Bewusstsein und Existenz: Eine phänomenologische Studie [1 ed.] 9783428537464, 9783428137466

Die Phänomenologie ist kein historisches Thema. Genauso wenig eine bloße Angelegenheit für eine akademische Philosophie.

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Bewusstsein und Existenz: Eine phänomenologische Studie [1 ed.]
 9783428537464, 9783428137466

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ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 104

Bewusstsein und Existenz Eine phänomenologische Studie

Von Wolfgang H. Gleixner

Duncker & Humblot · Berlin

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Begründet von Kurt Schelldorfer

Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)

Schriftleitung Volker Gerhardt

Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken“ besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften“. 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften“ wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.

WOLFGANG H. GLEIXNER

Bewusstsein und Existenz

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 104

Bewusstsein und Existenz Eine phänomenologische Studie

Von

Wolfgang H. Gleixner

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-13746-6 (Print) ISBN 978-3-428-53746-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83746-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞



Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Arbeiten über die Phänomenologie, über diese oder jene phänomenologische Schule, diesen oder jenen der bekannten Phänomenologen gibt es zur Genüge. Phänomenologische Untersuchungen aber sind rar. Die Phänomenologie mag keine Wissenschaft sein (vor allem wenn wir den heute üblichen ‚engen Wissenschaftsbegriff‘ zu Grunde legen), sie ist aber strenge philosophische Grundlagen-Forschung. Und das in einem ausdrücklichen Wort-Sinn. Das benennt auch den Phänomenologie-Begriff, den ich dieser Arbeit zu Grunde gelegt habe. In der Phänomenologie geht es immer um Wesentliches. Geradezu eine Denkbewegung hin zu ‚Rändern‘, des für uns überhaupt noch ‚anschaulich‘ fassbaren. Also, ein Versuch (durchaus oft auch eine ‚gefährliche‘ Versuchung) sich gedanklich auf ein ‚Nicht-weiter-Hinterdenkbares‘ hinzubewegen, sich wirklich anzunähern. Daher kommt im Übrigen auch das Gefühl einer Fremdheit, der Merkwürdigkeit gegenüber philosophischen Texten, die sich (unbekümmert um positivistische Vor-Schriften) um Radikalität bemühen. Kurz und knapp: Diese Phänomenologie richtet sich aus auf einen Grund, der keinen weiteren sinnvollen Hintergedanken, keine weiterführende Erfahrung mehr zulässt. Dass diese Ausrichtung nicht mit Erfüllung, dem zur Ruhe kommen der Suchbewegung verwechselt werden darf, versteht sich von selbst. Wenn die über zweieinhalbtausendjährige Denkgeschichte uns eines gelehrt haben sollte, dann doch wohl eine Form der Demut. Für mich war von Anfang an (mit meiner ersten phänomenologischen Untersuchung vor über fünfundzwanzig Jahren) das Philosophieren nie ein bloßer Ausdruck theoretischer Neugierde. Das Philosophieren ist letztendlich immer einer (dem Menschen wesentlich zugehörigen) existentiellen Not geschuldet. Und so liegt ‚hinter‘ jedem ernsthaften Philosophieren (unter welcher Gestalt es immer auch firmieren mag, welcher Schule es sich immer auch verpflichtet weis) eine existentielle Dimension. Alles Philosophieren ist ‚im Grunde‘ Existenz-Philosophie! Daran gibt es für mich keinen Zweifel: Die wirkliche (unüberbietbar radikale) Transzendentalität jeder Reflexion leistet der verstörte, verunsicherte, beunruhigte wirkliche Mensch. Das benennt die unüberbietbar radikale Reflexion der Reflexion. Der Mensch sieht sich immer wieder (von neuem und von Anfang an) gezwungen, sich seiner selbst und seiner Lebens-Welt zu versichern. Gezwungen

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Vorwort

also sich auf diese Suchbewegungen einzulassen – selbst wenn ein Scheitern, eine ‚Aporie‘ sich ‚von Anfang an‘ abzuzeichnen scheint. (Und nebenbei, – die bisherige Geschichte der Philosophie scheint da wenig Anlass zur Hoffnung zu geben). Das ist unser gemeinsamer existentieller Horizont von ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Hier leben und denken wir. Das benennt also den (mehr oder weniger ‚verdeckten‘) Grund und Abgrund jeden Philosophierens. Diese ‚unsere‘ Existenz umzirkelt, begrenzt den Fragehorizont, innerhalb dem sich das wissenschaftliche Denken und die philosophischen Reflexionen (all diese bewundernswerten Anstrengungen des ‚objektiven Geistes‘) bewegen. Die vorliegenden Reflexionen knüpfen vor allem an meine Arbeit ‚Krisis und Geltung‘ (1999) an. Nicht mehr und nicht weniger als ein (wortwörtlich) ‚Versuch‘; und zwar mit einer existentiellen Phänomenologie die wirkliche Wirklichkeit des Menschen – diesseits von Idealismus und jenseits des Positivismus – zu skizzieren, und ein Stück weit als Reflexion und Verzweiflung zu entfalten. Diese kleine Untersuchung ist der erste Beitrag (eine phänomenologische Vorlage) für ein mehrjähriges Forschungsprojekt zur ‚Philosophie der Großstadt als Lebenswelt der Moderne‘, das ich – dankenswerterweise – am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (fiph) durchführen kann. Hildesheim, im Winter 2011

Wolfgang H. Gleixner

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grund-Stil einer Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Möglichkeit eines theoretischen und praktisch wahren Anfangs . . . Erste Überlegung zur Modernität der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Form des neuzeitlichen Philosophierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aufklärung und die Idee einer absoluten Vernunft. . . . . . . . . . . . . . . Die Selbstsetzung der neuzeitlichen, transzendentalen Vernunft als verhängnisvolle Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Krise und Krisis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Neuzeit – Rationalismus – Empirismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 13 17 23 25 28 31 41

metaphysische Scheitern der Neuzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Existentielle Transzendentalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krisis als reflexive Potenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die wirklichen transzendentalen Leitfäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48 48 57 59

C. Krisis und Reflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die wirkliche Wirklichkeit und die philosophische Verzweiflung . . . . . II. Das existentielle Denken der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die existentielle Reflexion der Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62 62 73 83

A. Der I. II. III. IV. V.

B. Das I. II. III.

D. Reflexion und Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 I. Die leibhafte Selbstwahrnehmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 II. Das Existentielle und das Transzendentale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Notwendig verstrickt in das Philosophieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 E. Reflexion, Großstadt und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Transzendental-leibhaftes Krisen-Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Projekt: ‚Moderne‘ als Anfangs-Frage der Philosophie. . . . . . . . . . . III. Die endgültige Aufhebung des neuzeitlichen Philosophierens . . . . . . . . .

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phänomenologische Lebensphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fragwürdige der philosophischen Frage-Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . Die Reflexion der Frage-Stellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die existentielle Anfangs-Frage der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reflexive Reflexion als abendländische Grenzbestimmung . . . . . . . . . . . Die ‚transzendentale Oberfläche‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gedanke der Großstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178 178 185 193 197 205 207

F. Die I. II. III. IV. V. VI.

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt. – Platon „Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher; bedenke ich das bisschen Raum, den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, dann erschaudere ich und staune, dass ich hier und nicht dort bin; keinen Grund gibt es, weshalb ich grade hier nd nicht dort bin, weshalb jetzt und nicht dann.“ Pascal Aber zu Philosophen werden wir nicht durch Philosophien. Husserl

Einleitung Die (ideale) Geschichte der Philosophie ist die Zusammenfassung der radikalen Reflexionsleistungen, die ‚Philosophieren‘ genannt werden. Sie ist – was immer ihr sonst noch unterstellt worden ist – vor allem existentiell gerichtete Grundlagenforschung. Ob diese ‚äußerste‘, letztmögliche GrundLegung, die Gestalt einer unbedingten Grund-Lage der Existenz, historisch immer erreicht worden ist, ja, ob sie jemals wirklich erreicht werden kann, ist dabei zunächst ohne Belang. Das Philosophieren ist also als wirkliche, radikale Reflexion auf eigenartige Weise ‚existentiell repulsiv‘. Dieses Unterwegs-sein hin zu einer grundsätzlichen, wesentlichen Grund-Verfassung – einmal entdeckt – wird zur Selbstbestätigung, zum unabweisbaren Selbstauftrag des Menschen. Was immer sich der Mensch während dieser zweieinhalbtausendjährigen Geschichte der Philosophie (um nur von diesem ‚ZeitRaum/KulturRaum‘ zu reden) als seine Grund-Verfassung gedacht hat, was immer er ins Spiel gebracht hat, immer war ‚er selbst‘ es, wortwörtlich und wirklich, der so gedacht hat. Immer war er als sein eigener ‚Verfassungsgeber‘, ausdrücklich oder implizit mit vorgestellt, mit gedacht. Das scheint auf den ersten Blick sehr wunderlich, ja, sogar beunruhigend. Je entschiedener der Mensch, radikal ausgerichtet, sich an Grenzen des

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Überhaupt Denk-möglichen begibt, weg von jeder Zufälligkeit, desto aufdringlicher begegnet er sich selbst, – und nur sich selbst. Und zwar als die wirkliche Bedingung für jede wirkliche Möglichkeit. Der Mensch selbst, wirklich, endlich wird nun – mit der Wende von der Neuzeit zur Moderne – für sich selbst philosophisch und existentiell unabweisbar. Er kann sich hier und jetzt vor sich selbst nicht mehr wirklich ver-stellen. Die ‚großen Erzählungen‘ werden (zu) Geschichte(n). So auf den vorläufigen Punkt gebracht: Philosophieren der Moderne gestaltet methodisch-radikal Selbst-Vergewisserung hier und jetzt. Ganz ausdrücklich ‚hier und jetzt‘! Also etwas weitergedacht: Eine existentielle Reflexion der je eigenen, je wirklichen Existenz. Das geht über eine allgemeine Betrachtung des Daseins, des Leidens und des Todes weit hinaus.1 Dabei kann das ‚hier und jetzt‘, nennen wir es kurz ‚die Moderne‘, nicht außen vor bleiben. Diese Reflexion der Existenz (‚meiner‘, ‚unserer‘) Existenz ist geradezu verflochten mit einer Reflexion der Moderne. ‚Michselbst-wirklich-verstehen‘ heißt meinen Kontext, meinen Horizont, meine Lebenswelt ‚begreifen‘, – wahrhaftig endlich begreifen. Und das erfordert immer auch eine existentielle Zeitgeist-Bestimmung. Vor allem etwa so: Was gestaltet, durch-stimmt, beruhigt oder beunruhigt die ‚europäische Welt‘, das ‚Abendland‘ jetzt?2 Um daran keinen Zweifel zu lassen. Das alles sind Fragen für ein systematisches Philosophieren. Es geht also nicht um eine Art Geschichtsphilosophie, oder um eine Geschichte der Philosophie. Sondern, wesentlich schlichter, einfacher, konkreter, um eine systematische phänomenologische Vorstellung der Moderne; – korrelativ, des Bewusstseins der Moderne. Eines drängt sich nun geradezu von vorneherein auf und kann nicht mehr übersehen werden. Es gibt nicht die Geschichte der Moderne. Das was wir als ‚die‘ Modern begreifen, entfaltet sich in sehr unterschiedlichen Geschichten. Diachrone und synchrone Fassungen, Zusammenstellungen, Entwürfe. Eines verbindet sie. Und zwar sind es ausschließlich Geschichten, die das immer existentielle Bewusstsein der Moderne selbst inszeniert. Bewusst und unbewusst. Auf einer, allerdings schon sehr abstrakten Ebene, nämlich der Reflexion der Reflexion, kommt hier schließlich auch der Bruch mit der Neuzeit in den Blick. Die Moderne, das drängt sich uns auf, reflektiert in deutlich anderen Gestalten, in wesentlich anderen Formen, auch mit einem anderen, nämlich einen existentiellen Gestus. Endlich, de1 So bei Schopenhauer, z. B., Die Welt als Wille und Vorstellung. II, 1, Züricher Ausgabe, S. 187. 2 „Das dunkle Wort ‚Abendland‘ . . . meint, im Gegensatz zum Morgenland, eine Bewegung zum Ende hin, die zwar im Osten beginnt, sich aber im Westen vollendet“ Karl Löwith (1983), S. 475.

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mütig, verzweifelt! Das hat Folgen für das Philosophieren. So ist es nicht mehr möglich, ein geschlossenes System der Geltung, der Bedeutung wirklich zu denken. Es drängt sich mir auf, dass die (je ‚meine‘) Existenz als Grunderfahrung der möglichen und wirklichen Wirklichkeit, ein weiter reichendes, sinnvolles hinter-denken nicht mehr zulässt. Und schließlich und vor allem. Das Zusammenspiel von Reflexion und Verzweiflung, – verdeckt oder offen, intellektuell verspielt oder als ästhetischer Subtext der Kultur. Ich bin jetzt bei mir endlich angekommen! Das Trennende zwischen Neuzeit und Moderne ist also nicht die Methode der ‚transzendentalen Reflexion‘. Die transzendentale Reflexion wird hier nicht, z. B. lebensphilosophisch, existentialistisch zurückgelassen. Sie wird vielmehr existentiell eingeholt, oder genauer, ‚zurück-gestellt‘; kontextuell gebunden, – und so und in dieser Gestalt verwirklicht. Die transzendentale Reflexion stellt sich in einen grundsätzlich anderen Horizont. Sie lädt sich dramatisch auf. Und zwar ist jetzt ‚Krisis und Geltung‘ die wesentliche transzendentale Grundfigur der Moderne.3 Das Bewusstsein der Moderne hat (in der Tat) das Denken der Neuzeit ‚radikalisiert‘. Das Philosophieren der Moderne stellt sich nämlich selbst als Philosophieren wirklich existentiell zur Disposition. Das Philosophieren ist nicht mehr eine bloße historisierende Zeit-Geist-Bestimmung. Sondern, eine reflexive, transzendentale Sammlung der wirklichen Wirklichkeit. Diese Sammlung ist immer auch zugleich eine Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung hat die Fassung der Reflexion der Reflexion. Das vor den Augen, knüpfe ich an, an einer viel besprochenen, geradezu ‚modisch zerredeten‘ Deutung der Gegenwart. So wird etwa gesagt: Wir leben in ‚unübersichtlichen Zeiten‘. Wie wahr! Was hat man uns nicht alles schon verkündet: das Unglaubwürdig-werden der ‚großen Erzählungen‘; das Scheitern der Moderne; das Ende der Geschichte; die endgültige Herrschaft der positiven Wissenschaften; den Untergang der Religionen; die Renaissance des Mythos; und so manches andere. Mehr denn je ist Selbst-Denken, Reflexion, ist systematische Philosophie gefragt. Das liegt auf der Hand. Aber, auch das ist wahr, und ein kurzer Blick in die Literatur genügt, – das ist leichter gesagt als getan! Denn, gerade vor diesem Hintergrund einer offensichtlichen, vor allem theoretischen Unübersichtlichkeit braucht es gründliche Klärungen ‚von Anfang an‘. Also, mitten hinein in das Thema: Was ist eigentlich ‚Philosophie‘? Was (be-)treibt derjenige der den Anspruch erhebt zu ‚philosophieren‘? Mit die3 Vgl. dazu vor allem Reinhart Koselleck: „Krisis im griechischen Sinne des Zwanges zum Urteilen und zum Handeln unter dem Vorgebot der Zeitnot bleibt ein Begriff, der auch unter den komplexen Bedingungen der modernen Gesellschaften unverzichtbar ist.“ (2006), S. 213.

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sen oder ähnlichen Fragen beginnen bekanntlich die Einführungsschriften der Philosophie. Das, so wird scheinbar vorausgesetzt, sollte wohl ohne weiteres historisch, wissenschaftsgeschichtlich beantwortet werden können. Selbstverständlich, – vor allem dann, und nur dann wenn wir die dazu vorhandene ‚philosophische Literatur‘ zugrunde legen. Gerade das aber würde die Philosophie, das Philosophieren von vorneherein verfehlen.4 Auf den ersten Blick mutet das eigenartig an. Zumindest ist das auch historisch offensichtlich bemerkenswert. Zweieinhalbtausend Jahre ein mehr oder weniger ‚systematisches‘ Nachdenken über die Möglichkeit eines (philosophisch erdachten) ‚guten Lebens‘ innerhalb einer sinnvollen Wirklichkeit. Und jetzt . . .? Etwas drastifiziert: Das Philosophieren nichts weiter als ein sich abarbeiten am je eigenen, endlichen Leben. Ausgesetzt der Möglichkeit des Wahrnehmens, des Denkens, der Reflexion, des Sollens, der Hoffnung. Die ‚klassisch großen‘ Fragen der Philosophie nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit widersprechen dem nicht. Am Grunde jeder Philosophie steht die Frage, die Herausforderung: Was brauche ‚ich wirklich wirklich‘; brauche ‚ich‘ – dieser endliche Mensch hier und jetzt an Theorie und Praxis um mein Leben ‚wesentlich menschengemäß‘ zu gestalten! Und heute? Schon ein historischer Vergleich der Gegenwart mit der Denkgeschichte unserer abendländischen Kultur zeigt es. Keine wirklich tragenden, überzeugend sinnstiftenden Bilder mehr in Sicht. Und das Philosophieren? Kann es hier und jetzt überhaupt noch mehr und anders sein als eine ‚empirische‘, psychologische, soziologische Vorstellung der je eigenen Existenz; der möglichen Existenzweisen, die nachträglich ‚reflektiert‘ sich in den Fragen der Wissenschaften, der Kunst und der Religion blind spiegeln? Das wäre im Übrigen nicht wenig! Denn in einer solchen wirklichen Reflexion sammeln und ordnen sich alle Fragen der menschlichen Existenz. Oder so, – und ganz in der Tradition der Neuzeit: Es geht immer noch um die Bedingung der Möglichkeit für eine Philosophie der Existenz. Und das wortwörtlich. In allem Ernst! Vor aller akademischen Tradition. Das Philosophieren ist endlich am Grunde ‚seiner‘ Existenz angekommen. Und das benennt nun auch das weitere Anliegen dieser Arbeit. Ein vorsichtiger, systematischer Beitrag zu einer Phänomenologie der Existenz (in) der Moderne. Das ist immer auch eine vorsichtige Hinführung zu einer noch ausstehenden ‚existentiellen, also wirklichen Transzendentalität‘. Das alles sind keine ‚weltfremden‘ Theorien. Es sind wirkliche Erfahrungen; wirklich radikale Erfahrungen, die, um einen umstrittenen Begriff der Phänomenologie einzuführen, wirklich, wenn auch nicht zuerst und zumeist ‚er-schaut‘ werden. 4 Dass das in der philosophischen Literatur weit verbreitet ist, darf uns nicht weiter beeindrucken.

A. Der Grund-Stil einer Epoche I. Die Möglichkeit eines theoretischen und praktisch wahren Anfangs Setzen wir ein, mit einem systematischen und das heißt (darauf werden wir noch zurückkommen) immer einen existentiellen Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit der Denkgeschichte. Es gibt im Übrigen keine Möglichkeit DenkGeschichte selbst geschichtlich zu verstehen. Ganz allgemein: Jeder ZeitRaum hat eine, – willkürliche und unwillkürliche, – das Denken, das Fühlen, das Handeln bestimmende Grundausrichtung. Nennen wir es einen Grundstil.1 Ein selbstverständliches existentielles Selbstverständnis, das natürlich auch Streit, Spannungen, Konkurrenz, Randpositionen, Widerstände, und ‚Nicht-Bewusstes‘ umfasst. Zuerst und zumeist wird das gelebt und nicht ausdrücklich bedacht. Diese wortwörtliche Grund-Ausrichtung könnte als ein ‚meta-wissenschaftlicher‘, ‚meta-ästhetischer‘, ‚wirklich lebensweltlicher‘ Epochenstil vorgestellt werden. Hier zeigen sich auch die philosophischen Bedingungen, die die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnis, der ästhetischen Wahrnehmung und der lebensweltlichen Gestaltung wirklich begrenzen. Dieser ‚Stil-Gedanke‘ lässt sich durch soziologische, psychologische oder kunsthistorische Erklärungen ‚nicht zur Gänze‘ be- und umgreifen.2 Diese eigengeartete Grund-Ausrichtung, dieser Grund-Gedanke, entwirft nämlich erst den Horizont innerhalb dem sich das Denken, Fühlen, Sehen, Hören der ‚Zeitgenossen‘ als selbstverständlich ‚objektiv‘ getragen versteht.3 ‚Zeitgenossenschaft‘, also die Weise der Existenz vor jeder ‚Klassenzugehörigkeit‘, sozialen Schicht o. ä., entscheidet sich in einem ‚sich gemeinsamen, existentiellen Bewegen‘ innerhalb eines 1 ‚Stil‘ sei – so die Ethnologin – Mary Douglas – ein nicht-verbales Medium der Bedeutungsübermittlung. Douglas (1974) S. 104. 2 Vgl. z. B. Hans Thomae (1968), S. 223 ff. 3 Eine andere Auffassung ‚Stil und Bedeutung‘ grundsätzlicher in eine Epoche einzulassen bei Gregory Bateson: „Die Löwen auf dem Trafalgar Square hätten auch Adler oder Bulldoggen sein können und doch dieselben (oder ähnliche) Botschaften über das Empire oder über die kulturellen Voraussetzungen im England des neunzehnten Jahrhunderts in sich getragen. (. . .). Der Code, mit dem wahrgenommene Objekte oder Personen (oder Übernatürliches) in Holz und Farbe transformiert werden, ist eine Informationsquelle über den Künstler und die Kultur.“ Bateson (1985), S. 184.

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A. Der Grund-Stil einer Epoche

so entworfenen Horizonts. Dieser Grundstil umfasst, begreift die kunsthistorischen Epochenstile (z. B. romanisch, gotisch) genauso wie das wissenschaftlich und lebensweltlich ‚rechtmäßige‘ Denken, Sollen und Handeln, was zu tun und zu denken ist. – Begrenzt, umgreift und begreift sie ‚unbewusst-praktisch‘. Setzt sie in ‚Geltung‘ oder in ‚Unrecht‘, – und überschreitet (transzendiert) sie dabei unwillkürlich. Noch das Heideggersche ‚man‘ ist eine Gestalt dieses Grund-Gedankens. Dass dieser ‚metaphysische Epochenstil‘ im Bewusstsein eines ‚Betrachters‘, eines ‚Beobachters‘ entsteht, – immer wieder als eine nachträglich gedachte ‚Schau‘-, sei hier nur am Rande erwähnt.4 Dieses grundsätzlich gerichtete Nach-Denken und Überschreiten (müssen), unaufhaltsam, und sich nie genügend, gestaltet die Geschichte der Reflexion.5 Die Ideengeschichte der Neuzeit und der Moderne bildet hier grundsätzlich keine wirkliche Ausnahme. Trotzdem entfaltet sie sich zumindest als der, die gesamte Epoche bestimmende Versuch, dieser Dynamik in der theoretischen und praktischen Vernunft einen aufgeklärten, wissenschaftlichen Grund und Halt zu geben. Der neuzeitliche Zeit(Denk)Raum wird durch die Frage nach dem, nach einen ‚unbedingten‘, vernünftigen Anfang gestaltet. Einem Anfang, der das Faktische theoretisch ‚natürlich‘ begreifen, der es schließlich ‚unbedingt gelten‘ lässt. Vor allem aber, ein Anfang, der Freiheit und Notwendigkeit durch (‚als‘) Vernunft ‚praktisch‘ verwirklicht. Wie immer auch noch die ‚Untersuchungsfelder‘ eingeführt und flankiert werden, deuten wir es im Allgemeinen so. Der philosophierende Mensch ringt um einen ihm gemäßen, einen ganz und gar ‚menschengemäßen Anfang‘. Wahrhaftig ein philosophisches, ein menschheitliches Großprojekt.6 Die menschliche Vernunft, – das ist der ‚ungeheure‘ Gedanke, – benennt und begrenzt nicht nur die theoretischen und praktischen Möglichkeiten des Menschen selbst, – sondern auch die Wahrheit des Gottes, des GottesDienstes. 4 Damit ist Benennung und die Fassung eines Epochenstils – unwillkürlich – auch eine Selbst-Fassung. ‚Wir‘ bestimmen das mittelalterliche des Mittelalters, das neuzeitliche der Neuzeit; bestimmen wir hier und jetzt auch das Moderne der Moderne?? 5 Auch hier gilt, was Norbert Elias für den ‚Prozeß der Zivilisation‘ anmerkt: Nichts, – so schreibt er – weise in der Geschichte darauf hin, „dass diese Veränderung ‚rational‘, etwa durch eine zielbewusste Erziehung von einzelnen Menschen oder einzelnen Menschengruppen durchgeführt worden ist. Sie vollzieht sich als Ganzes ungeplant; aber sie vollzieht sich dennoch nicht ohne eigentümliche Ordnung.“ Elias (1976/zweiter Band), S. 313. 6 Schon der Mythos ringt um den Anfang des Bewusstseins. Vgl. z. B. Erich Neumann (2004).

I. Die Möglichkeit eines theoretischen und praktisch wahren Anfangs

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Gefragt also ist nichts weniger als ein theoretisch und praktisch wahrer und wahrhaftig unbedingter, existentiell absoluter ‚anfänglicher Anfang‘. Diese Anfangsfrage beunruhigt das Abendland. Ihre Wucht baut und zerstört zugleich. Diese ‚An-frage‘ ist die entscheidende Bewegung der Neuzeit. Vernunft und Freiheit als erdachte, wirkliche Möglichkeiten für eine ideale Neu-Zeit. Daran könne es – so wird es vorgestellt – nun keinen Zweifel mehr geben, die Menschheit werde schließlich und endlich den Ausgang aus der philosophischen, religiösen und zuletzt der politischen Unmündigkeit finden. Das sei der ‚mitreißende Weg der Vernunft‘. Dieser Weg der Vernunft sei unbedingt! – Das meint, der Weg der Vernunft sei letztendlich ganz und gar rein vernünftig. Die philosophische Betrachtung dieser ‚neuen Zeit‘ ist selbst die Inszenierung eines folgerichtigen, vernünftig-idealen Schauspiels. Die AbSicht der NeuZeit ist also zunächst und vor allem eine literarische, philosophische, unwirklich vernünftige Idee einer ‚reinen‘ Idee. Eine selbstverständliche Vorstellung der Vernunft ‚ohne Leib‘, ohne Geschichte, ohne wirkliche Existenz zu reflektieren. Die viel beschriebene ‚Entdeckung der Bedeutung der Geschichte‘, der Grund- und Existenzform der Geschichtlichkeit ist wirklich eine der wahrnehmbaren Übergangszonen zwischen Neuzeit und Moderne. ‚Sichtbar‘ als ‚überlappende, weit schwingende Zone‘. Nicht als eine eindeutig historisch aufzeigbare, benennbar durch dieses Werk, diesen Menschen, also keine starre ‚Linie‘. Das neue Denken ist schon ein sich Bewegen innerhalb dieser Zone. Beispielsweise: die erschreckend-befreiende Erfahrung einer endgültig-endlichen, nicht mehr theologisch vorgegebenen Gebundenheit. ‚Ich bin‘ nicht mehr in der Hand eines mich hier und jetzt und in Zukunft bestimmenden persönlichen Gottes geschrieben. Das ist die Grund-Lage der neuzeitlichen Idee der Selbstverantwortung. Dass dieser Gedanke auch politische, gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen herausfordert, stützt und trägt kann nicht verwundern. Die Reflexion dieser existentiellen Erfahrung, bis hin zur Reflexion der Reflexion der existentiellen Erfahrungsmöglichkeit, gestaltet die Philosophie der Moderne. Das bestimmt nun die eigentliche, wesentliche Gestalt des Philosophierens. Die wirklich wirkliche, je-eigene endliche, fragile Existenz drängt sich vor. Sie gestaltet sich in der Kunst, auch in den Religionen,7 und organisiert sich in der Form der Wissenschaften und der alltäglichen Lebenswelt. Diese Reflexionen selbst erfahren sich im Grunde als ‚moderne Wirklichkeit und Möglichkeit verzweifelter Existenz‘ hier und jetzt. Die Philosophie selbst ist also nicht primär diese Erfahrung; – sondern ausdrücklich die Reflexion der Reflexion dieses Erfahrens. Das ist die Erfahrung der Reflexion als Potential, als ‚unendliche‘ Möglichkeit. Dadurch 7

Dazu Peter L. Berger/Thomas Luckmann (1995), S. 50 f.

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A. Der Grund-Stil einer Epoche

erfährt sich aber diese Erfahrung selbst als etwas Wesentliches, wirklich Einzigartiges. Die sich bislang theoretisch und vor allem auch praktisch autonom behauptende Vernunft, als ‚reine‘, absolute Vernunft sieht sich ‚jetzt‘ in der nachidealistischen Denkgeschichte des 19. Jahrhunderts zunehmend dreifach umfasst. Zum einen durch die Unmöglichkeit sich aus der Erfahrung der Geschichte herausnehmen zu können. Ein konkret vorstellbares ‚Jenseits‘ der (Natur)Geschichte ist also nicht mehr zu denken. Die Entdeckung, die Theorie der Evolution unterstreicht diese Einsicht. Das Bewusstsein der Geschichtlichkeit menschlichen Existierens, des je eigenen Existierens ist faktisch unaufhebbar. Genauso unmöglich ist es – zweitens – sich losgelöst von einer jeweiligen konkreten Lebenswelt praktisch und theoretisch zu positionieren; also einen lebensweltlich bezugsfreien philosophischen MetaOrt zu imaginieren. Drittens, und eng damit verbunden, ist es schlechterdings undenkbar die konkrete Existenz des Menschen nicht leibhaft und nicht wirklich-biographisch bestimmt zu fassen und zu leben. Alle Versuche einer so überlegten, so konstruiert vernünftigen Reduktion sind wortwörtlich also ‚unwirklich‘, sind ‚utopisch‘. Was sollte das denn wohl sein: ‚ein Mensch an und für sich‘; ‚eine reine Vernunft‘? Was folgt daraus für unser Anliegen? Offensichtlich, dass ein unbedingter, absoluter Anfang – welcher Form auch immer –, ein ‚Jenseits‘ meiner leibhaft-perspektivisch-gebundenen Existenz in Wirklichkeit nicht wahrnehmbar, nicht (er)lebbar und das heißt zugleich phänomenologisch auch nicht wirklich denkbar ist.8 Die Reflexion der Reflexion, die sich eben als Reflexion und Verzweiflung entdeckt, ist Bestätigung dieser ‚wirklich-wahren Verhältnisse‘. ‚Verzweiflung‘ meint hier im Übrigen eine grundsätzlich wirklich erfahrbare Gestimmtheit; also, eine philosophisch nicht vorgegebene existentielle Lebenshaltung und als erlebte Herausforderung ein grundsätzlich ungesichertes Welt- und Selbstverständnis. Die Geschichte, die Biographie als eine Zusammenstellung von Geschichten, die wirkliche Lebenswelt und die leibhafte Existenz sind natürlich keine nebeneinander liegende ‚Formen‘ oder ‚Inhalte‘. Genauso wenig wie aufeinander auf bauende Schichten. Sondern (wenn es als philosophisches Bild gedacht werden soll) sie verflechten sich als ein in einander verschlungenes praktisch unauflöslich verfugtes System. Erst die Reflexion der Reflexion ‚zeigt‘ ihre unterschiedlichen Wirklichkeiten als eine Möglichkeit 8 Hinzu käme die Frage: was sollte uns bewegen, einen unwirklichen, absoluten Anfang anzunehmen; fänden wir – wirklich – einen Grund, zeigt dieser ‚untergründig‘ doch wieder auf Geschichte (Geschichtlichkeit), die wirklich konkrete Lebenswelt und je meine leibhafte Existenz.

II. Erste Überlegung zur Modernität der Moderne

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der wirklichen Existenz und zeigt zugleich ihre damit verflochtene Gestaltungsform. Zugleich erfährt diese reflexive Reflexion, die sich der eigenen ‚Gewalt‘, ihres ‚Potentials‘ nicht entziehen kann, dass sie selbst nichts außerhalb dieser verflochtenen Systeme ist. Das kann nun nicht verwundern. Eine absolute Transzendentalität ist wirklich existentiell nicht fassbar. – Sondern der transzendentale Gedanke wird als ‚schauende Bewegung‘ innerhalb dieser meiner Wirklichkeiten; und zwar als Ausdruck und wirkliche Möglichkeit einer sich entfaltenden und so verschärfenden Verzweiflung. So also wird – in einer ersten Annäherung – die ‚wirkliche Ortschaft‘ der existentiellen Phänomenologie.

II. Erste Überlegung zur Modernität der Moderne Die abendländische Denk-Geschichte der ‚neuen Zeit‘ erscheint, (nicht nur vor diesem Hintergrund der Entfaltung der Reflexivität), als eine spannende, ‚bewegende‘ Einrichtung zwischen erlebter Faktizität, – also, ausweglos existieren innerhalb eines aufdringlichen Kontingenzhorizonts – und ‚geglaubter‘, erhoffter, abstrakt entworfener ‚absoluter Notwendigkeit‘. Das im Rückblick oft ergreifende Scheitern der unterschiedlichsten theologischen und philosophischen Entwürfe, hier einen vernünftigen Ausweg zu finden, markiert die Epochenübergreifende Bedeutung dieser Spannung. Das ist nun für uns die entscheidende, bestürzende Erfahrung. Die ‚ungesicherte‘, ‚fragile‘ Existenz des wirklichen Menschen lässt sich nicht durch die so umfassenden, ‚großen‘, ‚tiefen‘ Entwürfe abendländischer Geistigkeit in ‚die unbedingt endgültige‘ Form bringen. In eine existentiell überzeugende, ja, metaphysisch beruhigende Form. Der Blick auf die Geschichte der Philosophie, der Theologie, der Wissenschaften verändert sich. Die wirklich beeindruckenden Gestalten der Geistesgeschichte der Neuzeit reihen sich nun mit ihren gescheiterten, ‚gewaltsamen‘ philosophischen Versuchen einer ‚transzendentalen Vernunftherrschaft‘ ein. Nichts als Wunden, Ruinen; – oder, weniger dramatisch, nur endgültige Vorläufigkeiten. Dass diese Frage nach ‚vernünftigem, absolutem Grund‘ in Wirklichkeit die historische Fassung einer abgründig scheinenden Leerstelle ist, ein Auftrag, der aus der zu Ende gehenden Vorherrschaft der griechisch-jüdisch-christlichen Theologie herauswächst, darf von uns nicht mehr übersehen werden.9 Vor diesem Umriss einer ersten Skizze ist schon die Frage nach der ‚Modernität der Moderne‘ phänomenologisch einzuführen. Vorläufig als eine 9 Das zeigt vor allem auch die Dichtung des 20. Jahrhunderts; Walter Falk schreibt (in seiner beeindruckenden Studie zu Rilke, Kafka und Trakl): „Im zwanzigsten Jahrhundert hat die Dichtung offenbar gemacht, dass der Mensch in einen Abgrund gestürzt ist.“ Falk (1961), S. 411.

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ausdrücklich oberflächliche Sichtung der augenfälligen Strukturen. Daraus bilden, zeigen sich, – so darf angenommen werden, – die phänomenologischen Leitfäden für die weitere Untersuchung. ‚Das Moderne‘, das hier und jetzt als sogenannte moderne ‚zeitgenössische‘ Welt vorstellig wird, sich in diesen oder jenen Gestalten, Formen ausdrückt, erscheint zunächst so selbstverständlich, ohne jede weitere Begründung als ‚modern‘, dass sich diese Frage im alltäglichen lebensweltlichen Kontext nicht wirklich stellt. Das alles scheint uns doch ohne weiteres klar! Es drängt sich uns offensichtlich Tag für Tag als selbstverständlich auf. Die ‚moderne Welt‘ gestalte sich, entwerfe sich, zeige sich doch wie von selbst im konkreten, alltäglichen Verhalten der Menschen. Ein bestimmtes-unbestimmtes Wissen, das ohne weiteres, ‚urteilen könne‘, was nicht (mehr) dazugehört, was antiquiert ist, nicht mehr gilt, ‚dem gestern zugeordnet werden kann‘. Das gilt nicht nur für das modisch Alltägliche. Darüber hinaus bildet es auch den – trotz allen kritischen Diskursen – im Grunde fraglosen Horizont einer feuilletonistisch geschulten ‚Kennerschaft‘: in Formen der bildenden Kunst, der Literatur, Theater, Film, möglicherweise bestimmter Architektur; (das braucht nicht mit Funktionalität zusammenfallen). Und vor allen Dingen ‚natürlich‘ und nicht zu Letzt in den Vorstellungen der unterschiedlich vermittelten Wissenschaften. Das ist der Stand des übermittelten Dauergesprächs, das uns, wie ein eigenartiges Hintergrundrauschen überbracht wird durch die Medien, sichtbar in den Konzeptionen der ‚handgreiflichen‘ Technik u. ä. Kurz und knapp. ‚Das Moderne‘ ist, alles in allem, eine selbstverständlich gewusste ‚Differenz‘. Damit sei also ‚das Moderne‘, – die scheinbar doch ‚reflektierte Modernität‘, – der sichtbare, erlebbare, selbstverständlich gültige, auch ‚aufdringliche Sach-Stand‘. Nicht selten ein ästhetischer, kultureller, auch moralischer Zu-Stand, der vorgibt ob und wie weit eine Erkenntnis, eine Meinung, eine Wert, ob diese Kunst, diese Religion, diese Technik, ob ein Mensch, eine Menschengruppe mit ihren ‚An-Sichten‘ auf der Linie, auf der Höhe der modernen Zeit sei. Hinter dieser Linie, unterhalb dieser Höhe liege das nicht mehr Aktuelle, das ‚Vergangene‘, das möglicherweise Modern-gewesene. Das ist allerdings nicht nur eine bloß sachliche Zeit(geist)bestimmung. Sondern, wie selbstverständlich ein, mehr oder weniger deutlich vorgebrachtes Werturteil. In diesem Sinne, so scheint es nun, wäre ‚das Moderne‘, ein ‚Immer-Gegenwärtiges-Jetzt‘, ‚Immer-Selbstverständlich-Zeitgemäßes‘. Eine geradezu praktisch zeitlose, a-historische Gegenwartsbestimmung. Also, eine anthropologische Konstante der eigenartig selbstverständlichen Gültigkeit im Strom der Zeit. Das Dasein in und mit seinen jeweiligen ‚Vor-Stellungen‘, seiner Sicht, seiner Welt ‚hier und jetzt‘ als ‚historische Norm‘.

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‚Die‘ Moderne, also ‚unser‘ so bestimmter nach-neuzeitlicher ZeitRaum, darf damit nicht gleichgesetzt werden. Phänomenologisch ist sie von einer anderen, nicht weniger von einer transzendentalen Gestalt. Die Moderne umzirkelt einen Erfahrungshorizont der Reflexion, deren Bedingungen sich als vollendete Möglichkeit vorstellen. Sie erfährt sich als eine letztmögliche, existentielle Form im Horizont der abendländischen Reflexionsgeschichte. ‚Die‘ Moderne gestaltet sich also als die abendländische Möglichkeit eines ‚exklusiven‘ existentiellen Selbstverständnisses ‚hier und jetzt‘. Kurz, sie ist der ZeitRaum der endlichen Existenz, der sich selbst und die Lebenswelt als unüberbietbar radikale, leibhafte Reflexion, als Wirklichkeit von Reflexion und Verzweiflung gestaltet. So verstanden ‚verwirklicht‘ (zeigt) sich ‚hier und jetzt‘ die äußerste, erschöpfte Möglichkeit abendländischen Menschseins.10 Systematisch und historisch! Dieser ZeitRaum überbietet nicht die Geschichte des Abendlandes, sondern das Abendland sammelt sich so auf ihr Ende hin. Die Wahrnehmung und die Beschreibung dieser, nennen wir es, ‚endlichen Verwirklichung‘ erfolgt selbst mit den philosophischen Möglichkeiten, die die abendländische Geistesgeschichte bietet. Das kann gar nicht anders sein. Die Moderne ist also die einsichtige Lebe-Form existentieller Transzendentalität. Oder so: Die Moderne als das Bewusstsein der ‚neuzeitlichen‘ Existenz, das sich selbst als Möglichkeit reflexiver Entfaltung der Reflexion versteht, philosophisch unausweichlich begreift. – Und durch diesen ‚verstehenden Akt‘ der reflexiven Reflexion sich als ‚endgültig‘, das heißt, ausdrücklich als ‚modern‘ entwirft. Sich also so in die endgültige Spannung der Reflexion und Verzweiflung unausweichlich eingelassen weiß. Diese Form des endlichen, radikalen, leibhaften Philosophierens nenne ich ‚existentielle Phänomenologie‘. Die existentielle Phänomenologie beschreibt in Form der Reflexion der Reflexion (wie sonst?) die Moderne als ‚Gestalt(ung) der Reflexion und Verzweiflung‘. Diese Reflexion fasst die exklusive Struktur der Moderne, die sich innerhalb ihrer Lebenswelt, – auch als ihre Kunst, Literatur, Malerei, Musik, selbst noch als Psychoanalyse, Supervision,11 u. ä. institutionalisiert und versinn(bild)licht. Um diese Gestaltungen wirklich-wesentlich, 10 Diese Vorstellung eines sehr grundsätzlichen ‚Abbruchs‘, eines ‚Paradigmenwechsel‘ ist literarisch weit verbreitet; oft unter sehr unterschiedlichen Perspektiven. Aber immer mit der gleichen Aussicht. Belege dafür ließen sich beinahe beliebig ausbreiten. Z. B. „Man wird allerdings vermuten müssen, dass wir in einem Transformationsprozess stehen, in welchem nicht nur bestimmte einzelne Symbole und Symbolhandlungen ihre Relevanz verloren haben, sondern das Symbolverständnis als Ganzes in den gegenwärtigen kulturellen Umbruch hineingezogen bzw. dessen Transformation selbst zugleich unbestimmter und prägnanter Ausdrucks dieses Umbruchs ist.“ Franz Schupp (1974), S. 25.

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existentiell-transzendental vorstellen und verstehen zu können braucht es nun den immer korrelativ gerichteten phänomenologischen Blick. Hier können wir ein Stück weit Edmund Husserl folgen. Etwa so: ‚Einfühlend‘ sich einleben in die ‚innere Struktur‘, die ‚wahrgenommene Typik‘, und so den ‚Reichtum der äußeren und inneren Formen‘, des ‚Vorzeigbaren‘, des ‚Empfindlichen‘ vorstellen und zeigen.12 Und auf diese Weise, die wesentliche Form der Moderne, nämlich Reflexion und Verzweiflung ‚erarbeiten‘. Das ist im Übrigen, – aber das nur am Rande, – eine wirklich ‚analytische Arbeit‘ und keine ‚intuitiv unmittelbare Schau‘. Eine radikale, verwirklichte Reflexion der wortwörtlich neuzeitlich-vernünftigen Wirklichkeit, entfaltet also ‚die Moderne‘ als subjektiv-existentielle Grundausrichtung. Das ist jetzt eine Reflexion, die sich ausdrücklich existentiell gestaltet. Eine ‚radikal ausgerichtete‘ Reflexion der wirklichen Wirklichkeit, die nicht auf einen ‚vernünftigen Durch-schnitt‘, auf eine allgemeine Anthropologie oder auf eine abstrakt-reine Idee der Vernunft, des Geistes u. ä. rekurrieren darf. Diese Reflexion der Moderne mit ihrer konstitutiven, natürlich auch ‚gewaltsamen‘ Potenz findet sich selbst als wirklich radikale Form der jetzt ‚grundlosen‘, ‚haltlosen‘ Existenz im Zustand der metaphysischen und theologischen Ausnahmen. Diese Ausnahmen sind die Regeln dieser Reflexion der Moderne.13 Die tradierten abendländischen Sicherheiten, also die bislang gültigen Denk- und Lebemuster sind wirklich haltlos, zumindest aber ‚fragwürdig‘ geworden. Seit dem 19. Jahrhundert ist es im Umlauf. Nichts mehr könne in Wahrheit diese empfindlich gewordene Lücke füllen. Etwas ironisch: die Moderne ist für sich selbst wahrlich eine ‚metaphysische Auszeit‘. Wenn man so will zeugt also gerade die wirkliche Erfahrung der Existenz gegen den unbedingten Anspruch der eigenen Vernunft. Zu Recht wird nun (mit der Romantik) auf die Kunst verwiesen. In der Tat, die Kunst kann diese Erfahrung ästhetisch fassen, kann ihr wahrhaftig eine ganzheitliche Gestalt geben, sie kann sie aber weder ‚aufheben‘ noch ‚rechtfertigen‘. So ist also zumindest phänomenologisch keineswegs entschieden, wieweit und ob überhaupt die Erfahrung der Kunst religiöse Formen und Gestaltungen wirklich ersetzen kann.14 11

Beispielsweise eine für die Gestalt der Moderne bezeichnende Arbeitsfigur schildert Michael Giesecke. Kornelia Rappe-Giesecke. „Gegenstand der in Kassel ‚Balintgruppe‘ genannten Kontrollsupervision war die Reflexion der Praxis dieser Beratungsebene, also die Supervision der Supervision der Supervision.“ (1997), S. 31. 12 Z. B. Logos/323. 13 Beispielsweise der Traum, das Vergessen, das Verdrängen. 14 Anders Dagobert Frey. „Das Kunstwerk kündet in der Welt einen Lebenssinn als Wert, stellt ein Ideal auf, weist Wege und Ziele, wirkt befreiend und erlösend, führt zum Eigensten zurück, stellt die Kommunikation mit dem Absoluten her.“ Frey (1976), S. 14.

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Die Reflexion der ‚anfänglichen Reflexion‘ verzweifelt jetzt an dieser aufdringlichen Leerstelle. Sie ‚sieht ein‘, dass diese metaphysische Leerstelle philosophisch oder theologisch existentiell nicht wirklich erfasst und noch weniger wirklich ergründet, – und doch nicht zurückgelassen, nicht einmal vernachlässigt werden kann. Auch das ist selbstverständlich eine philosophisch wirkliche Einsicht! Diese Erfassung, Erschauung des grundsätzlich-nicht-erfassen-könnens, die sich selbst als Form der Reflexion und Verzweiflung reflektiert, bestimmt den, – zunächst nicht trennscharf begriffenen, auch nicht an bestimmten Personen eindeutig festmachbaren, – Übergang zwischen Neuzeit und Moderne. Die neuzeitliche Anfangsfrage der Vernunft wird wissenschaftlich ‚zurückgelassen‘. Sie bleibt aber als ‚zurückgelassene Frage‘, als ‚metaphysische Leerstelle‘ eigenartig virulent; wortwörtlich, aufgebrochen, geradezu als die ‚Wunde der Moderne‘. Diese so aufgebrochene, ‚verzweifelte Denkbewegung‘, die eine quer zu allen philosophischen Richtungen ‚wirklich existentielle‘ ist, entwirft unwillkürlich auch die Gefühlslage, die Stimmung, das Gestimmt-sein der Modernität.15 Diese ‚Lage‘ erfasst, erleidet nicht nur das ‚reine‘ Bewusstsein der Neuzeit als unwirklich, gespensterhaft, es lässt es auch nach und nach zurück. ‚Reflexion und Verzweiflung‘ also als zunächst un-systematische Gestaltung einer historischen Kontinuität und zugleich des wirklichen systematischen Abbruchs.16 Denken wir hier beispielsweise an Bilder, Töne, Formen der Künste, insbesondere auch der Lyrik; die ja selbst wiederum der verdichtete, versinnlichte, verbildlichte, hermeneutische Leitfaden der Selbstbestimmung und zugleich der Selbstwahrnehmung der Moderne (der unvergleichbaren Moderne) als Reflexion und Verzweiflung wird.17 Dieses ganz und gar scheinbar ‚Selbst-referentielle‘ zeigt nicht nur eine beliebige Möglichkeit der Moderne, des Bewusstseins der Moderne, sondern fasst sich als die notwendige Bedingung ihrer endgültigen Form abendländischer Geistigkeit. – Einer wirklich endlich ‚existentiellen Transzendentalität‘18. So verstanden, so ‚gedacht‘, so ‚konstituiert‘ ist ‚die Mo15

So wie der ‚Zweifel‘ die Grundgestalt der Neuzeit vorstellt. Weitverbreitet sind diese ‚großflächigen‘ Antworten: „In der Auflösung einer von Christentum und Antike bestimmten Welt stellt sich der Mensch, nun völlig von Gott verlassen, gegen die Drohung, in der Tierheit zu versinken, erneut die Frage nach Wesen und Ziel des Menschseins.“ Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie (GS VIII/S. 35). 17 „Man weiß seit einigen Jahren, dass die Aussagekraft der modernen Lyrik für die geistige Lage der der Gegenwart nicht geringer ist als die Aussagekraft der Philosophie, des Theaters, der Romanschriftsteller oder der Malerei.“ Paul Konrad Kurz (1967), S. 15. 18 Dass schon mit der Aufklärung die Kunst – wie Erik Forsman schreibt – ihre Unschuld verloren hatte, und nun gezwungen war unentwegt über sich ‚nachzuden16

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derne‘, das Bewusstsein der Moderne keine bloße historische Bestimmung, nicht die Folge eines historisch-zufälligen Prozesses, der auch anders gestaltet sein könnte. Sie ist (bleiben wir in der neuzeitlichen Begrifflichkeit) als transzendentale Gestalt ein systematischer, ein phänomenologisch notwendiger Entwurf einer durch Reflexion und Verzweiflung gestimmten, – zugleich ausschließlich selbst bestimmten, sich selbst ausgelieferten Existenz. Aber, sind das noch phänomenologische Wirklichkeiten; sind das noch Denkbarkeiten einer phänomenologischen Arbeit? Das sind doch augenfällig sehr ‚abstrakte‘, sogar unanschauliche Vorstellungen, philosophische Konstruktionen. Also, kurz und knapp: Unwirklich, Dissoziert, ‚metareflexiv‘; alles in allem, historisch und theoretisch-voraussetzungsreich konstruiert. Die Frage, ob sich ein solches Denken noch in der Wahrhaftigkeit, der Evidenz des unmittelbaren Schauens eines phänomenologischen Wahrnehmens bewegt, ist also durchaus berechtigt? Das ist die These, die diese Arbeit trägt und die es zu rechtfertigen gilt: Diese von Beginn an reflexive Form einer theoretisch-vor-stellenden, systematischen, wesentlich nicht historischen Entfaltung denkt nicht weniger konkret phänomenologisch, bewegt sich ebenso im Horizont phänomenologischer Wahrnehmungen wie beispielsweise phänomenologische Beschreibungsreihen der Lebenswelt. Sie zeichnet die mittelbaren, nicht-transzendierbaren Bewegungen des existentiellen Denkens, korrelativ die Gestalten, das Gedachte, das Vorhandene der Moderne nach. Phänomenologische Untersuchungen sind immer konkret, immer leibhaft, immer wirklich existentiell gebunden. Eines ist damit klar. Die Vorstellung, Absicht, Voraussetzung einer ‚reinen Transzendentalität der Vernunft‘ ist hier ausgeschlossen. Ein Zeit- und Weltloser ‚absoluter‘ Anfang des Selbstund Zeitverständnisses wird nicht intentiert, bleibt wortwörtlich unerfüllbar.19 Auch die Philosophie und die Wissenschaften sind natürlich existentiell gebunden. So bewegt sich selbst die Wissenschaftsgeschichte, selbstverständlich und zuerst und zumeist ‚unbewusst‘, im Horizont dieser ‚existentiellen Transzendentalität‘; und dass diese ‚unwillkürliche Bewegung‘ wiederum selbstverständlich die Lebenswelt der Moderne (mit)bestimmt sei an dieser Stelle nur angedeutet. Es scheint kaum erwähnenswert. Wie selbstverständlich und ohne weiteres gestalten Begriffe, Formen, Weisen, Einsichten, Auf-Fassungen der Wissenschaften, der Wissenschaftsgeschichte und des philosophischen Disken‘, sei nicht geleugnet – es war eine unentwegte aber keine verzweifelte Reflexion. Vgl. Forsman (1999), S. 7 ff. 19 Vergleichbar der Ansicht Niklas Luhmann: „Nur sehr abstrakte und komplex gebaute Theorien (können) historisches Material zum Sprechen bringen. Der Weg zum Konkreten erfordert den Umweg über die Abstraktion.“ Luhmann (1982), S. 10.

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kurses über die Form der Wissenschaften das als ‚gültig‘ hingenommene moderne Welt- und Selbstverständnis. Und in eigenartig repulsiver Form gilt das auch umgekehrt. Schon diese Selbstverständlichkeit ist phänomenologisch von wesentlicher Bedeutung. So selbstverständlich wissenschaftlich, philosophisch zu denken, wahrzunehmen und zu fühlen (im Willkürlichen und Unwillkürlichen) und die Summe dieses Denkens, Wahrnehmens und Fühlens als den Horizont der Moderne zu deuten gehört mit (zu) dem existentiellen, ‚leibhaften‘ Bewusstsein der Moderne. Sehen wir es phänomenologisch wesentlich! Sich in dieser Weise auf sich zu beziehen, sich in dieser Beziehung zu inszenieren, diese inszenierte Beziehung als Korrelat des ZeitRaum der Moderne zu reflektieren und zu verstehen. – Diese ‚Institution‘ einer Reflexion der Reflexion weiß sich als Existenz der Moderne. Diese Existenz ist leibhafte Reflexion der Reflexion und Verzweiflung.

III. Die Form des neuzeitlichen Philosophierens Die Vernunftgeschichte, die sich endlich so vollbringt bestätigt die Bedeutung der Existenz. Die Neuzeit gedeutet als eine Form, als eine Gestalt der Reflexionsgeschichte bestätigt es. Ohne im Einzelnen hier zu differenzieren, so verdichtet: Das neuzeitliche ‚Unternehmen der Philosophie‘ entfaltet sich als ‚transzendentale Reflexion‘.20 Als theoretische und praktische Anlage der welt- und selbstbestimmenden Vernunft. Schon Descartes weist bekanntlich diese Richtung.21 Vor allem aber Kant, Fichte, Hegel, und in einem besonderen Sinne, Schelling22 (um zunächst nur sie zu nennen) stehen, – bei aller Verschiedenheit der Erkenntniskritik, Methode und der spekulativen Absicht, – für diese grundsätzliche Erneuerung der Philosophie und des damit verbundenen Selbstverständnisses.23 Sie gestalten, so das 20 Die ‚transzendentale Reflexion‘ möglichst nicht auf eine Schulform des ‚Subjekt-Denkens‘ eingeengt. Sie begreift – um beispielsweise nur diesen Namen zu nennen – auch F. Schlegels ‚Transzendentalpoesie‘ als eine Form ‚transzendentaler Reflexion‘. 21 „Jeder Anfänger der Philosophie kennt den merkwürdigen Gedankenzug der Meditationes. (. . .) Ihr Ziel ist eine völlige Reform der Philosophie zu einer Wissenschaft aus absoluter Begründung.“ CM/§ 1. Kurz und pägnant dazu Walter Schulz: Descartes sei der erste Philosoph, der methodisch die Wissenschaften aus dem Verband der Metaphysik ausgetrennt habe. Vgl. Schulz (1957), S. 60. 22 Vor allem in den ‚späten Vorlesungen‘ Schellings ist ein dunkler Ton hörbar, der das neuzeitliche Denken (unbemerkt) verabschiedet. 23 Dass hierher auch die so eingeführten ‚Empiristen‘ und Skeptiker gehören, dass auch sie eine Form ‚transzendentaler Reflexion‘ gestalten, sei ausdrücklich erwähnt. Vor allem Husserl hat darauf unterschiedlich (mehr oder weniger deutlich) hingewiesen. Am Ende der 24. Vorlesung zur Ersten Philosophie unterstreicht Husserl: „Eben das ist für uns das Bedeutsame des Hume’schen Skeptizismus, dieses

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verbreitete Lehrbuchwissen, das ‚Unternehmen‘ der um-sich-selbst-wissenden, um ‚letztmögliche Aufklärung‘ ringenden theoretischen und praktischen Vernunft. Einer Vernunft, die sich fast folgerichtig potentiell oder wirklich als ‚absolut‘ einzusehen vermeint. Eine folgenreiche Selbst(er)klärung, die zugleich die Erkenntnis von Welt und Gott neu ausrichtet. Auf diesem Weg einer neu geformten ‚transzendentalen Logik des philosophischen Denkens‘ konstituiert sich das vermeintlich ‚aufgeklärte, kritische Bewusstsein der Neuzeit‘. Aufklärung und Philosophie der Vernunft werden im Grunde synonym gesetzt. Das alles ist nicht nur ein, es ist der Fortschritt. – So wird es verstanden, eine unumkehrbare Gestalt der Theorie und Praxis. Selbst das sich zugleich entfaltende ‚andere Denken‘, – sagen wir: von Pascal bis Kierkegaard, wird von da aus noch mit bestimmt. Wahrlich und unbestreitbar die reflexive Vernunft sammelt in diesen entscheidenden Jahrzehnten die erkenntnistheoretischen, metaphysischen und theologischen Möglichkeiten der Philosophie des Abendlandes. Es sind schließlich und endlich gewaltige, nicht minder auch ‚gewaltsame‘ SystemEntwürfe. Große philosophisch-weltanschauliche Erzählungen, – mit einer, aus unserer Perspektive, klaren Zielstellung. Die existentiell aufdringliche, metaphysisch und theologisch nicht mehr hinreichend zu sichernde ‚Erfahrungswelt‘ in die einzig noch möglich erscheinende ‚Ordnung des menschheitlichen Bewusstseins‘ aufzuheben. ‚Die Welt‘, einschließlich des ‚empirischen Menschen‘ selbst, seine Geschichte, die Natur, die Gottesbilder, werden verstehbar, werden fassbar, einzig und allein als Möglichkeit der eigenartig ‚unbedingten‘ Vernunft, der Entfaltung der formal invarianten Vernunft.24 Die transzendentale Vernunft ist die einzig mögliche Bedingung der Geltung ‚von wem‘ und ‚von was‘ auch immer.25 Sie selbst als ‚absoluter‘ Grund jeder Begründung macht davon keine Ausnahme. In diesem Philosophieren, dieser philosophischen Typik nach Kant, werden die Scheinbarkeit einer bloßen Form transzendentaler Logik und die Problematik ihrer Lösungsvorschläge aufdringlich.26 konsequenten sensualistischen Subjektivismus, dass er, trotzdem kein Satz darin ist, der wissenschaftlich gehalten werden könnte, doch eine intuitionistische und rein immanente Philosophie ist, und damit eine Vorform der allein echten intuitionistischen Philosophie, der Phänomenologie.“ 24 Dass Aufklärung nicht nur ein philosophisches Projekt vorstellt, soll eigens unterstrichen werden. Kunst, vor allem die Literatur, Pädagogik und Denklinien der Theologie stellen sich in den Dienst dieser ‚Bewegung‘. 25 Diese Selbsteinschätzung der Vernunft, ihre Selbstzuschreibung wird vor allem in der Frage (der Diskussion) der Theodizee deutlich. Das ist nicht nur ein ‚intellektuelles Spiel; auch nicht nur von einem theologischen Interesse. Die Vernunft führt gegen den als (traditionell) weise, gut und allmächtig behaupteten Gott angesichts des ‚moralisch und physisch Zweckwidrigen‘ (Kant) einen Prozess. Sie allein ist dabei Ankläger, Verteidiger und Richter.

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Diese nach-kantische oder sogenannte ‚klassische‘ deutsche Philosophie, wenn man diese bekannte Fassung nehmen will: ‚von Fichte bis Hegel‘, ist (ihr Selbstverständnis zugrunde gelegt) eine weit ausholende spekulative, letztendlich doch wieder ausdrücklich ‚praktisch-metaphysische‘ Radikalisierung der bekannten Kant’schen Frage: ‚nach der Möglichkeit einer absoluten, gleichwohl immanenten Begründung‘. Eben, in der Form des so genannten ‚absoluten Subjekts‘. Das ist im Übrigen eine Denkfigur, die den Horizont der abendländischen Reflexionsgeschichte nicht sprengt. So ist diese ‚kritische‘ Gestalt der Frage ‚nach den ausschließlich selbst fassbaren ‚rationalen‘ Bedingungen von Geltung‘ nur eine Möglichkeit, – wenn auch sicher die ‚radikalste‘, – der (‚einer‘?) ‚vernünftigen‘ Reflexion. Diese selbstbewusste Vernunftphilosophie27 ‚sammelt‘ und ‚verdichtet‘, fokussiert und – wie zu zeigen sein wird – beendet also wirklich das abendländische Denken, sein Erkennen, sein Wissen und seinen Glauben.28 Es ist die Geschichte einer Form der Vernünftigkeit, die trotz, oder gerade wegen der historischen Varianten sich weit genug gedacht historisch bis Sokrates und Platon zurückverfolgen ließe. Fassen wir diesen ersten Überblick der neuzeitlichen Denkbewegung so zusammen. Aufs Ganze gesehen imponiert die abendländische ‚Denkgeschichte‘. Das kann nicht geleugnet werden. Selbst wenn wir die Schattenseiten dieser Geschichte in Rechnung stellen (und das ist heute mehr denn je nötig) ist schon der bloße Zuwachs an Erkenntnissen, Einsichten, technischem Wissen, auch und nicht zu Letzt und trotz allem, an Humanität zu würdigen. Also insgesamt durchaus eine abendländische ‚Erfolgsgeschichte‘!29 Vor allem aber trifft dies zu (und da wird es geradezu auf26 Auch in den unterschiedlichen Geltungstheorien des 20. Jahrhundert, die sich alle in der Suche nach einer Theorie letztdefinierter Begriffe zusammenfassen lassen. Dabei denke ich an Namen wie: Richard Hönigswald; Wolfgang Cramer, Hans Wagner. 27 Eine Selbst-Bewusstheit, die sich historisch und systematisch erarbeitet. 28 Diese Philosophie steige „wieder in die Tiefe, wird wieder Grundlagenforschung und versucht von einem letzten, einheitlichen Grund aus das Gesamt des Seins in einer geschlossenen philosophischen Systematik zu verstehen. (. . .): typische Geistphilosophie, abstrakte Spekulation, kühne Konstruktion bis zur Begriffsdichtung, schwierige Gedankengänge (. . .).“ Johannes Hirschberger (1969/zweiter Band), S. 267. 29 Allerdings sind die Unzulänglichkeiten nicht verborgen geblieben. Z. B. der Vorwurf von Henri Lefebvre: im philosophischen Diskurs finde das wirkliche Leben ‚der Anderen‘ nicht statt, „weder ihre Klage noch ihr Aufruhr, noch ihr Schweigen, weder ihre Entsagungen noch ihre Hinnahmen, noch ihre Verweigerungen. Die philosophische Subjektivität deckt das menschliche Bewusstsein nicht ab; sie ist eine abgesonderte Subjektivität: eine subjektive Welt, die Welt des Philosophen, phänomenologisch betrieben und zum Maß des Menschen erhoben.“ Lefebvre (1975), S. 65.

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dringlich deutlich) mit dem Blick auf die Geschichte der Naturwissenschaften. Sie weisen mit ihrer Form der ‚Wahrheitssuche‘ weit über sich hinaus. Geradezu paradigmatisch zeigen sie nämlich die abendländische Grundfigur der Selbst- und Weltgestaltung: die verinnerlichte Form einer historisch unvergleichlich klaren Rationalität, der, so Husserls ‚zweiten Philosophie‘.30

IV. Die Aufklärung und die Idee einer absoluten Vernunft Das alles sind also nicht nur so genannte akademische Fragen. Sie berühren auch nicht nur die Philosophie allein. Diese nennen wir sie ‚transzendentale, absolute Vernunft‘ ist, so zumindest der Anspruch, der weit über die Fachphilosophie hinausreicht, die Erfüllung und zugleich das sich selbst entdeckende ‚Fundament‘ der abendländischen Geistigkeit. Und zugleich entfaltet sie die ihr selbstverständlich innewohnende ‚Idee‘ strenger Wissenschaft. Das Verändert ‚natürlich‘ gründlich die Selbsteinschätzung des Menschen. So sieht es im Übrigen noch Edmund Husserl. Husserl eröffnet die Möglichkeit, die Wirklichkeit der Moderne wahrzunehmen. Er selbst allerdings ‚denkt‘ in der Tradition der Neuzeit. Folgen wir noch ein Stück weit dieser insgesamt, um das wenigste zu sagen, ‚optimistischen weltanschaulichen Intention‘. Die Form der Geltung für jede überhaupt mögliche denkbare theoretische und praktische Einsicht, und auch die Einsicht selbst in die Form der Geltung der Geltung leistet nun ganz und gar die Vernunft des Menschen selbst.31 Der Mensch klärt sich als Mensch durch die Vernunft. Die Vernunft allein bestimmt, – selbst noch als schlichte Wahrnehmung, – ‚das Vernünftige‘, das in Wahrheit dem Menschengemäße, das ‚sein-sollende‘. Sie ist jetzt die letztmögliche ‚richterliche Instanz‘. Sie setzt, begrenzt, beurteilt; – letztendlich sich selbst dabei nicht ausgenommen, zumindest im Idealfall. Diese Vernunft gilt als das ‚absolute‘ normative System. Sie wird selbstverständlich nun als die ‚menschheitliche Invariante‘ gedacht. Dieser Gedanke trägt und verbindet die, ihren Intentionen und Zielen nach sehr unterschiedlichen ‚Aufklärungen‘. In einem sehr weiten Sinne kann ‚natürlich‘ die gesamte Denk- und Religionsgeschichte als eine Aufklärung gelesen werden. Also, alle wirk30

Vgl. EP. I. „Seit Hegel, jedenfalls intendiert dies Hegel, treten nicht mehr Philosophen einander lediglich entgegen und gegenüber, und sie unterscheiden sich nicht mehr einzig durch Besonderheiten und Eigentümlichkeiten voneinander. Es tritt vielmehr in den Philosophen die Vernunft sich selbst gegenüber, (. . .).“ Richard Wisser (1996), S. 219. „Kritisch unhintergehbarer Gültigkeitsboden (. . .) bleibt (. . .) allein das ‚Ich denke‘.“ Hansjürgen Verweyen, in: Gerhard Larcher (1988), S. 49. 31

IV. Die Aufklärung und die Idee einer absoluten Vernunft

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liche und wirklich mögliche Grenzziehungen durch die Entfaltung der Reflexion. Im Rückblick deutet der Mensch diese ‚gesellschaftliche und kulturelle‘ Gestaltung der Reflexion als ein ‚Hell-werden‘, als eine ‚Entkolonialisierung menschlicher, menschheitlicher Existenz. In einem engeren Sinne aber verbinden wir den Begriff ‚Aufklärung‘ mit der Geistesgeschichte Europas des 18. Jahrhunderts. Sehr unterschiedliche Denklinien, philosophisch und theologische Begriffe verdichten sich jetzt, brechen auf; spitzen sich zu und werden ‚säkularisiert‘. Beispielsweise: Fortschritt, Optimismus, Freiheit, bürgerliche Gesellschaft, Wissenschaft, Verantwortung und Vernunft. Die Philosophie selbst wird zu einem Synonym für diese Form der vernünftigen Aufklärung. Kurz gefasst: Das menschengemäße Leben wäre ein durch Vernunft gestaltetes bürgerliches Leben.32 Die selbst-entdeckte, aufgeklärte, sich selbst entdeckende, sich selbst aufklärende Vernunft (sie ist Möglichkeit und Wirklichkeit in einem) ist in Wahrheit (geltungs-)theoretisch und (geltungs-)praktisch ‚allein auf sich verwiesen‘, allein ‚auf sich gestellt‘; also auch in Wahrheit und Wahrhaftigkeit ‚autonom‘. Sie bildet geradezu das Paradigma für das neuzeitlich ‚Selbst-Verständliche‘, für das neuzeitliche Selbst-Verständnis. Nichts, – so wird nun gefolgert, – ist gewisser und geltender als das Selbst-Bewusstsein. So ist ‚die Lage‘ auch ‚geltungslogisch‘ vor jeder historischen, politischen, gesellschaftlichen, sozialen, aber auch existentiellen, leibhaften Wirklichkeit. Zumindest für das sich mehr oder weniger so bestimmende Philosophieren gilt nun grundsätzlich: Die Bedingung jedes überhaupt möglichen Sinn und jedes Sinnverständnis verweist in Wahrheit und Wahrhaftigkeit ausschließlich auf die Vernunft, auf das vernunftbestimmte Leben.33 Auch (und schon) Montaigne und Pascal zeigen Möglichkeiten dieser Gestalt und Gestaltung der Vernunft. Das ist also einer der zentralen Denk-Wege des Abendlandes. Wortwörtlich, ein Denk-Weg ‚von Anfang an‘! Er begrenzt und koordiniert die Suche nach Wahrheit, nach Gott, dem Absoluten, und selbstverständlich nach sich selbst. Erst nach Hegel, – wenn auch in gewisser Weise von ihm ausgehend, – wird diese unbedingt vernünftige, reflexive, reine Selbstverständlichkeit, diese alles gestaltende, konstituierende, unbedingte Allgemeingültigkeit kritisch-anthropologisch, sozial-psychologisch und nicht zu Letzt historisch gewendet. 32

Es wäre allerdings eine Verkürzung, Aufklärung ausschließlich als einen geistesgeschichtlichen Prozess zu lesen. Die Dynamik, die Wirkung, Verstärkung, der Hintergrund bildet sich durch die Entfaltung der Selbstbewusstheit der bürgerlichen Gesellschaft. 33 Noch bei Husserl finden wir (bis tief in die zwanziger Jahre hinein) einen geradezu ‚religiös‘ anmutenden Glauben an die Vernunft.

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Eine Frage drängt sich philosophisch auf. Zeigt das alles den Verfall, vielleicht sogar den Untergang menschlichen, abendländischen Selbstwertes; oder, ist das historisch schon eine willkommene wirklich ‚existentielle Wende‘. Also, kurz und knapp, liegt hier das Fundament, die Grundlage für eine neue Epoche, sogar eine mögliche Steigerung existentieller Qualität, oder befinden wir uns auf einen ‚philosophischer Holzweg‘? Die Meinungen darüber, gehen bekanntlich bis heute weit auseinander.34 Diese Fragen werden uns nicht mehr loslassen. Wie auch immer im Einzelnen, eines ist wohl kaum zu leugnen: Mit dieser Neuausrichtung wird zwar die vernünftige Grund-Form ‚transzendentaler Reflexion‘ sozial, psychologisch, existentiell oder historisch ‚aufgehoben‘, oder zumindest aufzuheben versucht. Aber, gewollt oder auch nicht, – eben auch möglicherweise zwar ‚verzerrt‘, ‚verschoben‘, verdunkelt –, gerade deswegen als wirklich unwiderruflich ‚aufbewahrt‘. Sozusagen: ‚in einer irgendwie schon existentiellen Geltung gehalten‘. So bleibt das ‚reine Selbstbewusstsein‘, in welcher Form auch immer, offen oder verdeckt, idealistisch oder naturalistisch, als Bedingung der Möglichkeit von theoretischer und praktischer Ein-Sicht, als Gestalt der Aufklärung, als nicht-wirklich-hinterdenkbare ‚Reibungsfläche‘ philosophisch weiterhin bedeutsam.35 Denken wir beispielsweise schon hier an die Psychoanalyse!

V. Die Selbstsetzung der neuzeitlichen, transzendentalen Vernunft als verhängnisvolle Abstraktion Die Vernunft und ihre beeindruckende weltgestaltende Entfaltung in der Geschichte, das zu-sich-selbst-kommen des Bewusstseins als ‚metaphysischer und erkenntnistheoretischer Grund‘ der Neu-Zeit, – das alles braucht phänomenologisch geordnet keineswegs geleugnet werden. Das wäre weder historisch noch systematisch gedacht sehr überzeugend. Es ist nämlich in der Tat schon eine mögliche neuzeitliche Gestalt historischer philosophischer Erinnerungen. Eine insgesamt hermeneutisch stimmige Figur einer geistesgeschichtlichen RückSicht. Es erscheint doch selbst als ‚vernünftig vorgestellt‘. – Und trotzdem, vielleicht sogar ‚deswegen‘ ist es nicht die ‚wirklich-wahre, systematische, ‚systemische‘ Grund-Fassung der abendlän34

„Die immer größer werdende Diskrepanz zwischen dem, was angeblich a priori ermittelt wird, und dem, was sich in der geistig-wissenschaftlichen und gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit der Moderne ausgebildet hat, macht es immer unwahrscheinlicher, dass die Transzendentalphilosophie als eine allgemein anerkannte oder auch nur akzeptable Bestimmung der Philosophie wird auftreten können.“ Willi Oelmüller (1969), S. 108 f. 35 Husserl sieht schon bei Hegel eine Schwächung und Verfälschung der philosophischen Anlage. Logos/292.

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dischen Denk- und Lebensgeschichte‘.36 Vielmehr ist dieses ‚neuzeitliche Selbst-Verständnis‘ (das bis in das Heute hineinreicht), das zu wissen vermeint: die abendländische Geschichte der Philosophie gipfle trotz aller philosophischer Auseinandersetzungen, aller Schulstreitigkeiten, ohne ‚tiefe‘ existentielle Konflikte, grundverändernder Krisen und auch historisch nicht zu heilender Brüche, – ‚ohne weiteres‘, linear ‚historisch-wirklich‘ in die aufgeklärte Geltungs-Form ‚der‘ Vernunft des sich jetzt selbstmächtigen Menschen, dieses Selbstverständnis ist eine ‚verhängnisvolle Abstraktion‘.37 Der Mensch, so die hingenommene Grundfassung, komme in der Geschichte vernünftig zu sich selbst. Als sei das Werden und die Entfaltung der Neuzeit, der neuzeitlichen, sich ‚absolut‘ vorstellenden Vernunft im Grunde eine Weiter-Bildung der faktischen abendländischen Vernunftgeschichte. Auch wenn das historischen, faktischen Ereignissen geschuldet sei, gelte doch, die Neuzeit ist eine historische Vernunftgestalt einer bürgerlichen Fort-Gestaltung des Abendlandes. Die sich selbstbewusste Vernunft begreift sich nun als den unverlierbaren Ideal-Horizont für eine aufgeklärte Menschen-Welt. Sie ist der wahre Grund nicht nur für ein sich daraus ergebendes erkenntnistheoretisches und wissenschaftstheoretisches Paradigma einer wissenden Humanität.38 Und bestimme so in dieser Form auch die Moderne! Lassen wir einmal die möglichen psychoanalytischen, allgemeiner tiefenpsychologischen Einwände gegen eine solche Idee einer sich selbst bestimmende Vernunft unberücksichtigt.39 Es scheint doch darüber hinaus offensichtlich geradezu unmöglich, diesen ‚umfassenden Geltungsanspruch‘ der Vernunft philosophisch kritisch zu reflektieren, – ohne selbst die Vernunft zu bemühen. Sehen wir hier nun schlicht phänomenologisch näher hin. Theoretisch und praktisch verhängnisvoll ist diese, so oder so ähnlich stillschweigend zu Grunde gelegt weit verbreitete, ‚rationale‘, selbst-verständlich maßgebende ‚neuzeitliche Perspektive‘, weil sie historisch und systematisch auch die Gestalt, die Gestaltung des Philosophierens, das Denkens des ‚Denken 36 Die Denkgeschichte umfasst nicht nur die Philosophie; allerdings wird diese ‚umfassende‘ Denkgeschichte durch das Philosophieren begriffen. 37 Joseph Lortz – einer der großen Kenner der Reformationsgeschichte – schreibt: „Auch stärkste Häufung historischer Ursachen erbringt nur den Nachweis, dass das Kommen eines bestimmten Ereignisses notwendig, unvermeidlich geworden war; nicht aber ist damit die innere, absolute Rechtfertigung dieses Ereignisses ausgesprochen.“ Lortz (1950), S. 21. 38 Beispielsweise der Hinweis auf die Französische Revolution als wesentliche Ursache eines ‚neuen Denkens‘. Vgl. Jürgen Moltmann: „Der ‚Beruf‘ des 19. Jahrhunderts für das Studium der Geschichte und seine absolute Lebensnotwenigkeit ist durch die französische Revolution datiert.“ Moltmann (19653), S. 212. 39 Vgl. z. B. dazu: Manfred Pohlen/Margarethe Bauz-Holzherr (1991).

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der Moderne‘, die Reflexion des reflektierten Selbstverständnis zuerst und vor allem zumeist unbemerkt wesentlich mitbestimmt und begleitet. Die Reflexion der Vernunft setzt sich hier selbst eine ‚fassungslose‘ Grenze, die sie nicht einmal mehr wahrzunehmen scheint. Hingenommen als die alleinig gültige philosophische Bestimmung. Der klare Maßstab der ‚akademischen Philosophie‘. Wie eine eigenartige, zumeist verborgene Ziellinie. Eine alles ausrichtende ‚transzendentale Metatheorie‘. Wie ein neuzeitliches, bis lang noch nicht eingelöstes, geradezu religiös inspiriertes Versprechen einer unbedingten Geltung. So als könne es zumindest darüber keinen Streit geben. Es ist eine letztmögliche Seinswahrheit, eine unbedingte Metaphysik, eine ‚absolute, die Menschheit umspannende Vernunft‘, deren umfassende normative Vernünftigkeit Schritt für Schritt in die Wirklichkeit der Wissenschaften, der Lebenswelt, der Religion zu implantieren sei. Sowohl theoretisch als auch praktisch. Sehen wir es so. Eine den bürgerlichen Ordnungsvorstellungen kongruente akademische Inszenierung der Philosophie bestimmt jetzt das ‚vernünftige‘ Philosophieren. So vorgestellt bleibt ‚Grund und Abgrund‘ der Reflexion der Reflexion, die jeweils konkret‘ auch (und vor allem) existentiell bewegende Spannung durch Krisis und Verzweiflung grundsätzlich außer Sicht. Die Lebenswelt, der subjektive Lebensraum ‚soll‘ sich in Theorie und Praxis Vernunft-gemäß entfalten. Der unter der Hand als ‚Vernunftraum‘ bewertet und bestimmt gilt a priori als wahr und richtig. Natürlich auch das sehen wir. Und zu Recht macht darauf auch die Geschichtsschreibung aufmerksam. Schon die neuzeitliche Geistesgeschichte zeigt für uns jetzt dafür Sensibilisierte eine verdeckt-auffällige, vielleicht schon ‚verzweifelte‘ Suchbewegung, die die wirklichen Begrenzungen, das Richtige, das Falsche, das Kranke, das Gesunde, durch die Vorstellungen von Vernunft, ‚existentiell‘ zu ‚überdenken‘ versucht. Man betrachte nur die Selbstbildnisse Rembrandts; oder lese die ‚Gedanken‘ Pascals. Für diejenigen, die sich auf dem ‚philosophischen Hauptweg‘ wähnen sind das natürlich nicht mehr als interessante Neben- oder gar Irrwege. Diesen neuzeitlichen (zuerst und zumeist auch noch den ‚modernen‘) Menschen scheint so die wirklich ‚existentielle Entfaltung der Krisis und Reflexion‘ als wirkliche, fundamentale Grundlage des abendländischen Mensch-Seins verstellt. ‚Verstellt‘ als eine Vielzahl unterschiedlicher ZuFälle oder, historisch selbstverschuldeter faktischer Krisen, letzten Endes, als Ausdruck einer historisch gewordenen Unmündigkeit. Reparable Krisen die durch die Vernunft vernünftig gestaltet, aufgeklärt und bewältigt werden können. Das ist keine Rede gegen Aufklärung und Vernunft. Aufklärung ist selbstverständlich immer möglich und immer wünschenswert. Aber auch

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hier gilt es phänomenologisch wirklich noch genauer hinzuschauen. Die Grundmelodie des neuzeitlichen Menschen scheint bis heute ungebrochen ‚hell‘. Trotz Religionskriege, sozialer Unterdrückungen, gesellschaftlicher Fehlstellungen, ungeheurer Grausamkeiten, persönlicher Nöte, und, – nicht zu vergessen, der Unabdingbarkeit des eigenen Sterben-müssens. Auf den zweiten Blick. Vielleicht gerade weil sich die, bis ins 17. Jahrhundert hinein ‚praktisch‘ gültigen metaphysisch-theologischen Fundamente lockern. Das philosophische, theoretische und praktische Denken mit ihrer eigenartigen zunehmenden ‚artistischen Hinterdenklichkeit‘ löst sich, – vor- und nachsichtig. – aus dem Horizont religiöser, theologischer Vorgaben. Ein Aufbruch (wie es scheint) ins Freie. Ein Triumph der zunächst noch begeistert. Den im Grunde vernünftigen Menschen herauszuführen aus seiner (gleich ob selbst verschuldet oder auch nicht) Unmündigkeit gilt immer noch als das Ziel dieser Philosophie. Gewiss, ein hoher Anspruch, der sich schon im Ton, in der Gebärde überheblich aussprechen kann. (Den es also selbst noch einmal von Anfang an kritisch zu reflektieren gilt). Es gehe, – so wird gesagt, – auch weiterhin und nach wie vor um ‚Aufklärung‘. Und Aufklärung sei eben das Projekt der Vernunft! Ein Projekt, das auch heute noch auf die Vollendung warte. Eine ‚horizontale Ordnung des Denkens‘. Methodisch, rational-empirisch klar erarbeitet und vernünftig anfänglich, – das seien die, den Menschen doch wohl letztendlich nicht überfordernden regulativen Vorgaben. Das so ausgerichtete philosophische Denken, gleich ob Idealismus oder Materialismus, setzt im Grunde nach wie vor hoffnungsfroh und geltungssicher auf die Menschen-Vernunft; – die sich, wie es scheint, besonders klar im Philosophen ausspricht. Der Philosoph der Vernunft also der „Funktionär der Menschheit“, der „Fackelträger der Wahrheit“. Er sieht sich, darin Descartes vergleichbar, in der Pflicht und in der Lage erkenntnistheoretische, metaphysische, theologische und schließlich auch politische Streitigkeiten menschlich selbstbewusst also, menschengerecht, ‚human‘, eben, – ‚vernünftig‘ zu lösen. Das also beschreibt den neuzeitlich vorgedachten ‚rechtmäßigen Weg‘. Vernünftiges Selbst-Bewusstsein wird als vernünftige Selbst-Verantwortung praktisch. Die Vernunft reflektiert sich selbst als unbedingtes transzendentales Prinzip. Das Erste der Theorie und der Praxis ist die Reflexion des reinen Bewusstseins als Grund-Prinzip des Mensch-Seins. Welt und Mensch sind Gestaltungsmöglichkeiten für ‚die‘ (und ‚der‘) Vernunft. Und das lässt für die Zukunft des Menschen, der Menschheit hoffen. Von hier aus entfaltet sich die neuzeitlich-optimistische Perspektive. So zusammengefasst: Der ‚fortschrittliche, vernünftige, bürgerliche Mensch‘ selbst und seine Welt als wahrlich ungeheure Möglichkeit, ja, als ‚Material‘ der ‚vernünftigen SelbstBestimmung‘.

