Film The Big One von 2005.47 Wir kennen auch Werke, die sich diesem Problem nähern durch etwas, das wie ein Gegenstand, im Sinne von sujet, erscheint durch Sinnkonglomerate (u.a. Stillleben von Cézanne), die man meint zu kennen, deren Zusammenstellung aber die 92

schließende Sinnproduktion ausrasten lassen. Sie zielen dann weniger auf die physisch erlebbare Seite des Sehens beim Beginn der Betrachtung eines Werkes als vielmehr auf die Unterscheidungsfunktion des Sehens, die als solche immer nur momenthaft bemerkt werden kann. Beispiele hierfür wären zu finden bei Claes Oldenburg.48 Diese Unterscheidung wird zum großen Teil nach dem Muster bekannt – unbekannt, zu bejahen – zu verneinen getroffen. Das gelingt bei kaum einer Arbeit von Sigmar Polke: Irgendwie – und damit spielt Polke – erwischt den Betrachter immer der Wunsch nach Gewissheit, nach einer, wenn auch vorläufigen Beruhigung getroffen vom Blick des Bildes. Dieser Wunsch ist eine besondere Form von Fluchtpunkt aus der Ungewissheit in die Gewissheit, die man auch als Wissen im Perfekt bezeichnen könnte, das vorbei ist, abgeschlossen, das man dann wieder knacken müsste, damit es jetzt gilt. Die andere Möglichkeit wäre ein sich Einlassen (déposer les armes). So auch der Wechsel im Bild Polkes von der Oberfläche, deren Kante in der Mitte eine Tiefe freigibt, währenddessen die spiegelverkehrte Schrift des sich spiegelnden Wunsches unbeeindruckt davon ist. Die geometrische Konstruktion hält beide Bildteile zusammen, und es scheint gemalt die Konstruktion des Keilrahmens durch, der die Leinwand aufspannt. So ist es. Freud schreibt die zugrundeliegende Bewegung so: »Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses [gemeint ist das Befriedigungserlebnis, das den inneren Reiz aufhebt, die Unruhe nimmt, Gewissheit, bzw. Befriedigung verspricht, kjp] ist das Erscheinen einer gewissen Wahrnehmung (der Nahrung im Beispiel), deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dies Bedürfnis ein nächstesmal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen [der erscheint angesichts von Kunst plötzlich außen unter der Frage: Könnte es mein Wunsch sein? – Häufig in der Äußerung: Das kann ich doch auch!, kjp]; das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunscherfüllung [...]. Es hindert uns nichts, einen primitiven Zustand des psychischen Apparats anzunehmen, in dem dieser Weg wirklich so begangen wird, das Wünschen also in Halluzinieren ausläuft. Diese erste psychische Tätigkeit zielt also auf eine Wahrnehmungsidentität, nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit der Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist.«49

Das Sehen sehen zu wollen, schließt in sich verschiedene Momente zusammen: Kontrolle und Sicherheit, Ausschluss von Umwegen, Vermeidung des Kontaktes zum Gesehenen, einen Wunsch nach Unmittelbarkeit, gemischt mit einer Furcht davor. Denn es geht um eine Annäherung an das Reale dabei, etwas, das weder mit Imaginationen noch Symbolischem verbunden ist. Bezogen auf die Wahrnehmung ist das un(be)greifbare Reale ihr Kern, auch das Treibende. Dieser Kern lässt einen Widerstand entstehen. Dieser bildet und ist gleichsam traumatisch, eine Aufstörung 93

aus der Geschlossenheit (im Beispiel Freuds der Hunger, die Verweisung auf etwas Anderes), ein Einfall, etwas Eindringendes, z.B. eine Halluzination.

Abb. 14 Sigmar Polke: Die Dinge sehen wie sie sind. 1991. Kunstharz auf Lack auf Polyester. 300 x 225 cm. Städtische Galerie Karlsruhe. Sammlung Garnatz. Anlässlich der Ausstellung Alibis. Sigmar Polke 14.03.- 05.07.2015. Museum Ludwig, Köln. (Photo kjp).

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Es hinterließ eine Narbe, eine Spur, eine Differenz, die selber nicht nur als logische Funktion zu verstehen ist, sondern materialiter performiert wird. Dieses Reale ist trotz aller Relationalität, trotz aller Performanz ein unverrückbares Partikel, das Bindungen in Gang bringt. Es ist etwas, das der Verfügung entzogen ist. Es ist die Not, die gewendet werden muss. Lacan legt die Vermutung nahe, dass es das Trauma ist, was erst eine Ahnung aufkommen lässt davon, dass es eine Gestalt gibt, etwas wie vorläufig auch immer Geschlossenes. Dieser Einfall – nennen wir es so, es könnte aber auch ein Unfall sein, irgendetwas dazwischen – erzeugt einen Widerstand, setzt eine Grenze, eine Empfindlichkeit. Hier ist der Ursprung von Bildung. Lacan liest Freud wieder: »Der Kern ist als ein Reales zu bezeichnen – wobei real bedeutet, daß Wahrnehmungsidentität seine Regel ist. Er besteht letztlich, worauf Freud hinweist, in einer Art Vorwegnahme, die uns durch ein sie authentifizierendes Gefühl von Realität die Gewissheit gibt, daß wir in der Wahrnehmung sind. Und was sollte dies bedeuten, wenn nicht – daß wir es, auf der Seite des Subjekts, mit einem Erwachen zu tun haben.«50 Mit der Bewegung auf das Reale, auf das Unvermittelte hin, kommt es zu einem etwas schreckhaften Erwachen, plötzlich. Und es entsteht die Lust und Anforderung der oben kurz skizzierten Diskrimination und Urteilsbildung.

Unheimlich$ Bezogen auf die Malerei schreibt Lacan: Der Künstler gebe etwas zu sehen, nämlich das da. Er führt eine Differenz zum alltäglichen Sehen ein, das nach anderen Gesetzen organisiert ist als das, was man so sehen kann: Es erscheint als Thematisierung eines Schirms, einer Schnittstelle, einer Leinwand, einer Skulptur, ganz allgemein eines Tableaus. Die Umgrenzung wird zum Anlass der Reflexion. Robert Rauschenberg führt das vor. Das selbstbezügliche Sehen, also das, was strikt in Verbindung steht mit der Wunscherfüllung und Wahrnehmungsidentität »kenne ich schon«, »ist gut«, wird irritiert und ein weit unangenehmeres »kenne ich schon« taucht da auf, wo es nicht sein sollte. Das ist die Erinnerung, wenn man es denn überhaupt so bezeichnen kann, an den Zustand kurz vor dem ersten Erwachen, der sich erst aus diesem heraus, also nachträglich identifizieren ließ, der eine Sogwirkung entfaltet (Wiederholungszwang), der die ganze, natürlich imaginär ergänzte, Gestalt des Bildes vom eigenen Ich bedroht. Das ist im Freud’schen Sinne als unheimlich zu bezeichnen. Nun ist das Unheimliche ja das, was plötzlich, zuvor schleichend, auftritt und auf Altbekanntes, Vertrautes zurückgeht.51 In diesem bildenden Prozess geht es um eine andere Einstellung des Blicks und des Hörens vor allem auf etwas, das schon bekannt ist, das man aber nie formuliert hat oder formulieren wollte. Wenn man auch unterstellen darf, dass der an Kunst Interessierte genau dieses Umspringen 95

wünscht, ist es doch überraschend und schreckhaft. Nicht unbedingt in einem skandalösen Sinn einer großartigen Aktion, vielleicht nur eine kleine Verstörung, von der man ahnt, das sie weiter geht als dasjenige, was man im Moment realisieren, das heißt hier »sprachlich und gedanklich fassen« könnte. Aus dem Unheimlichen heraus blickt etwas; es gibt da etwas, das denjenigen, dem Unheimliches geschieht, etwas angeht. Im Blick, im Unterschied zum Sehen, kommt etwas entgegen, wie aus anderen Räumen oder Zeiten, vergangenen oder zukünftigen, jenseits einer konkreten physiologischen Ausstattung des Sehens. Wir fühlen uns erblickt, auch wenn kein Augenpaar zu sehen ist, von Gegenständen, von Personen, die wir nicht sehen, von Malerei als solcher. – Im Französischen steht hier regard bzw. regarder. Blick ist zwar übersetzungstechnisch die korrekte Übersetzung von regard. Gleichwohl ruft regard noch etwas anderes auf. Garder heißt hüten, bewachen, einzäunen. Regarder ist Verstärkung, Wiederholung und in der reflexiven Form, etwa in ça me regard, heißt es auch es geht mich etwas an; es hat einen Bezug zu mir; hat mich in der Hut, im Hut. Regard hat – wie erwähnt – ein anderes Konnotationsfeld als das deutsche Wort Blick. Es hat einen Bezug zu mir, hat mich in der Hut, im Hut. Weiter übertragen könnte dieses Erfasstwerden als Frage heißen: Was willst Du mir? Oder: Was willst Du, das ich für Dich bin? – Diese unerwartete Bezugsaufnahme, die nur zustande kommt, wenn sie erinnert, also schon ins Innere gelangt ist, bevor wir es wahrnehmen wollten, ist unheimlich. Es erinnert an die symbolische Kastration, wir erfahren, dass wir uns nicht ganz haben, dass es unverfügbare Differenzen und damit Grenzen gibt, deren Beseitigung nicht in unserer Macht steht, dass wir als Subjekt gespalten sind, eine Schließung der Lücke zwischen sprechendem Ich und der imaginären Vorstellung nicht möglich ist. Im günstigen Fall kommen wir aus dem Schrecken des Unheimlichen heraus durch ein Begehren. Reaktion auf einen Verlust, der uns treibt, der Lust macht und etwas, das zu viel ist und umgearbeitet werden muss. In der Überraschung fehlt uns eine sichere Koordination. Wenn wir da nichts artikulieren können, dann droht uns die Gefahr, mit dem blanken Realen konfrontiert zu werden, ohne Möglichkeit der Einordnung, ohne Entwicklung von Vorstellungen und mit der Gefahr, aus den uns tragenden Differenzen heraus zu fallen, aus dem sozialen Band des Diskurses. – Wenn das kein Grund ist, sich nicht mit Kunst zu befassen? Wir brauchen Schirme, Schnittstellen, um unseren wohl narzisstisch zu nennenden Projektionen eine Darstellung geben zu können. Daher die Bereitschaft, sich erblickt zu fühlen. Das dargebotene Bild gibt den Augen, den gefräßigen, Futter. Ein Angebot. Wird es genommen, kommt es zur Sättigung, hält aber nicht lange vor. Erst durchs Umschalten, Denken, Reden, Reflektieren, Mitteilen fungiert das Bild 96

wie eine (Augen-)Weide oder nur ein Rasenstück (Dürer), auf der das Sehen verweilen kann; dadurch hat man die Chance, etwas von jenem unbewussten Subjekt zu erahnen, ohne genaue Grenzbestimmung: Das Subjekt des Künstlerindividuums und das des Betrachters werden singulär für einen Moment plural.52

Abb. 15 Robert Rauschenberg: Ohne Titel. 1955.

Betrachter$vor$dem$Kunstwerk$ Zurück zur imaginierten Situation eines Betrachters vor einem Kunstwerk. Ich bewege mich weiter in Vermutungen und natürlich, wie es zum Thema gehört, Spekulationen. Beim Sehen, beim Betrachten von Kunst geht es vielleicht darum, was Lacan an Freud als Errungenschaft hervorhebt, der psychischen Realität einen Körper zu geben, ohne sie zu substantifizieren.53 Die psychische Realität – etwas vornehmlich im Inneren eines Individuums Vorgestelltes, Wünsche,54 Phantasien, Konflikte – bekommt dabei eine äußerliche Existenz, einen Körper. Von dieser Realisierung könnte man gleich vermuten, auch andere könnten diese sehen, damit auch den Betrachter, in seiner singulären Existenz. Scham kann hier auftauchen (die Waffen werden gegen sich selbst gewendet), aber auch Unverschämtheit (die Waffen werden gegen das Bild oder gegen andere Betrachter gewendet). 97

Was liegt dann näher, als einen Widerstand aufzubauen, zu leugnen, etwas mit dieser spezifischen Kunst zu tun haben zu wollen oder das, was ins individuelle Auge gefallen ist, ganz schnell so zu artikulieren, dass es als überindividuelle Erscheinung eines Zustandes der Welt daherkommt. Solche Äußerungen sind dann oft von Aggressivität der Identifizierung gekennzeichnet (die Waffen der Vorurteile, einer kruden Objektivierung). Durch Isolation einzelner Irritationen des Bildes kann Ruhe eintreten: Kennen wir schon. – Hatten wir schon. – Ist nichts anderes als ... – Verstehe ich nicht. – Das ist genau ein Bild, das Herrschaft stabilisiert, das frauenfeindlich ist, das in der Tradition von xy steht, nichts anderes als ein typisch dadaistisches Gemälde ist, das Dalí im Alter von ... gemalt hat, auf dem Hintergrund der gegenwärtigen Kunst vollkommen irrelevant ist, das mich in meinem Innersten ergreift, das können Sie mir glauben. Die Waffen werden nicht niedergelegt, die Ergreifende des Blicks durch eine Rationalisierung abgewehrt. Freud schreibt in seiner ästhetischen Theorie, dem Witzbuch: »Sie [die subjektive Bedingtheit des Witzes, kjp] besagt, dass nur das ein Witz ist, was ich als einen Witz gelten lasse. Was für mich ein Witz ist, kann für einen anderen bloß eine komische Geschichte sein. Gestattet aber ein Witz diesen Zweifel, so kann er nur daher rühren, dass er eine Schauseite, eine [...] Fassade hat, an welcher sich der Blick des einen ersättigt, während ein anderer versuchen kann, hinter dieselbe zu spähen. Der Verdacht darf auch rege werden, dass diese Fassade dazu bestimmt ist, den prüfenden Blick zu blenden, dass solche Geschichten also etwas zu verbergen haben.«55

Psychose$ In der psychoanalytischen Kur kann sich zuweilen eine Ahnung von der Anforderung, die im Blick liegt, ergeben, im Moment seiner Wahrnehmung: In meiner psychoanalytischen Arbeit mit werdenden Müttern kam es nach der Geburt einige Male zu psychotischen Schüben. Eine Mutter berichtete: »Ehhm, das Kind, ach ja Emil, lag auf der Wickelkommode und guckte. Es guckt einfach. Es guckt mich an oder auch nur in meine Richtung. Ich war wie erstarrt. Ich wusste nicht, was das soll. Was er mir sagen will, was ich jetzt machen sollte. Ich war sowieso schon so schlapp. Es hat wohl mein entsetztes Gesicht gesehen, sein Gesicht verzog sich und dann schrie er, es schrie, es hörte nicht mehr auf. Und dann fing ich am ganzen Körper an zu zittern, dann schrie ich auch. Mein Mann kam nach Hause und da hatte ich den Eindruck, er will mir jetzt das Kind wegnehmen, zusammen mit dem Arzt, den er angerufen hatte.« Noch immer gingen die Zeiten durcheinander, das Kind taucht als »er« und »es« auf. Ihr war zunächst der Name des Kindes nicht eingefallen. Der Name ist ein Merkmal bei der Anerkennung des Anderen.