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VI. Krise und Krisis Das alles aber nun ausschließlich historisch zu betrachten hieße an ‚der Wirklichkeit‘ vorbei zudenken. Diese Neu-Zeit ist doch der Lebenshorizont zu dem wir immer noch auch in einer eigenartigen Spannung stehen. Ob wir es wollen oder nicht, wir leben (noch) innerhalb seiner vorgestellten Grund-Form. Die mit der Neuzeit verbundenen Lebensmuster, Formen, Stile, Ideen gelten nach wie vor, mehr oder weniger aufdringlich, als Großprojekte. Und das nun sogar global ausgerichtet. Wir, einschließlich der Institutionen, der Strukturen tun (‚leben‘) in der Regel so ‚als ob‘ dieser Traum noch nicht ausgeträumt sei. Also, trotz der unterschiedlichen Stimmen, sicher, auch in uns selbst ein ‚fester Glaube‘ an die unbedingte theoretische und praktische Tragfähigkeit transzendentaler Vernunft. Führen wir also davon durchaus beeindruckt unsere phänomenologischen Erkundungen der Moderne fort. Ein möglicher Zugang bietet sich phänomenologisch zunächst an. Und zwar: Die Moderne und das (‚mein‘, ‚unser‘) Bewusstsein der Moderne als einen wirklichen Bruch mit der Neuzeit zu inszenieren. Das ist nichts, das mühsam erfunden werden müsste. Das ist ein Zugang, den ‚ich phänomenologisch Nach-Denkender‘ mittelbar ‚in mir selbst‘ finde. Der mir also selbst als eine ‚korrelative Form‘, eine ‚intentionale Gestaltung‘ meiner Existenz wirklich zur Verfügung steht. Dazu ist es nicht erforderlich, dass ich mich selbst in einem ersten methodischen Schritt ausdrücklich als historisch und erkenntnistheoretisch ‚naiv‘ setze, einführe, vorstelle. Es reicht hin, mir meine Sicht der Reflexionsgeschichte ausdrücklich eben als meine Sicht und Deutung, mir selbst in dieser ‚subjektiven Form‘ vor Augen zu führen. Zwei Begriffe bieten sich mir selbst, meiner ‚reflektierten Wahrnehmung‘ mittelbar und unmittelbar an. Meine ‚innere‘ und ‚äußere‘ Lebens-Welt, also die Lebenswelt der Moderne und das institutionalisierte Bewusstseins der Moderne. Das nehme ich phänomenologisch wahr, ich schaue es nun als wirklich eigene (auch schon als ‚verendende‘, logisch ‚erschöpfte‘) Welt meiner Existenz. Diese Erfahrung (und eine Erfahrung ist es ausdrücklich) fasse ich als Gedanken-Bewegung: ‚Krisis und Reflexion‘. Das sind als Erfahrung und Gedanke, unleugbar, Wirklichkeiten meiner Existenz. Sie werden ‚wahrgenommen‘, sie werden geschaut, und – sie lassen wahrnehmen, sie lassen schauen. Auch das zeigt sich mir. Es weitet meinen Blick und festigt ihn. Der Begriff der, oder einer ‚Krise‘ der Moderne, des 20. Jahrhunderts, der Kunst, der Wissenschaft, der Theologie u. ä., ist ‚literarisch‘, aber auch als analytische Beschreibung weit im Umlauf. Verbunden mit einer entsprechenden Vieldeutigkeit. Nicht nur unterschiedliche Wissenschaften legen – ausdrück-

VI. Krise und Krisis

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lich oder implizit ausgeführte – ‚objektiv-sachgemäße‘ Krisentheorien vor. Reflektiert durchaus auch in Formen einer kritischen Selbst-Bezüglichkeit. Politische, gesellschaftliche, soziale, ästhetische, auch, philosophische SachLagen, Zu-Stände werden so als ‚krisenhaft‘, als Gestalt, Ausdruck, Folge einer (!) Krise festgelegt.40 Schon der alltägliche Blick in die Tageszeitung würde hier genügen. Eine weitere, vergleichende historische Sichtung wirft kritische systematische Fragen auf. Dass diese Zuschreibungen der (einer) Krise beispielsweise interessengeleitet sein und missbraucht werden kann, und auch (willkürlich oder unwillkürlich) wird, bedarf angesichts der Ideologie-Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts keiner weiteren Belege. Hier interessieren aber diese unterschiedlich vorgestellten ‚empirischen‘ Krisenzuschreibungen, diese Fest-Legungen durch die Einzelwissenschaften, die Medien, die Politik zunächst nur am Rande.41 Wie auch immer eines fällt auf. ‚Krise‘ und ‚Krisis‘ werden nicht wirklich unterschieden. Eine begriffliche Klarstellung wird für uns nun unumgänglich. Und zwar als eine phänomenologischen Klarstellung. Das ist eine ausdrücklich beschreibende Unterscheidung zwischen ‚Krise‘ und ‚Krisis‘. Lexikalisch mag dies als willkürlich, als ‚erkünstelt‘ erscheinen. Und bisher haben wir auch, – den üblichen Sprachgebrauch folgend, – zwischen Krisis und Krise nicht unterschieden. Dass aus einer lebensweltlich alltäglichen Sicht eines eingeführten Sprachgebrauchs keine Unterscheidung notwendig erscheint, sei ohne weiteres zugegeben. Auch ein mögliches formales, lexigrafisches Vorgehen interessiert zunächst nur am Rande. Es ist für eine phänomenologische Untersuchung nur als eine Anzeige bedeutsam, – und zwar, wie etwas gesehen werden soll und kann. 40 Beispielsweise die Sicht von Arnold Hauser: „Die Begleiterscheinungen des modernen Kapitalismus, die Romantik und die Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft, schaffen erst die sich ihrer Zwiespältigkeit bewusste Seele und damit den modernen problematischen Charakter.“ Hauser (1973), S. 903. Vgl. auch Johannes Thyssen. „Weder kann man also sagen, dass unsere spezifisch geistige Krise nur eine Folge der politisch-gesellschaftlichen Erschütterungen sei, noch dass sie schon mit der Aufklärung beginne. Es handelt sich um eine totale Wert- und Normenkrise auf dem geistigen, insbesondere auf dem philosophischen Boden.“ Die Philosophie in der gegenwärtigen geistigen Krise, (Bonn o. J.), S. 10. Auch Fritz Stern: „Die abendländische Welt ist von einer Unzufriedenheit erfüllt, die nicht wirtschaftlichem Mangel oder der Kriegsgefahr entspringt; sie wurzelt im Missbehagen über eine städtische, industrielle Kultur.“ Stern (1986), S. 14. Auch Max Horkheimer (1936) für „die gegenwärtig in Europa vorherrschende Gesellschaftsform, die sich auch über Amerika erstreckt . . . ist es im höchsten Maße wahr, dass sie . . . ein aus immanenten Gründen zum Untergang treibendes Gebilde darstellt. Diese Gestalt des menschlichen Zusammenlebens befindet sich in heller Krise.“ Horkheimer (19872), S. 5. 41 Vgl. W. Heitmeyer (1997), S. 12.

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Überlegen wir für unser weiteres phänomenologisches Vorgehen so: ‚Krisen‘, und das drängt sich ohne weiteres auf, werden in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen, sozialen, politischen, kulturellen Gestalten ‚eingeführt, vorgestellt und beschrieben‘. Als Deformationen, Gefährdungen, auch als Chancen definiert und festgelegt. Sie werden als ‚ausgemacht‘ öffentlich gefasst. Als wirklich erlebte beispielhaft benannt; und drängen sich auf diese Weise scheinbar ‚ohne weiteres‘ auf. Es wird an die Krisenwahrnehmung, das Krisenverständnis des Lesers, des Hörers, des Sehers ‚appelliert‘. Usw. Meistens, so scheint es, gedacht als Problem-Lagen außerhalb (s)einer selbst nur vagen, unausgesprochenen Normalität. ‚Normalität‘ meint hier natürlich keinen ganz und gar problemfreien Raum. Eine Normalität kann auch Notlagen, Armut, Missstände (gedeutet aus ‚unserer‘ Perspektive) einschließen. Im Gegenteil ist es doch eher so als ob ein völlig problemfreier Zeitraum von uns als ‚nicht normal‘, als utopisch erfahren und benannt werden würde. Wir brauchen das an dieser Stelle nicht weiter vertiefen. Von diesem Begriff der ‚Krise‘ sei nun der der ‚Krisis‘ unterschieden. ‚Krisis‘ ist ausdrücklich eine philosophische (Selbst-)Wahrnehmung. Genauer: ‚Krisis‘ gefasst als eine phänomenologische, und das ist, als eine existentielle Selbst-Wahrnehmung der ‚transzendentalen Lage‘ der Vernunft. Die Vernunft perturbiert sich sozusagen selbst existentiell. Auch das ist sicher eine radikale Form der Aufklärung. Es ist die verstörende Erfahrung, dass die transzendentale Vernunft ‚hinter‘ der wirklichen Wirklichkeit der Existenz nicht nur zurückbleibt, – sondern notwendig zurückbleiben muss. Die Unumgänglichkeit ‚hier und jetzt‘, Wert und Sinn, Geltung und Selbstverständnis, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, sich ‚aufgrund‘ und mittels der vernünftigen Reflexion zurechtlegen zu müssen; – und doch nicht ‚wirklich mit sich selbst zu Rande zu kommen‘. Eine geradezu ‚abgründige Einsicht‘, ein vorurteilsfreies ‚Schauen‘, der existentielle Schwindel Kierkegaards, dass alle tradierte abendländische, vernünftig-neuzeitliche Selbstverständlichkeit, jeder vorgegebene Sinn, die tragenden, angenommenen Werte und Institutionen geltungstheoretisch, praktisch-vernünftig, und theologisch existentiell unwiderruflich dahin sind.42 ‚Krisis‘ ist also hier weder psychologisch, noch sozialwissenschaftlich oder kulturhistorisch, in Anlehnung an dieses oder jenes Verständnis von Kultur, begriffen. Sondern ist geschaut, – geschaut als ein wirklich wahrgenommenes, erlebtes Phänomen. ‚Krisis‘ ist so eine existentielle, eine wirkliche Erfahrung. Eine Erfahrung, die sich als verspannt zeigt mit Reflexion und Verzweif42 Dazu Hölderlins ‚Hyperion‘: Es schwinden, es fallen/Die leidenden Menschen/ Blindlings von einer/Stunde zur anderen,/Wie Wasser von Klippe/Zu Klippe geworfen,/Jahr lang ins Ungewisse hinab. Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von Knaupp, München/Wien 1992, Bd. I. S. 745.

VI. Krise und Krisis

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lung. Andauernd und unumgänglich. Und in dieser reflexiven Gestalt, einer korrelativen spannend-existentiellen Einheit, entfaltet ‚Krisis‘ sich ausdrücklich als geschautes Bedingungsgefüge des jetzt (und so) leibhaften Bewusstseins der Moderne.43 Und ‚umgekehrt‘, bestimmt Krisis wieder das innere Gefüge von ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Das soll als eine erste beschreibende Annäherung genügen. Die Absicht ist, den phänomenologischen Zusammenhang, die ‚notwendige‘ Korrelation zwischen Krisis und Moderne klarer zu fassen. ‚Krisis‘ ist also vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung grundsätzlich nicht irgendeine ‚LebensKrise‘; eine persönliche Krise dieser oder jener bestimmten ‚modernen Menschen‘; auch nicht einer mehr oder weniger großen Anzahl, oder, einer Klasse, einer sozialen Schicht; oder, eine Art ‚moderner Krankheit‘, etwa als psychologische, kulturkritische Zuweisung, von der Einzelne (psychologisch und therapeutisch eingeführt als Labile, Neurotiker, Nervöse . . .) betroffen sind.44 Kurzum, etwas, das die Moderne letztendlich als ‚die‘ Moderne irgendwie nur ‚am Rande‘ berührt. Stattdessen sehen wir es so: ‚Die‘ Moderne, das Bewusstsein ‚der‘ Moderne, ist Moderne durch die reflexive, konkrete, leibhafte Entfaltung des korrelativen Gefüges ‚Krisis und Reflexion‘. Das ist nicht weniger als die ‚notwendige‘ phänomenologische Form der Moderne.45 Daraus folgt weiter. Erst das phänomenologische Bewusstsein der Moderne begreift die Krisis, (reflexiv eingängig, das Selbst-Bewusst), als ihren konstitutiven existentiellen Leitbegriff; und letztendlich als notwendiges Korrelat dieser Reflexion. Die Grundform der Moderne entfaltet sich als ‚Reflexion und Krisis‘. Erst in dieser ausdrücklich existentiell verstandenen Form ist ‚die‘ Moderne klar bestimmt. Und hat sich so als unvergleichliches, eben als ‚die‘ Moderne hier und jetzt leibhaftig transzendental selbst entdeckt. Die Moderne ist in dieser, ihrer selbstbewussten, existentiellen Wirklichkeit, der Reflexion und Verzweiflung transzendental ‚wahrhaftig‘. Die Vernunft erfährt, erschaut hier und jetzt wirkliche, exis43 Dass darf auch nicht mit der Frage verwechselt werden, ob der (einer) Philosophie ‚hier und jetzt‘ überhaupt noch eine Bedeutung zugesprochen werden kann. Vgl. z. B.: „Die akademische Philosophie ist seit mehr als hundert Jahren weitgehend damit beschäftigt, zu erklären, dass die Philosophie entweder unmöglich oder nutzlos oder beides sei.“ Leszek Kolakowski (2002), S. 13. 44 Beispielsweise die so oder so ähnlich vorgebrachte Sicht: „Die Pathologie der Moderne lässt keine stabilen Identitäten mehr aufkommen, zumal keine, die narrativ fixiert werden, sondern erzeugt fragmentarische Wesen, eben Baukastenexistenzen, die mehr oder minder eklektisch, immer aus zweiter Hand ihre Überlebensmodelle basteln.“ Werner Jung (1997), S. 186. 45 Dieser Krisis-Begriff darf auch nicht mit dem des christlichen Selbstverständnisses verwechselt werden. Christliche Existenz ist auch unumgänglich eine Existenz (in) der Krisis. Dieser Zustand wird gleichsam existentiell durchlitten; er ist nicht notwendig ZeitRaum bestimmend.

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tentielle Grenzen. Um die Bedingungen ihrer existentiellen, auch wesentlich-entscheidenden Möglichkeiten wahrzunehmen, sich also als wirklich wirklich zu finden, über-denkt sie sich als ‚angewiesen‘, als leibhaft eingebunden. Das ist kein beliebiges, assoziativ-zufälliges Wahrnehmen. Die Phänomenologie befragt dazu vor allem die konkrete Lebenswelt, die Kunst und die Literatur. Vor allem sie ‚zeigen‘ es. ‚Zeigen‘, ‚gestalten‘ es im Übrigen mehr als es sich die Philosophie begrifflich vorstellen kann.46 Das verwundert nicht. Die Moderne als ‚reflektierte‘ verzweifelte Lebensgestalt entworfen, in Szene gesetzt, – ist mehr denn je ein metaphysischer Schwindel, der irre Abgrund der Angst, der das Dasein mit seiner Welt ‚unheimlich‘ verschweißt. Verknüpft ist damit eine ‚Selbstsorge‘, einer sich immer weiter treibenden, haltlosen Denk- und Fühlfigur. All das kann in der ‚Geltungs-Form‘ einer abstrakten, transzendentalen Vernunft nicht wirklich zu sich selbst kommen.47 Darüber hinaus kann sie sich so nicht einmal selbst als eine unvergleichlich radikale Denk-Form und als lebensweltlicher Bruch der Neuzeit wirklich ‚verstehen‘. Ja, und selbst wenn wir diesen Begriff uns vorzustellen versuchen, die ‚reine Vernunft‘ bliebe sich selbst gerade als ‚reine, zeitlose Bedingung der Möglichkeit‘, als konstitutive, absolute anthropologische Potenz ‚in dieser meiner einzig möglichen Wirklichkeit‘ fassungslos (Fassungslos).48 So drängt sich ein phänomenologischer Befund auf. Dass eine vermeintlich ‚unmittelbar begriffene Vernunft‘, (‚rein transzendental‘ gedacht, entworfen als Vorstellung des absoluten Sinn, als Geltung stiftend), nicht nur die wirkliche Wirklichkeit verfehlt, sondern auch nicht wirklich bei sich an kommen kann.49 Gleich ob sie sich im Kontext einer Philosophiegeschichte als konstruierende Vernunft-Geschichte begreift; oder, empirisch, positivis46 „Neue Gedanken äußern sich jedoch in der Kunst nicht abstrakt wie in der Philosophie und durchweg rational fassbar wie in den Naturwissenschaften. Neue Gedanken in der Literatur sind neue Sichtweisen des Lebens in allen seinen Bereichen und Verknüpfungen, ausgedrückt durch die Handlungen und dir Bildsprache der Dramen, Romane, Erzählungen und Gedichte.“ Gerhard Schulz (20002), S. 15. 47 Gottfried Benn schreibt mit einer leichten Ironie: „ich denke keinen Gedanken mehr zu Ende, rührend das Bild des Abendländers, der immer noch und immer wieder, und bis der Okzident in Schatten sinkt, dem Chaos gegenübertritt mit seiner einzigen Waffe, dem Begriff (. . .).“ (Gesammelte Schriften, S. 1877). 48 Immer noch lesenswert: Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung. Würzburg 1950. Dazu auch: Werner Jung (1997), S. 167 ff. 49 Schon Heimsoeth in: Windelband/Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. (Hier) Tübingen 195715. „Die transzendental restringierte Fragestellung kann Wert und Wirklichkeit, Geltung und Erlebnis, Freiheit und Lebensgeschehen nie recht zusammen denken; allenthalben muss sie konkrete Tatbestände in die Dualität verschiedener Gesichtspunkte oder Denkmethoden auseinander lösen, ohne je auf die volle in Erfahrung und Erlebnis uns gegebene Realität zurückzukommen.“ (S. 586).

VI. Krise und Krisis

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tisch den vorliegenden intentionalen Bezügen einfach zu folgen vermeint. Im Übrigen nur am Rande, sehen auch die psychologischen Forschungen an der existentiellen Wirklichkeit des Mensch-Seins vorbei. Es wird etwas gesucht, was so, in dieser idealistischen oder empiristischen, psychologischen Form, nicht gefunden werden kann. Denken wir nun ausdrücklich an Edmund Husserl. Husserl ist mittelbar und unmittelbar für diese phänomenologische Arbeit von besonderer Bedeutung. Er wird uns im Folgenden auch weiter sehr interessieren und unseren Denkweg begleiten. Er ringt bekanntlich spätestens mit den ‚Ideen‘ um eine ‚transzendentale Vernunft‘. Also ganz traditionell, um die Sicherung eines ‚absoluten Anfangs‘, um die Grundlegung einer absoluten wissenschaftlichen Philosophie. Es sind transzendentale Projekte, die, das schon an dieser Stelle, allesamt gründlich, nichts desto weniger, groß scheitern.50 Trotz dieses Scheiterns bleibt Husserls Phänomenologie mehr als nur eine beliebige historische Vorlage für konsequente philosophische Methoden. Die Phänomenologie ist wortwörtlich eine philosophische Grundleistung.51 Nehmen wir vor allem den Auftrag, geradezu die Selbstverpflichtung der Phänomenologie ernst: Selbst wirklich ‚hinzuschauen‘! Sich also ‚der Sache‘ selbst unvoreingenommen annehmen. Sich der umlaufenden Meinungen, der Theorien über die Sache, eben ausdrücklich als Meinungen und Theorien klar werden; sie also zunächst als bloße Geltungsbehauptungen anzusehen und sie einzuklammern. Die Begriffe, die Worte, Ausdrücke, Anzeigen ‚Neuzeit‘ und ‚Moderne‘ finden wir schon vor. Wir kennen sie. Wir gehen mit ihnen um; mehr oder weniger ausdrücklich bestimmt. Und das in sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen und lebensweltlichen Diskursen. Es sind also selbstverständliche Vorlagen; historische, kunstgeschichtliche, psychologische, soziologische, theologische und selbstverständlich auch philosophische. Diese Vielstimmigkeit macht es zu nächst schwierig ihnen eine ‚klare Bedeutung‘ zuzuschreiben; sie einzusetzen um eine Sachlage eindeutig zu fassen. Versuchen wir daher als erstes sie in aller Unbestimmtheit ‚positiv‘ zu lesen und zu reflektieren; also ausdrücklich in ihren vielfältigen, verwirrenden Möglichkeiten, in ihrer Mehrdeutigkeit. Eben als mögliche ‚Denkhaltungen‘, die den eigenen Zeitraum so oder so bewerten. Oder, als dicht aufgeladene Sprach-Zeichen von unterschiedlichen, beeindruckenden Wahrnehmungen. Als Geisteshaltungen, die sich auf diese Weise spiegeln und 50

Vgl. Gleixner (1986). „Phänomenologie ist nicht ‚Literatur‘, durch die man lesend gleichsam spazierend fährt. Man muß schon . . . arbeiten, um als ihren Erwerb ein methodisch geschultes Auge und damit erst die Fähigkeit eigenen Urteils zu gewinnen.“ EP.I/238. 51

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historisch auslegen; oder, im Sinne Husserls als damit verbundene mehrdeutige Lebensformen.52 Dass das ungeklärte historische Vorentscheidungen, nicht-bewusste entwerfende Perspektiven beinhaltet, (ja, geradezu voraussetzt), die eine konkrete Lebenswelt ‚meint‘, darf jetzt phänomenologisch nicht mehr aus dem Blick geraten. Entdeckt als Konstitution von Wahrnehmung eines ‚intentionalen Bezugs‘, der sich natürlich wie selbstverständlich als tatsächliche, objektive Wirklichkeit aufdrängt. Klar ist auch: Diese so aufgefasste, so konstituierte Wirklichkeit und die damit jeweils verbundene Form der Wahrnehmung kann, – entgegen der methodischen Versuche Husserls, – nicht wirklich ‚restlos‘ eingeklammert, kann nicht insgesamt transzendental vernünftig aufgehoben werden. Möglicherweise könnte eine solche Reduktion abstrakt gedacht werden; – aber sie kann nicht erfahren, nicht wirklich philosophisch, phänomenologisch ‚nachvollzogen‘ werden.53 Das ist, und das nur nebenbei, das Irritierende für jede Form des Idealismus. Die wirkliche Wirklichkeit ‚transzendiert‘ die transzendentalen Möglichkeiten der Vernunft. Das bedeutet nun nicht das Ende der phänomenologischen Arbeit. Sondern es ist die Herausforderung das ‚Anfangen des Philosophierens‘ ausdrücklich wirklicher vorzustellen. Wie auch immer. Möglich ist weiterhin, diese so ‚gefasste Wirklichkeit‘ als gestalteten existentiellen, leibhaften, (auch im Sinne des Unwillkürlichen), Entwurf wahrzunehmen und zu reflektieren. Und auch das ist noch weiter zu denken. Also, diese Reflexionen, ihre eigen gearteten Inhalte, ihre besonderen Formen, ihre Intentionen, wiederum ‚zu reflektieren‘. Eine ‚wirkliche reflexive Reflexion‘ also. Oder wenn man so will, eine ‚Reflexion II. Auch so gestaltet sich eine phänomenologische, ‚existentielle Transzendentalität‘. Ich bin jetzt und in dieser existentiellen Form wahrhaftig und endlich bei mir und meinen wirklichen Möglichkeiten. Diese existentielle Wahrhaftigkeit erlebt sich jetzt im reflexiven Akt als die wirklich mögliche Transzendentalität. Das gilt es nun weiter zu entfalten. Versuchen wir diese reflexive Reflexion zunächst als eine abendländische Möglichkeit der ‚leibhaften Geschichte der wirklichen Existenz‘, eben als selbst-kritische Potenz zu verstehen und zu begreifen. Dadurch wird auch implizit der neuzeitliche Idealismus als ein reduktives Schema, als unwirklich, als ‚Kopfstand‘ auffällig. 52

„das Wort in einem möglichst weitem Sinne gedacht, der jede Art gesellschaftlicher Einheit, zu unterst die des Individuums selbst, aber auch jedwede Kulturgestaltung befassen mag.“ (Logos/323). 53 Trotz unzähliger Veröffentlichungen, die sich abmühen dies vorzuführen.

VI. Krise und Krisis

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Das heißt nun für unseren phänomenologischen Diskurs: den inneren und äußeren ‚lebensweltlichen Horizont‘ zu entwerfen, innerhalb dem ‚die Moderne‘, korrelativ, das Bewusstsein der Moderne überhaupt erst (sich) als ‚die‘ Moderne verschieden von ‚der Neuzeit‘ wahrgenommen werden kann. Allerdings geschieht das nicht als bloße historische Nachzeichnung, als eine Fest-Stellung dieser oder jener ‚faktischen‘ Sachlagen. Oder, in der Form psychologischer Studien. Oder, als eine Paraphrase der Philosophiegeschichte, der Geisteshistorie des 19. Jahrhunderts. Sondern das ist die Arbeit einer systematischen phänomenologischen Konstitutionsleistung. Bewusst und ausdrücklich! Das also ist der phänomenologische Entwurf. Eine Gestaltung des existentiell-transzendentalen Horizont der Moderne den ich ‚Reflexion und Verzweiflung‘ genannt habe.54 Das alles ist kein bloß spekulativ (aus)gedachter Horizont. Es ist wahrhaftig ein als ‚wirkliche erfahrener Horizont‘, der hier und jetzt nicht nur in Geltung ist, – sondern grundsätzlich die überhaupt möglichen Formen, der hingenommenen und angenommenen Geltung bestimmt. Wahr ist auch, (das ist sicher kein vernichtender Einwand), dass diese so erfahrene ‚Lebenswelt‘ zuerst und zumeist das existentielle Leben der Moderne gestaltet, durch-stimmt ohne wirklich reflexiv entfaltet zu werden. Also, fassbar eher als eine Grund-Befindlichkeit, die sich aber phänomenologisch als ‚Subtext‘ aus der Kunst, der Literatur herauslesen lässt. Dieser Subtext eines so gestimmten Lebens im wirklichen Horizont Reflexion und Verzweiflung begreift, spiegelt sich jetzt in der Form der phänomenologischen Reflexion, als – wirkliche Wirklichkeit der Moderne. Das ist im Übrigen auch dem ‚transzendentalem Anliegen‘ Husserls gar nicht so fremd, wie es auf dem ersten Blick scheinen mag. Das ist zumindest für mich persönlich sehr bedeutsam. Husserls Philosophieren kann selbst als unentwegter, verzweifelter Konstitutionsversuch gelesen werden, ‚unbedingte Geltung‘ zu sichern. Aber nicht, – auch wenn er nicht selten so gelesen wird, – als eine bloße abstrakte, erkenntnistheoretische Untersuchung einer invarianten reinen Vernunft; Egologisch, Interpersonal. Sondern, angesichts einer von ihm schmerzhaft wahrgenommenen Relativität, einer als bedrohlich erlebten ‚Auflösung‘ der abendländischen Sinnbestände.55 Mit dieser Sorge war er bekanntlich nicht allein. Denken wir beispielsweise an den (heute fast vergessenen) Rudolf Eucken.56 Diese ‚Re54

Vgl. dazu meine Arbeit (2003). Husserl schreibt am 25.9.1906 in sein Notizbuch: „Ohne in allgemeinen Zügen mir über Sinn, Wesen und Methoden, Hauptgesichtspunkte einer Kritik der Vernunft ins Klare zu kommen, ohne einen allgemeinen Entwurf für sie ausgedacht, entworfen, festgestellt und begründet zu haben, kann ich wahr und wahrhaftig nicht leben.“ Zit.: Hua. II. Die Idee der Phänomenologie. Einleitung des Herausgebers, S. VII ff. 56 Rudolf Eucken (1888). 55

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lativität‘, diese ‚Auflösung abendländischer Sinnbestände‘, ihr Verenden ist die wesentliche Wirklichkeit, die hier und jetzt – willkürlich und unwillkürlich – ‚endlich Sinn‘ gibt. Es geht also Husserl selbst zwar vordringlich, aber keineswegs letztendlich, wesentlich, um eine erkenntnistheoretische, erkenntnislogische Sicherung der Wissenschaften. Nicht einmal um die damit verflochtene unbedingten Grundlegung der theoretischen Philosophie. Sein so beeindruckender, scheinbar neuzeitlicher „Radikalismus prinzipieller, letzter Erkenntnisbegründung“, dem Ringen um eine apodiktisch einsichtige Methode, (um Methoden), und, – das alles zusammenfassend einer sich „letztverantworteten Philosophie“, zielt auf die wirkliche Wirklichkeit, das praktische, ‚lebbare‘ Wissen. Letztendlich auf einen ‚existentiellen, lebensweltlichen Sinn‘. Der Begriff, oder der Titel ‚wissenschaftliche Philosophie‘, der für Husserls Phänomenologie so oft gesetzt und fehlgedeutet wird, verstellt seine dramatisch-existentielle Intention.57 Dass Husserl selbst dieses Missverständnis (sicher ungewollt) gefördert hat, kann allerdings nicht übersehen werden. Husserl hat nämlich entgegen seinem eigenen tief verzweifelten, ‚irrationalen‘ Ringen, diese ‚transzendentale Bewegung, der neuzeitlichen Philosophie‘, diese ‚wissenschaftliche‘ Gestaltung der ‚reinen‘ Vernunft, bei aller Kritik im Einzelnen, letztendlich doch als das Ideal, als den wahren Gedanken europäischen Denkens behauptet.58 Und seine transzendentale Phänomenologie als zweifel-festen, anfänglichen Grund, als Zielhorizont, als regulative Idee, als Vollendung dieser Bewegung der Philosophie verstanden. Auch wenn, wie er schon in seinem Logos-Aufsatz schreibt, diese Vollendung in weiter Ferne liege. Und so fordert er, (dadurch, seine eigene existentielle Intention missachtend), das gesamte philosophische, wissenschaftliche Denken habe sich auf dieses ‚absolute Vernunftziel‘ hin auszurichten, – jetzt und in Zukunft. Husserl sieht sich zwar immer wieder auch existentiell herausgefordert. Vor allem in den Einleitungen seiner großen Schriften beschreibt er, mehr oder weniger deutlich, seine ihn wirklich beunruhigenden Wahrnehmungen als Zeichen des Verfalls, als eine ‚fundamental‘ erschütternde Krise des neuzeitlichen Selbst-Verständnis. Das Verbindet ihn im Übrigen (bei allen Unterschieden und weitgehend unbemerkt) mit Kierkegaard und, – zumindest auf den ersten Blick, eigenartig genug, – mit Sigmund Freud. Denken wir beispielsweise an Freuds bekannte, viel besprochene kulturkritische Arbeit: ‚Das Unbehagen in der Kultur‘ (1930). Vor allem Husserls ‚Spätphilosophie‘ (ab 1929) ist im 57

Vor allem wenn dem ein positivistischer Wissenschaftsbegriff zugrunde gelegt wird, der von den (irgendwelchen) ‚Einzel‘wissenschaften abgelesen ist. 58 „Nichts Geringeres wollte diese universale Philosophie, als in der Einheit eines Systems alle überhaupt sinnvollen Fragen streng wissenschaftlich umfangen in einer apodiktisch einsichtigen Methodik und in einem unendlichen rational geordneten Progressus der Forschung.“ Krisis/105.

VII. Neuzeit – Rationalismus – Empirismus

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Grunde ein theoretisch verschlüsselter Ausdruck einer existentiellen wirklichen Verzweiflung an der, wie er wahrzunehmen glaubt, (un)vernünftigen Gestalt der Moderne. Und eben das verbindet ihn mit Freud. Es gelte mehr denn je, so Husserl in seinem berühmten Vortrag 1935 (ausgerichtet durch den Wiener Kulturbund),59 das ‚bloß Subjektive‘ wieder konkret zu fassen. Das heißt als eine ‚wirkliche Rationalität‘. Beispielsweise auch den leibhaftigen, so oder so ‚eingestellten‘, so oder so reflektierenden Wissenschaftler.60 Das ist eine phänomenologische Perspektive, die sich wirklich als ‚modern‘ erfahren könnte, – vorausgesetzt, die Vernunft reflektiert die leibhaften, existentiellen Bedingungen ihrer wirklichen Möglichkeit. Vorausgesetzt sie fasst sich als Entwurf einer existentiellen Transzendentalität. Das aber unterbleibt. So verwundert es auch nicht mehr, dass Husserls, – nennen wir es – ‚Therapieplan‘ für das Abendland61 und die abendländische Wissenschaft scheinbar ungebrochen neuzeitlich angelegt ist. Also gedacht und geplant als eine nicht nachlassende Arbeit der wissenschaftlichen Vernunft an der wissenschaftlichen Vernunft.62

VII. Neuzeit – Rationalismus – Empirismus Blicken wir, diesen Zusammenhang vor Augen, näher hin auf die in jeder Hinsicht folgenreiche Entfaltung der Vernunft als Gestaltungsprinzip der ‚neuen Zeit‘. Eine folgenreiche Entfaltung auf allen gesellschaftlichen, kultürlichen und wissenschaftlichen Feldern. Wobei auch ‚Vernunft‘ zunächst sehr allgemein und weit verstanden werden soll. ‚Die Vernunft‘, ‚die Vernünftigkeit‘ ist nicht irgendein abstraktes Ordnungs-Prinzip. Es wird philosophisch schlechthin als das menschheitliche Grund-Prinzip behauptet. Theoretisch und Praktisch. Diese ‚Behauptung‘ mitsamt den theoretischen und praktischen Konsequenzen entfaltet ganz konkret die Neuzeit. Das ‚wirklich und wahre Ausmaß‘, die Reichweite, die Qualität dieses Prinzips sehen wir erst, wenn wir uns nicht wie selbstverständlich innerhalb dieses so entworfenen Horizonts (der Vernunft als letztes logisches und ontologisches Prinzip) einrichten. Diese Perspektive muss eigens benannt werden. 59

Vgl. Krisis, Einleitung. Die Phänomenologie – ausgerichtet auf das ‚Wesen‘ (das Wesentliche) – ist also keine Abstraktion von der Wirklichen Wirklichkeit (oder der Geschichte); geradezu im Gegenteil, eine philosophische Fassung der Wirklichkeit als das Wesentliche. 61 ‚Abendland‘ sei im Folgenden als eine Verflechtung von philosophischen, theologischen und politischen Traditionen verstanden, die Reflexion als Institution (mit all den wissenschaftlichen, kultürlichen, ästhetischen und politischen Folgen) erst zur endgültigen Vollendung (als Moderne: mit ihrer Gestalt ‚Reflexion und Verzweiflung‘) gebracht hat. 62 Logos/293 ff. 60

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Ist es doch so, dass diese ‚Wahrnehmung‘ in der Geschichte der Philosophie bis auf den heutigen Tag zu finden ist. Aus phänomenologischer Sicht ist das eine Naivität, die sich selbst als kritisch denkt. Der blinde Flecken der ‚reinen Vernunft‘ und der darauf sich gründenden Neuzeit ist die Behauptung, ja, die Selbstbestimmung der ‚reinen Vernunft‘ selbst. Die Vernunft wird aber erst wirklich ‚kritisch‘ in einem ‚interpersonalen Raum‘. Sie begreift sich jetzt erst in dieser Form als eine wirkliche, existentiell gebundene Vernunft. In dieser transzendentalen Form einer sogenannten ‚reinen‘ Vernunft-Philosophie bleiben die wirkliche Struktur der Neuzeit und die wirklich endlichen Gestalten der neuzeitlichen Vernünftigkeit (sich) selbst dunkel. Das zeigt sich unübersehbar dort, wo dieses hohe Selbstverständnis endgültiger, ‚absoluter‘ Vernunft ‚sich wirklich zu vollbringen‘ sucht. Denken wir an Fichte, Schelling und Hegel. Schon die Absicht eine solche transzendentale Vorstellung in ein endgültiges, absolutes System zu fassen führt bekanntlich in eine offensichtlich verstiegene spekulative Irre, – die, eigenartigerweise in die Moderne als End-Zeit zwingt. Das ‚Neuzeitliche Denken‘, verbunden mit diesem ausdrücklich absoluten Selbst-Bewusstsein wird erst durch den Bruch in Form der Moderne, ihrer ‚existentiellen‘ Reflexion klar. Die Behauptung der Vernunft ‚wirklich absolut‘ zu sein wird jetzt als ‚endlich endgültig vollbracht‘ verstanden. Das ist nicht nur eine Frage der Philosophie. Es rückt den Horizont und die Perspektiven des abendländischen Denkens insgesamt zurecht. So, und nur so sind beispielsweise die unterschiedlichen (wahrgenommenen, gefühlten, gedachten) Veränderungen ökonomisch, sozial, gesellschaftlich, auch theologisch, philosophisch als wirkliche, das Abendland bestimmende existentielle Herausforderungen begreifbar. Das ist jetzt der wirkliche, wortwörtlich ‚unvernünftige Untergrund‘, der sich selbst der Konstruktion ‚reiner Vernunft‘ entzieht. Er darf philosophisch nicht mehr ‚überdacht‘, absolut-vernünftig, abstrakt und reduktiv zurechtgerückt werden. Die jetzt so verstandene Neuzeit zeigt sich uns zunächst als ‚unsere historische Vorstellung‘. Eine Leistung in der Form von sehr unterschiedlichem Ordnen und hermeneutischer Gestaltung und Gestalten. Beispielsweise: Quellentexte; historische Übersichten; zusammenfassende Lehrbücher; Monographien dieser oder jener Persönlichkeiten; Literatur; Kunstwerke usw. Insgesamt eine wohl ‚breit‘ und ‚tief‘ erschlossene, hermeneutisch ausgeleuchtete Epoche. Daran kann nicht vorbeigesehen werden. Legen wir also diese so vorgestellten, so und so gefassten unterschiedlichen Perspektiven zugrunde. (Die Frage der Geltung steht auf einem anderen Blatt). Das auffälligste, wirkmächtigste, folgenreichste der Neuzeit aber, – so scheint es da, – ist das Werden und die Gestaltung der Naturwissen-

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schaften. Allerdings ist da eine phänomenologische Frage, die sich sofort ins Spiel bringt. Ist das ‚historisch Aufdringlichste‘ in Wahrheit und Wirklichkeit schon und ohne weiteres auch das ‚existentiell, philosophisch Entscheidende‘? Nun, dagegen scheint ohne große Mühe argumentiert werden zu können. Schon allein das fachhistorisches Standartwissen spreche bekanntlich für die ‚zeitgestaltende Bedeutung‘ der Naturwissenschaften. Das sei alles historisch offensichtlich. Festgeschrieben beispielsweise als lexikalischer Grundbestand. Das ist mehr als eine Frage der Entdeckung dieser oder jener Naturgesetze. Die Naturwissenschaften ‚zeigen‘, sie ‚reflektieren‘ Denken und Gedanken des ‚neuzeitlichen Menschen‘ selbst. Die Naturwissenschaft als der neuzeitliche theoretische und praktische Grund-Gedanke einer selbst-bewussten Vernunft, taste sich seit dem 16./17. Jahrhundert und dränge stürmisch, umfassend bestimmend seit dem 18. Jahrhundert als die ‚Gestalt der Wahrheit‘ erfolgreich vor. Eingekleidet in und begleitet durch sehr unterschiedliche Diskurse. Selbst-Bewusst zusammengefasst als die rationale, vernünftige Weltsicht die die Aufklärung fundamentiert. Das alles ist im großen Ganzen unbestritten! Aber noch einmal, (und auch das ist historisch kaum zu übersehen und wird doch nicht selten missachtet): Das ‚faktisch Bemerkenswerte‘, das Interessante, ‚Laute‘, ‚Vordringliche‘, ‚Augenfällige‘ ist nicht wirklich unbedingt das philosophisch Wesentliche. Das soll aber nicht Anlass geben, nach irgendeinen verstiegen metaphysisch idealistischen Wesensbegriff Ausschau zu halten. Das phänomenologisch vorgestellte Wesentliche ist nicht etwas verborgenes, philosophisch Dunkles. ‚Mystische Gedanken‘ sind, – wie Husserl in § 3 seiner ‚Ideen‘ schreibt, – reinlich aus dem phänomenologischen Diskurs ausgeschieden. Das Wesentliche ist auch nicht die endgültige Gestaltung eines Begriffs, oder, die Vorstellung einer umfassenden Definition. Sondern das Wesentliche einer ‚Sache‘ zeigt sich als eine offene Beschreibungsreihe. Also, eine Leistung philosophischer Arbeit, durch die ein Phänomen, ein Zusammenhang von Phänomenen als ‚evident‘ sich vorstellt. Und sich eben so vorstellt, als diese geleistete und wirklich so verstandene Vorstellung. Kurz und knapp: Das Wesen ist die Vorstellung einer phänomenologischen Reflexion; und notwendig gebunden an diese Reflexion.63 Der Blick auf das ‚Wesen der Neuzeit‘ ist hier also eine systematisch phänomenologische, reflexive Entfaltung. Die Entfaltung dieser als ‚Neuzeit‘ zusammengestellten Jahrhunderte darf also nicht (wie so oft) zusammenraffend, verdichtend ‚linear-kausal‘, oder naiv ‚gläubig‘ rückblickend, ‚historisch folgegerecht‘ vorgestellt werden. Beispielsweise als eine ‚fort63 In der Beilage XVI. zur Krisis findet sich (wie nebenbei) eine sehr klare Beschreibung des ‚Wesentlichen‘. ‚Wesentlich‘ sei an einem Ding, einer Sachlage das Gewisse, das es gegenüber anderen Regionen auszeichnet.

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schrittliche‘ Aneinanderreihung von wissenschaftlichen, nicht zu Letzt medizinischen Entdeckungen und technischen Erfindungen. Es bleibt dabei: Wir phänomenologisch Reflektierenden führen keinen historischen Diskurs! Nehmen wir all diese historischen Vorlagen selbst als intentionale Bezüge, als ‚Korrelate einer existentiellen Gestalt‘. Husserl hat in seinen ‚Krisis-Abhandlungen‘ vorgeführt wie erhellend eine solche Form der Untersuchung sein kann. Das kann als eine Orientierung (allerdings auch nur als eine Orientierung) genommen werden. Phänomenologisch ‚gezeichnet‘, – und Geschichte wird bekanntlich immer ‚aktiv‘ konstituiert, – ist diese Gestaltung der Natur-Wissenschaften und ihrer eigenartigen Verflechtung mit philosophischen Diskursen, Voraussetzung und zugleich Folge der neuzeitlichen Veränderung im Hin-Blick auf Mensch, Welt, kosmischer Ordnung; und vor allem, und alles verdichtend, die Gestalt(ung) des ‚bürgerlichen‘ Selbst-Verständnis. Das wissenschaftlich Erfassbare, Messbare, Quantifizierbare, niedergeschrieben, gedeutet, technisch handhabbar ‚gemacht‘, hingenommen oft wie eine eigenartige Form einer nicht-kirchlich gebundener Theologie, wird philosophisch problematisiert; – und so aufgewertet zur erkenntnis- und geltungstheoretischen Herausforderung des neuzeitlichen Bewusstseins. Das Folgenreichste war aber etwas anderes. Eine metaphysisch neue Perspektive. Die Gottes- und Weltbilder werden ‚transparent‘ auf den Menschen hin. Der Mensch habe es ausschließlich, – und so wird es gedacht, – mit sich selbst, mit seiner Vernunft zu tun. Das naturwissenschaftliche Wissen und seine philosophischen Deutungsmuster erhalten dadurch in Folge eine tief beunruhigende, geradezu metaphysische Bedeutung. Eine Bedeutung, die erst die Moderne ‚ganz‘ reflektieren wird. Das Selbst-Bewusstsein des Menschen ‚erfährt‘ sich endlich als ganz und gar selbstverständlich. Mit allen Konsequenzen! Die erst nach und nach auch existentiell ‚bewusst werden‘. Diese endliche Natur eröffne dem Menschsein, – so glaubt man zunächst noch, – ‚unendliche, endlose Möglichkeiten‘. Der Stellenwert der Wahrnehmung, des ‚Augenscheins‘, ihre wahre Reichweite, ihre erkenntnistheoretisch und erkenntnispraktische Dignität verändert sich ‚gründlich‘. Innenwelt und Außenwelt und das Bewusst-haben von Innen- und Außenwelt, von Seele und Gott, werden neu vermessen; und – wiederum nach und nach – erkenntnistheoretisch und ontologisch ‚horizontal‘ geordnet. Die traditionelle Hierarchie der Wissenschaften und der Künste bleibt davon ‚natürlich‘ nicht unberührt. Vor allem die lebensweltliche Bedeutung der Theologie, als der umfassenden, lebens-bestimmenden ‚Gottes‘-Wissenschaft, wird zunehmend theoretisch in Frage gestellt und auch in der gesellschaftlich politischen Praxis eingeschränkt. Das ist nun der ‚Denk-Raum‘, der den Horizont einer säkularen-bürgerlichen Gesellschaft ‚unwillkürlich und

VII. Neuzeit – Rationalismus – Empirismus

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willkürlich‘ bestimmt. Innerhalb dieses Horizonts entwirft sich das Menschen-Leben, das Private, das Öffentliche, der Staat, die Wirtschaft, die Religion, die Kunst auf eine ‚neue‘, neuzeitlich-vernünftige Weise. Die Neuzeit als eigene abendländische Lebenswirklichkeit des endlichen Menschen, als selbstbewusste Denkgestalt ist ‚im Grunde‘ schon als existentieller Paradigmenwechsel in Weltsicht und Weltordnung angelegt. Die ‚Theologie‘ als Regulativ des religiösen Bewusstseins wird als unbedingten Weltsinn gestaltende Letzt-Wissenschaft verabschiedet. Mit ihr überhaupt die Idee einer, auf ein transzendent Absolutes gerichtete und von dort bestimmte metaphysische Grund-Ordnung. Das stürzt zunächst die Theologen selbst in eine Krise, auch und vor allem in eine Krisis. Die Theologie, das theologische Denken sieht sich außerstande sich selbst und ihre Krisis zu klären.64 Die Hypothese ‚Gott‘ als persönlicher, allmächtiger Agent gilt zunehmend nicht nur wissenschaftlich als überflüssig. Die Leitbegriffe der Theologie werden zunächst transzendental vernünftig gewendet. Auch diese letzten Rettungsversuche (beispielsweise und vor allem durch die Denker des Deutschen Idealismus) erweisen sich praktisch und theologisch als unwirksam. Auch die Philosophie selbst bleibt davon nicht unberührt. Sie ordnet sich in der Folge inhaltlich und methodisch neu. Oft ohne sich eigens ausdrücklich auf den Zu-Stand des theologischen und metaphysischen Denkens zu richten. In Anlehnung an die bekannte Formel, ‚vom Mythos zum Logos‘ fassen wir diese Dynamik so: ‚Von der Onto-Theologie zur transzendentalen Erkenntnistheorie‘. Dass das diese historische und systematische Gestalt, – mit allen Begrenzungen, Umwegen, Einschränkungen, – idealtypisch fasst, sei ausdrücklich unterstrichen. Es reicht hin, diese historische Dynamik der Neuzeit phänomenologisch, und das heißt systematisch zu verstehen. Die Naturwissenschaft, konkret, das naturwissenschaftliche Denken als eigenartige Verflechtung rationalistischer und empirischer Haltung wird also auch philosophisch und zunehmend lebensweltlich der neue Leitstern der Wahrheitssuche. Nun gilt: Die richtige Ordnung (er)findet sich ‚auf der induktiv erfahrenen Oberfläche‘.65 Das benennt zugleich ein Bild, eine Metapher und eine wirkliche Bewegung. Der wirkliche Mensch bewegt sich jetzt auch lebensweltlich in seinem Denken, Glauben und Hoffen ‚oberflächlich‘ horizontal.66 Im 64 Vgl. z. B. Richard P. McBrien: „Die ferner liegenden Ursachen der gegenwärtigen Krise sind theologischer und philosophischer Natur. Wir plagen uns wieder mit den alten Fragen, die gewandelt wiederkehren, mit den Folgen der Aufklärung (. . .).“ McBrien (1982), S. 19. 65 Allerdings muss der Begriff ‚Oberfläche‘ aus dem Alltagsverständnis, den Alltagsassoziationen herausgenommen und phänomenologisch neu gefasst werden. 66 Beispielsweise die Psychoanalyse: „Daher ist die Wahrheit, die die Freud’sche Entdeckung verheißt, nicht in der Tiefe zu suchen, sondern auf der stets sichtbaren

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wahrsten Wortsinne ein ‚neues Raumgefühl‘. Ja, selbst die ‚theologische Tiefe‘ der Welt, sollte sie überhaupt ‚praktisch‘ bedeutsam sein, sei nun ganz und gar auf der ‚Oberfläche‘ der Natur, der Geschichte, der Geschichte, der Gesellschaft, zu finden. Die Welt als Kosmos gilt schon seit dem 17. Jahrhundert grundsätzlich nicht mehr mythologisch, hermetisch verschlüsselt, sondern grundsätzlich lesbar als ein ‚mathematischer Text‘. Den, – das wird zu Beginn der Neuzeit noch zugestanden, – möglicherweise Gott geschrieben haben könnte. Wie auch immer, vor allem eines wird, zunächst bei den ‚Gebildeten‘, wirksam. Das ‚letzte Wort‘ haben auch ‚praktisch‘ die Wissenschaften. Das wirkt historisch und systematisch tief. Schon mit dem 18. Jahrhundert wechselt der Ton derer, die sich diesem ‚neuen Denken‘ verpflichtet wissen. Kämpferischer, radikaler und gegenüber anderen, vor allem konfessionell gebundenen Weltsichten, kompromissloser. Wortwörtlich jetzt sei ‚die‘ Neuzeit, eine ganz und gar neue Menschen-Zeit, eine Zeit für den Menschen angebrochen! Daran gelte es sich nun ‚endgültig‘ und für alle Belange des Menschseins auszurichten. Politisch, gesellschaftlich, theologisch. Diese unterschiedlich vorgebrachten ‚theoretischen Verwerfungen‘ der spekulativen, die Grenzen der Vernunft missachtenden Metaphysik und der auf das Jenseitige gerichtete Theologie, verstehen sich vor allem praktisch als Arbeit an der (einer) vernünftigen Lösung gesellschaftlicher (weniger sozialer) und wissenschaftlicher Fragen. Zusammengefasst wird das, – ob historisch zu Recht oder auch nicht braucht hier nicht zu interessieren, – unter der Überschrift: ‚Aufklärung‘! Vernunft und Aufklärung gestalten sich schließlich als Konfession. In der Tat, manche theologische, philosophische, historische Frage wird im Laufe des 18. Jahrhunderts einer grundsätzlichen Klärung (einer Klärungsmöglichkeit) zugeführt. Zweifellos und unbestritten! Für uns ist nun das Folgende von besonderem Interesse. Nicht zu Letzt ‚klären‘ sich nämlich auch (gewollt oder auch nicht), – existentielle Widersprüche. Sie klären sich wirklich und tatsächlich indem sie sich ‚in der Wirklichkeit zeigen‘. Die theoretischen und praktischen Annahmen, Sichtweisen, Haltungen führten nämlich, – unübersehbar dann mit der Romantik und dem deutschen Idealismus, – zunächst zu eigenartigen, unlösbar anmuteten Spannungen im scheinbar doch so selbstbewusstem, aufgeklärtem Denken. Das sind Spannungen, deren Quelle für das neuzeitliche Vernunft-Denken verborgen bleiben musste. Und zwar, neue Formen und Gestalten von Gebundenheit. Sie Oberfläche der symbolischen Ordnung, in dessen eigenartiger Transparenz, sowohl Wesen als auch Erscheinung des psychoanalytischen Unbewussten zu finden sind.“ August Ruhs, in: L. Nagel (1990), S. 87.

VII. Neuzeit – Rationalismus – Empirismus

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sind unbefragt, ‚untergründig‘ und selbstverständlich wirksam. Beispielsweise, als Stil, Form, Mode, Ordnung.67 Sie bereiten sich ‚unbewusst‘ vor und gestalten sich und werden als Reflexion und Verzweiflung in ‚dialektischer Verbundenheit‘ zur Idee einer ‚wirklich wirklichen‘ Freiheit.

67 Die Idee der Ordnung (die Idee der Un-Ordnung) lehnt sich zunehmend an mathematische und technische Vorbilder (Vor-Gänge) an; z. B. die Natur als vorgestelltes kausal geordnetes Gefüge; die Maschine als hergestelltes – funktionierendes – Ordnungsparadigma. Von vorneherein spricht sich hier also ein Maß- und Wertnehmen aus und weniger ein erkenntnistheoretisches Urteil.

B. Das metaphysische Scheitern der Neuzeit I. Existentielle Transzendentalität Bleiben wir noch bei diesem ‚metaphysischen‘ Selbstverständnis der Neuzeit. Und davon gehe ich weiterhin aus. Die metaphysische Idee der Neuzeit scheiterte gründlich! Gerade dieses Scheitern aber gibt Raum für die abendländische Endgestalt ‚der Moderne‘. Also, wenn man so will, war und ist es ein durchaus ‚produktives Scheitern‘. Das alles gilt unabhängig davon, wie komplex diese oder jene historischen Entwürfe auch gestaltet werden. Im Übrigen sollte sich an jeder bewussten Gedankenführung, jeder mehr oder weniger willkürlichen Daseinsgestaltung, die sich auf der lebensweltlichen Oberfläche innerhalb des neuzeitlichen Horizonts zeigt, auch das Wesentliche dieses ‚Horizonts herauslesen lassen. Der Begriff ‚Neuzeit‘ wird im Übrigen auch im Folgenden nicht definiert. Er umreißt, benennt, oder gestaltet selbst historisch nicht eineindeutig. Ich nehme ihn zunächst als einen bloßen Hinweis, eine Problemanzeige, eine Anzeige, eine Annäherung auf einen ‚objektiv‘ nicht klar eingrenzbaren ZeitRaum (einen Horizont) der Reflexionsgeschichte. Dieser ZeitRaum wird entworfen (und ‚ersichtlich‘) durch eine phänomenologische Annäherung an das Denken des Gedanken ‚Selbst-Bewusstsein‘. Daher gilt: Geschichte reflektiert – gestaltet Bewusstsein; Bewusstsein reflektiert – entdeckt Geschichte. Eine kleine Illustration. – Dafür gehen wir mitten hinein in eine verbreitete Annahme; geradezu eine Parole des späten 18. Jahrhundert. ‚Die Gedanken sind frei‘! Das, – so könnte es uns scheinen, – ist zunächst eine historisch-faktische, literarisch, philosophisch Idee, oder eine Erfahrung. Phänomenologisch ist dieser Gedanke (so oder so ähnlich, verdeckt oder offen vorgebracht) ‚notwendige‘ Folge einer Reflexion, Anzeige der Reflexionsgeschichte, die sich selbst nicht hinreichend reflektiert. Das entscheidet sich zunächst ‚praktisch‘. Beispielsweise als eine bürgerlich-gesellschaftliche, als ‚die‘ psychologische Blüte des Selbstverständnisses, der Selbstwahrnehmung. Und alles das mit sehr konkreten individuellen und sozialen Folgen. (Die Liebe, die Leiblichkeit, der Tod drängen sich neu in den Blick). Aber zugleich gestaltet sich das auch als Anzeige eines metaphysischen Scheiterns der Neuzeit. Eine Folgerichtigkeit, die leibhaft, existentiell reflektiert sich nun als die endgültige Moderne (aus)gestaltet. Das ist für uns von besonderer Bedeutung.

I. Existentielle Transzendentalität

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Auch das sind selbstverständlich keine Fragen einer Geschichtswissenschaft. Also, die Rekonstruktion, Zusammenstellung und Deutung von ‚historischen Fakten‘ zu einer Lage. Genau so wenig wie es ein Versuch ist, eine spekulative, philosophische Metatheorie der Geschichte der Neuzeit vorzubereiten. Sondern phänomenologisch einfacher und selbstverständlich vorläufiger. Also, diesen neuzeitlichen Horizont, so wie er, mehr oder weniger klar bestimmt, bemüht, behauptet wird, ausdrücklich endlich verstehen; und darüber hinaus durchaus als die ‚letztmögliche Gestaltung einer transzendentalen Idee der existentiellen Vernunft‘. Das ist das Grundlegende für eine phänomenologische An-Sicht, für ein phänomenologisches Wahr-nehmen. Die Moderne als existentielle Reflexion des transzendentalen Selbstverständnisses der Neu-Zeit. Die Geschichte der Neuzeit, überhaupt des Abendlandes, nur politisch, soziologisch, psychologisch als eine Geschichte der faktischen Entfaltung der im weitesten Sinne ‚bürgerlichen‘ Freiheit zu fassen, ‚denkt von vorneherein zu eng‘.1 Das einzusehen, braucht es keine ‚tiefen und ausgedehnten‘ historischen Studien. Die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Konstellationen, beispielsweise die Weise des Zueinander der unterschiedlichen Akteure zeigen das historisch-faktische Werden der Neuzeit. – Ihre Form, das Wesen kann daraus erst phänomenologisch ‚herausgelesen‘ werden.2 Bleiben wir, – vor diesem Hintergrund, – noch etwas bei der Idee der Freiheit. Freiheit wird ‚neuzeitlich‘ weniger faktisch politisch, gesellschaftlich, religiös gelebt als wirkliche Wahlfreiheit, Entscheidungsfreiheit, sondern ‚philosophisch‘ und literarisch gedacht. ‚Erarbeitet‘ schon allein durch ein ‚schmiegsam-machen‘ der deutschen Sprache durch die Literatur, die Philosophie. Letztendlich also eine ‚gesollte‘, eine ‚regulative, ästhetische, reflexiv-notwendige Idee der Vernunft‘. Freiheit wird so zur philosophischpraktisch entworfenen und notwendig transzendental ‚zugewiesenen‘, gleichsam vernünftig aufgehobenen Form. Wenn man es so deuten will. Die ‚Säkularisierung‘ einer geradezu ‚theologisch-heilsgeschichtlich‘ erfahrenen Notwendigkeit. Eine Orientierung an der viel besprochenen, eigenartigen ‚unwirklichen‘ Freiheit eines Christenmenschen! Das setzt eine ‚ungeheure‘ Dynamik frei die aufbaut und zugleich endgültig zerstört. Die so theoretisch eingeführte Freiheit ist philosophisch einer unbedingten ‚theoretisch-prakti1

Dazu (z. B. Romano Guardini: Auf der immer reineren Verwirklichung des Gedankens der Freiheit – so schreibt er – beruhe die abendländische Existenz; „man könnte diese Geschichte von dem Verhältnis darstellen, das der abendländische Mensch zur Freiheit gewonnen hat.“ Guardini (1962), S. 124. 2 Beispielweise: die enge Verflechtung (geradezu eine ‚Spiegelung‘) zwischen Philosophie und Literatur am Ende des 18. Jahrhundert; oder, eine zunehmende (durch die beginnende Quellenkritik durch die Theologie selbst geförderte) säkulare Perspektive auf das Christentum u. ä.

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B. Das metaphysische Scheitern der Neuzeit

schen‘ Selbst-Verantwortung übereignet. Sie gestaltet sich in dieser philosophisch, ästhetisch rigorosen Form geradezu als ein ‚unhinterdenkbarer Zwang‘ der Selbstaufhebung der Vernunft als der unbedingten, absoluten Wirklichkeit. Das gestaltet insgesamt den Horizont innerhalb dem sich die Geschichte des neuzeitlich wissenschaftlichen, philosophischen, literarischen Denkens und Handelns bewegt. Unwillkürlich und in Wirklichkeit selbst-un-sicher! Philosophieren wird nun zu einem letztendlich auch existentiellen Versuch eine ‚Welt-Ordnung‘ herzustellen und zu stabilisieren. Theologische Vorgaben spielen zunehmend keine entscheidende Rolle mehr. Antworten selbst auf ‚theologische Fragen‘, die das Denken immer noch bewegen werden nicht mehr von der Theologie als Glaubenswissenschaft erwartet.3 Schon wer den ‚Wissenschafts-Text‘ der Neuzeit also ‚systemisch diachron‘ betrachtet,4 nimmt eines bald wahr. Die ‚Hierarchie der Wissenschaften‘, verbunden damit ein, sich als erstes mit dem Mittelalter ordnendes ‚christliches Wertgefüge und Weltverständnis‘, verändert sich ‚radikal‘. Grundbegriffe, als Leitfäden für eine Gestaltungen auch von Lebensbefindlichkeiten, wie: Gott, Glaube, Wissen, Natur, Wahrheit, Wirklichkeit, Sein und Werden, werden neu zusammengestellt und nun vor allem wissenschaftlich und ‚praktisch‘ gewichtet.5 Das ist vor allem auch anthropologisch von Bedeutung. Die Wissenschaften, also, Inhalte, Methoden, Ergebnisse zeigen und gestalten die Möglichkeiten des Menschen. Natürlich implizit auch die jeweiligen Grenzen. Fortschrittlichkeit und ein ausdrücklich horizontaler Auf-Bruch wird zugleich Weg und Ziel. Als Anlass und Folge davon, – das sehen wir zumindest so im historisch-systemischen Rückblick, – gestaltet sich eine ‚Dynamisierung‘ wissenschaftlicher und damit mehr oder weniger deutlich verbunden technischer und nicht zu Letzt ökonomischer Prozesse. Das benennt idealtypisch die Bedingungen einer wortwörtlich ‚gründlichen‘ gesellschaftlichen, nicht zu Letzt, lebensweltlichen ‚Verneuzeitlichung‘. Diese Verneuzeitlichung selbst ist im Übrigen wieder rückgekoppelte Ursache des Prozesses der Konstituierung des neuzeitlichen Bewusstseins. Phä3 „Ich bin immer der Ansicht gewesen, dass die beiden Fragen nach Gott und der Seele die wichtigsten von denen sind, die eher mit Hilfe der Philosophie als der Theologie zu erörtern sind.“ Descartes, Meditationen. Über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Widmungsschreiben. 4 Beispielsweise durch einen Überblick über die Geschichte der ‚neuzeitlichen‘ Wissenschaften; die Veränderung der Figuren der Begründung; die Fragen, die in den – im späten 18. Jahrhundert sich rasch verbreitenden – (sich mehr oder weniger selbst wissenschaftlich und aufklärerisch verstehenden) Zeitschriften vorgestellt werden; u. ä. 5 Vgl. dazu die Kritik Peter Bergers/Luckmanns (1995).

I. Existentielle Transzendentalität

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nomenologisch ablesbar an allen einzelnen kultürlichen und gesellschaftlichen Gestaltungen. Das alles hat wiederum Rückwirkungen auf die theologischen und metaphysischen Fundamente. Vor allem, zunächst untergründig gestaltet, als eine stille ‚Entmythologisierung‘ konfessionell ‚durch formter‘ Religiosität. Beispielsweise als Schwund der ‚fraglosen Dogmengläubigkeit‘. Auch das ist zugleich Anlass zur und Aus- und Einrichtung der Neuzeit. ‚Konfessionen‘ werden zunehmend als normierte Heilsinstitutionen, als dogmatische Heilsanstalten im Grunde gleich-gültig, gleich-fraglich. ‚Wer Vernunft hat, hat wahre Religion‘! Überhaupt werden die normativen Beziehungen zwischen Politik, Moral und Religion neu (aus)tariert. Verdichtet in zwei nun gegeneinander in Stellung gebrachten Begriffen. Die werden geführt wie ‚Schlagworte‘, ‚Kampfansagen‘, geradezu als ‚Waffen‘ von grundsätzlich unversöhnlichen Weltanschauungen: ‚Menschen-Vernunft‘ oder ‚Glaube‘; Aufklärung oder konfessionell geformte Religiosität. Das sind also nicht nur erkenntnistheoretische Fragen. Es sind metaphysische Macht-Fragen. Wie eine radikale, unversöhnliche Alternative. Ob Vernunft oder Glaube die notwendigen gesellschaftlichen, ethischen Ordnungen für das Mensch-sein herstellen und sichern kann. Gedacht und gelebt werden sie als ‚natürliche‘ Alternativen. ‚Licht‘ oder ‚Finsternis‘, die nun in ein gesellschaftliches, ein ‚kultürliches‘ Verhältnis zu bringen sind. Diese letztendlich also metaphysische Verhältnisbestimmung umfasst die spannenden Möglichkeiten ‚neuzeitlichen Mensch-Seins‘. Das organisiert die ‚Oberfläche‘ der Gesellschaftsgeschichte. Beispielsweise und oft diskutiert, benennen und trennen sie ‚das Öffentliche‘ und ‚das Private‘. Die Möglichkeiten einer angenommen Wirklichkeit werden nun selbstverständlich ausschließlich (so der Glaube!) durch die ‚Vernunft‘ des Menschen selbst entschieden. Das ist die auch problematisch erfahrene Leitidee. Diese Vernunft, der Vernunftgebrauch als Wirklichkeit und Möglichkeit, als Weg und Ziel, vor allem auch als Mächtigkeit, wird so zur ‚unbedingten regulativen Idee‘.6 Einmal entdeckt scheint eines klar zu sein: Diese menschheitliche Idee ist in Geltung unabhängig von der historischen Wirklichkeit. Die Neuzeit gestaltet in der Möglichkeit, in Form der Philosophie der Vernunft, der Literatur, der Kunst selbstbewusst ein endgültiges (abendländisches) Menschheits-Ideal. Ein selbstbewusstes wissenschaftliches Projekt und zugleich ein selbstverantwortliches ethisches Programm. So verdichtet: Die gedachte, vernünftige Verwirklichung als die ge- und verklärte VerSammlung griechisch-römisch-christlicher idealer Denk- und Lebensformen. Kritisch und naiv zugleich! Die neuzeitliche Vernunft ‚reflektiert‘ in einem 6 Deutlich schon bei Descartes. Vgl. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung.

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genauen Wortverständnis. Sie vermisst, ordnet, setzt Grenzen, bestimmt, erfasst und entfaltet sich selbst als ‚unbedingte, grundlos-abgründige Freiheit‘.7 Das ist die endgültige Zusage des Menschen an sich selbst; das Heraus-Lesen eines Versprechens das kein Gott gegeben hat aus der, aus seiner Natur. Und wieder ist für uns die spannende Frage, nach den existentiellen, also philosophischen Konsequenzen. Kurz: was folgt wirklich daraus? Diese wesentlich verzweifelte Form der Freiheit, entwirft sich als Bruch mit der Neuzeit ihren Raum, ihre Zeit, ihre Lebenswelt als ‚die Großstadt‘. Die Großstadt entfaltet sich zum modernen Denk- und Handlungsraum. Die Großstadt, das Bewusstsein der Großstadt also als Horizont einer endgültigen Existenzform. Sie ist Gestalt und Gestaltung des endlichen Frei-Seins von allen ‚übermenschlichen‘ und ‚unmenschlichen‘ Gewalten und Mächten.8 Das ist die Theorie! Eigenartig genug nun die Praxis. Gerade so, fortschreitend einem ‚hellen Menschenziel‘ entgegen, nach und nach, – denkend und handelnd ihre selbst bestimmten Möglichkeiten für eine Menschen-Wirklichkeit radikalisierend, konterkariert die Vernunft das eigene Programm. Konterkariert es, – und verzweifelt wirklich existentiell. Also ganz offensichtlich auf den ersten Blick, ein letztendlich ‚existentiell‘, teuer erkaufter Fortschritt, eine beunruhigende Freiheit. Das wird uns noch ausführlich beschäftigen. Ganz allgemein gilt: Eine Veränderung der Welt-Anschauung, der praktischen Selbstauffassung, verändert die wissenschaftliche und die gesellschaftliche ‚Oberfläche‘. Und umgekehrt, bestimmt die Neuordnung dieser ‚Oberflächen‘ wesentlich die Selbstverständlichkeit der gültigen Perspektiven. Die wirkliche Wirklichkeit des Werdens, ein gedanklicher Zustand, lässt sich nur mühsam durch linear gerichtete Modelle abbilden. Zweifach nun ‚konkretisiert‘, verwirklicht sich dieser allgemeine wissenschaftlich-weltanschauliche Gedanke. Er konkretisiert sich, indem er seine transzendental existentiellen Bedingungen vergisst, ja, vergessen muss; sie als einen Sonderbereich der akademischen Philosophie(Geschichte) überlässt. Zunächst übrigens als eine immer weiter bedrängend persönlich-praktische Aufgabe. ‚Ich‘ trete mir selbst als unbedingte Pflicht gegenüber. Ethos und Ethik (Moral) in dieser Form vereinigend. Jeder habe nicht nur 7 Vgl. auch die beispielhafte Deutung von Peter Wust: „Das Große und Bedeutungsvolle in dieser Denksituation ist zwar die Entdeckung des Insecuritas-Abgrundes unter der menschlichen ratio. Aber, da nun einmal die Metaphysik zerstört ist, findet man aus dieser abgründigen Denknot keinen Ausweg mehr.“ Wust (19556), S. 145. 8 Dass das Grauen, das Erschrecken, die Angst bleiben, dass dem Unheimlichen wieder Raum gegeben wird zeigt vor allem die Literatur des 19. Jahrhundert.

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für sich die ‚ökonomische und soziale Verantwortung‘ zu übernehmen. ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘.9 Das gilt darüber hinaus und eng damit verflochten, auch metaphysisch und religiös. Beides zeigt, gestaltet und verfestigt den Auf-Bruch als unwiderrufliche Freisetzung des Menschen als bürgerliches Individuum. Und das mit allen Konsequenzen. – Es sind die Konsequenzen, die sich als die Moderne zeigen. Daran erinnere ich aus gutem Grund auch an dieser Stelle. In eine historisierende Verirrung geht, wer diese vorgestellte ideale ‚Progression‘ als ein historisch folgerichtiges Fortschreiten deuten würde.10 Die Komplexität dieser Grund-Gestalt(ung) der Neuzeit darf weder faktisch monokausal reduziert noch ‚dialektisch‘ in eine vermeintlich ‚fortschrittliche‘, ‚aufgeklärte‘ Form der Vernunft gezwungen werden. Alles in allem also eine eigenartige komplexe, historische und systematische Gestalt(ung). Schon für die Wissenschaftsgeschichte gilt, dass sich ein so genanntes ‚destruktiv Irrationales‘, ein rückwärtsgewandtes, ‚dunkles‘, (wie auch immer eingeführt und begriffen) und ein angenommenes ‚progressiv Vernünftiges‘, ‚aufgeklärtes‘, ‚fortschrittliches‘, in der historisch erfundenen Bewegung als ‚wirkliche Wirklichkeit‘ verschränken. Genauso entwerfen sie aber, untergründig wirklich, dem neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Denken Form und Ausrichtung. Die kritische Potenz naturwissenschaftlichen Hin-Schauens, Vor-Stellens und Denkens, als rationales Räsonierens, destruiert nämlich nicht nur die ‚großen Erzählungen‘ des Abendlandes, die Gestalten der Theologie und Metaphysik – und ihre ‚Schatten‘. Sondern bedrängt ‚unwillkürlich‘, geradezu eigenartig ‚irrational‘ auch die eigene ‚praktische Vernünftigkeit‘, selbstverständlich als die naturwissenschaftliche Weltanschauung.11 Merkwürdig genug, die Möglichkeit dieses Denkens, dieser Form des Denkens bedrängt selbst und unaufhörlich die eigenen Wirklichkeiten. Aber das ‚wirklich Wesentlich‘, das praktisch Entscheidende ist nicht diese ‚objektive‘ Bedrängnis selbst. Fest-geschrieben, vor-gestellt als wissenschaftliche Erfolge. – Sondern der denkwürdige Rückschlag als existentielle Bedrängnis. Die Erfahrung einer unaufhebbaren metaphysischen Not 9 Das Politische als Bedingungsrahmen meiner ‚Selbst-Verantwortung‘ (zunächst) unangetastet. 10 Schon E. Cassierer: „Der empirische Gang der Erkenntnis vollzieht sich keineswegs immer in der Art, dass die einzelnen sich friedlich aneinanderreihen, um sich mehr und mehr zu einer einheitlichen Totalansicht zu ergänzen.“ Das Erkenntnisproblem. Erster Band, o. J. S. 5. 11 Carl Friedrich von Weizsäcker deutet es so: Die westliche Kultur sei mit sich – so schreibt er – unvereinbar; sie seit gestaltet durch eine unermessliche Effizienz und zugleich verbunden damit ein um-sich-greifendes Empfinden der Sinnlosigkeit. Weizsäcker (1983), S. 10.

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für den Einzelnen und des Einzelnen eröffnet den Horizont der Moderne. Das ist eine durch die Verzweiflung erzwungene Reflexion. Eine Verzweiflung die sich in der Form der Reflexion der Reflexion bestärkt, geradezu reflexiv auflädt. Das Bewusstsein der Moderne weiß sich nun endgültig existentiell gebunden. Gebunden durch die leibhafte Wirklichkeit, die sich ausspricht, zeigt als ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Das ist eine Form, eine Gestaltung der ausweglosen Krisis. Die philosophische Moderne reflektiert sich als ‚wissende Brüchigkeit‘ neuzeitlicher Vor-Stellung. Sie gestaltet sich, – wenn man sich an die neuzeitliche Terminologie anlehnen möchte, – als ‚existentielle Transzendentalität‘. Das ist die Bedingung der Möglichkeit der wirklich endlichen Wirklichkeit; also, eines wirklichen Selbstverständnisses, nie mehr anders als ‚ich leibhaft selbst‘. Verbunden damit der endgültige Abschied von der Idee, einer spekulativen Konstruktion, der ‚reinen absoluten Vernunft‘. Das ist keine Form einer ‚neuen Naivität‘. (So würde Husserl wohl es deuten). Die Existenz der Moderne ist Selbst-Gestalt der wirklichen Reflexion der Reflexion. Das bedeutet grundsätzlich auch den unwiderruflichen Ab-Bruch jeder reflexionslosen existentiellen Grundhaltung. Das leibhafte Dasein reflektiert sich ‚jetzt‘ selbst als Reflexion und Verzweiflung; reflektiert sich als ‚unaufhebbar notwendige Krisis.‘12 Es reflektiert sich als wirklich gestaltendes ‚progressives Sehnsuchtspotential‘. Denken wir beispielsweise an die ‚intellektuellen Spiele‘ der Romantik. Das ist die Erfahrung der end-gültigen Bedingung der Möglichkeit abendländischer Wahrheit; als der sich vollendenden Metaphysik einer ‚absoluten Endlichkeit‘. Nicht nur das philosophische Denken führt es vor und gestaltet es reflexiv. Es ist an jedem Kunstwerk, an jedem Bild, jedem Gedicht der Moderne ablesbar. Die Kulturgeschichte der Moderne wird hier also gelesen als die Vollendung, ein wirklich und wahrhaftig zu-Ende-bringen ‚abendländischer Pathogenese‘. Das ist wahr! Die erfahrenen Möglichkeiten der Reflexion selbst sind es die jetzt in der Wirklichkeit beunruhigen. Es ist ein ‚existentielles Leiden‘, – ausgerechnet an den drängenden Potentialen des Bewusstseins. Mit dem Abendland werden die Formen der Selbst-Darstellung des vernünftigen Menschseins endlich/endgültig eingeholt und aufgeführt. Das ist kein Verfall, wie es schon Platon glaubt wahrnehmen zu müssen; sondern eine ‚notwendige‘ (meinetwegen: ‚schicksalhaft-endgültige‘) Gestal12 Was Rollo May aus seiner Sicht als Humanistischer Psychologe feststellt, darf in unserem Zusammenhang ‚verallgemeinert‘ werden. Eine Krisis sei notwendig „um die Menschen aus ihrer bewusstlosen Abhängigkeit von äußeren Dogmen aufzurütteln und sie zu zwingen, Masken abzulegen, um auf die nackte Wahrheit über sich selbst zu stoßen, die, so unangenehm sie sein mag, wenigstens Bestand hat.“ May (1986), S. 61.