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Wenn etwas anfängt, unseren Blick zu provozieren, setzt auch schon das Gefühl des Befremdlichen ein.56 August Ruhs schreibt als Variation dazu: »Denn der Blick ist ein primärer Träger des Begehrens. Zunächst vom Anderen herkommend, trifft sich in ihm das Begehren nach Anerkennung mit der Anerkennung des Begehrens.«57 Findet sich keine Möglichkeit des Erkennens, des im wörtlichen Sinn Beliebens, keine freie Stelle, wo das Ankommende, wenn auch nur vorläufig gelagert werden könnte, geschieht angesichts von Werken moderner und gegenwärtiger Kunst dem Betrachter etwas, das man so beschreiben könnte: Es kommt zu einem »Nur-Sehen«,58 einem Einbruch von etwas Realem. Die Augen weiten sich immer mehr. Dieses Nur-Sehen ist nicht mehr durch alltägliche Koordinaten organisiert. »Was hier passiert, ist eine Auflösung des Rahmens, ein Zerfließen des Raums und ein Zerbrechen des schützenden Schirms; was hier passiert, ist schließlich eine Physik akustischen und optischen Materials, mit dem eine Ästhetik der Darstellung in die ›Nacht der Welt‹ (Hegel) versinkt.«59

Beobachtung$ Im Wachzustand, im Zustand des Bewusstseins, etwa einer konzentrierten wissenschaftlichen Tätigkeit, einer absichtsvoll eingeleiteten und auf bestimmte Ergebnisse zielenden Kunstvermittlung, ist der Blick zumindest bei der Darstellung der Ergebnisse, wenn nicht schon bei ihrer Genese elidiert. Genau das ist die Absicht. Das individuelle Subjekt, zumal das unbewusste, hat zu verschwinden. Der Widerstand des Kunstwerks wird über den methodologischen Filter plötzlich zu etwas Bekanntem, das man abarbeiten kann. Die Reste des bisher nicht Sagbaren, das oft Anlass für den Künstler war, können so leicht verschwinden. Wie auch immer ist ein Prozess der Verallgemeinerung notwendig, um die Erfindungen der Kunst in den Stoffwechsel der Gesellschaft einzubringen. Daran ist Kunstvermittlung und Kunstpädagogik beteiligt. Es wird zum Balancespiel in einer Gruppe in einer öffentlichen oder halböffentlichen Situation, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass aus dem Werk des Künstlers ein korrespondierendes Werk wird oder bleibt, ein in seiner spezifischen Widerständigkeit noch Fremdes, auf dem Weg zu Anlagerung an die unterschiedlichen Ausprägungen des Begehrens, die in solchen Konfrontationen sich auch erst ausbilden. Der eine Abhang wäre also eine zu streng wissenschaftliche Befriedung, der andere eine subjektivistische Äußerung als Entladung zuweilen dann auch in Form der Zerstörung. Bei chirurgischen Operationen wird der Blick des Patienten oft so gelenkt oder mit einem Tuch verstellt, dass der Arzt vom Blick nicht erreicht werden kann. Auch der Blick des Arztes wird durch etwas anderes, durch eine andere Aufmerksamkeitsstruktur, etwa durch das Beobachten eines Bildschirms oder eine andere konzentrierende Tätigkeit ersetzt. Dabei geschieht zweierlei: Erstens wird ausgespart, dass irgendetwas anblickt, jemanden als 99

dieses singuläre Individuum angeht und die Identifikationsfreude etwa zu Mitleid(en) führen könnte; zweitens entsteht in diesem Absehen, der Abstraktion also, auch ein Weise von Fremdheit, die mit Abstand bearbeitet werden kann, eine auch produktive Form von Kontrolle, vor den Toren des Individuums. Für einen ähnlichen Zug im Arbeiten des Psychoanalytikers findet Freud die Metapher des Chirurgen.60 Allerdings wird in der Analyse genau die pulsierende und nicht dauernde Aussparung des Blicks zum Gegenstand, etwa die Ambivalenz des Erwartens und des Drohens einer Antwort, der Abhängigkeit und der Autonomie, der Hoffnung und Enttäuschung, der Liebe und des Hasses – in ihren je singulären Erscheinungsformen, wie sie vom Analysanten und vom Analytiker geprägt werden. Das könnte Modellcharakter für den Umgang mit Kunst haben. Bei der intentionalen Betrachtung eines Kunstwerkes wird deutlicher als vielleicht bei anderen Gelegenheiten, dass das Bewusstsein, wie Lacan sich ausdrückt, unheilbar beschränkt ist.61 Das ist eine Kränkung. * Etwa 1955 kaufte Lacan Courbets Bild L’origine du monde (1866). Elisabeth Roudinesco schreibt: »Es handelte sich um ein Gemälde, das in völliger Nacktheit das klaffende Geschlecht einer Frau unmittelbar nach den Konvulsionen der Liebe darstellte.«62 (Sie muss es wissen.) Bei seiner Entstehung wurde es durch eine Holztafel mit einer Landschaft (Kirche im Schnee) bedeckt, die nur dem Zweck diente, das für erschreckend erachtete Erotische dieses Geschlechts im Rohzustand, schreibt Roudinesco weiter, zu tarnen. Sylvia Lacan bat Masson eine neue Tafel herzustellen.

Abb. 16 André Masson: Panneau-masque de l’Origine du monde ou Terre érotique. 1955. Huile sur panneau. 46 x 55 cm. Collection privée. Abb. 17 Gustave Courbet: L’origine du monde. 1866. Öl auf Leinwand, 46 × 55 cm. Musée d’Orsay Paris.

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Nicht nur Roudinesco, sondern ein weiterer Experte schien genaues zu wissen, nämlich dass das Bild eigentlich einen Kopf hatte. Offenbar ließ er sich gerne davon überzeugen.63 Aber, wie das Musée d’Orsay verlauten ließ,64 sprechen alle Überlieferungen und die Untersuchung der Farben, des Pinselstrichs dagegen. Mit Kopf wäre das Bild vielleicht leichter zu ertragen.

Abb. 18 Jean-Jacques Fernier zeigt Photokopien des L’Origine du monde mit dem Porträt des Frauenkopfes, der laut Laboranalysen zu dem skandalträchtigen Bild passe.

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1

Brief von Jacques Derrida an Ilana Salama Ortar 1989. Inzwischen abgedruckt in: Joker amongst others. A conversation about art, transmission and life surrounding. (Hg.) Susanne Gottlob, Ilana Salama Ortar, Robin Cackett. Hamburg 2010, S. 26. »Today I stand riveted before this new series. Riveted before its movement, however, carried away motionlessly in the whirlwind oft he melodic cell (a sort of Zim-Zum that engenders, layer upon layer, upon ist own archive, not its memory, but the archival trace of erasure). – What is extraordinary is that it is neither inscribed nor erased upon the supporting surface, upon the superficies oft he paper. It wells up from the supporting surface itself, from its most intimate seismic tremor.« Übers. von Stephen Wright.

2

Iactare (lat.): aussprechen, prahlen, schleudern, werfen, wegwerfen.

3

Ilana Salama Ortar ist auch Architektin.

4

Vgl. Freud, Sigmund (1925): Notiz über den »Wunderblock«. StA III, S. 363-369.

5

Adorno, Theodor W. (1970): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M., S. 142.

6

Rancière, Jacques (2005): Politik der Bilder. Übers. von Rado Riha. Berlin, S. 18.

7

»Was immer die Fortsetzung der Arbeit stört, ist ein Widerstand.« Freud, Die Traumdeutung. GW II/III, S. 521.

8

Vgl. einen ähnlichen Gedanken zur Kunst: Rancière, Politik der Bilder, S. 20f.

9

Goldschmidt, Georges-Arthur (2006): Freud wartet auf das Wort. Zürich, S. 19.

10 So wie Daniel Paul Schreber schreibt. Siehe: Schreber, Daniel Paul (1973): Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903). (Hg.) Samuel M. Weber. Frankfurt, Berlin, Wien. 11 Goldschmidt, Freud wartet auf das Wort, S. 31. Goldschmidt fährt fort: »Tatsächlich lässt sich hier im Vergleich, von der Notwendigkeit der Übersetzung, die ganze Tragweite der Psychoanalyse ermessen, der zumindest das Verdienst zukommt (wenn sie schon keinen geheilt hat), die Übersetzer aufgeklärt zu haben; die Psychoanalyse nämlich ist eine Übersetzung, die ihrem Wesen nach zum Scheitern verurteilt ist; die enorme Arbeit Freuds hätte keinen Sinn ergeben, wenn sie zu einem Ergebnis geführt hätte –, weil sie dazu da ist, die Verbote und Fehltritte (faux pas/faut pas!) des menschlichen Handelns und vor allem seiner sprachlichen Aktivitäten aufzudecken.« 12 Rancière, Politik der Bilder, S. 22. 13 Vgl. »schnell schieszender lichtstrahl geht zunächst auf die naturerscheinung und ist auch mhd. sehr häufig, nhd. seltner. wir gebrauchen für fulgur nicht mehr das einfache blick, sondern das nahverwandte blitz, LUTHER häuft sie beide: deine pfeile fuhren mit glenzen dahin und deine sphere (l. spere) mit blicken des blitzes. Habac. 4.« Grimm, Jakob; Grimm, Wilhelm (1854-1961): Deutsches Wörterbuch. Leipzig, Bd. 2, S. 113, Sp. 49. 14 Vgl. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 107.

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15 Im gleichen Jahr, zwei Monate vor der hier skizzierten Sitzung des Seminars von Lacan erscheinen Barbara’s Chansons Le bel âge und Regardez le regard des hommes. Im ersten finden sich die Verse: »Mais il fallait bien qu’un jour / Je perde mes charmes / Devant son premier amour / J’ai posé les armes.« Eine 20-jährige Frau und ein ebenso alter Mann begegnen sich. Sie, die Sängerin, verliert die Contenance und streckt die Waffen. – Zur gleichen Zeit erscheint Merleau-Pontys Buch Das Sichtbare und das Unsichtbare. Sartres Arbeit über den Blick im Buch Das Sein und das Nichts (1943) war gut 20 Jahre bekannt. Neun Jahre vorher kaufte Lacan Courbets Arbeit L’origine du monde (1866). 16 Z.B. beim Übertragungswiderstand. 17 Vgl. Pickshaus, Peter Moritz (1988): Kunstzerstörer. Fallstudien: Tatmotive und Psychogramme. Reinbek. 18 Musée d’Orsay, Paris, 14. Oktober 2014-25. Januar 2015. 19 Lacans Konzeption des Blicks weicht seit 1964 von der Sartres ab. Sartre hatte zwar auch schon tendenziell Sehen und Blick getrennt, wenn er schreibt, dass der Blick auch erfolgen kann, »ebensogut gelegentlich eines Raschelns von Zweigen, eines von Stille gefolgten Geräuschs von Schritten«. Sartre, Jean Paul (1962): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Übers. von Justus Streller. Reinbek, S. 344. Lacan hingegen trennt den Blick vom Sehen unter dem Einfluss von Merleau-Ponty und in der Relektüre der Freud’schen Triebkonzeption. 20 Lacan meint Holbeins Bild, das hier (Abb. 9) abgebildet ist. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 95. 21 Vgl. ebd, S. 177. 22 Quinet weist darauf hin, dass Freud in seiner Ausarbeitung des Triebbegriffs, den Trieb grammatikalisch dekonstruiert, indem er ihn in drei Elemente unterteilt: erstens, Aktivität und Passivität; zweitens, Subjekt und Objekt, wie sie Sätze strukturieren; und drittens, die drei Formen des Verbs, aktiv, passiv und reflexiv (übers. KJP). Vgl. ausführlicher: Quinet, Antonio (1995): The Gaze as an Object. In: Feldstein, Richard; Fink, Bruce; Jaanus, Maire (Hg.): Reading Seminar XI. Lacan’s Four Fundamental Concepts od Psychoanalysis, S. 139-147. New York, hier S. 141. – Lacan hat das an Holbeins Bild ausgeführt. Er spricht davon, dass sich »der Blick als solcher […] abzeichnet, in seiner trieblichen Funktion«. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 95. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, da dies an anderen Orten gut nachlesbar ist. Z.B. vgl. Blümle, Claudia; Heiden, Anne, von der (Hg.) (2005): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie. Berlin, S. 36ff. 23 Vgl. Landauer, Karl (1991a): Intelligenz und Dummheit (1939). In: Rothe, HansJoachim (Hg.): Theorie der Affekte und andere Schriften zur Ich-Organisation. S. 109120. Frankfurt a. M.; vgl. Landauer, Karl (1991c): Zur psychosexuellen Genese der

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Dummheit (1929). In: Rothe, Hans-Joachim (Hg.): Theorie der Affekte und andere Schriften zur Ich-Organisation. S. 86-108. Frankfurt a. M.. 24 Vgl. Quinet, The Gaze as an Object. 25 »Ganz anders aber verhält es sich bei Freud, bei dem der Trieb sehr wohl ein Wissen ist, ein Wissen aber, das nicht die geringste Kenntnis mit sich führt, weil es nämlich eingeschrieben ist in einen Diskurs, dessen Subjekt – wie der Nachrichtensklave im antiken Brauch – unter seinem Haar das Kodizill mit seinem Todesurteil trägt und weder Sinn noch Text kennt, noch in welcher Sprache es geschrieben ist, noch schließlich, dass man es auf seine blankgeschabte Haut tätowierte, als es schlief.« Lacan, Jacques (1975): Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. Übers. von Chantal Creusot, Wolfgang Fietkau, Norbert Haas, Hans-Joachim Rheinberger, Samuel M. Weber. In: Haas, Norbert (Hg.): Schriften II, S. 165-230. Olten, S. 178. 26 Freud, Sigmund (1922): Das Medusenhaupt. GW XVII, S. 47. 27 Benvenuto, Sergio (1993/94): De la peinture et de la sculpture: leurs fantasmes fondamentaux. In: Ligeia. Dossiers sur l’art (13/14), S. 39-54, S. 42. 28 Vgl. Modica, Guiseppe (2002): Au-delà du regard de Méduse. In: Burzotta, Luigi (Hg.): Psicanalisi e Cultura oggi. Psychanalyse et Culture aujourd’hui. Rom, S. 375-378, hier S. 376. 29 Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 107. 30 Invidia hat eine lange, eigentlich auch für diesen Kontext reizvolle Geschichte. Ich begnüge mich hier mit einem Hinweis: Spence, Sarah (1996): Texts and the Self in the Twelfth Century. Cambridge, New York, S. 69ff. 31 Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 122f. 32 Bei der modernen und gegenwärtigen Malerei wird ganz deutlich, dass das Bild nicht etwas von einer Sache selbst zur Erscheinung bringt, sondern etwas produziert, das für das Subjekt eine Vorstellung geben soll. Das Bild ist von einem Subjekt für ein Subjekt produziert. Vgl. hierzu Vinciguerra, Rose-Pauline (2005): Das Gemälde, der Blick und das Phantasma. In: Blümle et al (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung, S. 45-50, hier S. 45. 33 Ebd. 34 Didi-Huberman, Georges (1995): Fra Angelico: Unähnlichkeit und Figuration. Übers. von Andreas Knop. München, S. 9. 35 Das deutlich zu machen, bedürfte es einer ausführlichen Würdigung der Arbeit Georges Didi-Huberman’s, auf die hier nur hingewiesen werden kann; ebenso bedürfte es Farbabbildungen, die sich aber z.B. hier finden lassen: http://revel.unice.fr/oxymoron/?id= 3106 / 27.04.15. 36 Didi-Huberman, Fra Angelico, S. 11. 37 Vgl. http://www.eks-pb.de/a_bis_zett/kunstseiten/duerer.htm 26.3.2006.