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tung eines: ‚So, – und nicht anders‘! Die von Anfang an beunruhigende Endlichkeit, die ‚Insecuritas des Menschen‘ wird ein für alle Mal in der Verzweiflung der radikalen Reflexion selbstverständlich. Aber erst mit dem Eintritt in die (unsere) Gegenwart gelangt der Mensch der Neuzeit, – mit den Worten Egon Friedells, – „in den innersten Höllenkreis seines ebenso absurden wie notwendigen Leidensweg“.13 Die Moderne verwirklicht sich als Gestalt(ung) abendländischer Erschöpfung dieser Geschichte der Reflexion. Was die ‚Romantiker‘ noch als bloße eigenartige Verstimmung der ‚inneren Landschaft‘ deuten konnten, wie einen eigenartigen ‚eisigen Hauch‘, ist nun, – mehr oder weniger offen, – zu einer erschreckenden Gewissheit geworden. Der notwendige Verfall von Sinn für uns, das tödliche Wuchern des Endlichen, das wirkliche Angrenzen, die innere Nachbarschaft des Mensch-Seins an das Nichts. Gleichgültig ob bloß empfunden, eingebildet oder metaphysische Wirklichkeit. Diese Einsicht bewegt die Kunst. Mehr oder weniger offen auch die Theologie und ‚treibt natürlich‘ das philosophische Denken. Im Miteinander und Gegeneinander der Deutungen bestimmen sie sich gegenseitig unwesentlich, und gestalten (nicht selten: ‚uneinsichtig‘) in dieser Form das wesentliche Endspiel des Abendlandes. Von allen Künsten aber zeigt es (das ist mein Eindruck) die Dichtung am Eindringlichsten ‚wie es um den Menschen der Moderne steht‘. Die Lyrik der Moderne gestaltet sich als ein Experiment der Sprache, das die metaphysische Fassungslosigkeit des jetzt als abgründig erlebten Innenraums des ‚Ich‘ zu vermessen unternimmt. Dabei um die Forderung Wittgensteins: Klarheit oder Schweigen wenig bekümmert. Der Mensch der Moderne sei, so ist die Vorstellung, – abgelesen, beispielsweise an Trakl, Rilke und Kafka – in einen ‚metaphysischen Abgrund‘ gestürzt.14 Alles sei wirklich Grundlos, letzten Endes wissenschaftlich, philosophisch und vor allem auch theologisch Fassungslos. Dem ‚christlichen Abendland‘ wird, – nehmen wir diese ‚Randgänger‘ beim Wort, – der eigene Untergang zur existentiellen Gewissheit. Wie erschreckend! Profan, banal und sinnlos; ohne jede weitere wirklich religiös erhabene Konnotation. Was bleibt? Es bleiben profanierte theologische Sprachfetzen, ihre Herkunft, verschleiert und zumeist verborgen. Alles in allem eine Aussicht auf eine in Wahrheit ‚grund-, vor allem heillose Eschatologie‘.15 Fragen nach 13

E. Friedell, S. 940. Walter Falk (1961), S. 411. 15 „In unserem Falle ist es die großartige und tragisch beladene europäische Abendstimmung, die auch von Dichtern wie Thomas Mann, Valéry und anderen empfunden worden ist, die gelegentlich bei Goethe schon anklingt. Es ist, im engeren Sinne, ein durch Nietzsche heraufbeschworenes Erlebnis, es ist die Stimmung 14

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einen ‚letzten‘ existentiellen Sinn finden, so scheint es, spätestens nach dem von Nietzsche verkündeten und seit dem immer wieder neu besprochenen ‚Tod Gottes‘ keine wirklich tröstende Antwort mehr. Der Irr-Sinn als ‚das Letzte Wort abendländischer Wirklichkeit‘. Das ‚anfängliche Wort‘, – nichts als ein leeres Versprechen.16 Der zweitausendjährige Schrei: ‚Tauet Himmel den Gerechten . . .‘, bloß noch belanglose Ornamentik einer sich verbürgerlichenden, vernünftig-gerichteten Gesellschaft. Die ontologische Grund-Frage der Moderne, die selbst wiederum postmodern verstummen wird: „Wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unfasslich sind? Wenn wir immerfort im Leben unzulänglich, im Entschließen unsicher, und dem Tod gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich da zu sein.“ (Rilke) Das alles sind, wenn überhaupt Fragen für eine psychologische, soziale oder gar politische Therapie. So bleibt für den Reflektierenden vorerst im Horizont der Moderne (so scheint es) nur das Wagnis einer im letzten, und als letztes sinnlos empfundenen Existenz: „Wer spricht jetzt noch vom Siegen, – überstehen ist alles“! Aber – wozu? Das benennt die explizite Herausforderung der Philosophie der Moderne.17 Sie ist jetzt gefordert die Erfahrung der (‚meiner‘) konkreten Verzweiflung in den Horizont der reflexiven Reflexion einzuholen. Also, die philosophische Gestaltung, der Entwurf der endlichen Reflexion der wirklichen anthropologischen Möglichkeiten. Im Grunde ist die Philosophie der Moderne ein Aufruf, ja sogar eine Beschwörung zu dem ‚selbstverantwortlich verzweifelten Erwachsenen‘.18 – Auch das wieder selbstverständlich ‚reflexiv gebrochen‘. Das eröffnet nun den Blick auf die wirkliche, – auch als Wirklichkeit erfahrene –, ‚existentielle Transzendentalität‘. Verbunden damit der ‚Habitus‘, eine Institutionalisierung einer unentwegten Kritik der Kritik der Kritik. . .19 All das ist zwar dem Fundus der Neuzeit entnommen. Spät, Vorbei und Nevermore, die Stimmung eines endenden und sich vollendenden Kulturkreises, Septemberstimmung.“ Hans E. Holthusen (1964), S. 90 ff. 16 Am Anfang war das Wort/und das Wort war bei Gott/und das Wort war Gott (Joh.1.1). 17 Oft genug erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch verstellt. 18 Teilhard de Chardin stellt diese Denkgeschichte in einen evolutionären Rahmen: „Tatsächlich hat seit sechstausend Jahren rings um das Mittelmeer eine neue Menschheit gekeimt, die eben jetzt daran ist, die letzten Spuren des steinzeitlichen Mosaiks aufzuzehren; es bildet sich eine neue Schicht in der Noosphäre, die dicht gedrängteste von allen. Der beste Beweis dafür ist die unausweichliche Notwendigkeit für alle Völker, von einem Ende der Welt zum anderen, die Begriffe zu verwenden, die das Abendland endgültig formuliert hat, wenn sie um menschlich zu bleiben oder eine noch höhere Stufe der Menschlichkeit zu erlangen, zu den Hoffnungen und Problemen der modernen Erde Stellung nehmen wollen.“ (1994, Paris 1955), S. 216.

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– Allerdings aber erst jetzt als ‚erbarmungslos radikalisiert‘, eröffnet es einen neuen Horizont für eine wirkliche Gestalt(ung) des Bewusstseins. In einem Satz verdichtet: Das ist nun endlich die ‚wirklich wirkliche Aufklärung des Abendlandes‘! Eine Aufklärung, die nun endlich ein ‚einsehen‘ hat in die leibhafte Bedingtheit und Begrenztheit der eigenen philosophischen Möglichkeiten. Die transzendentale Idee der Neuzeit spiegelt sich in der Moderne somit wortwörtlich als ein ‚wirklicher Bruch‘. Da ist nicht nur die ‚Erfahrung‘, dass die Vernunft ihre Grenzen nicht selbst bestimmt, überhaupt nicht selbst bestimmen und fassen kann. Sondern das jetzt ‚leibhafte Wissen‘ eines Aufbrechens abendländischen Selbstverständnisses; ein, ‚Niemals mehr wieder‘! – Nicht als Untergang, sondern als ein erfülltes ‚Zu-ende-gehen‘ der Geschichte der Reflexion.20 Etwas emphatisch, als Feier! Frei nach Hölderlin: ‚Nur einen Sommer schenken die Unsterblichen, nur einen Herbst zu reifen‘. Dieser Bruch mit der Neuzeit, (dem neuzeitlichen Selbst- und Weltverständnis), der sich der ‚transzendentalen‘ Möglichkeiten der Neuzeit bedient, konturiert sich an unterschiedlichen Gestaltungen. Vor allem aber durch die Form der Reflexion der Reflexion; jetzt als Gestaltung verzweifelter wirklicher Selbsterkenntnis. Wahr ist und darauf sei noch hingewiesen, auch der kritisch ein- und ausgrenzende Zweifel wird schon dem Zeitalter der Renaissance zum Vehikel der Selbsterkenntnis. Bekanntlich setzte sie ihren sich entfaltenden Unglauben als Mittel ein, als methodisches Instrument, durch das die Vernunft ihre Unabhängigkeit und schöpferische Ursprünglichkeit zu entdecken vermeint.21 ‚Unabhängigkeit‘ im Geiste und nicht mehr ‚demütige Armut‘ im Geiste, kurz, die Einsicht in die Möglichkeit der Selbstbestimmung, fassen sich neuzeitlich als wirklich sittliche Freiheit; letztendlich, als Ausdruck der vernünftigen Ordnung. Noch in den Jahrzehnten nach Kant wird dies 19 A. Gehlen fasst das so: „Die moderne Rationalisierung, als den Endertrag einer langen Entwicklung, kann man so beschreiben, dass alle inneren und äußeren Dinge nicht nur auf dieselbe Ebene gestellt werden; sondern grundsätzlich können sie auch in die gleiche Distanz rücken. Anders gesagt: es wird allen Ereignissen und Dingen gegenüber eine und dieselbe Verhaltensweise möglich: die rationale Theorie und Praxis.“ Gehlen (1957), S. 92. 20 Für Gotthard Günther ist das etwas, das bereits ‚mit‘ der Antike (oder, ‚durch‘ die Antike) stattgefunden hat: „Die Antike ist nicht der Anfang der klassischen Bewusstseinsverfassung des menschlichen Ichs, sondern der Abschluss und die geistige Liquidation einer welthistorischen Epoche von solchem Ausmaß, dass neben ihr die etwa zweieinhalb tausend Jahre zwischen Thales und uns Heutigen nur als kurzes und flüchtiges Zwischenspiel vor dem endgültigen Beginn der nächsten großen universalgeschichtlichen Periode erscheinen.“ Schöpfung, Reflexion und Geschichte, in: (1980), S. 15. 21 E. Cassierer, Das Erkenntnisproblem. Erster Band, Darmstadt o. J., S. 173.

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B. Das metaphysische Scheitern der Neuzeit

als Form ‚wunderbarer Selbstgestaltung‘ be(er)griffen; – und nicht in unserem Sinne als unausweichlicher Zwang, als ‚verurteilt zu einer grundlosen Freiheit‘.

II. Krisis als reflexive Potenz Schon jetzt kommt (rückblickend und systematisch begreifend) für uns ‚Moderne‘, Krisis nicht mehr als ein ‚faktisches Übel‘, als beklagenswertes Widerfahrnis, sondern als reflexive Potenz in den Blick. Dieses metaphysisch und theologisch (ausdrücklich noch nicht sozial und politisch) frei werden der ‚bürgerlichen Vernunft‘, entdeckt als Reflexion, Krisis als notwendige Gestalt dieser Reflexion. Diese Entdeckung der ‚absoluten Vernunft‘ gestaltet im Grunde die ziellose, gewaltsame Dynamik der philosophischen, literarischen und politischen Neuzeit, – und schließlich, ihre endgültige Verendung als Moderne.22 Das ist schon eine ‚phänomenologische Erfahrung‘. Diese phänomenologische (meinetwegen) ‚Konstruktion‘ benennt keine historisch erklärbare Lage. Vielmehr entfaltet dieser ‚philosophische Gedanke‘ die ‚notwendige‘ Korrelation der reflexiven Reflexion. Also, Reflexion und Krisis, mit ihrem jetzt endlich verzweifelten Bewusstsein der Moderne. Das zeichnet nun den ‚Horizont‘ der phänomenologischen Forschung. Dieser Horizont liegt nicht vor. Er wird in Form der ‚Leistung‘ der phänomenologischen Arbeit. Sie ist ihrem Selbstverständnis nach – und Husserl führt es beispielhaft vor – ‚systematische Korrelationsforschung‘. Dass durch diese wesentlich gerichtete Korrelationsforschung der entscheidende Unterschied zu jeder einzelwissenschaftlichen Arbeit eingeführt ist, sei nur am Rande erwähnt. Eine phänomenologisch wirklichwahre Theorie der Moderne ist immer auch und zugleich eine phänomenologische Theorie der Reflexion, (dem reflexiv gefassten Zu-Stand der Reflexion und selbstverständlich auch umgekehrt). Dieser phänomenologische korrelative gedachte Entwurf der Moderne entwirft also nun die wesentlichsystematische Gestalt der Moderne als existentiell-verzweifeltes, leibhaftes SelbstBewusstsein der Moderne. 22 Aus der Perspektive einer spekulativen Evolutionstheorie: „Der Zugang zu einem von Grund auf neuen Milieu führt unvermeidlich durch Seelenängste. Wird nicht schon das Kind vom Schrecken erfasst, wenn es zum ersten Mal die Augen öffnet? Wenn sich unser Geist den ins Unermessliche gewachsenen Linien und Horizonte angleichen will, so muss es auf die Behaglichkeit vertrauter Enge verzichten. All die Dinge, die er auf dem Grund seiner kleinen Innenwelt mit solcher Umsicht geordnet hatte, muss er in ein neues Gleichgewicht bringen (. . .) Schwindel und Verwirrung (. . .) Die ganze Psychologie der modernen Unruhe ist erklärlich aus ihrer jähen Konfrontation mit der Raum-Zeit.“ P. Teilhard de Chardin 1994 (1959), S. 231.

II. Krisis als reflexive Potenz

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Die existentielle Reflexion der Reflexion ‚macht‘ also den wirklichen Unterschied. Das drängt sich nun dem phänomenologischen Blick auf. Das moderne Bewusstsein ist nicht das Bewusstsein der Moderne. Es zeichnet sich aus durch die Reflexion als eine stetig mögliche, den Zeit-Raum gestaltende Institution. Die Reflexion ‚begreift‘ sich als Reflexion der Reflexion. Die existentielle Reflexion der Reflexion ist die wirkliche Form der Moderne. Die Reflexion fächert sich selbstverständlich theoretisch auf und wird in dieser komplexen Struktur praktisch gestalthaft. Für uns selbst zunächst zuerst und zumeist ‚bewusstlos‘ in ‚Institutionen‘; oder, ästhetisch in irritierenden, perturbierenden Formen der Kunst; in den Kunstbestimmungen der Museen, der Galerien; aber auch in Moden; nicht zuletzt, ‚handgreiflich‘ in und durch die Technik, einschließlich der Technikkritik u. ä. Diese institutionell verfasste, ‚praktisch schon vorkommende‘ und so wahrgenommene Reflexion, (eben in Kunst, Literatur,23 Wissenschaftsbetrieb, Beratungseinrichtungen), bleibt neuzeitlich selbst noch ohne existentielle Reflexion der Reflexion. So selbst noch ‚praktisch‘ beruhigt und philosophisch beunruhigend ‚bewusstlos‘. Diese ‚Gestalten‘, diese Institutionen bewusstloser Reflexion (vernünftig, zielführend, . . .) verdichten die neuzeitliche unwirkliche transzendentale ‚Wirklichkeit‘. Das benennt den Grund der so eindringlich vorgestellten Entfremdung des neuzeitlichen Menschen. Diese Entfremdung ist also nicht das ‚bewusstlose‘ Andere der Reflexion. Das neuzeitliche Bewusstsein der Moderne ist der Begriff von der eigenen Unwirklichkeit. Erst eine existentielle Phänomenologie als ausdrücklich verzweifelte Reflexion der ‚Krisis und Reflexion‘ entwirft den natürlich möglichen Anfang für eine reflexive Kritik der Moderne.24 Das ist eine kritische Selbst-Verständigung des Bewusstseins der Moderne. Und, in dieser Form eine ausdrückliche Selbst-Wahrnehmung der verfassten Reflexion. Dass sich diese Kritik ‚in‘ der Reflexion selbst zu reflektieren hat versteht sich phänomenologisch von selbst.

23 Beispielsweise Victor Emil Freiherr von Gebsattel. „Diesem urbildlichen Gehalt menschlicher Bildungen in der großen Dichtung nachspüren, das scheinbar frei erfundene hier in seiner inneren Notwenigkeit begreifen, den Menschen somit tiefer verstehen zu lernen, als dies die scientifische Menschenkunde vermag, das ist die Aufgabe, die der Dichter dem Anthropologen stellt.“ Imago Hominis, Schweinfurt, Neues Forum 1964, S. 274. 24 Im Sinne Husserls: die Phänomenologie eben nicht nur die Wissenschaft des ‚reinen Bewusstseins‘; sondern die Wissenschaft des Bewusstseins „mit allen Erlebnisarten, Akten und Aktkorrelaten“. Hua/III/1.

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B. Das metaphysische Scheitern der Neuzeit

III. Die wirklichen transzendentalen Leitfäden Das Bewusstsein der Moderne installiert sich als existentielle Reflexion dieser Reflexionen. Und das ausdrücklich mit allen existentiellen Konsequenzen! Es denkt sich jetzt als ‚wirklich wirklich‘. Vor allem heißt das auch, ‚wirklich endlich‘, – ‚endlich wirklich‘! Zu leisten wäre also phänomenologisch nichts weniger, als eine ‚transzendentale Ordnung‘ der wirklichen Wirklichkeit der Moderne. Konkret: Die Bedingungen der wirklichen Wirklichkeit ‚herauszulesen‘ aus den unterschiedlichsten Vorstellungen der Kunst, der Literatur, der Religion, der alltäglichen Lebenswelt. Aus den Gestalten und Gestaltungen, die sich als ‚die‘ Moderne, ‚das‘ Moderne denken, zeigen, behaupten und darstellen. Am deutlichsten, am augenfälligsten und verstörend zeigt es sich aber dort, wo der ‚Text der Moderne‘ sich unvergleichlich ‚dicht‘ vorstellt. Dort wo er sozusagen in der Form einer existentiellen Reflexion der Reflexion ‚praktisch bewusst‘ erzeugt wird. Und zwar in der phänomenologischen Form ‚Krisis und Reflexion‘. Krisis und Reflexion werden herausgelesen aus unterschiedlichen ‚Texten‘; und so eingeführt als die ‚transzendentalen Leitfäden‘, die das existentiale, das wesentliche Großstadt-Bewusstsein vorstellen und in dieser Vorstellung auch gestalten und ausstellen. Das ist nicht nur ein sozialwissenschaftliches, psychologisches ‚Ding-fest-machen‘; oder ein konstruierendes ‚frei-legen‘ der behaupteten, vielfältigen sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen Krisen als Krisis des modernen Bewusstseins. Sondern ein ‚in-den-Blick-nehmen‘ der letztendlich existentialen, ‚leibhaften‘ Bedingungen der Krisis und Reflexion selbst. Das GroßstadtBewusstsein zeigt sich so als das Schaufenster der Moderne. Kurz: Die Entfaltung der Krisis und Reflexion gibt den Blick frei für eine Phänomenologie der Moderne, des Bewusstseins der Moderne. Von Anfang lässt sich nicht übersehen, dass hier ein schlicht deskriptiver Augenschein nicht genügt. Genauso wenig wie ein wissenschaftliches, beispielsweise soziologisches oder psychologisches Modell. Statistiken, diese oder jene mathematischen Modelle erfassen grundsätzlich nicht das ‚Wesen einer anthropologischen, sozialen, gesellschaftlichen Gestalt(ung)‘.25 (Das ist im Übrigen meist auch nicht intendiert). Selbst die ‚Geschichte der Großstadt‘ wird erst verstanden im Horizont der Geschichte der Reflexion. Die Großstadt, als Schaufenster der Moderne, verweigert, entzieht sich also grundsätzlich und von Anfang an einer eineindeutigen Perspektive. Schon diese Verweigerung gibt philosophisch zu denken. Sie gewährt eben als reflexive Gestalt keine ein für alle Mal gültige 25

Dazu: Albert Wellek (1969), S. 234 ff.

III. Die wirklichen transzendentalen Leitfäden

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‚objektive‘ Aussicht. Das gestaltet nicht zufällig auch das Großstadt-Bewusstsein.26 Komplexität, die etwas anderes meint als ‚kompliziert-sein‘, und Unübersichtlichkeit ist hier wesentlich. Die phänomenologische Reflexion dieser Reflexionen entwirft sich selbst und erfährt sich in diesem Entwurf als die eigentliche Form des Großstadt-Bewusstseins. In einer wesentlich existentialen, gestalthaften Form, immer das Ganzheitliche, die Fassung der notwendigen Korrelation im Blick, entwirft und entfaltet sich die ‚transzendentale Phänomenologie‘ als Denken des wirklichen Gedankens der Moderne. Ein eigentümlicher Entwurf der selbst existentiell entwerfend wird. Das Großstadt-Bewusstsein stellt leibhaft die Möglichkeit der Reflexion der Krisis der Moderne vor. Damit ist eines klar, – zumindest das: Es kann in dieser letztendlich ‚existentiell-wirklichen‘ Vorstellung in erster Linie nicht um eine bloße soziologisch angelegte Kulturkritik oder um eine tiefenpsychologische Pathographie des modernen großstädtischen Bewusstseins gehen. Sondern es ist in einem genauen Wortverständnis der Entwurf einer phänomenologischen Zeit-Geist-Selbst-Bestimmung. Und zwar durchaus transzendental, – als Bedingung der Möglichkeit der Moderne. Die Moderne zeigt sich nun ausdrücklich als der ZeitRaum, der das Ende der abendländischen Möglichkeiten markiert.

26 Ohne an dieser Stelle schon näher darauf einzugehen: In diesem Zusammenhang stellen sich die jetzt wesentlichen Fragen der Philosophie: Was bedeutet hier und jetzt noch ‚Geltung‘? Was ist wirklich wesentlich? Wo liegt das Zentrum? Was ist Peripherie? u. ä.

C. Krisis und Reflexion I. Die wirkliche Wirklichkeit und die philosophische Verzweiflung ‚Krisis und Reflexion‘ ist also zusammen-gedacht der phänomenologische Leitgedanke der Moderne. Theoretisch und praktisch; verborgen und offen. Die Philosophie, vielleicht präziser das Philosophieren, die Theologie, die Kunst und die Literatur (um nur sie zu nennen) werden davon, mehr oder weniger bewusst bestimmt. Genauso aber gestalten sie, in der Form der wirklichen Reflexion, diesen Begriff. Welch eine eigenartige Dialektik! Dieser Leitbegriff ‚gilt und wirkt‘. Gleich ob sein Gelten und Wirken zuerst und zumeist lebensweltlich und wissenschaftliche bewusst wird oder auch nicht. Dabei leistet ‚Krisis und Reflexion‘ sehr differenziertes. Der Begriff zeigt allein schon durch seine literarische, fächerübergreifende Breite die Spannungen der Moderne. So konstituiert er beispielsweise das ‚Gerüst‘, das ‚Rüstzeug‘, die ‚Sach-Lage‘ und die ‚Auf-Gabe‘ des Bewusstseins der Moderne, das damit eine Identität setzt und damit auch die Grenzbestimmung des Abendlandes. Er bezeichnet nicht zuletzt die, oft vage, oder sogar ästhetisch verborgene abendländische Gestimmtheit ‚mitten‘ in einem sich reflexiv erschöpfenden ZeitRaum. Das könnte nun erkenntnistheoretisch gedeutet oder gar existenzialistisch (miss)verstanden werden. Beides wäre durchaus möglich, gäbe Sinn. Es träfe aber meine wesentlich phänomenologische Absicht nicht. ‚Krisis und Reflexion‘ benennt nämlich nicht nur ein geltungstheoretisches Grundschema der Moderne. So als ob hier nur ein bloßes Erbstück einer neuzeitlich-transzendentalen Erkenntnistheorie übernommen worden sei. Sondern, diese spannende Zusammenstellung zeigt vor allem auch phänomenologisch die endgültige metaphysische Grenze abendländischer Existenz. In dieser Form der erschöpften, weil verwirklichten Potentialität, gestaltet der Mensch der Moderne seine letztmöglichen Fragen der Wahrheit. Letztmögliche Fragen seiner selbstbewussten Wahrhaftigkeit und seiner verzweifelten Existenz. Es ist der Entwurf des Horizonts, innerhalb dem, – als Grenzbestimmungen der abendländischen Geistesgeschichte, – die endliche Gestalt(ung) der modernen Existenz, als leibhafter Selbsteinsatz, in der Form der wirklich, radikalen Reflexion erfüllt oder auch verfehlt wird.

I. Die wirkliche Wirklichkeit und die philosophische Verzweiflung

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Neuzeitlich kann das nicht mehr gedacht werden. Das umgreift, ja, radikalisiert nämlich alle die möglichen Formen neuzeitlicher ‚vernünftiger‘, ‚reiner Subjektsetzungen‘ durch eine nun ausdrücklich verzweifelte Reflexion.1 Das sind vorläufige Aus-Sichten, Vor-Stellungen, die sich durch die Arbeit der Reflexion der Reflexion (so oder so) als ‚existentiale Phänomenologie‘ gestalten. Die Reflexion einer so orientierten Phänomenologie setzt (natürlich) systematisch ein. Das spannungsreiche, dynamische Zusammenwirken, das Inein-ander-greifen von ‚Krisis‘ und ‚Reflexion‘ zu einem wesentlichen Begriff ist nicht historisch kontingent ableitbar. Auch nicht als eine bloße geschichtliche Gegenbewegung, als ein historischer Zustand dialektischer Bewegung. Etwa als eine bloße philosophiehistorische Wendung gegen überzogene idealistische Spekulationen; ein ‚Gerade rücken positivistischer Gedankenführung‘. Sondern es bildet die Gestaltung eines notwendig-existentiellen Korrelationsgefüges. Es zeigt sich so als eine besondere Form einer Notwenigkeit. Und zwar als eine Art ‚existentieller Notwendigkeit‘. Eine ‚Notwendigkeit‘, die sich selbst erst als und durch einen Akt radikal verzweifelter Reflexion einführt und so als existentiell-wirklich konstituiert und sich zugleich – und gerade deswegen – als ‚unbedingt‘ wahrhaftig einsieht. ‚Ich weiß jetzt endlich wirklich um mich‘. Das historische Denken bleibt dabei nicht ausgeschlossen, auch nicht unberührt. Die abendländische Geschichte als eine Bedingung der Existenz der Moderne wird also systematisch mitgedacht. Auch das ist Gestaltung einer gewissen Notwendigkeit. Der Entwurf einer ‚konkreten‘, ‚wirklichen‘ Geschichte (auch des Geistes) braucht wirklich radikale, systematisch Gedanken. Schon die Vorstellung von der Möglichkeit der Geschichte ist ein systematischer Gedanke. Auch das ist im Übrigen nicht neu und ungewöhnlich. Es ist eher merkwürdig genug, dass diesem in jedem Philosophieren der Moderne verborgene ‚Subtext‘ in der Literatur so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Es sind eigenartig ineinander ‚verschobene‘, vernetzte Vorgänge und Zustände. Ein ‚linear orientierter Blick auf die Geschichte‘ reicht nicht hin um diesen Prozess der Moderne, diese Verendung, dieses philosophische Endspiel des Abendlandes zu verstehen. Eine Fassung der Moderne, ihre Form der Reflexion und Verzweiflung braucht ‚systemisch aufgelegte Beschreibungsreihen‘, – allerdings, ohne jeden Anspruch ein ontologisch, metaphysisch Endgültiges vorgestellt zu haben. Vor diesem Hintergrund denken wir es (wortwörtlich) ‚vorläufig‘ so: Existentielle Reflexion als Form und Zeit bestimmende Institution der Moderne ist möglich, – weil jetzt ‚praktisch‘ notwendig, praktisch ‚an der Zeit‘. Diese 1

Beispielsweise: das ‚cogito‘ (Descartes); oder das, ‚Ich denke‘ (Kant).

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C. Krisis und Reflexion

praktisch notwendige Reflexion der Vernunft der Moderne entfaltet sich folgegerecht als ‚Kritik der wirklich-wirklichen Existenz‘ hier und jetzt. An dieser Stelle noch einmal der für eine Phänomenologie dieser Gestalt sehr bedeutsame Hinweis. Diese ‚transzendentale‘ Kritik der Existenz übersteigt die Sichtweisen der so genannten ‚Existenzphilosophien‘.2 Der Existentialismus, die Existenzphilosophie insgesamt ist, – ohne hier die oft erhebliche Differenz zwischen den einzelnen Vertretern und ‚Lagern‘ zu berücksichtigen, – mehr eine ästhetische, weniger eine streng theoretische Stellungnahme auf die spät-neuzeitlich gefassten Ur- und Grundfragen nach Sinn, Leid, Schmerz, Krankheit, Angst, Einsamkeit und Tod. Es ist der Versuch diese bedrängenden Fragen ausdrücklich in einen subjektiven, personalen, ästhetischen Verstehenshorizont, einen ‚existentiellen Un-Sinn-Kontext‘ einzustellen; – und zwar ohne auf ‚allgemeine‘ mythologische, theologische, ideologische Horizonte zurückzugreifen.3 Wieweit nun der Existentialismus selbst zu einem exklusiven, Interpersonalität beanspruchenden Quasi-Mythos geworden ist, sei hier übergangen. Ebenso dass in der Literatur dieser ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhundert existentialistisch gedacht wird mit ausdrücklich ästhetischen Entwürfen; denken wir an Rilke4 und Kafka. Das alles sei hier nur angedeutet. Dieser Existentialismus versteht und setzt sich aus Sicht der Phänomenologie, noch im Kontext der abendländischen Tradition. Trotz seiner radikalen Gebärden. Vor allem weil dieses moderne Existenz-Denken die eigene Wirklichkeit der Krisis und der Reflexion nicht als notwendigen transzendentalen Grund-Begriff der Moderne (des Abendlandes) reflektiert. Das ist für uns das entscheidende. Diese theoretisch und praktisch in einander verschobene Bedeutung zeigt erst eine ausdrücklich ‚transzendental-phänomenologische Perspektive‘. Das ist eine wirklich radikale reflexive Reflexion der erschöpften Möglichkeiten der abendländischen Reflexion. Eine selbst entworfene existentielle Perspektive, die die Moderne nicht mehr als eine bloße historische Verlängerung der Neuzeit ordnend zusammenstellt,5 sondern eben als Wirklichkeit einer radikalen philosophischen Entfaltung der Reflexion und Verzweiflung. Der Zu-Stand des ‚Projekts Moderne‘ eröffnet, erfasst und deutet sich als (und durch) die systematische, reflexive verzweifelte Reflexion. 2 Existenzphilosophie, so Karl Jaspers sei „die Wirklichkeit im Ursprung zu erblicken und sie durch die Weise, wie ich denkend mit mir selbst umgehe, – im inneren Handeln – zu ergreifen.“ Jaspers (19562), S. 1. 3 Schon hier wäre manches kritisch anzufragen; Beispielsweise der nicht bedachte Bruch zwischen Erfahrung und Deutung; oder die grundsätzliche Transzendentalität des Mensch-seins, die gerade in der Erfahrung des Leids als Herausforderung der Reflexion und Krisis aufscheint. 4 Vgl. z. B. Giorgio Guzzoni (1986). 5 Und die Neuzeit als historische ‚Gegenbewegung‘ gegen eine ‚theologisch entworfene Zeit‘ usw.

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Die wahrgenommene, gedachte, gedeutete Krise, die Krisen der Moderne werden ‚im Grunde‘ erst als transzendental-existentielles Aktkorrelat, als die Gestaltung und Gestalten meiner wirklich wirklichen Existenz, durch die phänomenologische Reflexion vorgestellt. Und zwar als Krisis, die sich selbst erst mit der systematischen Entfaltung der Reflexion, der Reflexion als wirklich notwendig entfaltet. Schon hier wird deutlich, dass die Moderne als Gestalt des oder eines wirklich-endlichen Bewusstsein einer leibhaften Existenz wesentliches Thema der Philosophie ist. Die Reflexion des Bewusstseins reflektiert, ob zunächst beabsichtigt oder auch nicht, die Wirklichkeit der endlichen Existenz im Hier und Jetzt der Moderne. Der Mensch der Moderne bewegt sich also denkend und handelnd in der unaufhebbaren Spannung ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Er kann nicht mehr anders! Die Anlagen neuzeitlichen Denkens, also ihre erkenntnistheoretischen und erkenntnispraktischen Potentiale werden nicht nur herausgehoben, verlängert oder irgendwie wissenschaftlich (soziologisch, psychologisch) angereichert, sondern selbst in der Form einer reflexiven Reflexion herausgerissen aus einer scheinbar vernünftigen, fortschrittlichen, durch und durch geklärt werden könnenden Welt. Das alles ist eigenartig genug! Und Pascal ist zuzustimmen: Nichts ist der Vernunft so angemessen, wie dieses Nichtanerkennen der Vernunft.6 Unleugbar! Das ist in der Tat ein ‚gewaltsamer Entwurf‘. Durchaus eine Form einer phänomenologisch entworfenen Metaphysik. Die reflexive Reflexion der Moderne ist die metaphysisch gedachte ‚grundlose Reflexion‘. Aber, auch das ist ein transzendentaler Gedanke. Eine Gestalt der Reflexion ohne Transzendenz, ziellos und ohne einen ‚guten‘ Grund. Sie gestaltet sich als endlose endliche Reflexion der Verzweiflung. Eine Reflexionsschleife, die, – wie es scheint, – ins Leere läuft. Die Vernunft, als gedachte ‚reine“ oder ‚absolute‘ Vernunft scheitert an der wirklichen Wirklichkeit als ‚selbstlos unwirklich‘. Die so konstituierte Moderne, mit dieser unvergleichlichen reflexiven Form, (mit diesem abendländischen Erben) entwirft, setzt sich selbstverständlich als abschließende, wirklich existentielle Aufklärung der neuzeitlichen Aufklärung der Vernunft. Diese reflexive Reflexion nimmt ihre Anlage der Kritik ‚radikal ernst‘ und das heißt jetzt letzt-endlich existentiell ernst. Sie destruiert sich selbst als ‚absolute Reflexion‘ der ‚reinen‘ unbedingten Vernunft. Der Traum einer ‚absoluten‘ Vernunft, der Traum der neuzeitlichen Vernunft, unbedingte Richterin zu sein ist endlich ausgeträumt. Die verdeckte Metamorphose theologischen Denkens in eine philosophische Form entdeckt sich endlich selbst und selbst endlich. Sie reflektiert hier und jetzt leibhaft; – und entwirft sich in dieser Form in (der) 6 Pascal, Pensee. Fragment 272. Übertragen und Herausgegeben von Ewald Wasmut, Darmstadt 1987.

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C. Krisis und Reflexion

Wirklichkeit als endlos-endliche Reflexion. Die Reflexion wird sich als wirklich radikale ihrer ‚wahren Gestalt‘, ihrer Geschichte und ihrer Systematik habhaft. Die Reflexion wird ‚wirklich endlich‘ und ‚endlich wirklich‘, – und verzweifelt, – und reflektiert, – und verzweifelt, (. . .). Die transzendentale und existentielle Verzweiflung der Moderne, die sich in der Kunst verbildlicht, im Theater in Szene setzt, ist also (wie paradox) die phänomenologische ‚Fassung einer wirklichen Fassungslosigkeit‘ der Reflexion. Die wirklich radikale Reflexion verzweifelt grundlos, – schließlich und endlich an sich selbst. Sie entdeckt ihre ‚Vollendung‘ hier und jetzt als wirkliche, leibhafte, als endliche Wirklichkeit. Die Reflexion der Moderne wird so als Reflexion und Verzweiflung wirklich wirklich. Als ‚wirklich wirkliche‘ gestaltet sie sich endlich ganzheitlich als Form der unaufhebbar ‚Leib-verhafteten Existenz‘. Das also benennt die Spannung der Philosophie der Moderne. Die Reflexion ‚entdeckt‘ sich wirklich leibhaft. Das ‚wirklich leibhafte‘ wird endlich bewusst durch die ‚unendliche‘ Reflexion. Das ist der Grund-Text der Moderne, den es phänomenologisch zu verstehen gilt. Von ihm aus kann eine unserer phänomenologischen Denklinien der Moderne weiter entfaltet werden. Das phänomenologische Schauen, als ein Wahrnehmen des wesentlichen Wahrnehmens und des Wahrgenommenen, zeigt es. Hinter- und untergründig ‚wird jetzt‘ Krisis als Institution der Moderne. Nicht als eine individuelle oder soziale Regression; nicht als eine historische Zufälligkeit; sondern als eine Steigerung der Wirklichkeit durch Reflexion ins endlich reflexiv erschöpfte Ausweglose. Beispielsweise, als nicht zur Ruhe kommende Gestaltung großstädtischer Existenz. Oder, und damit verflochten, als ästhetisch vorgestelltes Unbehagen in der Kultur. Wie auch immer: Immer ist sie aber erfahrbar als eine (geradezu unheimlich notwendige) existentielle Wirklichkeit. Selbst noch als verdrängte oder verleugnete. Das transzendentale Denken der Neuzeit ist hier überfordert. Eingerichtet auf die Möglichkeit einer ‚absoluten Vernunft‘. Ausgerichtet auf eine, wie man glaubt zwangsläufig damit verbundene intellektuelle, pädagogischpraktisch inszenierte, ‚helle‘ Aufklärung. So kann es dieses hintergründige, existentiell-notwendige Krisen-Bewusstsein, als eine so aufdringliche Wirklichkeit weder vernünftig ‚aufheben‘, wissenschaftlich regeln, nicht einmal wirklich historisch ordnen. So reicht beispielsweise, und ohne näher darauf einzugehen, weder das Denken Kants, noch Fichtes oder Hegels hin, dieses lebendig-irrationale, dieses sich hier und jetzt erschöpfende, verstehend zu umfassen. Ihre philosophisch großen Erzählungen ‚der‘ Vernunft sind letztendlich unwirklich vernünftige Entwürfe; sind sehr abstrakte, entfremdete Ordnungsversuche. Wunderliche Erzählungen! So verwundert es nicht, dass sich diese Träume der Aufklärung und der philosophischen (linearen) Auf-

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klärung der Aufklärung, eine ‚Herrschaft‘ der Vernunft, der vernünftigen Wissenschaften schaffe einen wahrhaftigen, ‚hellen‘ ZeitRaum, eine rationale bürgerliche Humanität, nicht erfüllt hat. – Im Übrigen, nicht erfüllt hat, – weil sich diese Idee schon der eigenen ‚Logik‘ folgend, grundsätzlich nicht erfüllen kann.7 Nicht zu Unrecht wird die damit verbundene Selbstbehauptung einer ‚absoluten Vernunft‘ als eine Ideologie, als ein (sich) ‚uneinsichtiges‘ Bewusstsein vorgestellt.8 Das ist nicht nur eine historisch nachträgliche Perspektive des existentiellen Bewusstseins der Moderne, die die historisch-faktischen Folgen zugrunde legt. Der Selbst-Zweifel an den Möglichkeiten der Neuzeit, ihren Entwurf und ihre Gestaltung der Vernunft, ist schon untergründig konstitutive Form dieser Neuzeit. Und das ist von Bedeutung! Denken wir also in diesem Sinne durchaus konsequent auf der Linie neuzeitlicher Vernünftigkeit. Die vernünftige Aufklärung begrenzt sich ‚vernünftig‘, ausdrücklich, wenn auch oft unausgesprochen als ‚gründlicher‘ Rationalismus. Der so genannte ‚neuzeitliche Empirismus‘ ist phänomenologisch nicht ‚ein anderes‘, dem Entgegenstehendes, sondern eine Gestalt, eine Gestaltung dieser Grund-Form. Die ‚leibhafte Existenz‘ als nicht-hinter-denkbare Bedingung jeder Denkmöglichkeit, also, als wirkliche Transzendentalität bleibt so als ‚irrational‘ grundsätzlich ausgeschlossen, bleibt irgendwie ein ‚blinder Fleck‘. Es ist ein problematisches Etwas, das als bloßes ‚Material der Vernunft‘ in die Pflicht zu nehmen ist. Nicht nur dass die ‚Anthropologie der Aufklärung‘ der wirklichen Wirklichkeit des Menschen, seiner ‚geschichtlichen Existenz‘ nicht gerecht wird, – als eine bloße ‚Kritik der reinen Vernunft‘ auch nie und nimmer gerecht werden kann, – trennt sie Krisis und Reflexion als ein notwendiges Korrelat. Sie deformiert so die ‚wirkliche‘ transzendentale Krisis zu faktischen, grundsätzlich ‚reparablen‘ historischen Krisen eines nicht-aufgeklärten Daseins. Allerdings, immer mit der Hoffnung, – was nicht ist, das soll, das kann noch werden. Das 19. Jahrhundert wird auf ihre Art dieser Linie in der gesellschaftlichen Praxis folgen. So wird beispielsweise, die je eigene, Existenz-bestimmende Befindlichkeit, ‚ausgesetzt‘ (in) einem eigenartigen Gegenüber, einem unheimlich Fremden. Unablässig bedrängt von der Möglichkeit und Notwendigkeit 7 Ein Grundthema bei Michel Foucault: z. B. „. . . dass, eingegliedert in vielerlei Mechanismen, die Verfehlung stumm präsent war: in Leidenschaft, Zügellosigkeit, Müßiggang, angenehmen Leben der Städte, gieriger Lektüre, Komplizität der Vorstellungskraft, gleichzeitig zu erregbarer und zu unruhiger Sensibilität, all den vielen gefährlichen Spielen der Freiheit, in denen die Vernunft wie von selbst in den Wahnsinn zu stürzen droht.“ Foucault (1978), S. 541. 8 Eine „der auffälligsten Ideologien ist die von der Alleinherrschaft der Ratio. Die Kritik an ihr ist unter dem Stichwort ‚Dialektik der Aufklärung‘ in die Literatur eingegangen.“ Sturmius-M. Wittschier, in: Gerhard Larcher (1988), S. 159.

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C. Krisis und Reflexion

der potentiell ‚endlosen Reflexion‘, als faktische Form einer Krise formatiert, soziologisch dargestellt und gesellschaftlich, wissenschaftlich, technisch, pädagogisch, therapeutisch zu gestalten versucht und so natürlich ‚entschärft‘. Dabei werden – unbedacht bis weit in das 19. und 20. Jahrhundert hinein – die Ebenen der Entscheidung ‚naturalistisch‘ und ‚historistisch‘ verlagert. Das zeigt im Übrigen nicht zuletzt, vielleicht sogar vor allem die Psychoanalyse. Sie gilt weithin als ‚die‘ Wissenschaft der Moderne. Nicht zu Unrecht! Dass sie hier im Besonderen zu berücksichtigen ist, braucht also nicht vieler Worte.9 Aber darüber hinaus ist es auch von der Sache-Lage her phänomenologisch gerechtfertigt die Psychoanalyse, überhaupt die Tiefenpsychologie sehr ernst zu nehmen. Etwas, das im gegenwärtigen philosophischen Betrieb viel zu selten geschieht. Beispielsweise: Schon die Wahrnehmung der neuzeitlichen Anthropologie als Gestalt eines wesentlich vernünftigen Selbstbezugs hat sich dem psychoanalytischen ‚Menschen-Bild‘ im Grundsätzlich zu stellen. Darauf werde ich immer wieder zu sprechen kommen. Hier reicht es zunächst und ohne jede Bewertung darauf hin zu weisen. Dieses, – wie es Jürgen Habermas genannt hat, – naturalistische Selbstmissverständnis Freuds ‚verschleppt‘ (durchaus eindrucksvoll und wirksam) die Neuzeit in die Moderne. Das zeigt sich auch in der Form dieser Aufklärung. Krisis als existentiale und daher ‚notwendige‘ Möglichkeit der Reflexion der Reflexion des wirklichen, leibhaften-Mensch-seins, wird zur mehr oder weniger zufälligen Krise einer, – in ihrem jetzt Unbewussten,10 – noch nicht hinreichend wissenschaftlich (psychoanalytisch) aufgeklärten Gesellschaft, Politik, Wirtschaft.11 So verdichtet. Die Psychoanalyse denkt, behauptet sich als eine Praxis, als eine ‚Technik‘, als die Metawissenschaft der neuzeitlichen Aufklärung. Das also ist aus der Perspektive der existentiellen Phänomenologie der historische und systematische Kontext der Neuzeit. Geleistet, entworfen als phänomenologischer Diskurs. Von diesem Kontext, diesem Horizont aus reflektiert sich auch die Konstitution der Krisis der Moderne. Das ist ausdrücklich keine spekulativ eingeführte Konstruktion. Das ist selbst noch als reflexive Reflexion ‚wirkliche Selbst-Einsicht‘. Sie gestaltet sich als eine 9

Vgl. dazu Gleixner (1999), S. 183 ff. Zur grundsätzlichen Kritik an der psychoanalytischen Setzung eines ‚Unbewussten‘, vgl. z. B. Medhard Boss (19993), S. 337 ff. 11 Dass das selbst wieder einer (geradezu ‚transzendentalen‘) Aufklärung bedarf drängt sich auch den Theoretikern der Psychoanalyse selbst auf. Vgl. Alfred Lorenzer: „Das Unbewusste muß als gesellschaftlich hergestellt erkannt werden. Es muß deutlich gemacht werden, wie die Elemente des Unbewussten schon unterhalb der Sprache kollektiv organisiert werden und wie diese Organisierung bislang wesentlich von der Kirche besorgt wurde.“ Lorenzer (1992), S. 11. 10

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bewusste ‚entwerfende Einsicht‘, als Wahrnehmung der ‚Reflexion der Reflexion‘ des neuzeitlichen Selbstverständnisses. Jetzt erst stellt die existentielle Wirklichkeit die Bedingung der Möglichkeit für theoretische und praktische Ein- und Aussichten vor. Das Ergebnis ist das ‚Selbstbewusstsein der Moderne‘. – Leibhaft-wirklich, endlich, tragisch gestimmt, ausgesetzt dem (‚seinem‘) ‚notwendigen‘ Horizont. Ein Horizont, der die Endgültigkeit der Möglichkeiten des Abendlandes in der Existenzform der Moderne vorstellt. Das ist eben die nicht nur theoretische Grund-Fassung: ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Wenn man so will, die Entdeckung eines ‚wirklichen Diesseits der Neuzeit‘. Erkenntnistheoretisch, Anthropologisch und Metaphysisch. Diese konstituierende Weltsicht einer ‚existentiellen Transzendentalität‘ denkt, betrachtet, schaut, reflektiert nicht mehr neuzeitlich-vernünftig. Auch hier wesentlich beispielhaft vorgestellt in Form der Kunst. Klarer als es jede wissenschaftliche Theorie vorstellen kann, ‚zeigt und gestaltet‘ es beispielsweise die Literatur, vor allem aber die Lyrik.12 Das sind also tatsächlich keine Fragen einer ‚reinen‘ Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Genauso wenig wie es das bloße Ergebnis historischer Untersuchungen ist. Unabhängig davon, dass es auch dort gestaltend einwirkt und sich so durchaus als theoretische Form zeigen lässt. Es geht um die Wahrnehmung der ‚wirklichen Wirklichkeit‘, der leibhaften Wirklichkeit der Existenz, die sich nicht durch bestimmte ‚wissenschaftliche‘ Methoden von vorne herein Apriori begrenzen lässt. Denken wir besonders an die Grundthese, die meine Arbeit sehr grundsätzlich ausrichtet. Die existentielle Fassung der Phänomenologie der Moderne umdenkt, ‚umspielt‘ nicht mehr die Möglichkeit einer idealistischen Form von ‚reiner Vernunft‘. – Sondern erfasst auch diese ‚Einbildungen‘ wirklich leibhaft und hebt sie damit samt ihren Anspruch auf. Diese Phänomenologie mag zwar immer noch ‚abstrakt‘ scheinen. Aus gutem Grunde. Die Komplexität der ‚Sachlage‘ der Moderne lässt sich auch in der phänomenologischen Anschauung nicht simplifizieren. Aber sie denkt jetzt auch sich selbst als wirklich wirklich. Mit allen Konsequenzen! Etwas umständlich formuliert: Die ‚wirkliche Wirklichkeit‘ ist die phänomenologische (Selbst)-Gestaltung durch das bewusste Wahrnehmen der Wahrnehmung(en) der lebensweltlichen Wirklichkeit. Wer sich also nicht von umlaufenden, – wieder einmal naturalistischen, – Vor-Urteilen bestimmen lässt, sondern, sich auf dieses ‚phänomenologische WirklichkeitsSchauen‘ einlässt, nimmt es selbst wahr, dass die abstrakt scheinenden Re12 Das dichterische Wort bringt eine Realität zum Vorschein, die hinter dem Schein einer ‚schönen neuen Welt‘ verborgen liegt: die poetische Wahrheit entzaubert dieses Blendwerk und ist zugleich der Zauber einer Schönheit, die Licht auf die wahre Natur wirft. Vgl. Manfred Pohlen/Margarethe Bautz-Holtzherr (2002), S. 50.

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C. Krisis und Reflexion

flexionen der Phänomenologie, die wirklich wahr-genommenen, selbst-erfahrenen Wirklichkeiten hier und jetzt ‚bedeuten‘. Reflektieren wir also systematisch. Jeder für sich. Eine Reflexion, der sich (in uns) zeigenden Gestaltungen der Moderne. Das sind die Formen der existentiellen Reflexion. Wirklich, gründlich und wahrhaftig! – Und daran können wir dann nicht mehr vorbei sehen. Diese reflexive Reflexion der Moderne, vorgestellt als eine existentielle Phänomenologie ist endlich, eine ‚leibhaftige, verzweifelte Reflexion‘. Das kann für uns nicht mehr anders sein! Und das ist in der Tat eine wirklich radikale Reflexion. Eine Reflexion, die mit begründetem Recht als ‚transzendental‘ zu begreifen ist. Dieser Begriff darf aber nicht wieder in einem neuzeitlichen Kontext eingestellt werden. Er denkt (sich) anders, – eben ‚wirklich‘ anders, als es beispielsweise Kant oder Fichte mit ihrer ‚idealistischen Praxis‘ vorgestellt haben. Alles was ‚da ist‘, was irgendwie begegnet, überhaupt aufdringlich werden kann, begegnet mir konkret, ist mein leibhaftes, wirkliches da. Selbst als unwirkliches oder unsinniges ist es ein wirklich unwirkliches, ein wirklich unsinniges da für mich. Diese Welt ist meine leibhaft gegebene, existentiell unausweichlich wirkliche Welt. Selbst der Gedanke einer ‚reinen Vernunft‘ als theoretischer oder praktischer Anfang braucht natürlich mich; ausdrücklich mich selbst, der als so gestalteter, leibhaft existierend, in einem, in meinem wirklichen Horizont, dem Horizont der Moderne, einer wirklich biographisch fassbaren Herkunft ‚reflektiert‘. Eine Vernunft an und für sich – geht mich nichts an! Descartes begreift die philosophische Neuzeit und verdichtet sie bekanntlich als ‚cogito ergo sum‘. In der Wirklichkeit der Moderne aber. ‚denke ich weil ich bin‘. Mein konkretes Denken, – und ein anderes ist mir schlechterdings nicht möglich, – wird herausgefordert und getragen durch meine je eigene natürlich leibhafte Existenznot und Existenzfreude.13 Das gibt die Möglichkeit, vor diesem Hintergrund, die philosophischen Mühen des 19. und 20. Jahrhunderts neu zu betrachten und zu würdigen. Nicht nur Nihilismus, Lebensphilosophie und Existentialismus. Sondern und sogar vor allem das Denken, das sich als ‚strenges, wissenschaftliches Philosophieren‘ vorstellt. (Der so genannte hermeneutische Zirkel darf uns dabei im Übrigen nicht beunruhigen). Beispielsweise, der angestrengte (und den Leser auch oft genug anstrengende) ‚reflexive Blick Husserls‘.14 Ausgelegt und ausgerichtet auf ‚strenge Wissenschaftlichkeit; verzweifelt vorgestellt als eine regulative Idee ‚unbedingter Geltung‘. Er kann jetzt ‚end13

Dazu Ludwig Binswanger, Ausgewählte Werke, Band 2, (1994). ‚Schauen‘, die ‚Schau‘ als gestaltende ‚Metapher‘ der Husserl’schen Phänomenologie. 14

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lich verstanden‘ werden als sich selbst ‚neuzeitlich transzendental‘ ordnend und sich so selbst nicht wirklich verstehender Ausdruck, als Gestalt des existentiellen Denkens der Moderne. Husserls Phänomenologie wird dechiffriert als eine lebensphilosophische, geradezu expressionistische Suchbewegung, die sich selbst neuzeitlich begreift, und – praktisch missversteht. Das wird uns weiterhin beschäftigen. Das ist der vorläufige Stand dieser Arbeit. Darauf sei als erstes noch einmal ausdrücklich hingewiesen. Diese Arbeit versteht sich als eine phänomenologische Vorstellung. Das ist vor allem eine Gestalt systematischen Philosophierens. Die so wahrgenommene, entworfene, konstituierte Moderne, der sich vollendenden, ‚sich selbst vollbringenden Reflexion‘, ist kein ‚relativer‘ historischer Abschnitt. Beispielsweise, ein immer wieder kehrendes historisch, soziologisch, psychologisch dokumentier bares ‚Gegenwartsgefühl‘. Also, eine Frage für eine Psychologie der Eigenwahrnehmung, sich auf der der Höhe der Zeit zu befinden. Das wäre ein beliebiges ‚Modernitätsgefühl‘. Eine beliebige Bestimmung, eine bloß subjektive Vorstellung einer ‚Moderne‘, der mit dem gleichen Recht, historisch noch unzählige Moderne folgen könnten. Sondern, die Moderne hier und jetzt ist Korrelat des grundsätzlichen Selbst-Bewusstseins. Die Gestalt der Wahrnehmung der Reflexion und Verzweiflung. Die Verwirklichung abendländischer Bewusstheit, das sich selbst als reflexive Form ‚endlich‘ durchspielt und als wirklichexistentiell (ontologisch als ‚Groß-Stadt‘) vorstellt. Das verändert systematisch auch die Perspektive der historischen Hermeneutik. So bestimmt nicht die Neuzeit, ihre Form des Denkens die Moderne als eine historisch-lineare Folge-Zeit. Sondern das ‚existentielle Bewusstsein der Moderne‘ konstituiert als Reflexion der Reflexion und Krisis die Neuzeit. Ein Einwand drängt sich vor. Diese Vorstellung scheint als ein ‚dogmatischer‘, gewaltsamer Entwurf; Konstrukte einer Phänomenologie, die selbst ihre historische Bedingtheit nicht durchschaut. Bedenken, die ernst zu nehmen sind. Denken wir zunächst wieder an den sicher bedeutendsten Phänomenologen. An Edmund Husserl. Er hat die Moderne mit seiner zu meist nicht hinreichend vor- und herausgestellten hintergründigen ‚philosophischen Verzweiflung‘ vorgeführt. Husserl selbst argumentiert, – auch in seiner Spätphilosophie, – nicht vordergründig anthropologisch oder existentiell; sondern in einem weiten Wortverständnis ‚geltungspraktisch‘. Seine Intention so zusammengefasst. Die Wissenschaften haben den „großen Glauben an sich selbst, an ihre absolute Bedeutung verloren“. Das wissenschaftliche Wissen beschränke sich letztendlich auf eine ‚Mathematisierung der Natur‘; – und lässt in Wirklichkeit schon das wissenschaftstreibende Subjekt theoretisch und praktisch ‚bedenken- und fassungslos‘ zurück.

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C. Krisis und Reflexion

Diese Einsicht gestaltet und bewegt Husserls ‚wissenschaftstheoretische‘, transzendentale Denklinie. Die ‚Krisis-Abhandlungen‘ lese ich nun als eine folgerichtige Zusammenfassung (s)einer existentiellen Suchbewegung. Für Husserl zeigt sich also in der Geschichte des Denkens das abendländische Verhängnis: Die Krisis der abendländischen Wissenschaften, der abendländischen Vernunft. Das ist eine Frage einer wesentlichen Wahrnehmung. Husserls Blick ist aber noch neuzeitlich ‚eingefärbt‘. Wir nehmen Husserl entschieden radikal ernst. Vor den Konsequenzen schrecken wir nicht zurück. Es ist sein Selbstmissverständnis des so genannten ‚strengen Denken‘. Deshalb unser Auftrag! Das Fehlverständnis der neuzeitlichen Wissenschaften, der neuzeitlichen Philosophie, verbunden mit einem praktischen Fehlverhalten nötigt jetzt zu wahrhaftig radikaler systematischer phänomenologischer Besinnung. Ohne allerdings die Idee von wahrer Wissenschaft und wahrhaftiger Vernunft aufzugeben. Im Gegenteil! „Der moderne Mensch von heute sieht nicht wie der ‚moderne‘ der Aufklärungsepoche in der Wissenschaft und der durch sie geformten neuen Kultur die Selbstobjektivierung der menschlichen Vernunft oder die universale Funktion, die die Menschheit sich geschaffen hat, um sich ein wahrhaft befriedigendes Leben, ein individuelles und soziales Leben aus praktischer Vernunft zu ermöglichen. (. . .) Man lebt so überhaupt in einer unverständlich gewordenen Welt, in der man vergeblich nach dem Wozu, dem dereinst so zweifellosen, vom Verstand wie vom Willen anerkannten Sinn fragt.“15 Vor allem in dieses Spätwerk Husserls16 sind also für denjenigen, der es sehen will Hinweise auf eine mögliche ‚existentielle Phänomenologie‘ eingeflochten. Das ist keine Re-Aktion, nicht der Versuch mit ‚philosophischen Moden‘ mitzugehen. Sondern, die existentielle Phänomenologie ist eine folgerichtige Reflexion der abendländischen Reflexion; Leistung und Folgen in Einem. Eine so radikale Reflexion der wirklichen Reflexion entdeckt die Bodenlosigkeit der eigenen Form. Sie ‚erfährt‘ die Krisis als eine notwendige Konsequenz der transzendentalen Vernunft. Dieser Gedanke bewegt immer auch praktisch ‚je meine‘ philosophische Existenz. Ausdrücklich oder implizite! Also sind diese Spuren einer existentiellen Phänomenologie in Husserls Spätwerk nicht erzwungen; weder direkt noch indirekt17 durch Heideggers ‚Existential-Philosophie‘ oder Max Schelers ‚Anthropologie‘. Sondern lassen sich verstehen als eine folgerichtige Gestaltung phänomenologischer, radikal-subjektiver, eben existentieller Hinterdenklichkeit. 15

FTL. Hua XVII./S. 9. Dazu gehören auch die ‚Cartesianischen Meditationen‘; und die ‚Formale und transzendentale Logik‘. 17 So z. B. Kurt Wuchterl (1995), S. 59. 16

II. Das existentielle Denken der Moderne

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Allerdings und auch das ist wahr, – Husserl selbst deutet seine ‚spürbar‘ mühsamen Versuche als ‚die‘ Vollendung neuzeitlicher Transzendentalität. Seine Absicht bleibt, gegen alle relativistischen Konzepte, die ‚absolute‘ Vernunft ‚von Anfang‘ an als theoretisch und praktisch sinnstiftende Form zu entfalten. Es sind wahrhaftige, beeindruckend ‚verzweifelte‘ Entwürfe zu einer ‚letztverantworteten Philosophie‘. Einer Philosophie, die dann mit gewissem Recht ‚strenge Wissenschaft‘ genannt werden darf. Dabei geht es aber nur vordergründig um eine bloße erkenntnistheoretische Sicherung der Wissenschaften. Husserl denkt allerdings sich selbst missverstehend, seine existentielle Intention missachtend, weiterhin im ‚metaphysischen, erkenntnistheoretischen Horizont‘ der Neuzeit; – mit und gegen Descartes, Hume und Kant. Welch ein großer Traum der Philosophie! Das alles ist historisch wahr! Und doch gestaltet er implizit durch seine phänomenologischen Implikationen, der, auch ganz persönlich verzweifelten Reflexion, das Bewusstsein der Moderne als Reflexion der ‚Reflexion und Krisis‘. Dass das wirklich die nicht nur ‚faktische historische‘, sondern die ‚wesentliche Gestalt‘ des (Selbst-)Bewusstseins der Moderne ist, wird uns vor diesem Hintergrund phänomenologisch weiterhin beschäftigen.

II. Das existentielle Denken der Moderne Es gilt nun den ‚Erfahrungsraum des Daseins‘ hier und jetzt konsequent in den ‚selbstbewussten Blick zu nehmen. Dazu gehört nicht nur die ‚positive‘ tatsächliche Wirklichkeit; sondern auch die wirkliche Möglichkeit und die sich ‚mir‘ aufdrängende Gestimmtheit, meine Stimmung. Nicht zu Letzt aber ‚ich selbst‘, existentiell ganz konkret, mit meinem ‚selbstbewussten Blick‘, der den Erfahrungsraum des Daseins, ‚meine wirkliche Lebenswelt‘ erfasst. ‚Meditationen‘ im Blick auf Descartes reichen dazu nicht. Ein erstes also, das sich diesem (immer korrelativ gerichteten) phänomenologischen Blick so zeigt, sich ihm aufdrängt, ist eine eigenartiger ‚dunkel eingefärbter‘, nicht unbedingt düsterer, aber durchdringend herausfordernder Grundton. ‚Ich‘ und ‚wir‘ nehmen es jetzt so wahr! Lassen wir jede tiefenpsychologische Erklärung außen vor. Es ist sowohl eine ‚unwillkürliche‘ Erfahrung, als auch eine wirkliche Wahrnehmung der Reflexion der Kunst, der Literatur, des Films . . . Erst die Reflexion der Reflexion zeigt, ‚konstituiert‘ als eine wahrgenommene ‚existentielle Spiegelung‘, dies als eine notwendige Form der (abendländischen) Krisis. Ausdrücklich! Auch das ist keine Konstruktion sondern eine wirkliche Einsicht. Also, eine Gestalt einer Phänomenologie der Erfahrung. Wir haben gesehen, dieses existentielle Schauen phänomenologischer Reflexion bestimmt untergründig auch Husserls Philosophieren. Deutlich ist das

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vor allem in seinen ‚späten‘ Arbeiten.18 Aber nicht nur in Husserls zu Recht viel beachtetem ‚Spätwerk‘ fällt dieser eindringlich vorgestellte, beeindruckende Ernst der abendländischen Krisis(be)Stimmung auf. Zumindest demjenigen, der es auch wahrnehmen möchte, der dafür nicht ‚blind‘ ist. Das ist ein wesentlicher Gedanke. Das spricht dafür, diese Wahrnehmung, wenn auch nur vorläufig, oder, versuchsweise, von diesem oder jenem Subjekt mitsamt der damit verbundenen Biographie zu lösen. Das ist durchaus auch eine mögliche Form einer phänomenologisch-methodischen Einklammerung. Dass das zugleich auch eine ‚Komplexitätsreduktion‘ bedeutet, sei nur am Rande vermerkt. Es bleibt natürlich für uns auch jetzt noch – wie könnte es anders sein – der wirkliche Erfahrungsraum eines leibhaften Subjekts. Jede idealistische Versuchung halten wir uns vom Leib. – Kurz und knapp. Wir denken in dieser Form ‚die wirklich-mögliche Existenz der Moderne‘. Das gibt ‚uns‘ die Möglichkeit, frei von diesen oder jenen biographischen Fragen nun phänomenologisch (‚interpersonal‘) etwas näher hinzusehen. Beginnen wir zu nächst mit einer Unterscheidung. Eine ‚Krisis-Stimmung‘ – um von dem mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sich weit verbreitenden Krisen-Denken noch zu schweigen – ist noch keine Reflexion der ‚notwendigen Krisis‘. Noch weniger eine Reflexion der Reflexion der Krisis. Auch das lässt sich phänomenologisch einsehen. Nehmen wir es als ein vages Bild. Die Krisis gestaltet sich zunächst und drückt sich aus als ein eigen gearteter ‚GrundTon‘, oder, als eine ‚GrundFarbe‘ eines sich zunächst und zumeist nicht umfassend einsehenden, existentiellen Denkens und Dichtens. Das ist auch ein durchgängiger, nicht immer auf der ‚Oberfläche‘ liegender, Zug der philosophischen Reflexion der Moderne. Namen wie Nietzsche und Kierkegaard wären hier zu nennen.19 Auch die Kunst, vor allem die Literatur und nicht zuletzt die Theologie (denken wir an die so genannte ‚Dialektische Theologie‘ der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts) sind schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts durch-stimmt, belegt, ‚getragen‘ durch und von einer ‚Stimmlage der Krisis‘. Das sind zwar sicher schon Gestalten und Gestaltungen der Reflexion. Oft verzweifelt, überlegt, kämpferisch, polemisch und mehr oder weniger systematisch. Aber, das Wesen, die Struktur, die Notwendigkeit der Krisis, als notwendige Form der existentiellen Reflexion selbst bleibt hier natürlich noch verborgen, – bleibt selbst noch unreflektiert. 18

Schon in FTL; und CM. Vgl. Kierkegaard: „Und ich könnte weinen, kann jedenfalls Sehnsucht nach der Ewigkeit lernen, wenn ich an das Elend unserer Zeit denke, im Vergleich nur mit dem größten Elend des Altertums . . .“ Kierkegaard (1990), S. 19. Vgl. auch Michael Theunissen: „Der eigentümliche Gegenstand des Ernstes ist die Wirklichkeit. Was also für Kierkegaard wirklich ist, das nimmt er auch ernst, und umgekehrt ist das, was er ernst nimmt, für ihn die Wirklichkeit.“ In: Symposion I (1958), S. 3. 19

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Erst ein ausdrücklich phänomenologischer Blick, ein Blick der existentiellen Reflexion der Reflexion zeigt, wie dicht die kulturellen, also, kulturtheoretischen, theologischen, philosophischen und die Krisen der wissenschaftlichen Forschung mit den geltungstheoretischen, systematischen Fragen ‚der notwendigen Krisis der Moderne‘ verflochten sind. Hier gestaltet sich (das nur am Rande) eine Schnittstelle des phänomenologischen und systemischen Denkens. Die transzendentale Form, die existentielle Gestaltung, der ‚wirklichen Wirklichkeit‘ wird jetzt ‚endgültig endlich‘ eingeholt und wesentlich geordnet. Sie verweist nämlich auf je (m)eine wirkliche Existenz, die für sich selbst ‚außer Blick geraten ist‘. Die großzügige neuzeitliche Aufklärung menschheitlichen Selbstbewusstsein erhält eine existentielle, leibhafte Bindung. Die ‚Philosophie der Moderne‘ wird so nicht zu Letzt zur Reflexion der Tragik der Existenz hier und jetzt. In dieser Form gestalten sich die wirklich wirklichen, die existentiellen Kämpfe des Menschen, auch, – der abendländischen Menschheit. Das in den Blick zu nehmen und als den entscheidenden ‚abendländischen Text‘ lesen zu können, formt die Phänomenologie zu einer TiefenHermeneutik der wirklichen, existentiellen Wirklichkeit. Eine Tiefen-Hermeneutik, die ausdrücklich ‚die Oberfläche‘ sucht. Das wird sich ‚zeigen‘ und wir werden es selbst ‚sehen‘. Das ist nämlich wortwörtlich eine Leistung der ‚phänomenologischen Arbeit‘. Diese phänomenologische Wahrnehmung ist also ein konstitutiver Akt, eine phänomenologische ‚selbstbewusste Handlung‘. Das Ziel ist auch hier nicht eine historische Rekonstruktion der Neuzeit. Auch nicht eine Geistesgeschichte der vergessenen, zurückgelassenen, verleugneten, verdrängten Existenz, – als irgendwie natürlich historischer transzendentaler Grund auch der Vernunft. Sondern eine systematisch ausgerichtete Deutung neuzeitlicher Vernünftigkeit. Die so entworfene phänomenologisch ‚Tiefen-Struktur der Neuzeit‘, als mögliche wirkliche Wirklichkeit in der Form des Ab-Lesens und des systematischen Entwurfs, bildet sich zunächst und selbstverständlich als eine ‚transzendentale Idee‘. Husserl selbst führt es vor. Es ist die transzendentale Idee der Welt. Genommen, die letzte historische und systematische Wirklichkeit eines als ‚absolut begriffenen Selbstbewusstseins‘. Eine Konstruktion, eine Ein-Bildung der ‚reinen‘ Vernunft, aufgeklärt und metaphysisch und theologisch ‚gereinigt‘. Als ‚ontologisches‘, oder ‚psychologisches‘, vor allem erkenntnistheoretisches Fundament einer möglichen ‚absoluten‘ Geltung. Das ist das Schema der neuzeitlichen Philosophie. Nichts sonst sei als vernünftig schlüssig denkbar, das Geltung, damit Sicherheit und unbedingte Ordnung gewährleiste. In dieser transzendentalen Grund-Form sei der Anfang für jeden weiteren möglichen Fortschritt der Menschheit geleistet. Die wissenschaftliche, begrifflich-rationale Einsicht in die Vernunft, in die selbst bestimmte Form der Vernunft, gestaltete und legitimiere den ein-

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zig möglichen Anfang der Philosophie, den Grund der Wissenschaft, und, nicht zu Letzt, die Legitimität jeder ‚normativen Praxis‘. Die philosophischen Auseinandersetzungen, die die Grenzen des Horizonts der Neuzeit einzeichnen und in dieser Form der Grenzbestimmung, die ‚Mitte‘ der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft festlegen, setzten nun diese transzendentale Grundfigur selbstverständlich voraus. Das sei die Bedingung der Möglichkeit von dem was war, ist und sein wird. Aus einer phänomenologischen Perspektive gesehen, – eine konstruktive, spekulative Fest-Stellung der Vernunft ‚jenseits‘ der wirklichen Wirklichkeit, jenseits der leibhaften Existenz, losgelöst von der Erfahrung der Geschichte. Die erfahrbare Welt als eine Form der Vernunft, – aufgeklärt, fortschrittlich, gestaltbar, gott-los, – ist ein wissenschaftstheoretischer Text. Die Vorstellung einer möglichen Geltung, die sein kann ohne ‚wirklich zu werden‘. Sie wird so zu einer, möglicherweise gefährlichen, weil dogmatisch einengenden, Ideologie des ‚Idealen‘, zu einer, keinen Widerspruch duldenden VorSchrift; problematisch, wenn sie sich zu verwirklichen sucht.20 Wir, die wir jetzt ausdrücklich in der Wirklichkeit der Reflexion und Verzweiflung existieren, bei uns leibhaft und endlich angekommen sind, lesen und bewerten diesen neuzeitlichen Text als ‚unwirklich‘, als verstiegen, sogar, – als ‚unmenschlich‘. Dieser rational, invariant, selbstverständlich ungeschichtlich vorgestellte ‚Anfang‘ als Reflexion der ‚reinen‘ Vernunft erscheint uns jetzt wie eine verhängnisvolle, die Neuzeit bestimmende Selbst-Täuschung. Von Anfang an eine nützliche philosophische Illusion bürgerlicher Ordnung. Die nun als regulative Vorgabe, als selbstverständliche Bedingung der Möglichkeit überhaupt den Horizont der Neuzeit als Vernünftig-Endgültig gestalten soll. Hingenommen als ‚die Leitidee‘; – gültig noch selbst bei den im Grunde ‚verzweifelten Modernen‘, die sich selbst aber als neu-zeitlich vernünftig missverstehen. Husserl ist hier mit zu nennen! Verbunden damit ist, dass z. B. existentiell-phänomenologische, also hermeneutische, auch tiefenpsychologische Reflexionen von vorne herein als bloße irrationale Moden, als anthropologische, relativistische Verkürzungen transzendentalen Denkens gedeutet werden. Folge eines Vor-Urteils der Vernunft, das sich auf sich als ‚reine Vernunft‘ verlässt. Noch etwas gehört hier her und ist damit eng verflochten. Und zwar ein neuzeitlich tradiertes Misstrauen gegenüber der je eigenen leibhaften, existentiellen Erfahrung. 20 Eine persönliche Abrechnung findet sich bei Nietzsche: „Aus den Folgen dieses Idealismus erkläre ich mir alle Fehlgriffe, alle großen Instinkt-Abirrungen und Bescheidenheiten abseits der Aufgabe meines Lebens, zum Beispiel, dass ich Philologe wurde – warum nicht zum mindesten Arzt oder sonst etwas Aufschließendes.“ Gesammelte Werke, Bd. 2, München/Wien 1967, S. 418.

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Auch mit der doch in dieser Form wirklich da-seienden, natürlich (möglicherweise) auch irrationalen ‚Welt‘. Lassen wir uns also durch die neuzeitlich entworfene und die Neuzeit entwerfende (ganz unbestritten) in sich großartigen Selbstverständlichkeit der Vernunft, der so gesetzten Wahrheit, der Geltung, nicht ‚allgemein‘ täuschen. Blicken wir selbst hin, spüren den Gedanken in uns und spüren uns selbst nach. Das und nur das gibt ‚meiner‘ Reflexion unmittelbaren Halt. Es ist ‚meine‘ Wahrnehmung und ‚meine‘ Reflexion der Reflexion. Ich bin der endliche Mensch der dieses Leben so lebt, – und dieses wirkliche Leben radikal reflektiert. Und es auf diese Weise in eine philosophische Form bringt. Diese Selbst-Erfahrung ist die Gestalt meiner existentiellen Reflexion. Es sind ‚wirkliche Reflexionsschleifen‘. Also Wahrnehmung, Reflexion, reflektierte Wahrnehmung, leibhafte Selbst-Wahrnehmung und Reflexion der Reflexion. Sie entwerfen das ‚Bewusstsein, den Bewusstseinsfluss der Moderne‘ als eine Form der verzweifelten transzendentalen Existenz. Diese Transzendentalität ist wirklich eine ‚Tiefenhermeneutik der Oberfläche‘. Also, nicht nur das irgendwie Verdrängte, unwillkürlich Gestaltende ‚nicht-vernünftige‘, nicht ausdrücklich Wahrgenommene (auch in uns); sondern schon der Akt, der willkürlich-unwillkürlichen Verdrängung selbst, also eine Leistung, die sich selbst nicht unmittelbar einsehen kann, ist für das weitere entscheidend. Das kann selbst als ein wesentlicher Leitfaden für eine Phänomenologie des wirklichen Bewusstseins der Moderne vorgestellt werden. Die Reflexion der Reflexion wird phänomenologisch eingeführt als je meine existentielle, endlos-endliche Suchbewegung. Eine Möglichkeit, die sich selbst ‚gefährdet‘. Ja, – sich selbst sogar abgründig gefährden muss, ohne diese existentielle Dimension an sich selbst zunächst wahrnehmen zu können. Das also ist das wirklich wahrhaftig Bestimmende dieser Moderne. Das wirklich Wesentliche. Schon diese Jahrhunderte, die wir die Neuzeit, den Zeithorizont des neuzeitlichen Menschen nennen, geben da und dort davon eine Vorstellung. Denken wir an Montaigne und Pascal. Wie auch immer im Einzelnen. Es bleibt trotz allem dabei. Das Bewusstsein der Moderne ‚wird sich selbst ausdrücklich exklusiv klar‘, dort wo es sich selbst leibhaft vollbringt. Während das ‚reine‘ transzendentale Denken sich als Vernunft radikal zu verwirklichen sucht, – erfährt es sich als bloße Abstraktion der Existenz. In der Wirklichkeit der wirklichen Welt haben Geltung, Erkennen, Bedeutung, Wirklichkeit nur Sinn, als Bedeutung und Erkennen des konkreten, leibhaften, endlichen Mensch-Seins. Selbst die Unterscheidung zwischen ‚wirklich‘ und ‚unwirklich‘ ist zunächst eine Entscheidung des leibhaften Menschen und nicht bloß eine Fähigkeit der Vernunft. Die An-Lage der Vernunft Wahrheit und Sinn vor-zustellen, geht dabei nicht verloren. Im

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Gegenteil jetzt erfährt sie sich als wirklich. Die neuzeitliche Transzendentalität hebt sich selbst auf in eine ‚moderne‘, ‚leibhafte‘, ganz und gar existentielle Transzendentalität. Diese existentielle, leibhafte Transzendentalität ‚gestaltet und zeigt‘ die Moderne; zeigt sie als eine wirkliche Wirklichkeit. Ich selbst bin – ganz und gar Intentional gerichtet – die Erfahrung meiner Welt hier und jetzt, die Erfahrung der Moderne. Das alles sind natürlich Entwürfe, Vorstellungen der reflexiven Reflexion, die sich allerdings ‚phänomenologisch wirklich sehen lassen können‘. Aber, – schauen wir selbst! Blicken wir auf ein beliebiges historisches Dokument der Kultur-, Religions- oder Philosophiegeschichte der Neuzeit. So viel ist doch ohne weiteres und vor jedem philosophischen Einsatz einzusehen. Historische Krisen, Bewusstseins-Krisis, und – ‚meine‘ radikale Reflexion und ‚unsere‘ Idee der Moderne stehen offensichtlich in einem dichten gedachten Zusammenhang. Sie lassen sich aber immer auch historisch und systematisch unterscheiden. Wie immer dieser Zusammenhang im Einzelnen auch aussehen mag, was immer ihn bewegt, oder worin er gründet: Er zeigt sich als eine historische Gestalt(ung), die systematisch erfahren, reflexiv gedeutet und (zuerst und zumeist auch ‚unbewusst‘) entworfen wird. Und schließlich benennt er die wesentliche Komplexität der wirklichen Wirklichkeit. Die sich nicht mehr durch ein geschlossenes System der Vernunft fassen lässt. Kein Idealismus, Realismus oder Positivismus (denken wir sie nur wirklich zu Ende) reicht dazu hin. Krise, Krisis, Reflexion und Moderne bilden also eine ‚wirkliche transzendentale Verweisungseinheit‘. Sie fordern sich heraus, bedingen und bestimmen sich dynamisch. Endgültig unabschließbar durch ihre wesentliche Form: ‚Reflexion und Krisis‘. Selbst noch als eine (zuerst und zumeist nicht wahrgenommene) Möglichkeit gegenseitigen Verzerrens, Verstellens und Verschleierns. Die Geistesgeschichte, hier gelesen in einem sehr weiten Sinne, ist im Übrigen das Resultat dieses Verzerrens, Verschleierns und Verstellens. Die Kunstgeschichte der Moderne kann dafür als Beispiel genommen werden. Das Denken der Moderne könnte also selbst historisch nur sehr bedingt als eine Gestalt, oder als ein bloßer Stil der neuzeitlichen Vernunft gedeutet werden. ‚Begreifen‘ wir es jetzt ganz allgemein so. Das Denken der Moderne ‚radikalisiert‘ die neuzeitliche Reflexion.21 Das meint eine kritische 21 Schon Nietzsche: „Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-kennen sei, der Philosoph muß sich sagen: wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz ‚ich denke‘ ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, – zum Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muß, das denkt, dass Denken eine Tätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht

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Mobilisierung der Reflexion gegen sich selbst. Die Reflexion erkennt ihre gedachte Transzendentalität als existentiell eingeschränkt, als begrenzt. Schon allein und am Augenfälligsten wohl durch die notwendige Leib-Gebundenheit. So eröffnet sich nun eine wirklich neue ‚existentielle Logik der Reflexion‘, der ‚Transzendentalität. Die Moderne ist ‚in der reflexiven Tat‘ nicht nur eine historische Reflexion der Neuzeit; oder ein diskursives Begreifen der philosophischen Neuzeit, ihre bloße theoretische ‚Steigerung‘, oder ihre dialektische Aufhebung. So als ob die Moderne sich im Blick auf die (sogenannte) Neuzeit eingeführt habe. Die Moderne ist ausdrücklich die existentielle Selbst-Reflexion der abendländischen Möglichkeiten. Ein dramatischer Entwurf, eine wirkliche Eröffnung und Vollendung der Möglichkeiten zu einer (wenn man so will) reflexiven Endlosschleife. Die Reflexion der Vernunft übersieht sich ‚wirklich Selbst‘ nicht mehr. Kierkegaard nennt diese damit nun verbundene Gestaltung des Daseins treffend einen ‚Aufruhr der Reflexion‘.22 Vor allem aber verbindet sich das ‚praktisch‘ Lebensweltlich mit einer grundsätzlich nicht mehr umkehrbaren metaphysischen Verunsicherung. Der entscheidende Grund dafür ist: Es kann ‚hier und jetzt‘ nicht einmal mehr mit der Möglichkeit einer ‚metaphysischen Vollendung‘ der Philosophie und damit das sinnvolle Schließen der abendländischen Gestalt gerechnet werden. (Das ist auch das Ende der Theo-logie). Die Philosophie der Moderne entwirft sich endlich als existentielle Phänomenologie. Manchen der immer noch umlaufenden ‚großen Vorstellungen‘ zum Trotz. Das ist ausdrücklich eine Selbstgestaltung als wesentliches, ‚notwendig unaufhebbar vorläufiges‘ Projekt. So und nicht anders! Paradox eingeführt. Eine ‚strenge Systemlosigkeit‘ als Denklinie, die immer wieder anfangend, beschreibend sich systematisch zu entfalten sucht. Eine wesentlich unentwegte Suchbewegung. Das ist wahrlich ein Paradox! – Und zugleich aber irritierend ‚vernünftig‘. Und so wird ‚Verzweiflung‘ als Grundfarbe und eine ‚philosophische Kurzatmigkeit‘ zu einem endgültigen Gestaltungsprogramm der Lebens-Geschichte der Moderne (als der abendländischen Erschöpfung). Die Korrelation ‚Reflexion und Verzweiflung‘ entfaltet sich jetzt endgültig bestimmend als Krisis der Moderne. Das alles benennt nicht einen bloßen soziologischen, psychologischen, auch nicht einen erkenntnistheoretischen Zustand. Bennent keine historisch-faktische wissenschaftliche Vorstellung. Sondern eine ausdrücklich notwendige Dynamik der systematischen Entfaltung der Reflexion der Reflexion. Denken wir es uns – die Genese dicht zusammenfassend – so. Ein Gedanke drängte sich auf. Zunächst litewird, dass es ein ‚Ich‘ gibt, endlich, dass es bereits feststeht, was mit Denken zu bezeichnen ist – dass ich weiß, was Denken ist.“ (Jenseits von Gut und Böse/16). 22 Kierkegaard (1990), S. 34.

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rarisch und philosophisch gestaltet. Nach und nach wird er zu einer ungeheuer bestürzenden allgemeinen Erfahrung. Dass die Welt offensichtlich nicht so ist und nie mehr so sein wird, – wie sie theologisch, metaphysisch, idealistisch ‚scheinen soll‘. Niemals mehr ein absolut sicherer, vernünftiger Grund. Niemals mehr ein unbedingter Sinn, eine unverfügbare Geltung. Diese ‚Wirklichkeits-Auffassung‘ nun beim Wort genommen, ist Anlass zur Hoffnung, genauso wie zur Resignation. Wie auch immer, sie gestaltet jetzt die Reflexion und die Verzweiflung als unaufhebbar. Das also speist die entscheidende, wesentliche Veränderungs-Dynamik des neuzeitlichen Denkens hin zur Moderne. Nennen wir es einen ‚metaphysischen Übergang‘, der sich von Mitte des 17. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts historisch zeichnen lässt. Allerdings kann natürlich keine eindeutige ‚Grenzlinie‘, also, ein Datum, eine Person, eine Position, eine Schule, ein Stil benannt werden. Es ist ein ineinander Verfließen von neuzeitlichem und modernem Denken. Und das durchaus bis heute. Das alles sei systematisch und historisch zugestanden. Und trotzdem drängt sich eines als Sicher auf. Dass in den Jahrzehnten um 1800 herum „sich ein Selbst herausbildet, das schon erkennbar dem modernen Selbst gleicht.“23 Die ‚beliebte Frage‘ nach der soziologischen, ökonomischen, politischen Ursache, den Ursachen dieser Entwicklung, (eine Frage, die nicht nur in der Kulturgeschichte verbreitet ist), verkennt die notwendige Dynamik, diese ‚interne Genese‘ dieser Reflexionsgeschichte. Der Mensch, der sich selbst nicht mehr wirklich auf ein ‚cogito ergo sum‘ reduzieren kann, scheint nun an seiner Aufgabe, seiner endlichen Wahrheit, an seiner wirklich existentiellen Wahrhaftigkeit nicht mehr vorbeisehen zu können. Es ist nun ein eigenartig drängendes existentielles Wissen, ein ungesicherter Glaube und wirkliches Hoffen, das ihn – auch Menschheitsgeschichtlich – in eine letztendlich bestürzende, verzweifelte Reflexion zwingt. Reflexion und Verzweiflung entdecken sich selbst als endgültige Institution des abendländischen Diskurses. Dem Menschen hier und jetzt ‚bleibt keine andere Wahl‘! Vorausgesetzt der Wille zur Existenz.24 Diese Reflexion der Reflexion erweitert und verengt zugleich und endgültig die Perspektive des Menschen der Moderne. Das ist der Grund, den die Kulturgeschichte und die Religionsgeschichte ‚Säkularisation‘ und ‚Aufklärung der Aufklärung‘ nennt. Oft sehr, sehr unterschiedlich konnotiert. Der Bogen reicht (beispielsweise) von Ernst Jünger und Gottfried Benn bis Walter Benjamin und Georg Lukács. Kunst und Kult, Mythos und Theologie, – so wie sie sich jetzt vorstellen und gebärden, – geben dem, der es zu lesen vermag Hinweise. So zeigt sich im Rückblick, dass das 23 24

Charles Taylor (1996), S. 330. Eine Variante dazu Albert Welle (1969), S. 24.

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transzendentale Denken nicht nur lose verflochten ist mit den existentiellen Eigen-Arten, also Sehnsucht, Krisis und Verzweiflung des menschlichen Daseins. Das sind die wirklichen Grund-Erfahrungen der Menschen. Die jeweiligen Deutungen, die ideologischen Muster (von ‚konservativer Revolution‘ bis ‚linkem Aufbruch‘) sind ‚nachträglich aufgesetzt‘. Transzendentales Denken ist eine sich selbst zwangsläufig ‚notwendig‘ ‚entdeckende‘ existentielle Form. Es ist eine Gestalt des wirklichen Daseins. In dieser Wirklichkeit der ‚Reflexion der existentiellen Reflexion‘ entdeckt sich das Bewusstsein ‚jetzt‘ endlich als leibhaftes transzendentales System; entdeckt sich als Bedingung der Möglichkeit (m)einer selbst-verständlichen, ‚wirklichen‘ Wahrheit. ‚Ich-bin‘ als existentielle Eigen-Art endlich, und, ‚die‘ Welt ist endlich ‚meine‘ intentionale Ordnung. Mir selbst ganz und gar (aber sonst – ‚ohne weiteres‘) verbunden, ‚eingeschrieben‘; – und das vor aller erkenntnistheoretischen, ideologischen Konstruktionen der Vernunft. Wir, – als konkretes Ich und als konkretes Du, verbunden in einer lebensweltlichen Gemeinschaft – befinden uns mitten in dieser Bewegung. Und das ist unsere Perspektive. Diese Perspektive selbst gehört aber mit zur Wahrnehmung einer systematischen, existentiellen Reflexion. Die ‚soziale‘, menschheitliche und existentiell-leibhafte Wirklichkeit schert sich ganz offensichtlich nicht um irgendwelche ‚idealen‘, philosophischen, theologischen, oder wissenschaftlichen Lehrbuch-Konstruktionen, um intellektuelle Spiele. ‚Ich selbst‘, mein je eigenes Leben, Sterben, meine Angst, mein Hoffen, mein Wahrnehmen hinter-treiben jedes ‚ideale System‘. Die existentielle Wirklichkeit ist der Maßstab für das Philosophieren! So entgleitet, in der ‚Wirklichkeit und Wahrheit‘, in ‚Krisis und Geltung‘, in ‚Reflexion und Verzweiflung‘25, – von Anfang an, – auch diese Form neuzeitlicher, (also abendländischer) Vernünftigkeit. Das weist so hinter die Neuzeit zurück. Schon Platon gibt bekanntlich dieser ‚geistigen Gestalt des Abendlandes‘ eine vernunftgemäße ‚Architektur‘. Die Neuzeit richtete sich, – und letztendlich die gesamte abendländische Geistesgeschichte, – nach diesen Vorlagen gründlich aus und folgerichtig ein. Aber schon ein zweiter, moderner Blick zeigt es. Nicht nur die SelbstBehauptung der Vernunft, also ihre theoretische und praktische Vernünftigkeit, die ‚logische‘ Form ihrer Geltung steht nun schon im Horizont der Neuzeit ‚in Wirklichkeit‘ auf dem Spiel. Sondern der Mensch, der ‚ganze Mensch‘ ringt um sich selbst, – ringt um seinen durch sich selbst bezweifelten Wert und Sinn, um seine existentielle Wahrhaftigkeit. Zu meist noch verdeckt, selbstsicher und überheblich. Die Folgen dieser Einsichten der Vernunft erschüttern, ergreifen und gestalten aber die Kunst, die Theologie und die Philosophie. Diese Irritationen bewegen nicht nur zu Aufbrüchen, 25

Dazu Gleixner (1999); (2003).

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zu mehr oder weniger geordneten Suchbewegungen, sondern auch umgekehrt zum Beharren, Verfestigen und Sichern der eigenen Perspektive, der vertrauten existentiellen Muster. Und das ist eigenartig genug! Auf eines sei hier eigens und ausdrücklich noch hingewiesen. Dieser phänomenologische Entwurf, ein in Szene setzen der wirklichen Existenz ist zwar ausdrücklich ein ‚Entwurf der Krisis‘; – es ist aber keine unangemessene ‚Dramatisierung‘. Kein Versuch schon die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie ‚historisierend‘ und ‚psychologisierend‘ existentiell einzutrüben, herunterzustimmen. Also, auf eine ‚düstere Moderne‘ hin zu relativeren. Natürlich – und das ist wohl unbestritten – gestaltet sich schon mit dem 17., dem 18. Jahrhundert offensichtlich ein zunächst erkenntnistheoretischer und ontologischer Paradigmenwechsel. Eine – wenn man es so nennen möchte – anthropologische Zurechtweisung, eine horizontale Einweisung der Metaphysik, der metaphysischen Theologie.26 Das hat die Philosophie(Geschichte) ‚von Grunde‘ auf verändert.27 Es entfaltet sich eine theoretische und praktische Grund-Form ‚immanenten Philosophierens‘, das sich jetzt ausdrücklich durch die Naturwissenschaften, genauer, durch einen naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriff flankieren lässt. Aber darüber hinaus, wird zugleich ‚untergründig‘, und sich selbst oft genug fehldeutend, auch der Horizont für ein existentiell wahrhaftig radikales Denkens, ein Bewusstsein leibhaften, endlichen Daseins freigelegt.28 Etwas das wir jetzt erst wirklich einsehen, weil wir es (als) notwendig (er)leben müssen. Wir Menschen dieser wirklichen Welt sind mit unserer Existenz jenseits der Linie der neuzeitlichen transzendentalen Vernunft. Diesen Gesamt-Horizont, seine komplexe Dynamik, die sich nicht bloß historisch, erkenntnistheoretisch, psychologisch fassen lässt, gilt es phänomenologisch soweit nach zu zeichnen, dass sich seine existentielle Anlage, seine endgültige Bewegung, als Reflexion und Krisis für die Moderne, für das Bewusstsein der Moderne zeigt. Diese Andeutungen mögen hier nun zunächst genügen. Eines scheint sich deutlich aufzudrängen. Weder historisch noch systematisch ist es dem philosophischen Denken wirklich möglich, sich selbst als eigenartige Form der 26

Dazu als erster Überblick: Wilhelm Weischedel (1983). „Ein bestimmtes Ideal einer universalen Philosophie und einer dazugehörigen Methode macht den Anfang, sozusagen als Urstiftung der philosophischen Neuzeit und aller ihrer Entwicklungsreihen.“ (Krisis/§ 5). 28 Ein eigensinniger Begriff des ‚Radikalen‘ bei Carl Friedrich von Weizsäcker: „Was aber heißt ‚radikal‘? Man fühlt es; kann man es sagen? Vergleichbare Radikalität habe ich in Europa nur noch an zwei Stellen gefunden: heiß moralisch-affektiv im Christentum, kühl real weltverändernd in der Naturwissenschaft und der Technik. Diese beiden Radikalismen appellierten elementar an mein Herz.“ von Weizsäcker (1983), S. 365. 27

III. Die existentielle Reflexion der Reflexion

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Existenz hinter sich zu lassen.29 Das Eigenartige, Ungewöhnliche, ja, Anstößige des Philosophierens ist ihr unaufhebbar existentieller Anfang, – der praktisch uneinholbar, immer schon war, – und ihre (damit verflochtene) unlösbare Krisis der Reflexion und Reflexion der Krisis. Auch das gilt es wiederum philosophisch aufzunehmen. Es ist nämlich so, dass diese philosophische Not in Wahrheit die wesentliche philosophische Tugend ist.30 Das Philosophieren selbst, mit all ihrer existentiellen Vergeblichkeit, ist ‚zuletzt‘ das Grund-Problem des Philosophierens. Und das Problem des Philosophierens ist endlich der unaufgebbare und unerreichbare Anfang als Auftrag,- und die Krisis der Philosophie. Die Krisis der Philosophie ist die philosophische Möglichkeit von Anfang an. Sie begleitet nicht nur sondern gestaltet damit die ‚Verendung des Abendlandes‘ in Form der Moderne, der Existenz der Moderne. Das Philosophieren reflektiert das Philosophieren. Immer wieder für uns das wesentliche Thema: Der Entwurf einer existentiellen Phänomenologie. Die Vor-Lage dazu findet sich in Husserls philosophischer Beunruhigung.

III. Die existentielle Reflexion der Reflexion Husserls reflexive, systematisch transzendentale Radikalität, existentiell geweitet, soll also den Blick auf das wirklich leibhaft-endliche Bewusstsein der Moderne leiten. Das ist keine Flucht ‚Rückwärts‘ um der Unübersichtlichkeit, der sprachlichen Verstiegenheit und lebensweltlicher Bedeutungslosigkeit des gegenwärtigen ‚postmodernen Philosophierens‘ zu entkommen. Auch wird keine philosophische Originalität angestrebt. (Es ist schon irgendwie bezeichnend, dass darauf eigens aufmerksam gemacht werden muss). Zunächst scheint eine Hinordnung zur Husserlschen Phänomenologie geradezu ‚direkt-einfach‘. Eine Hinordnung ist aber keine historische Zuordnung. Sie fordert, – gesetzt sie wird ernst genommen, – eine ‚kritische Distanz‘. Husserls Forderung keine der historischen Philosophien als eine ‚Philosophie endgültiger Form‘ anzuerkennen,31 ist selbstverständlich auch Aufforderung an das je eigene Denken selbst zu denken. Und zwar immer wieder aufs Neue die philosophisch schon vorliegenden Reflexionen einen Anfang zu setzen, radikal in die Frage zu stellen. Das phänomenologische 29 Die Form der Existenz ist überhaupt und grundsätzlich das philosophische Problem der Philosophie. 30 Und das ist die ‚Tugend‘ des neuzeitlichen und modernen Menschen selbst; nur auf den ersten Blick klingt es tautologisch: die Schwierigkeit des Menschen ist die Schwierigkeit des Menschen. 31 Vgl. z. B. EP.I/1. Vorlesung.

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Philosophieren entwirft, konstituiert in dieser Form immer einen vorläufigen existentiellen Entwurf. Einen, ‚ungewiss gewissen Grundhorizont‘ in dem ich mich selbst wirklich vorläufig bewege. Das ist ein selbstverantworteter Entwurf, der mich in der Form eines ‚liegt-mir-als-von-mir-konstituierter-zugrunde‘ selbst stetig herausfordert. Die Nötigung eines gründlichen Anfangens der Reflexion bleibt. Wenn somit keiner der historisch vorliegenden Anfänge des Philosophierens, einschließlich derjenigen die Husserl selbst vorlegt, als wahrer und problemloser Anfang genommen, übernommen werden darf, (wortwörtlich: sie kommen alle ‚in (die) Frage‘), – stehen wir bereits in der auch existentiell entscheidenden Wende hin zu der ‚wirklichen, subjektiven Wahrheit‘. Womit und auf welche Weise, in welcher Form und woraufhin hier und jetzt philosophisch anfangen? Ich selbst, endlich und unausweichlich eingebunden in Reflexion und Verzweiflung bin es doch, der ‚vernünftigen, unbedingtschlüssigen Antworten‘ ein für alle Mal im Wege steht. Also, so scheint es zunächst, – und das unabhängig von allen philosophiehistorischen Vorlagen, eine sehr ‚überschaubare‘, ja, philosophisch geradezu ‚schlicht anmutende‘ Ausgangslage. Vielleicht sogar zu unbedeutend um sich lange dabei aufzuhalten? Wirklich ein philosophisch ‚schlichtes‘ Thema! – Ein schlichtes Thema, das aber philosophisch alles andere als ‚problemlos‘ ist. Es führt uns mitten in die komplexe ‚praktische‘ Problematik des je eigenen Philosophierens und des eigenen Existierens. Kurz und knapp, ein Aufforderung sich der Unabweisbarkeit unserer Sinn-Not, sich unseren Grund-Fragen endlich zu stellen. Und nicht zuletzt führt es uns historisch mitten hinein in die allesamt Gescheiterten geltungstheoretischen Entwürfe, Vorstellungen, Systeme der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie. Das Entscheidende ‚meines‘ Philosophierens ist also ‚meine eigene‘ Wahrnehmung, – und, meine Wahrnehmung meiner Wahrnehmung. Überlegen wir vor diesem Hintergrund. Es bleibt mir und uns zunächst nichts weiter als die ‚Form des je eigenen Philosophierens‘, meiner systematischen Reflexion. Also, die Reflexion der existentiellen Reflexion der Reflexion. Eines scheint mir dabei als sehr klar und es ‚leuchtet mir in der Tat ein‘. Diese Form des Philosophierens verbietet von Anfang an, – vor jeder Festlegung auf diesen oder jenen ‚Inhalt‘, ‚Gegenstand‘, Subjekt, Objekt, Sinn, – jede Naivität des Selbstverständlichen. Seine Radikalität zeigt es in einer systematischen und historisch unduldsam strengen Selbstkritik. Eine nicht zur Ruhe kommenden Gestalt des Denkens. Diese Selbstkritik, diese Kritik ‚meiner‘ wirklichen Wirklichkeit hat die Form der ‚Reflexion der Reflexion‘. Diesen Formbegriff des Philosophierens gilt es nun auch im Allgemeinen, im phänomenologisch Wesentlichen ‚herauszulesen‘ und ‚wahr zu machen‘ durch die existentielle Handlung, die Haltung der Refle-

III. Die existentielle Reflexion der Reflexion

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xion der Reflexion. Also nicht nur historisch, historisierend nach-denkend; sondern wirklich systematisch, phänomenologisch ‚konstituierend‘. Es ist die ‚Institution‘ Reflexion, die sich als die Form der Wirklichkeit der Existenz selbst begreift. Diese kritische Anfangssituation in die der Philosophierende sich gestellt sieht, in die er sich selbst nötigt, die er sich als notwendige Form entwirft, kann nicht radikal genug gedacht werden. Das ist ganz unabhängig von dieser oder jener Frage, die als philosophische Herausforderung sich aufdrängt. Sie gestaltet sich als eine nicht-nachlassende Reflexion. Eine eigenartige Möglichkeit, die unwillkürlich in die endlich wirkliche Wirklichkeit drängt. Das Philosophieren ist, wie immer es durch die verschiedenen Schulen und Richtungen gedacht wird, (nennen wir es mit einem Begriff der Psychologie), eine ausdrückliche Form des ‚dissoziiert sein‘. Im wahrsten Wortsinne der Ausdruck eines Existieren Müssens und Dürfens in den jetzt grundsätzlich unentscheidbaren Zonen des erschöpften Abendlandes. Es ist eine Existenz, die reflektiert. Und so um ihre, durch die Vernunft uneinholbaren Existenzbedingungen weiß. Das Philosophieren ist nun radikal. Es ist nicht nur ein gelegentliches Heraustreten aus einem unmittelbaren ‚naiven‘ Ein-gebunden-sein (weil es mein Beruf, meine Berufszeit als Philosoph so mit sich bringt). Sondern, das theoretische Betrachten, einschließlich des ‚Betrachten des Betrachters‘ selbst, als unumkehrbare, ‚praktische‘ Lebenshaltung eines Menschen der Moderne. Eine derart radikal-selbstbezügliche Reflexion, die sich als existentielle Möglichkeit erfasst, ist angelegt auf eine wirklich verzweifelte Hinterdenklichkeit. Das unterscheidet sie von jeder neuzeitlich-transzendentalen Erkenntnistheorie oder Ontologie der Vernunft. Dass hier keinem (wie es in manchen Philosophenkreisen genannt wird) ‚modisch-altmodischem Irrationalismus‘ das Wort geredet wird, sei ausdrücklich unterstrichen. Genauso wenig ist diese ‚radikale existentielle Reflexion‘ ein bloßer Ausdruck einer tiefenpsychologisch fassbaren Stimmung, also beispielsweise, einer gedrückten, depressiven Gestimmtheit, einer persönlichen Miss-Stimmung. Diese verzweifelte Hinterdenklichkeit wird geleistet und selbstverständlich als Geleistete ‚entdeckt‘ durch ‚transzendental-existentiale‘ Untersuchungen. Das ist ganz und gar eine ‚endliche‘ Transzendentalphilosophie, die aber nicht ‚idealistisch begriffen‘ werden darf. Hier drängt sich ein bekanntes, in unterschiedlichen Fassungen diskutiertes Problem vor. Ein Problem, dem sich jede auf radikale Reflexion angelegte Reflexion zu stellen hat. Es benennt eine sehr entscheidende Herausforderung. Es darf nicht nur als eine Gestalt eines erkenntnistheoretischen ‚Glasperlen‘-Spiels abgetan werden. Schon allein weil es ‚mich selbst‘ in Wahrheit und wahrhaftig existentiell bedrängt. Und zwar als eine Frage:

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C. Krisis und Reflexion

Braucht und führt diese vorgestellte phänomenologische Fassung der Moderne als Reflexion der ‚existentiellen Reflexion und Krisis‘ nicht in eine theoretisch und praktisch immer weiter ausgreifende, gleichsam uneinholbare, sinnlose Reflexion? Eine letztendlich bodenlose Iteration. Die Frage stellt sich in allem Ernst! Ist etwas philosophisch so Unlösbares und also so demotivierendes, in allem Ernst überhaupt praktisch vorstellbar? Im Sinne von, einem zeitlich und logisch unentwegten philosophischen Nach-Folgen dieser nicht zur Ruhe kommenden, verzweifelten Hinterdenklichkeit? Eine erschreckende Aussichtslosigkeit, die den Menschen doch nun endgültig in eine theoretische und praktische Hoffnungslosigkeit stürzen muss. Ein Versuch konsequent wahrhaftig zu sein, der nun wahrlich teuer bezahlt werden muss. Alles in allem, eine wirklich radikale Um-Stellung, eine schlagartig vollzogene, rücksichtslose Wende gegen sich selbst? (‚Her mit dem Kelch, ich trinke was ich muss‘)32. Aber, – zu welchem Zweck? Das ist doch eine Wende letztendlich ins Nichts, in ein Grundloses, Sinnloses, Lebensfeindliches. – Eine Einsicht, die sich Letzten Endes nihilistisch so fassen muss: ‚Ich hab mein Sach nun wahrhaftig auf Nichts gestellt‘. Das also nenne ich die ‚existentielle Form des Philosophierens‘. Sie begrenzt das sich absolut begreifende Selbst-Bewusstsein der Neuzeit; und gestaltet zugleich die Inszenierung der Existenz der Moderne. Der Philosophierende kann sich jetzt selbst als ‚philosophierenden, konkreten Menschen‘ nicht mehr ausweichen. Auch Fragen der Erkenntnistheorie, der Ontologie, der Metaphysik, und vor allem auch der Kunst und der Theologie können in der Form der Reflexion der Reflexion nicht mehr als Fluchtpunkte der Existenz dienen. Entscheidend ist dabei aber nicht der (zufällige) biographische Anstoß, der diese Form der Reflexion als existentielle Grundlage entdecken lässt. Das alles muss z. B. daher nicht die Gestalt einer grell sich aufdrängenden praktisch relevanten Entscheidungsnotwendigkeit annehmen. Im Sinne von: Es gibt nun für mich in dieser meiner Situation nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord;33 auch nicht eine ‚blitzartig‘ einfallende theoretische Einsicht in eine subjektive, als tragische entdeckte Situation usw. Es kann natürlich so sein, – aber eben nicht zwangsläufig. Ganz im Sinne etwa von Karl Jaspers: „Die Krisis hat ihre Zeit. Man kann sie nicht vorwegnehmen und sie nicht überspringen. Sie muss wie alles im Leben, reif werden. Sie braucht nicht als Katastrophe akut erscheinen, sondern kann in stillem Gang, äußerlich unauffällig, sich für immer entscheidend vollziehen.“34 Entscheidend ist, dass sich auch in dieser Form der Reflexion der 32 33 34

Christine Lavant (19566), S. 150. Albert Camus (2000), S. 11. Jaspers (1959), S. 586.

III. Die existentielle Reflexion der Reflexion

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Reflexion ‚meiner‘ Existenz (meiner Biographie) eine ‚transzendentale Notwendigkeit‘ vorstellt. Durchaus eine eigenartige Notwendigkeit, die von mir nicht willkürlich ‚gesetzt‘ werden kann. Sondern sich während der Entfaltung der phänomenologischen Beschreibungsreihen ‚von mir aber philosophisch denken lässt‘. An dieser Stelle reicht (wie immer vorläufig, ‚phänomenologisch großflächig vor-blickend) eine kleine theoretische Übersicht. Die Reflexion der Reflexion bleibt bei aller existentiellen Relevanz grundsätzlich eine wirklich ‚logisch‘ Reflexion. Sie entfaltet sich ganz im Sinne ihrer transzendentalen Potenz allerdings als äußerste Möglichkeit des Bewusst-Seins, das sich als eine existentielle Wirklichkeit gebunden weiß. In dieser existentiellen Wirklichkeit der äußersten Möglichkeit abendländischen Mensch-Seins konstituiert die Reflexion der Reflexion das ‚wirkliche, grundsätzlich lebensweltliche, leibhafte Subjekt der Moderne‘. Und das ‚natürlich‘ ganz ausdrücklich, weder in einem idealistischen, historistischen oder positivistischen Sinne. Dieser, immer wieder eingestellte Hinweis darf nicht als ‚redundant‘, als den Leser absichtlich ermüdend abgetan werden. Das nennt eine Grund-Linie dieser systematischen Arbeit. Das ‚Subjekt der Moderne‘ ist weder psychologisch noch philosophisch mit dem ‚neuzeitlichen Individuum‘ gleichzusetzen. Nicht weil sich diese oder jene historische, soziale, gesellschaftliche Faktenlage verändert hätte. Beispielsweise, der Aufstieg des bürgerlichen Menschen; Aufklärung als philosophisches und literarisches Projekt; die Entdeckung der Geschichte; technische und wirtschaftliche Veränderungen; die Entfaltung der strengen Wissenschaften; mit einem Wort, weil es eben ‚Fortschritt‘ gebe.35 Das Entscheidende ist vielmehr, dass das ‚Subjekt der Moderne‘ sich selbst wirklich endlich, wirklich glaubhaft konstituiert. – Theoretisch und praktisch-existentiell in der Form der Reflexion der ‚Reflexion und Krisis‘. Erst diese Reflexion der Reflexion begreift in Wirklichkeit sich selbst jetzt, sich selbst und sein intentional erfasstes Korrelat, als unüberbietbar ‚endlich leibhaft radikal‘. Und all das andere das den Diskurs der Moderne offensichtlich bestimmt: die Wissenschaften, die Wirtschaft, das bürgerliche Selbstverständnis, die so genannte Säkularisation usw. usf., gruppieren sich um die Wahrhaftigkeit einer so existentiell erfahrenen und sich einführenden reflexiven Reflexion.

35 Ohne im Übrigen den Beitrag dieser ‚Einbrüche‘ zur Gestalt des Bewusstseins der Moderne zu leugnen.

D. Reflexion und Verzweiflung I. Die leibhafte Selbstwahrnehmung Eine phänomenologische Arbeit hat, immer im Blick auf die Erfahrung,1 dieses anfänglich gerichtete, existentielle Philosophieren geduldig zu gestalten. Und zwar so, dass sich der selbstverständliche ‚Denkhorizont‘ (ein anderer Begriff, ein anderes ‚Bild‘ steht nicht zur Verfügung) als WirklichWirklich ‚bildet‘. Wortwörtlich, heraus-bildet. Weder idealistisch fingiert noch positivistisch verkürzt. Dieser ‚Denkhorizont‘ ist jetzt mein, unser, von mir, von uns, Tag für Tag erfahrener ‚Lebehorizont‘. Dieser hier und jetzt als Wirklich(keit) erfahrene, eingebildete Lebehorizont ‚reflektiert‘ zugleich das Bewusstsein der Moderne. Natürlich ist damit ein mögliches Scheitern eines sich so in die Wirklichkeit hinein entwerfenden, anfänglichen Philosophieren nicht wirklich ausgeschlossen. Beispielsweise wäre es durchaus möglich, dass ich mich nach wie vor theoretisch und praktisch nicht zu recht finde; vielleicht sogar mich von mir selbst abwende und so die Wirklichkeit der Reflexion tatsächlich verenge.2 Jeder ‚dramatisierende Ton‘ ist hier zu vermeiden. Es geht nicht um ‚Eigentlichkeit‘ oder ‚Uneigentlichkeit‘, nicht um Schuld oder Erfüllung, nicht um Bewältigung oder Scheitern, nicht um ‚man‘ oder ‚Selbstsein‘. Überhaupt hat diese phänomenologische Fassung nichts mit einer in Wirklichkeit geschichtslosen Existenzphilosophie, nichts mit einer Philosophie des ‚einsamen, heroischen Individuums‘ zu tun. Auch bleibt jeder Idealismus ausgeschlossen. Die wirkliche Geschichte ist für uns – wenn auch systematisch – immer im Blick. Diese von Anfang an auf den existentiellen Anfang hin gerichtete phänomenologische, systematische Perspektive konstituiert ‚wirklich schauend‘ ein komplexes In-, Mit- und Gegeneinander von neuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte im Allgemeinen, abendländischer Religionsgeschichte und der Geschichte der Philosophie im Besonderen. Das ist eine Wirklichkeit, genauer Wirklichkeiten, die ich jetzt ‚rückblickend‘ konstituiere. Also in einander verflochtene Gestaltungen, Entwürfe, ‚Spiegelungen‘ wirklicher existentieller Reflexion der Reflexionen. So ist dieser für das moderne, und 1 Es sind Erfahrungsreihen, die selbstverständlich ‚theoretische Muster‘; ‚theoretische Vorstellungen‘ einschließen. 2 Dazu L. Binswanger, Band 4, (1994).

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in einem rückschauenden Entwurf schon für das neuzeitliche Denken so bedeutsame Paradigmenwechsel nicht ausschließliche Folge einer ‚historischlinearen‘ Entfaltung des Gedankens der Philosophie. Am allerwenigsten in seiner Deutung als ‚Liebe zur Weisheit‘. Allerdings bleibt die Reflexion dieser vielgestaltigen Reflexion, mit ihrer konstitutiven Potenz, die notwendige Leistung des Philosophierens. Theologie und Kunst (unbestritten in ihrer anthropologischen, gestaltenden Bedeutsamkeit) erschließen, oder, ‚entbinden‘ letztendlich die ‚Form der Moderne‘ erst in dieser ‚philosophisch-herstellenden‘ existentiellen Reflexion.3 Von hier aus – eben der existentiellen Reflexion der Reflexionen – gestaltet sich nämlich zirkulär ein wirklicher, existentieller Anfang. Das ist es, was sich ‚mir selbst‘ als Gestalt und Problemlage der Philosophie der Moderne ‚aufdrängt‘. Aufdrängt, als Krisis und Geltung; als Reflexion und Verzweiflung.4 Nur um nicht fehl gedeutet zu werden ein kleiner Nachtrag. ‚Verzweiflung‘ meint hier nicht die Gestaltung, den Ausdruck eines bedrängenden Gefühls, beispielsweise der ‚Sinnlosigkeit‘. Also, eine psychische, ‚zufällige‘ Disposition seelischen Leidens, die therapeutisch ‚repariert‘ werden sollte und möglicherweise könnte. Sondern benennt die notwendige transzendentale Form ‚existentialer Ausweglosigkeit‘, die in der Reflexion zu einer letztmöglichen existentiellen Umkehr, zu einem existentiellen Selbstverständnis zwingt. Diese Form der ‚Verzweiflung‘ ist also das folgerichtige Ergebnis, ist ‚die Summe‘ der radikalen abendländischen Bedenklichkeit. Ein ‚existentieller Prozess‘, der letztendlich notwendig sich selbst kritisch begreift;5 und sich erst so in seiner radikalen wirklichen Transzen3

Vgl. z. B. „Selbsterfahrung ist immer auch Selbstverdoppelung, da das Subjekt der Erfahrung zugleich deren Objekt ist. Max Klinger hat diesen Topos abendländischen Denkens in seinem Zyklus Vom Tode. II. Teil in das Bild des nackten Philosophen gefasst, der Welterkenntnis nur durch Selbsterkenntnis in seinem Spiegelbild ertasten kann. Dagegen hat Henri de Toulouse-Lautrec das Thema in seiner Photomontage von Maurce Guibert ganz anders paraphrasiert: Monsieur Toulouse malt Monsieur Latrec-Monfa (1890) ist sie betitelt und zeigt in der Verdoppelung der Person die Spaltung in den Maler und in den Aristokraten, der ihm Modell sitzt. Was bei Toulouse Lautrec ein gelungener ironischer Kommentar auf das Problem der Ich-Spaltung ist, war vier Jahre vorher, 1886, in Robert Loise Stevensons Erzählung ‚The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr Hyde in der Form eines klassischen Schauerromans gegossen worden, in dem die Motive des seit der Antike bekannten Doppelgängertums und solche faustischer Erkenntnisexperimente einflossen.“ Reinhard Steiner (1999), S. 14. 4 Vgl. dazu Martin Buber: „Sie aber, die Besinnung auf das Abgefallen-sein, auf das Entwirklichte und auf das wirklich Ich, in den Wurzelgrund sich versenken lassen, den der Mensch Verzweiflung nennt und aus dem die Selbstvernichtung und die Wiedergeburt wachsen, wäre der Anfang der Umkehr.“ Buber (19744). S. 74. 5 Friedrich Schiller in einem Brief über die Philosophie Kants: „Es erschreckt mich gar nicht, zu denken, dass das Gesetz der Veränderung, vor welchem kein

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D. Reflexion und Verzweiflung

dentalität bewahrheitet. Deutlich wird nämlich, ‚meine‘ Welt als meine Vorstellung, ist wortwörtlich tatsächlich ein ‚Bewusstseinsstrom‘. Komplex, subjektiv und objektiv zu gleich. Mehr denn je! Aber nicht im Sinne eines ‚naiven‘ transzendentalen idealistischen Denkens einer vorgestellten ‚reinen‘ Vernunft. Sondern leibhaft-existentiell. Die wirkliche Vorstellung einer ungeheuren, sich auch im Einzelnen widersprechenden, strömenden Vielfalt ‚menschlicher Möglichkeiten‘. Sachlagen, Gestalten, Gedanken, – Wirklichkeiten, die sich durchkreuzen, bedrängen können, möglicherweise widersprechen, auch verstärken und optimieren. – Und gerade so eine konstitutive Potenz entfalten. Wobei natürlich auch dasjenige mit dazu gehört, was die ‚aufgeklärte Neuzeit‘ als ‚irrational‘ zurückweist, und (auf die eine oder andere Weise) rational, vernünftig zu ‚bewältigen‘ sucht. Das also ist die wirkliche Lebens-, Denk- und Fühllage ‚zwischen‘ Neuzeit und Moderne. Eine lebensweltliche Lage, die natürlich auch heute noch wirkt, ohne zuerst und zumeist tatsächlich gesehen, wesentlich geschaut zu werden. Die ‚aufgeklärte Vernunft‘ begreift sich selbst immer noch als: ‚Ich denke – ich bin‘ (zumindest als Ideal), und behauptet sich eindringlich so als absolute Wirklichkeit. Sie reflektiert dieses Begreifen sogar in den Wissenschaften; allerdings ohne auf das darin verborgene ‚theologische‘ Behaupten zu achten; also immer noch das Selbstverständnis als die invariante, a-historische Bedingung der Möglichkeit theoretischer und praktischer Geltung. Aus der Perspektive der Phänomenologie ist das eine hilflose Behauptung, ein idealistisches Fingieren des Absoluten der Vernunft.6 Diese Figur des vermeintlich ‚absoluten‘ Selbst-Denkens und ‚unbedingten‘ Gestaltens bleibt nämlich nicht restlos geschlossen, bleibt nicht unbedingt fraglos stimmig. Aufdringlich werden Bruchstellen, erkenntnistheoretisch, ontologisch, metaphysisch. Es erfasst den Philosophierenden eine eigenartige, ‚von ihm selbst‘ wirklich wahrgenommene, beängstigende Beunruhigung. Immer aufs neue bedrängt durch eine aufdringlich philosophische Erfahrung, dass ‚ich selbst als reflexive Vernunft‘ über meinen subjektiven, – durch mich scheinbar ‚durch und durch vernünftig‘ gefassten, – Zeit/Raum nicht wirklich existentiell vor- und hinauskomme. Knapp zusammengefasst. Die ‚reine Vernunft‘ verfehlt vor ‚meinen‘ Augen meine wirkliche Existenz. Dadurch ist schon unübersehbar die Problemlage der Moderne, korrelativ, des ‚Bemenschliches und kein göttliches Werk Gnade findet, auch die Form dieser Philosophie, so wie jede andere, zerstören wird; (. . .)“. Dazu auch: Emil Staiger (1967), S. 65 ff. 6 Eugen Drewermann deutet das aus einer tiefenpsychologisch angereicherten theologischen Perspektive: der Mensch versuche das Erleben seiner radikalen Überflüssigkeit und Vergänglichkeit ohne Gott zu beruhigen durch die Herstellung einer „künstlichen Absolutheit“. Drewermann (19876), S. LXXVIII.

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wusstseins der Moderne‘ vorgezeichnet. ‚Problemlage‘ meint hier, kritische Perspektive, existentielles Selbstverständnis, wirkliche Eigenart. Dieses ‚Selbstverständnis der Moderne‘, das sich mit der Reflexion der Phänomenologie wirklich vorstellt, ist nicht eine bloße ‚Verbreiterung des neuzeitlich philosophischen Blicks‘. Etwa, ein Hinzufügen neuer Inhalte, also, Technik, Wirtschaft, Kunst, Kommunikation, Formen des Religiösen usw. Als ob innerhalb des ‚gültigen Traums der neuzeitlichen Vernunft‘ bloß ‚unvernünftige‘ oder vernünftig zu machende Inhalte ausgetauscht, ergänzt werden müssen, sollen und können. Diese phänomenologische Entfaltung gestaltet sich ‚wesentlich‘ anders. Wenn man so will wirklich radikaler. Sie umreißt einen Paradigmenwechsel. Die Vernunft selbst entwirft die Existenz als eine wuchtige Bestimmung, als eine ‚unhinterdenkbare Erfahrung‘, die sich nicht mehr vernünftig aufheben lässt. Und nun sogar die Vernunft zwingt sich endlich neu und wirklich existentiell zu reflektieren. Die Vernunft selbst entwirft in ihrer Not eine ‚zwingende existentielle Reflexionsschleife‘. Das ‚neue‘ Philosophieren beansprucht so ‚aus wirklich gutem Grunde‘, zunehmend existentiell radikalisiert, diese systematisch und historisch in-sich-selbst-genügsam behauptete Bewegung der Vernunft begrifflich-wirklich zu ‚fassen‘. Und auf diese Weise aufzubrechen, endlich zu klären, und so als ‚einsichtig stimmig‘ wirklich zu entfalten. Und zwar, – der vorgestellten Daseins-Logik nach, – ‚selbst‘ in einer ausschließlich, ausnahmslos auch praktisch selbst-bestimmten Weise existentieller Wirklichkeit.7 Das beschreibt diese ungeheure, von Anfang an problemtiefe Spannung, die das Philosophieren der Moderne wesentlich bestimmen wird. Eine Spannung, in und mit der sich das abendländische Menschsein als Gestaltung der Reflexion und Verzweiflung selbst als wirklich endgültig bestimmt. Und zwar ganz eigenartig, auf ‚Transzendenz‘ als einer absoluten Wirklichkeit hin endgültig geschlossen; zugleich aber geltungstheoretisch, existentiell transzendental ‚offen‘. Wieweit das Sinn gibt oder nicht, ist damit nicht entschieden. Wir lesen den ‚Text der Neuzeit‘ also neu. Schon die phänomenologische Einsicht in diese neuzeitliche Problemlage, ihre reflexive Positionierung in Form einer existentiellen, transzendentalen Reflexion der Reflexion, verändert für uns den neuzeitlichen Fragehorizont radikal. Es geht um nichts weniger als um die je eigene existentielle Selbstbestimmung. Eine Verwirklichung durch die Aufhebung der neuzeitlichen transzendentalen Vernunft. Wenn man so will, die wirkliche Wirklichkeit der Existenz reflektiert die Aufklärung, – und nicht umgekehrt. Die Bedingungen für eine Konstitution 7

Hier verbindet sich unauflöslich die theoretische und praktische Vernunft.

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des Selbst-Bewusstseins sind jetzt wirklich und wahrhaftig von einem existentiellen Grunde aus konkret erfahrbar, und damit keine spekulative Konstruktion. Diese Veränderungen dürfen (das sei noch einmal ausdrücklich unterstrichen) nicht mit einer bloß theoretischen Erweiterung der erkenntnistheoretischen Perspektive verwechselt werden. Das theoretisch und praktisch konstituierende ‚wirkliche Leben‘, also ‚ich selbst‘ und ‚meine intentional mögliche Welt‘, wird sich in der Form einer sich unentwegt und ausweglos ‚endlich radikalisierenden Reflexion‘ als ‚Geltung-Herstellende‘, als ‚Sinnstiftende‘ zum Rätsel aller Rätsel. Und das ‚durchschlagend‘, ‚ergreifend‘ bis auf den heutigen Tag. Nicht nur Husserl, existenz-phänomenologisch gelesen, führt das vor. Wie eigenartig! Es sind also philosophische Klärungen, die sich selbst philosophisch gefährden. Wahrhaft eine Selbstgefährdung. Eine Selbstgefährdung, die mich in meiner wirklichen, fragilen Ordnung zeigt und endgültig entfaltet. Auch das macht mich darauf aufmerksam. – Das abendländische Spiel der Gedanken, die ‚ideale‘ Herrschaft der Vernunft hat ausgespielt. Gerade diese ‚notwendige‘ Selbst-Gefährdung durch meine existentielle Reflexion entwirft also nicht nur meine Wahrhaftigkeit sondern auch unsere abendländische Wahrheit. So sind auch die idealen Vorstellungen einer ‚reinen‘ theoretischen, praktischen und ästhetischen Vernunft nicht mehr selbstverständliche Lösungen. Nicht einmal mehr für einen historischen Blick. Diese Vorstellungen lenken den Blick von mir selbst ab. Und dennoch bieten sie die Möglichkeit einer notwendig herausfordernden konstituierenden Wahrnehmung auf die Problemlage des neuzeitlichen Philosophierens, – und damit der neuzeitlichen Existenz. Diese ‚historischen Vor-Lagen‘ reflektieren die systematische Erfassung meiner und unserer intentionalen Leistung. Das bestimmt nun den Einsatz der phänomenologischen Reflexion. Das meint eine Reflexion, die sich selbst natürlich als wirkliche Reflexion verhält und sich der eigenen Arbeit, der Reflexion und Verzweiflung, ausdrücklich existentiell aussetzt. Der Entwurf der Geschichte als meiner Leistung von der ich mich bestimmen lasse, gestaltet sich als (oder ‚ist‘) Ausdruck einer ‚Feedbackschleife. Illustrieren wir uns das mit einer zugegeben sehr abstrakten und sehr allgemeinen phänomenologischen Beschreibung. Und zwar mit einem möglichen Modell, der ‚wesentlichen, leitenden Intention‘ dieser neuzeitlichen philosophischen Denkarbeit.8 Diese Denkarbeit, die wir jetzt im Horizont der Moderne entwerfen, entwerfen wir selbst als einen ‚entwerfenden Entwurf‘. Also, eine Denkarbeit, die nicht nur ‚in‘ der Neuzeit, innerhalb eines schon vorhandenen historischen Horizonts stattfindet, sondern die Neuzeit erst als Form, als Einstellung eines bestimmten Bewusstseins konsti8

Dass ein Beginn nicht den Anfang konstituiert, sei eigens vermerkt.

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tuiert.9 Diese Konstitutionsleistung wird als Entfaltung ausdrücklich reflektiert. In Frage steht die ‚Logik der neuzeitlichen Denkbewegung‘. Die natürlich auch möglichen historischen, wissenssoziologischen, biographischen, psychologischen Erklärungen bleiben hier zweitrangig. Das ‚neuzeitliche Philosophieren‘ beschäftigt uns ausschließlich systematisch. Es behauptet sich, und kommt darin überein als ‚die‘ selbst bestimmte Arbeit der Vernunft an der Frage nach den ‚letztmöglichen‘, unbedingten Gründen. Das gilt, seit ihren ersten Entwürfen im 17. Jahrhundert bis hin zu Kant und den deutschen Idealisten. Und trotz aller sehr großen Unterschiede in Gestaltung, Methode und Ausrichtung. Ausgerichtet auf die Möglichkeit einer einsichtig-rationalen, ‚ausschließlich vernünftigen‘, transzendentalen Fest-Stellung. Das ist der Gedanke der a priori geltenden Strukturen des Erkennens. Das ist im Übrigen nicht nur eine mögliche Ausrichtung, sondern zugleich die zuerst und zumeist verdeckte Voraussetzung dieser Denkarbeit. Nur so, in dieser ‚transzendentalen Form‘ einer ganz und gar selbst-verständlichen Aufklärung, begriffen als eine entwerfende Kritik und als ein Ausschlussverfahren zugleich, sei die Möglichkeit und Wirklichkeit, die Geltung und Wahrheit des Wissens, der Wissenschaft selbst vorstellbar. Letztendlich und vor allem aber auch die Zu(recht)weisung der metaphysischen und theologischen Ausrichtung des Menschen als (Selbst) Erkennenden.10 Das sei der Entwurf des jetzt einzig noch möglich vorstellbaren legitimen Denk-Raum des Menschen. Eine wortwörtliche Arbeit der Reflexion der menschlichen Vernunft. Alles was den (bürgerlichen) Menschen vernünftigerweise ‚anzugehen hat‘ könne so geklärt werden. Also, Wissenschaft, Moral, Kunst und Religion. Das sind eigenartige Versuche, ‚Experimente‘, ‚horizontale‘ Formen des Absoluten zu entwerfen. Schon das entdeckt den neuzeitlichen, transzendentalen Idealismus als Gestalt ‚säkularisierter Theologie‘. Dass es schon hier, von Beginn an, nie nur um eine bloße Erkenntnistheorie geht, sei also aus9 „Die Rede von Einstellungen weist offenbar auf das jeweilige Subjekt hin, und demgemäß sprechen wir vom theoretischen oder auch erkennenden Subjekt, vom wertenden und praktischen Subjekt.“ Ideen II./S. 2. 10 Das logische, ethische, ästhetische Subjekt sei nun ein Erstes, „hinter das nicht mehr zurückgedacht werden kann. Es hat den Charakter der Autonomie, steht in sich selbst und begründet den Sinn des geistigen Lebens.“ Romano Guardini (1950), S. 52 ff. Vor allem auch in der Literatur, die als ‚Sturm und Drang‘ in die Geschichte eingegangen ist. Vgl. dazu z. B. Jochen Schmidt: „Der ganz aus sich heraus schaffende autonome Künstler Prometheus ist Exponent der Menschheit, die sozial, politisch und geistig nach Selbstbestimmung strebt. Das Autonomiekonzept signalisiert die Loslösung von überkommenen Autoritäten. Es gilt der Emanzipation aus nicht mehr plausiblen Abhängigkeiten – von poetischen Regeln und literarischen Vorbildern wie von ständischen Grenzen und religiösen Fixierungen.“ Schmidt (1985/Bd. 1), S. 264.

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drücklich unterstrichen.11 Gerade das wird es uns erleichtern daran ‚phänomenologisch anzuknüpfen‘ und existentiell neu zu gestalten oder zu verwerfen. Denken wir uns phänomenologisch in die wesentliche Gestaltung neuzeitlicher ‚Wissenschaft‘ ein. Lassen wir dabei wiederum alle Unterschiede zwischen den Vorstellungen der einzelnen Schulen, Richtungen und Denkern, – die bekanntlich nicht gerade gering sind, – außen vor. ‚Transzendentales Philosophieren‘, für uns nun phänomenologisch ausgezeichnet mit einem geradezu naiven Vertrauen in die Vernunft, beansprucht bis heute zumindest eines. Nämlich eine ‚reine Grundlagenforschung‘ zu sein. Also ein ‚radikal-vernünftiges‘ Denken, das ‚wirklich absolute Wahrheiten‘ a priori als Fundamentalbedingungen der Wissenschaften vorstellen, – möglicherweise sogar ‚herstellen‘ kann. Es sei durch kein empirisches Wissen, keinen tradierten Glauben, keine metaphysischen oder theologischen Versicherungen, keine Kunst substituierbar. Vielmehr Umgekehrt sei das transzendentale Denken die wortwörtlich letztmögliche Ver-Sicherung aller anderen Weisen der Welt- und Selbstzuwendung. Dadurch verändert sich die Form der Wahrnehmung der Anthropologie, der Psychologie, der Theologie und selbstverständlich der Philosophie selbst. Als Bild. Die ‚wesentliche Sehschärfe‘, die Reichweite, die Möglichkeiten, die Wahrnehmungs-Grenzen des Menschen geraten selbst in den Blick. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Veränderungen ist auf mögliche Fehldeutungen eigens hinzuweisen. Als erstes, ‚absolute reine‘ oder ‚unbedingte Wahrheit‘ meint hier und im Folgenden, ‚reine theoretische‘ und ‚praktische‘ Wahrheiten in ausschließlich transzendental selbst-verständlicher Bedeutung. Jede theologische Konnotation in einem engeren Sinne führt so in die Irre. Die Frage, ob diese Vorstellungen nicht säkulare Sedimente theologischer Bilder sind, bleibt davon natürlich unberührt. Dieser ‚Traum der Vernunft‘, (den Husserl bis in seine Spätphilosophie hinein geträumt hat), versteht sich selbst ohne Abstriche als den einzig möglichen sinnvollen Text. Dieser ideale Eigen-Sinn liegt der neuzeitlichen Vernunftgeschichte zugrunde. Das scheint also, – neuzeitlich gedacht, – so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Diskussion bedarf. Ontologisch geltungssicher sind diese transzendentalen Vor-Stellungen der begriffenen Wirklichkeit(en) nicht trotz, sondern gerade wegen der reflexiv-einsichtigen Form der allgemein-menschlichen Vernunft. Und das, daran lässt man kei11 Beispielsweise, – ein Blick auf Schelling. In der Wendung hin zu einer unbedingten Vernunft liege „die letzte Hoffnung zur Rettung der Menschheit, die nachdem sie lange alle Fesseln des Aberglaubens getragen hat, endlich einmal das was sie in der objektiven Welt suchte, in sich selbst finden dürfte, um damit von ihrer grenzenlosen Ausschweifung in eine fremde Welt – zu ihrer eigenen, von der Selbstlosigkeit – zur Selbstheit, von der Schwärmerei der Vernunft – zur Freiheit des Willens zurückzukehren.“ (Sämtliche Werke, Bd. 1; Stuttgart 1856, S. 339).

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nen Zweifel, ohne metaphysisches Wenn und theologisches Aber. Darauf läuft alles hinaus. Vernünftig ist allein die Vernunft. Nur am Rande: Das verbindet die neuzeitlich-idealistische mit der ‚klassischen‘ transzendentalphänomenologischen Sicht.12 Das macht darauf aufmerksam, wie neuzeitliches und modernes Denken durchaus ineinander greifen (können). Es ist also schließlich und endlich keine Wahrheit ‚jenseits‘ der menschlichen reinen Vernunft. Die ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ Grenzen des (Da)Seins sind (in und mit ihrer Rationalität und in ihrer möglichen Irrationalität) transzendental, ausschließlich vernünftig ‚interpunktiert‘. Eine theologische oder metaphysische ‚Transzendenz‘, einschließlich der An-Name: ‚unbedingter Gott‘; oder, ein ‚transzendentes Meinen‘ im Wahr-Nehmen der Welt; oder der Anmutung des ‚ästhetisch Schönen‘ werden genauso transzendental bedeutungsvoll ‚aufgehoben‘, ausdrücklich, nicht ‚aufgelöst‘, wie der je eigene biographische aufdringliche Seelenbegriff.13 Wie immer wir im Einzelnen dazu stehen mögen, eines kann nicht geleugnet werden. Das ist insgesamt, ein beeindruckender philosophischer Entwurf. Wortwörtlich der ‚große Entwurf‘, die ‚große Erzählung‘ der Neuzeit. Vorstellungen, die den universitären Philosophiebetrieb immer noch sehr beschäftigen. Es kann aber wohl kaum geleugnet werden. Trotz dieser geltungstheoretisch ‚geschlossenen Anlage‘ der neuzeitlichen Philosophie bleiben wesentliche Grund-Fragen spürbar offen. Grundfragen, die die transzendentalen Vor-Stellungen selbst herausfordern sollten. Da ist zunächst die, das nachkantische Philosophieren bereits bedrängende, vermeintlich erkenntnistheoretische Frage nach dem ‚was‘ das ‚Ding an sich‘ denn nun wirklich und ob es überhaupt sei. Schon die bloße historische Nach-Zeichnung dieses Diskurses führt das Philosophieren ins Freie. Aber erst die systematische, phänomenologische Frage: ‚aus welchem Grunde‘ das nach-kantische Philosophieren sich von dieser Frage her gefordert sieht, (und sich in der Bestimmung der Antwort ‚transzendental überhebt‘), öffnet den Horizont in die Moderne. Damit erst werden die wirklichen, die existentiellen Grenzen der Vernunft aufgezeigt. In der allgemeinen Vorstellung der neuzeitlichen Vernunft, (einer nicht weniger als ‚überheblichen‘ geltungstheoretischen Selbstverortung des neuzeitlichen Denkens), bleibt für den ‚ganzen Menschen‘ fraglich, welches philosophische und theologische Selbst- und Weltverständnis ‚letztendlich‘ denn wirklich und wahrhaftig trägt. Ein letztgründender und existentiell sinnstiftender Geltungsgrund bleibt offensichtlich grundsätzlich außer Sichtweite. Das ist eine Frage der Erfahrung und nicht der philosophischen Spekulation! Vor allem beunruhigt, ob diese neuzeitliche Re12 Vgl. z. B. § 94 FTL: ‚Alles Seiende konstituiert in der Bewusstseinssubjektivität‘. 13 Vgl. dazu: Dieter Sturma, in: Gerd Jüttmann (2005).

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flexion nun ‚wirklich‘ und existentiell alle sinnstiftenden erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Möglichkeiten ausgeschöpft hat. Um von den metaphysischen und praktischen Fragen ganz zu schweigen. Zunächst. Das Erbe der Neuzeit kann nicht ausgeschlagen werden. Es wird für uns zu einer belastenden Herausforderung in das Offene der Existenz sich ganz und gar ungesichert einzulassen. Die bedrängende, bestürzende Frage ist nun, sollte es wirklich so sein, dass ‚nichts mehr weiter sonst‘ ist? Nichts mehr sonst, als eine Vernunft, die sich selbst durch die existentielle Reflexion in eine Unordnung bringt, ja, bringen muss? Schon hier drängt sich historisch und systematisch eine der, wie man sagt, ‚dunklen‘ Seiten der Moderne in das Bild. Der Nihilismus. Er ist schon in seinen ‚vor-modernen‘ Gestalten nicht bloß ein ‚unheimlicher, nicht wirklich dazu gehöriger Gast‘. Der Nihilismus zeigt in Wahrheit konsequent das grundlose Selbstverhältnis der Vernunft. Gerade das ist eine der ‚tiefen‘, immer noch zu selten bedachten philosophischen Beunruhigungen. Der Nihilismus ist in seiner entfalteten Gestalt eben nicht das in Wahrheit andere der neuzeitlich-transzendentalen Philosophie, sondern eine ihrer geradezu ‚folgerichtigen Möglichkeiten‘. Der Nihilismus ist die folgerichtige Entfaltung der abendländischen Geschichte der Reflexion. Das konsequent transzendentale Denken, gedacht als gründliche Wiederherstellung wissenschaftlicher Form, ein-für-alle-mal Grund-gelegt, als unbedingte Sicherung von Geltung und Sinn, führt in Wirklichkeit in eine existentielle Grund-Bedrohung. Der Nihilismus bestimmt so, theoretisch durchdacht oder als untergründige praktische Lebe-Form die Sinn-Grenze der Moderne, und damit die Grenze des Abendlandes. Auch das ist keine Frage für ein theoretisches Gedankenspiel. Der Nihilismus vermisst als diese tief beunruhigende existentielle Begrenzung den gesamten modernen Zeit- und Lebe-Raum. ((Feiern möchte ich; aber wofür? Und singen mit Anderen,/Aber so einsam fehlt jegliches göttliche mir (. . .)/Aber mir in schaudernder Brust die beseelende Sonne,/kühl und fruchtlos mir dämmert, wie Strahlen der Nacht,/Ach! Und nichtig und leer wie Gefängniswände, der Himmel/Eine beugende Last über dem Haupte mir hängt. (Hölderlin. Menons Klagen um Diotima)). Der Nihilismus ist also keine bloße abendländische Denkfigur, eine Variante neben anderen. So ist es ist kein Zufall, dass er den Idealismus und die Romantik gleichermaßen wesentlich reflektiert,14 und in ihrer wirklichen Gestalt, als Form der Reflexion und Verzweiflung ‚spiegelt‘. Der wirkliche Nihilismus, ein Nihilismus der Wirklichkeit, ist also wahrlich kein intellektuelles oder gar ‚krankes‘ Spiel. Er nimmt für uns als ‚die Moderne(n)‘ leibhafte, lebensweltliche, existentielle Gestalt an. Diese Gestalt(ung) re14 Oder auch so: dem Idealismus und der Romantik die Möglichkeit bietet sich zu reflektieren.

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flektiert, spiegelt seit dem 19. Jahrhundert die oft hintergründig verdeckte Lebe-Form der ‚modernen Großstadt‘.15 Die Großstadt wird nun zum gemeinsamen Verstehens-Horizont des modernen Menschen. Eine Phänomenologie der Moderne, des Bewusstseins der Moderne liest die Großstadt als Form der endgültigen Reflexion und Verzweiflung. Das ist zugleich die wesentliche Vorlage, die Vor-Schrift für eine ‚Philosophie der Großstadt‘, des Bewusstseins der Großstadt.16 Natürlich wäre dieser ‚großstädtische Raum‘ vor allem und vordergründig auch soziologisch, tiefenpsychologisch, kulturhistorisch und als architektonische Gestalt deutbar. Das alles ist im Übrigen erfreulicherweise gut im Blick; und das aus einer oft auch zu Recht ganz pragmatischen Sicht. Die Phänomenologie denkt hier ‚wesentlich zusammenschauender‘. Sie versteht die Großstadt der Moderne – ohne von den genannten Reflexionen abzusehen – als eine geradezu ‚metaphysisch-existentielle Lebe-Form‘; oder, als ein ‚transzendentales Lese-Zeichen der Moderne‘. Ein ‚Symbol‘, das sich erst in und mit der Reflexion der Reflexion als folgerichtige Gestalt abendländischer Existenz, der Reflexion der Reflexion und Verzweiflung endgültig einsieht. Die Reflexion wird so sichtbar als endlich verzweifelt und wirklich existentiell. Nicht zuerst ist das Eine (die moderne Großstadt) und dann entsteht das andere (die Reflexion und Verzweiflung). Großstadt und diese Form der Reflexion und Verzweiflung sind korrelativ und untrennbar aufeinander verwiesen. Wenn man so will, systemisch verbunden. Was bedeutet das für uns hier und jetzt? Diese existentiellen Möglichkeiten der ‚radikalen‘ Reflexion, die mit und durch die Lebenswelt der Großstadt geradezu ‚handgreiflich bedrängend‘ werden, gestalten also nicht nur irgendwie auch die Wirklichkeit der Existenz der Moderne, eines endlichen Existierens hier und jetzt. Sondern konstituieren sie als eigene Gestalt. Und ‚sprengen‘ so die Wirklichkeit des Existierens aus der Möglichkeit der Neuzeit. Sie zeigen uns nun den Ab-Grund des ‚christlichen Abendlandes‘. Das sich selbst als ein ‚Auszug aus . . .‘, eine ‚Wendung gegen . . .‘, eine Abkehr von . . .‘, als Wirklichkeit der endlichen Reflexion begreift. Die Moderne ist die ‚Vollendung der Reflexion‘, ist das Ende dieser abendländischen Denkund Lebensform.17 15 Auch das ist am eindrücklichsten an der Kunst abzulesen. „So kann die absolute Freiheit der Kunst nichts anderes sein, als das Sichtbarwerden der Krise, die nach der Zerbröckelung aller Werte im Nihilismus liegt.“ Hans Weigert (1956), S. 32. – Allerdings ist der ins Bild gesetzte (ins Wort gehobene) Nihilismus ausdrücklich reflektierter Nihilismus. 16 In absehbarer Zeit werde ich eine ‚Philosophie der Großstadt‘ vorlegen. 17 ‚Großstadt‘ – so verstanden – ist damit anderes als eine (um einen von Peter L. Berger nebenbei gesetzten Begriff) ‚Arena für fast alle unserer Projekte‘. Vgl. Berger (1972), S. 15.

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Zugegeben, – nicht gerade wenig, was hier der phänomenologische Blick aus der Wirklichkeit ‚heraus-zu-lesen‘ behauptet! Es gibt Sinn, wenn wir jetzt ausdrücklicher auf den Begriff, die Methode, die Möglichkeit der ‚Wesensschau‘ zurückgreifen. Husserls Fassung, die vor allem in der analytischen Philosophie sehr perhorresziert wird, bleibt dabei außen vor. Die metaphysische Frage, ‚was‘ den genau das Wesen einer Sache, einer Sachlage, oder gar, das Wesen des Wesens sei, klammern wir ein.18 Der Vorschlag scheint ‚einfach‘. Das ‚Wesen der Moderne‘, als das existentielle Selbstverständnis des Menschen jetzt, bedeutet das für mich, für uns existentiell Entscheidende, Herausragende, Bewegende. Allgemein und allgemeiner. Etwas ‚wirkliches‘, das in und mit der Kunst, der Literatur und der Philosophie erfahren, vorgestellt und reflektiert wird. Es ist also durchaus eine ‚Arbeitsbegriff‘. Das Wesen erscheint nicht unmittelbar. Zumindest nicht in der Regel. Es wird aus diesen reflexiven Vor-Lagen in der Form der phänomenologischen Reflexion als ‚Wesen‘ entworfen und zeigt sich ausdrücklich so wirklich als phänomenologischer Entwurf. ‚Wesensschau‘ ist eine konstitutive, mühselig-deskriptive Leistung der Reflexion der Reflexion. Die ‚Wesensschau‘ ist ein nicht-zur-Ruhe-kommender-Prozess. Uns interessiert nun das Wesen der Moderne. Das ‚Wesen der Moderne‘ fügt sich keiner Definition. Selbst auf eine ‚Fugendichte‘, historische, soziologische, psychologische Beschreibung ist hier verzichtet. Und zwar ganz ausdrücklich! Nicht nur weil Angesicht der Komplexität dieser Fragen, ein Einzelner sowieso nicht im Stande wäre, das zu leisten. Und selbst, gesetzt es wäre möglich, wäre es für uns gemeinsam Denkende sachlich trotzdem nicht wünschenswert. Der Husserl Schüler Roman Ingarden verweist mit Recht darauf, dass ein Mit(einander)-Denken, dass ein philosophischer Diskurs, ‚Leerstellen im Angebot‘ braucht.19 So arbeiten wir hier also bewusst und ausdrücklich mit ‚weiten‘ und ‚weichen‘ Vorstellungen. Das für uns erste ist, dass diese, immer auch wahrhaftig ‚existentiellen‘, und so sich wirklich radikalisierenden transzendentalen Fragen, nicht im Horizont des ‚neuzeitlichen Vernunft-Denkens‘ entschieden, ja, wahrhaftig dort nicht einmal wirklich eingeführt werden können. Das hat sich bekanntlich schon zu Kants Lebzeiten zumindest ‚bemerkbar‘ gemacht. Denkbar für unsere weitere systematische Arbeit ist eine Form ‚radikaler Hermeneutik‘. Eine Hermeneutik, der sich als Reflexion und Verzweiflung entwerfenden und sich in diesem Entwurf endgültig reflektierenden Existenz. Die Perspektive einer Selbstbewusstheit der Existenz, die – um eine viel bemühte Forderung Hölderlins aufzugreifen – nun wirklich ‚im Offenen‘ an18

Hedwig Conrad-Martius (1965), S. 335 ff. Vgl. z. B. Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaften, Tübingen 1976. 19

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gekommen ist. Von dieser ‚Existenz im Offenen‘ aus denkt sich das Wesen der Moderne. Das ‚Wesen‘ der Moderne ist kein geheimnisvolles ‚Tiefenphänomen‘. Nichts was als ‚metaphysische Mitte‘, als ‚Substanz‘ angesprochen werden könnte. Nicht einmal etwas (da oder dort) historisch (neuzeitlich) Vorgedachtes und Vorbestimmtes. Sehen wir stattdessen hin auf unser je eigenes Schauen. Hier nur einige Umrisse möglicher Beispiele. – Vorgestellt (sozusagen) als eine Deutung möglicher Deutungen. Schon das erste ist dabei bemerkenswert. Dieses Selbst-Schauen führt nicht mehr in die ‚Mitte‘ – in irgendeine sichere Mitte – sondern an die ‚Bewusstseins-Ränder‘, der modernen Existenz. Im wahrsten Wortsinne wir erfahren uns selbst als Entwurf von ‚Bei-Spielen-am-Rande‘. Da ist etwa das seit dem 19. Jahrhundert viel besprochene, sehr unterschiedlich gefasste ‚Bewusstsein einer Entfremdung‘.20 Sozial, ökonomisch, religiös, existentiell. Erinnert sei (ohne näher darauf ein zu gehen) an die vorgelegten, letztendlich neuzeitlichen Perspektiven. Das sind die bekannten Fassungen, von Hegel über Marx bis Nietzsche, Freud und – modisch verdichtend – Herbert Marcuse. Was immer sie von sich selbst behaupten: Sie gestalten Positionen in denen sich ausdrücklich Möglichkeiten der abendländischen Vernunftgeschichte reflektieren. Selbst dort wo das Dunkle, Irrationale, Leibhafte als fundamentale Wirklichkeit, als tragischer, ‚irrsinniger‘ Bruch aufscheint, werden selbstverständlich die grundsätzlich überlegenen Potentiale der Vernunft, implizit ihre Rolle der ‚aufgeklärten Richterin‘, faktisch nicht wirklich in Frage gestellt. Die Vernunft, eine vorangetriebene Aufklärung, wird auch diese ‚Fehlformen‘ richten. Es sind also Beiträge zur Förderung und Gestaltung des ‚Projektes Aufklärung‘. Unser phänomenologisches Interesse verändert aber jetzt auch diese Blickrichtung, und, – die Blickrichtung gestaltet bekanntlich auch das Interesse. Die Frage ist nicht mehr, als ‚was zeigt‘ sich diese so entworfene ‚Entfremdung‘; an welchen sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen, psychologischen Orten? Also, nicht mehr, was ‚ist‘, was oder wer gestaltet die Entfremdung der Neuzeit, ontologisch, erkenntnistheoretisch? – Sind es beispielsweise gesellschaftlich, sozial gerichtete, empirisch, wissenschaftlich 20 Eine Erfahrung der Ent-Fremdung des Menschen von der Welt (aus einem selbstverständlichen sinnstiftenden Kosmos herausfallend) lässt sich schon in den ersten Jahrhunderten nach Christus ausmachen. Christliches Denken und die damit konkurrierende Gnosis gestalten und fördern diese Sichtweise, dass die Welt dem menschlichen Ich wesentlich fremd sei. Die Gnosis dankt dabei so radikal „dass ihr das Leben und Regen der eigenen Sinne, Triebe und Willensregungen, durch die der Mensch der Welt verhaftet ist, als fremd und feindselig erscheint – als feindselig gegenüber dem eigentlichen Selbst des Menschen, das sein Wesen in dieser Welt überhaupt nicht realisieren kann (. . .).“ Rudolf Bultmann (19777), S. 167 ff.

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ablesbare Wahrnehmungen einer historisch wirklichen Entwurzelung; oder ist es, ‚nur‘ ein bloß subjektiv beunruhigendes Gefühl? Macht-volle Behauptungen? Bildhaft so verdichtet: Ist diese Erfahrung der (einer) Entfremdung ein reales Erleiden, grausamer sozialer, gesellschaftlicher, ökonomischer Wirklichkeiten, oder ein ‚intellektuelle Metapher‘, eine bloße ‚metaphysische‘ Zeichnung? Es mag merkwürdig anmuten. Das und ähnliches lässt sich im Horizont der Moderne nicht mehr wirklich entscheiden. Im Blick auf sich selbst scheint es nicht einmal ohne weiteres möglich zu sein, sich überhaupt auf diese Anfrage, diese Forderung zu einer vernünftigen Entscheidung einzulassen, endgültig einzulassen. Schon dieses Zögern ist ein Ausdruck der Befindlichkeit der Existenz der Moderne.21 Die phänomenologische Antwort ist vor diesem Hintergrund nicht entweder ‚dies‘ oder ‚das‘. Also, eine Logik der Zweiwertigkeit. Sondern, ‚all das und noch mehr‘! Möglicherweise ist das die einzig noch zu rechtfertigende, ontologische Zu-Ordnung! Die phänomenologische Reflexion hält die möglichen erkenntnistheoretischen, ontologischen, metaphysischen Antworten sozusagen ‚in der Schwebe‘; verzögert sie. Gerade diese irritierende Vieldeutigkeit öffnet uns den Horizont der Reflexion der Moderne. Die konstituierende irritierende Erfahrung der Existenz (in) der Moderne zwingt in eine erkenntnistheoretisch bodenlos erscheinende Reflexion der Reflexion. Das ist selbst nun kein Akt einer Erkenntnistheorie. So als gelte es lediglich neuzeitliche Entwürfe zu modifizieren, kritisch fortzufahren, an diesem oder jenem anzuknüpfen, einem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechend zu denken. Sondern, für uns bedeutet es vor allem eine „philosophische, ‚natürlich reflektierte‘ wirkliche Selbst-Einschätzung“. Wenn man so will, ein konstitutiver phänomenologischer Akt, der sich geradezu so als ‚Elend der (meiner) Moderne‘ einsieht (reflektiert) und dieser Einsicht eine phänomenologische und auch literarische Fassung zu geben versucht.22 Das sind schon ‚wesentliche Ein-Sichten‘. Dieser Entwurf der existentiellen Wirklichkeit der Moderne als ontologisch, erkenntnistheoretisch unfassbares ‚Elend‘, als Reflexion und Verzweiflung ist keine historische Zufälligkeit, keine philosophische Willkürlichkeit. Also, keine Form, keine Fassung einer Krise. Bloß eine Art gesellschaftlicher, sozialer, ökonomischer, politi21

Das ist keine ‚philosophische Einsicht‘. Vgl. z. B. Gerhard Schmidtchen: „Jeder Standpunkt hat seine Vor- und Nachteile. Sobald man so denkt, begibt man sich in die Zone der Ambivalenz. Sie ist für die meisten von uns fast ein Dauerzustand geworden. Wir wissen nicht mehr genau, was richtig ist und halten uns offen für alles Mögliche.“ Triumphe der Aufklärung und Katastrophen der Seele, in: Kirche und Gesellschaft. Analysen – Reflexionen – Perspektiven, Stuttgart 1989, S. 144. 22 Sehr deutlich in der expressionistischen Literatur. Dazu: Wolfgang Rothe (1977).

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scher Querschnitt irgendeiner defizitär empfundenen Faktenlage unseres Zeitraumes, – die natürlich auch mit einigem Geschick anders geordnet werden könnte. Es sind wortwörtlich wesentliche, eindringliche Erfahrungen im Hier und Jetzt. Sie gilt es nun philosophisch, d. i. existentiell zu verstehen. Phänomenologisch (in der Reflexion dieser Reflexionen) lässt sich dies besonders deutlich und klar an der Entfaltung, an der Gestalt-Werdung des Leibhaften-Bewusstseins der Großstadt ablesen. Die Bedingung möglicher Existenz der Moderne zeigt so in dieser Dichte ihren wirklichen Zeit-Raum. Das ‚denkt sich‘ sicher ungewohnt. Die Großstadt, ihr Korrelat das ‚Bewusstsein der Großstadt‘ wird immer noch ungewöhnlich selten philosophisch reflektiert. Das ist bemerkenswert. Denn, in der Form der Großstadt wird die Selbstkonstitution der Moderne wesentlich einsehbar.23 Die These. Die wirkliche abendländische Großstadt konstituiert die erlebbare ‚endgültige transzendentale Idee‘. Sie bestimmt hintergründig die Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Existenz, die Bilder der Hoffnung, der Liebe, des Glaubens, des Schönen und der Angst. Da ist eine aufdringliche Beunruhigung; und zwar eine eigenartige Aporie. Diese rationalirrationale Gestalt des endlichen Bewusstseins der Moderne erfährt sich als transzendental entwerfend und faktisch, leibhaft entworfen zugleich. Eine systemische Verflechtung, die sich ineinander ‚spiegelt‘. Das meint wortwörtlich, eine sichtbare, erlebbare, ‚begreifbare‘ Form der reflexiven, spannenden Möglichkeiten der leibhaften Selbstwahrnehmung des Bewusstseins der Moderne. Das Bewusstsein je meiner konkreten Existenz ist also phänomenologisch ‚zu lesen‘ als Korrelat der wirklichen Großstadt der Moderne. Dabei geht es nicht um das historische Faktum der Großstadt. Die Fassung dieser ‚intentionalen Wirklichkeit‘ umdenkt, umspielt nämlich das wirkliche Wesen meiner Existenz. Sehen wir es so. Die Topologie, die Deutung der Lage und der Anordnung der Großstadt erscheint als wirkliche Er-Fahrbarkeit der phänomenologischen reflexiven Reflexion. Die ‚Grammatik der Großstadt‘, die durchaus nicht mehr diese oder jene bestimmte Stadt meint, ist ‚meine wesentlich-wirkliche Bestimmung‘. Ich selbst, – als Existenz der Moderne gestalte die Großstadt und werde großstädtisch gestaltet. Die Großstadt ist der wesentliche Zeit-Raum der Moderne. Der Mensch der Moderne erfindet die Ordnung hier und jetzt in einer eigenartigen Verschränkung seiner Willkürlichen und Unwillkürlichen Erfahrungen. Er sucht sie auf, ‚erfährt‘, erleidet sie selbst unausweichlich. Das alles ist selbstverständlich auch eine Form einer Selbst-Anzeige. Ich selbst lebe so in je ‚meinem‘ Verständnis des ‚Bewusstseins der Moderne‘; das selbstverständlich, – beispielsweise – 23

Vgl. Gleixner (2003), S. 143 ff.

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um die eigene existentielle Verflochtenheit in den Zeit-Raum weiß. Erst die existentielle Reflexion der Reflexion zeigt dem (‚meinem‘, ‚unserem‘) Bewusstsein seine ‚wirkliche intentionale Form‘. Aber, sehen wir noch näher hin. Das ‚Bewusstsein‘ erlebt zuerst und zumeist als selbstverständlich und ohne weiteres, die für es ‚gültige‘, Raumund Zeitform wirklicher Existenz. Die Struktur, die Dimension, die Dynamik der Moderne; es erlebt diese abstrakten Formen als konkrete, leibhafte Abläufe, Bewegungen, Rhythmen, als Oben, Unten. Und das ist tatsächlich Tag für Tag wortwörtlich ein ‚Hautnahes erleben‘. Eine eigenartige Selbstverständlichkeit. Die Lebenswelt ‚Großstadt‘ ordnet beispielsweise wiederum unwillkürlich und konkret die wirkliche Erfahrung, die ‚Anschauung‘ der Zeit, die Erfahrung des Raumes. Es sind selbstverständliche ‚gefüllte‘ Bestimmungen eines ‚Vorher‘ – ‚Zugleich‘ – ‚Danach‘; oder konkret und alltäglich, ‚Als‘, ‚Vor‘, ‚Bei‘, ‚Nach‘. Die vorhandene Wirklichkeit der Großstadt, – unwillkürlich, unbedacht selbstverständlich, fraglos Da-seiend, – verspannt, verkompliziert, verwirrt, verdichtet dieses Vorher, Zugleich, Danach, in die anschauliche Lebe-Form modernen Daseins als ‚so ist es eben und nicht anders‘.24 Das ist eine erfahrene Menschen-Welt, die ein ontologisches ‚Darüber-Hinaus‘ praktisch nicht mehr reflektiert. Hinweise auf etwas ganz anderes sind nur noch als museale Rest-Bestände in das großstädtische Leben eingefaltet. Restringiert zu Vorformen des Großstädtischen. Das Bewusstsein der Großstadt erzählt ausschließlich sich selbst als einen ‚selbstreferentiellen Mythos der Wirklichkeit der Welt‘. Ein ‚wirklich wirklicher‘ Text, der sich allerdings (auffällig unauffällig) nur noch in Fragmenten spiegelt. Wirklich ein Paradox! Schauen wir phänomenologisch zu. Verwirrung und Unübersichtlichkeit als gestaltete Selbstverständlichkeit der Lebensordnung moderner Existenz. Die Sehnsucht des abendländischen Menschen nach Form, klarer Fassung, Berechenbarkeit, nach metaphysischer Ordnung, nach ‚absoluter Vernunft‘ wird erfahrbar haltloser ‚Schwindel‘. Diese Verstörung der Ordnung der Moderne, die Endgültigkeit eines Aufbruchs aus der Anschaulichkeit, zeigt sich als Bewusstsein der Großstadt. Schon eine Reflexion des ‚ersten Eindrucks‘ führt es also vor. Das ‚Ganze‘ einer Großstadt ist als anschauliche Einheit, als Gestalt einer vorstellbaren Ordnung, nicht mehr zu fassen. Selbst diese Fassungslosigkeit ist ohne wirklich begriffene ästhetisch anschauliche Fassung. Die Vor-Stellung des ‚Ganzen‘ der modernen Großstadt ist abstrakt. Die ‚Kunst der Moderne‘ (eine Kunst der Großstadt) führt es vor. Die moderne Großstadt ist kein 24 Das darf nicht mit der soziologischen These der empirisch ‚messbaren‘ dichten Interaktion zwischen Gesellschaft und Individuum verwechselt werden. Vgl. dazu z. B. Peter L. Berger (1969), S. 134.