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38 Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 118. 39 Steffen, Uwe (1986): Taufe. Ursprung und Sinn des christlichen Einweihungsritus. Stuttgart, S. 17. 40 Es ließen sich hier Erörterungen zur Sublimierung anschließen, statt dessen sei verwiesen auf: Schindler, Regula (2008): Es muss getan werden. Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud – Lacan, 22 (69/70), S. 49-65. 41 »Man könnte glauben, der Maler habe es wie der Schauspieler auf ein Hast-du-michgesehen abgesehen, er wünsche, betrachtet zu werden. Ich glaube es nicht.« Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 107. 42 Ebd. 43 Das gilt auch für die Liebhaberin. 44 Die letzten Sätze sind Paraphrase zu Steinweg, Marcus (2004): Subjektsingularitäten. Berlin 2004, S. 134. 45 Die Fortsetzung macht das sinnwidrige Zitieren deutlich: »Nur ein Hauch sei dein Gedicht«. Als Motto dem Abschnitt »Kunst« in den gesammelten Gedichten vorangestellt. Goethe, Johann Wolfgang (1827): Gedichte (Ausgabe letzter Hand). Stuttgart, Tübingen. 46 Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 107. 47 Vgl. http://www.com-com.ch/de/archive/detail/18 / 04.05.15. 48 Etwa: Skulptur Giant Pool Balls (Münster, 1977); Soft Viola, 2002 Claes Oldenburg and Coosje van Bruggen. 49 Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung. GW II/III, S. 571. 50 Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 74. 51 Vgl. Freud, Sigmund (1919): Das Unheimliche. StA IV, S. 244. 52 In Anspielung auf Nancy, Jean-Luc (2004): singulär plural sein, Übers. Müller-Schöll, Ulrich, Berlin. 53 Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 79. 54 »Wie Ödipus leben wir in Unwissenheit der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufgenötigt hat, und nach deren Enthüllung möchten wir wohl alle den Blick abwenden von den Szenen unserer Kindheit.« Freud, Die Traumdeutung, GW II/III, S. 270. 55 Freud, Sigmund (1905): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. GW VI, S. 116. 56 Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 81. 57 Ruhs, August (2003): Der Vorhang des Parrhasios. Schriften zur Kulturtheorie der Psychoanalyse. Wien, S. 179. 58 Vgl. hierzu Vogl, Joseph (2005): Lovebirds. In: Blümle, Claudia et al (Hg), Blickzähmung und Augentäuschung, S. 51-64, hier S. 57. 59 Ebd.

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60 »Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen, sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid bei Seite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: Die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen. Für den Psychoanalytiker wird unter den heute waltenden Umständen eine Affektstrebung am gefährlichsten, der therapeutische Ehrgeiz, mit seinem neuen und viel angefochtenem Mittel etwas zu leisten, was überzeugend auf andere wirken kann. Damit bringt er nicht nur sich selbst in eine für die Arbeit ungünstige Verfassung, er setzt sich auch wehrlos gewissen Widerständen des Patienten aus, von dessen Kräftespiel die Genesung in erster Linie abhängt. Die Rechtfertigung dieser vom Analytiker zu fordernden Gefühlskälte liegt darin, daß sie für beide Teile die vorteilhaftesten Bedingungen schafft, für den Arzt die wünschenswerte Schonung seines eigenen Affektlebens, für den Kranken das größte Ausmaß von Hilfeleistung, das uns heute möglich ist. Ein alter Chirurg hatte zu seinem Wahlspruch die Worte genommen: Je le pansai, Dieu le guérit. Mit etwas Ähnlichem sollte sich der Analytiker zufrieden geben.« Freud, Sigmund (1913): Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, GW VIII, S. 380f. 61 Vgl. Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 89. 62 Roudinesco, Elisabeth (1996): Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Übers. von Hans-Dieter Gondek. Köln, S. 282. 63 Der Courbet-Experte Jean-Jacques Fernier glaubt, den passenden Kopf zur entblößten Scham des berühmten Gemäldes L’Origine du monde von Gustave Courbet (1819 bis 1877) gefunden zu haben. In der Wochenzeitung Paris Match erklärte Jean-Jacques Fernier, Autor des Werkverzeichnisses, das Bild sei in zwei Teile geschnitten worden. Laboranalysen bewiesen, dass das von ihm gefundene Porträt den Kopf der Frau zeige, der zu dem skandalträchtigen Gemälde passe, das im Musée d’Orsay hängt. Farbwerte, Format und Signatur seien identisch. Siehe http://www.art-magazin.de/kunst/58934/ gustave_courbet_paris / 05.05.15. 64 Siehe L’Origine du monde: le poids des mots, le choc du faux. LE MONDE | 08.02.2013 à 12h44 Mis à jour le 08.02.2013 à 20h46 |En savoir plus sur http://www.lemonde.fr/ culture/article/2013/02/08/le-poids-des-mots-le-choc-du-faux_1829215_3246.html#o2iT aBAflhj6uquX.99 / 29.06.15 und Le Figaro culture. Affaire Courbet: la réfutation officielle d'Orsay par Eric Bietry-Rivierre Mis à jour le 08/02/2013 à 19:06 Publié le 08/02/2013 à 19:00. http://www.lefigaro.fr/arts-expositions/2013/02/08/03015-20130208 ARTFIG00614-affaire-courbet-la-refutation-officielle-d-orsay.php / 29.06.15.

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6"Nachträglich"unvorhersehbar""

»Das war unvorhersehbar«, sagt man, wenn etwas überraschend eingetreten ist. Man konnte das, was da passierte, nicht in der Verlängerung dessen, was da schon lief, ansiedeln. Es zeigte sich nicht am Erwartungshorizont. Das kann eine böse Überraschung sein, aber auch eine gute, eine glückliche Fügung. Unvorhersehbar ist etwas nur nachträglich – wenn vielleicht auch nur für einen Moment. Darauf kann man unterschiedlich reagieren: empört, enttäuscht, freudig, erleichtert, beleidigt, vorwurfsvoll, mit Neustart oder Resignation. Unvorhersehbares richtet anders aus. Auch wenn es eine freudige Überraschung war, ist es eine Art Enttäuschung für den planenden Blick in die Zukunft. Insofern kann man sagen: Das Unvorhergesehene hat niemand gerne, es sei denn man hat sich gelangweilt, hat Überdruss, war gefesselt, eingefahren, festgelegt von anderen, von der Situation, von der eigenen Beschränktheit, war in einer Zwangslage, in Not. In einer Situation, in der alles nur besser werden konnte. Das Unvorhersehbare wird manchmal etwas harmlos wie ein limitiertes Risiko konzipiert. Das passiert meist in demselben Kontext, in dem der Bruch, das Fragment, das Unmögliche, der Prozess an und durch sich einem Resultat vorgezogen wird. Das Unvorhersehbare wird dann ausschließlich wie eine glückliche Fügung gesehen. Manchmal, meist sonntags, wird das Unvorhersehbare in Reinkultur wegen einer starken sinnlichen Wahrnehmung, einer Sensation gesucht, wie das aus der Mode gekommene, mit Lebens- und Unfallversicherungen bandagierte Bungee-Springen. Das ist dann eher das geplante Unvorhergesehene, das kitzelnde Risiko. Das Unvorhergesehene ist in harmloser Form manchmal gewünscht, es kann aber auch heftiger ganz unbekannt und fremd sein oder leider auch bekannt; es sollte nur nicht an dieser Stelle oder zu diesem Zeitpunkt auftauchen. Gerade wenn es sich als allzu bekannt und unangenehm herausstellt,1 ist dann oft der erste Impuls zu versuchen, alles zu tun, damit es nicht auftreten kann, oder es zu verleugnen, vielleicht auch in der Form, dass man es mit Sinn übergießt. Erst im zweiten Anlauf kann man dann sagen, dass man sich auf das Unvorhergesehene auch freue, lieber freiwillig, als gezwungen. 107

Messias& »J. L.: Natürlich, auch ich glaube daran, daß der Messias kommen wird. M. S.: Und was ist Ihrer Meinung nach die Aufgabe des Messias? J. L.: Das weiß ich doch nicht, und ich habe auch keine Möglichkeit, darüber etwas in Erfahrung zu bringen. Die Gegenwart ist problematisch genug, die Zukunft ist überhaupt kein Problem und was den Messias betrifft – der bedeutende Inhalt der messianischen Idee liegt darin, daß das Kommen des Messias auf ewig ein zukünftiges Kommen sein wird. Jeder Messias, der gegenwärtig kommt, ist ein falscher Messias.«2 Messianische Erwartung resultiert aus der Erfahrung, dass fast alles über die eigenen Kräfte und Kontrolle hinausgeht, dass man von woanders oder von jemand anders eine Änderung erwarten muss, nicht in Lethargie, sondern in aktiver Gestaltung. Auch das ist eine Beschreibung von Bildung. Manche verdrängen oder verwerfen gar die Herausforderung und basteln sich in der Bildungsplanung ihren Messias mithilfe von Excel-Tabellen.

Unvorhersehbares&hegen& Das Unvorhersehbare zu vermeiden, wie es herbeizuwünschen oder zuzulassen, spielt im Spektrum von oft trotziger, wacher oder manchmal verbissener Aktivität einerseits und resignierter oder nur entspannter Passivität andererseits. Im Unterricht oder beim Ausstellungsbesuch kann dasselbe Ereignis, das für Besucher, z.B. Schüler unvorhersehbar ist, für jemand anderen (Künstler oder Kuratoren) Resultat genauer Planung und Arbeit sein. Die Verteilung kann so sein, dass die einen mit einer zumindest hintergründigen Erwartung da sind und die anderen mit etwas konfrontieren, das nicht oder so nicht erwartet wurde. Einigermaßen sichere Rahmen, wie z.B. Unterricht oder Ausstellung, entlasten von strengen individuellen Sicherheitsoperationen gegen das Bedrohliche, allerdings nie ganz. Auch im geschützten Rahmen kommt es zu Überraschungen, die momentan den Reizschutz und die Bearbeitungsmöglichkeiten stark übersteigen, eventuell verletzen. Es kann auch sein, dass jemand, der sich eine Überraschung ausgedacht hat, überrascht wird davon, dass es für den Adressaten keine Überraschung war. Die gesamte Problematik, wenn man sie denn auf Schule und Unterricht bezieht, ist gegenwärtig eingelagert in eine Großstimmung, die das Unvorhersehbare am ehesten noch als marginalen Reiz, als suspense, Abwechslung und Appetithäppchen akzeptieren möchte. Das Unvorhergesehene wird, wenn ihm denn noch etwas Gutes abzugewinnen ist, billigend in Kauf genommen. Unvorhergesehenes wird als Mangel an rationaler, angemessener Planung begriffen. Überraschung konfrontiert so mit einem Mangel an Kompetenz und Abgebrühtheit. Die Tendenz der Bildungspolitik3 geht in Richtung Planbarkeit, Vermeidung eines Mangels an Kontrolle. 108

Vielleicht haben die tatsächlichen Bedrohungen durch Unregelmäßigkeiten und Orientierungsnot zugenommen, das Sicherheitsbedürfnis ist im gleichen Zug höher geworden und die Angstbereitschaft, bzw. der Mut, Angst zu ertragen, hat abgenommen. Das ist fatal, da Angst strukturierendes und produzierendes Moment der Psyche wie der Bildung ist4 und ganz nah bei der Lust liegt, Angstlust. Angst tritt auf, wenn eine alte Bindung, auch Fesselung frei, durchschlagen, angegriffen oder zertrennt wird. Nur so wird die Möglichkeit zu einer anderen Besetzung geschaffen, zu einer neuen Fügung, vielleicht zu einer widerstrebenden Fügung.5

Unterricht&als&Umgang&mit&dem&Unvorhersehbaren& Nun kann man Unterricht, Vermittlungssituationen auch ansehen als Umgang mit dem Unvorhersehbaren, als einen Versuch sich diesem zu stellen, vielleicht doch mit diesem auch zu arbeiten, in einem geschützten Rahmen. Geradezu insbesondere im Bereich der Kunst ist das vielleicht der Kern. Darauf müsste sich jeder ganz exakt vorbereiten. Es wird gespielt mit etwas vorhersehbar Unvorhersehbaren. Zum Beispiel gibt es Leute, die sich in eine Ausstellung begeben, weil sie überrascht werden wollen, sie wollen, dass etwas Unvorhersehbares passiert, in Maßen natürlich, und es gibt Leute, die dieses Unvorhersehbare anrichten. Und der Zusammenprall dieser beiden Seiten ist in seiner Konstellation selber wieder nicht, auf keinen Fall aber genau vorhersehbar. Es kann bedrohlich werden, fremd, quälend, verunsichernd, anregend, aufregend, beängstigend, befreiend. Stark vereinfacht kann man das für die Lehrerausbildung, für Unterricht an der Schule formulieren: Es sind da Individuen, die direkt oder indirekt artikulieren, dass ihnen etwas fehlt. Es ist da ein zweites Individuum (Lehrer), das versucht, dieses Fehlen genauer zu erfassen und den nötigen Inhalt bereitzustellen, bzw. dieses Individuum (Lehrer) macht den anderen deutlich, dass ihnen eigentlich noch etwas fehlt.6 Da die Individuen, denen etwas fehlt, nicht unmittelbar zugänglich sind, da man nie genau einschätzen kann, was in welcher Art, in welchem Ausmaß fehlt, stößt das lehrende oder allgemeiner, vermittelnde Individuum alsbald auf einen weiteren Mangel, den einer fehlenden Brücke. Sie muss konstruiert werden. Genau diese Ergänzung – daraus stammt die Macht der Berater und Experten – bekommt ganz schnell den Charakter einer möglichen Verleugnung dieses Mangels. Es gibt da den genialen Lehrer oder Vermittler, den seriösen, gutgelaunten Experten, der »sieht«, um welches Problem es sich handelt. Es gibt Bild gebende Verfahren, Powerpoint z.B., die uns direkt vor Augen führen, was da »fehlt«. Ganz schnell wird eine Lücke im Sichtbaren so geschlossen, als wäre da eigentlich immer schon etwas zu sehen gewesen. Leichtfertig wird suggeriert, es handele sich nur um eine Abbildung. Dabei sind es oft Konstruktionen. Anschließen kann man dann eineindeutige Verfahren, wie man durch die Beobachtung von Phänomenen 109

zu einer Diagnose und von dort zu einer Verhaltensänderung kommt. Diese »Brücken« sind oft fetischistischer Natur.