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‚konkretes Objekt‘ der Anschauung. Sondern wirklich nur als mögliche ErFahrung eines ‚transzendentalen‘ Entwurfs, – nämlich der existentiellen Reflexion des Bewusstseins der Großstadt. ‚Mein‘ wirkliches Bewusstsein spiegelt sich selbst auf diese Weise. Denken wir nun vor diesem ‚leermeinenden‘ Hintergrund meiner Existenz beispielsweise an die irritierende Verweigerung der Anschauung einer denkbar konkreten Perspektive der Großstadt. Eine ‚unanschauliche Sicht-weise‘, die ich als wesentlich bestimmen könnte. Die wirkliche Wirklichkeit der Großstadt reflektiert sich für mich als ein komplexes, unüberschaubares System. Das sind natürlich auch ästhetisch oder soziologisch, psychologisch ‚objektiv gerichtete‘ Fragen. Aber nicht nur. Das sind für uns die Fragen einer Phänomenologie der wirklichen Wirklichkeit. Fragen, die sich selbst und den Fragesteller konkret, also, existentiell mit denken. Damit stellen sich schon die Fragen nach einer bloßen Anschauung der Ansicht der Großstadt neu. ‚Was‘ beispielsweise bestimmt das ‚Zentrum‘ als Zentrum, die ‚Peripherie‘ als Peripherie der Großstadt, was gestaltet das Großstadtbewusstseins? ‚Was‘ erscheint hier und jetzt in dieser Ortschaft als ‚Geltung‘? ‚Was‘ zeigt sich nun als ‚wirklich wesentlich‘? In welcher ‚erkenntnistheoretischen‘ Form, in welcher Funktion, in welcher existentiellen Zumutung ‚erscheinen‘ die großstädtischen ‚Fakten‘? U. v. m. Das wird uns noch ausführlich beschäftigen. Die Reflexion der Reflexion erkennt als ihre wirkliche, existentielle Bedingung die Verzweiflung. Die Verzweiflung gestaltet schon die Grund-Formen der Reflexion. Historisch als Geschichte der Reflexion und vor allem systematisch als meine ‚anschauliche‘ Reflexion hier und jetzt. Philosophisch gedacht ist beides eine ‚transzendentale Bewegung‘. Reflexion und Verzweiflung werden verstanden in der Gestalt des ‚Bewusstseins der Großstadt‘. Das benennt, begreift, keine bloße spekulative Größe. Das Bewusstsein der Großstadt ist leibhaftige, wirkliche Erfahrung eines zuerst und zumeist selbstverständlich gewordenen Zustands. Wirklich transzendentale Gestaltung der Bedingungen aller Möglichkeiten. Es ist phänomenologisch gedacht der Entwurf einer Lebens(um)Welt. Diese Lebenswelt der Großstadt ist der ‚gründlich angeschaute‘ Leitfaden der phänomenologischen Fassung der Moderne. So ‚geschieht‘ historisch und systematisch – scheinbar unwillkürlich – die Eröffnung eines konkreten Zeit/Raums. Das ist ein Horizont ‚meiner‘, ‚unserer‘ existentiellen Wirklichkeit und ‚meiner‘, ‚unserer‘ Geltung. In der Frage stehen aber nicht mehr historisch invariante Anschauungsformen; oder, ein für alle Mal fraglos gültige Kategoriensysteme. Sondern leibhafte Korrelate meiner endlichen Existenz hier und jetzt. Sie können natürlich auch reflektiert, selbstverständlich philosophierend gefasst werden. Es sind von mir, von uns willkürlich und unwillkürlich entworfene ‚plastische‘ Ereignisreihen. Es ist ein Spiel mit Fragmenten meiner konkreten Lebenswelt,

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erregend, aufdringlich, beängstigend. Das erfährt sich als eine komplexe Anschauungs-Welt, die nicht mehr in einem eineindeutigen Zusammenhang, nicht mehr als ein invariantes Sinn-Ganzes verstanden werden kann und muss. Die transzendentale neuzeitliche Gestalt des Bewusstseins als ‚überindividuelle‘ Form und ‚metaphysische‘ Norm, als Zwang, als transzendentale Regel löst sich ab, – und damit auch die entsprechenden anschaulichen Korrelate des Bewusstseins. Die Anschauungsformen Raum und Zeit sind ‚hier und jetzt‘ konkrete Gestaltungen großstädtischer Existenz. (Und nur so phänomenologisch fassbar). Wir können es auch so sehen. Die Großstadt ‚zeigt‘, sie ‚bezeichnet‘ etwas, oder ‚stellt etwas vor‘, – gerade in dem sie einen bislang wesentlichen Ausblick auf Formen der Eindeutigkeit verweigert. Die Großstadt ist so als Form, als Wesen, als ‚Geltung‘ meiner Idee, ‚leibhaft‘ in meinem Bewusstsein als endgültige Gestalt und Gestaltung. Wir können es durchaus auch und letztendlich als eine abendländische ‚metaphysische‘ Wirklichkeit fassen. Eine Wirklichkeit, die endlich die Endgültigkeit der Möglichkeiten der Reflexion zeigt. Das Großstadt-Bewusstsein als Erfüllung der Logik der Reflexion. Damit wird auch kein philosophisches darüber hinaus mehr intendiert. (Nur am Rande, damit ist der Theologie der Raum des Glaubens zurückgegeben). Ich möchte hier nun kurz einen Faden aufnehmen; allerdings ausdrücklich verstanden als einen kurzen Hinweis, ‚der zu denken gibt‘; der möglicherweise, zumindest auf dem ersten Blick und in diesem Zusammenhang, unpassend erscheinen mag. Nämlich das Traumleben, das Traumerleben. Genauer, eine phänomenologische Reflexion des Traumbewusstseins. Ein solcher Hinweis auf das ausschließlich individuelle Traumerlebnis mag in unserem Zusammenhang zunächst nicht einleuchten. Doch wir werden sehen, dass dieser Blick auf den ‚Traum als eine mögliche Form des Existierens‘, auf dieses eigenartige subjektiv geschlossene Welterleben, mehr ist als ein Spiel mit einer bloßen vagen Analogie. Eine ‚Phänomenologie des Traumlebens‘25 wäre im Übrigen ein eigener, bedeutsamer Betrag zu einer Reflexion des leibhaften Bewusstseins. Hier aber nur so viel und ohne auf die unterschiedlichen tiefenpsychologischen, daseinsanalytischen Traumtheorien einzugehen. Ein Traum gibt dem Bewusstsein Rätsel auf. Er entzieht sich so in seiner erinnerten Form26 dem vernünftigen Verständnis. Damit auch der Möglichkeit seinen Darstellungen, Vorführungen, seiner intentionalen Form, ausdrücklich Geltung zu- oder abzusprechen. Das phänomenologisch erste ist: Der Traum ist das eine, die 25 In Anschluss an die Daseins-Analyse, (dazu: Ludwig Binswanger und Medhard Boss). 26 Der Traum als Traum ist immer erinnerter Traum.

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Erinnerung an den Traum das andere. Der Traum, der Traumtext erscheint eigenartigerweise nur ‚tief‘, vieldeutig, dunkel, geheimnisvoll, bizarr, zauberhaft in wachem Rückblick, und das, auch noch der Reflexion. Und weiter (versuchen wir uns selbst zu erinnern). Der Träumende selbst weiß doch sicher etwas, – aber nichts von sich. Er weiß vor allem nichts vom Träumen (als Gestalt der Existenz) und nichts vom Wachsein (als Gestalt der Existenz). Der Traum ‚lebt mich, den Träumenden‘, nur je meinen Traum erfasse ich wach als Traum, als einen eigenartig formlosen Kontext, als eine Umgebung ohne weitere gewusste Umgebung. Der Träumende bewegt sich ‚unwillkürlich‘ auf einer so selbstverständlichen, jeweils neu inszenierten und doch immer wieder eigenartig vertrauten Oberfläche. Im Übrigen, – eine Oberfläche, die keinen Namen hat. Ein Erschrecken ist im Traum möglich. Aber gleichgültig welcher ‚Irrsinn‘ dem Träumenden auch widerfahren mag, eine wirkliche Überraschung, ein Staunen, eine Reflexion bleibt ausgeschlossen. ‚Vor‘ oder ‚nach‘ dieser ‚intentional unstrukturierten Oberfläche‘, oder ‚jenseits des Traumes‘ ist buchstäblich ‚fragloses Nichts‘. Ein Nichts von dem ich als Träumer nicht einmal weiß. Kein gut, kein böse, kein wahr oder falsch, keine Normen, keine Geltungsdifferenz, keine Wirklichkeit, kein Sein, kein Gott; – kurz und knapp, keine ‚Form neuzeitlicher Transzendentalität‘. Die geträumte Traumkulisse ist die einzige Fläche der Existenz, die sich aber nicht als Traum-Existenz, als Traum-Leben erfährt und reflektiert. Selbst der leiseste Hauch einer Möglichkeit des Bewusstseins eines ‚Darüber-hinaus‘, eines grundsätzlichen ‚in-Frage-stellens‘, eines ‚Ich wirklich hier?‘ ist nicht möglich. Trotz einer unerhörten Nähe des Träumenden zu seinem Traum (eine unvergleichlich dicht verwebte Assoziation) bleibt das Dasein als existentielle wirkliche und endliche Gestalt der Reflexion und Verzweiflung sich selbst uneinsichtig und fremd. Alles ist wie im Fluss. Und doch, ein Da-Sein ohne Werden, und – ohne vergehen; selbst der Tod ist erlebter Tod! Im Traum kein Sein zum Tode. Zurück zur Reflexion des Großstadt-Bewusstseins. Eine mögliche, beredte strukturale Nähe von ‚Großstadt-Bewusstsein‘ und ‚Traum-Bewusstsein‘ gestaltet, entwirft sich durch die phänomenologische Reflexion. Die Reflexion der Reflexion geschieht hier als eine Form der Hermeneutik, die sich uns als Bewusstsein der Großstadt und Bewusstsein des Traumes auslegt.27 Verflechten wir das so geordnete phänomenologisch, in einer Form 27 Sehr deutlich spiegelt sich das in der (Großstadt)Lyrik des Expressionismus wider. Um nur ein Beispiel zu nennen: Georg Heym. Hans Gerd Rötzer sieht das so: Heym wechsele aus genauer, distanzierter Betrachtung zu visionären, apokalyptischen Bildern; die so vorgestellte Bedrohung nehme dämonische Gestalt an. „Diese Umgestaltung der Bedrohung in eine Ausdruckswelt des Phantastischen, in einen Albtraum, ist das eigentlich Expressionistische in diesen Gedichten.“ Rötzer (20072), S. 307.

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‚gewaltsamer Hermeneutik‘, (warum auch nicht?) mit unserem Thema. Diese ‚eigenartige‘, wenn wir es so nennen wollen ‚Ordnung der Traumoberfläche‘, einsichtig während des Traumes, so fremd im wachen Rückblick, gleicht strukturell der ‚Ordnung der Großstadt‘, einer Lebenswelt, die entworfen wird und selbst entwirft. Es sind jeweils verstörende Ordnungen – ausdrücklich Korrelate –, die sich als Möglichkeiten eines konkreten und für ein konkretes Bewusstseins gestalten. Eine eigenartige Selbstverständlichkeit, die in Wirklichkeit nichts mehr von einem ‚Jenseits‘ weiß. Erst die existentielle Reflexion der ‚Reflexion und Verzweiflung‘ ist ein ‚Selbst-Zwang‘ zu einer anderen Daseins-Gestaltung. Sie ist eben nicht nur eine theoretische Erkenntnisweise. Es sind so aufscheinende Erfahrungen von eigenartigen Seinsweisen. Phänomenologisch eine existentielle Auffächerung. Diese radikale Form der Reflexion gleicht (als Bild!) dem Zustand des endgültigen Wach-Seins. Erst in der gestalteten Dissoziation der Reflexion der Reflexion erscheint die Großstadt, das Großstadt-Bewusstsein systematisch und historisch eingefugt in einen Kontext als nun verständliches End-Spiel des Abendlandes. (‚Ich habe verstanden, weil ich es jetzt selbst gesehen habe!) Auch das ist selbstverständlich ein phänomenologischer Entwurf. Denken wir es vorsichtig versuchsweise, wiederum bildhaft so: Die Großstadt, als Korrelat des (meines) Bewusstsein der Großstadt als ein merkwürdiges, einem Traum vergleichbares geschlossenes Spiel. Dieses Spiel, eine Befindlichkeit, eine Ästhetik, eine Lebenswelt bedarf, (auch darin vergleichbar dem Traum), für die Gestaltung ihrer ‚transzendentalen Potenz‘ der phänomenologischen Reflexion, der Reflexion der Reflexion. Sowie der Traum für seine Erfahrung als Traumsein den wachen Blick braucht. Auf eines möchte ich auch hier wieder ausdrücklich hinweisen. Das alles ist keine Vorstellung erkenntnistheoretischer Fragen; irgendwie historistisch, metaphysisch oder gar irrational deformiert. Ebenso wenig ist es ein Versuch ‚phänomenologische Grundlinien‘ für eine Soziologie, Psychologie oder Anthropologie der Großstadt und des ‚Großstädters‘ zu entwerfen. Auch eine kritische Sichtung der Lebenswelt Großstadt, des Großstädters, seiner Lebensweise u. ä. ist nicht das Ziel. Die Ausrichtung ist und bleibt eine Phänomenologie der Existenz der Moderne vorzustellen, wenigstens in den Blick zu nehmen. Und zwar letztendlich vorzustellen, als eine wesentliche Gestalt der Existenz, die die abendländischen Möglichkeiten zu Ende bringt. Dabei wird eines nicht vergessen. Die Vorgabe der transzendentalen Reflexion, – und damit der so entworfene Horizont philosophischer Existenz, – gestaltet, auch noch im Scheitern, die Heraus-Forderung dieses Philosophieren. Das ‚Bewusstsein der Großstadt‘ und ihre intentionalen Gestaltungen (einschließlich der Sphäre der Passivität) zeigen als phänomenologi-

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sche Leitfäden die Möglichkeiten wirklich-leibhafter, endlich-existentieller Transzendentalität. Das ‚Bewusstsein der Großstadt‘ schließlich, als ein Selbstentwurf, ‚als eine ‚Selbst-Erfahrung‘ ist, – und darin vergleichbar, ‚dem der Oberfläche‘, oder dem ‚der Ordnung‘ und ‚der Unordnung‘ des Bewusstseins des Traumes28, – als ‚Bewusstsein von . . .‘ nicht eine beliebige reflexionslose Wahrnehmung. Also, ‚nur passiv‘ aufgenommen von einer objektiv vorhandenen Sachlage, einer Tatsache, ‚Großstadt‘, oder ‚Großstadtbewusstsein‘. Beispielsweise, als historisch-kultürliches Gegenspiel zur ‚Natur‘; oder als so und so bebauter, archetektonisch gestalteter sozialer Raum. Unmittelbar wahrgenommen. Sondern immer schon eine, und zwar, ‚je meine‘, gestaltete transzendentale Form der zuerst und zumeist ‚notwendig entfremdeten‘, dissoziierten Selbst-Wahrnehmung. Auf den Punkt gebracht. Die Großstadt der Moderne ist in meiner Fassung so, weil ‚ich‘ entsprechend meinen abendländischen Möglichkeiten so geworden bin; – und meine Existenz in dieser wirklich möglichen Form gestalte und reflektiere. Die Großstadt reflektiert als Grenzzone der abendländischen Reflexionsgeschichte. Das sollte wohl auf den ersten Blick, und in ‚Verlängerung‘ neuzeitlichen Denkens, sehr merkwürdig anmuten. Dass gerade in der äußersten Gestalt einer ‚Natur-Ferne‘, – ich als konkreter, abendländischer Mensch mich selbst als Reflexion und Verzweiflung erreiche, mich wesentlich aufspüre. Mich also geradezu erschreckend endgültig als Mensch des Abendlandes (er)finde. Ich begegne mir, wie es scheint (überlegen wir es kritisch mit Rousseau), in der äußersten Entfremdung meiner und unserer ‚natürlichen Natur‘. Dieser Beunruhigung ist jetzt auch existentiell nicht mehr auszuweichen. Sie reflektiert nämlich selbst in der Wirklichkeit sogar eine unüberbietbar radikale Form menschheitlicher Wahrhaftigkeit. Es sind eigenartig verdeckte Spuren der abendländischen Reflexionsgeschichte, die über das Abendland hin ausdenken. Der Zustand des modernen Bewusstseins, das unausweichlich ‚dunkle Elend‘ in mir, schreibt sich also in diese menschliche Siedlungsform ‚moderne Groß-Stadt‘ ein. Es ist daran und darin ablesbar. Denken wir es, als ob die Großstadt der ‚wesentliche Text der Moderne‘ wäre. Ein Text, den es jetzt phänomenologisch endgültig zu lesen gelte. Dabei verlassen wir nicht die radikale Potenz der transzendentalen Verfassung. Diese, nennen wir es ‚phänomenologische Leseübung‘ reflektiert sich nämlich dabei selbst. Das reflexive Bewusstsein, als Reflexion und Verzweiflung liest sich auf diese Weise, in dieser reflexiven Form als ‚konstituierende Entzifferung‘, oder, gestaltende Dechiffrierung der Großstadt der Moderne. Dieser 28 Das Bewusstsein des Traumes ist nicht zu verwechseln mit dem Traumbewusstsein.

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transzendental aufgeladene Text ist nun im Kontext abendländischer, systematischer und historischer Wirklichkeit(en) zu lesen. Hier genügen (vorerst) einige wenige Andeutungen. Gedacht als erste phänomenologische Lesezeichen. Beginnen wir phänomenologisch einfach wiederum mit dem was sich jeweils mir (und uns) selbst mittelbar und unmittelbar als mein, als unser Gesamtbild aufdrängt. Das heißt, ich selbst schaue auf das Vor-Drängen der ‚großstädtischen Landschaft‘. Wohlgemerkt, das ist meine Wahrnehmung, das sind meine Wahrnehmungsreihen. Die Reflexion dieser Wahrnehmung, dieser Wahrnehmungsreihen ‚spiegelt‘ eine wirkliche Komplexität. (Nichts Erfundenes). Dazu gehören (beispielsweise) auch Verflechtungen von erinnerten Wahrnehmungsserien und aktuell Wahrgenommenen. Da ist das zunächst scheinbar unmittelbar Augenfällige, das mit mittelbaren Vorstellungen, also Erinnerungen, Phantasien, Deutungen, literarisch Vorgestelltem, zusammenwirkt, und so eine eigene, selbstverständliche Gesamtgestalt entwirft. Eben meine ‚Wahrnehmung von Großstadt‘ und die Wahrnehmung meiner ‚Wahrnehmung von Großstadt‘. Denken wir uns nun als erstes leicht zugängliches Lese-Beispiel; ein Lese-Beispiel im Blick auf die Fassung des ‚Wesen der Großstadt‘. Und zwar eine einfache ‚oberflächliche Topographie‘ der Großstadt. Gefasst in Begriffen, oder in ‚Bildern‘, in Symbolen, in erinnerten Anschauungsreihen, in der Phantasie, oder auch in ‚Leerformen‘ usw. Also beispielsweise (willkürlich und ohne eine bewusste theoretische Absicht): Zentrum, Allee, Stadtrand, Platz, freier Raum, Hauptstraße, Kreuzung, Hauptbahnhof, Kaufhaus, Durchbruch, Passage, Grenze, Begrenzung usw. Phänomenologisch betrachtet sind diese so oder so geschauten, vor-gestellten selbstverständlichen eingrenzenden Entwürfe etwas, das das Bewusstsein sich offensichtlich selbst zur Verfügung stellt. Damit sind diese ‚Gestaltungen‘ – genauso wie sie sich geben – zugleich auch als Gestaltungen meines konkreten ‚Bewusstseins der Großstadt‘ zu lesen; eben als Reflexions-Erfahrungen des Selbstbewusstseins der Moderne. Diese eigenartige ‚korrelative Textur‘ der Großstadt gilt es nun als das wirkliche Reflexionspotential der Moderne phänomenologisch zu dechiffrieren. Das braucht die phänomenologische Reflexion der Reflexion. Ein dynamisches Muster, das sich selbst als eine wirkliche, existentielle Form wahrnimmt und selbst reflektiert. Das ist die Vorführung einer wirklich endgültigen Transzendentalität, die sich jetzt ausdrücklich endgültig, ausdrücklich unausweichlich endlich versteht. Diese ‚Bilder‘ der Großstadt, gleich ob unmittelbar wahrgenommen, erinnert oder phantasiert, zeigen dann selbst, dass sich der existentielle Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Fühl- und Denkraum, eben die räumliche und zeitliche Welt-Anschauung, einschließlich einer konkreten Leibbefindlichkeit (in) der Moderne ‚endgültig‘ aus-

I. Die leibhafte Selbstwahrnehmung

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weglos verändert. Das ist nicht mehr ein begriffener Raum, sondern ein angeschauter Raum, nicht mehr eine begriffene Zeit sondern eine angeschaute Zeit. Sie zeigen Muster, die sich eben den neuzeitlichen Vorstellungen, Anschauungsformen und Begriffen entziehen. Das meint nicht nur eine irgendwie andere Gestimmtheit. Eine seelische Formung, die sich historisch ‚gefärbt‘ ausdrückt, so oder so aufgelegt ist usw. Sondern phänomenologisch reflektiert es wahrnehmbar sehr konkret. ‚Es‘ liegt wirklich vor als . . .; ‚es‘ gestaltet sich wesentlich zu . . .; und ‚es‘ stellt sich dem phänomenologischen Blick unmittelbar und einsichtig vor. ‚Einfach so‘, – und ohne weiteres ‚Flächendeckend‘, Fugendicht, Lückenlos. Oberfläche, Tiefe, Raum, Nähe und Entfernung und vertikale und horizontale Grenzen werden – wirklich und im übertragenen Sinne – neu vermessen zu einer anderen maßlos endgültigen Wirklichkeit.29 Eine wirkliche Wirklichkeit die als Reflexion der Reflexion ‚endlich meine mir zugehörige ist‘. Entworfen in der Gestalt existentieller (leibhafter) Transzendentalität. Diese ‚wesentlichen‘ Beschreibungen der Großstadt, ihre wahrgenommenen Sachlagen, Angelegenheiten, Zustände, sind also bloß scheinbar ‚objektiv‘, scheinbar ‚faktisch‘. Sie sind nicht wirklich fassbar ohne die Frage nach ihrer existentiellen Transzendentalität. Das alles wird uns noch weiter ausführlich beschäftigen. Eines sei an dieser Stelle abschließend noch angesprochen. Die Wahrnehmung und Selbstbeschreibung des Menschen hier und jetzt, als so und so verfasste, immer aber endliche Existenz, die sich in den Horizont der Reflexion und Verzweiflung ein-spiegelt, zeigt den ‚wirklichen transzendentalen Grund‘. Wirklich, endgültig, erschöpft, vollendet! Das Selbst-Verständnis ‚der metaphysischen Not‘, einer, nennen wir es als Bild, ‚metaphysischen Auszehrung, einer vollendeten Verwüstung‘ der Existenz, ganz und gar sich selbst und seinesgleichen ausgeliefert zu sein, kurz: dem Menschenmöglichen. Diese Erfahrung eines wirklich Endgültigen als Vollendung in der Gestalt der Großstadt ist reflexionsgeschichtlich ‚notwendig‘. Das Bewusstsein der 29 Da ist – beispielsweise – der ‚Mythos des Zentrums‘. Das Zentrum als der vornehmste, heiligste Ort (‚Gott ist unsere Mitte); Das Zentrum (der Mittelpunkt) also auch ein (im wahrsten Wortsinne) wesentlicher Ordnungsbegriff. Ein ‚qualitativer Ordnungsbegriff‘, der nicht wertfrei vermisst. Zentrum als heiliger Ort impliziert Gottesnähe; Gottesnähe verheißt Macht. Auch heute noch wird von: Paris als Mittelpunkt der Modewelt gesprochen; New York als Zentrum der zeitgenössischen Kunst, Noch in einem anderen Zusammenhang begegnet heute dieses ‚Bild‘: Als ‚bürgerliche Mitte‘. Das bürgerliche Denken (die bürgerliche Existenz) als nicht nur politische Mitte (im Sinne einer politischen Vernünftigkeit), sondern als Vernunft, als Existenz schlechthin. Von hier aus werde der soziale, gesellschaftliche, politische, sogar, der religiöse Kosmos vermessen.

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Moderne ‚scheint‘ in diesem gedachten Sinne, – ‚notwendig‘ als ‚Elend‘ der Reflexion und ‚Dynamik‘ der Verzweiflung.30 Der Mensch rückt in dieser Form ein in die Selbst-Wahrnehmung eines metaphysisch und theologisch unbedingten ‚absoluten Freiseins‘, dem er sich endgültig und vollendet ausgeliefert sieht. Es ist nun nicht mehr die aufgeklärte Freiheit einer vernünftigen, selbst bestimmten Notwendigkeit; nicht mehr menschheitlicher Fortschritt und abendländischer Triumph. Es ist das Bewusstseins der Großstadt, das in der Form der reflexiven Reflexion, als völlig losgelöste, historisch freigestellte, entbundene ‚transzendentale Ortschaft‘ zugleich die äußersten Grenzen des abendländische Mensch-Seins (als ein Ende und ein mögliches Andere zugleich) zeigt. Das ist die ungeheure, unheimliche Erfahrung, die die neuzeitlich tradierte Wirklichkeit zurückläßt. Denken wir z. B. an die doch so selbstsichere Aufklärung der Vernunft, ‚existentiell be- und metaphysisch entgrenzt‘. Formen, die letztendlich diese so schmerzhaft gespannte Wirklichkeit als endgültig aufhebt, als ganz und gar vollendet denkt.31 So oder so! Kierkegaard und Nietzsche haben es vorgestellt. – Wir aber sehen es. Wir sehen es wirklich, ob wir wollen oder nicht. Diese wahrgenommene oder gedachte vollendete Gefährdung versammelt sich im theologisch aufgeladenen Begriff ‚Nihilismus‘.32 Eine existentielle Einschränkung der Reflexion, die erst als Reflexion und Verzweiflung ihr wahrhaftiges Wesen und damit ihre wirkliche Weise begreift. ‚Nichts mehr ist jetzt für mich wirklich wirklich als ich selbst als endgültig-endlicher Mensch‘.

II. Das Existentielle und das Transzendentale Folge und Bedingung, Anlass und Konsequenz sind hier auf eigenartige Weise verschränkt. Zuerst und zumeist bleibt diese Verschränkung, die sich lebensweltlich spannend spiegelt unbedacht. Konkret im Blick auf unser Thema. Praktisch und theoretisch bestimmt sich beispielsweise die so oder so erfahrene ‚Freiheit der Großstadt‘ der Moderne (mehr als ein literarischer Topos) nicht mehr idealistisch oder theologisch konnotiert; oder, neuzeitlich ‚positiv eingeführt‘, als ‚absolute Freiheit für meine selbstbestimmte Notwendigkeit‘. Sondern konsequent zu Ende gedacht, konkret, als ‚losgelöst‘, ‚ungebunden‘ von jedem transzendenten Grund, jeder Idee, jeder 30

Vgl. z. B. S. Kierkegaard (1990), S. 19. Schon bei Pascal: „Kurzum, der Mensch weiß, dass er elend ist: also ist er elend, da er es ist; groß aber ist er, da er es weiß.“ Pensées Heidelberg (1972), S. 186. 32 Bekanntlich hat F. H. Jakobi diesen Begriff in den (so genannten) ‚Atheismusstreit‘ eingebracht und entfaltet. 31

II. Das Existentielle und das Transzendentale

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Form von möglicher absoluter Geborgenheit. Mögen deren Begriffe und Bilder noch in unsere Alltagssprache („O Mein Gott“; „Um Gottes willen“, „so Gott will“, „das möge Gott verhüten“, „das weiß der Himmel“; usw.) eingraviert sein; es sind bloße Schablonen, eine unwillkürliche Expressivität, deren Intention ins Leere zielt.33 ‚Gedacht und Gelebt‘, institutionell gestaltet wird das großstädtische Leben vielmehr als ob es keine metaphysische Bindung gebe; als ob religiöse Sinnstiftung für das Alltägliche ohne Bedeutung, als ob mein Dasein letztendlich zufällig sei; und, – als ob es natürlich auch keine ‚absolute, unbedingt normative Vernunft‘ als gesellschaftliche und individuelle Vorgabe mehr gebe. „Brüder – überm Sternenzelt/Muß ein lieber Vater wohnen“ – ist für uns eine ‚ästhetische Metafrage‘. Eine Nacharbeit zur 9. Symphonie: „Das war für meinen Geschmack an dieser Stelle zu eindringlich moduliert“; und keinesfalls etwas, das wir für die Wirklichkeit ernsthaft in Betracht zögen. Dass diese gelebte, institutionell gestaltete Selbstverständlichkeit ‚moderner Existenz‘ außerdem zumeist keine radikale Reflexion zu brauchen scheint, sei zunächst nur am Rande vermerkt. Wahrlich ein Leben „im Futteral“ (Anton Tschechow). Dahinter verbirgt sich nun etwas philosophisch Bedeutsames, etwas phänomenologisch Wesentliches. Also mehr als nur ein soziologisch oder psychologisch interessantes Phänomen. Vorgeführt wird in Form einer Reflexion der Reflexion auf diese Weise die Gestalt des wirklichen, endlichen Subjekts der Moderne. Zunächst wirklich auffällig. Es spiegelt, verdichtet und gestaltet nämlich den Zu-Stand der ‚wahren, wahrhaftigen Anonymität‘; eine Möglichkeit des Menschseins. Das ist eine erfasste, reflektierte Anonymität. Vor allem aber sich selbst gegenüber! Ich weiß, dass ich mir selbst wesentlich fremd bin. Ein Gestaltungsprinzip also der je eigenen Existenz, – willkürlich und unwillkürlich, – das reflektiert, zugleich lähmt und bewegt. Die Gesellschaft, Kunst, Kultur, Institutionen haben sich sehr unterschiedlich darauf eingestellt. Sogar die Verdrängung und die Reflexion (die Widerspiegelung) wird dem ‚Einzelnen‘ abgenommen. Ein eigenartiges Spiel für eine Anonymität der Anonymität der Anonymität. Selbst ein Erschrecken ‚ungenannt und ohne irgendeinen persönlichen Anruf meiner Person‘ leben zu müssen, (nicht in der Handfläche eines Gottes verzeichnet zu sein), bleibt weitgehend aus, – oder ‚versteckt‘ sich im Genre des literarischen und filmischen Horrors. Das alles ist im Grunde keine Fragestellung für irgendeine statistische Erhebung. Etwa, ein mehr oder weniger repräsentativer Querschnitts einer psychologisch, soziologisch, ökonomisch, oder sogar konfessionell gegründeten ‚typischen‘ Verstimmtheit. Die Existenz der Moderne, die die Phäno33 Die Frage, was diese ‚Unwillkürlichkeit‘ tiefenpsychologisch und philosophisch bedeutet, wäre eigenes zu entfalten.

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menologie denkt, gestaltet für sich eine wirkliche Form des Transzendentalen. Das Dasein der Moderne, das Großstadt-Bewusstsein als Endgestalt der abendländischen Reflexion bliebe also wesentlich unverstanden, bliebe selbst historisch ‚belanglos‘, setzte es sich und seinen Zustand als eine bloße historische Zufälligkeit. Es reflektiert in Wirklichkeit notwendig eine wesentlich, ‚radikale Möglichkeit‘ des Daseins; eine Endgestalt der Reflexion, als endgültige Sammlung abendländischer Existenz. Denken wir beispielsweise an den literarisch beeindruckend vorgestellten Zustand ‚der Einsamkeit‘. (Also wieder eine aufdringliche Wirklichkeit). Sie darf nicht mit der viel besprochenen ‚sozialen Anonymität‘ verwechselt werden; einer Anonymität, die durch Sozialarbeit, durch Architektur u. ä. ‚gemildert‘, ‚technisch‘, therapeutisch gemeistert werden könnte. Ein zweiter Begriff gehört phänomenologisch hierher. Er denkt und erschließt erst den Kontext dieser existentiellen Gestaltung des modernen Mensch-Seins. Ich spreche von der ‚konstituierenden Wahrnehmung der Masse‘. Auch diese Wahrnehmung ‚reflektiert‘ und ist so die Er-Findung der wirklichen Wirklichkeit der Großstadt. Sehen wir es phänomenologisch. Der Mensch – hier und jetzt – ist letztendlich wesentlich freigestellt und wirklich aufgelöst in ‚Masse‘. Eine nicht mehr unmittelbar wahrgenommene Hintergrund-Gestalt. Auch das ist im Grunde keine Frage für eine ‚erklärende‘ Sozialwissenschaft. Der empirisch gerichtete Blick, der sich selbst methodisch zurückstellt, sich ausklammern muss, fasst nicht die wirkliche Wirklichkeit, nicht ‚die wesentliche Qualität‘ einer Lebenswelt. ‚Masse‘ ist hier nicht bloß eine Vielzahl, oder eine ‚lose‘ Ansammlung von Menschen.34 Auf diesem Platz, vor dieser Kirche, in diesem Bahnhof. Etwas das sich aus diesem oder jenem benennbaren Anlass oder auch ‚zufällig‘ bildet und wieder zerfällt. Etwas das mich umschließen kann wie ein Handschuh die Hand. Eine mehr oder weniger unüberschaubare Menge, eine größere Anzahl von Menschen, wie es eben die Gegebenheiten einer Großstadt mit sich bringe. Die ‚Masse‘ soll hier im Übrigen weder als gesellschaftskritischer Kampfbegriff noch als Drohung, oder gar als eine metaphysische Verdammnis,35 auch nicht als Gegen-Beschwörung, ein Ruf zu einem bewussten, ‚eigentlichem‘ Leben verstanden werden. So als sei die Masse die 34

„Die Masse im heutigen Sinne ist etwas anderes. Sie bildet nicht eine Vielzahl unentwickelter, aber entwicklungsfähiger Sondergestalten, sondern steht von vorneherein in einer anderen Struktur: dem Gesetz der Normung, welches der Funktionsform der Maschine zugeordnet ist.“ R. Guardini (1950), S. 68. 35 „Menge ist Unwahrheit. Deshalb wurde Christus gekreuzigt, weil er, obwohl er sich an alle wandte, nichts mit der Menge zu tun haben wollte, weil er in keiner Weise eine Menge zur Hilfe haben wollte, weil er in dieser Beziehung unbedingt von sich weg stieß, keine Partei gründen, keine Abstimmung zulassen wollte, sondern sein, was er war, die Wahrheit, die sich zum Einzelnen verhält.“ S. Kierkegaard (1990), S. 17 ff.

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Gefährdung, die Verdunkelung der wesentlichen Existenz u. ä. Die Masse ist in der phänomenologischen Reflexion der Wirklichkeit das eigentliche, außer Form, außer Begrenzung geratene ‚Subjekt der Großstadt‘. Sie ist eine Gestalt und Gestaltung transzendentaler Reflexion der wirklichen Existenz hier und jetzt. Die Großstadt ist also nicht ein bloß äußerer zufälliger Lebens-Raum der Masse und des anonymen Subjekts. Die Großstadt, immer korrelativ, das ‚anonyme‘ Großstadtbewusstsein ist ganz und gar eingestellt, hin geordnet auf Masse. Das Großstadtbewusstsein als existentieller ‚Selbstentwurf‘ ist die spannende transzendentale Form und der Ausdruck der ‚Anonymität und der Masse‘. Das alles kann wirklich gesehen werden. Diese transzendentale Gestalt zeigt sich als wirklich-wesentlicher Gestaltungsgrund der Existenz der Moderne. Nur auf den ersten Blick (theoretisch verzerrt) können deshalb auch die gespannten ‚ambivalenten‘ Wirklichkeiten der Großstadt verwundern. Das sehen wir, darüber lesen wir, und – nicht zu Letzt – wir erfahren es doch ‚an‘ und ‚in‘ uns selbst. Genauso ‚auffällig‘ wie die Erfahrung der ‚Masse‘ ist die Erfahrung der (einer) existentiellen Vereinzelung in der Großstadt. Beides sind innere und äußere Phänomene und sie sind ‚zugleich‘. Das ‚zugleich‘ könnte vielleicht wiederum irritieren. Phänomenologisch betrachtet, vorgestellt in Beschreibungsreihen, die sich auf das Wesentliche beziehen, wird es einsichtig. Die Großstadt ist geradezu ‚wesentlich‘ und genauso eindringlich wie die Gestalt(ung) der Masse, die ‚Lebenswelt des wirklich vereinzelten Einzelnen‘; – ohne allerdings eine ‚Welt für den Einzelnen‘ zu sein.36 Die Großstadt ist also der Zeit-Raum des wirklich Einzelnen. Allerdings irritierend, – ohne ihn als den EinzelnenExistierenden (im Sinne Kierkegaards) zu meinen. Diese Einzelnen sind die ‚Vereinzelten (in) der Masse‘. Erst als diese Einzelnen (in) der Masse fühlen sie sich als ‚Großstädter‘. Sie ‚sind‘ als dieser selbstverständliche Typus wirklich moderner Mensch. Das alles ist hinreichend besprochen; beispielsweise, in sozialpsychologischen und sozialmedizinischen Untersuchungen. Aber uns interessieren hier nicht diese soziologischen, psychologischen und medizinischen (also die empirischen) Befunde. Bleiben wir an der ‚phänomenologischen Oberfläche‘. Der Einzelne der Großstadt ist scheinbar und das besonders aufdringlich für sich selbst Einzelner ‚in‘ und ‚für‘ die Masse. Nur als ‚Teil‘ der Masse, (unbewusst ist sie auch in ihm präsent), darf und kann der Einzelne seine ihm verliehene, zugestandene ‚massen36 Richard Sennett beschreibt diese eigenartige ‚Dialektik‘ am Beispiel Londons des 19. Jahrhundert so: Die Massenbewegung auf einer monofunktionalen Straße sei der erste Schritt auf „die Begünstigung des Individuums zu“ gewesen, „das unter vielen Menschen seinen eigenen Interessen nachging.“ Sennett (1995), S. 406.

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hafte Einzigkeit‘ vorführen. Das ist sein selbstverständlicher Entwurf. Der Einzelne der Großstadt ist nicht mehr wirklich wirklich ohne die Masse. Sie ist nicht nur sein Spiegel, die Bedingung der Möglichkeit der Re-Flexion und sein Fluchtpunkt. („Bist du allein und von allen Freunden verlassen, dann geh in die Stadt, . . .“). Auch das hat selbstverständlich nichts mit eigentlicher oder uneigentlicher Existenz zu tun. Sondern, – die Masse gehört ihm, dem Einzelnen in seinem Selbstentwurf, ‚einfach‘ wesentlich transzendental zu. Von hier aus lassen sich nun die weiteren Denk- und Lebenslinien einer transzendentalen Reflexion in den Blick nehmen. Konkret, der Entwurf, der unterschiedlichsten Phänomenen großstädtischer Existenz. Das ist der vorstellende phänomenologische Blick auf die selbstverständlichen Kontexte, die wirklichen Netzwerke, die wahrhaftige Geltung, auf die Gestaltungen und die Bewegungen der Großstadt. Die Reflexion der Phänomenologie reflektiert dafür auch die unterschiedlichsten bereits reflexiven Vorlagen. Das sind etwa Phänomene, die sich vor allem durch die, und in der Kunst im Allgemeinen und durch die, und in der Literatur im Besonderen zeigen. Am eindringlichsten und eindrücklichsten bei den so genannten ‚Expressionisten‘, (also, Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler usf.). Sie haben sich selbst schon, ‚versuchsweise‘, ‚experimentell‘, ‚herausfordernd‘, ‚resignativ‘, . . ., als existentielles Großstadt-Bewusstsein mit-reflektiert. Das verändert die ästhetische Selbst-Erfahrung der Moderne. Beispielsweise und wieder nur als eine erste beschreibende Annäherung. Eine Linie dieser literarischen Großstadt-Kritik ist bekannt. Der gesellschaftlich legitimierte Ausdruck dieser großstädtischen metaphysisch-negativen ‚Freiheit von . . .‘, die ‚moderne‘, ‚individuelle‘ Freizügigkeit, sei ein, den eigentlichen Bedürfnissen des Menschen unterschobener Wechselbalg, ein Surrogat, sei schon eine Gestaltung der Verzweiflung, einer wesentlichen Ohnmacht. Diese Gestalt(ung) der existentiellen Befindlichkeit ist ein literarischer Selbstentwurf. Kein sozialer, politischer Klassenkampf würde daran etwas ändern. Soziale, politische Erfahrungen, z. B. der 1. Weltkrieg, bilden hier einen, sicher sehr bedeutsamen, aber nicht wesentlichen Subtext. Wie auch immer im Einzelnen nun die Expressionisten gelesen werden deutlich wird: Schon die Formen dieser expressionistischen Großstadt-Reflexion, diese Bild- und Sprachgestaltung spiegeln, reflektieren offensichtlich auch phänomenologisch die menschheitlichen Grunderfahrungen wie ‚Angst‘, ‚Verzweiflung‘, oder, ‚Wahnsinn‘. Sie lassen sich so auch für unser Anliegen durchaus grundsätzlich als Korrelate der Reflexion der Moderne lesen.37 Die Reflexion der Gedanken ‚Großstadt‘, ‚Großstadt-Bewusstsein‘ 37

Beispielsweise Rainer Maria Rilkes Großstadtroman (1910).

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ist der entworfene Horizont möglicher Konstitution; oder, der ‚Resonanzkörper‘ der modernen Angst und des Horrors. Einem, geradezu und im wahrsten Wortsinne grundlosen Erschreckens. Darauf werde ich später noch ausführlich zurückkommen. Schon dieser sehr kursorische Überblick zeigt eine merkwürdige Spannung. Eine Spannung dieser so entworfenen Wirklichkeit, die sich durch eine, nennen wir es, ‚Reflexion 1‘ nicht ‚mildern‘ lässt. Es ist so als ob die Reflexion sich selbst als Reflexion überforderte. Vielleicht, – um diesen viel strapazierten Titel zu bemühen, – eine erfahrbare, gestaltete ‚wirklich unversöhnliche Dialektik‘. Die Großstadt als Schau-Fenster der Moderne scheint die schöpferischen und die destruktiven Potenzen des abendländischen Menschen eindrücklich vorzustellen, zu entfalten und zu Ende zu bringen. Der neuzeitliche Idealismus, entworfen als ‚absolute‘ Reflexion zerbricht theoretisch und praktisch als existentielle Reflexion der Reflexion. Die Großstadt als willkürliche und unwillkürliche Gestalt und Gestaltung führt den an seine inneren und äußeren Grenzen seiner Möglichkeiten gekommenen abendländischen Menschen vor, – sie stellt ihn wirklich vor sich selbst. Im Horizont seiner Möglichkeiten wird er für sich endlich wirklich und wirklich endlich. Die Großstadt stellt ihm dafür den (seinen) endgültigen Zeit-Raum. Eine Phänomenologie dieses vor allem ‚gestimmten Raumes‘ lenkt über in metaphysische und theologische Perspektiven. Auch sie sind jetzt erst wirkliche Sichtweisen, die sich nun so als abendländische Perspektiven entdecken. Auch hier genügen Hinweise, Einzelbilder. Nehmen wir den Stadtplan einer beliebigen Großstadt. Ohne uns irgendwo festzuhalten. – Er entfaltet sich wie ein Raumzeichen, ein Symbol ohne eigentliche Mitte. Das denken wir nun als einen Hinweis auf eine ‚gleichgültige Horizontale‘. So als sei die so gezeichnete Großstadt sich selbst Zweck; als sei sie sich selbst irritierend genug. Die Reflexion dieses Großstadtbewusstseins reflektiert sich selbst auch dort noch als Großstadtbewusstsein, wo es über sich hinaus zu denken versucht. Der Plan geht ohne weiteres auf. Also, keine Öffnung mehr, – so scheint es jetzt, – auf etwas ‚wirklich ganz anderes‘. Großstadt ist irritierend selbst-verständlich. Ausdrücklich nichts als grenzenlose Menschen-Welt, endlich(er) Menschen-Sinn. Ganz und gar eine menschliche Selbst-Ordnung. Dem Menschen aber, – ‚Dir‘ und ‚Mir‘, – in seiner konkreten Existenz allerdings eigenartig entwachsen, entglitten.38 38 Dazu z. B. G. Simmel in ‚Die Großstädte und das Geistesleben: „Es bedarf nur des Hinweises, dass die Großstädte die eigentlichen Schauplätze dieser über alles Persönliche hinauswachsenden Kultur sind. Hier bietet sich in Bauten und Lebensgestalten, in den Wundern und Komforts der Raum überwindenden Technik, in den Formungen des Gemeinschaftslebens und in den sichtbaren Institutionen des Staates

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Alles, ohne ‚wirklich-in-Rechnung-gestellte‘ maßgebliche Mitte, ohne Transzendenz. Noch etwas gehört zu diesem ‚Text‘. Etwas, allein schon historisch Unvergleichliches. Der (Selbst-)Entwurf eines ganz und gar ‚künstlichen, naturfreien‘ Raumes. Der Mensch als Großstadt-Subjekt bestimmt sich also als ‚natürliches‘ Mensch-Sein auch ‚praktisch‘ neu. Nämlich: Der geschlossene, endgültige Raum der Großstadt, ein endlich-endloser Kulturraum als sicherer Be-Schluss des abendländischen Menschseins. ‚Großstadtluft macht jetzt endgültig frei‘; – frei auch gegenüber jeder Her- und Zukunft, gegenüber der glaubwürdigen Möglichkeit eines Einbruchs des nicht-denkbaren, des wunderbar Anderen. Die Geschichte, die Natur und die Gottheiten werden als museale Restbestände eingegrenzt. Das Großstadt-Bewusstsein als transzendentale Form einer menschheitlichen, ‚theoretisch gnadenlosen‘ Welt. Die ‚Pilgerreise der abendländischen Menschheit‘, ausgerichtet, gezogen durch ‚Transzendenz‘, – scheint, transzendental-endlich-reflektiert bei sich selbst zu enden. Wahrhaftig also und ohne jede Rührseligkeit: ein ‚Jenseits von Eden‘! Auch das lässt sich wiederum deutlich, weil bildhaft eindringlich phänomenologisch an der so genannten ‚modernen Kunst‘ ablesen. Sie ‚zeigt‘ die jetzt wirklich Gestaltung, sagen wir die ‚analoge An-Sicht‘ der Reflexion der Moderne. Schon die Form der ästhetischen Wahrnehmung gibt die Möglichkeit frei zu einem Entwurf für einen konkreten phänomenologischen Leitfaden. Wenn man so will: Es ist die phänomenologisch vorgestellte, bildhafte, fassbare Verwirklichung eines sich-selbst-auf-die-Spurkommen der abendländischen, ganz und gar endlichen Vernunft. Die Engführung neuzeitlicher Transzendentalität, ihre abstrakte historisch rücksichtslose Denkbewegung wird konkret und wahrnehmbar ästhetisch aufgehoben. Die Vernunft reflektiert existentiell. Die Vernunft ‚erfährt‘ sich jetzt endlich als wirklich wirklich. Aber auch umgekehrt. Die moderne Kunst, – die nicht mehr um das schöne Bild ringt, – begreift sich erst wirklich als Leitfaden der Reflexion des Bewusstseins der Moderne. Philosophie und Kunst sammeln jetzt die abendländische Existenz. Versuche diese Reflexion der existentiellen Vernunft durch eine ‚ästhetische Revolution‘ zu destruieren (beispielsweise schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durch Futurismus, Surrealismus und Dadaismus) ändern daran grundsätzlich wirklich nichts. Es gilt etwas ironisch zugespitzt: ‚Wo Du ‚KunstGestalt‘ bist, – da bin auch ich ‚Reflexion der Existenz‘. Beides sind nicht nur zwei, mehr oder weniger zufällig, nebeneinander herlaufende Wege, eine so überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes, dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann.“ In: Simmel (1957), S. 203.

II. Das Existentielle und das Transzendentale

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sondern wesentlich in einander verflochten. Und zwar so, dass durch diese eigenartige ‚Spiegelung‘, die ausdrücklich kein ‚passiver Akt‘ ist, sich die Eigentlichkeit der Reflexion und der Kunst der Moderne zeigen können. So dürfen sie sogar als eine Bestätigung, eine Verstärkung abendländischen ‚vernünftigen Daseins‘ genommen werden. Die Kunst der Moderne stellt eine ‚bewusst gesehene‘, ‚natürlich reflektierte Perspektive‘ aus.39 Diese Perspektive reflektiert in der Reflexion die a-perspektivische Wirklichkeit der modernen Existenz. Es ist die Dar-Stellung, das Leibhaft-werden von Reflexion und Verzweiflung. Dass die Kunst (übrigens nicht nur die der Moderne) in der Regel weder von dem ‚dilettantischen‘ Betrachter noch von den ‚professionellen KunstHändlern‘ so wahrgenommen wird, steht auf einem anderen Blatt. Sie wird vielmehr auch in der Moderne auf eine eigenartige Weise, – in einem weiten Wortverständnis, – immer noch ‚ästhetisiert‘; oder auch unter die seit der Romantik geläufigen Kategorie des ‚Interessanten‘ eingeordnet. Auf diese Weise, in dieser Fassung des Blickes auf die Kunst wird sie mehr oder weniger unbemerkt als existentiell ‚harmlos‘, als ‚entlastend‘ der so genannten ‚harten Lebenswirklichkeit‘ beigestellt. Auch die so gerne in den Feuilletons festgestellte ‚Schwere‘ der Kunst soll das Leben letztendlich doch irgendwie ästhetisch entlasten. Die ‚Bedeutung der Kunst‘ wird durch diese, nicht zu Letzt aber durch die durch den Markt festgelegten Werte bestimmt. Aber, auch dieses ‚Übersehen‘ ihrer existentiellen Reflexions-Formen ist ausdrücklich eine Gestalt für die Reflexion der Reflexion der Moderne. Es ist eben so, dass die Reflexion eines ‚blinden Spiegel‘ nicht weniger, sondern klarer die Möglichkeiten und die Grenzen einer Wirklichkeit zeigt. Eines drängt sich nun in die Wahrnehmung. Das Bild des Zeit-Raum und sein philosophischer Rahmen, – neuzeitlich ‚naiv‘ noch transzendental fundiert, gestaltbar, vernünftig ‚offen‘ gedacht, – scheint, ästhetisch wahrgenommen, perspektivisch ‚subjektiv beliebig‘ zu zerfallen.40 Das Welt-Bild wird jetzt 39 Beispielsweise als Form der Kritik der Moderne; die (hier unbemerkt) immer zugleich auch Selbstkritik ist. Vgl. z. B. Kurt Pinthus: „Aber man fühlte [geschrieben in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts] immer deutlicher die Unmöglichkeit einer Menschheit, die sich ganz und gar abhängig gemacht hatte von ihrer eigenen Schöpfung, von ihrer Wissenschaft, von Technik, Statistik, Handel und Industrie. (. . .). Man begann die Um-wirklichkeit zur Un-Wirklichkeit aufzulösen, durch die Erscheinungen zum Wesen vorzudringen, im Ansturm des Geistes den Feind zu umarmen und zu vernichten.“ Vorwort zur Anthologie ‚Menschheitsdämmerung‘. Berlin 1920. 40 In der Deutung eines ‚verunsicherten Theologen so: „Es ist schwer, in den religiösen Regungen unserer Zeit, die sich zudem noch oft widersprechen, eine einheitliche Linie zu entdecken. Etwas zu verstehen, wohin das religiöse Gefühl des späten Rilke geht und wie es sich zum Daseinswagnis der Existenzphilosophie verhält; welche Innenströmungen sich im neuen Ernstnehmen des Mythos und in der Ent-

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wortwörtlich, je subjektiv ‚endlich scheinbar‘. Und das, willkürlich und unwillkürlich. (Die Welt-Sicht eine Frage des Geschmacks). Die Möglichkeit einer transzendentalen Vernunft als ein selbstverständliches Fundament wird schon existentiell brüchig. ‚Nichts‘ ist in der so vorgestellten Wirklichkeit, (meiner wirklichen Wirklichkeit), wie es nun im einzelnen Bild, im Kunstwerk, im Gedicht scheint. Dieses Reflexionsmuster der Repulsion drängt wieder die Neuzeit als eigene Anschauungsform in den Blick. Das alles bebildert, vertont, vertextet deswegen auch das Ende der Neuzeit. – Auf diese Weise reflektiert es den planlosen Ab-Riß (von) der Neuzeit. Der schon im 19. Jahrhundert beginnende durch die akademische Philosophie inszenierte ‚Blick zurück‘ (‚Zurück zu . . .!) ist dazu kein Widerspruch. Sondern umgekehrt, geradezu eine Bestätigung. Schon der mögliche und der wirklich mögliche vernünftige Ordnungshorizont der Moderne scheinen existentiell fragil. Eine grundsätzliche (erkenntnistheoretische, metaphysische, theologische) Brüchigkeit drängt sich auf. Die ‚unvernünftige, naive Frage‘ lässt sich nicht mehr abweisen: ‚Wer‘ oder ‚was‘ verantwortet im Letzten Ordnung? Mit dem alten Kirchenlied: Wohin soll ich mich (jetzt noch) wenden . . .?41 Die Kunst wird so hier und jetzt zur unmittelbaren Forderung nach einer stetigen, zu keinem wirklichen Grund mehr vorstoßenden Vergewisserung der Selbst-Vergewisserung. Die (oft genug karikierte) Frage eines ‚typischen‘ Kunstbetrachters: ‚Was will/soll mir das sagen‘? – gilt nun wortwörtlich. Das Werk bietet seine Leerstellen der Existenz an. Eine Forderung, sich einzutragen und diese Eintragung zu reflektieren. („So ein Unsinn“. Wie wahr!) Selbst als Ornament für eine Wahrnehmung ist die Kunst in Wirklichkeit so noch irritierend und perturbierend. Schon weil die Kunst willkürlich oder unwillkürlich unbewusstes reflektiert und es mit der Reflexion der Reflexion unentrinnbar wesentlich entwirft,42 wird sie zu einer wirklichen Herausforderung. Die Kunst wird zu einer Gegen-Spielerin eines ‚neuzeitlich idealistisch vernünftigen Denkens‘. In dieser vorläufig weiten Form wird die Kunst zur reflexiven Institution der Moderne. Sie wird zu einer konstitutiven Aus-Stellung, einer Erfahrung, einem existentiellen Entwurf der Reflexion und Verzweiflung. Wahr ist aber auch: Die Reflexion der ‚Reflexionen der Kunst als transzendentaler Entwurf und überlegte Aus-Stellung‘ der Existenz sind ‚Gedandeckung der seelischen Tiefenschichten anzeigen; was aus der nüchternen Großartigkeit der physikalischen Theorien und wieder aus dem von Möglichkeiten wie Gefahren erfüllten technisch-politischen Titanismus unserer Tage spricht, und so fort.“ Romano Guardini (19502). S. 69. 41 Hierher gehört die Frage, das Fragen nach dem Phänomen ‚Fundamentalismus‘. Vgl. dazu: Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel (1992). 42 Und zwar auch im Betrachter (in der Betrachtung) eines Kunstwerkes.

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ken der Philosophie‘. Diese Gedanken der Philosophie der Moderne, ein leibhaftes, existentielles Philosophieren, bleiben selbstverständlich letztendlich selbst der Horizont der Entscheidung des Philosophierens. Ob das Philosophieren der Moderne sich auf die Kunst einlässt oder nicht, es bleibt dabei: Das Philosophieren entkommt sich nicht! – Weder historisch, ästhetisch, noch psychologisch oder soziologisch. Die wirkliche Wirklichkeit eingeführt durch Reflexion und Verzweiflung ist immer eine Sammlung des Philosophierens. Das ist zu tun und die Reflexion weiter zu treiben. Also, das aufdringliche und beeindruckende Existentielle, (Leibhaftig vorgestellt als wirkliche Wirklichkeit), und die Form eines (des?) unabweisbar ‚Transzendentalen‘ systematisch als die gespannte Fassung des Bewusstseins der Moderne zu reflektieren. Das ist offensichtlich eine nicht nur theoretische Spannung. Diese oft bis zur Widersprüchlichkeit zugespitzte ‚Fassung der Moderne‘ zeigt sich und verbirgt sich zugleich als erfahrene, gelebte Krisis und Geltung. (Eben nicht zuletzt in der Kunst). Diese ‚Fassung‘ umreißt den Innenraum der verzweifelten und reflektierenden Existenz. Ohne selbst zuerst und zumeist als transzendentale Form, als Form, die ‚endlich gilt‘ in den Blick zu kommen. Das ist eine eigene, eigenständige philosophische (phänomenologische) Leistung. Mit historisch ausgerichteten, erkenntnistheoretischen oder ontologischen Untersuchungen ist es nicht getan. Gefordert ist ein methodisches, systematisches Philosophieren, das sich einlassen, eindenken kann in die intentional gerichtete wirkliche Existenz der Moderne. Konkret, eine phänomenologische Reflexion ‚meines‘ und ‚unseres‘ je eigenen, unsicheren Entwerfens letztmöglicher Formen. Meine existentielle Reflexion der Reflexion setzt wesentliche Formen und Formungen der Geltung, – gerade weil sie um den unlösbaren Zusammenhang mit der Krisis weiß. Das also ist die endgültige Form der ‚Geltung der Wirklichkeit‘. Es ist die Reflexion der Unhinterdenkbarkeit von ‚Reflexion und Krisis‘. Wahrhaftig Paradox! Das fordert auch philosophisch immer wieder heraus. Während ich selbst das ‚recht bedenke‘, mich philosophierend, systematisch, methodisch auf diese Fragen einlasse, problematisiert sich das Philosophieren selbst. Das Philosophieren sieht sich so endgültig ‚in‘ seinen existentiellen Anfang gestellt. Das umreißt seinen eigentlichen Ort.43 Auch an diesem Ort der wirklichen Reflexion der Moderne, der Reflexion und Krisis begegnen wir Husserl. Husserls Denken lesen wir also zu Recht als eine ‚verzweifelte Grundlagenforschung der Moderne‘. Sein wesentlicher 43

Vgl. Gleixner (1999), S. 50 ff.

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Text der Moderne, – eingelegt als Leitfaden in seine Schriften, – schließt die Fragen der Existenz, der Reflexion und Verzweiflung mit ein. Dieser Grund-Ton seiner Phänomenologie ist leicht zu überhören. Seine transzendentale Phänomenologie denkt im Grunde eine Anlage für eine reflexive Entfaltung dieser neuzeitlich so noch nicht wahrgenommenen ‚anfänglichen Form‘. Diese Reflexionen Husserls lese ich also als ‚wirklich existentielle Phänomenologie‘. In der Form der transzendentalen existentiellen Phänomenologie kann sich nun das existentielle Philosophieren der Moderne ausdrücklich grundsätzlich systematisch vorstellen. Sie wird, so durchdacht und in Form gebracht, wahrhaftig zur ‚Lebensphilosophie der Moderne‘. Husserl selbst arbeitet sich an der Geltungsfrage als wesentliche Gestalt, als Idee des transzendentalen Bewusstseins geradezu verzweifelt ab. Es ist (das hat sich immer wieder gezeigt) ein ‚konstruktives Scheitern‘. Für ihn liegt diese Frage systematisch und historisch noch in einem neuzeitlichen Bewusstseins-Horizont. Er denkt sie unabgeschlossen und selbstverständlich offen für eine Philosophie als strenge Wissenschaft. Vielleicht hat er hier zu wenig auf sich selbst, auf seine eigene, eigentlich existentielle philosophische Not geachtet. Es ist eine Not, die sich aus der Gesamtanlage seines Philosophierens herauslesen lässt. Eine Frage ist für Husserl die philosophische Grund-Frage schlechthin. Zu Recht! Sie bedrängt ganz allgemein die Philosophie, das Philosophieren selbst in ihrer Möglichkeit. Von dieser Frage ist Husserl im Übrigen auch persönlich tief berührt und beunruhigt:44 Welche Form, welche Methoden, auch welchen ‚Geist‘ braucht ein Philosophieren, das einen wirklichen fundamentalen Neuanfangs der Philosophie auf den Weg bringt? Das heißt für ihn (neuzeitlich gedacht) kurz und bündig: Eine ‚wissenschaftliche‘ Grundlegung des Philosophie, eine Grundlegung, die durch das Philosophieren selbst zu leisten sei.45 Es ist die Frage nach den sinnvollen Lebensmöglichkeiten des philosophierenden Menschen hier und jetzt und überhaupt. Dafür braucht es aber eine Reflexion der wirklich existentiellen Reflexion. Der ‚Traum‘ seines ganzen Forscherlebens war es das in seiner Notwendigkeit vorzuführen und (zumindest) vor-zudenken. Nicht zuletzt für sich selbst. 44

„Immer mehr nimmt die Geschichte der Philosophie, von innen her gesehen, den Charakter eines Kampfes ums Dasein an, nämlich des Kampfes der geradehin in ihrer Aufgabe sich auslebenden Philosophie – der Philosophie im naiven Glauben an die Vernunft – mit der sie negierenden oder empirisch sie abwertenden Skepsis. (. . .). Immer mehr wird die Vernunft selbst und ihr ‚Seiendes‘ rätselhaft, (. . .).“ Krisis/§ 5. 45 Ein philosophisches Lehrsystem „das nach gewaltigen Vorarbeiten von Generationen, von unten her mit zweifelssicherem Fundament wirklich anfängt und wie jeder tüchtige Bau in die Höhe wächst, indem Baustein um Baustein gemäß leitenden Einsichten als feste Gestalt dem Festen angefügt wird.“ Logos/291.

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Diese seine Forderung nach einer ‚strengen‘ wissenschaftlichen Philosophie führt auch uns nun nicht in ein existentielles Abseits. Das denkt vielmehr etwas grundlegendes, das, auch für eine existentielle Phänomenologie entscheidend bleibt. Es denkt einen Gedanken, der auch für uns ‚Moderne‘, erfahren in Reflexion und Verzweiflung nach wie vor bedeutsam sein wird. Und zwar wird durch Husserls Phänomenologie der Begriff, die Idee und die ‚Sach-Lage‘ der Wissenschaft(en) selbst aus einer positivistischen Engführung gelöst, in die vor allem das 19. Jahrhundert die Forschung und die Philosophie geführt hat.46 Das ist nicht nur eine Frage für eine Theorie und Praxis der Wissenschaften (für eine Wissenschaftstheorie). Die Idee der Wissenschaft, Geltung und Wahrheit, Sinn und Bedeutung und die Idee des Abendlandes lassen sich nicht voneinander lösen. Begriff und Sache der Wissenschaft ist also die wesentliche Absicht des Abendlandes. Die Phänomenologie ist nie bloße Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Husserl ringt immer auch um die Weite, das Wesentliche des abendländischen Gedankens. Und das nicht nur in seinem Alterswerk. Die transzendentale Phänomenologie ist so in einem ausgezeichneten Sinne und auch ihrem ausdrücklichen existentiellen Grund-Verständnis nach, das Fundament für eine wirklich umfassende wissenschaftliche Grundlagenforschung der Moderne, des Menschen der Moderne.47 Und das soll auch für uns weiterhin die Forschungsleitlinie, die wesentliche Grund-Absicht sein. Die Arbeit an einer phänomenologischen Grundlagenforschung, die als die wahre und wahrhaftige letztmögliche Meta‚wissenschaf‘t die wirkliche Existenz, einschließlich ihrer intentionalen Bestände, reflektiert. In dieser Weite genommen schreckt auch der Titel ‚strenge Wissenschaft‘ nicht mehr. Das alles erfordert einen ausdrücklich systematischen Blick auf Husserls Phänomenologie, – systematisch und eben nicht historisch aneignend. Eine systematisch erarbeitete, radikale Selbstvergewisserung, – ausdrücklich ‚meiner selbst‘, – ist die phänomenologische Grundlage überhaupt. Sie ist nie wirklich ‚erledigt‘. Diese Gestalt der Reflexion(en), die existentielle Reflexion der Reflexion, nenne ich ‚phänomenologische Grundlagenforschung‘. Als diese Grundlagen-Forschung ist das Philosophieren ein theoretisch und praktisch methodisch vielgestaltiger, grundsätzlich verstehbarer, ‚von Anfang an‘ auf Dialog einer ‚horizontalen‘ und ‚vertikalen‘ Forscher46

Vgl. Jürgen Habermas. „Der methodisch gesicherte Fortschritt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hatte Kant Anlass gegeben, die transzendentalen Bedingungen von Erkenntnis überhaupt zu untersuchen; er hatte Comte und die Positivisten dazu gebracht, Erkenntnis im Ganzen mit Wissenschaft zu identifizieren.“ Habermas (1973), S. 116. 47 Vgl. dazu Gleixner (1986).

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gemeinschaft hin angelegter Prozess. Das ist ein selbst-gestaltetes, systematisches Nachdenken der Intention Husserls. Es spricht daher auch nichts dagegen, unser Philosophieren ‚streng wissenschaftlich‘ und ‚transzendentalphänomenologisch‘ zu nennen. Darüber gibt es keinen Streit. Die Phänomenologie ist eine methodische Suchbewegung einer ‚Forscher-Gemeinschaft‘. Nicht anderes als jede wissenschaftlich gerichtete, vernünftige Vorgehensweise. Als transzendentale Grund-Forschung des wirklich wahren und wahrhaftig ‚existentiell Radikalen‘48 ist sie sogar in einem besonderen Sinne ‚Wissenschaft‘. Wie immer die Inhalte einer solchen Wissenschaft im Einzelnen aussehen können (und in Zukunft aussehen werden), eines lässt sich schon mit Bestimmtheit sagen. Es wird eine Wissenschaft sein, die sich nicht neuzeitlich ‚naturalistisch reduziert‘, ‚funktional-technisch‘ einengen lässt. Sich also selbst nicht formal-objektiv ‚zurücklässt‘ und ihre existentiellen Bedingungen vergisst. Sondern ihren Wissenschaftsbegriff ausdrücklich reflexiv ‚von Anfang‘ an auch existentiell selbst-bestimmt. Zumindest als regulative Idee! Zugegeben, das alles ist nun nicht wirklich neu. Es entspricht sogar durchaus der Intention einer großen Linie der Philosophie-Geschichte. Husserl weist bekanntlich ganz traditionell Platon die Rolle des Urstifters ‚echter Wissenschaft‘ zu.49 ‚Echt-sein‘, im Sinne von ‚in Wahrheit unmittelbar aus der Vernunft geschöpft‘, wird dabei zu einem wesentlichen, tragenden Begriff in der Phänomenologie. Das zielt eben nicht auf die Ausgestaltung einer ‚instrumentellen‘ Erkenntnistheorie, einer ‚faktischen‘ Erkenntnislogik.50 Verstehen wir es in unserem Sinne so. ‚Echt-sein‘ gedacht und eingeführt als ein Grundbegriff einer ‚existentiellen Transzendentalität‘. Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Theorie und Praxis sind also von Anfang an in der (meiner) Wirklichkeit unlösbar ineinander verflochten. In mir selbst irritierend, störend, herausfordernd reflexiv fassbar. Es ist also, wenn man so will, auch ein Idealismus. Aber (wortwörtlich) ein ‚wirklicher, existentieller Idealismus‘. Ein Idealismus ohne jede spekulative Verstiegenheit der Vernunft. Jetzt erst wird es möglich wirklich und von Grund auf zu denken. Erst mit Platon sei, so Husserl, die ‚reine Idee‘, die ‚echte Erkenntnis‘ „die echte Theorie und Wissenschaft, und – sie alle umspannend – echte Philosophie“ in das Bewusstsein der Menschen, der abendländischen Mensch48

‚Radikal‘ hier als Zielvorgabe und zugleich als Methoden- und Fragespiel. Ausdrücklich in EP.I. 50 Ludwig Binswanger spricht das schon 1922 sehr klar aus. „Husserls Phänomenologie hat als solche durchaus nichts zu tun mit Erkenntnistheorie, noch weniger stellt sie eine spezielle erkenntnistheoretische Richtung dar, zu welcher Annahme der Name leicht verführen kann: Sie ist streng zu unterscheiden von dem erkenntnistheoretischen Pänomenalismus oder Idealismus Kants (. . .)“. Binswanger, Band 3 (1994), S. 40 ff. 49

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heit getreten. „Der Gesamtbegriff aller in möglichem echten Erkennen zu erzielenden an sich gültigen Wahrheiten bilden notwendig eine theoretisch verbundene und methodisch ins Werk zu setzende Einheit, die einer universalen Wissenschaft. Das ist im Sinne Platons die Philosophie.“51 Dass Husserl allerdings selbst, dokumentiert durch sein lebenslanges verzweifeltes Ringen und Scheitern um einen Anfang, diese gedachte Form einer ‚echten Wissenschaft‘ als bloße ideale Vor-Lage, als regulative Idee der Vernunft praktisch, im Vollzug dechiffriert hat, sei ausdrücklich unterstrichen. Wie auch immer im Einzelnen diese Sicht historisch, philosophisch, philologisch zu beurteilen ist, und ob sie überhaupt einer strengen Platon-Exegese standzuhalten vermag, – hier interessiert uns zunächst ihre ‚wissenschaftstheoretische Zumutung‘. Vor allem aber ihre systematische, ‚existentielle Herausforderung‘. Trotz dieser Einschränkung lässt sich ein Unbehagen nicht ganz ausräumen. Es wird auch mehr oder weniger offen und mehr oder weniger deutlich vorgebracht. Beispielsweise so: Aus der Sicht und dem Selbstverständnis sowohl der Einzelwissenschaften, der sie reflektierenden Wissenschaftstheorien, als auch des neuzeitlichen Alltagsverstandes ist dieses phänomenologische Wissenschaftsverständnis (um das mindeste zu sagen) ein außer-gewöhnlicher, eigenartig abgehobener Anspruch. Polemisch kritisch, sogar: Scheint es geradezu als eine Absurdität eines mehr oder weniger verdeckten metaphysischen Denkens. Und auch ganz ohne jeden kämpferischen Unterton, wird ein ‚aufgeklärtes Denken‘ diese Sicht von vorne herein und ohne jede weitere Auseinandersetzung als ein vor-neuzeitliches Denken, als bloße Konstruktion abtun. Sehen wir aber selbst näher hin. Diese Urteile sind ganz offensichtlich nicht ‚wirklich sachlich‘ gerichtet. Sondern Bedingungen, die ihnen aus einer zu recht gelegten Wissenschaftsgeschichte vorgegeben sind. Das ist eine Wissenschaftsgeschichte, die sich ohne weiteres als selbstverständlich und allgemeingültig setzt. Das ist das Ergebnis einer bestimmten Form neuzeitlichen Denkens. Orientiert sich doch dieses, – auch in der Philosophie so selbstverständlich hingenommene – neuzeitliche Denken (ausdrücklich 51

EP/I 2. Vorlesung. Eine beachtenswerte Position bei Karl Jaspers; er legt eine grundsätzlich verbindende Linie zwischen Philosophie und Wissenschaft fest ohne aber die Philosophie notwendig, inhaltlich oder methodisch, in den Horizont der Wissenschaften einzustellen. Ausgearbeitete Philosophie – so Jaspers – sei zwar an die Wissenschaften gebunden. „Sie setzt die Wissenschaften in dem fortgeschrittenen Zustand voraus, den sie in dem jeweiligen Zeitalter erreicht haben. Aber der Sinn der Philosophie hat einen anderen Ursprung. Vor aller Wissenschaft tritt sie auf, wo Menschen wach werden.“ Jaspers (1957). S. 10.

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oder implizit) in erster Linie an ‚positivistischen Ordnungsfiguren‘ und den entsprechenden szientistischen Handlungsmustern.52 Zu Recht also lässt sich schon Husserl auf diesen Diskurs nicht allzu tief ein. Er grenzt sich ab und stellt seine Reflexionen als ‚systematische progressive Fassung‘ des Wesentlichen zur Verfügung. Auch darin folgen wir ihm. Das ist keine überhebliche Nachlässigkeit. Es ist für uns ausdrücklich nicht wirklich entscheidend, ob dieser (durchaus ‚platonisierenden‘) phänomenologischen Grundlagenforschung der Titel ‚Wissenschaft‘ durch den ‚faktischen Wissenschaftsbetrieb‘ zugesprochen, zugestanden, eingeräumt wird oder nicht. Hier wird das existentielle Selbstverständnis der transzendentalen Phänomenologie praktisch. Die phänomenologische Arbeit der Reflexion entscheidet nämlich notwendig selbst darüber; und zwar als strenge Reflexion der Reflexion. Die Phänomenologie ‚zeigt‘ sich durch die Arbeit der reflexiven Reflexion als anfängliche Form der ‚echten‘ Wissenschaft.53 Sie reflektiert sich selbst kritisch, konkret und transzendental. Das ist die Wahrnehmung der echten, wirklichen Bedingungen der Möglichkeit der Idee von Wissenschaft. Daran schießen wir an. Das ist auch die Arbeitsleiste der existentiellen Phänomenologie. Eines sollte nun nicht mehr allzu sehr überraschen. Ein der transzendentalen Phänomenologie verpflichtetes ‚strenges‘ Philosophieren ist nicht nur ein generationen-übergreifender Gedanke, sondern vor allem auch ein inter- und intra-personales Spiel der ‚menschlichen Existenz‘. Ausgerichtet auf die Menschen-Möglichkeit einer ‚wirklich-bedingten‘ Geltung. Eine endlich-vernünftige, – und ich füge gleich hinzu, – zugleich auch existentiell nicht an ihr faktisches Ende zu bringende Suchbewegung. Dieses phänomenologische Philosophieren steht damit in einer unversöhnlich existentiellen Spannung. Und zwar, zwischen der Ausrichtung einer idealen Forschergemeinschaft hin auf die regulative Idee ‚absoluter Wahrheit‘, (eine Idee, die das abendländische Denken schlechthin bestimmt); und der leibhaften, wirklich konkreten Wirklichkeit meiner je eigenen wesentlich begrenzten (biographischen) Existenz. In dieser ‚endgültigen‘ Form der Reflexion und Verzweiflung vollbringen, erschöpfen sich die abendländischen Möglichkeiten. Allerdings ohne 52 Schelling kommt mit seiner Einlassung (1842) zu spät, oder – wenn man so will – zu früh: „Mit Mathematik, Physik, Naturgeschichte (ich verehre diese Wissenschaften hoch, mit Poesie und Kunst selbst lassen sich die menschlichen Dinge nicht regieren.“ Ausgewählte Schriften, Band 5 (1842–1852), Frankfurt/M. 1985, S. 629. 53 Auch die folgende Forderung Husserls muss ernst genommen werden: „Echte Wissenschaft kennt, soweit ihre wirkliche Lehre reicht, keinen Tiefsinn. Jedes Stück fertiger Wissenschaft ist ein Ganzes von den Denkschritten, deren jeder unmittelbar einsichtig, also gar nicht tiefsinnig ist.“ Logos/339.

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die Existenz zu beruhigen. Die Reflexion dieser eigenartig ‚unruhigen Erschöpfung‘ bestimmt die Moderne (ihre Formen, Kunst, Literatur, Religion . . .). Diese Reflexion kann also nicht nur ein historisches Nachzeichnen sein. Wie immer nun genau diese ‚transzendental-existentielle Spannung‘ vorgestellt und durch das konkrete Vorstellen philosophisch ausgestaltet wird. Es bleibt dabei, und hier kann es keine Zugeständnisse geben. Das Philosophieren ist etwas sich eigensinnig ausschließlich selbst aufgegebenes. Ebenso wie der philosophierende Mensch selbstverständlich für sich selbst steht, – existentiell und transzendental. Und das immer wieder aufs Neue und von Anfang an. Der Mensch kann sich also nicht ‚historisch entlasten‘; sich nicht wissenschaftlich gründlich klären; sich nicht wirklich unter einen allgemeinen, ‚reinen‘ Begriff stellen. Das Philosophieren erfüllt keinen theologischen, ästhetischen oder wissenschaftlichen Auftrag. (Und dass, wer ‚glücklich werden möchte‘ sich anderen Lebeformen, Techniken, Eichsichten zuwenden sollte, dürfte sich hoffentlich inzwischen herumgesprochen haben, – wenigstens das). Wir sind hier und jetzt wirklich ohne Fluchtpunkte! Das Philosophieren selbst bietet weder wissenschaftlich-objektive Fest-Stellungen, noch, einen transzendenten, theologischen, mystischen Rückzugsraums. Das Philosophieren ist eine spannende Denkbewegung im Blick auf das wirklich Allgemeine und endlich Absolute. Und doch ist es immer nur Austrag der je eigenen Existenz, Gestaltung der Reflexion und Verzweiflung. Ob hier die neuzeitlich sehr bestimmende Idee des Fortschritts (wohin eigentlich?) noch ‚greift‘, wäre vor diesem Begriff eigens zu diskutieren.54 Die transzendentale Philosophie, die jetzt in der Form der existentiellen Phänomenologie ‚reflektiert‘, macht selbstverständlich davon keine Ausnahme. Auch sie fasst sich endgültig ‚in der philosophischen Tat‘ (m)einer Denkhandlung (der transzendentalen Reflexion). ‚Endlich offen‘ und ‚absolut geschlossen‘ zugleich. Das ‚begreift‘ die Spannung in der schon das neuzeitliche Philosophieren (für sich selbst nicht wahrnehmbar) von Anfang an angesiedelt ist. Eingelassen also, ohne selbst die darin sich entfaltenden Möglichkeiten – nennen wir es, die Potenz ‚der‘ Moderne – als die ungeheure Herausforderung begreifen zu können.55 54

„Seit der Aufklärung und wirtschaftlich seit der industriellen Revolution versteht sich die Neuzeit als Ära des Fortschritts. Auch wo sie selbstkritisch ist, misst sie sich an der anerkannten Forderung der Fortschrittlichkeit.“ Carl Friedrich von Weizsäcker (1983), S. 364. 55 Aus einer theologisch-existentiellen Perspektive schreibt Max Müller: „Das Geheimnis dieser Verendlichung des Unendlichen, in welchem dieses letztere allein offenbar werden und seine Wahrheit gewinnen kann, in welchem es allem seine und damit dessen Wahrheit schenkt, ist so unergründlich, wie auf christlich-religiösem Gebiet die Freiheit Gottes, der seinen Sohn in der endlichen Gestalt Jesu uns zuschickt und in ihr sich inkarniert, unbegreiflich ist.“ Müller (19643), S. 265.

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So bleibt es dabei. Die ‚reine‘ Vernunft kann es nicht fassen, – am allerwenigsten sich selbst. Sie bleibt die große ‚kreative Illusion‘ der Neuzeit. Diese wirkliche philosophische Spannung ‚gestaltet‘ auch noch systematisch (unbemerkt durch den ‚Zeit-Geist‘) die Wissenschaften und die Lebenswelt des Modernen. Trotz, ja gerade wegen aller erfahrenen und gelebten Irritationen glaubt ‚man‘ daran festhalten zu müssen: Ein vernünftig geordnetes, rational stimmiges Dasein ist grundsätzlich möglich. Bei allen aufflackernden Dissonanzen bleibt das der immer noch gültige neuzeitliche Grundton. Die Gestaltung des existentiellen Philosophierens, das wirkliche ‚transzendentale Denken der Moderne (als Akt und Form) ist selbstbewusst; nicht aber ‚selbstgefällig‘. Das Philosophieren hat sich selbst wirklich als eine Form, ein Ausdruck der endlichen Existenz erreicht. Das ist irritierend und verstörend. Es gibt weiter zu denken. Vor dem Hintergrund des bisher entfalteten darf der Frage nicht ausgewichen werden: Was vermag dieses, so der eigenen Endlichkeit der Existenz ‚ausgelieferte‘ Philosophieren noch? Die Antwort scheint klar. Gemessen an den ‚positiven‘ Wissenschaften, ihren messbaren, sichtbaren, spürbaren Erfolgen, ihrer funktionalen Brauchbarkeit, ihren Fortschritten, nicht viel. Nichts was die Alltäglichkeit (Dich und Mich in unserer Lebenswelt) faktisch-nachhaltig beeindrucken könnte. Die ‚philosophische Leistung‘ ist also nichts weiter als die mühselige Arbeit an einer Fassung für das endliche Mensch-Sein. Ein Da-Sein, das verzweifelt auf Absolutes, Sinn, Ordnung, Geltung, Gott ausgerichtet ist. Ausgerichtet auf unerreichbares! Ein Existieren mit einer ausweglosen Spannung. In der Tat, dieses Fragen lässt sich tatsächlich nicht wissenschaftlich zurichten. Es benennt nicht die Wirklichkeiten der Wissenschaft; – aber, es zeichnet phänomenologisch ihre existentiellen Grenzen. Wirklich und wahrhaftig eigenartig! Ein offensichtlich ‚nutzloses Wissen‘ das paradoxer Weise den möglichen wissenschaftlichen Wert und Unwert bestimmt.56 (Das mag die Wissenschaften interessieren oder nicht). Darauf sind wir immer wieder gestoßen. Daraus folgt dieses sehr grundsätzlich Bestimmende einer phänomenologischen Grundlagenforschung. Diese Grund-Spannung – systematisch, existentiell und von Anfang an – an der eigenen endlichen Wirklichkeit ‚reflektiert‘, kann, anders als es beispielsweise das Denken im Umkreis der logischen Positivismus für sich reklamiert, keine bloße Erkenntnis- oder 56 Wolfgang Schadewaldt beschreibt das so: Die Einzelwissenschaft soll „sich innerhalb des Horizonts der Philosophie wissen und die Fühlung mit ihr bewahren. Man kann sagen, dass echte Einzelwissenschaft nur da ist, wo sie in ihrem einzelnen Tun sich ständig weiß und fühlt in immer weiter angrenzenden Horizonten, bis zu dem Horizont des Menschlichen und endlichen Seins im Ganzen. Wo sie das nicht tut, wird es defizent.“ Schadewaldt (1978), S. 34.

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‚formale‘ Wissenschaftstheorie sein. Ebenso wenig eine Übernahme irgendeiner Form neuzeitlicher Transzendentalität; ein Gedanke der absoluten, reinen Vernunft; ein Idealismus. All das sind aus der Perspektive der Reflexion der Reflexion der Moderne noch ‚neuzeitliche Engführungen‘; oder, Weisen einer Idealisierung. Die (nennen wir sie) ‚aufgeklärten positivistischen Engführungen‘, die sich selbst als Form selbstverständlich ‚absolut‘ setzen, sind genauso existentiell zu hinterdenken, wie alle ‚vor-neuzeitlichen‘ Über-Griffe auf irgendein Jenseits der Menschen-Vernunft. Eines ist klar, (und davon gehen wir weiterhin aus): Die phänomenologische Grundlagenforschung ist keine Wissenschaft in einem neuzeitlichen Sinne.57 Sie ist aber ein ‚wirklich strenges, systematisches Denken‘. Und das in einem ausgezeichneten Sinne. Auch das ist die Entfaltung eines Gedankens, der sich erst in der Forschergemeinschaft der Phänomenologen reflektiert. Phänomenologische Arbeit ist wesentlich ein ausdrückliches Miteinander – horizontal und vertikal – im interpersonal konstituierten Horizont. Diese Phänomenologische Reflexion braucht dafür und zunächst einen ‚Leitfaden‘; braucht ausdrücklich eine ‚vorstellbare‘ intentionale Gestaltung der Reflexion. Nicht als ob damit schon eine, ein für alle Mal gültige Ansicht und Aussicht gewonnen sei, die das Philosophieren der Moderne endgültig aus der ‚neuzeitlichen Spannung‘ herausführen könnte. Gleichsam eine bloße ‚technische‘ Form einer ‚a priori Entscheidung‘. Auch das braucht selbst wiederum eine Vor-Stellung der Reflexion. Ein solcher Leitfaden ist daher ‚natürlich‘ Gestalt eines nicht willkürlichen Vor-Verständnis (in) der Philosophie. Ein Vorverständnis, das zunächst historisch an-, aber nicht systematisch hingenommen werden darf. Vielleicht vergleichbar der viel bemühten ‚Wittgensteinschen Leiter‘, die zurückgelassen werden kann, wenn der Aufstieg ‚bewältigt‘ ist. Den Leitfaden der Reflexion des Philosophierens, für eine ‚existentielle Reflexion‘ der Reflexion habe ich also bewusst einer phänomenologischen Vorlage entnommen. Sie führt bereits ausdrücklich eine Form der Reflexion der Reflexion vor. Und zwar das transzendentale Denken Husserls. Konkret, in der Verknüpfung seiner Vorlesungen zur ‚Ersten Philosophie‘58 mit seiner 57 Das hat im Übrigen auch Husserl so gesehen. Seine Vorstellung einer ‚Philosophie als strenger Wissenschaft‘ hat eine andere Ausrichtung. 58 „Der Name Erste Philosophie würde dann hindeuten auf eine wissenschaftliche Disziplin des Anfangs; er würde es erwarten lassen, dass die oberste Zweckidee der Philosophie für den Anfang oder für ein geschlossenes Gebiet der Anfänge, nach geistiger Vorbereitung, nach exakter Formulierung und dann wissenschaftlicher Lösung.“ EP.I/Erste Vorlesung.