Fetisch& Ein Fetisch realisiert die doppelte Operation einer Verleugnung. Etwas nicht Vorhandenes wird ersetzt – d.h. ein konstitutives Fehlen wird verleugnet – und zwar so, dass zudem nicht mehr deutlich werden kann, dass es anders sein könnte oder anders gewesen ist. Die Operation tendiert in Richtung Allmacht und soziologisch gesehen macht sie den, der über den Fetisch verfügt, zu einem mächtigen Menschen und schafft effektive Institutionen. Der Ratschlag, die empfohlene und trainierte Methode lässt möglich werden und zum richtigen Zeitpunkt erscheinen, was man, dumm wie man ist, für unmöglich und fehlend gehalten hatte. Der Wunsch, dass es so gehe, ist nicht nur verständlich, sondern Voraussetzung der meisten kulturellen Errungenschaften. In kulturell produktiver Funktion bleibt ein solches Verfahren aber nur, wenn es in Bewegung gehalten werden kann, Alternativen durchscheinen, die Künstlichkeit zumindest augenzwinkernd erkennbar bleibt. Aber in der Form, dass es ein probates Vorgehen gebe, in der Suggestion der Plan- und Machbarkeit mit dem Ziel der weitgehenden Ausschaltung von Überraschungen, die in solchen Zusammenhängen immer »böse« genannt werden, kann man psychoanalytisch als fetischistisch, d.h. als pervers bezeichnen. Das ist hier provokativ mit einem Ausdruck bezeichnet, der pathologisch klingt. Mit Leid hat das freilich zu tun oder vielleicht eher mit Passion.

Perversion& So schreibt Catherine Millot: »Es sind Perverse, und das ist nicht abwertend gemeint, vielmehr bezeichnen wir damit eine besondere Begabung, die nichtsdestoweniger zutiefst menschlich ist. Sie besteht darin, das einzige Wunder zu bewirken, das zählt: Leiden in Genießen und Mangel in Fülle zu verwandeln. Genau hierin liegt auch eine Bestimmung der Kunst, und deshalb schreiben sie [direkt gemeint sind hier Gide, Genet und Mishima, kjp] so schöne Bücher.«7 Diese perverse Position finde ihren Ausdruck, schreibt sie weiter, »in einer Ethik, die durchs Genießen über den Mangel triumphiert und in einer Ästhetik, die die Schönheit an den Rändern des Abscheulichen hervorbrechen lässt.«8 Auf solche Künstlichkeit ist jeder, der lehrt, aber auch der sich bildet, angewiesen. Ohne solche Brücken setzt sich das Bild eines allmächtigen, größenwahnsinnigen, kontrollierenden und kontrollierten, allwissenden, und weil das alles nicht geht, mit Schuldgefühlen beladenen Individuums durch. Und dieses ist ausbeutbar. Nur die Art und Weise des Einsatzes der artifiziellen Prothesen, kennzeichnet im Hinblick auf die perverse Struktur Unterschiede. Wenn es kein Spiel mehr ist, man also auch kein Spiel mehr hat,9 110

die geregelte Grenzüberschreitung als Norm ausgegeben wird, dann wird das Verfahren selbst über den Anlass hinaus verstopfend und damit pathologisch, Leid bringend wirken, abhängig machend. Perversion resultiert aus der Suche nach dem »Vater«, der nie da war, jedenfalls nicht da, wo man ihn erwartet hätte, genauer nach der Funktion des Vaters, nach etwas, das die Richtung angibt, das Gesetz (re)präsentiert, zumindest Regeln aufstellt.10 In der perversen Struktur wiederum wird dann tatsächlich etwas gesetzt und so getan, als ob es so sein müsste, es anders nicht ginge. Eine häufig vorkommende Version dieses Verfahrens ist Sachzwang als Begründung, eine fundamentalistische Ersatztheologie.

Abb. 19 Jérôme Zonder: Jeu d'enfants # 1, 2010 Ausstellung: Fatum. Maison rouge. 19.02.10.05.2015 Paris. Photo kjp.

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Der Perversion ist nicht zu entkommen. Kunst zeichnet sich oft dadurch aus, dass sie in Begleitung solcher Strukturen, diese listig in Bewegung setzt und auf die Herstellung solcher Notlösungen noch einmal hinweist, diese für andere Felder als die der Kunst wahrnehmbar macht. Der Spielraum entsteht unter den Vorzeichen eigens dafür geschaffener Einrichtungen, manchmal wird aber auch der sich als unzureichend erweisen. Arbeiten wird dann vorgeworfen, sie seien schon im fast kriminellen Sinne pervers, verletzend, inhuman usw. Bei einzelnen Künstlern führt die Suche und das gleichzeitige Ausnutzen des Spiels, die Wut darüber, dass es bisher keinen Spielraum gab, dass man etwas nicht darstellen konnte oder durfte, es keine Brücke der Vermittlung verstörender Wahrnehmung gab, zum provokativ eigenen Regelwerk, das mitunter nicht Eingeweihte nervt. Man könnte sagen, dass dies im Effekt sadistische Züge habe. Oft zappeln die überraschten Zuschauer wie in einer Falle. Man kann ebenso, ohne ein gelingendes Ergänzungsverhältnis gleich mit zu behaupten, sagen, es braucht dazu auch masochistische Züge beim Ausstellungsbesucher, beim Adressaten der Lehre.

Pathologisierung& Den Bezug auf die Perversion könnte man als eine Pathologisierung verstehen. Angespielt wird die Notwendigkeit hintergründiger Normierung, die in allem Umgang mit Kunst nebenher läuft. Dazu kann man sich verhalten. Pathologisiert wird aber auch noch in einem weiteren Sinn: Es geht tatsächlich um Leidenschaft, eben um Pathos, das da am Werk ist, eine Leidenschaft, die jeweils über den anderen versucht, etwas über sich zu erfahren, wissend, dass dies den anderen verstört, nicht nur wissend, sondern oft auch beabsichtigt. Ich hege die starke Vermutung, dass ohne, in diesem Sinne verstanden, Pathologisierung Bildungsprozesse nicht wahrscheinlich gemacht werden können, nur mit Rücksicht auf diese Risiken kann Kunst, allgemeiner die Macht der Bilder vermittelt und gelehrt werden kann. Ohne eine solche Rücksicht entsteht leicht pädagogischer und didaktischer Kitsch,11 der diese Gratwanderungen vermeiden möchte. Kunst ist ein Übungsfeld dafür, wie man das macht, inhaltlich, technisch, strukturell: Regeln thematisieren und künstlich überschreiten und das auch noch im Effekt mit Vergnügen, auch an der Verblüffung und dem Protest des Adressaten, auch wenn es viel Arbeit macht (Karl Valentin). Darin bestehen wesentliche Anteile der Autonomie der Kunst. Ein Spielzeitraum der Unverbindlichkeit, der nur augenzwinkernd einer ist. Man tut als ob und erzielt damit Wirkungen.12

Vermittlung&–&pervers& Es lässt sich zeigen,13 dass Kunst und deren Vermittlung notwendig Momente perverser, d.h. auch transgressiver Art hat. Das findet allerdings in einem Rahmen 112

statt, der davon ablenkt (edel und gut). So kann man es wagen, auch rechtfertigen, notfalls ethisch verantworten. In dieser Fiktion kann man spielen. Das gelingt durch ein vielfältig ritualisiertes Szenario in der Kunst selbst wie in ihrer Vermittlung. Und dies schafft Realität.14 Die fiktive Auslagerung aus alltäglicher Enge und notwendiger Funktionalität, auch als Autonomie bezeichnet, bietet dem Künstler, dem Kunstliebhaber, der Kunst die Möglichkeit gezähmt amoralischen Handelns: Es kann also methodisch an Grenzen geführt, provoziert und gezeigt werden, was Normen sind, und wie sie gesellschaftlich und individuell greifen. Ferner möchte ich plausibel machen, dass keine ernstzunehmende, interessante, beanspruchende Ausstellung von Kunst ohne Sadismus und Masochismus arbeiten kann. Und ich behaupte, dass genau an diesem Punkt auch Strukturähnlichkeiten mit pädagogischen Situationen zu finden sind. Das Beispiel Who ’s listening? von Tseng Yu-Chin wird dies auch inhaltlich thematisieren. Doch zuvor in aller gebotenen Kürze zur Abklärung:

Masochismus&–&Sadismus& Dem anderen Genuss verschaffen, ist das Phantasma des Masochisten. Dieses Phantasma ist ein Lockmittel. Tatsächlich will – ob das bewusst geschieht, steht auf einem anderen Blatt – der Sadist dem Anderen Angst machen. Der Sadist will die Angst des Anderen sehen. Der Masochist will den Anderen dazu bringen, ein Gesetz zu erlassen; er wählt unbewusst ein Objekt, das für ihn in Szene setzt, dass jemand Verbote und Gebote ausspricht, weil dem Masochisten nur so die Separation (etwa von der Mutter, von bisher Fesselndem, Un- oder schwer Erträglichem) gelingen kann. Schmerz, unangenehme Sensationen werden dabei zu Zeichen, dass der Andere sich einverstanden erklärt hat, ihm eine Grenze, eine Bedingung, einen Verlust aufzuerlegen.15 Nach Freud entspringt im Sadismus die Lust aus dem Leiden des Anderen durch Gewaltanwendung. Der Sadismus ist gekennzeichnet durch Bemächtigungswillen und dementsprechend durch Aggression. Durch Schmerz und Lust wird eine Grenzerfahrung produziert. Nach Lacan lässt sich Sadismus (verkürzt) so skizzieren.16 Es geht darum, dem Anderen Angst zu machen. Sadismus ist nicht die Kehrseite des Masochismus. Sadismus trachtet danach, das, was schon immer als unerreichbar erschien, das Fehlende, zu isolieren, ein Objekt als ein solches auszugeben (da sind Züge von Idealisierung dabei). Dieses isolierte Objekt wird dann durch die Drohung, dass der Sadist dessen Verlust herbeiführen wird, zum ersehnten Objekt (Verlust einer geliebten Person, der körperlichen Integrität, der Freiheit, der Gewohnheit). Die Angst, die der Sadist machen will, resultiert aus dem bevorstehenden Entzug von Befriedigung, strukturell ableitbar aus der Entwöhnung, dem Abstillen. Die Angst zeigt dann, dass man im Begriff ist, das Objekt zu verlieren, es war zum (Be-)Greifen 113

nahe, eben noch. Anders: Der Sadist zielt darauf, dass ein immer schon verlorenes Objekt sichtbar, identifizierbar wird, aber nicht zu haben ist, es sei denn in der Negativform der vorenthaltenen Befriedigung. (Das könnte man auch für eine Beschreibung von (gutem) Unterricht halten.) Bildung hat mit dem Überschreiten von Grenzen zu tun, Transgression. Bildungsreisen gingen über Grenzen, z.B. gen Italien, um Unbekanntes zu erfahren, das wahrscheinlich, aber nicht sicher, doch auch ängstigend Lust verspricht – Unvorhergesehenes eben.

Abb. 20 Yinka Shonibare: Gallantry and Criminal Conversation, 2002. Kassel, documenta 11, Photo kjp.

Eingriffe&in&die&Integrität& Das Überschreiten von Grenzen ist mit Tabus und Kontrollen belegt, jedenfalls im Prinzip. Es kann anstrengend sein, verletzend, erleichternd, befreiend, schrecklich, endgültig, orgiastisch, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Die Übertretung bringt vor allem das in Bewegung, was gesetzt ist, will es kenntlich machen, und zugleich ist sie bemüht um ein anderes Genießen, um mehr Differenzierungsfähigkeit. Freilich kann Überschreitung auch Verschmelzung, durch das Einreißen von Grenzen eine Einheit herbeiführen wollen.

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Unter der Voraussetzung des autonomen Individuums setzt das Überschreiten von Grenzen Einverständnis z.B. dafür voraus, dass einem etwas angetan wird. Bei einer Ausstellung geschieht das mit dem Kauf einer Eintrittskarte, anders beim Arzt. In der Schule liegt das etwas anders. Hier werden die Grenzen gezogen durch die Einrichtung symbolischer Plätze, Lehrer und Schüler, durch den Bildungsauftrag und nicht zuletzt durch den Takt. Freiheitsberaubungen und Eingriffe in die Integrität eines Menschen dürfen nur von denjenigen vollzogen werden, die von dem Tabu des Übergriffs zumindest zeitweise entbunden sind. Sie tragen oft Kittel, Abzeichen, Uniformen, Federschmuck. Die Grenzwächter auf der documenta 12 (2007) z.B. trugen betont zivile T-Shirts mit einer sehr individuell aussehenden Schrift. Die Documenta-Leitung der documenta 12 definierte sich, was die Erkennbarkeit angeht, ganz zivil, wie eine ganz normale Kleinfamilie. Dennoch kündeten die Gebäude von einer geänderten Tabuordnung und von Ritualen der Besichtigung, der Vermittlung, des Sehens und Sichsehenlassens. Die Institution wird durch die Grenzziehungen mächtig, kann etwas bewirken. Die Übergriffe auf die Besucher einer Kunstausstellung sind meist nicht so eindeutig schmerzhaft, wie das die Arbeit eines Zahnarztes sein könnte. Aber der Besuch einer Ausstellung – und die hier immer auch mitgedachten, vergleichbaren Ausschnitte aus Lehr- und Lernsituationen – hat schon etwas von der Fähigkeit, eine Injektion, eine Projektion, einen Anwurf ertragen zu können. Nicht immer zum Zweck der Befreiung von einem Leiden, wiewohl auch das Anlass sein kann, Bildung anzustreben. Vielleicht ist es eher der Wunsch, sich überraschen lassen zu wollen, von irgendetwas, was man nicht hat oder kennt, nicht weiß, was genau es sein könnte, von einer Sensation, die immer schon fehlte. Wozu sonst pilgert man zu einer Ausstellung, beginnt ein Studium, besucht einen Vortrag? Immer sind dann auch einige dabei, die sich nicht überraschen lassen wollten, jedenfalls auf diese und jene Weise nicht. Das konnte man in den Kritiken beispielsweise zur documenta lesen, das kann man den versuchten In- und Output-Planungen an den Universitäten entnehmen, die auch von Studierenden gestützt werden. Andere Überraschungen, die besser passen, werden eingefordert. Das kann dann auch zu den Formen mitteleuropäischen Fundamentalismus’ führen: Der Spalt, der sich auftut, die Spannung, die spürbar werden könnte, die Ratlosigkeit werden durch die Forderungen nach Marktgerechtigkeit, nach Praxisbezug und Empirie schnell zum Verschwinden gebracht. Ängste werden eskamotiert und dazu Intelligenz, Denkfähigkeit, Empfindlichkeit partiell lahm gelegt und Zusammenhangsblindheit durch garantierte Anschlussfähigkeit überspielt.

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Angstlust& Erfordert ist aber Angstlust in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Eine Ausstellung, wohl auch Lehrveranstaltungen, sind Schauplätze projektiver, introjektiver und identifikatorischer Techniken, die Andersheit minimieren,17 sie sind aber auch Schauplätze der Befremdung, Alienation (Veränderung). Ausstellungen und Lehrveranstaltungen sehe ich als Labore zur Untersuchung und Veränderung der Verwebung zwischen Welt und individuellem Subjekt.18 Dazu müssen Texturen sich öffnen, Nähte platzen. Als Fragen formuliert: • Was ist so gefährlich und beschämend, dass ich es lieber jemand anders zuschreibe, woanders sehe, bis an die Grenze der Halluzination (Projektion)? • Was verschlinge ich lieber mit einer der zur Verfügung stehenden Körperöffnungen (Introjektion), so dass es da draußen nicht mehr herumgeistert? • Wovon denke oder sage ich am besten ganz schnell, dass es nichts anderes sei als dieses und jenes (Identifikation)? Wann und unter welchen Bedingungen ist Befremdung wahrnehmbar? Und was macht man dann damit? Denn das Fremde ist bedrohlich, allerdings genau so lebensbedrohlich, wie auf Gedeih und Verderb daheim bleiben zu müssen, nicht von der »Mutter« wegzukommen, Ganzheit zu wollen, zu behalten oder aufzubauen; und das in Orientierung an Regeln, von denen man am besten sagen kann, sie seien von Natur aus so.

Tseng&YuBChin& Mit der Arbeit von Tseng Yu-Chin fand sich auf der documenta 12 ein Exponat aus der Serie Who’s listening?, das solche Momente deutlich macht, allerdings nicht von einer Metaebene aus, sondern wirksam nur im Kontext.19 Die Arbeit war eine Überraschung.20 An ihr können sich Motive auch aus anderen Ecken der Ausstellung und Projekten kristallisieren, mit denen Besucher bemerkt oder bis dahin unmerklich herumliefen. Eine Überraschung ist etwas, das schneller, rascher ist als das eigene Erinnerungs-, Erwartungs- und Wahrnehmungsvermögen. Deshalb ist es unvorhergesehen. Schon ist es da, man wusste, dass etwas kommen könnte, aber nicht wann und nicht wie und was es auslösen könnte. Der Moment ist unbestimmt.21 Der Gipfel aller Überraschung ist meist der Tod.22 Kunstausstellungen sind Übungsfelder dafür. Tseng Yu-Chin schreibt zu einer Arbeit I ’m leaving (2004): »Übergänge: Versuch, die Dinge zu beschreiben, deren wir plötzlich angesichtig werden im Leben. Sie verschwinden genauso schnell. Die meisten der Übergänge gehen über unseren Kopf hinweg.«23 Eine Vermittlerin oder Lehrerin stand im Auepavillon der documenta 12 vor der Arbeit und suchte nach einem geeigneten Anfang, um über diese zu sprechen und hub in etwa so an: »Der Künstler nimmt mit dieser Arbeit Stel116

lung gegen Kindesmissbrauch!«24 Nachdem das einmal heraus war, ging es leichter zu sagen: »Der Künstler stellt ein paar Kinder an die Wand, die einzeln mit einer Flüssigkeit bespritzt werden. Sie sind dem wehrlos ausgeliefert. So kann man nicht mit Kindern umgehen. Das ist die Warnung, die hier formuliert wird!« Es kam dann zu einem etwas abrupten Schluss: »Hat noch jemand Fragen? Nein! – Gut, gehen wir weiter!« Das ist eine mögliche Kurzfassung. Ein Zeugnis dafür, dass diese Arbeit ein wenig aus der Fassung bringt. Und das gelingt, weil sie ergreift, anmacht, etwas antut, zumindest in mancher mündlichen Übersetzung. Zu sehen sind innerhalb von knapp acht Minuten 22 Kinder, 15 Jungen und 7 Mädchen. Die Folge von etwa drei Kindern pro Minute generiert nach den ersten beiden Kindern eine Art Durchpauseffekt, wie wenn sich Umrisse auf der nächsten Seite eines Zeichenblocks durchdrücken. Man weiß mit hoher Wahrscheinlichkeit, was nun kommen wird. So erkennt man Differenzen. Durch das Gleichhalten der Bedingungen taucht die Singularität erst auf. Man kommt zum nächsten Kind und zu den nächsten Klecksen. Wieder steht ein Kind vor einer Wand, wieder fliegt aus dem Off ein Strahl weißer Flüssigkeit ins Gesicht. Die Formen und die Anmutungen ändern sich. Man spürt fast, dass das Präsentierte, das Wahrgenommene und die Interpretationsversuche sich wiederholen, dennoch etwas nicht zu fassen ist und sich kleine und große Differenzen stapeln.

Identifizierende&Wahrnehmung& Der Durchpauseffekt und damit die Wiederholungen stützen die identifizierende Wahrnehmung. Die identifizierende, deutungswütige Form der Wahrnehmung ist ritualisiert und genau diese ist Adressat des Bilderverbotes. Neben der Erkenntnis der Differenz wird mit dem Durchpauseffekt auch das unterschiedlich stark ausgeprägte Bedürfnis des Betrachters oder des Lehrers bedient, immer schon Bescheid zu wissen, was das Andere ist, was der Andere will. – Hier wird das hervorgekitzelt, was sich auch zu einem nicht wenig aggressiven, im Grunde paranoischen Verstehens- und Deutungswahn auswachsen kann.25 Man kann auch zum forschenden Zweifel kommen, dazu, das Nichtwissen auszuhalten. Die Arbeit Tseng Yu-Chins bringt in Versuchung, genau zu wissen, dass es sich etwa um eine Warnung vor Missbrauch handelt. Kann man die Arbeit nicht auch als Ermunterung, als Spaß am Missbrauch wahrnehmen? Einigen hat es jedenfalls Freude gemacht zuzusehen, dass den armen, hilflosen Kindern etwas ins Gesicht geklatscht wird, eine kleine Schadenfreude. Das Gesicht, das Interface zur Welt, wird beschmutzt. Im Gesicht liegen viele Öffnungen bloß. Und auch die Aufnahme von Neuem, von Informationen, von Wissen wird nach den Operationsmodi der hier zu findenden Öffnungen model117

liert. In Filmen mit Oliver Hardy und Stan Laurel Dick & Doof ist es ja ein erheblicher Genuss, genau dies immer wieder beobachten zu können. Man selber bleibt dabei sauber. Aber derjenige, der etwas ins Gesicht bekommt, wird damit auch entwertet, beleidigt, beschämt. Bei Tseng Yu-Chin geht es auch darum, wie der Anwurf ertragen wird, das Objekt, das da geflogen kam. Man sieht bei den einzelnen Kindern eine unterschiedliche Auseinandersetzung mit den Regeln, die offenbar aufgestellt wurden, die für jeden dieselben waren.

Abb. 21 Tseng Yu-Chin: Who ’s listening? 2003-2004. Stills, Photo Lanz.

Die Regeln werden im Video nicht explizit. Man kann sie erschließen: Die Kinder sollen sich ein weißes Hemd überziehen (Uniformierung, Normierung, Entindividualisierung und Schutz). Sie sollen sich vor einer Wand aufstellen, die Kamera wird in Augenhöhe positioniert, die Kinder sollen in die Kamera sehen, nicht dahin, von woher die Flüssigkeit kommen wird. Sie sind angehalten, nach der Bewerfung weiter in die Kamera zu sehen und die Flüssigkeit nicht aus dem Gesicht zu wischen. Weshalb werden sich die Kinder auf diese Regeln eingelassen haben? Was hat der Künstler ihnen erzählt? War die Gratifikation das Filmen, das Bestehen der Mutprobe, der Kitzel aus der Angstlust, das Versprechen, dass hier ein Kunstwerk entstehe, das Gesicht quasi abgezogen und an anderen Orten gezeigt werden wird? All das war für mich nicht in Erfahrung zu bringen. Ersatzweise kann man aber an diese Fragen auch so herangehen: Warum gehen wir in Kunstausstellungen, warum lassen wir uns verunsichern, in Fragen stürzen, enttäuschen, warum lassen wir Bilder auf uns einfallen, die wir so noch nicht gesehen haben? Für die unsere Öffnun118

gen und Verarbeitungsmodi noch nicht trainiert sind? Warum schreiten wir in unterschiedlich ähnlichen Besichtigungsposen durch Ausstellungen?

Ideale& Bei der Beantwortung kommt noch eine weitere Dimension dazu. Es sind Ideale im Spiel, Vorstellungen davon, wie etwas sein könnte, sollte und wie es besser, intensiver, interessanter, aufregender wäre. Die Ideale sind nun nicht das, was wir selber sind, sondern die Differenz dazu. Sie kommen vom Anderen, sind selber anders. Die Annäherung an ein Ideal verspricht deshalb Befriedigung, weil es ursprünglich die Annäherung an eine befriedigende Wahrnehmung (aktiv und passiv) war, weil es Zuwendung erwarten lässt. Die als befriedigend erinnerte Wahrnehmung kann man rekonstruieren als eine, die in der Regel mit der Nahrung zu tun hat, die vom Anderen kommt, über die wir unmittelbar keine Macht haben, die ein Befriedigungserlebnis, ein Stillen (ursprünglich mit Milch) zur Folge hat.26

Abb. 22 Bartolomé Estaban Murillo: Die Jungfrau erscheint St. Bernard, um 1660. Öl auf Leinwand, 311 x 249 cm. Museo National Del Prado, Madrid. Abb. 23 Alonso Cano: Die Vision des Heiligen Bernhard, 187 x 267 cm, um 1650, Museo del Prado. Abb. 24 Künstler unbekannt: Alma mater. Grisaille als Fresko ausgeführt. Etwa 60 x 80 cm. Schloss Elmau, Speisesaal, Photo kjp.

Ideale haben so zwei Brückenköpfe in einem Spannungsfeld: Draußen bei den anderen, bei der Nahrung, in welchem Sinne auch immer, und drinnen in einer Erinnerungsspur, die gleichzeitig auch eine Narbe ist, weil ihr die Leere der Entbehrung voranging. Wir brauchen also diese Spannungsverhältnisse, die uns von uns wegführen, verführen, aus einer Situation kollabierender Selbstbezogenheit herausschneiden und auf etwas anderes, auf einen anderen hin orientieren. Genau dieses Schneiden (lat. secare) ist die deutsche Übersetzung des noch gar nicht so alten Kunstwortes Sexualität.27 Es geht hier um die Überschreitung auf die Gattung hin. Das Individuum wird verletzlich und verletzt, wird zum Dividuum (hier erscheint 119

in unterschiedlichen Konstellationen das Bloße Leben (aus dem zweiten Leitmotiv der documenta 12) ohne symbolische und imaginäre Kuvertüre) und gerät damit hinein in eine gespaltene zeitliche Logik: Das Individuum ist sterblich, die Gattung hat schon gelebt und lebt wahrscheinlich weiter, auch wenn man ihr einige Apokalypsen an den Hals wünscht. Hier entsteht eine weitere Spannung, eine zeitliche zwischen jetzt und später: So und so kann, darf, soll das Kind später einmal sein, aber jetzt noch nicht. Diese Differenz tut sich im Sehen des Videos auf: Man sieht als Erwachsener Kinder, von denen man annimmt, das sie noch nicht wissen, mit welchen Konnotationen der Erwachsene das Kind oder das Video sieht. Diese Differenz wird oft mit »ach, wie süß« quittiert als Begründung für ein wissendes Lächeln, für eine Attraktion des Zustandes, von dem man glaubt, dass er vor den lästigen Unterscheidungen liegt.

Genuss& Tseng Yu-Chin führt ganz nah an diese Grenze heran, auch indem er einen schon fast pubertierenden Knaben zeigt. Die Pubertät zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass die jungen Leute aus den durch Liebe und Hass bestimmten Beziehungen zu den Eltern herauskommen. »Das Kind ist von da an mit einem Ideal von sich selbst und seinem Über-Ich geschlagen, mit dem es sich arrangieren muß?«28 Diese Schläge sind nicht ganz genussfrei.

Abb. 25 Juan Davila: Schreber’s Semblance, 1993, Öl und Collage auf Leinwand, 252 x 260 x 50 cm, Kassel, documenta 12, Photo kjp.