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in den ‚Krisis-Abhandlungen‘ vorgestellten Theorie der Lebenswelt.59 Dass Husserl selbst die Möglichkeiten seines Denkens, den Horizont für das ‚endliche‘, existentielle Bewusstsein der Moderne ‚absolut endlich‘ aufzureißen, nicht wirklich gesehen, zumindest nicht zu Ende gedacht hat, darf dabei nie unterschlagen werden. Darauf habe ich immer wieder aufmerksam gemacht. Husserl hat unermüdlich und scheinbar unbeirrt seine Vorlagen für eine transzendentale Phänomenologie bis zu Letzt als Schritte für eine (möglicherweise) in ferner Zukunft liegende Vollendung des neuzeitlichen Vernunft-An-Spruchs der Philosophie verstanden. Die transzendentale Phänomenologie entworfen geradezu als einzig mögliche Rettung der abendländischen Welt. Die Vorstellung und Entfaltung einer ‚transzendentalen-existentiellen Faktizität‘, das Wirkliche, Wahrhaftige und das Wahre, als eine Möglichkeit radikaler phänomenologischer Reflexion, war außerhalb seines Blickes.60 Dieser phänomenologische Idealismus wird existentiell reflektiert. Der Philosophierende selbst erfährt sich endlich herausgefordert. Wie weit dieser vorgestellte ‚phänomenologische Leitfaden‘ (das ist korrelativ ein entwerfendes, methodisches Sehen, ein ‚Schauen‘, eine ‚einbildende Lebenshaltung‘) den Philosophierenden nun existentiell-philosophisch ‚wirklich und wahrhaftig‘ führt, ob seiner Reflexion dadurch endlich wesentlich Halt gegeben werden kann, ein stabiles Selbst-Bewusstsein möglich wird, ist allerdings noch nicht ausgemacht. Die phänomenologische Grundlagenarbeit ist unaufhebbar eine ‚Arbeitsphilosophie‘. Sie entscheidet sich in der konkreten Gestaltung. Korrekturen sind ‚wirklich angemessene‘ Gestaltungsmöglichkeiten dieser philosophischen Arbeit. Selbst die Möglichkeit eines gründlichen Scheiterns schreckt nicht. Denn noch ein Scheitern, also das endgültige, evidente Zerbrechen aller Sicherheiten der Reflexion durch Reflexion, des philosophischen Gedankens gäbe paradoxerweise einen phänomenologischen Sinn. Wäre es doch geradezu die ‚sichere‘ Vorstellung endlicher, leibhafter Existenz; wäre die Einführung der wirklichen Wirklichkeit einer ‚end-gültigen Moderne‘, einer wirklichen, existentiellen Transzendentalität. Mit einem Satz: Eine tragisch-ironische Bestätigung der endlichen Wirklichkeit des philosophischen Gedankens hier und jetzt. Die reflexive Reflexion der Faktizität meiner Existenz, meine so wirklich vorgestellte ‚Lebensphilosophie‘ ist – wo immer wir auch ansetzen – nicht weiter hinterdenkbar. 59

Die alltägliche Lebensumwelt „in der wir alle, auch ich, der jeweils Philosophierende, bewußtseinsmäßig Dasein haben, und nicht minder die Wissenschaften, als Kulturtatsachen in dieser Welt mit ihren Wissenschaftlern und Theorien.“ Krisis/§ 28. 60 Sicher auch persönlich ‚stark verleidet‘ durch die ‚Anthropologie‘ Heideggers und Max Schelers.

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Das also ist die phänomenologische Fassung der philosophischen Grundlinie der Moderne. Eine endgültige Gestaltung von Möglichkeiten der abendländischen Denkgeschichte. Die Phänomenologische Grundlagenforschung denkt das Philosophieren der Moderne ausdrücklich als eine ‚existentielle Reflexion der transzendentalen Reflexion‘. Die ‚idealistische Idee des Absoluten‘ wird endlich endlich gedacht. Und gerade deshalb gilt ausdrücklich: ‚Ich habe meine Sache existentiell nicht auf Nichts gestellt‘! Ich selbst bin es doch der die Vernunft, die Vernunftleistungen – möglicherweise ‚absolut‘, möglicherweise als Nichts – denkt. Ich existiere wirklich! Die Phänomenologie knüpft damit offensichtlich und grundsätzlich an die bekannte ‚aufgeklärte Ausrichtung‘ neuzeitlichen Philosophierens an. Schon allein durch die vertrauten Sprachspiele neuzeitlichen Philosophierens. Aber auch im formalen Geltungsanspruch eines ‚ich selbst‘ dokumentiert sich darüber hinaus eine logische Nähe zu einem neuzeitlichen transzendentalen Denken. Wie immer es um mich selbst, mit meiner Welt- und Selbstbezogenheit, formuliert durch Reflexion und Verzweiflung, bestellt sein mag, meine Vorstellungen intendieren – sie können nicht anders – ‚Wahrhaftigkeit‘. Die Phänomenologie der Moderne beansprucht in diesem Sinne ganz ‚selbst-verständlich Geltung‘. Selbst noch eine behauptete ‚Irrationalität‘ ist die (‚meine‘) Behauptung der Irrationalität. Unbenommen davon gilt, ob diese damit verbundenen Ansprüche überhaupt eingelöst werden können, wird sich erst mit der unentwegten Arbeit der reflexiven Reflexion zeigen. Nicht als eine ‚endgültige Erfüllung der Vernunftansprüche‘, sondern als Verwirklichung der Arbeit der Reflexion der Reflexion. Die Ausrichtung dieser existentiellen Intention auf ‚Geltung‘, dieser konkrete Arbeitsvollzug, gestaltet also auch je mein und unser Denken hier und jetzt. Davon gehe ich aus und darauf denke ich hin und darauf sind wir unlösbar eingeschworen. Dieser Anspruch der transzendentalen Reflexion ist grundsätzlich die notwendige Bedingung für jede Theorie und Praxis; also auch für eine ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ der Existenz der Moderne. Daran gibt es für mich keinen Zweifel: ‚Geltung‘ ist nie und nimmer ein unwillkürlicher Zufall. Genauso wenig ein metaphysisches Geschenk. Oder, Form dieser oder jener reinen Anschauung, dieses oder jenes Kategoriensystems. Sondern, Geltung ist eine unumgängliche, willkürlich existentielle Konstruktion, ein regelrechter Entwurf der Reflexion und Verzweiflung. Jetzt erfährt also diese so bekannte und vertraute neuzeitliche Denkfigur eine wortwörtlich wirkliche ‚positive Radikalisierung‘. Ihre verborgenen existentiellen Wurzeln werden phänomenologisch vorgestellt, entworfen, gedacht und als entscheidende Reflexion, als eine existentielle Reflexion der Reflexion und Krisis eingeführt. Eine endgültige Begrenzung der abendländischen Ausrichtung, die sich in dieser transzendentalen Form als wirklich absolut denkt. Wahrhaftig, die Erschöpfung einer ‚umgrenzten‘ Suchbe-

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wegung! (Odysseus ist bei sich selbst angekommen). Diese phänomenologische Reflexion der Reflexion erfasst so wesentlicher, gründlicher und wirklicher, eben leibhafter, existentieller als alle theoretische Aufklärung und Kritik des Bewusstseins die neuzeitlich (abendländisch) inszenierte SelbstKonstitution der reinen und praktischen Vernunft. Die phänomenologische Reflexion entwirft den wirklich nicht-hinterdenkbaren existentiellen Grund. Und begrenzt sich natürlich im Übrigen damit selbst. Das Selbstverständnis ist im hier und jetzt existentiell begrenzter und zugleich umfassender. Weil es wahrhaftiger und wirklich durchdringender, und auch natürlich und unaufhebbar ‚verzweifelter‘ ist. Der wahrhaftige Grund der Endgültigkeit der abendländischen Denkmöglichkeiten reflektiert. Es ist die wirkliche, letztmögliche Hinterdenklichkeit des Philosophierens. ‚Ich‘ habe mich ganz und gar endlich entdeckt und mit dieser einfachen Wirklichkeit verzweifelt ins philosophische Spiel (ein abendländisches End-Spiel) gebracht. Wenn man so will, ist das jetzt die wirkliche Aufklärung der Aufklärung. Also tatsächlich, – die endgültige Reflexion der Neuzeit. Diese Phänomenologische Grundlagenforschung entwirft sich als Wesensund ganzheitliche Daseinsforschung.61 Schauend und nicht-spekulativ! Und beides so, dass dabei die existentielle Spannung nicht verdrängt oder gewaltsam empirisch, idealistisch oder theologisch aufgelöst wird. Sondern, bei allen Irrungen und Wirrungen einer komplexen Entfaltung sich als wahrhaftig und konkret als ‚meine je eigene‘, wesentlich menschliche Wirklichkeit zeigt, – und sich gerade so ‚endlich Geltung‘ verschafft. Das scheint nun – gemessen an der großen philosophischen Tradition nicht sehr viel zu sein. Und trotzdem lassen wir uns nicht beirren; – schauen wir selbst genauer hin! Hier geht der Blick weit über die neuzeitliche, in einem engeren Sinne, transzendentale Philosophie (der reinen Vernunft, des Idealismus) hinaus. Bei allen Unterschieden der philosophischen Epochen, der Schulen und Ausrichtungen, lässt sich eine einheitliche philosophische Grundintention vorstellen. Eine willkürliche und unwillkürliche Ausrichtung auf sich selbst. Auf sich selbst, der sich selbst herausgefordert ‚weiß‘ sich wesentlich und ganzheitlich ‚existentiell‘ zu begreifen und sich so selbst zu verantworten. Darin liegt von Anfang an die Anlage, diese Herausforderung, diese existentielle Fassung in Wahrheit und wahrhaftig zu reflektieren. Wiederum systematisch, letztendlich ‚eigensinnig! Nennen wir es die ‚Grund‘ bestimmende Sehnsuchtsleistung des Philosophierens. Eine Grundform, die sich natürlich schon im Denken Platons (und Sokrates’) ausspricht, ohne allerdings sich darin schon wirklich ‚einzulassen‘, zu reflektieren.62 61

Vgl. dazu Logos/318. Husserl verweist in seinen berühmten Vorlesungen zur ‚Ersten Philosophie‘ auf die Bedeutung Sokrates und Platon; sie hätten den Weg zu einer autonomen 62

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Das Philosophieren der Moderne ist die Phänomenologie. Sie gestaltet, ‚reflektiert‘ hier willkürlich das, was die gesamte ‚Kulturgeschichte‘ der Menschheit zuerst und zumeist unwillkürlich in Bewegung hält. Die Kraft der Reflexion ist, und das selbst noch als Möglichkeit, Treib-Satz, Unruhe, An-Stifter der Menschengeschichte. Alles in allem, sie ist hier und jetzt ‚der Ausdruck‘, ‚die Form‘ der notwendigen Gestalt der Menschheit selbst. Sie ‚zeigt‘, – was immer sie im Einzelnen theoretisch, praktisch und ästhetisch vorlegt, – immer den endlich-endlosen, sich weiter fordernden, ‚offenen‘ und zugleich sich zunehmend ‚verdichtenden‘ Reflexionsprozess. Es ist die Inszenierung der diachronen und synchronen Gestaltung des abendländischen Menschen als bewusstes endliches Mensch-Sein. Diese Erfahrung des Mensch-Seins, (immer als eine vorliegende Möglichkeit, als regulative Idee), gibt nun dem Abendland seine ‚gedankliche Form‘. Das gestaltet nun wie selbstverständlich seine Religion, seine Kunst, und selbst noch die Lebenswelt. Die so wesentliche Reflexions-Gestalt, diese Grund-Form des abendländischen Daseins (Reflexion 1) selbst zu reflektieren, sie endlich wirklich zu ‚radikalisieren‘ ist die originäre konstitutive Leistung (in) der Moderne. Die Moderne (fassen wir ‚Aktionen‘ und ‚Akteure‘ so zusammen) entwirft, inszeniert sich ausdrücklich als existentiellen Bruch mit der Neuzeit. Die Moderne ist also wesentlich nicht ein weiteres Fortschreiten des Vorgestellten Fortschritts. Ein mehr an Technik, Naturbeherrschung im Mikro- und Makrobereich, freizügigere, liberalere Lebensformen, ein Zuwachs an Demokratie, Vollendung der Säkularisation o. ä. Sondern, die Moderne als endgültige Gestalt der Reflexionsgeschichte entdeckt sich wesentlich als philosophische Möglichkeit einer endlichen, existentiellen Reflexion der transzendentalen Reflexion. Kurz und knapp, die Moderne als ein ausdrücklicher Entwurf existentieller, leibhafter Endlichkeit. Die Konstitution eines ‚wirklich unhinterdenkbaren Raumes‘ der die abendländische Existenz endgültig endlich begrenzt.63 Der Traum einer absoluten, reinen Vernunft, einer unendlich fortschreitenden, unwirklichen Reflexionsgeschichte des Abendlandes ist ausgeträumt. Verdichtet als Erfahrung, als Wahrnehmung der ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Das ist der endgültige Weg. Von ‚mir‘ wirklich selbst geführt und von ‚mir‘ wirklich selbst verantwortet. Ein Prozess in dem ‚mein modernes Da-Sein‘ sich wirklich so reflektierend vorfindet, wie hinein ‚gestoßen‘, rückhaltlos; in dem ich, der konkrete Mensch zu seinem endlich endlichen Mensch-Sein immer wieder selbst Stellung beziehen muss. Menschheitsentwicklung eröffnet; d. m. eine Leben, in dem der Mensch in unermüdlicher Selbstbesinnung und radikaler Rechenschaftsabgabe letztauswertende Kritik an seinen Lebenszielen und an seinen Lebenswegen üben könnte. Vgl. EP.I/Vorlesung 1. 63 Dieser wirklich unhinterdenkbare Raum ist die Großstadt, das Großstädtische.

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– Unvertretbar, ich selbst! Auch die Formen des Unwillkürlichen, Irrationalen, des Abweichenden sind von mir selbst entworfen. Dem ist der ‚konkrete Mensch‘ (selbst eine von ‚mir‘ entworfene, konstituierte Gestalt) eigenartig ausgeliefert, dem hat er sich unwillkürlich und willkürlich ausgesetzt. Das gilt, selbst dann noch, wenn er sich zu entziehen versucht. So, gerade so und nicht anders hat er seine abendländischen Möglichkeiten als Wirklichkeit der Moderne endlich eingeholt. Das benennt grundsätzlich und überhaupt die Herausforderung des Philosophierens. Und das vor allen ‚akademischen Fragen‘. Das ist der Sinn des Philosophierens. Es ist die Explikation des Menschen der jetzt im Aufriss seines ‚leibhaft bewussten‘ Denkens ‚endlich sein darf‘ und unvertretbar endlich sein muss. Radikal gewendet ist also das Philosophieren immer eine Form existentieller Reflexion der Reflexion. Dieser ‚eindringlichen Radikalisierung‘ darf und kann sich das Philosophieren nicht mehr entziehen. Das Philosophieren ist zum einen also ‚einfach‘ eingerichtet. Es ist nicht wirklich abstrakt. Das Philosophieren ist aber auch ein schwieriges, weil ein existentiell hinter- und abgründiges Geschäft. Das Philosophieren ist als Gestaltung, vor dem Hintergrund der Geschichte der Reflexion, nicht nur (wie man meint) thematisch, erkenntnistheoretisch, ontologisch, wissenschaftstheoretisch u. ä. schwierig, komplex, vielfältig aufgefächert. Es ist auch nicht vergleichbar der Entfaltung, dem Fortschreiten der neuzeitlichen Wissenschaften. Sondern gerade als ‚existentielle Form‘, als grundsätzliche Möglichkeit der radikalen Welt- und zugleich Selbstzuwendung erfährt sich das Philosophieren von sich selbst her praktisch als äußerst ‚fragwürdig‘, ja als gefährdet. Diese äußerste grundsätzliche und äußerste radikale Fragwürdigkeit beginnt bereits mit der Beschreibung eines ‚anfänglichen philosophischen Problemhorizonts‘. Das ist die Einführung einer korrelativen ‚Gestalt‘; – der Topologie der reflexiven Reflexion. Das meint beispielsweise, die möglichen Zugangsweisen, Gestaltungen, Wissensformen, Grenzen des Philosophierens. Das alles sind nicht nur historische Fragen. Sondern bei jeder Ausrichtung auf die Möglichkeit eines systematischen Anfangs beunruhigen, bedrängen sie geradezu unwillkürlich. Und Philosophieren ist immer, immer wieder ‚Anfangen‘! Sich immer wieder und von Anfang an dieser wirklichen Beunruhigung, diesem existentiellen Bedrängnis auszusetzen und es zu reflektieren! Hinweise auf die Entscheidung der so genannten ‚Großen‘ der Geschichte der Philosophie klären ‚systematisch‘ nichts. Etwa, – um nur ein Beispiel zu nennen, – schon diese viel besprochenen Grundfragen, ob ‚die‘ Philosophie überhaupt eine Wissenschaft sei;64 ob sie überhaupt, vielleicht sogar, ‚die‘ Wissen64 „Seit den ersten Anfängen hat die Philosophie den Anspruch erhoben, strenge Wissenschaft zu sein, und zwar die Wissenschaft, die den höchsten theoretischen

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schaft sein müsse; und wenn ja, welcher Gestalt(ung) sie zu entsprechen, welche ‚logische Form‘ sie für sich selbst vorzustellen habe, (das ist bekanntlich eine Frage, der seit dem 19. Jahrhundert eine hoher Stellenwert eingeräumt wird); welche wissenschaftstheoretische und lebensweltliche Dignität dem ‚philosophischen Wissen‘ (welchem genau?) zugestanden werden könne und wer dies entscheide; und natürlich vor allem dann die Frage nach dem Fragwürdigen all dieser Fragwürdigkeiten selbst: Worin denn genau ‚die Schwierigkeit des Philosophierens philosophisch bestehe‘; – all das und noch manches andere ist im Grunde philosophisch (!) umstritten. Antworten sind in Wirklichkeit immer auch existentielle Selbst-Entscheidungen. Sie bleiben phänomenologisch (und das ist das verwirrende) im Horizont des Fragwürdigen. Sie bleiben grundsätzlich und unaufhebbar und in einem genauen Wortverständnis ‚Existenz-philosophisch‘. Das wird leicht übersehen. Beispielsweise, und wieder nur eine mögliche, beliebige Illustration. So wird etwa (heute nicht gerade selten) angenommen, das ‚Schwierige‘, das ‚Verwirrende‘ bestimmter Philosophie, bestimmten Philosophierens, sei der ‚nicht-empirischen Sache‘, der eng damit verbundenen eigenartigen (wie man es gerne nennt) ‚abgehobenen‘ Sach-Lage, den ‚spekulativen Inhalten‘, der unwissenschaftlichen ‚Vorgehensweise‘ geschuldet.65 Nun, es mag sein, dass dafür – und nicht nur auf den ersten Blick – einiges zu sprechen scheint. Allein schon die ‚großen‘ traditionellen Themen. Das Sein; die Idee; das Wesen; die Erkenntnis; der Mensch selbst; das Gute; die Normen; das Warum der Welt; Gott; Wahrheit und Geltung überhaupt. – Wahrlich, welch ungeheuren ‚metaphysischen und theologischen Herausforderungen‘! Brechen wir an dieser Stelle vorläufig ab. Eines interessiert hier phänomenologisch und führt uns weiter. Wie immer sich die einzelnen Philosophen, die unterschiedlichen philosophischen Schulen und Ausrichtungen bei diesen und ähnlichen Fragen positionieren, – in einem stimmen sie in der Regel aber im großen Ganzen überein. Und zwar bei der Frage der grundsätzlichen ‚fachlichen Zuständigkeit‘. Das ist allein und ausschließlich Entscheidungsfrage der Philosophie. Dass das so ist, darüber gibt es (wie es scheint) kaum einen Streit zwischen den Philosophen. Der Problemhorizont der Philosophie und des Philosophierens wird philosophisch durch Philosophen bestimmt. Recht so! Allerdings bedrängt uns jetzt die Frage: Wie das ‚Philosophische Bestimmen‘, also, Vorstellen, Beginnen, Entwerfen, Einführen, u. ä., selbst interpersonal einsichtig und als wahrhaftig philosophisch vorstellbar Bedürfnissen Genüge leiste und in ethisch-religiöser Hinsicht ein von reinen Vernunftnormen geregeltes Leben ermögliche.“ Logos/289. 65 Denken wir z. B. an die Denker im Umkreis des Wiener- und Berliner Kreises.

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D. Reflexion und Verzweiflung

einsichtig wird? Nichts ist philosophisch selbstverständlich! Darüber darf also nicht eilfertig historisierend hinweg gedacht werden. Als spreche sich hier das bloße Nach-Scheinen eines Philosophierens aus, das sich immer noch in mythischen oder theologischen Horizonten bewege; ein Philosophieren also, dass sich immer noch nicht an den Wissenschaften, der wissenschaftlichen Form orientiere.

III. Notwendig verstrickt in das Philosophieren Wahrlich, wirklich ein mühseliges Geschäft! Zugegeben, das scheinen nun, auch noch auf einem zweiten kritischen Blick, im weitesten Sinne ‚metaphysische‘ Fragen, Anliegen, Vorstellungen, Ideen zu sein. Wobei, so eine weit verbreitete ‚starke‘ Meinung, schon die Zuordnung zur Metaphysik die Aufforderung impliziere, diese Fragen von vorneherein als Bedeutungslos zurückzulassen. Aber, wie immer wir es rubrizieren, auffällig und verwunderlich genug ist es, dass trotz der zweieinhalb-tausend-jährigen Versuche, diese und ähnliche Probleme wenigstens zureichend theoretisch und praktisch zu bestimmen, sie immer noch existentiell bedrängen. Nichts ist wirklich geklärt! Hinreichend, existentiell beruhigend! Wir wissen es, – nicht einmal der allgemeine philosophische Problemhorizont als eindeutiges Arbeitsfeld ist klar. Also, und in einem Satz: Trotz aller Verworrenheit, Sperrigkeit, dem (meinetwegen) mehr oder weniger offen Unvernünftigen, scheinen diese ‚Fragen‘ philosophisch drängend, existentiell herausfordernd geblieben zu sein. Wie auch immer, zumindest wir Philosophierenden, wir radikal Reflektierenden können im Kontext dieses ‚Vorwurfs‘ (sei er berechtigt oder auch nicht) einem Diskurs nicht ausweichen. Bleibt uns doch auf jeden Fall, wie immer wir es auch wenden, eine als ‚Selbst-Referentiell‘ zu bestimmende Grund-Frage; eine Frage, die das Philosophieren wirklich auf sich selbst zurückwirft. Und zwar nach der sich philosophisch und damit eben auch existentiell aufdrängenden grundsätzlichen Fragwürdigkeit des Philosophierens selbst.66 Und das ist eben keine externe Herausforderung. Also nicht veranlasst durch die Messlatte der Naturwissenschaften, oder durch eine sich als Metawissenschaft verstehende Psychologie. Das Philosophieren vollbringt sich als Philosophieren über das Philosophieren selbst. Die philosophische Reflexion bedrängt sich ernsthaft als Reflexion der Reflexion und zeigt sich für sich selbst bedrohlich. Bedrohlich in einer unheimlichen Radikalität! Vielleicht, und auch das sollte nicht von vorne herein ausgeschlossen werden, verwirklicht sich die Philosophie tatsächlich ‚in ihrer 66 Vielleicht sogar, die Frage nach diesem ‚Typus‘ Mensch, der sich diesem eigenartigen ‚Geschäft‘ hingibt.

III. Notwendig verstrickt in das Philosophieren

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existentiellen Aufhebung‘. Schließlich, das Philosophieren lässt sich nicht vom konkreten Philosophierenden lösen. Der wirklich leibhaft Philosophierende steht damit mit in der (‚seiner‘) Grund-Frage. Die Reflexion der Reflexion erfährt als existentielle Bedingung die wirklich erfahrbare Verzweiflung. Ohne an dieser Stelle alle sich dadurch willkürlich und unwillkürlich aufdrängenden Fragen im Einzelnen aufzulisten und zu entfalten, um von einer Beantwortung ganz zu schweigen, gibt es sogar existentiellen Sinn, die ‚reflexiven Fragen‘ des Philosophierens selbst einfach weiter-voran-zutreiben. Den fragwürdigen Fragehorizont also selbst als einen notwendigen Bestand des Philosophierens wirklich ernst zu nehmen. Dieses ‚existentielle Handeln‘, die Ausstellung der Form ‚Reflexion und Verzweiflung‘ eröffnet immer neue Möglichkeiten, – aber keine wirkliche Sicherheit. So ist es beispielsweise nicht einmal entschieden, ob überhaupt von ‚der‘ Philosophie, ‚dem‘ Philosophieren, ‚der‘ Philosophiegeschichte, nicht einmal dem Philosophierenden philosophisch rechtmäßig, das meint, begründet einsichtig gesprochen werden darf.67 Welch ein eigenartig verwirrender Zirkel! Sehen wir es aber ‚positiv‘. Ordnen wir die Geschichte der Philosophie als eine sehr ‚plastisch‘ entworfene Geschichte des Denkens des Denkens und der Gedanken. Das je eigene Denken, das sich hier (wo genau?) ein- und zuzuordnen versucht, nach ‚Anschlussstellen‘ sucht, kann der eignen existentiellen Wucht der Reflexion nicht mehr ausweichen. Wer oder was also führt hier den Beweis? Wer oder was legitimiert die (‚meine‘) Vorstellung meiner Vorstellungen? Die Philosophie! das Philosophieren! Aber, gibt es denn ‚in Wirklichkeit‘, interpersonal abgestimmt ‚die‘ Philosophie, ‚das‘ Philosophieren, ‚den‘ Philosophierenden? Wie auch immer! Eines scheint unbestreitbar. Kein Philosophieren, am wenigsten ein ‚transzendentales‘ darf diesen durch Reflexion der Reflexion erzwungenen Fragen ausweichen. Behauptet es doch die Ausrichtung auf ‚unbedingte‘, ‚absolute‘ Geltung. Ein bloßer Hinweis auf ‚die reine Vernunft als die Bedingung der Möglichkeit‘, als ‚die selbstverständliche Geltung‘ u. ä., beruhigt möglichweise theoretisch, aber eben nicht wirklich existentiell. Dieser neuzeitlich so selbstverständliche Rückzug auf die Behauptung der ‚Geltungsform der Vernunft‘ ist doch selbst schon Teil einer tief beunruhigenden Abgründigkeit; ein Ausdruck einer umfassenden Irritation. Eigenartigerweise verdeckt, verschwiegen, übersehen, verdrängt . . .! 67 Für den ‚faktischen Philosophiebetrieb gilt nach wie vor die Feststellung Husserls: „Die Zersetzung der gegenwärtigen Philosophie in ihrer ratlosen Betriebsamkeit gibt uns zu denken. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist gegenüber den vorangehenden Zeiten der Verfall unverkennbar. (. . .). Statt einer einheitlich-lebendigen Philosophie haben wir eine ins Uferlose wachsende, aber fast zusammenhangslose philosophische Literatur“. CM/Einleitung.

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D. Reflexion und Verzweiflung

Es bleibt vorerst dabei. Keine philosophischen Sonderrechte für die Vorstellung der Vernunft! Aber eigenartig genug! Das reflektiert doch die Bewegung des Philosophierens selbst. Das Philosophieren ist in sich selbst verstrickt. Der Stand ist beunruhigend. Philosophisch ist immer noch kein wirklicher Anfang, – wohl aber eine ‚Endzone‘ in Sicht. Wiederum, wie immer die Antworten im Einzelnen ausfallen mögen, eines scheint hier, betrachtet von einer reflexiv entworfenen Metaebene der philosophischen Reflexion aus, vor allen Schulmeinungen unabweisbar. Als eine so einfache existentielle Form ist es geradezu ‚transzendental‘ aufregend. Das ist merkwürdig. Denn es ist etwas wirklich triviales, und so wird es deshalb meist übersehen, zumindest nicht ernsthaft eingeführt. Und zwar bin ‚Ich‘ selbst es der philosophiert. Nicht irgendeine ‚reine invariante Vernunft‘; nicht ein ‚absolutes Bewusstsein‘; und natürlich auch kein so oder so organisiertes Gehirn.68 Das zweite ist, dass ‚wir‘ als wirklich dialogisch vernetzte Existenzen uns ‚von Anfang‘ an und ‚existentiell unlösbar‘ gemeinsam in philosophische Fragen verstrickt (vor)finden. Wir sind genötigt, gleichsam noch durch das Philosophieren hindurch selbst zu philosophieren. Und das, ob es uns gelegen kommt oder nicht; selbst noch am Ende der abendländischen Reflexionsgeschichte. Dieser philosophische Horizont der Vernunft, neuzeitlich behauptet als wesentliche, absolute Zeichnung der ErkenntnisWirklichkeit, als Klärung der Grenzen jeder überhaupt möglichen Einsicht, bleibt irritierend existentiell offen. Und zwar so umfassend, dass er sich selbst als möglicherweise wirklich unmöglich fassbar begreift, sich selbst endlich ‚reflexiv aufhebt‘. – Und in dieser ‚Aufhebung‘, erst die existentiellen Bedingungen der Möglichkeit für Mensch und gemeinsame Welt hier und jetzt endlich wirklich wahrnimmt. Das reflektiert also auch den existentiellen Horizont des Philosophierens. Die ‚subjektive‘ Erfahrung der Denkbewegung und der Geschichte der abendländischen Denkbewegung(en). Kurz: Es ist die existentielle Bedingung des Philosophierens, der wir auch in diesem Zusammenhang nicht ausweichen können – ‚unsere Reflexion und unsere Verzweiflung‘. Das Philosophieren der Moderne (davon zu unterscheiden: ein Philosophieren im Horizont der Moderne) bestimmt sich in dieser Aufhebung der neuzeitlichen Vernunft selbst als ‚unüberbietbar Radikal‘. Das gestaltet sich 68 Max Scheler definiert das Philosophieren als einen Liebesbestimmten „Aktus der Teilnahme des Kernes einer endlichen Menschenperson am wesenhaften aller möglichen Dinge. Und ein Mensch vom Wesenstypus des ‚Philosophen‘ ist ein Mensch, der diese Haltung zur Welt einnimmt uns soweit er sie einnimmt.“ Dazu komme noch ein Moment „das der Philosophie und dem Philosophen abzustreiten ganz unmöglich ist. Es besteht darin, dass Philosophie Erkenntnis ist und der Philosoph ein Erkennender.“ Scheler (19544), S. 68.

III. Notwendig verstrickt in das Philosophieren

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in der Form der phänomenologischen Denkfigur der reflexiven Reflexion, die sich hier und jetzt als Philosophieren ausdrücklich ‚wirklich und unlösbar‘ in die existentielle Bewegung ‚Reflexion und Verzweiflung‘ eingespannt weiß. Das ist nicht mehr nur ein theoretisches Nach-denken dieser historischen und/oder systematischen Bewegung, dieser vielgestaltigen Bewegungsgeschichten.69 Sondern es ist ein praktisches entwerfen dieser (‚meiner‘, ‚unserer‘) reflexiven Gestalt(ung). ‚Ich‘ bin es wirklich, immer leibhaft selbst, der reflektiert und sich so entwirft und ‚uns‘ so vorstellt. Erst von hier aus bestimmen sich konkret die Dynamik und die endgültige Abgründigkeit der Moderne, als die systematische und historische Vollendung des Abendlandes. Diese Vollendung ist ein ‚Zu-ende-bringen‘, eine (wortwörtlich) ‚Erschöpfung‘ der ‚Logik der Reflexion‘. Das Philosophieren entdeckt sich wesentlich endlich und endlich wesentlich als wirkliche Erfahrung der Reflexion der wirklichen Existenz. Mit allen praktischen Konsequenzen. So bestätigt sich nun offensichtlich eindrücklich, dass ein ‚problemloser Anfang‘ der Philosophie als selbstverständlicher Entwurf, als transzendentale Form einer ‚absoluten‘ Vernunft nicht mehr möglich ist. Aber auch das ist wahr; es gibt doch wirklich aufdringliche ‚Anfangsfragen‘ des Philosophierens. Wie immer wir uns im Einzelnen erkenntnistheoretisch, wissenschaftstheoretisch, ontologisch, metaphysisch dazu stellen. Davon kann ausgegangen werden: diese philosophischen Anfangsfragen sind existentielle Gestaltungen. Oder auch, schließlich und endlich so: Kein philosophisches Problem ist in Wirklichkeit ‚philosophisch- existentiell Anfang-los‘. Darüber gibt es sicher keinen Streit. Das ist trivial. Philosophieren braucht von Anfang an und auf jeden Fall ein Philosophieren. Das erste Thema des Philosophierens ist also die philosophische Herstellung des wirklichen philosophischen Horizonts; das ist der Grund und die Bewegung der Möglichkeit des Philosophierens. Ein Hinweis auf die Geschichte der Philosophie denkt zu kurz. Die Ansagen aus der Philosophiegeschichte werden erst in ‚meiner‘ und durch ‚meine‘ Reflexion zu einem bedeutsamen philosophischen Text. Die systematische philosophische Reflexion der systematischen philosophischen Reflexion wirkt für ein wissenschaftliches Denken sicher (um das mindeste zu sagen) sehr befremdlich, wie ein ‚Leerlauf‘. Aber noch eine weitere, auf den ersten Blick sogar ‚unfreundliche‘ Frage zwingt in diesem Zusammenhang zu einem ‚Philosophieren über das Philosophieren‘; erzwingt so geradezu eine wirkliche Radikalisierung der Philosophie. (Wobei im Übrigen diese Anfrage an die Philosophie, an ihre Logik für den Alltagsverstand nicht sehr überraschend kommt). Diese eine Frage, eher schon ein vernichtender Verdacht, wird nicht selten vorgebracht um das 69

Dazu Wilhelm Schapp (1959).

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D. Reflexion und Verzweiflung

Philosophieren, auch den Philosophierenden selbst, nicht nur theoretisch, sondern auch (irgendwie) ‚praktisch‘ zu diskreditieren. Etwa so oder so ähnlich eingeführt. Die immer wieder durch die Philosophen besprochenen Schwierigkeiten der Philosophie, also das so genannte ‚Problematische des Philosophierens‘, sind nichts weiter als selbst inszenierte ‚Schwierigkeiten der Philosophie‘, des Philosophierenden. ‚Probleme eines verstiegenen Grübelns‘, eines in-sich-selbst-versponnen Menschentyps. – Ansonsten aber ‚weiß Gott‘ für die wirkliche Welt, für die Wissenschaften, für den Menschen in seiner Alltäglichkeit bedeutungslos. So zusammengefasst, die ‚schwierige Sache‘, die es in der reflexiven Form des Philosophierens immer wieder von Anfang an systematisch zu bewältigen gelte, – sei ‚in Wahrheit‘ ausschließlich und wortwörtlich alleine ‚Sache des Philosophierens‘. Ein Zirkel also, ein leeres, esoterisches Glasperlenspiel, ein selbst eingerichteter und verwalteter Irrgarten. Aus der Perspektive der praktisch erfahrenen und sich immer wieder bestätigenden Alltagsvernunft, – einfach nur ‚irrsinnig‘. In Anlehnung an Karl Kraus: Das Philosophieren selbst ist das Problem, das es zu reflektieren (zu lösen) vorgibt. Das mag wirklich so scheinen. Und da mag sogar durchaus etwas Zutreffendes vorgestellt sein. Welcher Philosoph hat nicht selbst schon diese Fragen an sich selbst gestellt? Wie auch immer, klar ist: Das Philosophieren darf, sie kann diesen Fragen nach sich selbst, nach Sinn, Unsinn, Form und Inhalte des eigenen Philosophierens hier und jetzt, im Zu-Stand der Erschöpfung der Reflexion nicht mehr ausweichen. Diese erforderliche Reflexion der philosophischen Reflexion ist keine bloße Entfaltung der Frage der philosophischen Methoden. Das finden wir auch in den Wissenschaften. Sondern, das sind ausdrücklich existentielle Fragen. Fragen der philosophischen Existenz. Fragen mit denen das ‚Ganze‘ des Philosophierens, des Philosophierenden, eben grundsätzlicher Sinn oder abgründiger Unsinn auf dem Spiel steht. (Ironischerweise hat das im Übrigen gerade die analytische Philosophie verstanden). Auch das ist nicht wirklich neu. Ein Blick auf die neuzeitliche Philosophie scheint das zu bestätigen. Sie hat sich mit diesen ‚Anfangsfragen‘, einer philosophischen Logik der Reflexion, ausdrücklich und intensiv beschäftigt. So wird (beispielsweise) in der Philosophiegeschichte seit dem 17. Jahrhundert diese schwierige, eigenartig verwirrende Herausforderung als Anfangslage des Philosophierens ‚transzendental problematisiert‘. Der Gedanke der ‚reinen‘ Vernunft, seine selbstverständliche Anlage ‚der‘ Vernünftigkeit behauptet sich als die Bedingung der Möglichkeit von Anfang (der Philosophie, der Wissenschaft) überhaupt. Das ist geradezu der durchgehende Zug von Descartes bis Hegel. Zu Recht kann also darauf verwiesen werden.

III. Notwendig verstrickt in das Philosophieren

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Aber, nehmen wir den transzendentalen Gedanken selbst sehr ernst, dann wirkt dieses ‚aufgeklärte Denken der Vernunft‘, wie eine Gebärde der Beruhigung, die, trotz eines beeindruckenden, spekulativen Aufwands über die irritierenden und verstörenden Anfangsfragen rasch und gründlich hinweg denkt. Also eben nicht ‚in Wahrheit wirklich‘ und existentiell anfänglich reflektiert. Das ist nämlich immer eine Entfaltung, eine Reflexion der Reflexion und Verzweiflung. Denk-Akte, die auch ein mögliches existentielles Scheitern, die Fassung einer philosophischen Bedeutungslosigkeit, wirklich denken. Stattdessen wird diese bedeutsame Anfangslage als erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische Vor-Frage, als ‚Einführung‘ der Vernunft, als Vorstellung der grundsätzlichen Vernünftigkeit bestimmt. D. m. willkürlich rational festgelegt; und so ‚über-heblich‘, auf eine eigenartige Weise gewaltsam und blind ein für alle Mal unwirklich verkürzt. Diese theoretische, rationale Sicherung der Philosophie ist in Wirklichkeit ein ‚wissenschaftliches Beiseite-legen‘, sogar ein ‚praktisches Vergessen‘ der philosophischen existentiellen Anlage. Als eine ‚transzendentale Aufgabe‘ bestimmt diese Perspektive, diese Vorstellung der Vernunft immer noch mit das philosophische Denken. Das Drängen aus den Wissenschaften, auch das philosophische, metaphysische Denken möge sich jetzt endlich praktisch, soziologisch, politologisch, psychologisch . . ., ziel- und ergebnisorientiert zeigen, tut ein Übriges. Man betrachte nur die Lehrpläne der Seminare, der Institute für Philosophie. So darf es nicht verwundern, dass vor allem in der so genannten universitären Philosophie selbst eine Überzeugung sich verbreitet (nicht aber wirklich ‚vertieft‘) es gelte nun endlich Schritte ‚nach vorn‘, sachlich, wissenschaftstheoretisch, wissenschaftstauglich ‚praktisch‘, zur Lösung von bedrängenden wissenschaftlichen, politischen, sozialen, ökonomischen Fragen zu gehen. Zusammengefasst und verdichtet: Die Philosophie, nicht zuletzt als Studienfach steht seit Jahrzehnten unter einem hohen Legitimitätsdruck. Das fordert zum einen selbstverständlich ihre ‚historische Logik‘. Aber, und das beunruhigt manche Philosophen noch mehr, darüber hinaus ist ihre Stellung im Konzert der Wissenschaften und ihr Ansehen innerhalb der lebensweltlichen Felder alles andere als gefestigt. (Und das ist noch milde ausgedrückt). Ich vermag darin kein Defizit sehen. Im Gegenteil! Zugegeben, ein philosophieren bewegt sich auf brüchigem Grund, in nicht-vermessenen Zonen. Das wirklich ganz und gar Ungefestigte der ‚philosophischen Gestalt‘, (also Anlage, Form, Denken und Gedanke), zeichnet die Philosophie, das Philosophieren aus. Das ist allerdings ein philosophisches Selbstverständnis das eher die Ausnahme als die akademische Regel der (Berufs)Philosophen vorstellt. Dass das so ist, ist historisch nachvollziehbar. Es ist (so scheint

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mir) eine Folge einer systematisch sehr nachlässigen Bestimmung und einer unzureichenden Entfaltung der wirklichen, existentiellen philosophischen Anfangslage.70 Das mag vorerst genügen. Das umreißt nun die Fragen, die uns wirklich Philosophierende jetzt bewegen. Auf welche Weise, in welcher Form ist vor dem skizzierten Hintergrund, den Vor-Stellungen eines neuzeitlichen selbstbewussten Kontext, einer endgültigen Moderne, eines ‚erschöpften‘ Abendlandes philosophisch anzufangen? Was braucht es an Methoden, an Haltungen, an wirklichem Selbstverständnis, an Ortschaften, an existentiellem Bewusstsein um ‚in‘ den Horizont der (?) Philosophie, möglicherweise endgültig ‚philosophierend‘, d. i. systematisch, einzufallen‘; einzubrechen; sich einzulassen; sich ein zudenken; zu wohnen; u. ä.? Wir entkommen unserer eigenen Fraglichkeit nicht! Fragen wir nämlich konsequent, eindringlich, fällt uns vor allem unser eigenes Denken selbst ein und auf. Also, die Eigenart unserer Denkbewegungen, die sich in einem vertrauten Denkhorizont, einer bestimmten ‚Gedankenwelt‘, bestimmter Denkmöglichkeiten, wie selbstverständlich orientieren. So ‚Selbst-redend‘, dass wir trotz aller immer möglichen Irritationen im Einzelnen, zuerst und zumeist diese doch außergewöhnliche Suchbewegung nicht einmal ungewöhnlich finden. Schon allein das sollte phänomenologisch wiederum zu denken geben. Wir können also staunen, (ver)zweifeln, schauen und reflektieren, was auch immer sonst noch, – wir ‚leben‘, wir existieren schon im Horizont der Philosophie. Diese weite, ‚weiche‘ Behauptung der Möglichkeit und Wirklichkeit der Philosophie denkt den wesentlichen, den ‚entscheidenden Begriff der Philosophie. Wir Abendländer hier und jetzt haben also selbst-verständlich existentiell philosophisch schon ‚angefangen‘. Wir bewegen uns wissenschaftlich, theologisch, ästhetisch – auch unwillkürlich – als abendländische Gestalten, Gestaltungen, Gestalter tatsächlich schon immer (irgendwie) auf philosophischem Grund. Wir, – meine, unsere Gedanken, Denken, Sprache, Institutionen, Religion, Kunst – sind nie ‚in irgendeinem außen‘, metaphysisch, erkenntnistheoretisch vor der Möglichkeit der Reflexion und Verzweiflung; wir sind nie ‚vor‘ aller Philosophie. Wir bewegen uns grundsätzlich in einem Raum, einem Horizont, einer Ortschaft der Philosophie. Das alles ist nicht erdacht, erfunden. Das ist phänomenologisch erschaut. Um diesen möglichen Einwand wenigstens anzusprechen. Auf eines möchte 70 Hans Wagner bedauert zu Recht, dass so gut wie völlig „in unserem Land die systematische Arbeit abgebrochen ((ist)), der Fortgang der systematischen Philosophie ((ist)) unterbrochen worden, und noch kaum zeigen sich Ansätze zu vorwärts führender Wiederaufnahme systematischer Resultate aus der vergangenen Epoche.“ Wagner (1992), S. 31.

III. Notwendig verstrickt in das Philosophieren

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ich wieder ausdrücklich hinweisen. Diese Einsicht liegt (zumindest) auch in der Perspektive der Husserlschen Phänomenologie. Der Phänomenologe, nicht als ‚Berufsrolle‘ sondern als wirkliche Existenz – so schreibt 1910 der Husserlschüler Wilhelm Schapp, – kann seine Methode nicht rein theoretisch demonstrieren, „denn er muss auch die Methode selbst zum Gegenstand der Untersuchung, des Schauens machen. Er kann nur anfangen.“71 ‚Also einfach nur anfangen! Wirklich, existentiell anfangen! – Und das ist wahr und gilt auch für uns immer noch und immer wieder. ‚Wir‘, als Teilnehmer eines von uns verinnerlichten abendländischen Diskurses, sind nämlich von Anfang an dabei, das zu ‚tun‘, was philosophisch zu ‚tun‘ ist. Und zwar uns zu reflektieren! Diese Reflexion gilt es nun als die existentielle Form des Philosophierens reflexiv ‚endgültig‘ zu entfalten. Das Philosophieren als die Form der abendländischen Existenz verbietet sich ‚von Anfang an‘ naiv vorausgesetzte historische, wissenschaftliche Grund-Stücke in die Rechnung zu stellen. Auch ein Hinweis auf eine unbedingte, absolute Vernunft beeindruckt wenig. (Das haben wir uns vor Augen geführt). Philosophieren ist also ganz und gar radikal. Sie bleibt es, selbst angesichts der wirklichen Möglichkeit einer Grund- und Bodenlosigkeit des Anfanges; einer wirklich existentiellen Gefährdung in Form dieser Reflexion. Nichts gilt als selbstverständlich. Selbst die Absicht der Radikalität darf nicht bedenkenlos hingenommen werden. Schon diese Absicht der Radikalität kann – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis – ‚philosophisch wiederum naiv sein‘. Die Geschichte der Philosophie böte die Möglichkeit ausreichend Belege anzuführen. Denken wir beispielsweise nur an Descartes’ in Wirklichkeit metaphysisch (un)gesichertes cogito.72

71

Schapp (1976), S. 8. Vgl. dazu z. B. FTL. § 93: ‚Das Ungenügen der Versuche der Erfahrungskritik seit Descartes‘. 72

E. Reflexion, Großstadt und Moderne I. Transzendental-leibhaftes Krisen-Denken Vor diesem Hintergrund scheint sich nun in der reflexiven Tat (der reflexiven Handlung) eine bestimmte Einsicht, eine Vorstellung systematisch und historisch weiter zu klären. Diese Klärung bestärkt die grundsätzlich phänomenologische Ausrichtung dieser Arbeit. Die existentielle Phänomenologie als die Gestaltung der Philosophie der Moderne. Sie reflektiert das ‚absolut‘ endliche Bewusstsein. Sie zeigt seine ‚erschöpfte, endgültig reflektierte‘ Existenz. Wie paradox! Das also ist das philosophische Spiel der Moderne. Die existentielle Phänomenologie, – die Phänomenologie der endlichen, leibhaften Existenz, – ‚verwirklicht‘ die transzendentale Phänomenologie Husserls. Husserls Phänomenologie wird gelesen als eine eigene Form der entschiedenen, verzweifelten Reflexion des Anfangs.1 Die existentielle Phänomenologie ‚lebt‘ die dort vorgetragene, angestrengte Radikalität der Vernunft als fortdauernde, wirkliche, systematische, auch, historisch unduldsam-strenge Selbst-Kritik. Das schließt eine philosophische Ansicht der wirklichen Existenz mit ein. Das ist eine Existenz, die als intentionale Selbst-Gestalt(ung) sich selbst phänomenologisch nicht mehr ausweichen kann. Diese radikale Kritik des Philosophierens hat die transzendentale Form: ‚existentielle‘ Reflexion der ‚transzendentalen‘ Reflexion.2 Ich hier – bin der wirkliche Beobachter! Nicht ‚vor‘, ‚über‘, ‚jenseits‘ meiner Welt. Eine unentwegt anfängliche Arbeit. Die phänomenologische Arbeit hat dieses wirklich anfängliche Philosophieren3 geduldig-unduldsam ‚leibhaft‘ so zu gestalten, dass sich der ‚selbstverständliche Denkhorizont‘, als iterative Form der endlichen Existenz konstituiert. Das ist der Denkhorizont ‚Großstadt‘, Großstadt-Bewusstseins. Er bleibt zuerst und zumeist philosophisch ungefragt. Diese Reflexion der Reflexion ist eine Form, die zugleich wirklich das wirkliche Bewusstsein der Moderne 1

Vor allem FTL. CM. Krisis. Es gilt: „In neuen Reflexionen muss man sich davon also jederzeit überzeugen können, dass die in den methodologischen Aussagen ausgesagten Sachverhalte in vollkommener Klarheit zu geben seien, dass die benutzten Begriffe sich dem Gegebenen wirklich treu anpassen usw.“ (Ideen I/§ 65). 3 Es gilt: Philosophieren ist immer ‚anfänglich‘. 2

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reflektiert. Das philosophische Bewusstsein der Moderne (Gestalt, Form, Vergeblichkeit) begreift sich endlich mit der Form dieser Phänomenologie. Sie hat eine Selbsteinsicht. Es ist die wahrgenommene Fassung als eine konstitutive Leistung einer radikal-wirklichen Reflexion der Existenz. Diese ‚radikale, endlich wirkliche Reflexion‘ wird damit – umgekehrt – auch selbst der Leitfaden für eine weiterführende phänomenologischen Arbeit. Die wirkliche Wahrnehmung wird wirklich Wahrgenommen. Zum einen im Blick auf eine reflexive Frei-Legung der ‚Reflexion‘ des Bewusstseins der Moderne selbst, mitsamt ihrer zuerst und zumeist verborgenen Anlagen zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Leben; den ‚inneren‘ und ‚äußeren‘ Horizonten. Zum anderen als ‚existentiale‘ Entfaltung des Korrelats des Bewusstseins der Moderne, der Lebenswelt, der Lebensformen, Institutionen, willkürliche und unwillkürliche Gestaltungen, u. ä. Die Reflexion, eigentlich Reflexionen, Reflexionsreihen, Reflexionssysteme, entfalten und zeigen eine eigentümlich dichte Komplexität. Praktisch werden damit auch die Formen einer – im weitesten Sinne noch neuzeitlichen – ‚noetischen‘ und ‚noematischen‘ Reflexion der Geltung mit umfasst.4 Diese phänomenologische existentielle Reflexion des Bewusstseins der Moderne gestaltet eine ‚Transzendentalität‘, die sich von der ‚neuzeitlichen Form der reinen Vernunft‘ (der damit verbundenen Intention auf ein invariantes Wissen ‚jenseits‘ der Geschichte) radikal unterscheidet. ‚Radikal‘, – wortwörtlich verstanden! Das ist eine wirkliche Radikalität, die auch philosophisch entlastet. Diese wirkliche Reflexion intentiert nämlich nicht mehr ein absolutes, reines Bewusstsein. Eine idealistische Chimäre, ein ausgeträumter Traum! Diese Intention aber, die ‚Sehnsucht‘, die diesem Denken ‚unbewusst‘ zugrunde liegt gilt nach wie vor. Sich im Hier und Jetzt der ‚Vernunft‘ aber selbstbewusst verstehend zuzuwenden, ist nur möglich als eine wirkliche Beschreibung der leibhaften Lebensformen der Moderne. Also, – nur möglich in der Fassung meiner je eigenen lebensweltlich eingefugten Existenz. Ein Blickwechsel. Die ‚moderne Welt‘ ist nicht eine historisch zufällige Bühne. Und die ‚Vernunft der Moderne‘ ist nicht ein mehr oder weniger Anteil-nehmender-Zuschauer. Wiederholen wir es eindringlich. Der neuzeitliche (abendländische) Traum einer Philosophie der ‚reinen, absoluten Vernunft‘, dieser idealistische Traum ist ‚endgültige‘ ausgeträumt! Insoweit nehmen wir Husserl also tatsächlich beim Wort.5 Die Phänomenologie reflektiert sich jetzt endlich wirklich wirklich. Das ist eine Gestalt der Phänomenologie, die sich als die äußerste Möglichkeit der abendländischen Reflexion ‚wirklich erfährt‘. Es ist eine Reflexion der Reflexion des wirklichen Schauens. 4 5

Vgl. dazu die Arbeiten von Hans Wagner. Krisis/Beilage XVIII.

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Bei diesen Fragen darf nicht in ‚existenz-philosophischen-Tiefsinn‘ ausgewichen werden. (Eine durchaus verführerische Form der Phänomenologie). Bleiben wir deshalb bewusst ‚phänomenologisch streng oberflächlich‘. Eine erste phänomenologisch ausdrücklich ‚oberflächliche‘ Annäherung ermöglicht beispielsweise ein einfaches Fragen nach ‚den tatsächlichen und möglichen Räumen der Reflexion der Moderne‘. Also: Wohin konkret entwirft sich das sich radikalisierende neuzeitliche Bewusstsein? Wo wahrnehmbar ist seine faktische und notwendige ‚Ortschaft‘? Auf welchem wirklichem Grund, innerhalb welchen Horizonts ‚reflektiert‘ es so, dass es sich endlich in Wahrheit und Wahrhaftig als ‚Leibhaftes‘, Selbstgestaltetes, ganzheitlich Eigengeformtes erfasst; – sich in dieser konkreten Fassung als ‚endlich Einzigartig‘ spiegelt und in dieser Spiegelung ‚abschließend endgültig versteht‘. So kurz und knapp verdichtet: Wo konkret an welchem ‚Ort‘, in welcher ‚Ortschaft‘ ist Reflexion der Reflexion der Moderne wirklich endgültig möglich?6 Diese existentielle Phänomenologie denkt bewusst einfach. Die erste Voraussetzung ist wirklich zu schauen! (Alles andere als einfach). Etwa so: Das mittelbare und unmittelbare Schauen, als die evident ‚ersten und besten‘ Wahrnehmungen existentiell zu reflektieren. Also wirklich und wahrhaftig ein Schauen der Wahrnehmungen, ein ‚reflexives Schauen‘! Dann wird es für uns phänomenologisch einsichtig und aufdringlich: Die Großstadt ist der eindrückliche Entwurf, ist die selbstverständliche Raum- und Zeitgestaltung, ist das hermeneutische Muster, ist der prägende Text und Subtext der Moderne. Und korrelativ, das ‚konkrete Bewusstsein der Großstadt‘ ist das ‚transzendental-wirkliche Bewusstsein‘, es ist das ganz und gar leibhaftes Bewusstsein der Moderne.7 Das also ist der wirklich wahrgenommene Horizont innerhalb dem wir uns selbst als Existenz der Moderne verstehen. In einem ganz ausdrücklichen ‚wesentlichen‘, nicht historischen, nicht soziologischen, nicht archetektonischen Sinne sprechen wir hier von der ‚modernen Großstadt‘. Moderne und Großstadt und Reflexion entfalten sich als ein wirklich wesent6 Beispielsweise in der Kunst-Geschichte der Moderne. Die moderne Kunst ‚besinnt‘ sich selbst als eigenartige Möglichkeit eines Welt- und Selbstverständnisses; in gewisser Weise ‚reflektiert‘ sie bereits ihre Möglichkeiten (ihre Form) der Reflexion. Vgl. Giulio Carlo Aragan versucht eine ‚kunstsoziologische Erklärung‘: „Da sie nicht mehr jene natürliche soziale Verwendbarkeit besitzt, muss sich die Kunst Klarheit verschaffen über ihr wahres Wesen, über die ihr möglichen Funktionen und die Art ihrer Teilnahme am sozialen Geschehen, die es ihr dennoch erlaubt, ihre Autonomie zu bewahren.“ Propyläen Kunstgeschichte. Zwölf Bände, Bd. XII, Die Kunst des XX. Jahrhunderts, Berlin o. J., S. 15. 7 Umso verwunderlicher wie selten die Großstadt, das Bewusstsein der Großstadt als eine philosophische Herausforderung begriffen worden ist.

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lich existentielles Bedingungsverhältnis. Weder ist also diese Form, diese Idee der Großstadt ohne ‚die‘ Moderne, ohne Bewusstsein der Moderne; noch ist diese endgültige Moderne ohne Großstadt, ohne Bewusstsein der Großstadt. Allerdings ist es nicht so, als ob erst ‚die Idee der Moderne‘, – gedacht als Architektur, als Kunst, Literatur, Philosophie, – gewesen wäre, und dann die gestaltete, verwirklichte Großstadt. Das Bewusstsein ‚denkt‘ sich, im Horizont ihrer historischen und systematischen Möglichkeiten, ihren Raum; und ein bestimmter Raum, eine konkrete Zeit, ein erfahrbarer Horizont ermöglicht das dazugehörige Bewusstsein. Also wirklich und wesentlich ein phänomenologisch erfahrenes, erschautes Bedingungsgefüge. Kurz und knapp: Ohne Bewusstsein der Großstadt keine Moderne; und, ohne Bewusstsein der Moderne keine Großstadt. Auch dieser hier vorgestellte Gedanke ist nicht neu. Spätestens mit der Romantik wird zumindest grundsätzlich die Sachlage immer wieder (mehr oder weniger überzeugend) beschrieben. Formen der wirklichen Existenz und des Denkens sind mit bestimmten Räumen, Ortschaften untrennbar verfugt.8 Phänomenologisch ist das aber weder ein kausales Bedingungsverhältnis, noch reicht hier die Vorstellung einer Art dialektischen Beziehung. In einem ‚transzendentalen Jargon‘ können wir diese ‚Horizont-Erfahrung‘ so zusammenfassen: 1. Die Moderne ist die Verdichtung der abendländischen Möglichkeiten, des abendländischen Lebens-, Erfahrungs-, Denkund Ideenraums. 2. Die Bedingung der Möglichkeit der Moderne ist das ‚Bewusstsein der Großstadt‘. Hier erfährt, konkretisiert, verdichtet und reflektiert sich das willkürliche und unwillkürliche Bewusstsein der Moderne als Krisis und Geltung der leibhaften Existenz. Das benennt nun den phänomenologisch zu denkenden Gedanken. Großstadt und Moderne sind die Bedingung (m)einer wirklich wirklichen Existenz. Großstadt und Moderne präsentieren darüber hinaus den Zeit/Raum – erfahren, gestimmt, gedacht, gelebt – eines ‚Abendlandes‘, das hier und jetzt im Grunde theoretisch ausgespielt hat. Ein ‚philosophisches Endspiel‘, in dem durchaus auch tragische Töne anklingen (können), aber insgesamt nicht als eine Tragödie verstanden werden sollte.9 Schreiben wir es (versuchsweise) zeichenhaft so: (Großstadt und Moderne). Als erstes ist dann die Frage nach ‚der Klammer‘ die bewegt und die unsere Untersuchungen phänomenologisch weiter ‚treibt‘. An welche Wirklichkeit soll sie erinnern? Welche Bilder, Vorstellungen soll sie evozie8

Dazu die anregende Arbeit von R. Sennett (1995). Wie nicht selten in der Lyrik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Beispielsweise Georg Trakl. Vgl. etwa sein Else Lasker-Schüler gewidmetes Gedacht: Abendland. Mit den abschließenden vier Zeilen: „Ihr sterbenden Völker! /Bleiche Woge / zerschellend am Strande der Nacht / fallende Sterne“. 9

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ren? Gefragt wird in dieser Form nach den konstitutiven, wirklich-um-greifenden Bedingungen der Möglichkeit der Großstadt und Moderne. Nach dem und wodurch, oder als ‚was‘ eine ‚innere‘ Beziehung ‚hergestellt‘ wird. Ganz konkret nach der ‚anschaulichen‘ Beziehung, nach der ‚transzendentalen‘ Raum- und Zeitfassung, die zuerst und zumeist nicht in den Blick kommt. Diese phänomenologische Reflexion der Reflexion bricht ‚gewaltsam‘ den vertrauten, selbstverständlichen Horizont der Moderne als bloße Darstellung der Entfaltung, der Fortführung der Neuzeit (der Anschauungs- und Denkformen) für uns auf. Also, den historischen Horizont, der uns durch die Kultur-, Kunstwissenschaften, oder als Sozial-, Wirtschaftsgeschichte oder politische Geschichte, auch, Geschichte der Kriege u. ä. sachlich-objektiv beigebracht wird. Die (Selbst)Wahrnehmung der Existenz hat sich grundsätzlich verändert. Das entwirft eine unvergleichlich neue ‚Formatierung der Existenz‘. Schon allein die Form der Selbst-Wahrnehmung, die existentielle Reflexion der Reflexion denkt sich jetzt ‚radikal anders‘, systematisch selbst-bewusst. Die existentielle Reflexion der Reflexion ist Anlass für, und zugleich Ergebnis dieser Neuformatierung des Zeit-Raumes. Existenz und Reflexion der Existenz verweisen nicht nur (irgendwie) theoretisch aufeinander; sondern sie sind unlösbar ineinander ‚verspiegelt‘ und bilden ein wirkliches systemisches Bedingungsgefüge. Das, und nur so, ist der Horizont der Moderne. Nun ist es also nicht mehr ein im weitesten Sinne ‚historischer Diskurs‘, sondern eine systematische, wirklich-phänomenologische Vorstellung der Möglichkeiten meiner endlichen, abendländischer Existenz hier und jetzt. Mein theoretisches und praktisches Denken ist jetzt etwas, das mich selbst existentiell tangiert, – ja, mich ‚wirklich durchdringt‘. Eine mich (‚uns‘) schmerzhaft beeindruckende Erfahrung der selbst wesentlich eigenen, und deshalb, unaufhebbaren Begrenzung, ‚meiner‘ grundlosen Endlichkeit. Die Vorstellung der ‚großen‘ abendländischen Gedanken werden hier und jetzt zu meiner endlichen Ausstattung, zu einem bloßen Versprechen, für das die wirkliche Wirklichkeit nicht einsteht. Ich und meine Welt! Das ist meine Wirklichkeit; mit allem was daraus auch existentiell folgt.10 Jetzt – beispielsweise – kann, jetzt muss ich wirklich glauben! Das ist die Folge der Erfahrung grundloser Endlichkeit. Die sich gerade im Vollzug der Reflexion der Reflexion (der Reflexion) als wirklich einführt. Die Reflexion entdeckt und entfaltet sich in der Ordnung der Verzweiflung. Und doch bleibt eine der großen Traditionen des Philoso10 Rilkes ‚Duineser Elegien‘ können vor dieser ‚Erfahrung‘ gelesen werden. „Warst du nicht immer/noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles/eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen,/ (. . .).“ (Erste Elegie).

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phierens gewahrt. Das alles ist nämlich auch eine Wahrnehmung von ‚Ideen‘. Allerdings nicht von Ideen in einem idealistischem Sinn. (Gleich ob platonisch oder neuzeitlich gedeutet). Sondern, es sind ‚Ideen‘ als phänomenologische Gestalten; als Gestaltungen eines bewussten, leibhaften Schauens. Wenn man so will, eine Herrichtung abendländischer Wirklichkeiten, die hier und jetzt als wirklich anschaulich verstanden werden. Wobei sich dieses existentielle Schauen, – vergeblich ausgerichtet auf ein unbedingtes Wesen, das gewusst werden könnte, – sich selbst mit dieser Vergeblichkeit wirklich einbezieht und reflektiert. Wirksam werden diese als endlich dechiffrierten Ideen als Maßstäbe, Leitlinien, als ‚hermeneutische Auslagen der Moderne‘. Beispielsweise und völlig ‚willkürlich‘, sind es mehr oder weniger den abendländischen Denkhorizont ‚durchstreifende‘ und konstituierende Gedanken wie: Demokratie, oder, Kunde, Arbeiter, Konzern, Technik, Wissenschaft, Medizin, Kunst, Glauben, Religion, und selbstverständlich auch Philosophie und philosophieren. Oder, – davon verschieden und doch schon ‚oberflächlich‘ so eng damit vernetzt, die ‚bloßen‘ archetektonischen Formen der Großstadt als funktionaler und/oder ästhetischer Ausdruck, als Lesezeichen, eben als ‚willkürliche und unwillkürliche Ideen‘ des Bewusstseins der Moderne. Oder, – verkehrstechnische Anlagen als überlegte Organisationsformen. AnLagen, die insgesamt, vernetzt, diese und andere Ideen unbemerkt regulieren, einengen, verstärken, sichern, herausfordern, befreien u. v. m. All das sind willkürliche und noch mehr unwillkürliche Gestalten und Gestaltungen, auch Symbole der Moderne; es sind endgültige Varianten abendländischer Reflexion. Dabei geht es für uns nicht um diese oder jene soziologischen oder psychologischen Bedingungen. Sondern, das alles sind ausdrücklich Fragen der ‚transzendentalen Philosophie‘; also, nicht nur ‚auch‘ für eine transzendentale Philosophie. Natürlich, und das war in dieser Arbeit von Anfang an im Blick, das ist ein transzendentales Philosophierens, das nicht mehr auf unbedingte Formen der Vernunft als letztgültige Konstitutionsbedingungen aus ist. Genauso wenig wie auf die Fassung eines umfassenden, geschlossenen Systems der reinen Vernunft. Die Reflexion der Reflexion entfaltet so in dieser Form der existentiellen Phänomenologie das wirkliche existentielle Bewusstsein; also, das Bewusstseins der Moderne, die wirklichen intentionalen Bezüge und ihre Horizonte. Das denkt ein Denken der Krisis, deren ‚Gestalt‘ entschieden reflexiv erschöpft ist, – während die endgültige historisch praktische ‚Gestaltung‘, sozusagen der lebensweltliche Vollzug allerdings (‚Gott sei Dank‘ oder ‚leider‘) noch aussteht. Nun könnte der letzte Halbsatz zu einer Fehldeutung vielleicht sogar zu einem gründlichen Missverständnis verleiten. Als ob

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einer existentiellen Phänomenologie eine Art ‚Stoizismus‘, oder irgendeine Form einer Schicksalsgläubigkeit zu Grunde läge. Alles das reiht sich aber nicht ein, unter die – ich fasse es möglichst weit – ästhetisierenden, nihilistisch-resignativen Spielarten eines Krisen-Bewusstseins. Also in die bekannten Bildreihen des Untergangs, des kulturellen Niedergangs; oder, einer heroischen Resignation, wie sie sich in den ersten Jahrzehnten des XX. Jahrhunderts ausmachen lässt.11 Ebenso wenig veranstaltet als ein ästhetisches Spiel mit einer irgendwie ‚romantisierenden‘, oder rückwärtsgewandten Modernitätskritik. Beispielsweise vorgebracht als ein sehnsuchtsvoller Blick in ‚die große griechische Zeit‘, in das ‚christliche Mittelalter‘, in eine irgendwie traumhafte ‚Vormoderne‘, oder, utopisch in eine humane ‚NachModerne. Und schließlich, bewegen hier uns auch nicht diese oder jene wissenschaftlichen, also soziologische, psychologische, politologische Krisen-Erklärungen. (Soweit sollte der Text für sich selbst zeugen können). Auch in weitere historische Einzelheiten brauchen wir uns vorerst nicht zu vertiefen.12 Eine historisch gesicherte Definition des Krisis-Begriffes, der Moderne, der Großstadt, schließt sich für eine phänomenologische Arbeit von vorne herein aus. Es genügt für uns also jetzt, in großen Zügen, einige mögliche ‚wissenschaftliche Deutungen‘ zurückzuweisen. ‚Zurückzuweisen‘, – ausdrücklich ohne abzuwerten! Die ‚Krisis der Moderne‘, – phänomenologisch reflektiert – ist nicht irgendein so oder so ‚lebensweltlich gestelltes‘, literarisch, politisch geformtes oder einzelwissenschaftlich zu einem historischen Zustand genormtes ‚verstörendes Forschungsobjekt‘. Diese ‚Krisis‘ ist damit auch keine Frage, auch keine Angelegenheit, kein Forschungsobjekt, einer soziologischen, psychologischen Grundlagen-Wissenschaft. Das mag auf den ersten Blick verwundern. Sind doch diese, – in einem sehr weiten Sinne vorgestellten, – sogenannten ‚Sozial-Wissenschaften‘ nicht nur ‚moderne Wissenschaften‘, sondern ausdrücklich ‚die Wissenschaften der Moderne‘. Wissenschaften, die, so sollte man wohl meinen, unmittelbar mit der Moderne, mit ihrer besonderen Reflexionsstruktur, mit ihren Institutionen, und nicht zu Letzt, mit ihrer Krisis-Erfahrung verflochten sind. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Geschichte der Wissenschaften nie eine bloß zufällige Gestalt(ung) des jeweiligen Zeitraumes ist. Der Zeitgeist, also Stil, Form des Denkens, ästhetische Vorstellungen, passive Synthesen usw., ist selbstverständlich selbst mit eine Gestalt und Gestaltung der Wissenschaften und ihrer Geschichte.13 Gerade das ließe sich vor allem an der Entfaltung der Dominanz der Sozialwissenschaften selbst sehr genau 11

Dazu Gerhard Funke (1972), S. 1. Vgl. dazu Gleixner (1999), S. 128 ff. 13 Das Wort ‚Zeitgeist‘ ist seit 1789 bezeugt und „wird zum Modewort nach 1815, um die jenseits aller Personen existierende Macht zu bezeichnen, der man 12

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dokumentieren.14 Diese ‚Sozial-Wissenschaften‘ verzeichnen doch von Beginn an eine ungeheure Sammlung an ‚Material der politischen, sozialen, gesellschaftlichen Krisendeutung‘. (Und der differenzierten Deutungen der Krisendeutungen). Dazu entwerfen, fingieren sie beeindruckende, ‚passende Darstellungsformen‘ und entsprechende Methoden, sogar eine eigene Methodologie. Also, ein eigenartiges dichtes Netz von Entdecken, Entwerfen, Deuten und Behaupten. Durch ihr methodisches Instrumentarium entdecken und (oft unbemerkt) er-finden, konstruieren sie damit gesellschaftliche Krisen. Dass das im politischen Alltag durchaus nutzbar gemacht werden kann und auch wird sei nur am Rande angemerkt. Und auch das ist wahr und belegt erst recht die ‚theoretische und praktische Modernität‘ der Sozialwissenschaften. Diese ‚modernen Wissenschaften‘ (einschließlich der Psychologie) produzieren nämlich nicht nur irgendein wissenschaftliches Sonderwissen. Ein ‚objektives‘ Wissen, das sich ‚neben‘ oder ‚über‘ den modernen Lebenswelten einrichtet, sich institutionalisiert, und die modernen Lebenswelten, also die Vorgänge, die Gestaltungen und die Subsysteme erklärt und so mitentwirft. Beispielsweise, eben ausdrücklich als einen ‚wissenschaftlichen Objektbereich‘ (neben beliebigen anderen). Sondern diese Wissenschaften, stellen selbst als Form, Methode und Praxis das ‚gültige moderne Handlungsparadigma‘ schlechthin. Kurz und knapp: Ihrem Selbstverständnis nach sind sie die wahre Sozialtechnik und die Agentur der gesellschaftlichen Wahrheit. Sie sind (allerdings mehr verdeckt als offen) die überzeugenden und von sich überzeugten Produzenten, die Muster (oft ausdrücklich ‚ohne Wert‘), die die Bedingung der Möglichkeit von Glaubwürdigkeit für die politischen, gesellschaftlichen, sozialen Felder vorstellen. Es geht nicht mehr um diesen oder jenen Inhalt, jene Einsicht und Vorstellung, sondern um etwas Grundsätzlicheres. Diese ihre wissenschaftlichen Fest-Legungen, also Inhalte, Formen, Methoden, – so wird es trotz der vorhandenen Kritik im Einzelnen angenommen und weitgehend hingenommen, – seien ‚die Leiste‘ an der auch lebensweltlich, existentiell Maß zu nehmen ist. Das seien die Ziele für Kultur, Bildung und nicht zu Letzt für die Philosophie. Also, für ein ‚durchdachtes‘, eben aufgeklärtes Mensch-Sein. Alles in allem, die Spannweite der Vernunft, des vernünftigen Denkens und Handelns. Nur am Rande, selbst Spiritismus und Okkultismus beanspruchen jetzt ausdrücklich ‚Geheimwissenschaft‘ zu sein.15 Diese Vorstellungen von sich unterworfen zu fühlen anfängt“. Geschichte der Deutschen Literatur. VII/2. Gerhard Schulz, Zweiter Teil (1989), S. 105. 14 Dazu Friedrich H. Tenbruck (1984), S. 101 ff. 15 Vgl. Georg Braungart, Spiritismus und Literatur um 1900, in: Braungart (1998), S. 85.

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Wissenschaft, von wissenschaftlichem Denken als Agentur, als Agentin auch der gesellschaftlichen, anthropologischen, philosophischen Wahrheit, sind im späten 19. Jahrhundert ‚breit‘ präsent. Sie gestalten weitgehend selbstverständlich auch noch die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts; und dieser Anspruch ist – trotz mancher grundsätzlicher Kritik – auch heute noch präsent. All das hat seine Geschichte und seine Systematik in der Gestaltung der Reflexion, der Reflexionsgeschichte. Das wird zumeist übergangen. Unbestritten: Schon das Werden und die Entfaltung der Neuzeit, als soziales, kulturelles, lebensweltliches System hat ihr Korrelat im Werden und in der Entfaltung der Natur-Wissenschaft, und zunächst sehr eng damit verbunden, in deren philosophischen Deutungen. Das ist eine ‚neue Form‘ des Denkens, die Vorstellung regulativer Gedanken, der Quantitäten, Strukturen, Zahlen; das ist die Einführung der Form der wirklichen Wirklichkeit. Auch die Existenz des Menschen, sein Selbstverständnis wird nun durch die ‚Aufführungen‘ der Wissenschaften bestimmt. (Ob er es ausdrücklich zur Kenntnis nimmt oder auch nicht. Hier ist im Übrigen einer der folgenreichsten blinden Flecken der Philosophie der Aufklärung). Diese Vorstellungen der Wissenschaften beinhalten natürlich zugleich eine beeindruckende, suggestive Fülle von Möglichkeiten, von Hoffnungen, Wünschen, auch von Zumutungen. Zumindest gilt zusammenfassend das fortschrittliche Ideal: Die Welt(anschauung) wird ‚ordentlich vernünftig‘ durch das wissenschaftliche Denken. Nicht nur die metaphysischen Setzungen der christlichen Religion und ihrer Theologie (der Kirchen) verlieren ihre Selbstverständlichkeit. Die Theologen räumen – unfreiwillig und unwillig, aber auch überlegt und gewollt – ihre letztmögliche theoretische und praktische Metaebene der Lebenssinn-Stiftung. Eigenartig genug und auch das gehört hierher, diese methodischen Sammlungen einer wissenschaftlichen Vernunft, diese Formen des ausdrücklich Rationalen sollen irgendwie selbst noch für irrationales, unvernünftiges ‚haften‘.16 Diese ‚rationale Kolonialisierung des ganzen Menschen‘ durch eine Idee von (wissenschaftlicher) Vernunft klärt nicht nur, sondern, – das zeigt ein zweiter Blick – wirkt willkürlich und unwillkürlich irritierend. Wahrgenommen wird dies zunächst als eine verwirrend dichte Komplexität der Lebenswelt. Eine wirkliche Unübersichtlichkeit – ‚innen‘ und (korrelativ) ‚außen‘. Eingeführt, vorgestellt als eine unwillkürliche Zunahme der Regeldichte und willkürliche Normierung in der Daseinsgestaltung (‚Es‘ geschieht ganz unwillkürlich). Eine alles versengende Sonne weckt die Sehnsucht nach Schatten und ‚Dunkelheit‘. Auch aus dieser Perspektive könnte die Geschichte der Aufklärung gelesen werden. Das Dunkle, Phantastische, Unheimliche, Grauen16

Dazu (z. B.) Elisabeth Bronfen (1998).

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hafte ist nämlich genauso Ausdruck der Neuzeit wie es das korrelative Geflecht ‚Aufklärung und Wissenschaften‘ ist. Das ist nicht nur Geschichte. Die Wissenschaften haben bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört auch den ‚modernen Menschen‘ zugleich zu faszinieren, zu beruhigen und zu beunruhigen. Eine (nennen wir es) ‚irritierte Zuneigung‘ der Menschen gegenüber den Wissenschaften. Sie zeigt sich auf eine eigenartige Weise. Und zwar, ungefestigt und unbegriffen als Haltung, als Ausdruck von ‚tremendum und faszinosum‘. Gerade mit diesen Auswirkungen auf die unwillkürlichen Gestimmtheiten der Menschen, die sich in ihrem Umkreis bewegen (müssen) treten sie so das ‚Erbe‘ der Religion, ja sogar der Magie an. Ein ‚Schein‘ möglicher objektiver Lösungen, eines beruhigenden grundsätzlichen Erklärens, des ‚Besprechen-könnens‘ von Undurchsichtigem; der feste Glaube, die Dinge, Sachlagen, Widerfahrnisse ganz grundsätzlich in der Hand zu haben ist das metaphysische Fundament. Die Wissenschaften eröffnen einen endlos erscheinenden ‚wirklichwahren‘ Horizont der Möglichkeiten. Nichts, wirklich nichts – scheint grundsätzlich unfassbar, unfasslich. So verbindet sich mit den Wissenschaften trotz allem eine geradezu theologische Hoffnung. ‚Wenn auch jetzt noch nicht, aber irgendwann einmal sicher‘. Ob Heil oder Unheil, – ‚richten‘ werden es allein die Wissenschaften, die wissenschaftliche Vernunft. Sie sind Eschatologie und Heilszusage zumindest für den neuzeitlichen Menschen. Eine Heilsgewissheit, ein ‚Reich des Menschen‘ das jetzt schon ‚angebrochen ist‘. Sie sind auch hier ‚natürlich‘ Erben. Sie beerben hier ‚unwillkürlich und oft auch willkürlich‘ die Religionen. Und das ist das Thema ‚hinter‘ diesem Thema. Das weist auch weit über die abendländische Welt hinaus. Wir werden hier an ein metaphysisches Menschheitsthema herangeführt. Der Tod als ‚die wirklich letzte, letzte wirkliche Herausforderung‘, – als der dunkle Ab-Grund, der den Menschen bedrängt und wortwörtlich ‚zu-Tode-erschreckt‘. Die wesentlichen Formen und Ausdrucksweisen des Menschseins sind immer auch Versuche dieses Grund-Thema zu gestalten. Denken wir an die Dichtung, die Kunst, die Religionen und die Philosophie; und natürlich auch und nicht zu Letzt (auf ganz eigenartige Weise, in einer sehr sublimen Einstellung) die Wissenschaften.17 Mag es nun sein, wie es will. Darüber lässt sich auf alle Fälle eine Einigung herstellen. Die Wissenschaften begleiten die ‚neuen Zeiten‘ nicht nur 17 Manfred Pohlen/Margarethe Bautz-Holzherr sehen es (psychoanalytisch vorgestellt) so: „Das moderne Tun zehrt vom Phantasma einer unermesslich fließenden, endlos ausbeutbaren Quelle, die dem bürgerlichen Subjekt zu einem Siegel von Unsterblichkeit geworden ist; es hat seine Sterblichkeit entstellt auf den Schauplatz endloser Produktionstätigkeit: das anale Phantasma magischer Selbstschöpfung.“ Pohlen/Bautz-Holzherr (2001), S. 53.