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In Ausstellungen machen die Narben sich wieder bemerkbar: Möchte man doch unterstellen, dass dort Individuen ausstellen, ausgestellt werden, die noch ein anderes Genießen, vielleicht ein ausgeprägteres, haben, eben Künstler. Führen die aber nun vor, dass sie sich genau mit dieser Narbe auseinandersetzen, diese zu einer Art Wahrnehmungsorgan umbauen, dann wird es für den Betrachter prekär. Traut er sich das wahrzunehmen? Kommt es zur Abwehr? Kommt es zu Versuchen einer Dekonstruktion des Verhältnisses zwischen Über-Ich-Anforderungen, Idealvorstellungen und Unbekanntem? Und das Erschreckende daran ist, dass all das mit Schuldgefühlen einhergeht, dem Gefühl, dass man etwas – dem Ideal, dem Verstehen – oder jemanden nicht gerecht geworden ist, dass man nachträglich gesehen, vielleicht unerlaubten (erotischen oder sexuellen) Genuss gehabt hat in der kindlichen Vorzeit, die jetzt wieder angespielt wird, in der es zur jetzt wieder bemerkten Narbe kam.29 So etwas kann Schuldgefühle generieren.30 Erschreckend für die Vermittlung von Kunst ist, dass Schuldgefühle heftigste Abwehrreaktionen zur Folge haben oder zu sklavischer Anhänglichkeit führen können – gegen oder an den Künstler, den Vermittler, den Lehrer. Schuldgefühle machen erpressbar und unbeweglich. Aber auch das genau extreme Gegenteil kann eintreten: Abneigung, Hass, Desinteresse.

Polymorph&pervers& In der Sexualität ist verlangt, jeweils die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen eigen und fremd im Hinblick auf etwas Drittes, die Gegenwart Überschreitendes aus der Vergangenheit Kommendes zu integrieren. Sexualität ist beim Menschen ein künstliches Geschehen auf einer realen Basis, die im Einzelnen nichts festlegt, aber dennoch festlegt, im Sinne eines unabweisbaren Drängens. Da wird man hin getrieben. Das führt, in der Regel, in Regionen des Unbeherrschbaren. Davon zeugen ja Arbeiten von Juan Davila oder Kerry James Marshall.31 Ausstellungen, alle Institutionen, die Bildungsprozesse wahrscheinlich machen möchten, müssen ein gelassenes Verhältnis zum Unbeherrschbaren des Schnitts entwickeln und je nachdem Wunden pflegen, Verletzungen herbeiführen, Narben zu Wahrnehmungsorganen umbauen. Tseng schreibt zu der Serie von fünf Videos, dass er als Kind, die Arme schwenkend wegen des angenehmen Gefühls, wenn beim schnellen Gehen, die Luft zwischen den Fingern durchsaust, versehentlich mit dem »privaten Teil« einer Fremden kollidierte. Freilich bedeckt mit Stoff. Aber die fing an zu schimpfen, zu schnattern, unerträglich, die begleitende Mutter zuckte auch zusammen. Es bedarf, so fährt er fort, verschiedener Arten, Anläufe, um sich zu erinnern, dass der eigene Körper irgendwann einmal in Naivetät getaucht war. Seine Eltern fragten ihn, ob er den Unterschied zwischen Jungen und Mädchen kennt. Er war perplex. Er schreibt, 121

dass seine Eltern meinten, dass eine Menge von Nomen und Adjektiven eine Menge von Dingen erklären. »Eine einfache Empfindung verschwand. Es blieb eine Empfindung, aber sie war abgewiesen.«32

Beglaubigungsgesten& In solcher medialen Präsentation von Sexualität, die als pornographisch gilt, die also auf kurzem Wege und ohne viel Irritation und Unberechenbarkeit zum Ziel führt (das Ideal der Nachpisapädagogik) taucht der Verdacht auf, dass der oder die zu besichtigenden anderen gar nicht begehrend sind, dass das alles nicht echt sei. Die primitive Beglaubigungsgeste ist dann der cum shot. Das ist wie ein Stempel. Jedenfalls ist dann irgendetwas physiologisch abgelaufen und das muss nach modernem Verständnis sichtbar gemacht werden, wie in allen Statistiken und Evaluationen. Da ist also dann unzweifelhaft etwas dabei herausgekommen in Folge einer Erregung, die nicht in allen Punkten kontrolliert werden konnte. Nun lässt sich das an männlicher Sexualität besser darstellen, weil man eine Ejakulation schlecht vortäuschen kann, einen »weiblichen« Orgasmus dann schon eher. An genau diesen cum shot erinnert das Gespritze in der Arbeit von Tseng YuChin. Die Konsistenz der Flüssigkeit bleibt rätselhaft. Sie hat eine andere Viskosität als Milch, einige vermuten deshalb, dass es Joghurt sei. Stammt von der Assoziation der Spritzer zum Ejakulat die Rede vom Missbrauch der Kinder? Oder soll hiermit signalisiert werden, dass die Aufnahmen echt sind? Oder sprechen sie von der konstitutiven Ungleichzeitigkeit zwischen Kindern und Erwachsenen? Ergötzt man sich – einige mit schlechtem Gewissen – an den unschuldig scheinenden Kindern und sieht förmlich den Zusammenprall mit einer ganz anderen Bedürfnis-, Anspruchs- und Begehrenslage der Erwachsenen? Bedauert man, dass auch diese Kinder aus dem Paradies herausgerissen werden? Oder wird man beim Betrachten mit regressiven Wünschen konfrontiert, doch wieder kindlich zu werden, was nur um den Preis des Verlustes des »l« gelingen kann: kindisch. Gewandelt wird das sanft »ch« zu einen zischenden »sch«. Ist die Unschuld das Erregende? Ist es spannend, dass man als Erwachsener derjenige sein kann, der erst ein Begehren weckt und formiert, das vorher nicht da war? Wenigstens da erlangt man einmal Macht über dieses Unbeherrschbare und kann sich an der Irritation des anderen, des Kindes freuen und gleich wieder Orientierung anbieten. – Man kann das auch Sadismus nennen. – Und das ist strukturell jedenfalls nicht etwas ganz Anderes als das, was wir aus Momenten jeglicher pädagogischer Aktion kennen. Nur Verkennung und Grenzenlosigkeit wären dabei »schlimm«. Es ist mir wichtig zu betonen, wenn ich solche Assoziationen und strukturale Gleichungen herstelle, dass es mir um das geht, was pädagogische Prozesse um122

treibt, um die Energie, die in diesen umgesetzt wird, die Energie, die diese am Laufen hält oder auf eine rätselhafte Art verhindert, also Dummheit produziert. Die Chiffre hierfür heißt »pädagogischer Eros«. Es geht nicht um eine moralische Position dabei. Sondern ich versuche es zunächst so, wie es die Entwicklung des Diskurses der Kunst (allerdings auch der Psychoanalyse) möglich gemacht hat, amoralisch zu formulieren.

Komplizenschaft&und&Angst& Im Video von Tseng Yu-Chin bleibt der Werfer, die Werferin für den Betrachter unsichtbar, aus unserer Perspektive unbestimmbar. Für die Kinder ist die Person sichtbar, sie haben gegenüber dem Betrachter einen Vorsprung, ein Geheimnis. Es besteht offenbar in der Situation der Aufnahme auch eine Komplizenschaft mit dem Werfer und dem Filmenden. Das ist struktural gesehen eine sadomasochistische Kumpanei wie in jeder gut laufenden Lehr-Lern-Situation. Das Einhalten von Regeln gibt den Schutz dafür, dass dieses Spiel nicht entartet. Sie ermöglichen die Beherrschung und die Umwandlung von Affekten, die Positionswechsel von aktiv und passiv, von Sadismus und Masochismus. Was im Video vorgeführt wird, ist der Versuch – keiner kann wissen, ob er gelungen ist – libidinös gebundenes Leben herzustellen in Auseinandersetzung mit dessen kollabierenden Tendenz, dem Tod. Es wird ja offenbar niemand schwerwiegend verletzt, aber die Möglichkeit wird gespielt, es könnte genauso gut geschossen werden (und das kommt ja in der Welt vor). Das Video erinnert an Bilder von Exekutionskommandos. In den Gesichtern der Kinder wird Angst deutlich, mehr oder weniger Unsicherheit, obwohl man davon ausgehen kann, dass die Kinder zumindest im Prinzip wissen, was gespielt wird. Sie begeben sich mehr oder weniger freiwillig in eine Situation von Angst, in eine Enge. Sie sind nicht angebunden. Ist eine solche Situation nicht vergleichbar mit der Situation des Besuchers einer Kunstausstellung, mit dem, der sich in einen Hörsaal setzt, mit jedem Schüler, mit dem, der sich auf eine Couch beim Analytiker legt? Ich paraphrasiere mit Baas Heidegger aus Sein und Zeit: »… in der Gemeinschaft, […], kann das Dasein* [Heideggers äquivalenter Ausdruck für Subjekt, kjp] sich auf andere nur in diesem spezifischen Modus der Sorge namens Fürsorge* beziehen. Doch wie Heidegger weiter ausführt, die eigentliche Fürsorge, die, welche die eigentliche Verbundenheit* herstellt, ist diejenige, die den anderen zu seinem eigenen Sein als Erschlossenheit* befreit und ihn so der ontologisch grundlegenden Affektion der Angst aussetzt.«33 Das formuliert Heidegger, hier Freud sehr ähnlich, gegen die Einfühlung, die den anderen als so gegeben und durchschaubar, kalkulierbar voraussetzen möchte. Es gibt nun verschiedene Grade von Angst bis zur Panik hin. Es gibt aber eine Stufe, einen Aggregatzustand von Angst, der strukturierend ist, der nicht vermieden werden darf 123

oder sollte. Jeder, der sich anheischig macht, diese Angst zu nehmen, verhindert Bildungsprozesse. Es geht um die Angst, die auftritt im Moment der Rücknahme der Besetzung von Bekanntem, hier kommt das Entsetzen her, diese Rücknahme macht das flirrende Gefühl, die Einsamkeit, den Zustand des bloßen Lebens aus, der neue Besetzungen möglich macht. Durch ihr unvermitteltes Auftreten bekommt Angst eine unspezifische Signalfunktion. Sie deutet darauf hin, dass etwas fehlt, dass aber nicht (mehr) zu haben ist.34 Danach ist das Subjekt ausgeliefert, es ist nicht mehr ganz bei sich, wird aufgespannt in Richtung auf Zukunft und den anderen, suspense. Der Affekt der Angst ist somit auch der Beginn der Intelligenz.

Blick& Im Video Who’s listening? wird der Blick thematisiert, der Blick der Kinder, der Blick der Kamera, des Betrachters. In jedem Blick stecken, wie schon erwähnt, Fragen: Was willst du, das ich für dich bin? Was willst du mir? Was hast du (für mich)? Und eine Aufforderung: Komm, zeige dich! Im Setting zur Produktion des Videos wird sie durch eine Verhaltensaufforderung beantwortet, die offenbar das produziert, was das Begehr des Künstlers war. Damit ist, wie man fast sehen kann, in den einzelnen Reaktionen der Kinder die Frage aber noch nicht beantwortet. Die Antwort auf ein Begehren mittels einer Verhaltensanweisung gibt ein Korsett, sozusagen eine Orthopädie, die das Begehren wieder oder weiter sprießen lässt. Eigentlich wird dem Blick etwas entgegen geworfen, das seine unbeantwortbare Frage abmildert, der in seiner Herausforderung ängstigen könnte, bei Medusa gar töten kann. Der Werfer der Flüssigkeit ist ein Projektor. Der Wurf, der als Klecks sich abbildet, diesmal nicht auf der Leinwand, sondern im Gesicht, scheint nur wie ein materialisierter Abklatsch der Gewalt und der Herausforderung des Blicks selber. Und auf einmal erleben wir es umgekehrt, den Klecks, den man abwischen kann, sieht man als Eingriff, der Blick dagegen als Frage nach dem Begehren verschwindet scheinbar hinter dem Sehen in der Beobachtung.

Ansteckung& Die Anspannung der gefilmten Kinder sprang bei der Ausstellung über: Es standen immer wieder viele staunend vor dem Video, gingen mit. Bei der Betrachtung des Videos vergisst man fast, dass man die Kinder im Film sieht. Dass sie fast präsent erscheinen, geht auf die Aktualisierung der Kinder in den Betrachtern und Hörern zurück. Tseng Yu-Chin gelingt eine Parallelproduktion. Die eine ist vergangen, Konserve, die andere findet aktuell statt beim Betrachten und Hören. Die produzierende Resonanz hat vielleicht etwas mit Attraktion zu tun, ist ein eindringliches 124

Beispiel für das duchampsche Diktum, dass der Betrachter das Kunstwerk produziere. Ich unterstelle, vorsichtig verallgemeinernd, hier inszeniert sich ein Moment von Spannung, das bei jeder Ausstellung gegenwärtiger und auch vergangener Kunst passiert. Man sucht sie und man weicht ihr aus, sucht stattdessen nach Beschriftungen und Kommentaren, um leichter zu identifizieren, worum es da geht. Begleitet vom Wunsch: Es möge doch bald vorbei sein mit der Spannung oder der Langeweile. Man war aber gekommen mit dem Wunsch nach Erlösung aus einer Identifikation, nach einem identisch machen und gemacht worden sein, hat aber auch Angst vor dem Entstehen der Differenz durch das Unbekannte, das Andere, das Fremde. »In dem Maße, in dem sich die Identifikation des Lebewesens mit seinem Bild schlechthin vollzieht, ist auch kein Platz mehr für die Veränderung, das heißt für den Tod.«35 Da kommen dann Zombies bei raus. Um den tatsächlichen oder den psychischen, vorzeitigen Tod zu vermeiden, um Bildung wahrscheinlicher zu machen, braucht es Menschen, Kunstvermittler, Kuppler, Kunstpädagogen, die sich gegen die Gewalttätigkeit des Imaginären richten. Kunst als Sterbehilfe, das heißt als Trennmittel nutzen, um spannungsvoll leben zu können.

Vertrauen& Kann man den Reiz klären, der die Kinder dazu gebracht hat, sich dieser peinlichen, im Sinne von leidenschaftlichen Situation auszusetzen? Ich setze voraus, dass kein Zwang, keine Bestechung, lediglich vielleicht Verführung eine Rolle gespielt haben. Ich setze voraus, dass die Kinder wussten, was geschieht, ich phantasiere, dass sie bei den anderen Kindern zusahen. All das weiß ich nicht. Hier vertraue ich dem Künstler, so wie ich vermute, dass die Kinder ihm vertraut haben. Ohne einen solchen Vorschuss geht es nicht. Kunstrezeption wie Pädagogik haben mit Vertrauen zu tun. Dafür, dass man vertraut, muss es Anhaltspunkte geben. Eine Versicherung kann es nicht geben. Wer nicht vertrauen kann, muss zu fertigen Interpretationsregeln greifen und sich Diskurshoheiten anschließen. Wo kein Vertrauen ist, braucht man Kontrolle, wo Kontrolle ist, sprießt Paranoia. Allerdings kann Vertrauensseligkeit auch nicht zu Bildungsprozessen führen. Einige der Kinder schielen misstrauisch. Unmittelbares Vertrauen wäre der Verzicht auf die Erfahrung von Rivalität, Konkurrenz, Neid, in Aggression umschlagende Aggressivität.

Parallelproduktion& Die Kinder kann man nicht fragen. Diese Arbeit bietet nun aber die Chance aufgrund der möglichen Parallelproduktion, anders vorzugehen. Wir können uns fra125

gen: Was bringt uns dazu, sich vor ein solches Video zu stellen, in eine Ausstellung zu gehen, wo man mit einem solchen Video rechnen kann. Die Arbeit von Tseng Yu-Chin weist intern wie extern dieselbe Struktur auf. Die Arbeit funktioniert nur, wenn beide Strukturen zusammengeschlossen werden. Sie kreuzen sich durch das anhaltende Begehren von Betrachtern, sich zu stellen, den anderen auch nachzustellen. Dadurch entsteht ein Publikum aus individuellen Subjekten, die immer auf der Suche danach sind, welche vorläufigen Verschlussstückchen – vielleicht auch wie ein Reißverschluss – sich bieten, für das, was noch nicht gebildet ist, was man noch nicht hat erwischen können als bildend beim dauernden Einfall von Bildern, egal, ob die nun von außen oder von innen kommen. Die bildenden einfallenden Bilder manchmal zu erwischen, dazu braucht man z.B. die Konfrontation mit Kunst. Da fliegt was ins Gesicht. Es ist etwas Reizendes an den Kindergesichtern, es findet eine fast reflexhafte, identifikatorische Bewegung statt, die fast gleichzeitig wieder abrückt in eine Beobachterposition, fast die eines Voyeurs. Beides produziert Spannung, obwohl man weiß, wie es ausgehen wird, allerdings nicht ganz genau. Einmal sind die Kinder unterschiedlich, auch ist jedes Mal der Anwurf mit der Flüssigkeit anders, die Menge scheint zu differieren und eben auch die Zielgenauigkeit. Um die Parallelproduktion in Gang zu bringen, gibt es neben dem, was man sehen kann, im Video eine Tonspur, die mehrere Dimensionen hat. Sie strukturiert den Raum vor dem Video. Eine solche Strukturierung braucht es immer vor dem Bild, der Tafel, der Projektionsfläche zwischen dem Lehrer und den Schülern. Es gibt eine Spur, Klavier und Flöte, die durch Wiederholung etwas einlullt, so wie man das gerne hat bei repetitiven Arbeiten, sie ist nur ein wenig verschieden jedes Mal. Daneben gibt es ein wiederkehrendes Geräusch, das wie eine etwas beschleunigte Schreibmaschine klingt, vielleicht sind es auch im Schnelllauf rückwärts gespulte Tonaufnahmen. Dazu kommen Fragmente von kindlichen Atemzügen langsam bis hechelnd, Kichern, Lachen, einen O-Ton habe ich nicht ausmachen können. Der Ton holt den Betrachter, der zunächst gar nicht merkt, dass er auch ein Hörer ist, sozusagen von allen Seiten und hinterrücks ins Geschehen, da man auch nicht genau sehen kann, von woher die Musik, der Ton kommt.

Naivetät& Die Arbeiten von Tseng Yu-Chin handeln von den Momenten des Verlustes und dem Entstehen von Naivetät, die erst nachträglich dann als verloren erlebt werden und künstlich wieder gewonnen werden kann. Und so kommt sie hier mehrfach vor: Freud geht davon aus, dass alle Kinder forschen. Er nennt diese Forschung »Sexualforschung«.36 Weiterhin nennt er Gründe dafür, deutet sie an, warum einige Kinder das Forschen aufgeben oder einschränken. Teile dieser Forschung sind in 126

der Kunst wieder zu finden, werden dort fortgesetzt, auch jenseits des besonderen Zustandes Kindheit. Das wäre das, was Adorno in der Ästhetischen Theorie »Naivetät« nennt. Das ist eine errungene. Tseng Yu-Chin ist ein Beispiel für diese auch lustvolle Arbeit. Er zeigt Kinder, die die aus der Erwachsenenperspektive so genannte Naivetät gerade verlieren. Sie werden nicht hereingelegt, sie spielen mit. Und es werden im Betrachter jene Sedimente berührt, erschüttert, verflüssigt, die in ihm vorliegen, die es ihm ermöglichen und ihn dazu bringen, möglicherweise Kunst zu goutieren. Nun sind neben strukturalen in diesem Video auch semantische Wegweiser in die Zeit der Kindheit vorhanden. Ich füge ein kleines Stückchen aus den Notizen aus einer psychoanalytischen Kur ein: »Sie haben schon einmal über diesen Koreaner gesprochen.« Auf die Frage, welchen Koreaner sie meine, wurde deutlich, dass sie den Vortrag, der die Basis dieses Abschnitts ist, in Kassel gehört hatte. Der wurde zum Anlass für sie hervorzuheben, dass sie nie habe Milch trinken können. Sie habe das immer wieder übergeben – so sagte sie. Die Mutter habe dann die Milch gemischt. Mit Kakao, Kaffee, Muckefuck, … Das sei ihr wieder in Erinnerung gekommen, als sie an den Film gedacht habe von dem Chinesen, der habe sie nämlich daran erinnert, dass sie einmal von einem Mann bedrängt worden sei, der sie mit seinem Sperma bespritzt habe, das hätte sie dann auch im Gesicht gehabt. Und ihre Mutter habe immer gefragt: »Wo ist denn das bloß her?« Und habe nicht die viel offenere, fast schon pädagogische Wendung genutzt »Woher kommt das?« Sie habe immer bei dem Satz ihrer Mutter assoziieren müssen, dass irgendwo etwas herauskomme. Das sei doch eindeutig sexuell, das habe mit all den Körperöffnungen zu tun, die gleichzeitig auch Verschlüsse seien. Das sei die Frage nach den Kindern, wo sie rauskommen. Und das sei doch richtig ekelhaft. Noch einen letzten Anlauf: Das Video lässt den Versuchsaufbau sehen. Die Betrachter sind gleichzeitig in einem isomorphen Versuchsaufbau eingespannt. Beides zusammen lässt eine Ungleichzeitigkeit zwischen Kindern und Erwachsenen bemerkbar werden. Der Unterschied ist Hindernis und Produktionsmittel zugleich, Generator von Missverständnissen und neuen Einsichten, Ursprung von Traumata und Differenzierungsfähigkeit. Man bekommt diese Grenze nur weg, könnte man annehmen, wenn man gegen das Inzestverbot verstößt. Und Tseng Yu-Chin zeigt die Ungleichzeitigkeit in einer Weise, die den Erwachsenen Betrachter fast glauben lässt, dass er sowohl die kindlichen wie die Erwachsenen Gefühle erlebt. Es ist natürlich ein Irrtum, weil er nie mehr hinter seine Erfahrungen und nur schwer hinter die Bedeutungswelt zurücktreten kann, die ihn hat erwachsen werden lassen. Manche schaffen das trotzdem. Kinder wissen noch nicht und wissen deshalb anders und vielleicht sogar mehr. Die künstlich errungenen Reste der Kindheit spielen häufig bei der Konfrontation mit Kunst eine Rolle. 127

Dieses Video verschränkt auf eine deutliche, aber vielleicht nur schwer deutbare, jedenfalls für mich nicht im Detail identifizierbare Weise die Vergangenheit und die Gegenwart der Betrachter mit dem Werk. Es appelliert an Erfahrungen, die Betrachter wahrscheinlich so ähnlich machten oder beobachten konnten, wenn andere solche machten. Dieser Zusammenhang muss nicht denkend konstruiert werden – wenn man es tut, macht es mehr Spaß –, sondern er ist da und diese Tatsache kann zum Nachdenken bringen. Diese Verschränkung und Überschreitung wird durch etwas gehalten, das ich hier abkürzend einfach als Schönheit bezeichne: Evoziert durch den Rhythmus, den Ton, die Kinder.

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Das ist das, was Freud als das Unheimliche bezeichnet. Vgl. Freud, Sigmund (1919): Das Unheimliche. StA IV, S. 241-274, hier S. 264: »Das Unheimliche ist unheimlich, weil es insgeheim allzu vertraut ist, deshalb wird es verdrängt.« 2 Leibowitz, Jeshajahu; Shashar, Michael (1994): Gespräche über Gott und die Welt. Frankfurt a. M., S. 154. 3 »Ausbildungspolitik« wäre wohl der bessere Ausdruck. 4 Vgl. hierzu Burckas, Cristina C. (2001): Angst als strukturierendes Moment. In: Michels, André; Müller Peter; Perner, Achim; Rath, Claus-Dieter (Hg.): Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 3 Angst, S. 24-34. Tübingen. Vgl. ebd.: Perner, Achim: Zum Problem der Angst in der analytischen Theorie, S. 207-232. 5 Vgl. Taubes, Jacob (1987): Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung. Berlin. 6 Wenn dieses Individuum gleichzeitig behauptet, es könne das, was fehlt, auch alles punktgenau und erschöpfend beibringen, wenn es nur auf es höre, dann gehört es wahrscheinlich einer Sekte an. 7 Millot, Catherine (1998): Ein perverses Talent. In: Michels, André; Müller Peter, Perner, Achim; Rath, Claus-Dieter (Hg.): Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 1: Perversion, Tübingen, S. 205-212, hier S. 205. 8 Ebd., S. 210. 9 Vgl. Wetzel, Tanja (2005): Geregelte Grenzüberschreitung. München. 10 Vgl. hierzu: Pazzini, Karl-Josef (2002): Tertius datur. Skizze zur Funktion des Vaters in Bildung, in: Friedrichs, Werner; Sanders, Olaf (Hg.): Bildung, Transformation. Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Sicht. Bielefeld, S. 85-110.

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11 Kitsch, auch in seiner erheiternden, tröstenden und besänftigenden Form ist oft die einzige Möglichkeit, der Bedrohung, Angst und Trostlosigkeit zu entgehen. 12 Vgl. Vaihinger, Hans (1911): Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Berlin. 13 Siehe in diesem Kapitel den Bezug auf Tseng Yu-Chin Who ’s listening? (2003-2004) 14 Die Realitätstüchtigkeit dieser Verfahren erweisen sich an der Marktgängigkeit, wo ein Handel des Als-ob stattfindet. Der Kunsthandel tut dies viel offensichtlicher als dies sonst auf den Märkten geschieht und kann so hervorragende Erkenntnismöglichkeiten bieten. 15 Vgl. hierzu Evans, Dylan (2002): Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien, S. 257; vgl. Lacan, Jacques (2010): Das Seminar, Buch X. Die Angst 1962-1963. Übers. von Hans-Dieter Gondek. Wien. Sitzung VIII, 16.01.1963. 16 Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, S. 257. 17 Vgl. Bersani, Leo (2007): Die Psychoanalyse und das ästhetische Subjekt. In: Schöllhammmer, Georg (Hg.), documenta und Museum Fridericianum, Documenta Magazine, Life! Köln, Bd. 2, S. 13-33, hier S. 15. 18 »Die Universität ist primär nicht eine Stätte der wissenschaftlichen Forschung, sondern eine Sozialisationsagentur für die Heranführung des Nachwuchses an die komplexeren Fragen von Welt, Leben und Gesellschaft. Wissenschaftliche Forschung ist innerhalb der Universität, worin auch immer ihre eigenen Ziele bestehen, auf ihren Beitrag zu dieser Art von Lehre zu befragen. Und das trifft sich noch nicht einmal schlecht, wenn man davon ausgehen darf, dass die gesellschaftliche Funktion von Wissenschaft nicht in der Feststellung überprüfbaren Wissens besteht, sondern in einer kontrollierten Form von Ungewissheitssteigerung, die es erlaubt, immer wieder neue Fragen so aufzuwerfen, dass neue Probleme gestellt werden können.« Siehe Baecker, Dirk (2007): Kleine Universitäten. Lettre International. Dichte Vernetzung im globalen Kampf um geistige Kapazitäten (77), S. 82-85, hier S. 82. 19 Ich glaube nicht, dass das so im Internet oder isoliert funktioniert hätte, wie der Künstler anlässlich der documenta 12 behauptet. Siehe: http://www.documenta12blog.de/?cat=75 (14.08.2007 – leider nicht mehr auffindbar). 20 Die erwähnte Arbeit stammt aus der Serie Who is listening? (2003-2004) und besteht aus fünf Videos. 21 Es interveniert etwas Drittes. Unsicher, incertus, heißt der lateinische Ausdruck, der als Attribut des Vaters in der römischen Rechtsprechung gilt: »Pater semper incertus.« Vgl. Pazzini, Tertius datur. Skizze zur Funktion des Vaters in Bildung, S. 85-110. 22 Die oft anzutreffende kulturelle Ausklammerung des Todes hängt zusammen mit der Unerträglichkeit des Unvorhersehbaren, mit der Planungsfreude und dem Phantasma der Machbarkeit. 23 http://www.digiarts.org.tw/en/ShowArtwork.aspx?lang=en&CA_GROUP=W1&CW_ NO=53 (Stand 31.07.2007 – Leider nicht mehr auffindbar) Übersetzung kjp. 24 Vgl. hierzu die Stimmen aus einem Blog: »Schildkrötenbauchkitzlerin Stehtkopf, 19.08.2007 at 12:10h: also ich habe dabei an kindesmissbrauch gedacht. zuerst sitzen sie