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E. Reflexion, Großstadt und Moderne

theoretisch. Die Wissenschaften sind die notwendigen Akteure der Aufklärung; sie sind die entscheidenden Gedanken der Neuzeit. Sie gestalten nicht nur ‚tatsächlich‘ den neuzeitlichen sondern (sogar noch entschiedener, unübersehbar, unüberhörbar) den ‚modernen Raum‘. Sie sind aber nicht irgendwie nachträglich, zusätzlich, oder gar bloße Ornamentik einer schon als Wirklichkeit vorhandenen, vorliegenden Lebensgestalt. Vielmehr entwerfen, konstituieren sie den neuzeitlichen und modernen Lebensraum. (Der im Übrigen immer auch ein Denk- und Fühlraum ist). Sie ‚richten ihn gründlich auch kultürlich, ja, metaphysisch ein und aus‘. Sie tun es auf so selbstverständliche Weise, die sehr leicht – nicht nur von den Wissenschaftstreibenden selbst – übersehen werden kann. Das sind nun (in aller Kürze) die Gestalten, die Formen, die Institutionen einer Reflexion die es existentiell zu reflektieren gilt. Eines fällt dabei sofort ins Auge. Die Wissenschaften gestaltet, formatiert eine (auf den ersten Blick eigenartige Form) ‚philosophischer Abstinenz‘. Ein ‚durch-dringend objektiver Blick‘, der seine metaphysischen Implikationen selbst nicht einsieht, nicht einsehen kann; vielleicht auch, nicht einsehen will. Das ist phänomenologisch sehr bedeutsam. Die wissenschaftliche Weltsicht wird als ‚überlegte unüberlegte Verweigerung‘ (in einem sehr weiten Wortverständnis) philosophisch, weltanschaulich wirksam. Beispielsweise, gerade durch den Versuch, sich diesen ‚radikalen existentielle Fragen‘, ‚Werthaltungen‘, Ideen zu verweigern; eben weil sie sich diesen abgewerteten ‚nicht-wissenschaftlichen‘ Fragen ausdrücklich nicht wirklich stellen kann und will; ist der Wissenschaftstreibende gezwungen, sie stattdessen zu vergessen, sie abtun, sie positivistisch zurichten, gefügig machen, sie – mit einem Wort – ideal zu domestizieren. Das drängt sich nun so dem phänomenologischen Blick auf. Das kann dann wirklich nicht mehr übersehen und geleugnet werden. Es scheint historisch und philosophisch auf. Die Wissenschaften verbergen, methodisch; sie verbergen mit diesen reduktiven Formen das ‚existentiell Grundlegende‘. Konkret, die ‚eigentliche‘ existentielle Fassung der Krisis der Moderne, und, – einschließlich, und damit korrelativ verflochten, der je eigenen Krisis. Letztendlich ist das ein historisches und systematisches ‚über-sehen‘ des transzendentalen Grund-Geschehen, des eigentlichen Grund-Gedanken des Abendlandes. Das muss recht verstanden werden. Ein Vorwurf an die Wissenschaften ginge ins Leere. Da ist natürlich keine Spur einer (nennen wir es) ‚ideologischen‘ Absicht der Wissenschaften. Sondern das ist Ausdruck ihrer Wirklichkeit; Prinzip ihrer notwendigen und unleugbar, faktisch so erfolgreichen Gestalt(ung). Phänomenologisch aber hat das philosophisch bedeutsame Folgen. So verschleiern und zeigen die Wissenschaften zugleich (natürlich bedenkenlos‘) ‚Krisis und Reflexion‘ als notwendige Gestalt schon der neu-

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zeitlichen Geistigkeit. Husserl hat bekanntlich – vor allem mit seinen viel besprochenen ‚Krisis-Abhandlungen‘ – diesen dichten theoretischen und praktischen Verflechtungen historisch und systematisch nachgedacht. Sein transzendental-phänomenologisches Nachdenken hat er als einen durch und durch ‚besorgten‘ Aufruf, als einen Appell verstanden; geradezu als einen Rück-Ruf in eine ausdrücklich abendländisch-wirkliche Geistigkeit. Lassen wir hier aber die philosophie-historischen und nicht zuletzt persönlichen Fragen Husserls auf sich beruhen. Schauen wir immer wieder selbst von Anfang an und ‚systematisch-wesentlich‘ hin.18 Dann zeigt es sich in einem weniger ‚grellen Licht‘. Denken wir es uns so. Das alles ist, anders als es Husserl gesehen hat, (und aus seiner Perspektive sicher zu Recht so gesehen hat) aus einer phänomenologischen Sicht in Wirklichkeit weder verwunderlich noch beunruhigend. Sogar im Gegenteil! Es ist eben ganz in der neuzeitlichen Ordnung. Die neuzeitlichen Wissenschaften sind in ihrem Wollen und Ausdruck ausdrücklich ein ‚Oberflächengefüge‘. Die ‚Logik der Wissenschaften‘ ist dieser neuzeitlich Anlage bis heute ausdrücklich oder implizit verpflichtet. Denken wir (beispielsweise noch einmal) an die ‚weit ausgreifenden‘ Sozialwissenschaften, die Geschichtswissenschaften oder, die Tiefen-Psychologie. Ihre konstitutive Potenz (meist als bloßes ‚Instrument einer objektiven Erfahrung‘ missverstanden) fügt ‚angenommene‘, so oder so entworfene Formen und Gestalten als handhabbare, berechenbare Momente einer ‚Oberfläche‘. Alles und jedes, was Wissenschaft, ihr methodischer Blick, ihr geordneter, instrumenteller, berechneter Zugriff ‚taxiert‘, fest-stellt wird ‚zurecht‘ begriffen als Zustand einer ‚faktisch funktionalen Oberfläche‘. Das ist, um das noch einmal ausdrücklich zu unterstreichen kein Defizit der Wissenschaften. Das ist Gestaltung der, durchaus und in allem Ernst, ‚wunderbaren‘ ‚Logik der Wissenschaften‘; nicht zuletzt ist es auch die Bedingung ihrer ‚technischen Erfolge‘. Wissenschaftliche Erkenntnis und philosophischer, oder gar theologischer Tief-Sinn schließen sich grundsätzlich aus. Natürlich reflektieren die Wissenschaften. Die Wissenschaften sind (anders als Heidegger es zu sehen vermeint) ‚wirklich nachdenklich‘. Aber sie bleiben in dieser ‚Reflexion I‘, in dieser ‚natürlichen Nachdenklichkeit‘ assoziiert. Erst eine Reflexion der Reflexion ‚transzendiert‘ ihren logischen Horizont, fasst und versteht ihn wirklich intentional, existentiell. Dieses begrenzte, oberflächliche Selbst-Verständnis von Wissenschaft nehmen im Übrigen bekanntlich auch bestimmte philosophische Richtungen für sich ausdrücklich in Anspruch. Wie auch immer. In einem hatte Husserl somit 18 Auch im Sinne Freuds. Er schreibt, seine Gewohnheit sei es „immer zuerst an den Dingen zu studieren“, ehe er in den Büchern nachgeschlagen habe. (Werke Bd. X, S. 58).

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E. Reflexion, Großstadt und Moderne

grundsätzlich recht und darin können wir ihm folgen: „Echte Wissenschaft“, so schreibt er, „kennt, soweit ihre wirkliche Lehre reicht, keinen Tiefsinn.“19 (Wieweit Husserl allerdings in dieser Phase seines Denkens einer möglichen Fehldeutung der (seiner) Phänomenologie Vorschub geleistet hat kann hier außer Acht bleiben). Der Horizont der Neuzeit (auch der Denk-Raum des transzendentalen Bewusstseins) wird also in der Form der Wissenschaften, der Logik der neuzeitlichen Wissenschaften bestimmt.20 Er wird wissenschaftlich als objektive Wirklichkeit festgelegt. Die Einsichten, Vorstellungen der Wissenschaften werden sozusagen auch zu der ‚Leitwährung‘ lebensweltlicher Gestaltung. Sie sind es als Wahrnehmung, als Herstellung von ‚Oberflächen‘, als Gestaltung von ‚Wahrheiten‘. Wie komplex also, weit reichend und folgenreich wissenschaftliche Vorstellungen auch sein mögen (und wer kann sich schon der Faszination der Wissenschaften, der wissenschaftlichen Techniken, ihrer ‚Logik‘ entziehen), sie sind es gerade weil sie sich nicht ‚metaphysischen‘ philosophischen Fragen stellen (wollen, brauchen, können). Gerade das macht ihre ‚Wissenschaftlichkeit‘ aus. Eine philosophische Zurechtweisung dieser wissenschaftlichen Denkform ist also nicht beabsichtigt, und ist auch völlig unnötig.21 Ist es doch so, dass das Denken der Wissenschaften, der Reflexion der Philosophie die Möglichkeit eröffnet, wirkliche Endgültigkeit einzuführen; als Vorstellung der ‚Verendung einer Denkgestaltung‘. Eines sei an dieser Stelle kurz noch selbstkritisch eingeflochten. Nämlich hierher gehören auch die im weitesten Sinne ‚naturalistisch‘ oder (und) ‚historistisch‘ ausgerichteten Philosophien. Also die als Meta-Theorien eingeführten wissenschaftlichen, neuzeitlichen Gestaltungen.22 Dazu zähle ich 19

Logos/339. Es ist sicher auch kein Zufall, dass die Impressionisten (in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhundert) ‚die Oberfläche‘ geradezu zum malerischen Prinzip genommen haben; wenn man so will: ist der Impressionismus geradezu die ‚Feier der Oberfläche‘. 20 Erwin Straus entfaltet das im Blick auf die Psychologie. Vgl. (19562), S. 1 ff. 21 Etwas, das bei Heidegger immer wieder ‚durchscheint‘. Vgl. z. B. Die im Atomzeitalter anrollende Revolution der Technik könnte den Menschen auf eine Weise fesseln, behexen, blenden und verblenden, dass eines Tages das rechnende Denken als einziges in Geltung und Übung bliebe. Welche große Gefahr steigt dann herauf? Dann ginge mit dem höchsten und erfolgreichsten Scharfsinn des rechnenden Planens und Erfindens die Gleichgültigkeit gegen das Nachdenken, die totale Gedankenlosigkeit zusammen. Und dann? Dann hätte der Mensch sein Eigenstes, dass er nämlich ein nachdenkendes Wesen ist verleugnet und weggeworfen.“ Heidegger (1959), S. 25. 22 Logos/294.

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im Übrigen auch, – so legen es bestimmte ‚philosophische Lehrstuhlinhaber‘ ausdrücklich fest, – sogenannte ‚nicht legitime‘ Welt-Anschauungen. Uns interessiert dabei etwas sehr bezeichnendes. Auch diese, in der Qualität sehr unterschiedlichen Überlegungen, setzen ganz selbstverständlich methodisch einen Wissenschaftsbegriff voraus, der sich an Mathematik und neuzeitlichen Wissenschaften orientiert. Deuten wir das als sich selbst missverstehende Suchbewegungen. Aus der Perspektive der Phänomenologie sind diese Weltanschauungen, sich selbst ‚psychologisch, naturalistisch‘ und/oder ‚historisch‘ missverstehende, sich selbst ‚objektiv-festlegende‘ quasi-religiöse Lebensgestaltungen. An-sichten, die verzweifelt nach einer wirklich wesentlichen Wirklichkeit‘ der Moderne Ausschau halten. Die Wissenschaften ‚stellen‘ also wie selbstverständlich die zutreffenden Erfahrung und die rechtmäßigen Begriffe der Moderne. Sie denken (grundsätzlich zweifellos) die Maßgabe für alle rechtmäßigen modernen Vorstellungen. Von dieser so gedachten ‚objektiven‘ Wirklichkeit gehen wir aus; das gilt es zu verstehen. Diese phänomenologische Einordnung modernen Daseins, des Bewusstseins der Moderne mag sich bei den Denkern (um nur sie zu nennen) des Wiener- und Berliner-Kreises auf den ersten Blick erschließen. Dürfte doch ihr Selbstverständnis ausdrücklich und bewusst ähnlich gerichtet sein. Beeindruckender und verdeckter aber zeigt es sich im Denken, im Denkstil von Männern, die auf eigenartiger Weise Modernität und Modernitätskritik zu verbinden scheinen. Die also nicht anders können. Und so unwillkürlich die Potenz der neuzeitlichen Wissenschaften dokumentieren. Also, eigenartige Zugeständnisse an die Geltung der wissenschaftlichen Gedanken. (Obwohl sie doch den Anspruch erheben den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben). Denken wir beispielsweise an die zu ihrer Zeit viel beachteten ‚KulturKritiker‘, (Literaten, ‚Popularphilosophen‘, – es ist schwer einen angemessenen Titel zu finden) Paul de Lagarde, Julius Langbehn oder Moeller van den Bruck. Ihre Breitenwirkung ist unumstritten; gleichgültig ist also wie wir sie rubrizieren (Literaten, Popularphilosophen . . .). Ihr Leben und Schaffen kann als komplexes Beispiel für die Heilssuche jener Menschen gedeutet werden, „welche die Gegebenheiten des modernen Lebens weder ertragen noch überwinden können“.23 Nur vermeintlich wird so die ‚Oberfläche‘ der wissenschaftlichen Moderne, ihrer institutionalisierte Reflexion, ihrer Krisis, reflektiert; schon gar nicht im Sinne einer existentiellen Transzendentalität. Stattdessen wird in einer eigenartigen, ‚rational-irrationalen Form‘, (weit verbreitet in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende) eine vermeintliche defizitäre Wirklichkeit des Modernen ‚modern‘ naturalistischfiktional überstiegen. Natürlich und ohne weiteres innerhalb des Horizonts 23

Fritz Stern (1986), S. 321.

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der Wissenschaften. Das erscheint wie eine ‚Karikatur‘ des Naturalismus und Historismus. Sich in dieser Form in die Geschichte der Moderne unwillkürlich ‚eintragen‘, ‚einschreiben‘ ist eine (die Geschichte hat es vorgeführt) nicht nur existentiell gefährliche Naivität. Es ist phänomenologisch geradezu eine Potenzierung der ausdrücklichen, willkürlichen Naivität der Wissenschaften.24 Das ist (und das nur am Rande) keine Frage von ‚reaktionär‘ oder ‚progressiv‘. Stattdessen ist immer die entscheidende Frage, ob es überhaupt gelingt die so oder so gestalteten Reflexionen existentiell zu reflektieren. Erst damit ist auch das wirklich-wesentliche Problem der Moderne endgültig im Blick. Es bleibt dabei. Dieses durchaus vorhandene, je sogar weit verbreitete Krisen-Bewusstsein – auch die Wissenschaften haben es – ‚reflektiert nicht wirklich zu Ende‘. Auch das ist klar. Die Wissenschaften wollen, können und brauchen es nicht. Die ‚Transzendentalität‘, die wirkliche Bedingung der Möglichkeit der ‚verzweifelten Existenz‘, dieser wirklich endliche Horizont der Moderne bleibt unbedacht; – bleibt wie ‚außen vor‘; er wird historisch, faktisch, psychologisch, soziologisch bestimmt und vorgestellt, – eben, als zufällig und zugleich ‚objektiv‘. Der Vollständigkeit wegen sei noch einmal auf etwas hingewiesen. Phänomenologisch ist klar, selbst diese und andere Formen einer ‚ideologischen Modernitätskritik‘ mit ihrer so kritischen, historisierenden, naturalisierenden Gebärde reflektieren nicht wirklich gründlich, nicht wirklich existentiell. Auch wenn wir es als Ausdruck einer Überforderung des historischen Selbstbewusstseins deuten, das sich hier und jetzt im Horizont der wissenschaftlich gefassten Moderne Selbst-Entfremdet gegenübersteht. Eines bleibt dabei fundamental. Auch die Geschichte selbst, als sich radikalisierende Reflexionsgeschichte wird so, in dieser Form, wissenschaftlich, ideologisch nicht verstanden. Es bleibt eine verdeckte Regression auf letztendlich sehr einfach gedachte, ‚quasi-theologische‘, meta-wissenschaftliche Muster des Sinns, des Heils, der Erlösung. Es müsse möglich sein, so glaubt man, – eine Über-Sicht, eine Ordnung ‚säkularisierter Religiosität‘ für die abendländische Welt, ‚zwingend‘, rational-begründet, eben wissenschaftlich herzustellen. Trotz der mehr oder weniger intuitiven Gewissheit, in einer unwiderruflich ‚metaphysisch‘ verwirrten, grundsätzlich philosophisch und theologisch übersichtslosen End-Zeit angekommen zu sein.25 24

Und das immer aufs Neue; bis heute. Beispielsweise: „Gefühle sind komplizierte Bündel chemischer und neuraler Reaktionen, die im Gehirn in Gang gesetzt werden und bestimmte Muster bilden.“ Antonio R. Damasio, in: Gehirn und Denken. Kosmos im Kopf. Herausgegeben vom Deutschen Hygiene-Museum, Bonn 2000, S. 56. 25 Dazu auch: Ulrich Linse (1983).

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Es sind also sehr unterschiedliche Gestalten, geradezu moderne Repräsentanten der Modernität, Bebilderungen einer Sehnsucht, die wesentlich den ‚transzendentalen existentiellen Horizont‘ der Moderne verstellen. Ein Glaube treibt sie alle, eine andere Form von ‚ganzheitlicher Wissenschaft‘ sei möglich. Es sei möglich der ‚neuen‘ Wissenschaft eine Einstellung auf das Wesentliche ‚jenseits der Oberfläche‘ zuzuweisen. Das Heil der Moderne. Beschreiben wir es als eine Inszenierung einer (phänomenologisch bedeutsamen) Unmöglichkeit. Sie schreibt mit am Text der Moderne. Wie auch immer, das eine halten wir nun ausdrücklich fest. Die wesentlich-endliche Grundform der Moderne bleibt mit diesen ‚Reflexionen‘ verborgen. Das Moderne ist als abendländischer Idealraum in Form gebracht durch die Wissenschaften. Getragen wird es tatsächlich ausschließlich von wissenschaftlichen, ‚objektiven‘ Bewusstseins-Lagen. Das sind Bewusstseins-Lagen, die das Selbst-Bewusstsein als wirkliche, existentielle Gestalt der Reflexion der Reflexion ausdrücklich ausschließen.26 Das Bewusstsein bleibt sich so, – eben als eine Form der endlichen, leibhaft wirklichen Existenz, – eigenartig, beunruhigend fremd. So ist es im Übrigen auch kein Zufall, dass gerade mit dem 20. Jahrhundert unterschiedlich ‚ein-dringliche‘ tiefenpsychologische Bewusstseinsanalysen vordringen. Beispielsweise und am folgenreichsten die Psychoanalyse. Gleich also wie wir im Einzelnen die Geschichte der Moderne überlegen, (und zu Recht und mit guten Gründen auch unterschiedlich verstehen), auf eines können wir uns sicher einigen (und bin ich davon zu tiefst überzeugt): Auf diesen neuzeitlich, naturwissenschaftlich entworfenen und vermessenen Vorstellungen ist das Bewusstsein der Existenz, und die wirkliche Existenz des Bewusstseins, als selbstverständliche Einsicht der Moderne, nicht einund auszuführen.27 Also, gleich ob dieser phänomenologischen Sicht in allem zustimmend gefolgt werden kann oder nicht, dem Folgenden wird nur schwerlich philosophisch widersprochen werden können. Historische Einsichten oder naturwissenschaftliche Analysen machen eine (als) systematisch vorgestellte, ‚transzendentale‘ Ordnung der Krisis und Reflexion nicht überflüssig. (Das gilt im Übrigen natürlich auch umgekehrt). 26

Vgl. dazu Erwin Straus: „Objektiv forschen heißt ja hier nichts anderes, als in physikalischen Begriffen denken und sprechen, heißt nichts anderes, als durch den trügerischen Schein der Erscheinungen zu ihrem wahren Wesen, dem physikalischen Mechanismus hindurchzudringen.“ Straus (1956), S. 35. 27 Zu Recht fragt Husserl: „Ist es nicht widersinnig und ein Zirkel, das historische Ereignis ‚Naturwissenschaft‘ naturwissenschaftlich erklären zu wollen, erklären durch Hereinziehung der Naturwissenschaft und ihrer Naturgesetze, die als geistige Leistung selbst zum Problem gehören.“ Krisis. Ergänzende Texte, S. 318.

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Es geht hier nicht um so oder so ‚hergestellte‘ Fakten, um diese oder jene ‚richtigen‘ Zusammenhänge, um eine objektive Fakten-Lage. Sondern allein um die transzendentalen Vor-Gänge; um die Reflexion der Wahrnehmung der ‚geglaubten‘ wirklichen Wirklichkeit als Spiel unserer Vorstellungen. Der als ‚Krisis und Reflexion‘ konstituierte Horizont, der die Existenzbedingungen des Bewusstseins der Moderne ‚stellt‘, in der die Krisen sich erst als wirklich vor-stellen können, ist damit erst die Bedingung für mögliche historische und naturwissenschaftliche Krisen-Erfahrungen.28 Diese Reflexionen gilt es eben ausdrücklich als Reflexionen zu reflektieren. Die wissenschaftlichen Vorstellungen der oder ‚von‘ Krisen, Krisenlagen sind immer ‚nachträglich‘ und, zumindest dem eigenen Anspruch nach, ‚objektiv‘. Das kann nicht anders sein. Auch darüber wird es keinen Streit geben. Eine wissenschaftliche Logik folgt eben und ohne weiteres ihrer ‚Ein-Richtung‘. Nichts spricht also in den Wissenschaften dafür auf ‚transzendentale Horizonte‘ zu achten. Das sind eben (von Grunde auf) philosophische Fragen. Und der wissenschaftliche Alltag braucht keine Philosophie. Also, in der Tat und wortwörtlich: Diese transzendentalen Horizonte sind philosophische Leistungen. Sie sind Konstitutionen der Reflexion der Reflexion; sind ausdrücklich existentielle Entwürfe; also wirkliche Ein-Sätze einer ‚transzendentalen Wirklichkeit‘, die die Möglichkeiten für ‚wissenschaftliche Tatsachenbehauptungen‘ erst zur Verfügung stellt. Horizonte werden eingeführt, innerhalb denen die Fragen nach der Wirklichkeit spielen. Es geht dabei aber – um darauf eigens hinzudeuten – nicht um metaphysische, oder gar theologisch Wahrheiten schlechthin; nicht einmal um ‚die unbedingte‘ Geltung; um ‚die absolute‘ Form o. ä. Darüber braucht es nicht vieler Worte. Darauf brauchen wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Das halten wir fest. Der wissenschaftliche Alltag führt es vor. Die Wissenschaften ‚funktionieren‘ offensichtlich, ihrer Logik entsprechend, bevor überhaupt auf die transzendentalen Horizonte philosophisch geachtet wird. Das gilt im Allgemeinen. In einer besonderen Weise auch für unsere Fragen nach der Moderne. Die Bedingung der Möglichkeit der Konstitution der ‚Krisis und Reflexion‘ wird in diesem Kontext, diesem Entwurf der unterschiedlichen Wissenschaften offensichtlich weder praktisch noch theoretisch auffällig. Das kann nicht sehr verwundern. So gibt es für uns zunächst auch wenig Sinn, den neuzeitlichen, modernen Wissenschaftsbegriff historisch oder systematisch noch weiter aufzufächern. 28 Das ist – im Verständnis Husserls – „das Motiv des Rückfragens nach der letzten Quelle aller Erkenntnisbildungen, des Sichbesinnens des Erkennenden auf sich selbst und sein erkennendes Leben, in welchem alle ihm geltenden wissenschaftlichen Gebilde zwecktätig geschehen, als Erwerbe aufbewahrt und frei verfügbar geworden sind und werden.“ Krisis/§ 26.

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Die Arbeit der Phänomenologie bewegt sich umfassender, umgreifender, radikaler, wirklicher. Gerade durch die Gestaltung einer transzendentalen Verdichtung, also durch eine ‚objektiv verkehrte‘ Konzentration auf das ‚wirklich Wesentliche‘. Ihre ‚verkehrte‘ intentionale Ausrichtung ist die Entfaltung der existentiellen Reflexion der Reflexion der Krisis. Das wirft auch ein Licht auf die Formen und die Inhalte möglicher und wirklicher wissenschaftlicher Reflexion. Soziale, politische, gesellschaftliche, ästhetische Sach-Lagen, Befindlichkeiten, also so oder so gedachte Vorkommnisse der Wissenschaften; oder auch biographisch-lebensweltliche Erfahrungen werden immer durch ‚vergleichenden Nachtrag‘, durch eine überlegte, ‚praktisch-methodische‘ Nachträglichkeit. Das sind wortwörtlich ‚wissenschaftliche Leistungen‘. Diese als ‚begriffen‘ vorgestellten, aber selbst nicht verstandenen Leistungen der Wissenschaften sind einer sich selbst missverstehenden ‚Hermeneutik‘ geschuldet. Im Übrigen, auch das Fingieren, das Ordnen misslicher Folgen, Problemlagen gehört hier her. ‚Begriffen als Begriffe‘ werden sie zu folgerichtigen Erklärungen ‚objektiver Krisen-phänomene‘. Möglicherweise quantifiziert, statistisch geformt als handhabbare (An)Zeichen von ‚Problemen‘; oder zu gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen Gesamt-Problem-Lagen; oder, zu historischen‘, faktisch-folgerichtigen Bruchstellen. Die Vorstellungen sind, je nach dem wissenschaftlichen Interesse, der Schulzugehörigkeit, den jeweiligen Methoden unterschiedlich. In der Perspektive der ‚veröffentlichten Meinung‘ (denken wir an die Medien) werden sie beispielsweise zu ‚politisch irritierenden Phänomene‘. Oder sie werden als gesellschaftliche ‚Tiefenstörungen‘ gedeutet; oder, als sozial folgenreiche Abweichungen einer tradierten Normalität lebensweltlich vorgestellt (u. v. m.). Wie auch immer, ‚wir Phänomenologen‘ brauchen also nicht auf wissenschaftliche Erklärungen zu warten. Schon der moderne Mensch weiß es vor allen wissenschaftlichen Hinweisen und Erklärungen: So weit sein Blick reicht, – Krisen sind ‚da‘. Und das ist eher die Regel als die Ausnahme. Krisen scheinen zuerst und zumeist als von uns (‚Zeitgenossen‘) ‚festgestellte‘ objektiv-vorhandene ‚Problemzonen‘. Also, historisch objektive Horizonte innerhalb dem sich der Mensch bewegt, sich bewegen muss, denen er mehr oder weniger hilflos ‚ausgeliefert ist‘. Darin unterscheidet sich offensichtlich eine wissenschaftliche Perspektive zunächst nicht sehr von einem lebensweltlich alltäglichen Verständnis. Eine phänomenologische Zusammenfassung und Sichtung allgemeiner Vorstellungen in etwa so. ‚Krisen‘ als mehr oder weniger bestürzende biographische, soziale, gesellschaftliche Fallhöhen, irgendwie gefühlter, gedachter, kommunizierter, erlebter, oder wissenschaftlich ‚gemessener‘, festgelegter ‚Normalität‘. Einer ‚Normalität‘, die nicht eigens eingeführt werden muss. Krisen, also als Erfahrungen einer erheblichen Abweichung von einer als irgendwie selbstverständ-

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lich gedachten ‚historischen‘ Durchschnittlichkeit. ‚Unser‘ Gefühl, ‚unsere Gestimmtheit‘, ‚unsere Wahrnehmung‘, eine ‚öffentliche und veröffentlichte Deutung‘, ‚Gerede und soziale Befindlichkeit‘ sind ‚konkret kaum messbar‘ ineinander verflochten, sind geradezu als ‚Feedback-schleifen‘ zu denken. So verwundert es nicht, dass auch klare wissenschaftlich ‚objektive‘ Erklärungen, (‚aus diesem Grunde‘; ‚weil‘; ‚deswegen‘), wirklich möglich, wirklich überzeugend sind. So scheint es zumindest! Also, politologische, soziologische, psychologische, historische Modelle, die eines zu ‚erklären‘ beanspruchen: Die objektive Gestalt(ung) der gefühlten, wahrgenommenen Abweichung des ‚mittleren Menschseins‘. Das ist ernst zu nehmen und daran darf auch philosophisch nicht vorbei gedacht werden. Und trotzdem ist für uns die ‚Wirklichkeit der Moderne‘, ihr wissenschaftliches Selbstverständnis, ihre Krisen, ihre Modelle, – ihr Bewusstsein, so nicht wirklich verstanden. Notwendig, – und das in einem ausdrücklichen Wortsinne, ist etwas radikal anderes. Methodisch und sachlich. Und zwar, der phänomenologische Entwurf einer existentiellen Ordnung in Form der Reflexion der Reflexion und Krisis. Oder so, ein ‚existentiales Verständnis‘ meiner selbst hier und jetzt. Auch das denkt sich selbstverständlich als ‚Transzendentalphilosophie‘. Das kann an dieser Stelle nicht mehr überraschen. Ist es doch ein existentielles Selbst-Wahrnehmen der modernen überwältigten, wirklich transzendentalen Subjektivität. Das was sich uns so zeigt, mag nicht in einem strengen Sinne ‚wissenschaftlich‘, noch weniger ‚naturwissenschaftlich‘ sein. Aber es ist existentiell (für mich, für uns) wirklich phänomenologisch unübersehbar beeindruckend. Nicht zu Letzt, ablesbar an den Auswirkungen in der modernen Kultur. Denken wir beispielsweise wiederum an die Lebenswelt der Großstadt. Vor allem aber erfährt diese leibhafte Reflexion der Reflexion der so konstituierten Moderne sich selbst als ‚notwendigen Abschluss‘ des Abendlandes. Dieses sich so in die endliche Form bringende Spannungsgefüge ist selbst ein wesentlicher Ausdruck des Bewusstseins der Moderne; das ist ausdrücklich eine Gestaltung der Reflexionsgeschichte, und nicht irgendein dunkles Seinsgeschick.29 Das darf nicht unbedacht bleiben. 29 Die geradezu ‚zerreißende‘ Vielfalt an ‚Denkbaren‘ (als Gestaltung einer modernen Atemlosigkeit) wird in folgender Erinnerung Urs von Balthasar deutlich: „In Wien faszinierte mich einerseits Plotin, andererseits waren Kontakte mit psychologischen, auch freudianischen Kreisen unumgänglich, der zerrissene Pantheismus Mahlers rührte mich tief an, Nietzsche, Hoffmannsthal, George traten ins Gesichtsfeld, die Weltuntergangsstimmung des Karl Kraus, die offensichtliche Korruption einer zu Neige gehenden Kultur.“ Prüfet alles – das Gute behaltet. Ostfildern 1986, S. 8. Auch Gottfried Benn, z. B.: „Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger.“ Doppelleben. Gesammelte Werke 8, S. 2028.

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Da sind beispielsweise, – um nur einen möglichen Weg ein Stück weit zu folgen, – als erstes die verworren ‚systemisch‘ verflochtenen gesellschaftlichen, religiösen und philosophischen Fakten-Lagen. Das alles ist zunächst historisch, soziologisch, auch psychologisch einfach einzusehen (nachzulesen). Diese Lagen sind phänomenologisch gedacht wahrhaftige existentielle Lagen; und sie sind selbst als wirkliche konstitutive Leistungen phänomenologisch bedeutsam. ‚Wir‘ selbst sind es doch, wirklich leibhaft, die sich so in diesem willkürlich-unwillkürlich entworfenen Horizont (wie) selbstverständlich bewegen, ordnen, denken, forschen, und so wiederum, – entwerfen und herstellen. Die jeweiligen lebensweltlichen und wissenschaftlichen ‚Deutungen der objektiven Krisen‘ sind also selbst ‚existentielle Vorstellungen dieser Krisen‘. Das alles hat aber mit unwirklich, eingebildet, fiktiv nichts zu tun. Grundsätzlich gilt, jeder so missverstandene Idealismus verstellt den Blick. Die Moderne ist so wie sie für uns ist ‚wirklich‘. Die Krisen der Moderne sind wirklich; sie beunruhigen zu Recht (mich, uns) wirklich. Aber, – das alles gibt phänomenologisch weiter zu denken. Eine existentielle Phänomenologie reflektiert den endlichen, endgültigen Kontext, den abendländischen Horizont der Moderne und die ‚dazu gehörigen‘ intentionalen Bewegungen der modernen Existenz. Vor allem Husserls Spätwerk ist (davon sind wir ausgegangen) der verzweifelte Versuch einer phänomenologischen Sicherung ‚der‘ neuzeitlichen, der abendländischen philosophischen Wahrheit, angesichts dieser als krisenhaft gedeuteten philosophischen und gesellschaftlichen Lagen.30 Ich möchte Husserl eben nicht neuzeitlich idealistisch einordnen. Husserls praktischtranszendentale Intention ist eine existentiell bewegende Erinnerung daran, dass Europa sich notwendig entfaltet, auffächert, – weil ‚unbedingte Wahrheit‘ sein soll. Dieser ausdrücklich philosophischen Erinnerungsarbeit, dieser letztlich metaphysischen ‚Idee‘ gilt es jetzt wirklich und das heißt existentiell nach-zu-denken. Die phänomenologische Reflexion zeigt doch, dass diese wissenschaftlichen, ‚objektiven Krisen-Erfahrungen‘ immer schon innerhalb eines ‚transzendental-existentiellen Horizonts‘ spielen. Husserl denkt diesen Horizont als ‚abendländische‘ Lebenswelt. Im Übrigen ein Horizont, der letztendlich auch für die ‚modernen Wissenschaften‘, (beispielsweise: Sozialwissenschaften, Psychoanalyse) grundsätzlich undenkbar bleibt. Dieser transzendental-existentielle Horizont – denken wir ihn als ‚phänomenologisches Existential‘ – ist im ‚Wahrnehmungsfächer‘ der Wissenschaften, (für ihre intentionalen Möglichkeiten), grundsätzlich nicht vorhanden. Das ist durchaus in ihrer wissenschaftlichen Ordnung. Sie denken, 30 Dazu gehören auch die Formale und transzendentale Logik (FTL), und die Cartesianischen Meditationen (CM).

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reflektieren die Moderne, die Krisen der Moderne in ihrem Sinne verständnisvoll richtig. Die radikal philosophische Ausrichtung, der existentielle Entwurf des Horizonts der Krisen als ‚Krisis‘ überschreitet, transzendiert grundsätzlich ihre Vorstellungen. Die Wissenschaften als ‚objektive Wissenschaften‘ sind sich (zunächst) genug. Sie sind die Repräsentanten des Fortschritts, die Agenturen der Aufklärung.31 Erst als Formen, als radikale Denk- und Lebensmöglichkeiten der ausdrücklichen Reflexion treiben sie sich zur Philosophie, zu einer existentiellen Reflexion der Reflexion. Nun erst drängt sich eine wirklich neue Möglichkeit auf. Diese wissenschaftlichen, historischen Krisen-Erfahrungen haben nämlich als Bedingung für ihre Möglichkeit ‚die Krisis‘. Das ist die Einsicht in die Grund-Form, in die Wesens-Gestalt der menschlichen Existenz. Das ist natürlich auch (m)eine wirkliche und evidente Erfahrung. Und das sicher nicht weniger als die wissenschaftlich-objektiven Vorlagen. Die Wahrnehmung der Krisis ist eine grundsätzliche Wahrnehmung der je eigenen, leibhaften, endlichen Existenz. Und die phänomenologische Entfaltung der Krisis ist eine phänomenologische transzendentale Entfaltung ‚meiner‘ endlichen reflexiven Möglichkeiten. Das entwirft ein Selbstverständnis das sich in die wirkliche Welt der Krisen endlich gründlich hineinliest und sich so endgültig reflektiert. ‚Krisis‘ benennt hier also ausschließlich die leibhafte-transzendentale Vorstellung einer phänomenologisch erfassten, wesentlichen Wirklichkeit. Das ist die Fassung der Wirklichkeit, die die Moderne, das Bewusstsein der Moderne als erschöpfte Möglichkeit des abendländischen Gedankens denkt. Die Krisis zeigt damit auf die Notwendigkeit einer historisch radikalen Wende des neuzeitlichen Daseins gegen sich selbst als Vernunft. Das ist phänomenologisch direkt ablesbar. Der abendländische Traum der reinen Vernunft wird durch die wirkliche Erfahrung zur Illusion. Wenn man so will, eine ‚Peripetie‘ und keine ‚Metanoia. Die transzendentale Vernunft als ungeheuer beeindruckende Inszenierung der Neuzeit vollbringt (vollendet) sich gerade als uneinsichtig-einsichtiges Scheitern; das verweist systematisch und historisch auf ‚die wirkliche Krisis als Möglichkeit der Reflexion der Existenz‘. ‚Die Krisis‘ also als Grund-Form und Wesens-Gestalt der Moderne ist ein transzendentaler, aber auch ein Erfahrungsgesättigter Grundbegriff der Phänomenologie. Die Krisis ist hier und jetzt der Horizont des wirklich erfahrenen Raumes und der wirklich gelebten Zeit. Weil das wirkliche, end31 Alfred Lorenzer schreibt im Blick auf die wissenschaftsgeschichtliche Ausdifferenzierung der Psychiatrie. „Die Szientifizierung erscheint nach der Säkularisierung und der Medizinalisierung im Namen des Fortschritts auf der Bühne.“ Lorenzer (1993), S. 58.

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liche – ‚mein‘ und ‚dein‘ – Bewusstsein sich so reflektiert. Das ist eben nicht die Reflexion eines zeitlosen, absoluten Bewusstseins. Die Grund-Fassung der Reflexion zeigt sich ‚selbstverständlich‘ als existentielle Reflexion der Reflexion. Das Philosophieren der Moderne erfährt sich jetzt endlich als endgültige Gestalt der Reflexionsgeschichte. Erst die strenge phänomenologische Reflexion konstituiert ‚die Krisis‘ als wesentliche positive Möglichkeit der radikalen Selbst-Auffassung der Moderne, des Bewusstseins der Moderne.32 Sie erfasst sie als ‚wirkliche Selbstgestalt‘. Eben als die Bedingung der Möglichkeit der Moderne; – und zugleich, als die ‚logische‘ Endgestalt des Abendlandes, als Endzone der abendländischen Reflexionsgeschichte. Die ‚Form der Moderne‘ wird als äußerste Möglichkeit der existentiellen Reflexion der Reflexion. Verflochten damit ist die Einsicht der Erschöpfung der Potentiale der Reflexion. Diese Reflexion der Reflexion und Krisis erscheint also philosophisch als ‚logischer Endpunkt‘ einer Denkgestalt. Einer Denkgestalt, die, – alles anderes als reine Theorie, – sich praktisch einliest in die Kunst, die Religion, in die Wissenschaft und, alles zusammenfassend, in die Lebenswelt. Das darf nicht als erneute Ankündigung einer historischen, eschatologischen Endzeit gedeutet werden. Also keine prophetische Verkündigung eines allgemeinen kulturellen Nieder- oder gar Untergangs des Abendlandes. Sondern philosophisch einfacher und wesentlicher. Das Bewusstsein der Moderne begreift sich selbst als die unüberbietbar radikale philosophische Reflexion. Nicht mehr und nicht weniger! Die Möglichkeiten der abendländischen Reflexion(en) erfassen sich in ihren ‚existentiellen-transzendentalen‘ Bedingungen. Sie reflektieren sich unüberbietbar wirklich radikal leibhaft, – wirklich endgültig. Das sind systematische Fragen des Philosophierens, die sich natürlich historisch zeigen. Das neuzeitliche Denken begreift und vollbringt sich als transzendentale Reflexion. Sicher, – nicht zu Letzt, eine Form des ‚Aufhebens der Menschenwelt‘! Gerade das, weitergedacht, eröffnet eine existentielle Metaebene. Ein ‚Ausweg‘ in eine wirkliche Endgültigkeit einer Logik des Denkens. Die Endsumme des Denkens des Abendlandes als eine Form der Reflexion der ‚Transzendenz‘, eine Anzeige einer Existenz der Erschöpfung. Die Moderne hat so die – von Anfang an – ‚existentielle‘ Anlage des Philosophierens endgültig formvollendet gestaltet. Das ‚christliche 32 Husserl hat schon 1911 in seinem bekannten ‚Logos-Aufsatz‘ auf die Reichweite (auf die Möglichkeiten) phänomenologischer Reflexion hingewiesen. Das „Reich der Phänomenologie, als einer Wesenslehre“ – so schreibt er – erstrecke sich „vom individuellen Geiste alsbald über das ganze Feld des allgemeinen Geistes“, so könne alleine diese phänomenologische Wesenslehre „eine Philosophie des Geistes“ begründen. Logos/327.

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Abendland‘, ihre ‚Dogmatik‘, ihre ‚Gedankenspiele‘, ihre Theologie, ihre Kunst, ihre Architektur . . ., angelegt als letztendliche Suchbewegung nach einem metaphysisch-theologisch Unbedingten, hat endgültig ‚philosophisch ausgespielt‘. Theoretisch und wohl auch Praktisch! Eine Fehldeutung wäre es, dies bloß als eine faktische, historisch zufällige Sinnkrise, eine der scheinbar unvermeidlichen geschichtlichen Neuorientierungen im Horizont des ‚alten Europas‘ anzusetzen. Ein nicht nur unter Politikern sehr populäre Vorstellung. Unsere phänomenologische Perspektive hat etwas anderes im Blick. Die faktischen, also soziologischen, psychologischen, theologischen Sinnkrisen mögen sich schmerzhaft aufdrängen. Wir nehmen es zur Kenntnis. Aber die phänomenologische Reflexion treibt sich (selbst) weiter. In Wahrheit und für die Wirklichkeit ist es historisch und systematisch die wesentliche und notwendige Krisis der Reflexion selbst. Die Reflexion, die sich von Anfang an und unentwegt selbst ‚aufgefordert‘ hat und (das ist die Grenze der Neuzeit) weder in einem ‚transzendent noch in einem transzendental vorgestellten Absoluten‘ zur Ruhe kommen kann.33 Die Reflexion der ‚Reflexion und Krisis‘ ist also die auf wirkliche Endgültigkeit angelegte Vorstellung der Moderne. Das ist das Denken des Gedankens der Moderne, der das Denken dieses Gedankens ‚existentiell mitdenkt‘. Jetzt erst haben ‚wir‘ uns als Abendländer wirklich, endlich, existentiell verstanden! Erst als diese Wahrnehmung, als dieser phänomenologische Entwurf der ‚Endgültigkeit‘, erfasst sich die Moderne, das existentielle Bewusstsein der Moderne. Das ist die Erfüllung abendländischer Denkbarkeiten. Alle Ideen, jede Gestaltung, jeder Zugriff ‚verendet‘ wirklich in der Form dieser existentiellen Transzendentalität. Jeder Zustand, jede Lage, jedes Vorkommnis, jede Absicht, jede Dynamik, natürlich auch die SelbstVorstellung der Moderne selbst findet sich als existentielle Reflexion der Reflexion. Diese Reflexion löst auf und löst ab. Und konstituiert damit zugleich eine ‚wirklich andere‘ Wirklichkeit. Alles und jedes, letztendlich die Reflexion selbst wird zu einem Vorgang, zu einer ausschließlich menschlichen Wirklichkeit der existentiellen Reflexion; zu einem unüberbietbar Eigenem, einem radikalen Eigentum der endlichen Existenz. – Und das mit allen theoretischen und praktischen Konsequenzen. Die abendländische Re33 Davon unterschieden der phänomenologische Begriff des Absoluten. Vgl. Wilhelm Szilasi: „Unter ‚absolut‘ verstehen wir die Losgelöstheit von jedweder Bedingung oder vorangehender Bindung. Die Sphäre des Bewusstseins, die wir durch die doppelte Reduktion – der transzendentalen und der eidetischen – gewinnen, ist eine solche, die ausgezeichnet ist durch den Charakter: absolut gegeben.“ Szilasi (1959), S. 67.

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flexion hat ihre Möglichkeiten, ihre ‚Logik‘, mehr oder weniger systematisch, mehr oder weniger ernsthaft durchgespielt. Was ‚philosophisch‘ noch zu tun bleibt ist die Vorstellung und das Nachdenken dieses ‚Gespürs‘ der Existenz für die Endgültigkeit der ‚Krisis und Reflexion‘. Nicht die Endgültigkeit selbst ist im Blick. Das kann nicht sein. Es sind vielmehr unübersehbare Spuren, Hinweise, An-Zeichen der Endgültigkeit der existentiellen ‚Krisis und Reflexion‘ die uns philosophisch bewegen. Das also ist – mehr verdeckt als offen – die verzweifelte philosophische Grund(auf)fassung der Moderne. An dieser Stelle folgerichtig noch eine kleine Exkursion. Und zwar die schlichte, beunruhigende Frage. Was bedeutet das denn (das alles vorausgesetzt) für ein zukünftiges, systematisches Philosophieren? Das universitäre Lehrfach ‚Philosophie‘, Philosophiegeschichte interessiert hier nicht. Das Philosophieren reflektiert die Krisis der Moderne als endgültige Gestaltung des Abendlandes. Wie immer wir Einzelnes deuten, eines drängt sich zunächst und immer wieder ‚praktisch‘ auf. Es lassen sich hier und jetzt ‚wirklich und wahrhaftig‘ keine der traditionell ‚großen‘ philosophischen Themen mehr ohne weiteres sinnvoll weiter denken. Was davon bleibt sind in der Tat bloße eigenartige ‚erkenntnistheoretische Restbestände‘. Oder, wenn man so will, mehr oder weniger interessante Seinsmärchen.34 Aber, und gerade dieses Fragen selbst macht darauf aufmerksam, – nichts ist philosophischer als diese ‚philosophische Unsicherheit‘; diese bedrückende Erfahrung der Unlösbarkeit der Reflexion der Krisis. Immer noch, und immer wieder also die philosophische Anfangs-Frage, Anfangs-Fragen, Fragen des möglichen Anfangs der Philosophie. Und gerade im Horizont der philosophischen Erfahrung der Endgültigkeit, der Erschöpfung abendländischer Reflexions-Muster. Das ist nun erstaunlich genug! Diese Fragen eines möglichen Anfangs der Philosophie zeigen nämlich, ganz unabhängig von der Möglichkeit einer Antwort, ihre wirkliche, praktische Wirklichkeit. Es sind wahrhaftig unumgängliche, geradezu ‚schicksalhafte‘ philosophische Fragen. – Schon allein weil die Fraglichkeit des Anfangs der Philosophie die Philosophie selbst, das Philosophieren der Moderne mit all ihren möglichen Inhalten, nicht zu Letzt, den Philosophierenden selbst, ganz und gar existentiell mit in die Frage, die Fraglichkeit wirft. Sehen wir wieder einfach zu. Auf das was sich uns selbst zeigt, aufdrängt und bedrängt. Das lässt sich nicht leugnen! Welch eigenartig komplexe ‚innere‘ Relation. ‚Spuren‘, (meine Spuren), die quälend beunruhigen, gerade 34 Die Forschungen zur Philosophiegeschichte dürfen wir hier auf sich beruhen lassen; die Logik und die Wissenschaftstheorie sind bekanntlich eigene Fachwissenschaften.

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weil sie uns wirklich endgültig, ganz und gar auf uns selbst verweisen. Eine Rück-Führung hin zu uns selbst. Sicher ist diese existentielle Anfangsfrage von Anfang an und ausschließlich philosophisch. Das ist keine Erfindung. Sie ist in Wahrheit und wahrhaftig das wirkliche Potential des Abendlandes. Sie ist Trieb und Ressource zugleich. Sie ist (etwas emphatisch) geradezu die Gestaltung der ‚Stiftungsurkunde des Abendlandes‘. Husserl nennt dies „das Urphänomen des geistigen Europas“. Er glaubt darin (Hoffnung in dunkler Zeit) eines wahrnehmen zu können: Eine unendliche Aufgabe, einen neuen, menschheitlichen Unendlichkeitssinn.35 Für ihn war diese Idee möglicherweise tröstlich. Aber hier und jetzt wird diese als unvergänglich behauptete Idee wirklich anstößig, – und zwar endlich-existentiell anstößig. Für uns also ist jener durchaus so sympathische ‚Husserlsche Traum‘ nun endgültig ausgeträumt. Der Text ‚unserer Welt‘ lässt an dieser Stelle keine andere Deutung mehr zu. Diese abendländische Idee wird jetzt nicht nur im Horizont der Moderne irgendwie historisch fraglich und so ‚persönlich drückend‘. Sondern, diese konkret-wuchtige Anfangs-Frage entwirft, konstituiert erst diesen Horizont der Moderne, – endlich (und) wesentlich als ‚Krisis und Reflexion‘.

II. Das Projekt: ‚Moderne‘ als Anfangs-Frage der Philosophie Daraus wird die Forderung gelesen politisch, gesellschaftlich und philosophisch zu handeln. Etwa so: Der Moderne sei die endgültige Verwirklichung neuzeitlicher Ideen (Aufklärung, Humanität, Wissenschaft) aufgegeben. Das ist bekanntlich eine verbreitete Zuweisung. Die Moderne liege so verstanden auf der Linie der progressiven Neuzeit. Sie sei Auftrag, geradezu eine menschheitliche Verpflichtung, sie sei ein ‚intellektuelles Projekt‘ für die gesellschaftliche, wissenschaftliche, politische Praxis. Die Philosophen wären dann geradezu die ‚Funktionäre der Menschheit‘. Auch Husserl hat bis zu Letzt so gedacht. Darauf möchte ich jetzt nicht näher eingehen. Diesem Gedanken aber (‚Moderne als Projekt‘) lässt sich auch phänomenologisch etwas abgewinnen. Vor allem wenn wir dem Begriff ‚Projekt‘ bis zu einer seiner Wurzeln zurückverfolgen. Und zwar zu einer Ableitung aus dem Französischen: projeter, ‚entwerfen‘. In unserem Sinne: Die Moderne als der endgültige Entwurf der abendländischen Reflexionsgeschichte. Das ‚Projekt Moderne‘ als Einsicht, als Ereignis, als ‚Gedankenführung‘ der existentielle Reflexion der ‚Reflexion und Krisis‘. Wer dem Entwerfen und dem Entwurf dieser Mo35

Krisis. Ergänzende Texte, S. 324 ff.

II. Das Projekt: ‚Moderne‘ als Anfangs-Frage der Philosophie

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derne immer wieder von Anfang an nachdenkt (so die Anlage dieser Arbeit), dem wird zumindest eines bald auffällig. Und zwar lässt sich ‚das Alles‘, dieser ‚Bewusstseinsstrom‘, ineinander verschoben, zeitlich geordnet, in keine irgendwie ‚kausale‘ Verknüpfung zwingen. Im Sinne von, dies historisch oder, systematisch zu Erst, dann notwendig gefolgt von jenem u. s. f. Das sind ‚in Wahrheit‘ unübersichtliche Gestaltungen, Verflechtungen, ineinander gefugte Bilder. (Das gilt im Übrigen natürlich überhaupt für alle historischen Lagen). Diese eigengeartete Unübersichtlichkeit denkt die Phänomenologie nun ausdrücklich als ‚beredete Gestalt‘ der Moderne. Schon allein deshalb gilt für uns als Phänomenologen, das was sich als ‚die‘ Moderne alltäglich zeigt, aufdrängt, hingenommen, vorgeführt oder ausdrücklich behauptet wird, also, in den Wissenschaften, der Theologie, auch innerhalb der alltäglichen Lebenswelt, vor allem in der Kunst,36 kann zunächst gleich-gültig als phänomenologischer Leitfaden für eine reflexive Gestaltung der Anfangs-Frage, ihrer Inszenierung genommen und beschrieben werden. Das gibt im Übrigen für eine solche ‚noematische Reflexion‘ ausdrücklich auch einen pragmatischen Sinn. Wird doch so vermieden, sich im ‚Irrgarten der Gedanken‘ eines sich unentwegt zurückziehenden ‚Grund der Moderne‘ zu verlieren. Daran halten wir fest. Selbst noch das Irrationale, das Verstörende ist ausdrücklich Irrationales meiner Gedanken, meiner Reflexion, ist Verstörendes für meine (meiner) Existenz. Der zweite Schritt einer Philosophie der Moderne, (nicht im Sinne etwa einer ‚logisch folgerichtigen‘ Reihung, sondern einer auch ‚existentiell oszillierenden Reflexion‘): – gestaltet sich dann als existentielle Reflexion der Reflexion dieser Leitfäden. Diese unterschiedlichen, ja, unterschiedlichsten Leitfäden verstehen wir ausdrücklich als dichte Spuren unserer endlichen Existenz. Die Reflexion bringt sich also selbst so in ‚diesem wirklichen Bewusstsein‘ der Reflexion existentiell zum Abschluss. Sie entfaltet nicht nur sich und das wirkliche Dasein des Menschen. Sie erfasst damit auch ‚die Moderne‘ (in unserem Verständnis all die gedachten, behaupteten Horizonte) ausdrücklich als ‚unser abendländisches Projekt‘. Es ist geradezu paradox, – ‚letztendlich‘ der Entwurf einer ‚endlichen‘ Institution. Dieser Entwurf kann sich nicht seinem ‚endlichen Entwerfer‘ entziehen. Und der ‚absolut endliche‘ Entwerfer spiegelt sich in seinem Entwurf. Endgültig 36 Beispielsweise: „Gewöhnlich verbindet man die Moderne in der Kunst mit dem Zusammenbruch jener traditionellen Übereinkunft in der westlichen Kultur, die bislang das Erscheinungsbild der Kunst mit dem Erscheinungsbild der natürlichen Welt verknüpft hatte.“ Charles Harrison (2001), S. 9. Dazu auch Carl Friedrich von Weizsäcker: „Der einzige von der voll entwickelten Moderne noch ernstlich zugelassene, ja hofierte Sprecher ist die Kunst; sie darf wahrnehmen, sie darf Leidenschaft und Leiden aussprechen.“ von Weizsäcker (1983), S. 402 ff.

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E. Reflexion, Großstadt und Moderne

endlich! Das denkt sich selbstverständlich als eine transzendentale Reflexionsfigur. Aber, und das sei auch an dieser Stelle wieder erinnert und eigens unterstrichen. Es geht dabei nicht um eine erkenntnistheoretische Vorstellung einer neuzeitlich idealistischen Konstruktion für eine ‚reine, absolute, unbedingte Vernunft‘. Genauso wenig wie um irgendwelche philosophiehistorischen Fragen. Auch die Philosophiegeschichte selbst ist dem Phänomenologen ‚nur‘ Potential für die systematische Reflexion. Das ist allerdings nicht wenig.37 Fassen wir also diese philosophischen Leistungen, als ein Abarbeiten einer verstörten Selbstvergewisserung, einer irritierten und perturbierten Existenz; ein sich einfinden und bewegen in dem nun als endgültig endlich konstituierten Horizont abendländischen Denkens. Das ist die ‚wirkliche transzendentale‘ Form der phänomenologischen Reflexion des existentiellen Bewusstseins der Moderne. Es erfährt sich in dieser radikalen Folgerung als wahrhaftiger, wirklicher, selbstbewusster Zeit-Geist-Entwurf. Als entwerfender Entwurf der abendländischen Endlichkeit. Das ist (wie) ein Aufspüren ungezählter ‚kleiner Endlichkeiten‘, das hinter sich kein mögliches ‚großes‘ metaphysisches, theologisches Bewusstseins-Thema mehr offen ‚weiß‘.38 Erst jetzt entscheiden sich wirklich mein Glauben und mein Hoffen unflankiert als glauben und hoffen. Das bestimmt also den möglichen Horizont innerhalb dem der wirkliche Anfang der Philosophie endgültig entworfen werden muss. Ein Entwurf der offensichtlich nicht mehr wirklich viele philosophische Möglichkeiten offen lässt.39 So also und nicht anders und ohne jede Dramatik. Die Reflexion der Reflexion der Krisis und der Verzweiflung ist also die Bedingung der Möglichkeit des Zeit- und Selbstverständnisses, des ‚leibhaften‘ Bewusstseins der Moderne. Und korrelativ, der Moderne als nun ‚letztmöglichen Zeitraums‘ des vollendeten, philosophisch erschöpften Abendlandes. Diese wirklich-endgültige ‚philosophische Wahrnehmung der Moderne‘ ist (und darauf sind wir immer wieder gestoßen) selbstverständlich nichts weniger als eine ‚transzendentale Konstitutionsleistung‘. Sehr konkret und nicht nur als vages Bild. Aber nicht in einem neuzeitlichen, idealistischen (Ver37 „Dem wahrhaft Vorurteilslosen ist es gleichgültig, ob eine Feststellung von Kant oder Thomas von Aquino, ob sie von Darwin oder von Aristoteles, von Helmholtz oder Paracelsus herstamme.“ Logos/340. 38 Vgl. dazu Gleixner (2003), S. 24 ff. 39 Husserl deutet das in einem von uns sehr verschiedenen Sinn: „Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationales Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft.“ Krisis. Ergänzende Texte, S. 347 ff.

II. Das Projekt: ‚Moderne‘ als Anfangs-Frage der Philosophie

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nunft)Verständnis. So als ob die absolute Vernunft in einer notwendigen Progression zu sich komme und schließlich und endlich ‚die Welt selbst vernünftig‘ und damit ‚hell‘ und ‚heil‘ mache. Wir Phänomenologen konstruieren nicht, wir erfinden nicht, wir phantasieren nicht. Wir schauen hier und jetzt. Noch das Unwillkürlich wird als willkürlich unwillkürlich ‚existentiell gesehen‘. Dabei drängt sich erneut und eindrücklicher die Frage auf. Wie könnte denn eine neuzeitlich ‚absolut‘ gedachte Vernunft (ob im Sinne Kants, Fichtes, Schellings oder Hegels) die (‚je meine‘) wirkliche Existenz der Moderne wirklich fassen? Wir brauchen das hier nicht weiter eigens historisch zu entfalten. Bleiben wir bei unserer systematischen Fassung der Moderne, des Bewusstseins der Moderne. Wir selbst nehmen es also selbst ‚wesentlich wirklich‘ wahr. Es ist unsere endliche Erfahrung. Die ausdrückliche Erfassung einer Gestaltung einer Reflexion der ‚Reflexion und Krisis‘. Eine Selbst-Wahrnehmung, die einen existentiellen Eigen-Sinn beansprucht.40 Es ist, und das ist sicher eigenartig genug, das ‚wirkliche Selbstverständnis‘ dieses existentiellen-transzendentalen Denkens das den Blick hier und jetzt frei gibt auf die äußersten Grenzen der abendländischen Gestalt(ung). Dass dafür eine ‚Selbst-vergessene‘ historische Nachzeichnung der abendländischen Geistesgeschichte nun nicht genügt liegt auf der Hand. Gefordert stattdessen eine radikale wesentliche Selbstbetrachtung; ich selbst wahrgenommen und gefasst in meiner wesentlich konkreten, leibhaften Endlichkeit. Methodisch folgen wir (auch hier) Husserl. Es ist eine phänomenologische Übung des Wahrnehmens. Philosophisch eingeführt mit dem viel diskutiertem Begriff ‚Wesensschau‘. Die umlaufenden kritischen Deutungen lassen wir hier außen vor. Die ‚Wesensschau‘ benennt den geltungstheoretischen Zusammenhang einer Intention des Philosophierens, das sich selbst in die Frage stellt. Also, ein in Wirklichkeit zutiefst ‚historisch und systematisch‘ ‚verunsicherten‘ Philosophierens, das sich nicht (positivistisch, idealistisch) verschließt, sondern das aufbricht. Und zwar auf unsere Fragestellung gewendet. Eine Ausrichtung, ein Aufbruch auf eine ganz und gar ‚anfängliche‘, endlich selbst-verständliche Reflexion der erschöpften Logik der Existenz. Das ist die wesentliche existentielle Bewegung des Bewusstseins der Moderne. 40 Das ist sicher nicht einfach. Denken wir es mit Viktor von Weizsäcker. Es gelte „den Ansturm der Fakultäten auszuhalten. Eine Fakultät sagt ‚ich bin die Philosophie‘, eine andere ‚ich bin die Theologie‘. Auch die Physik, die Physiologie sprechen in dieser Ich-Form, als ob es so etwas in der Natur gäbe, während es doch nur um Institutionen, Betriebsgemeinschaften, Übereinkünfte über eine Methode handelt. Das alles sind spezifische Gewohnheiten, die man vielleicht gerade jetzt einmal aufgeben muß, auf die Gefahr hin, isoliert dazustehen, ohne Hilfe und Anerkennung.“ Viktor von Weizsäcker (19672), S. 10.

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E. Reflexion, Großstadt und Moderne

Das ist ausdrücklich der Ertrag ‚meines‘, ‚unseren‘ Philosophierens hier und jetzt. Die Vorstellung der phänomenologisch ‚wesentlichen‘ Fassung der Moderne. In der Form der ‚reflexiven Reflexion‘ bringt sich die ‚neue Zeit‘ als das Bewusstsein der Moderne, als wesentliches Zeitbewusstsein in eine endgültig philosophische Gestalt. Die reflexive Reflexion ist die ‚wirkliche Möglichkeit‘ dieses Horizonts. Sie ist die endgültige ‚logische‘ Verwirklichung des Abendlandes. Die Moderne ist – vor diesem Hinter- und Untergrund – wesentlich und selbstverständlich ein ‚transzendentaler ZeitRaum‘. Das interpunktiert den Bruch mit der Neuzeit. Auch die Neuzeit nennen wir mit Recht einen ‚transzendentalen Zeitraum‘. Aber die Transzendentalität der Moderne ist radikaler, ‚bestimmter‘, weil existentieller, leibhafter, also philosophisch ‚wirklich wirklicher‘. Jetzt erst wird der neuzeitliche philosophische Diskurs als Scheitern der Vernunft ‚endlich rund‘. Wir verstehen auch, dass dieser Diskurs mit seiner Gestalt, seiner ‚Gebärde‘, seiner Ausrichtung, seine eigene historische Bestimmung nicht wirklich fassen konnte. Das gilt selbst dort noch wo die Reflexion der Moderne unwillkürlich in das Bewusstsein der Neuzeit ‚hineinspielte‘. Das alles gestaltet nun die Möglichkeiten des endgültigen Philosophierens. Nicht das deutende Aufspüren dieser oder jener historischen Ursache(n) kann vor diesem Hintergrund (beispielsweise) noch das Ziel einer phänomenologischen Vorstellung sein. Also, eine bestimmte Entwicklung der Ökonomie, eine Mechanik, eine Strategie der Politik oder eine soziale, gesellschaftliche oder religiöse krisenhafte Ereignisfolge als ‚historische Erklärung‘ entfalten.41 (Das nimmt diesen Diskursen nichts von ihrer gesellschaftlichen Bedeutung). Klar ist, das bietet (geradezu natürliche) ‚Angriffsflächen‘ für eine Kritik. Etwa der Vorwurf, eine existentielle Phänomenologie sei wissenschaftlich, philosophisch und historisch wortwörtlich ‚haltlos‘. Nun, das ist in der Tat nicht einfach von der Hand zu weisen. Ja, es trifft in gewisser Weise sogar zu. Diese phänomenologische Fassung, diese Konstitution der Moderne, dieses Selbstverständnis des Bewusstseins der Moderne lässt sich ‚letztendlich‘ weder wissenschaftlich-objektiv erklären noch sozialgeschichtlich-politisch feststellen. Das kann nicht allzu sehr verwundern. Die Phänomenologie beansprucht weder eine wissenschaftsgeschichtlich, erkenntnistheoretisch ‚korrekte‘ Lage des 19. und 20. Jahrhundert zu zeichnen, (gar mit dem Anspruch auf ‚wissenschaftliche Objektivität‘); noch weniger möchte sie eine historische Fach-Betrachtung vorlegen. Auch hier gilt: Die Phänomenologie reflektiert diese Reflexionen. Es gilt also selbst erst diese wissenschaftlichen Ansprüche, dieses historische Selbstverständnis, diese technische Weltgestaltung zu verstehen. 41

Dazu z. B. Helmuth Plessner, GS. VI (1982).

II. Das Projekt: ‚Moderne‘ als Anfangs-Frage der Philosophie

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Das ‚Projekt der Moderne‘ ist also das Korrelat der existentiellen Reflexion der Reflexion. Eine radikal-existentielle Reflexion des sich so Selbstwahrnehmenden, sich als endlich leibhaft, erkennenden Subjekts. Diese ausdrücklich willkürliche Erfahrung der reflexiven Reflexion entwirft sich jetzt systematisch als das ‚Subjekt der Moderne‘. Die aufregende Geschichte des Subjektbegriffs (von Hegel bis zu Bateson; vom Idealismus bis zum Konstruktivismus), braucht uns hier nicht weiter zu interessieren. Nehmen wir als ‚Subjekt‘ phänomenologisch zunächst einfach das, was sich mir selbst Tag für Tag unmittelbar, ohne weiteres aufdrängt: meine leibhafte, wirkliche, exklusive Erfahrung meiner selbst. Und diesem unwillkürlichen Andrängen und Aufdrängen gebe ich (versuchsweise) eine willkürliche philosophische Fassung. Die Reflexion bricht als Krisis in die Vernunft der Neuzeit ein, und entwirft als dieser ‚gewaltsame Bruch‘ im Bewusstsein den Zeit-Raum und die Existenz der Moderne. Diese Krisis zeigt sich – verdeckt und offen – als subjektive Verzweiflung. Das ist kein bloßes vages Gefühl. Diese Verzweiflung institutionalisiert sich. Sie gestaltet so die Kunst, die Literatur; sie formt den Text der Politik und ist vor allem Ausdruck der Religion. Welch eigenartiger, selbst inszenierter Vorgang, dem auch der Gedanke der Philosophie grundsätzlich nicht ausweichen kann. Die Moderne ist also eine ‚transzendental-leibhafte‘ Figur der abendländischen Reflexion; einer Reflexion, die sich hier und jetzt selbst ‚beim Wort‘ nimmt; die alle Sachlagen, Institutionen, Vorstellungen und Sichtweisen be- und umgreift, – und dabei ‚gründlich existentiell‘ verändert. Sie ist so ‚wirklich‘ eine unüberbietbar gründlich-radikale Gestalt; ein Entwurf eines ‚bodenlosen Grundes‘. Die reflexive Reflexion, die sich systematisch (Irrationales ist dabei nicht ausgeschlossen) selbst entfaltet, sich selbst als die Moderne endlich eingeholt hat, ist wirklich ontologisch und theologisch ‚grundlos‘. Dieser ‚transzendentale‘ Entwurf lässt selbstverständlich das im abendländischen Diskurs so viel bemühte Subjekt nicht unverändert zurück. Es kann nicht anders sein. Mein und unser Weltverständnis beeindruckt mich, beeindruckt uns, repulsiv und durchdringend existentiell. Darüber braucht es auch nicht vieler Worte. Wir erfahren es selbst! Mit transzendentalen Untersuchungen im Sinne Kants und seiner ihm auf die eine oder andere Art darin Folgenden ist es also nicht mehr getan. Es geht qualitativ, wirklichexistentiell darüber hinaus. Husserl selbst macht darauf aufmerksam. Die Fragestellungen der neuzeitlichen Vernunftkritik haben einen unbefragten Boden von Voraussetzungen. Schon diese Voraussetzungen werden Kant selbst nicht auffällig.42 Ich füge hinzu: Sie können im Denkhorizont der Neuzeit überhaupt und grundsätzlich nicht auffällig werden. 42

Vgl. Krisis, § 28.

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E. Reflexion, Großstadt und Moderne

Die entscheidende, weil existentiell bewegende ‚Krisis der Moderne‘ entfaltet sich als Reflexion der Krisen des neuzeitlichen Bewusstseins. Das ist eine Reflexion, die sich in allem Ernst gegen sich selbst richtet, – und so über sich hinausreicht. Auch das ist, selbst wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, keine historische Frage. Die so gefasste Moderne steht hier und jetzt in dieser durch reflexive Reflexion inszenierten Spannung: ‚Krisen – Krisis‘. Sie entwirft sich als einen wirklichen, endgültigen Abbruch der Neuzeit. Mit allen Konsequenzen! Nämlich, die Aufhebung einer Transzendentalität aufgeklärter Vernunft mitsamt der damit verbundenen Hoffnung auf eine endlose Fortsetzung humaner Welt. Sigmund Freud spricht am Anfang des 20. Jahrhunderts das entscheidende Wort! Und in dieser nun endlichen Form eröffnet sie ihre Einstellung; ihre historische und systematische Einsicht auf die Endgültigkeit, die logische Erschöpfung des Abendlandes. Das also ist nichts ‚von außen‘ her gestaltetes, historisch zufällig aufgezwungenes (der 1. Weltkrieg; der 2. Weltkrieg; Nietzsches ‚Gott ist tot‘; . . .); auch kein ‚organisches Entwicklungsgesetz der Kulturen‘, (Aufstieg und Fall der großen Mächte). Sondern diese Konstitution, ihre Institutionen, reflektiert sich als eine ausdrücklich existentielle, und das ist immer leibhafte Selbst-Herausforderung des Bewusst-Seins.43 Der Blick auf die Geschichte reflektiert sich existentiell. Es ist die systematische Gestalt der Geschichte der Reflexion. Die Geschichte der Reflexion ist ein phänomenologischer, systematischer Entwurf. Auch dort, wo es gilt, diese Geschichte selbst als Geschichte zu reflektieren. Die Idee, ‚Krisis‘ als spannende, exklusive Möglichkeit der Moderne, jetzt radikal existentiell zu fassen, nötigt zu der reflexiven Wendung der Krisen zur transzendental-leibhaften Krisis. Das sind selbstverständlich Fragen und An-Sichten einer Phänomenologie. Die phänomenologische Einsicht in die Möglichkeiten der Krisen, die Wahrnehmung ihrer wirklichen Lage gestaltet auch den historischen Weg der Moderne. Letztendlich als ‚entwerfende‘ Reflexion der ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Das bedeutet ‚als erstes‘ (nicht der Zeit nach) die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit faktischer Krisen-Phänomene der Moderne korrelativ in den Blick zu nehmen. Also wirklich und wahrhaftig ‚zu erschauen‘. Diese Reflexion der Reflexion entfaltet sich, wirklich wahrnehmbar, konkret als ‚Form‘, als ‚Institution‘ für den Menschen hier und jetzt. Das meint, durch die ‚leibhafte Erfahrung des Selbst-Bewusstsein‘ wirklich ‚ganz und gar‘ eingelassen zu sein in die selbst entworfene Geschichte der Moderne.44 Das ist phänomenologisch ‚geschaut‘! Natürlich, und dagegen kann auch ein Historiker kaum Einspruch erheben: Geschichte und Reflexion des 43 Hier zeigt sich auch eine gewisse Nähe zu einem konstruktivistischen (systemischen) Denken.

III. Die endgültige Aufhebung des neuzeitlichen Philosophierens

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Menschen, sein Selbstentwurf, sein Selbstverständnis, seine Perspektiven sind ineinander ‚verspannt‘. Unabhängig davon welche konkreten Inhalte dem Selbstentwurf, dem Selbstverständnis zugrunde gelegt werden. Dieses systemisch komplexe Zueinander und Ineinander, das sich nicht allein im Begriff der Konstitution verdichten lässt, ist zuerst und zumeist verdeckt und wird erst durch die Reflexion der Reflexion als bewusste Gestalt(ung) ‚wirklich‘. Hierher gehört vor allem auch der, zuerst und zumeist nicht mehr eigens bedachte Horizont der lebensweltlichen Wirklichkeit. Das alles sind im Übrigen keine theoretisch-abstrakten Fragen einer spekulativ aufgelegten Philosophie. Das eröffnet ein selbstverständlich praktisches Zeitverständnis der Moderne. Die phänomenologische Wahrnehmung hat (zumindest) existentielle Konsequenzen! In diesem Zusammenhang noch ein kurzer Hinweis. Das alles sind ganz in diesem Sinne auch keine Fragen für ein ‚lineares Denken‘. Wo immer wir ‚phänomenologisch hinschauen‘, hinschauen, im Blick der Reflexion das ‚Wesentliche‘, welche Leistung wir immer auch entfalten, wir werden geradezu unweigerlich auf etwas ‚gestoßen‘. Die Fassung der Transzendentalität der Neuzeit ist nicht die Endgestalt der Reflexion. Sondern schon der Blick der Vernunft auf sich selbst verändert eben den Blick der Vernunft auf sich selbst; verändert wesentlich das Selbst-Verständnis. Die Vernunft erfasst sich jetzt als Gestalt, als Form der konkreten Existenz; und d.h. als endlich-zeitlicher Selbstentwurf. Sie nimmt sich zurück, sie erfasst sich endlich, und sie wird wirklich wirklich. Dieser Blick selbst verweigert sich als wirkliche Potenz den ‚klassischen‘, neuzeitlichen philosophischen Annahmen. Er sieht sich selbst endlich wirklich, – vor jeder ‚unbedingten‘ metaphysisch-theologischen Feststellung. Und das ganz unabhängig von ihrer weltanschaulichen Grundlage. Der Phänomenologe verweigert sich (er kann nicht mehr anders) jeder weiteren Ausrichtung auf neuzeitlich eingeführte, transzendentale Invarianz, einer (letztendlich absoluten) Onto-Logik der Vernunft.

III. Die endgültige Aufhebung des neuzeitlichen Philosophierens Die Reflexion der Phänomenologie gestaltet als wirkliche Erfahrung, als bewusste, wesentliche Wahrnehmung der radikalen Reflexion die Moderne, das ‚Bewusstsein der Moderne‘. Diese komplexe philosophische Erfahrung der Reflexion der Reflexion der Moderne ist selbstverständlich zugleich eine ausdrücklich existentielle Selbsterfahrung. Reflexion, Phänomenologie 44 Auch für ein ‚nicht-transzendentales Denken‘ gilt: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“ Walter Benjamin (1991), S. 700.

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E. Reflexion, Großstadt und Moderne

und Moderne verweisen ‚notwendig‘ aufeinander. Von jedem dieser Begriffe aus, eröffnet sich ein Blick, eine ‚Schau‘, ein Durchlass, ein Durchbruch auf die anderen Begriffe. Und die phänomenologischen Begriffe selbst sind dichte Zeichen wesentlicher Beschreibungsreihen. Das ist dann nicht mehr nur ein irgendwie ‚formales Mitdenken‘, sondern die Ausführung eines vertiefenden Klären. Fragen wir also beispielsweise nach der ‚Phänomenologie‘ selbst im Kontext ‚Reflexion‘ und ‚Moderne‘. Der Begriff selbst ist philosophisch eingeführt. Bekanntlich historisch seit dem 18. Jahrhundert (also schon vor Hegel) im Umlauf. Aber erst durch und in Anlehnung an Edmund Husserl findet der ‚Titel‘ ‚Phänomenologie‘ ausdrücklich seinen Weg in das Denken des XX. Jahrhundert. Und kaum ein Register einer philosophischen Arbeit, das diesen Begriff nicht führt. Das alles ist Lehrbuchwissen. Seine Begriffsgeschichte, seine Herkunft und seine Bedeutungsverschiebungen interessieren hier nicht. Entscheidend für uns ist, dass es sich nicht um eine bloße philosophie-historische Bestimmung handelt; also um eine bloße Schulbezeichnung neben anderen, etwa wie Neukantianismus u. ä. Kein bloßes historisches Nach-Denken, das beispielsweise eine bestimmte Methodik, bestimmte Formen, Intentionen oder Inhalte eines bestimmten Philosophierens, seinen Typus, seine Möglichkeiten sammelt, – im Sinne von ‚es war einmal‘. Die Phänomenologie entfaltet, sie zeigt vielmehr einen umfassenden, systematischen Anspruch der ‚Selbst-Anschauung‘ (in) der Reflexionsgeschichte; sie ist so die Gestalt, der Ausdruck eines fortdauernden, systematischen Paradigmenbruchs. Das Denken des Abendlandes wird in dieser systematischen Form der Reflexion endgültig formvollendet interpunktiert. Die Phänomenologie bestimmt nicht nur grundsätzlich das Philosophieren, die logische Grundlagenforschung, ihre Inhalte und Methoden. Sie verändert auf Dauer die Tiefenpsychologie, berührt die Sozialwissenschaften, gestaltet Theorien der Kunst und der Literatur, und nicht zu Letzt auch die Theologie. (Das wird auch bei den Phänomenologen selbst zu wenig bedacht). Diese Erfolgsgeschichte der Phänomenologie erstreckt sich, – denken wir hier vor allem über den deutschsprachigen Raum hinaus, – bis in die Gegenwart. Dass allerdings, dieser Titel, dieser Begriff gegenwärtig oft genug wie eine abgegriffene Münze wirkt, wie eine ‚philosophische Leerstelle‘, sei nicht verschwiegen. Die Phänomenologie reflektiert anschaulich und ‚notwendig systematisch‘ den Horizont der Moderne. Das scheint sehr allgemein. Damit stehen wir zunächst vor einer problematischen Einsicht. Kurz und knapp: Der Titel ‚Phänomenologie‘ gestaltet sich – vor diesem historischen und systematischen Hintergrund – als offensichtlich vieldeutig und wenig präzise. Wie

III. Die endgültige Aufhebung des neuzeitlichen Philosophierens

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auch immer nun im Einzelnen zu verfahren ist. Zumindest eine Aufforderung lässt sich schon dieser weiten Fassung entnehmen. Die Vorstellung, die Behauptung von ‚Phänomenologie‘, von ‚phänomenologisch‘ braucht immer eine philosophische Klarstellung; also immer einen ausdrücklichen Aufriss für eine mögliche philosophische, psychologische, theologische Verwendung. Das wiederum kann nur durch die systematische phänomenologische Arbeit selbst geleistet werden. Ein Blick in die Geschichte gibt Sinn, – kann aber nichts entscheiden. So sind es zunächst wiederum sehr einfache Fragen. Was genau umfasst, benennt und denkt ‚die‘ oder ‚eine‘ Phänomenologie? Also z. B. welcher Umfang? Welche wissenschaftliche, lebensweltliche, philosophische Reichweite? Welche ‚philosophische Qualität‘? Welche Geltung wird grundsätzlich beansprucht? Welche Methoden? Welche Bedeutung, welche Form kann, darf ihr als Reflexion der Reflexion, als einer existentiellen Reflexion, die sich selbst vollbringt, zugestanden werden? Definitionen, Festschreibungen, Zuordnungen (Münchner, Göttinger, Freiburger Schule) reichen nicht hin. Die Phänomenologie zeigt sich selbst als ausdrücklich systematische Gestaltung existentieller Reflexion. Eine wirkliche Reflexion eines wirklichen Menschen. Das ist kein Ausweichen vor einer schwierigen Antwort. Übrigens, auch aus den Arbeiten Husserls lässt sich der Begriff der Phänomenologie nicht ‚wirklich klar‘ fassen, eineindeutig aus seiner ‚philosophischen Sache‘ heraus bestimmen, festlegen und definieren. Von Husserls Schülern (und deren Schüler) schweigen wir ganz. Das ist aber nur scheinbar eine Schwierigkeit. Ganz im Gegenteil! In Wirklichkeit zeigt sich nämlich so eine nicht nur methodische Plastizität der Phänomenologie. Und das wirklich von Anfang an. Gerade das hebt die Phänomenologie in den Rang einer konkreten Arbeitsphilosophie, einer wirklichen, radikalen Denkform der (und für die) Moderne.45 Zunächst und vor allem als eine strenge, ‚sachliche‘ Beschreibungsform. Sie ist methodisch systematisch zu gestalten. In dieser Form werden wesentliche Einsichten in sehr unterschiedliche Horizonte ermöglicht; und vor allem auch eine strenge Beschreibung der möglichen Beschreibungsformen selbst. Sie können so grundlagentheoretisch vorgestellt und letztendlich verstanden werden. Das ermöglicht eine wirkliche Transzendentalität, wirklich erfahren, wirklich erschaut. Eine Transzendentalität, die kein geschlossenes System der reinen Vernunft voraussetzt. In dieser wesentlich so ‚offenen‘ Reflexion der Reflexion zeigt die Phänomenologie sich als die ‚eigentliche‘ Gestalt(ung) der Philosophie der Moderne. Nicht als eine Form der Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie, mit diesen oder jenen transzenden45 Dass der Titel inzwischen geradezu ‚inflationär‘ gebraucht wird, steht auf einem anderen Blatt.