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da und wissen nicht, was kommt. unschuldig und etwas verunsichert. und dann werden sie vollgewichst, wissen nichts damit anzufangen, verstehen nicht warum. lachen, weil man den grund nicht versteht. oder weil der typ mit der milchtüte lacht? Hmm… auf jeden fall nochmal schön abfotografiert. Ina G, 20.08.2007 at 17:50h: … mir ging es genau wie meiner Vorschreiberin … es gibt viele aufrüttelnde Werke zu sehen, aber bei diesem sind mir wirklich die Tränen in die Augen gestiegen … Ina« siehe http://www.fotocommunity.com/pc/pc/channel/3/extra/ new/display/9903429 (Stand 19.09.2007). Rath, Claus-Dieter (2002): Vorwort. In: Michels, André, Müller, Peter Müller, Perner, Achim, Rath, Claus-Dieter (Hg.), Jahrbuch für klinische Psychoanalyse 4. Aggressivität. Tübingen, S. 9-23, hier S. 18. – An diesem Text lässt sich auch leicht der Zusammenhang zur Aggressivität und Aggression vor Augen führen. Vgl. Freud, Die Traumdeutung. GW II/III, S. 571 und S. 604; vgl. Freud, Totem und Tabu, GW IX, S. 1-207, S. 80f. Vgl. hierzu Salecl, Renata (2000): (Per)Versionen von Liebe und Hass. Berlin. Hier insbesondere das 7. Kapitel: Schnitt in den Körper, S. 187ff.; vgl. Sigusch, Volkmar (2008): Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankkfurt a. M., New York, S. 47. Prasse, Jutta (2005): Ein Kind wird geschlagen. In: Michels, André; Müller, Peter; Perner, Achim; Rath, Claus-Dieter (Hg.), Jahrbuch für klinische Psychoanalyse. Aggressivität 4. Tübingen, S. 25-39, hier S. 34. Sehr, fast zu überdeutlich kam das in der anderen ausgestellten Arbeit von Tseng YuChin zum Ausdruck aus derselben Serie, die einen kleinen Jungen und seine Mutter zeigt. Zärtlichkeit, Neckerei und Spiel kippen um, deren sexuelle Dimension und die Ungleichzeitigkeit zwischen Mutter und Kind werden wahrnehmbar. Vgl. Tseng YuChin: Who ’s listening? 5, Video 16 min, Kassel, documenta 12. Vgl. Pazzini, Karl Josef (2014): Die Schuld, die aus der Zukunft kam. Wohin damit? In: Lenhart, Peter; Schuller, Marianne; Sohnemann, Jasmin; Zahn, Manuel (Hg.), Wo ist das Über-Ich und was macht es dort? Studien zu einem psychoanalytischen Begriff. Berlin, S. 97-111. Siehe z.B. https://www.pinterest.com/gchadsey/kerry-james-marshall-painter-extraordi naire/ 11.05.15. Vgl. hierzu: http://www.digiarts.org.tw/en/ShowArtwork.aspx?lang=en&CA_GROUP= W1&CW_NO=259/ (Stand 31.07.2007, Seite nicht mehr gefunden 10.06.2015). Baas, Bernhard (1994): Das öffentliche Ding. Die Schuld (an) der Gemeinschaft. In: Gondek, Hans-Dieter; Widmer, Peter (Hg.), Ethik und Psychoanalyse. Frankfurt a. M., S. 93-129, S. 107. In der lacanschen Psychoanalyse als Objekt a bezeichnet. Lacan, Jacques (1980): Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Seminar II. Übers. von Hans-Joachim Metzger. Olten, S. 302. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. StA. V, S. 37-146.

7"Haut."Berührungssehnsucht,"Juckreiz,"Schauplatz"

Bildungstheorie und Kunstpädagogik werden im folgenden Kapitel sehr indirekt vorkommen. Es wird um Oberflächen und deren Bespielung gehen, um Differenzierung und Begrenzung, um Halt. Diese Momente gehen von Bildern aus. In einem Zug mindestens sind die Träger der Bilder, am ehesten und konkretesten noch die auf Papier oder Leinwand, auch als Metaphern von und für Haut zu nehmen. Man kann damit rechnen, dass im Umgang mit Bildern, die Momente zumindest im Hintergrund wirksam werden, die mit dem je individuellen Verhältnis zur Haut zu tun haben. Anders kann man auch sagen: Indirekt hat Kunstunterricht mit den notwendigen Erweiterungen einer Kombination von symbolischen und imaginären Flächen zu tun, die aufgrund ihrer Genese schon mit den produzierenden und betrachtenden Individuen verbunden sind. Also eigentlich agiert Kunstpädagogik an der Stelle, wo wir alle nicht ganz dicht sind. So folgend nun einige Überlegungen zur Haut, die mit Bildern verbunden sind.1

Berührungssehnsucht, Es ist die Berührungssehnsucht, die die Metaphorik der Haut in den psychoanalytischen Schriften seit Margaret S. Mahler, David W. Winnicott, René A. Spitz bis hin zu Didier Anzieu prägt und trägt.2 Auf dieser Sehnsucht und ihrer möglichst guten Erfüllung entspringt die basale Entwicklung des Säuglings. Die Haut wird zur Hülle, zum Schutz, sie ist warm, sanft, anschmiegsam und kuschelig.3 Berührungssehnsucht kommt auch vor Bildern auf. Sie werden durch entsprechende Schilder und Kordeln in Museen geschützt. Auch Berührung durch Bilder ist möglich im Imaginären, das dann auch den Körper ergreift. Pornographie wäre eine zugespitzte Form davon. Durch Bilder kann Erregung ausgelöst oder ausgerichtet werden. Bilder, zumal Leinwände, können der Haut verwandt erscheinen. Wurde doch tatsächlich auf Häute geschrieben und gezeichnet. Erfunden wurden Ersatzträger. Es gibt Tätowierung und (rituelle) Bemalung der Haut.

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Juckreiz, Wenn es auf der Haut zu Juckreiz kommt, ist dies ein Indikator dafür, dass etwas schief läuft. Die Körperhülle braucht einen Zugriff zum Spüren der Grenze. Übertriebene, gar aggressive Berührung, eigentlich Misshandlung kann folgen. Dann bekommt die Hülle Löcher. Dass der Juckreiz ein naher Verwandter der sexuellen Erregung ist, dass ein Kribbeln4 oft zum Umkippen ins Jucken führt, wird in der Dermatologie kaum berücksichtigt. Juckreiz kann rekonstruiert werden als die Suche nach etwas Öffnendem und durch Berühren gleichzeitig wieder Schließendem, etwas Drittem. Juckreiz und seine Beantwortung schafft ein vorläufig Drittes. Die Lust, das Genießen beim Kratzen, beides hat die Tendenz, sich zu verselbständigen. Es fällt manchmal schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass im Denken der erklärtermaßen präverbalen und präödipalen Phase eine Triangulation nicht vorgesehen ist. Erst recht nicht die Einführung von etwas Viertem, nämlich etwas nicht Besetztem, Leerem, Undefiniertem. Es kann einen schon beim Lesen Juckreiz überkommen, eine starke Sehnsucht aus diesem Gehülle, nicht nur theoretisch herauszukommen, aus dieser Symbiose, aus der monadischen Dyade von Mutter und Kind: Aufbruch zu einer Suche nach Fenstern. In der Renaissance wurden Bilder oft wie Fenster gesehen.

Verlust,der,Zentralperspektive, Vielleicht war der Ausbruch aus Umhüllungen und damit Fesselungen ein Motiv für Pollocks Arbeiten.5 Ich erinnere mich an eine Arbeit aus der noch figürlichen Phase, die Umhüllungen, eine Höhle (Abb. 26), erkennen lässt, ein Selbstporträt (Abb. 27) aus eben dieser Zeit – die Farboberfläche bricht auf, die Konturen wer-

Abb. 26 Jackson Pollock: Going West. 1934-38. Oil on fiberboard, 15 1/8 x 20 3/4« National Museum of American Art, Smithonian Institut, Washington, D.C. Abb. 27 Jackson Pollock: Self-Portrait. C. 1930-1933. Oil on gesso ground on canvas, mounted on composition board, 7 1/4 x 5 1/4‘‘. Pollock-Krasner Foundation.

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Abb. 28 Jackson Pollock: Lavender Mist: Number 1, 1950. Oil and enamel, and aluminium on canvas, 87 x 118‘. National Gallery of Art Washington, D.C.

den brüchig –, eines der bekannten Drippings (Abb. 28) und eines der letzten Bilder, in dem sich ein Abgrund in einer Spalte der brüchigen Oberfläche auftut (Abb. 29). Die letzten Bilder waren schon keine Fenster mehr, das waren Tore. – Das hat zunächst einmal nichts mit Haut, erst recht nichts mit Pollocks Haut zu tun. Rührt Peggy Guggenheims Aussage über Pollock, dass seine Malerei eklig und schmutzig sei, auch von einem Vergleich mit einer makellosen Haut her? Diese Einschätzung konnte Mondrian nicht teilen, der anders nämlich durch Kühle und Strenge bei fast makellos homogenem Farbauftrag aus der Hülle kam. Mondrian setzte sich bei Peggy Guggenheim mit Erfolg für Pollock ein.6 Auch die Arbeiten von Clyfford Still können als Studien zu geschlossenen, porösen, aufbrechenden geschichteten Oberflächen gesehen

Abb. 29 Pollock: The Deep. 1953. Oil and enemal on canvas, 86 1/4 x 58‘‘. Musée National D’ Art Moderne, Centre George Pompidoeu, Paris.

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werden. Die Farbe bildet Krusten, die Oberflächen haben Löcher. Die darunterliegende Leinwand schimmert durch, an manchen Stellen liegt sie blank. Auch gut erzogene Museumsgänger, in der Phantasie natürlich nur, kann da Knibbellust überkommen.

Abb. 30 Clyfford Still: 1957-D No. 1. Oil on canvas. Collection Allbright Knox Art Gallery, Buffalo.

Spät assoziierte ich den Zusammenhang des Interesses für diese Bilder mit meiner Biographie. Und ich konnte alte Empfindungen genüsslich aufsteigen lassen, sozusagen gefahrlos für die eigene Haut, sie drängten sich vor die möglichen, anerkannten Interpretationen des Abstrakten Expressionismus. Sie erinnerten an Salbenaufstriche, dickflüssige Zinksalben auf der Haut. Es gab da Schrunden. Aber in viel schöneren Farben gemalt. Das ist – so sei zugegeben – ein privater Zugang zum Abstrakten Expressionismus, den ich lange Zeit vor mir und anderen geheim halten konnte. In einer Arbeit über Pollock schrieb ich etwas über die Leinwand, die die Haut vertritt, die im aufgespannten Zustand noch ein wenig lebendig wirkt, nachgibt, aber auf den Boden gelegt zur Unterlage wird, zur tätigen Kritik an der sicheren Zentralperspektive.7 Die Zentralperspektive schafft eine Identität, einen Standpunkt, von dem aus die Welt zu beobachten und zu vermessen sei. Pollock dokumentierte ihren Niedergang und die Folgen. 134

Zur gleichen Zeit, als in der Kunst die neuen Möglichkeiten nach dem Niedergang des autarken, starken, individuellen, selbstidentischen Subjekts erforscht werden, mutiert ein Teil der Psychoanalyse zur Ichpsychologie. Ziel ist eine sichere Identität in der vorgestellten Stärkung des Ichs in der allmählichen Abkehr von Freud. Sie war stark am pragmatisch unmittelbar zielorientierten American way of life orientiert. Es war dabei kaum mehr etwas davon zu erkennen, dass die Psychoanalyse darauf aufmerksam machen konnte, dass die sichtbaren Phänomene, die bewusst wahrnehmbaren, nicht unbedingt das sind, was von Bedeutung sei, und dass zudem das gleiche Phänomen nicht auf die gleiche Bedeutung schließen ließe. Es drängte sich ein vom Psychoanalytiker zu konstruierendes szenisches Verstehen und Deuten auf. Nicht das Symbolische der Sprache und deren Bezug zum Unbewussten, sondern das Imaginäre, fast ohne Verknüpfung mit dem Sprechen gedacht, gewann die Oberhand. Folgerichtig ging die Orientierung in Richtung Harmonie und Einpassung, die Dyade von Mutter und Kind oder besser noch die intrauterine Umhüllung wurden Ideale für eine Stärkung des Ichs gegen die Bedrängnisse von Innenund Außenwelt, eine Umhüllung aus Imaginärem. Tadellose Haut kann in diesem Zusammenhang gut als Metaphorisierung dafür dienen, dass Ordnung herrscht. Strahlend weiße, in Reihe stehende blinkende Zähne bilden den wehrhaft freundlichen Zaun als Grenze zwischen Innen und Außen. In der Säuglingsbeobachtung – einer schleichenden Rückkehr zum von Freud kritisierten Wissenschaftsparadigma8 – wurden Schlüsse gezogen, aus dem, was zu sehen war. Man sah Mütter mit Kindern, weil man auch nur diese eingeladen hatte – gemäß den Vorurteilen über die Arbeitsteilung in der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kleinfamilie, gemäß den Vorurteilen eines romantischen Bildes von Mutterschaft. So wurde ihr zentrales Phantasma das der Mutter-Kind-Dyade, Väter und erst recht die Funktion des Vaters waren nicht zu sehen. Aus diesem Phantasma heraus erfand Didier Anzieu das Haut-Ich.9 Nicht etwa ein Haut-Es oder ein Haut-Über-Ich. Von der Mutter-Kind-Dyade her hatte man eine sichere Szene, auf deren Folie man jede kindliche Entwicklung meinte betrachten zu können. Einmal ganz davon abgesehen, dass mit der biologisch geschlechtlichen, funktionalen Zuordnung »Vater« und »Mutter« noch nichts darüber ausgesagt ist, ob es sich bei der beobachteten Frau, die das Kind geboren hatte, wirklich um die Person handelte, die vorwiegend mütterliche Funktionen ausübt, dasselbe gilt für die sogenannten Väter. Es dürfte nicht nur mir passiert sein, dass zuweilen eine Tochter ihren leiblichen Vater mit ›Mama‹ angeredet hat. Die Entstehung der Ich-Psychologie, des Abstrakten Expressionismus, der immer deutlichere Verlust einer Zentralperspektive (auch im Sozialen) und der sozialpsychologischen Beobachtung einer vaterlosen Gesellschaft fallen in die gleiche Zeit. An die Stelle distanzierter Betrachtungsmöglichkeiten von einem wohl definierten 135

Standpunkt aus treten Nähe, Kontakte und Berührungsmöglichkeiten, Untersuchungen des Materials (mater-ia und Mutter / mater haben den gleichen Stamm) etwa in der Bildenden Kunst. Es wird immer unabweisbarer, dass die Entwicklung der Demokratie nicht nur auf der Ebene staatlichen Zusammenlebens, sondern auch im Bereich des sozialen Lebens im Kleinen die Gewissheiten gewohnter Verknüpfungen untergräbt.10 Die sozialen Funktionen der Mutter und des Vaters, die Verknüpfung der Funktionen mit der Geschlechtszugehörigkeit und der biologisch feststellbaren Abstammung sind gelockert und bieten keine Verhaltenssicherheit mehr.

Der,neue,Augenpunkt:,Mutter