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E. Reflexion, Großstadt und Moderne

talen Eigenarten; sondern als eine jetzt wirklich notwendig ‚existentiale Logik‘. In dieser erarbeiteten Form phänomenologischen Philosophierens gestaltet sich also die Moderne. Die Philosophie, die systematische Wahrnehmung der reflexiven Reflexion der Moderne ist also keineswegs ‚historisch nachträglich‘. Das hat nicht zu Letzt auch Folgen für das Selbstverständnis der Phänomenologie. Vor allem ist die wesentliche Gestalt, die Frage der Moderne, nicht irgendein Thema, irgendeine Perspektive, der phänomenologischen Arbeit neben möglichen anderen (kulturphilosophisch, zeitkritisch u. ä.). Sondern, die Phänomenologie ist vielmehr nicht mehr und nicht weniger als der endgültige Entwurf der Philosophie der Moderne. Die Phänomenologie reflektiert ausdrücklich in dieser Form das ‚Wesen‘ der Moderne. Das sind selbstverständliche, konstitutive Akte, genauer, reflexive Aktreihen. Diese Gestalt der Moderne als konstruktive Selbstgestalt der Reflexion der Phänomenologie kann sehr konkret, bildhaft, ästhetisch, aber auch philosophisch abstrakt vorgestellt werden. Die neuzeitlich aufgeklärte Vernunftphilosophie mit ihrem beeindruckenden Reflexionsniveau wird dabei aber selbst eingeflochten, fundiert in einen wirklichen, ‚leibverhafteten‘ Horizont von Krisis und Geltung. Sie wird (wortwörtlich) verwirklicht. Das ist die theoretisch und praktisch alles ergreifende, alles verändernde Perspektive der ‚Reflexion und Verzweiflung‘.46‚Aus diesem ganz und gar wirklichen Grund‘, einer Wahrnehmung, einer Selbst-Erfahrung ist das phänomenologische Denken. Entfaltet als dieser radikale Begriff einer wirklichen, systematischen Reflexion, der die Aufhebung des neuzeitlichen Philosophierens ermöglicht. Und letztendlich sogar das Philosophieren des Abendlandes selbst, das sich insgesamt – bewusst oder auch nicht – an diese letztendlich ‚transzendentale‘ Form gebunden hat. Die neuzeitlichen Modelle der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen, transzendentalen, vernünftigen Selbstvergewisserung begreifen und entwerfen sich selbst radikal endlich, folgerichtig als wirkliche, natürlich existentiell-dramatische Suchbewegungen. Herausgefordert durch die nun aufdringliche Frage, ob eine, ob die Wahrheit als ‚begrenzte‘, regulierte Wahrheit der Vernunft, ob einsichtiger Sinn hier und jetzt grundsätzlich überhaupt noch möglich sein kann.47 46

„Man könnte, in eine einfache Formel zusammengefasst, sagen, dass die Verzweiflung an der Möglichkeit eine überpersönliche Philosophie zu entwickeln, das Charakteristikum der Philosophie des XX. Jahrhunderts ist.“ Julius Kraft (1977), S. 253. 47 Schon Hegel stellt fest „dass in seiner Zeit die Menschen in eine abgrundtiefe Verzweiflung gestürzt sind, und zwar darüber, je erfahren zu können, was die Welt im Innersten zusammenhält und was sie in Bewegung versetzt.“ Richard Wisser (1996), S. 137.

III. Die endgültige Aufhebung des neuzeitlichen Philosophierens

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In dieser gelebten Spannung entfaltet sich die Bedeutung der Moderne als endgültige Fassung des Abendlandes. Eingeschlossen dabei immer auch ihre philosophischen und wissenschaftlichen Selbst-Missverständnisse; ein Denken (immer noch) als ob es Möglichkeiten gäbe für eine Reflexion reiner Vernunft, für eine Vollendung der Aufklärung.48

48 Die Geschichte dieser Selbstvergewisserung innerhalb der Spannung ‚Reflexion und Verzweiflung‘ wartet noch darauf geschrieben zu werden. Diese Geschichte wäre anders zu gestalten, als die ‚in der Regel‘ linear vorgetragenen Geschichte der Philosophie.

F. Die phänomenologische Lebensphilosophie I. Das Fragwürdige der philosophischen Frage-Stellung Soweit sollte nun eine Übereinstimmung möglich sein. Jedes wirklich radikale Philosophieren im Horizont der Moderne ist der Form und der Intention nach ‚transzendental‘. Unabhängig davon, ob es sich selbst so auf den Begriff bringt. Davon gehe ich aus. Darüber gibt es (wenigstens im Grunde) keinen Streit. Ein Blick in die philosophische Literatur bestätigt es. Wie es also scheint, ist das der einzig noch verbliebene ‚Weg‘ Erkenntnis und Geltung – eben durch Einsicht der Einsicht der Vernunft – zu reklamieren und zu sichern. Also, so verdichtet: die selbst-bestimmte Fassung der Vernunft als ‚logische‘ Vorbedingung, die Bedingung der Möglichkeit für Wissenschaft, Philosophie, letztendlich für Sinn und Geltung überhaupt. Das ist im Übrigen, auf den zweiten, systematischen Blick, keine bloße Beschreibung neuzeitlichen Denkens. Die oft verborgene Ab-Sicht, die abendländische Teleologie ist von Anfang an eine Reflexion der ‚wissenschaftlichen‘ Reflexion. Die Reflexion, einer, ‚im Grunde‘ und von Anfang an metaphysisch endgültig ungesicherten Existenz. Schon der Mythos bestimmt die Erfahrung einer fragilen Ordnung. Ein narratives Instrument des Weltverständnisses und der Daseinssicherung. – Aber, und auch das ist wahr, nur im griechischen Horizont fordert er Reflexion. Das alles muss also nicht erfunden, historisch konstruiert werden. Es zeigt sich dem phänomenologischen Blick wirklich in der Reflexion der Reflexion. Greifen wir das so in diesem Sinne auf und reflektieren es phänomenologisch. An einem halten wir nun unbedingt fest. Das Philosophieren ist als bewusste Gestalt der Reflexion der Reflexion offensichtlich kein bloßes biographisches, historisches, psychologisches, soziologisches Nach- und Vor-Denken. Auch kein ‚dunkles‘ Grübeln über Momente, Geschehnisse, Scheitern, Erfüllen und Planen eines Lebens in einem irgendwie erlebten, erlittenen hier und jetzt; oder, über diese oder jene Wissenschaft, der Kunst, der Religion (u. ä.). Sondern Philosophieren ist wirklich eine auf ‚unbedingte‘ Geltung, auf ‚absoluten‘ Sinn hin angelegte, ausgerichtete ‚Über-Legung‘. Die Erfüllung dieser Intention ist dabei eigenartigerweise nicht notwendig das wirklich entscheidende. Das berührt uns! Gerade dass diese Suchbewegung, diese Ausrichtung sich unabhängig davon gestaltet, ob dieser Anspruch eingelöst werden kann oder nicht. Und wir nehmen das zur

I. Das Fragwürdige der philosophischen Frage-Stellung

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Kenntnis als auch historische Gestaltung der Reflexion von Anfang an. Diese historische Gestaltung ist jetzt radikal zu reflektieren. Diese Reflexion der Reflexion entfaltet sich so als wesentlich wirkliche Daseins-Analyse. Also ein wirkliches, existentielles ‚durchspielen‘ der wirklichen Möglichkeiten des Daseins und seiner wirklich möglichen Horizonte. Für uns Phänomenologen ganz konkret, – vorgestellt und entfaltet als eine ‚phänomenologische Lebens-Philosophie‘. Um möglichen Einwänden zu begegnen ein kurzer Hinweis. Das begreift sich nicht als Bruch mit, oder als eine Absetzbewegung von der ‚klassischen‘ phänomenologischen Tradition. Das sollte während unseres miteinander Denkens einsichtig geworden sein. (Es ist wohl wahr, Husserl selbst hätte es möglicherweise trotzdem als eine erhebliche Abweichung gedeutet). Daran halte ich fest. Auch diese existentielle Gestalt(ung) der Phänomenologie liegt mit in dem Horizont der Denkmöglichkeiten Husserlschen Philosophierens.1 Husserl hat die, nennen wir es, ‚existentiellen‘ Möglichkeiten phänomenologischer Reflexion nicht wirklich ausgeschöpft. Das ist eine der Merkwürdigkeiten seines Denkens und seines Selbstverständnisses. Diese ‚phänomenologische Lebens-Philosophie‘ (im Übrigen geht es auch hier um die Sache und nicht um Begriff) ist also keine gewaltsame Vereinnahmung. Ist nichts der Phänomenologie wesentlich fremdes. Sie entfaltet, jetzt vom wirklichen Menschen aus gedacht und dorthin selbstverständlich natürlich vorurteilslos geöffnet, ‚radikal‘ die existentiellen Potentiale, die Gründe und die Abgründe, der von Husserl intendierten ‚reinen, fundamentalen Bewusstseinsanalysen‘. Konkret heißt das: Der Phänomenologe selbst besinnt sich hier und jetzt wirklich-wesentlich auf sich selbst. „Wer überhaupt Philosoph im höchsten Sinne werden will, gemäß der Platonischen und Cartesianischen Idee einer universalen Wissenschaft aus absoluter Rechtfertigung, muss es ursprünglich durch solche Selbstbesinnung werden, muss es werden auf solchen Wegen rationaler Selbstgestaltung und Selbsterkenntnis.“2 Selbstbesinnung, Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung bleiben auch jetzt, sogar, vor allem jetzt, die philosophischen Grund-Aufgaben. Das sind ineinander verfugte Muster; die Grundform einer ‚philosophischen Feedback-Schleife‘. Und zwar besinnt sich diese Phänomenologie weitaus radikaler als es eine reine Bewusstseinsphilosophie sich grundsätzlich ‚vorstellen‘ kann. Die transzendentale ‚Theorie‘ der phänomenologischen Arbeit denkt und handelt ‚wirklich ganz und gar endlich, leibhaft praktisch‘. 1

Die durch Husserl vorgestellte Phänomenologie ist kein begrenzter ‚Denk Raum‘, kein ein für alle Mal fest-gestelltes Feld, sondern eben ein ‚offener (Forschungs)Horizont‘. 2 EP.II/28.

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F. Die phänomenologische Lebensphilosophie

Die Phänomenologie hat also wahrhaftig ‚das Zeug‘ zu einer Lebens-Philosophie. Diese phänomenologische Lebens-Philosophie denkt ‚Selbstgestaltung‘ und ‚Selbsterkenntnis‘ existentieller, anthropologischer, philosophisch wesentlicher und praktisch gründlicher als es die reine Bewusstseinsphänomenologie vorstellt. Sie erfüllt so wirklich und wahrhaftig den phänomenologischen Gedanken. Sie ist ganz sicher auch Anschlussfähig an die Intention Husserls. So bewegt sie sich also ‚zwanglos‘ im Denkhorizont der ‚klassischen Phänomenologie‘. Die phänomenologische Lebens-Philosophie entspricht (wortwörtlich ‚in der philosophischen Tat‘) Husserls verborgener verzweifelt-existentieller Einsicht. Das ließe sich im Einzelnen vorführen. (In diesem Zusammenhang noch ein Hinweis. Diese Gestaltung, diese Gestalt der Phänomenologie ermöglicht darüber hinaus, sich mit der psychoanalytischen, tiefenpsychologischen Herausforderung, vor der jedes philosophische Denken heute steht, wirklich konkret auseinanderzusetzen.3 Und das ist für jedes Verstehen der Moderne sehr bedeutsam!) Von einer lebensweltlichen Erfahrung gehen wir aus. Reflektiert, bebildert, entfaltet wird sie nicht zu Letzt als literarische Einsicht. Ein Blick in die entsprechende Literatur zeigt es. In einem kommen auch soziologisch, psychologisch und philosophisch ausgerichtete Anthropologien überein. Kurz und knapp: Dem nachdenklichen modernen Menschen selbst erscheint, – im Besonderen und im Allgemeinen, – sein wirkliches Dasein zumindest ‚theoretisch‘ zutiefst ‚fragwürdig‘. Das ist seine Erfahrung, die ihm unterschiedlich ‚gespiegelt‘ wird. Denken wir beispielsweise und nicht zuletzt an die Kunst im Allgemeinen, die Lyrik im Besonderen. Das drängt sich also auf schon vor aller systematisch gestalteten philosophischen Reflexion. Das Philosophieren allerdings verschärft diese Frage. Verdichtet in dem bekannten und viel bemühten Satz: ‚Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts‘?4 Selbst wenn es dafür eine uns noch überzeugende allgemeine (wissenschaftliche, metaphysische) Antwort geben sollte, – ist ‚meine‘ Stelle hier und jetzt, ‚mein‘ wesentlicher Stellenwert, ‚mein persönlicher‘ letzter Sinn noch lange nicht bestimmt und gesichert. Dieses ungeklärte, ungesicherte der je eigenen Existenz drängt sich dem Menschen auf, möglicherweise als Ahnung, Gefühl, Stimmung. Peter Wust entfaltet es als ‚Ungewissheit und Wagnis‘. Zunächst gilt das unabhängig davon, was der Mensch sonst noch denkt, glaubt und zu erkennen vermeint. 3

Dazu Paul Ricœur (1974). „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Das ist die Frage. Vermutlich ist dies keine beliebige Frage. ‚Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?‘ – das ist offensichtlich die erste aller Frage.“ Martin Heidegger (1953), S. 1. 4

I. Das Fragwürdige der philosophischen Frage-Stellung

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Die Philosophie, die Theologie, die Kunst im Allgemeinen und die Literatur der Moderne im Besonderen haben dazu die Begriffe und die Bilder entworfen. Wobei sie eben nicht nur ‚nachzeichnen‘, ‚illustrieren‘, sondern selbst gestalten und entwerfen. Nehmen wir als besonders eindrückliches Beispiel den Existentialismus. Die Literaten, die sich dieser ‚Richtung‘ (der Existentialismus ist keine philosophische Schule) verpflichtet wissen, haben diese wirklich ‚erfahrene metaphysische Bodenlosigkeit‘, in ihrer – wie sie vermeinen – unfassbaren Absurdität, für ihre Daseins-Analysen genommen. Vorgestellt als Beschreibungen, Analysen, Konstruktionen, die Ausgangs- und Ziellinie in einem sind. Unabhängig nun davon wieweit diese ‚dunkle‘ Perspektive des Existentialismus dem Einzelnen ‚praktisch stimmig‘ erscheint, eines scheint wohl zunächst unbestreitbar. Keine moderne ‚institutionell angebotene Sicherung‘, keine Psychotherapie, keine tradierte Konfession befreit theoretisch überzeugend und restlos von dieser eigenartigen Welt- und SelbstErfahrung. Diese Erfahrung – und dass es eine ‚wirkliche Erfahrung‘ ist, daran kann es keinen Zweifel geben – ist die wirkliche Bedingung der Möglichkeit der Moderne, des so gestimmten Bewusstseins der Moderne. Die Moderne ist damit also wortwörtlich ein ‚gründlich existentieller Auftritt‘. Eine leibhafte Gestaltung, die sich nicht mehr durch eine selbstgenügsame, absolut behauptete Vernunft ‚begreifen‘, begrenzen und zur Ordnung rufen lässt. Die Moderne ist nicht mehr eine Maß-nahme der Neuzeit. Phänomenologisch ist sie aus sich selbst heraus geordnet. Eine ‚todernste Komik‘, verkörpert z. B. ‚in‘ – nicht nur ‚durch‘ – Karl Valentin, oder ‚in‘ DADA, bestimmt eindrücklich die im Alltag und in der Theologie oft verdrängte Grund-Wahrnehmung der Moderne. Tod-Ernst und komisch, – das ist im Übrigen philosophisch kein Widerspruch. Genauso wenig wie: ‚wahnsinnige Reflexion‘ und ‚reflektierter Wahnsinn‘. (Das alles sind keine Fragen wissenschaftlicher Festlegung, von Definitionen, sondern von ‚schauender Reflexion‘).5 Diese schon auf der ‚alltäglichen Oberfläche‘ existentiell ‚zutiefst‘ fragwürdige, zugleich lebensweltlich unfasslich absurde ‚Fassung‘ des modernen Daseins wird nun nicht nur zu einer Herausforderung der Reflexion der Philosophie. Sondern sie erkennt sich nun gerade in dieser Form als ‚abendländische Erfüllung‘. Wie eigenartig! Im Sinne einer philosophischen Reflexion des Daseins der Moderne, die sich zugleich in eine theoretisch unüberbietbare und praktisch nicht zu erfüllende Form letztmöglicher Hinterdenklichkeit ‚treibt‘. So gestaltet diese reflexive Reflexion die phänomenologische Arbeit wesentlich ‚absolut‘. – Genauso aber auch, und nicht weniger ‚existentiell und konkret‘. 5

Dazu Viktor von Weizsäcker, Pathosophie, Göttingen 19672, S. 23 ff.

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F. Die phänomenologische Lebensphilosophie

Das benennt nun die entscheidende Herausforderung jedes Philosophierens; gleich ob es sich phänomenologisch denkt oder nicht. Ob ‚Natur‘, ‚Geschichte‘ oder ‚Wissenschaft‘, diese Methoden oder jene, Erkenntnistheorie oder Ontologie, – aufdringlich unaufdringlich drängt sich die Wirklichkeit des Menschen selbst nach vorne. Das Philosophieren hat den ‚Ort des Mensch-Sein‘ und seine ‚historische Ortschaft‘ selbst systematisch zu reflektieren. Ausschließlich, ‚ich selbst, ich, hier und jetzt‘, ‚mein Sein und Werden‘; – niemand sonst, keine Institution, keine Denk-Schule kann diese Reflexion letztendlich ‚für mich‘ leisten, kann (es) für mich ‚wirklich wahrnehmen‘. So wird jetzt die Reflexion zur ‚wirklichen, zur wahrhaftigen Reflexion‘. Zu einer Reflexion, die sich ausdrücklich als ‚meine‘ Reflexion reflektiert, und so als existentiell bedeutsam, ja, tragisch erfährt. Wahrhaftig! Eine Reflexion ‚der‘ und ‚meiner‘, als endliche Existenz (in) der Moderne entworfenen Existenz. Für diese ‚reflektierte Reflexion der Existenz‘ gibt es phänomenologisch keine Stellvertretung. Weder die Geschichte, das ‚Schicksal‘ noch die Religion darf mich (und für mich) letztendlich entscheiden. Es bleibt ganz und gar ‚je meine‘ Aufgabe, in meiner Verantwortung. Und zwar als eine phänomenologische Daseins-Analyse in der Form der Reflexion existentieller Reflexion. Unterschiedliche Fehldeutungen und Einwände lassen sich vorstellen. Mit sehr unterschiedlichen Intentionen. Beispielsweise aus wissenschaftstheoretischer, existenzphilosophischer, geltungstheoretischer, auch aus einer theologischen Sicht. Selbst sogar noch aus einer phänomenologisch transzendentalen Perspektive. Ohne diese oft sehr bedenkenswerten Einwände an dieser Stelle im Einzelnen zu referieren, nur ein Hinweis auf etwas für uns unbedingt Bedeutsames. Diese radikale existentielle Reflexion der Reflexion darf nicht als eine vage intuitiv sich vollziehende Introspektion, als eine Form ‚unwissenschaftlicher Psychologie‘ des Lebens, der Seele, des Bewusstseins gedeutet werden. Nicht als eine spekulative Einsicht, als ein ‚weisheitliches Trauerspiel‘, als Aufruf zu einem ‚heroischen Nihilismus‘. Transzendentales Philosophieren (und die existentielle Phänomenologie denkt sich transzendental) entwirft sich selbstverständlich auch hier als eine ‚strenge Form‘ radikaler phänomenologischer Reflexion. Die phänomenologischen Methoden sind und bleiben grundsätzlich vorausgesetzt. Dieser philosophische Aufbruch Husserls darf, ja, kann nicht mehr zurückgenommen werden. Er zeichnet die wirkliche transzendentale Voraussetzung der Neuzeit und der Verendung des Abendlandes als Moderne. Das umreißt die Bedingungen der Möglichkeit von Philosophie als selbst-verständlich existentielle Fassung der wahren Wirklichkeit hier und jetzt. Kurz und knapp: Transzendentales phänomenologisches Philosophieren ist auch für uns die ‚Wissenschaft‘ der Geltung als Reflexion der noetischen und noematischen Reflexion.

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Das bestimmt nun auch die ‚existentielle Grund(ver)Fassung‘ der Moderne, die zugleich die abschließende Fassung der abendländischen Existenz vorstellt. Die phänomenologische Reflexion ‚erfährt‘ die Wirklichkeit. Und dieses ‚wirkliche Erfahren‘ ist zugleich eine Konstitution. Ist systematisch eine wesentlich existentielle Selbst-Vergewisserung des Bewusstseins der (und von der) Moderne. Verbunden damit ist die ‚spannende Einrichtung‘ der Phänomenologie des Erkennens und der Praxis des endlich Philosophieren-müssenden-Menschen. Hier und nur hier liegt der ‚endlich wirkliche, der endgültige Anfang‘ der Philosophie der Moderne. Der Kreis schließt sich. Diese Fragen nach ‚dem‘, vielleicht auch nach ‚einem‘ (?) Anfang sind wahrlich die Leit-Fragen der Philosophie. Eine – wie es scheint – bleibende Herausforderung. Und das auch noch ‚verdeckt‘ oder ‚verzerrt‘. Die Geschichte der Philosophie insgesamt kann als Beleg genommen werden. Die Philosophie (zutreffender wäre es von ‚den Philosophen‘ zu sprechen) arbeitet sich nämlich im wahrsten Wortsinne an bestimmten, immer wieder kehrenden Grund-Fragen ab. Erfolglos! Und das eben von Anfang an. Das gilt grundsätzlich und ist historisch und systematisch aufdringlich und unabweisbar. Ob also überhaupt ein ‚Anfang‘ (der Welt, des Menschen, der Götter, der Wahrheit, . . .) sei; und was sich von einem solchen Anfang ausmachen ließe, diese und ähnliche Fragen bewegen aber nicht nur das Philosophieren. Auch der Mythos und die Theologie geben Antworten auf diese Fragen. Da ist allerdings ein sehr wesentlicher Unterschied. Die Philosophie nämlich bringt diese Fragen und damit sich selbst in die ausweglose Form der Reflexion der Reflexion. Dieser ‚Anfang‘ ist nicht ein ‚philosophischer Objektbereich‘ neben anderen. Zu Recht werden diese Fragen daher ‚Anfangs-Fragen der Philosophie‘ genannt. Vor allem ist es das bewusst ausgetragene und ausgehaltene, damit verflochtene ‚Selbst-Referentielle‘, das historisch und systematisch zunehmend die Radikalität des Philosophierens, ihre Reflexion und Verzweiflung bestimmt. Es ist nun letztendlich erschöpfend sogar so: Die Möglichkeit der Philosophie, die Erfüllung des philosophischen Selbstanspruchs, wird philosophisch an diese ‚anfängliche Frage‘ selbst gebunden. Das Philosophieren, der Philosophierende weicht endlich vor sich selbst nicht mehr aus. Sehen wir es zusammenfassend so. Seit etwa dem 17. Jahrhundert bewegen diese Anfangs-Fragen erneut. Und nun ausdrücklich und mit einer unerhörten Schärfe. Zunächst den ‚neuzeitlichen philosophisch, theologisch Gebildeten‘. Zunehmend nicht mehr nur erkenntnis-theoretisch, verstiegen abstrakt. Sondern, nach und nach vordringlich praktisch und existentiell. Es ist der Ausdruck einer untergründig sehr grundsätzliche Veränderung der ‚metaphysischen Gestimmtheit‘. In eins damit der gesamten Lebensverfas-

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sung. Die umstürzenden subjektiven und gesellschaftlich-sozialen Auswirkungen zeigen sich aber erst für uns ‚Moderne‘ wirklich ganz.6 Diese Fragen nach einem (nach ‚dem‘) Anfang sind also wahrhaftig von Anfang an auch existentielle Grund-Fragen. Eingewoben daher nicht nur in die gesamte neuzeitlich ‚transzendentale Geistesgeschichte‘. Allerdings, das transzendentale Denken gibt diesen Fragen eine umfassende, absolute Ausrichtung. Diese Fragen nach Anfang, Grund und Sinn, – direkt oder verdeckt, verstimmt oder hoffnungsfroh vorgebracht, – bestimmen jetzt den philosophischen Diskurs (der Philosophie, der Literatur, der Wissenschaften). Mal ausdrücklich klar, mal wie ein ‚metaphysisches Hintergrundrauschen‘. Aber diese Fragen, diese Fragehaltung, Frageintention, schreiben sich darüber hinaus ein in die Praxis der neuzeitlichen Lebenswelt. Die Theologie hatte, aus unterschiedlichen historischen und systematischen Gründen, ihr ‚selbstsicheres Sinnstiftungs-Potential‘ endgültig verbraucht. Sie gibt diesen Fragen nun ernsthaft und nicht nur rhetorisch Raum. Heute sind im Übrigen auch die Tiefenpsychologie7 und vor allem die Literatur (hier besonders die Lyrik) in diese Fragen immer noch geradezu hoffnungslos, verzweifelt verstrickt. „Gibt es also überhaupt noch eine allgemein gültige Sinn-Fassung der ‚Welt‘, an der der endliche Mensch irgendwie Anteil nehmen kann“? „Lässt sich überhaupt und grundsätzlich ein unbedingter Anfang, damit auch ein gründlicher Grund vernünftig annehmen“? „Kann noch wirklich ein unbezweifelbares Prinzip gedacht werden“, – „einschließlich einer klaren, einsehbaren, verstehbaren, kommunizierbaren Aus-Richtung“, usw. usf. Das sind nicht nur Fragen für ein Philosophieren, Anzeigen der Kunst, ästhetische Ornamentik. Diese Fragen beschweren uns Moderne existentiell. Wir, die wir uns auf die Reflexion der Reflexion eingelassen haben. Für uns, die wir uns aus allen tradierten Sinnbeständen entlassenen einsehen. Radikal und eigenartig hinterdenklich Reflexion und Verzweiflung ‚leben‘! Das inszeniert einen eigenartigen Wirbel. Auch diese Fragen selbst werden fraglich. Mitsamt den Institutionen, die sich dafür einsetzen, einschließlich der Fragesteller. Können die verwirrend vielfältig erscheinenden, im weitesten Sinne historisch-relativen ‚kulturellen Gestaltungen‘, (also der Philosophie, der Theologie, der Kunst, um von allen anderen ganz zu schweigen) grundsätzlich, in allem Ernst, noch sicheren, glaubwürdigen Lebens-Sinn fragend fassen; – also, einen Anfang überhaupt denken, der unbedingt 6

Welche Rolle hier die Reformation gespielt hat (als Gestalterin der Selbstverantwortung und des Bewusstseins des Selbstbewusstseins) – als Eröffnung oder Verzögerung der Neuzeit wäre ein eigenes (nicht nur historisches) umfangreiches Thema. 7 Der Hinweis auf Viktor Frankl (auf die von ihm begründete ‚Logotherapie‘) mag an dieser Stelle genügen.

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trägt? Eng damit verbunden, verflochten ist immer auch eine weitere sehr grundsätzliche Frage. Eine Frage, die sich jetzt wuchtiger nach vorne drängt. Und zwar nach den ‚historischen Grenzen und einer vernünftigen Aus-Sicht für uns Abendländer; auf unsere mögliche oder unmögliche Zukunft. Ob wir uns mit all diesen Fragen noch im Raum der (‚akademischen‘) Philosophie bewegen oder nicht, interessiert den Menschen kaum. Ihn erschreckt diese bedrängende, zwingende Aussicht: ein grundsätzliches Gelingen oder Scheitern der Menschheit; – tertium non datur. Damit eröffnet sich für uns Abendländer ein Blick auf eine alles entscheidende Linie. Diese Frage denkt die fernere ‚philosophische Aussicht der Moderne‘. Wenn man es so sagen möchte, ein Blick auf die ‚Topographie der Moderne‘. Wieweit kann sich der, so verzweifelt abmühende abendländische Mensch, im Aufbruch der (‚seiner‘) nun aufgeklärten Aufklärung existierend, überhaupt noch einen philosophischen, also nicht bloß historischen, sondern ‚logischen‘ Ort zuweisen?8 Das ist das spannende. Der sich so ordnende Mensch weiß sich hier und jetzt existentiell praktisch herausgefordert. Herausgefordert, obwohl er doch zugleich theoretisch grundsätzlich daran zweifelt, ob es überhaupt vernünftigerweise Sinn gibt, ‚über‘ die Fragen und Antworten der Wissenschaften, des vorgestellten wissenschaftlichen Diskurs hinaus denken zu wollen. Überlegen wir vor diesem Hintergrund phänomenologisch wiederum ganz ‚einfach‘. Das Philosophieren ist die Grund-Form, die Gestaltung der äußersten Radikalität des abendländischen Selbstverständnisses. Dass diese Fragen, schon als Fragen das Philosophieren selbst unmittelbar ‚angehen‘, kann nicht ernsthaft geleugnet werden. Sind diese Fragen doch die wesentlichen Vor-Stellungen, die Gestaltung einer radikalen, existentiellen SelbstInszenierung des Philosophierenden. Vielleicht sogar die entscheidende Herausforderung der Reflexion mit dem ‚die Philosophie‘ (als die tragende abendländische Kulturform) schließlich zu Ende geht. Wenn das Philosophieren, durch diese ihre Fragen, durch Form, Absicht und Radikalität, nicht nur ‚irgendwie thematisch beunruhigt‘ (perturbiert), sondern selbst erst ‚in Wahrheit‘ endgültig konstituiert wird; wenn es also diese aufdringlichen Grund- und Sinnfragen wirklich reflektiert, weil das Philosophieren durch sich selbst bedrängt, nicht anders kann, – dann gerät zugleich auch der eigene existentielle Grund, oder die eigene Bodenlosigkeit des Philosophierenden in den Blick. Fassen wir es ganz schlicht und verdichten es so. Gibt denn das Philosophieren hier und jetzt, das der eigenen Radikalität einer ‚endgültigen Antwortlosigkeit‘ ausgeliefert ist, überhaupt noch Sinn? 8 Husserl fasst das in seinen Krisis-Abhandlungen ‚dogmatisch‘ so: „Philosophie, Wissenschaft wäre demnach die historische Bewegung der Offenbarung der universalen, dem Menschentum als solchen ‚eingeborenen Vernunft‘.“ Krisis/§ 6.

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F. Die phänomenologische Lebensphilosophie

Ein Philosophieren, das sich als eingestellt wahrnimmt in den Horizont ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Ist der Traum der Philosophie, ‚einen Weg aus der Höhle‘, aus dem ‚Fliegenglas‘ zeigen zu können, wirklich, endgültig ausgeträumt? Scheitert die Philosophie durch das Philosophieren? Welch eine Ironie!

II. Die Reflexion der Frage-Stellungen ,Tatsächlich‘, – eine Reihe ‚schlichter‘ Fragen! Verdichtet in der wohl ‚einfachen philosophischen Frage‘ nach dem ‚Sinn der Sinnfrage‘. Lassen wir uns darauf wirklich und das heißt für uns jetzt vor allem eben auch existentiell ein, dann zeigt sich: diese so eigenartig ‚schlichte Frage‘ ist alles andere als ‚einfach‘ und ‚eindeutig‘ zu beantworten; und vor allem ist sie philosophisch alles andere als harmlos. Sie ist sehr grundsätzlich verflochten mit der existentiell bewegenden Frage nach meinen, unseren Anfang und Grund. Letztlich nach dem Sinn des (meines, unseren) Philosophierens, – dieser nun verzweifelten, existentiellen Suchbewegung. Wir als so Philosophierende sind nicht Nach-Denkende, wissenschaftliche Problemlöser. Schon der Denkhorizont in dem wir Philosophierende uns bewegen, uns vorfinden, wird (im ausdrücklichen Wortsinne) ‚vieldeutig‘, ‚brüchig‘, ‚untergründig‘, – gerade in der erfahrenen Eigenart einer betonten ‚Oberflächlichkeit‘. Das Philosophieren der Moderne ist wirklich und wahrhaftig ein ‚existentielles Abenteuer‘. (Sie zeigt damit das Wesen der Philosophie). Und das eben immer wieder von Anfang an. Eine Zuschreibung, ohne jedes übertriebene Pathos! Diese so bedrängenden Anfangs-Fragen sind die unbeantwortbaren LeitFragen, die existentielle Zumutung des Philosophierens. Sie öffnen die Krisis. Offensichtlich gilt auch, dass diese Fragen nach einem Anfang, nach Sinn und Grund überhaupt nicht ausdrücklich philosophisch formuliert werden müssen. Sie können literarisch gestaltet oder bebildert als Kunstwerk vorgestellt sein. Oder sich als Gestaltungen, als Weisen des Existierens in der Lebenswelt zeigen. Das Philosophieren als existentielle Reflexion der Reflexion allerdings expliziert diese so oder so ausgestellten, vorgestellten Fragen nicht nur, sondern (das ist die Eigenart des Philosophierens) stellt diese Reflexion und damit sich selbst mit in den Horizont der Krisis. Eine wirkliche Konkretisierung und entscheidende Radikalisierung! Durch das Philosophieren in Form der existentiellen Reflexion gefährdet der Philosophierende sich selbst. Das Philosophieren ist aber nicht nur die Entdeckung meiner je eigene Krisis. Das Philosophieren als die wirkliche Möglichkeit ist das entscheidende Selbstgespräch des Abendlandes. Die Selbstgefährdung des Philosophierens, des Philosophierenden, ist damit nichts weniger als die Gefährdung des Abendlandes. Die Gefährdung einer kultürlichen

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Möglichkeit Mensch-zu-sein. Wahrlich, die Philosophie ist eine „traurige Wissenschaft“.9 Das Philosophieren ist also die Gestaltung, ist der Ausdruck abendländischer Reflexion. Und das mit allen Konsequenzen. Wahr ist allerdings auch (und daran halte ich fest), dass sich dieser ‚Horizont der Krisis‘, diese Ortschaft, in der sich die Anfangsfragen aufdrängen, einrichten und vorstellen, schärfer, eindringlicher durch die Kunst (vor allem durch die Lyrik) ‚reflektiert‘, als in der jetzt so nach-metaphysisch eingestellten Philosophie der Gegenwart.10 Scheinbar bewegt die (sogenannte) akademische Philosophie heute praktisch anderes. Schon die neuzeitlichen transzendentalen Fragen (nach) der ‚reinen Vernunft‘ bleiben historisch, bleiben bloße Fachfragen für Philosophiehistoriker. Hier gilt es nun philosophisch noch genauer hinzusehen, noch ‚angestrengter‘ hinzuhören! Vor allem auch, hinsehen auf das eigene Hinsehen; hören auf das eigene Hinhören. Vielleicht ist es jetzt überhaupt an der Zeit ‚wirklicher‘ und ‚abgründiger‘ zu gleich zu denken. Das heißt, das Transzendentale und das Existentielle als wesentlich wirklich für die Moderne, für das Bewusstsein der Moderne einzuführen. Das Existentielle als das Transzendentale. Eben das ist der Anspruch der existentiellen Phänomenologie. Wenn man so will, eine Inszenierung eines philosophisch-existentiellen Diskurses im ‚Rücken‘ dieser fraglos sich hinnehmenden, wissenschaftlichen, lebensweltlichen und ‚philosophischen‘ Modernität; mit ihrer selbstgefälligen Fortschrittlichkeit, ihrer untergründigen Verstimmungen. Also und wortwörtlich, ein ‚phänomenologisches Grundgespräch‘. Ein Gespräch, das die moderne, tatsächlich wesentliche ‚Oberfläche‘, einschließlich der ‚phänomenologischen Oberflächenarbeit‘ selbst, als eine wirkliche, bedeutsame Figur, ja, als ‚Endgestalt‘, als ‚philosophisches Endspiel‘ des abendländischen Denkens ‚zeigt‘. Das ist das Nach-Denken des Gedankens, der die Möglichkeiten aller Vorstellungen des Abendlandes, also die Wissenschaften, die Geschichte, die Kunst, das Christentum, den Mythos endgültig ordnet. Und zwar als Gestalten, als Gestaltungen, der Reflexion und Verzweiflung. Das braucht einen klaren Blick. Die klassische ‚idealistische‘ Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit, (der Möglichkeit der Geltung, die Gestaltung, Setzung, Annahme ‚eines Absoluten‘, des transzendentalen Subjekts selbst, seine Wahrheit, seine ‚unbedingte‘ Identität u. ä.), bestimmt zwar nicht mehr vordringlich und nicht mehr vordergründig den systematischen Diskurs der Moderne. Das ist wohl wahr! Und trotzdem, so9 10

Odo Marquard (1982), S. 110. Dazu Walter Schulz (1992).

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gar, gerade deswegen gilt, die Anfangs-Fragen bewegen jetzt ‚untergründig‘, existentiell ‚subversiv‘ mehr denn je. – Gerade weil die metaphysisch ‚großen Fragen‘ nicht mehr selbstverständlich, weil sie als ‚altmodisch‘ gelten und nicht mehr an der Zeit zu sein scheinen.11 Denken wir dem noch ein Stück weiter phänomenologisch nach. Auffällig auch hier, ein ‚unmittelbarer Zugriff‘ ist eigenartig verstellt. Es sind eben von Anfang an und immer wieder transzendentale Zumutungen. Beispielsweise. Eine wesentliche Beschreibung, eine phänomenologische Fassung außerhalb der Wahrnehmung ‚der Krisis der Moderne, des Abendlandes‘ ist nicht möglich. Genauso wenig eine Beschreibung der Phänomene losgelöst von einem wirklichen existierenden Beschreiber. Ich selbst bin wirklich, theoretisch und praktisch, selbst gefordert. Schon diese Frage, – als Frage-Stellung, als Form, als historische Nach-Frage und systematische Anfrage, als existentielle Haltung (usw.) – ist mitten in der philosophischen Vorstellung und damit der abendländischen Problemlage. Das Philosophieren, das Abendland und das konkrete Menschsein hier und jetzt sind wirklich ineinander verflochten, reflektieren sich und klären sich historisch und systematisch. Diese Frage selbst konstituiert hintergründig als Frage-Stellung, als Fragen-nach, als Anfrage-hinzu, die, so scheint es ‚problematische‘ Identität der Moderne. In der Form der radikalen Frage nach der repulsiven Anfangs-Frage, den Anfangs-Fragen der Philosophie zeigt sich zugleich auch ein so oder so vorgestellter ‚Lebens-Sinn‘. Er zeigt sich gerade als wirkliche, existentielle problematisch An-Frage. Als etwas jetzt wirklich radikal Fragliches; als etwas, das mich selbst (den Philosophierenden) mit in die Grundfrage reißt. Diese Frage der Frage entdeckt eine wesentliche Spannung zwischen der historischen Lage der Moderne. Und zwar, der konkreten, faktischen, selbstbewussten Existenz im Hier und Jetzt und der Ausrichtung, auf eine christlich abendländisch allgemein gültige, wesentliche Sinnfassung (ein Sinnversprechen) des Daseins. Diese fragliche Spannung, die ausdrücklich eine ‚wirklich‘ offene, unentschiedene, ungeklärte ist, ist die unabweisbare, vordringliche philosophische Selbst-Herausforderung. Zugleich wird sie der Zugang zu einer transzendental-phänomenologischen Reflexion der Existenz (in) der Moderne.12 In einem genauen Wortverständnis also, eine ‚wirkliche anfängliche Erkenntnistheorie‘. Dabei geht es nicht mehr um die ‚klassischen‘ Fragen, „ob eine Wirklichkeit unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert“, „nach der Anzahl, der Ableitung der Erkenntniskategorien“, „nach den Formen der 11

Walter Schulz (1992), S. 15. Es ist hier zunächst ‚die Form‘ (oder, der reflexive Blick des Fragen), die – im Rückgriff auf die vertraute Kant’sche Terminologie – diese Untersuchung als ‚transzendental‘ vorstellen lässt. 12

II. Die Reflexion der Frage-Stellungen

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Anschauung“ u. ä. Zuerst, (sogar vor allem) geht es phänomenologisch um die Möglichkeit ‚wesentlicher, existentieller Wahrhaftigkeit‘. Diese (‚meine‘) Wahrhaftigkeit weicht selbst der eigenen wesentlichen Unwesentlichkeit nicht aus, – und bestätigt sich so in dieser radikalen Form als ‚wirklich Endgültig‘. Diese ‚Logik der Existenz‘ überlegt sich selbst als ‚wirklich nachträglich‘. Das ist kein leeres Spiel. Diese wirkliche, existentielle Wahrhaftigkeit gestaltet den Horizont innerhalb dem dasjenige endlich spielt, das – in den Wissenschaften, der Kunst, der Religion – so ‚dogmatisch‘, vordergründig als ‚modern‘, als das Moderne, die Modernität, das Bewusstsein ‚von‘ Moderne vorgestellt wird. Das sind in Form und Inhalt die ‚Zumutungen‘, die dem philosophischen Fragen zugrunde liegen. Zumutungen, die das Philosophieren ‚treiben‘, fördern und unentwegt, – aber letztendlich ‚metaphysisch‘ ausweglos, – fordern und es letztendlich existentiell radikalisieren. Es sind nun wirklich, wirklich ‚offene Fragen‘. Die Abgründigkeit des philosophischen Fragens, des Philosophierens gestaltet sich als Wendung gegen sich selbst. Letztendlich, wie eine ‚tragische, existentielle Aufklärung der Aufklärung der Vernunft‘. Es ist die Bereitschaft, dem existentiellen Selbst-Verständnis zu folgen und sich nicht mehr an vereinbarte Grenzen, an Normen einer ‚vorgestellten Vernünftigkeit‘, einer ‚unaufhaltsamen, wissenschaftlichen, philosophischen Fortschrittlichkeit‘ zu halten. Lassen wir uns darauf wirklich existentiell ein. Phänomenologisch selbst-schauend! So erfahren wir diesen eigenartigen Rhythmus (das Endogene) der abendländischen Kulturgeschichte. Er zeigt die Richtung abendländischer Suchbewegungen. Kunst, Wissenschaften, Theologie, Philosophie des Abendlandes als ‚Endlosschleife einer objektiv nie zu Ruhe kommenden Potenz‘: Reflexion und Verzweiflung. Diese unterschiedlichen und doch auch gleichgerichteten abendländischen Suchbewegungen werden erst im Horizont des ‚transzendentalen, existentiellen Philosophierens‘ als jetzt endgültig reflektiert. Diese ‚Mit-Bewegung der Reflexion der Reflexion‘ konstituiert umgekehrt diesen Horizont abendländischer Geistigkeit (Kultur, Theologie und Wissenschaft) als endgültig. Das Philosophieren bewegt sich selbstverständlich und ausdrücklich selbstbewusst in einander verschlungene Gestalten: Wo-hin? Worauf-zu? Wo-her? Wo-jetzt? Diese – nennen wir sie ganz traditionell – ‚metaphysischen Sinnfragen‘ gehören ‚systemische‘ zusammen. Sie verknüpfen, lösen und bewegen das konkrete, wirkliche Dasein direkt und indirekt immer wieder. Also, von Anfang an und von Grunde auf eine bewusste endliche, endgültige existentielle Historizität.13 Und hier, und so entfaltet sich der Horizont der 13 Husserl notiert sich „Der wirkliche Anfang ist die Tat selbst. (. . .). Der eigentliche Anfang ist also die Tat, das Vorgehen selbst, als Anfang der Philosophie

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Moderne. Genauer, er bricht herein, er bricht auf. Gerade die Nötigung zu dieser ‚ausschweifenden‘, umständlichen transzendentalen Reflexion der Vernunft ‚zeigt und gestaltet‘ nämlich die damit verbundene ‚Krisis der Existenz‘. Das ist eine Krisis, die sich im Horizont dieser ‚Endlosschleife der Vernunft‘ begreift. Um, so begriffen, sich jetzt auf das wirkliche Ende der Philosophie als der bestimmenden abendländischen Denkform konkret einzulassen. Das also benennt und deutet die Metapher ‚Abend-Landschaft des abendländischen Denkens und Handelns‘,14 – reflektiert als philosophische Moderne. Das Philosophieren der Moderne gestaltet sich jetzt in der ‚logisch‘ endgültigen, erschöpfenden Form der Reflexion der Reflexion. Auf eines möchte ich auch in diesem Zusammenhang wieder aufmerksam machen. Das alles sind keine erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen Fragen; was im Übrigen unbestritten schon allein bedeutend genug wäre. Diese reflexive Reflexion konstituiert die praktischen und existentialen Wirklichkeiten. Das meint Formen, die es dem ‚konkreten‘ Menschen ermöglichen (wie es Helmuth Plessner nennt) wirklich ‚exzentrisch‘ zu sein, – die exzentrische Positionalität des (seines je eigenen) Mensch-seins endgültig zu begreifen.15 Damit ist die ‚reflexive Reflexion‘, – was immer sie auch sonst noch bedeuten mag –, die äußerste Grenze für den phänomenologischen Blick. Im Übrigen, ist sie auch als radikaler Entwurf eine ‚wirkliche Grenze‘. (Jeden Idealismus halten wir uns ‚vom Leib‘). So ist die reflexive Reflexion auch die wahre Grundlage und die unbedingte Voraussetzung jeder ‚phänomenologischen Reduktion‘. Das ist eben nicht mehr ein bloßes philosophisches spekulatives Verfahren. Nach wie vor ein weit verbreitetes Missverständnis. Die phänomenologische Reduktion bleibt Inhalt und Methode jedes phänomenologischen Philosophierens. Und das ganz Unabhängig davon ob die Phänomenologie eher ‚realistisch‘ (Münchner Phänomenologenkreis) oder ‚idealistisch‘ (Die Phänomenologie Husserls seit den ‚Ideen‘) gedeutet wird. Wirklich unüberbietbar radikal ist die phänomenologische Reflexion in ihrer ‚existentiellen Transzendentalität‘. Das markiert auch eine einzigartige ‚ontologisch‘ ungeheure, ja, ‚ungeheuerliche Entfremdung‘. Geradezu eine existentielle Dissoziation gegenüber dem ‚naiven‘ wissenschaftlichen, lebensweltlichen Weltdenken. Vor allem auch gegenüber der zuerst und zumeist eingeführten und gelebten Fassung der je eigenen Existenz.16 Das ist selbst.“ (Ms. KIII/29/41a). Vgl. Ideen I. Karl Schuhmann. Einleitung des Herausgebers, LVII. 14 Dazu: Walter Falk (1961), S. 201 ff. 15 Vgl. z. B. GS. IV. 16 Dieses Erleben radikaler Entfremdung ist auch im Blick therapeutischer Ansätze. Z. B. (nur um eine Richtung zu nennen): das Psychodrama. „In dieser doppel-

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eine Entfremdung, die, einmal wahrgenommen, nicht mehr zurückgenommen werden kann. Sie geht gleichermaßen über die ‚erkenntnistheoretischen‘ Perspektiven, als auch über die ontologischen, metaphysischen, idealistischen, realistischen Positionen möglicher Phänomenologien hinaus.17 Das ist nun die Einsicht. Jede neuzeitliche Selbstverständlichkeit der Vernünftigkeit gerät in den Sog der sich vollbringenden radikalen Reflexion. Einer Reflexion, die sich im letzten endlich existentiell, leibhaft positioniert und konkret fundiert. Zunächst allerdings ist auch sie noch sehr abstrakt. Gegenstände, Sachlagen (selbst ‚Gott‘ nicht ausgenommen) werden phänomenologisch ganz traditionell, ausnahmslos als intentionale Gestaltungen, Korrelate, Teil meiner je eigenen existentiellen Fragwürdigkeit. Jedem erkenntnistheoretischem, ontologischem oder metaphysischem Diskurs ist nun eine Reflexion der transzendentalen Abgründigkeit der Reflexion selbst vorgelagert. Das benennt den einzig möglichen, wirklichen Anfang, den existentiellen Auftrag für das Philosophieren. Dieses Philosophieren der Moderne zwingt uns Philosophierende zu einer wahrhaftigen ‚phänomenologischen Grundlagenforschung‘.18 Eine wirkliche Grundlagenforschung, die auch ‚das Grundlose‘, das aufscheinende Abgründige, das Irrationale (in) meiner Erfahrung ‚existentiell‘ gelten lässt. Das scheint der einzig mögliche gestaltbare Grund zu sein. Eine Reflexion der existentiellen Reflexion der Reflexion. Diese zumindest wahrhaftige Reflexion konstituiert die erfahrbare Wirklichkeit des Menschen als ganz und gar ‚wirklich-leibhaftige und ‚transzendentale Form. Nichts ist für ein traditionelles Philosophieren der Vernunft befremdender als diese radikal-endliche Selbst-Ordnung. Das ist ten Entfremdung des Menschen, sowohl von seinem kosmischen Seinsgrund als auch von seinen Mitmenschen, erblickt Moreno seit mehr als einem halben Jahrhundert die größte Bedrohung des Fortbestehens der Menschheit und die eigentliche Aufgabe einer weltweiten Therapie.“ Grete-Anna Leutz, Psychodrama. Theorie und Praxis, Bd. 1, Das klassische Psychodrama nach J. L. Moreno, Berlin 1974, S. 72. 17 Vgl. Wilhelm Szilasi: „Mit der Reflexion der Reflexion, nach Vollzug der Epoché von allen mundanen Elementen der ersten Reflexion, gewinnen wir den Umkreis der Möglichkeit des Wahrnehmens. Wir sind nicht mehr an ein wirkliches Wahrnehmen gebunden, von welchem Typus es auch sei. Wir beziehen uns auf keines seiner real-gegenständlichen Momente, zu denen a) der physische Verlauf, b) das Wahrgenommene in seiner Hier-Jetzt-Bestimmtheit gehören. Wir haben einen offenen Horizont gewonnen, den Horizont des Möglichen.“ Szilasi (1959), S. 76 ff. Dazu auch Maurice Merleau-Ponty: „Phänomenologische Reduktion ist nicht, wie man geglaubt hat, Formel eines philosophischen Idealismus, sondern die einer Existenzphilosophie: auf dem Grunde der phänomenologischen Reduktion tritt Heideggers ‚In-der-Welt-sein‘ erst in die Erscheinung“. 1966, S. 11. 18 Eine philosophische Grundlagenforschung, die phänomenologisch radikaler ist, als ich sie noch in meiner Arbeit ‚Die transzendentale Phänomenologie als philosophische Grundlagenforschung‘. Berlin 1986 vorgeschlagen habe.

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der radikale Bruch der (jeder) ontologischen, metaphysischen, erkenntnistheoretischen Selbstverständlichkeit. Der ‚unvernünftige‘ Riss im Blick auf das Selbst, die Welt, das Sein und auf Gott. Aber, gerade diese ‚radikale Entfremdung‘, eine nicht zufällige existentielle Dissoziation, wird so zur ‚transzendentalen‘ Bedingung der Möglichkeit der fragilen Sinn-Erfahrung in der Moderne. Genauer: Die Reflexion dieser existentiellen Erfahrung, ihre transzendentale Gestaltung ist der (Ab)Grund der Moderne, als der Endgestalt des reflexionslogisch erschöpften Abendlandes. Oder auch so: Die Erfüllung einer endlichen Kulturgestaltung durch eine philosophische De-Konstruktion abendländischer Vorstellungen; das ist der endgültige Gedanke über Sinn, Sein und Werden. Das Philosophieren eines konkreten Philosophierenden hält sich nun ausdrücklich selbst aus. – Und erfüllt sich so als eine äußerste Möglichkeit der Reflexion der Reflexion. Wortwörtlich, eine letztmögliche Theorie der endgültigen Praxis des Abendlandes. Die philosophische Leistung, ihre transzendentale Gestaltung nimmt also nichts von ihrer ‚existentiellen Wucht‘. Schon diese Möglichkeit einer ausdrücklichen reflexiven Selbst-Fassung, – als ontologisch und metaphysisch grund-los, – stiftet existentielle Befremdung und Verwirrung. Befremdung und Verwirrung sind durchaus gewollte ‚philosophische Zustände‘ (bekanntlich aber nicht nur) der Moderne. Wenn man es so will, sind das systematische transzendentale Erschütterungen der Existenz. Sie sind Antrieb und überlegte Form für eine nicht mehr nachlassende, verzweifelte Hinterdenklichkeit (in) der Moderne. Das ist selbstverständlich keine theoretische Erfindung. Es ist (m)eine phänomenologische, ‚existentielle Erfahrung‘. Die Reflexion der Reflexion ist ontologisch und metaphysisch wirklich und wahrhaftig grundlos. Noch eine kurze Anmerkung zu dem nicht nur philosophisch viel bemühten Begriff der Entfremdung. Die phänomenologisch erfahrene, nicht erfundene Entfremdung ist der wirkliche, zumeist verstellte Grund für die viel beachteten und beschriebenen psychologischen, soziologischen modernen Gestaltungen der Entfremdung. Wissenschaftlich entfaltet als so oder so gedeutete Wahrnehmung (Wahrnehmungsreihen) der modernen, sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen Menschen-Lagen. Phänomenologisch aber gefasst als eine systematische Folgerichtigkeit. Die abendländische Existenz treibt sich, entsprechend ihrer eigen gearteten Anlage ‚vernünftig‘, in ihr äußerste ‚transzendentale‘ Möglichkeit. In die Ausweglosigkeit der Reflexion und Verzweiflung! Das ist kein dunkles Schicksal, das eine mythologische oder theologische Hermeneutik forderte. Es ist die Konsequenz der abendländischen Geschichte, der Möglichkeiten der Reflexion. Diese philosophischen Fragen der reflexiven Reflexion sind also die in Wirklichkeit wesentlich-wirklichen Fragen der Moderne. Es sind einsichtige

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Fragen, die in einer (zumindest für die positiven Wissenschaften) merkwürdigen Form ausschließlich sich selbst genügen, – sich selbst geradezu ‚paradox absolut‘ setzen. Als ob es allein um die Anfangs-Frage selbst, um das Fragen selbst ginge. Das ‚Wesentliche‘ und das ‚wirklich Wirkliche‘ sind dabei phänomenologisch nicht voneinander zu trennen. Wenn man es so ausdrücken möchte: Die existentielle Wirklichkeit entspricht dem philosophisch Wesentlichen. Hinter (‚meta‘) der Frage, dem Fragen denkt sich der Fragende ohne Antwort. Und zwar, als einen, der der Möglichkeit der Frage nicht mehr ausweichen darf. Der Fragende reflektiert die Fraglichkeit und die Fragwürdigkeit der (seiner) Frage. Das also verweist auf die verbliebenen, letztendlich, wirklich ‚absoluten‘ Fragen hier und jetzt. Diese ‚wirklich-absoluten‘ Fragen konstituieren die Grund-Form der Moderne. Das sind Fragen (nach) der ‚transzendental-existentiellen Selbstverständlichkeit‘. Letztendlich also wirklich ein Ausgriff auf die eigene abendländische Form. Sie sind ‚gründlicher‘ und ‚wirklicher‘, wortwörtlich radikaler, als beispielsweise wissenschaftliche (soziologische, psychologische) Fragen nach der Art und Weise wie sich das moderne Leben politisch, sozial und ökonomisch organisiert und entfaltet hat. Hier geht es selbstverständlich nicht um ein sich ausschließendes ‚entweder – oder‘. Im Sinne von faktisch oder transzendental, existentiell oder notwendig. Vielmehr und geradezu im Gegenteil. Das Wesentliche ist nie anders als das Wesentliche des Wirklichen. Die Wissenschaften begreifen das Wirkliche. Ganz ‚natürlich‘ sind auch hier phänomenologisch eine Vielfalt von Formen, Formgestalten, ‚Institutionen‘, Lebenswelten des modernen Bewusstseins, des modernen Er-Lebens, der modernen Existenz, zu ‚sichten‘, zu ‚gestalten‘, ‚herauszulesen‘ und wirklich-wesentlich zu verstehen. Vor allem ‚zeigt‘ sich zusammenfassend immer wieder auch hier, psychologisch, theologisch radikal ‚geschaut‘, die Grundform der Moderne: ‚Reflexion und Krisis‘.19 Allerdings kommt in diesen wissenschaftlichen Arbeiten die transzendentale Spannung von ‚Reflexion und Krisis‘ nicht zu dem endgültigen philosophischen, geltungstheoretisch existentiellen Ziel. Das wesentliche Ziel und zugleich die wirkliche, existentielle Absicht ist erst durch die Reflexion der ‚Reflexion und Krisis‘. Erst so, in dieser endgültigen philosophischen Figur entwirft sich die wirkliche, selbstbewusste Fassung des existentiellen Bewusstseins der Moderne in der Form der endgültigen Verzweiflung. Dass dies nicht eine Art ‚tragisches Weltverständnis‘ vorstellt, darauf habe immer wieder hingewiesen. Das sei hier noch einmal unterstrichen. Denken wir es stattdessen als eine abschließende metaphysische Figur, ein 19 Ich denke dabei an Arbeiten wie: Hans Thomae, Das Individuum und seine Welt. Eine Persönlichkeitstheorie. Göttingen 1968; Albert Wellek, Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie, Bern und München 1969.

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transzendentales Endspiel abendländischer Existenz; verbunden mit einer erkenntnistheoretischen, historischen und systematisch phänomenologischen Aufforderung: Bis hier her so, – und so existentiell nicht weiter!

III. Die existentielle Anfangs-Frage der Moderne Das alles ist eigenartig, verwirrend und verstörend. Nichts Ungewöhnliches für das Philosophieren! Diese so vorgestellten Anfangs-Fragen der Philosophie werden jetzt nicht nur im Horizont der Moderne existentiell drückend; sondern, diese ‚konkret-wuchtige‘ Anfangs-Frage entwirft (konstituiert) erst diesen Horizont. Das transzendentale Denken der Neuzeit reflektiert sich jetzt wortwörtlich als ‚Lebensphilosophie‘ endgültig erschöpfend. Damit wird dieser Horizont der Moderne (ausdrücklich) endlich klar. Er entfaltet sich als diese – so und in dieser Form – existentiell reflektierte Anfangs-Frage. Die Transzendentalität dieser Fragen ist hier und jetzt nicht mehr nur eine geltungs- oder wissenschaftstheoretisches Herausforderung. Zumindest nicht vordringlich. Das ‚Ereignis der Moderne‘ als existentiell aufgeladene Anfangs-Frage der Philosophie lässt sich in keine irgendwie kausale, keine ‚transzendental-kategoriale‘ Verknüpfung zwingen. Daraus folgt etwas auch phänomenologisch Bedeutsames. Die Moderne als Endgestalt des Abendlandes ist offensichtlich keine ‚wesentliche Frage‘ der Wissenschafts-, Kunst-, Religionsgeschichte. Das verwundert nicht. Das kann nicht in ihrem Blick sein. Trotzdem bleiben die Vorlagen dieser historischen Wissenschaften, ihre Vorstellungen, Deutungen, mitsamt den implizit mitgetragenen Behauptungen phänomenologisches ‚Ausgangsmaterial‘. Dass was sich uns als ‚das‘ Moderne unwillkürlich zeigt, historisch willkürlich vorgeführt und behauptet wird, (auch) in der Kunst,20 den Wissenschaften, der Theologie u. ä., kann als ‚phänomenologischer Leitfaden‘ für eine jetzt ausdrücklich reflexive Gestaltung der Anfangs-Frage(n) genommen werden. Der phänomenologische Blick geht eben nie wirklich ins Leere. Selbst (beispielsweise) ein Mangel, eine Sehnsucht, ein aufdringlicher Fehlbestand, so oft vorgeführt vor allem in der Literatur, im Film u. ä., ‚zeigt‘ sich phänomenologisch als ‚konkret und wirklich‘ als eine Möglichkeit dieser Welt. 20 „Gewöhnlich verbindet man die Moderne in der Kunst mit dem Zusammenbruch jener traditionellen Übereinkunft in der westlichen Kultur, die bislang das Erscheinungsbild der Kunst mit dem Erscheinungsbild der natürlichen Welt verknüpft hatte.“ Charles Harrison (2001), S. 9. Dazu auch Carl Friedrich von Weizsäcker: „Der einzige von der voll entwickelten Moderne noch ernstlich zugelassene, ja hofierte Sprecher dieser Bereiche ist die Kunst; sie darf wahrnehmen, sie darf Leidenschaft und Leiden aussprechen.“ von Weizsäcker (1983), S. 402 ff.

III. Die existentielle Anfangs-Frage der Moderne

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Lassen wir es dabei. Denn wie auch immer im Einzelnen. Hier genügt nämlich der folgende allgemeine Hinweis. Diese oder andere von uns gesehenen phänomenologischen Leitfäden geben dem Denken schon ‚Halt‘ und ‚An-Halt‘. Sie sind nämlich bereits dichte Vorgestalten der Reflexion. Und das wortwörtlich. Mit diesen Leitfäden wird vermieden sich im Irrgarten einer haltlosen philosophischen Spekulation, bloßer Assoziationen, eines sich unentwegt zurückziehenden, sich verflüchtigenden Anfang(ens) zu verlieren. Allerdings sind diese Leitfäden nicht vor- und nicht zuhanden (also nicht ‚objektiv‘) wie beispielsweise Steine, Berge, wie ein Baum, ein Haus, wie dieses oder jenes Gerät oder dieses oder jenes Tier. Diese phänomenologischen Leitfäden sind selbst schon wirkliche transzendentale Vor-Stellungen. Also, ‚Korrelate‘ sehr komplexer phänomenologischer Akte; konkret, ‚meiner‘ phänomenologischen Akte. Z. B. Reflexionen meiner Vorstellungen, meiner Wahrnehmungen, meiner Ansichten, meiner Erinnerungen von diesem oder jenem. Ein Leitfaden wird phänomenologisch ‚gestellt‘, – und bewährt sich (oder auch nicht) als eine intentionale Er-Fahrung der wesentlichen Wirklichkeit. Das darf nicht aus den Augen verloren werden. Das verstärkt möglicherweise auf den ersten Blick die philosophische Verwirrung. Die Leitfäden, die dem Denken Halt geben sollen verweisen auf keine gründlich objektive, also ‚subjektiv unabhängige‘ Wirklichkeit, auf eine Wirklichkeit außerhalb meiner existentiellen Wirklichkeit. Sie werden erst durch mich wahrhaftig hergerichtet, durch mich konstituiert als meine für mich wirklichen phänomenologischen Leitfäden. Lassen wir uns nicht verwirren. Sehen wir das phänomenologische Potential! Die Leitfäden eröffnen nämlich so die Möglichkeit der Re-Flexion der Reflexion der Wirklichkeit der Existenz. Dieser willkürliche Einsatz wird phänomenologisch radikal gerade wenn er sich selbst (korrelativ) ausdrücklich als eine Fassung der Reflexion ‚reflektiert‘. Der nächste Schritt besteht dann folgerichtig in der ‚Reflexion dieser Reflexion der Leitfäden‘. In dieser phänomenologischen Form werden diese Leitfäden ‚endlich existentiell radikalisiert‘. Der wirkliche Anfang kommt jetzt auch als mein Anfangen endlich in den Blick. Auch das ist selbstverständlich nichts weniger als eine ‚transzendentale Wende‘. Der Vollständigkeit halber füge ich hinzu: nicht in einem neuzeitlichen idealistischen Verständnis. Sondern, die Leitfäden werden in dieser Form ausdrücklich ‚existentielles Reflexionsgut‘. Die ausdrückliche Aneignung meiner selbst. Sie gestalten sich ‚repulsiv‘. Sie werden eine Entdeckung der eigenen wirklichen und möglichen, sozusagen ‚leibhaften‘ Wirklichkeiten und Möglichkeiten. In dieser, – genau und wörtlich genommen. – ‚praktischen‘ Form einer radikalen Reflexion, entdeckt sich die Philosophie der Moderne als ‚logisch erschöpfte‘ Endgestalt abendländischer Lebensform. Die je eigene inter-subjektive Lebenswirklichkeit, die ‚groß-

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städtische Existenz‘ erfasst sich mit der Möglichkeit der existentiellen Reflexion der Reflexion als ganz und gar endlich ‚wirklich wirklich‘. Und wird so zur wahrhaftigen Ortschaft abendländischer Existenz. Wenn man so will, ist das der Akt der Selbstwahrnehmung der Philosophie als existentieller Phänomenologie. Das durchdeklinierte Philosophieren des Abendlandes entdeckt den einzig noch möglichen Anfang, – den wirklich hier und jetzt existierenden Philosophierenden. Wahrhaftig eine bestürzende Fallhöhe des abendländischen Geistes. Das Philosophieren findet sich endlich, theologisch-metaphysisch haltlos als die eigene, endliche Selbstwahrnehmung. Nach all den großen Gedanken, Vorstellungen, geschlossenen Systementwürfen über Gott und die Welt! Sicher, – das Philosophieren nun ausdrücklich ein Unternehmen der Verzweiflung. (Nur am Rande: Das ist nicht das Ende der Theologie sondern ihr einzig sinnvoller Anfang). Auch auf diesem Weg wird wieder eines deutlich. Ausrichtung der phänomenologischen Reflexion ist auch jetzt nicht irgendeine erkenntnistheoretische Vorstellung ‚reiner Vernunft‘; nicht, die überprüfbare Gestaltung invarianter Begriff und Ideen; nicht das Ideal neuzeitlicher Wissenschaft. Sondern ausdrücklich die existentielle Fassung eines, (meines) endlichen, leibhaft wirklichen Wissens. Wir reflektieren das philosophische Vermögen, ihre wirklichen Leistungsmöglichkeiten, ihre theoretische und praktische Endgestalt jetzt, in dieser ‚Ortschaft‘. Ich, mein Denken, meine Gedanken, meine wirkliche Welt hier. Es ist die transzendental-wirkliche Form der systematischen, phänomenologischen Reflexion der Lebenswelt der Moderne. Auch das eröffnet, – es kann nicht anders sein, – korrelativ den Rück-Blick der existentiellen Selbstfassung. Das Philosophieren erfährt sich nämlich selbst so als endlich wahrhaftiger Zeit-Geist-Entwurf. Und daran halte ich fest! Das ist hier und jetzt der einzig noch mögliche, wahrhaftige Anfang des Philosophierens. Die Reflexion der Reflexion ist die Bedingung der Möglichkeit des modernen existentiellen Zeit-Verständnisses. Das engt den Blick des Philosophierenden nicht ein. Damit verbindet sich ganz im Gegenteil eine weit reichende systematische und auch historische Aussicht. Diese existentielle Reflexionsgestalt gibt den Blick frei auf den wirklich fundamentalen transzendentalen Grund allen Philosophierens. Und zwar auf die (‚je meine‘, ‚je unsre‘) existentielle Verzweiflung. Damit gerät das Philosophieren an die Grenzen, von denen aus von Anfang an die abendländische Welt, ihre Kunst, Religion, Wissenschaft bestimmt hat.21 Oft nur verdeckt, untergründig. Das Selbst-Verständnis des Philosophierens jetzt entwirft als Reflexion und Verzweiflung unübersehbar unsere Zeit-Gestalt der Moderne. Das ist die endgültige Maßnahme der Reflexion der nun erschöpften, ‚logisch durchgespielten‘ Möglichkeiten des Abendlandes. 21

Dazu Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl (1992).

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Dass damit (beispielsweise) nicht eine bloß historische, historisierende Nachzeichnung der Geistesgeschichte des 18., 19. und 20. Jahrhundert gemeint sein kann, liegt auf der Hand. Das bestätigt auch das bisherige vorgehen. Gefordert ist eine transzendentale, das ist, eine endlich selbstverständliche, phänomenologische Reflexion der ‚Logik‘ der wesentlich wirklichen Bewegung des Bewusstseins der Moderne. Eine ‚transzendentale Reflexion‘ gerade um die so selbstverständlich eingefahrene Spur neuzeitlicher Bewusstseinsphilosophie wirklich zu verlassen. Das Bewusstsein der Moderne ‚erfährt‘ doch selbst seine Grenze als endliche Wirklichkeit der abendländischen Existenz. Auch hier können wir uns auf bereits bewährtes stützen. Die Begriffe und Methoden dafür entnehmen wir, (allerdings auch wie bisher nur in eigenwilliger Aneignung), der ‚klassischen Phänomenologie‘. Und zwar die von Husserl selbst eingezeichneten Denk-Wege. Die Begriffe sind bekannt. ‚Wesensschau‘, Reduktion(en), Lebensweltanalysen.22 Sie sind – um das noch einmal aufzugreifen – sicher nicht leicht zu fassen. Vor allem ist ein Einwand ernst zu nehmen. Und zwar: Ob eine sich in der Form dieser phänomenologischen Methoden aussprechende, so abstrakte ‚transzendentale Logik‘ des Philosophierens das konkrete, wirkliche Denken der Zeit entfalten, ja überhaupt fassen könne. Aber, wie immer, so gilt auch hier. Das ist keine Frage dieser oder jener Theorie, dieser oder jener idealistischen, positivistischen Kritik. Dieser oder jener klassischen Vorgabe. Schauen wir stattdessen selbst wirklich hin. Die Absichten, die Formen, die Gestalten, die Möglichkeiten des phänomenologischen Denkens zeigen sich uns nämlich immer in unserer konkreten Arbeit.

IV. Reflexive Reflexion als abendländische Grenzbestimmung ‚Reflexion und Krisis‘ nehmen wir in dieser phänomenologischen Form als die Leitbegriffe, genauer, als den Leitbegriff der Moderne. Theoretisch und Praktisch. In dieser strengen Form (einer Erfahrung) entdeckt sich die abendländische Endgültigkeit: Die Verzweiflung. ‚Reflexion und Krisis‘ ist also nicht nur irgendwie locker eingeflochten in die historisch-faktische Gestaltung, den Ausbau der Moderne, ihrer Wis22 Der Begriff der ‚Wesensschau‘ wird von Anfang an mit einigem Unverständnis betrachtet (für manche ‚wissenschaftlichen‘ Philosophen ist es sogar ein Reizwort). Schon Max Weber. Er setzt Dilettantismus und ‚Schau‘ in den Selben Horizont. Der Dilettantismus als Prinzip der Wissenschaft – so schreibt er – wäre das Ende. Wer ‚Schau‘ wünsche, möge ins „Lichtspiel“ gehen. ‚Schau‘ werde „heute massenhaft auch in literarischer Form auf eben diesem Problemfeld geboten.“ Weber (19847), S. 23.

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senschaften, ihrer Kunst, den Institutionen und Weltanschauungen. Also so, als ob es sich um soziale, gesellschaftliche, politische oder kulturelle ‚Zufälligkeiten‘ handelte. Um uns übermittelte Angelegenheiten, deren sich diese oder jene ‚Geschichtswissenschaft‘ anzunehmen habe. Das wirklich gründlich, systematisch zu verstehen ist aber (und dem sind wir auf der Spur) die Aufgabe der Philosophie. Das erste ist (wie könnte es nun anders sein) die reflexive Reflexion. Es ist in dieser Form wesentlich ein existentielles Selbst-Verstehen. Die Reflexion reflektiert sich eben wirklich selbst; und eröffnet, in dieser unüberbietbar radikalen existentiellen Form, den Horizont der Moderne, als ‚logische‘ Endgestalt des Abendlandes.23 Als reflexive Reflexion erfährt die philosophische Institution der Reflexion sich als ‚wesentlich wirklich haltlos‘; – und so, als wirklich radikal herausgefordert in die Endgültigkeit der Krisis. ‚Krisis und Reflexion‘ und ‚Reflexion und Krisis‘ fördern und fordern sich letztendlich gegenseitig. Sie konstituieren das Gerüst, das Rüstzeug und die Aufgabe des Bewusstseins der Existenz der Moderne. Als das sind sie nicht nur das – zuerst und zumeist verdeckte – ‚geltungstheoretische Grundschema der Moderne‘. Sondern sie zeigen die endgültige Grenze abendländischer ‚Bewusstseinslogik‘. Ein metaphysisches Spiel erfährt systematisch wahrhaftig sein Ende. Nicht als eine Störung von außen; sondern als Vollzug, als ein ‚Vollbringen‘, ‚ein zu Ende bringen‘ seiner selbst. Daran kann nun also überhaupt kein Zweifel mehr sein. Das sind wirklich und wahrhaftig keine Fragen für eine transzendentale oder szientistische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Fassen wir deren Anlagen phänomenologisch so. Jede dieser Erkenntnistheorien drängt sich selbst über sich hinaus. Als Erkenntnistheorie ist sie – ausdrücklich oder verdeckt – immer auch auf ‚Wahrhaftigkeit‘ ausgerichtet. Radikal gedacht, auf ein ‚wozu‘, ein letztmögliches ‚weshalb‘. Gerade deshalb fordert sie selbst ein existentielles Fundament. Immer vorausgesetzt sie lässt sich weiterdenkend auf ihr eigenes Drängen ein, (ohne sich den Blick theoretisch zu verstellen). Dieses existentielle Fundament ist der wirkliche und wahrhaftige Grund aller Wissenschaften. In dieser also durchaus ‚verzweifelten Form‘ gestaltet der Mensch der Moderne nun seine ‚letztmöglichen Fragen‘ der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, der Geltung und des Sinn. Das Zusammenstehen von ‚Reflexion und 23 Dazu der heute fast vergessene Gotthard Günther: „Denn zweifellos deuten alle Anzeichen darauf hin, dass auch die letzten und entferntesten Möglichkeiten des ontologisch-metaphysischen Denkens heute restlos ausgeschöpft sind. Alle im Rahmen der klassischen Tradition der Philosophie überhaupt vorhandenen Themata sind längst diskutiert, unter allen Gesichtspunkten ausgewertet, und zu allen Fragestellungen . . . ist eigentlich jede nur denkbare Antwort erteilt worden.“ Günther (1976), Erster Band, S. 32.

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Krisis‘ ist also wirklich alles andere als historisch, psychologisch, soziologisch, theologisch kontingent. Diese Begriffe ‚bilden‘ ein phänomenologisch notwendiges Korrelationsgefüge. Es mag uns gefallen oder nicht. Sie zeigen uns das philosophisch Letztmögliche. Das ist ein Korrelationsgefüge, das sich allerdings selbst erst in der Form der reflexiven Reflexion einführt, entwirft und so reflexiv als notwendig einsieht. Und, – erst diese unüberbietbar ‚radikale Reflexion‘, eine existentielle Reflexion der Reflexion, sieht auch ‚die Krisis‘ als Gestalt der ‚Geltungsstruktur der Moderne‘. Erst in dieser Form kommen überhaupt die Fragen nach Sinn und Geltung aufdringlich in den Blick und können phänomenologisch ‚gestaltet‘ werden. Das alles ist Gestalt und Gestaltung einer Vielzahl von Akten und Einstellungen. Dieses ‚System der Aktgestaltung‘, diese nicht nachlassende Reflexion der Reflexion und Krisis, (im Übrigen ein Zusammenspiel der vertikal und horizontal vernetzten philosophischen Arbeitsgemeinschaft), ist die Bedingungen der Möglichkeit der ‚Herstellung‘, des Entwerfens des Bewusstseins der Moderne. Das ist letztendlich ein Selbst-Begreifen der abendländischen Fassung der endlichen, wirklichen Existenz als transzendentaler Form. Also, wenn man so will und wortwörtlich, ‚ein wirklicher Prozess und Vor-Gang in der philosophischen Tat‘. Durchaus ein gewaltsames philosophisches Herausbrechen, ‚der Moderne‘ aus dem ‚Bewusstsein der Neuzeit‘. Das ‚Bewusstsein der Moderne‘ ist die Form leibhafter, wirklich-verzweifelter Selbsterfahrung. Es erfährt sich ganz und gar als eine Wirklichkeit der endlichen Existenz. Das ‚reine Bewusstsein‘ eines ‚unendlichen Geistes‘ als absoluter Gedanke, kann nicht, kann nie mehr die Norm des Denkens, der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit sein. Wahr ist jetzt, und das mit allen Konsequenzen: ‚Ich bin wirklich endlich‘! – ‚Ich bin endlich wirklich‘! Ich bin ein Bewusst-Sein einer zerbrechlichen Existenz. Merleau-Ponty spricht von einem „Bewusstsein in unserem Leib“.24 In Anlehnung daran sei hier von einem ‚Bewusstsein in unserer/meiner Existenz‘ gesprochen. Dagegen formiert sich (mehr oder weniger klar ausgeführt) ein sehr grundsätzlicher Widerspruch. Theologisch und philosophisch. Das ist durchaus zu verstehen und ernst zu nehmen. In der platonisch und christlich mehr oder weniger stimmigen Nachfolge der Vorlagen Descartes, Kants und der Denker des Deutschen Idealismus, ist der Entwurf der Moderne als ganz und gar endlicher Gedanke einer existentiellen, leibhaften Vernunft, – und damit auch die Gestaltung der Endzeit des Abendlandes – durchaus ‚problematisch‘. Es ist aber an dieser Stelle nicht mehr erforderlich, im Ein24

Merleau-Ponty (1966), S. 103.

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zelnen darauf einzugehen. Zur Übersichtlichkeit nur noch ein rascher Seitenblick auf die ‚Horizontbedingungen der Moderne‘. Genauer, ein Hinweis auf die Gestalt(ung) des Kontextes, in dem wir uns wirklich wirklich bewegen. Bekanntlich ist das 19. Jahrhundert der Beginn einer großflächigen systematischen Geschichtsforschung. Die Betonung liegt genau genommen auf, ‚systematische Vorstellungen‘ des historischen Blickes. Die wissenschaftliche und philosophische Möglichkeit der Wahrnehmung der Geschichte und ihrer ‚Logik‘ ist das eigentliche Thema. Die Geschichte der Philosophie, des Denkens, der Gedanken, dabei nicht ausgenommen. Die jeweilige Erfahrung der Bedeutung, Sinn und Geltung der Geschichte wird ‚reflektiert‘. Das ist alles andere als ein museales registrieren von vermeintlich ‚Vergangenem‘, von ‚objektiv Gewesenem‘. Damit eröffnet sich eine Möglichkeit für ein wirkliches phänomenologisches Zeit-Verständnis. ‚Meine‘ intentionale Erfahrung der historischen Zeitigung erfährt sich selbst mit in der Reflexion, erfährt sich mit den reflexiven Vorlagen. Verflochten damit ist die Erfahrung der Zeitlichkeit der Existenz. Meine Wahrnehmung der Geschichte reflektiert mich selbst. Ich bin hier und jetzt wirklich meine Geschichte. Konkret, ‚wir‘ sind in der Form unserer Geschichten. Das redet nicht dem von Husserl zu Recht bekämpften Historismus das Wort. Allerdings, der Blick der Vernunft auf sich selbst, reflektiert durch die Wahrnehmung, die wirkliche Anschauung der Geschichte(n), verändert sich. (Und der veränderte Blick verändert die wahrgenommene Geschichte). Die Reflexion wird selbst jetzt endlich historisch wirklich und damit systematisch wirklich radikal. Der historische Blick verweigert, wenn er sich als wirklich konstitutive Potenz reflektiert, (eben als die Fassung der Existenz der Moderne), jede ‚unbedingte‘ metaphysische, theologisch-abstrakte Fest-Legung eines historisch gelagerten ‚absoluten‘ Anfangs. Jetzt wird die Moderne, mein Bewusstsein der Moderne, als systematische Gestaltung meiner Erfahrung der ‚notwendigen abendländischen Krisis‘. Nicht als ob Krisis aus der Reflexion der historischen Erfahrung, des historischen Schauens ‚mechanisch‘ deduziert werden könnte. Sondern der ‚reflexive Vorgang‘ erfährt wirklich, leibhaft, schmerzhaft, verzweifelt Krisis als ein notwendiges, existentielles Gestaltungsmoment (aus) seiner historischen Erfahrung. Diese Erfahrung ist also ausdrücklich ‚unsere‘ eigene Erfahrung. Und zwar als eine Konversion neuzeitlich ‚vernünftiger Transzendentalität‘ in leibhafte, wirklich verzweifelte Existentialität. Die systematische Reflexion entdeckt die (eigene) Geschichte als unlösbar verflochten mit Krisis. Die Reflexion entfaltet sich gefördert und gefordert durch die Krisis. Das ist der wirkliche Grund der Anlage des Bewusstseins der Moderne. Wir wissen es jetzt, es hat sich uns gnadenlos aufgedrängt: Keine wahrhaftige Krisis ohne Reflexion; und radikale Reflexion nicht ohne Krisis als unentwegte immer auch existentielle Herausforderung.

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Vor diesem Hintergrund fassen wir die ‚Geschichte der Moderne‘ phänomenologisch als endgültige Gestaltung der Reflexion. Die Geschichte der Moderne zeigt wirklich die ‚Endlage der Logik‘ der abendländischen Reflexion. Das ist die Absicht der phänomenologischen Arbeit, nichts weniger als in dieser existentiellen Form eine systematische Rekonstruktion der philosophischen Moderne vorzustellen. Korrelativ heißt das, den Zustand und die Befindlichkeit, die Ortschaft und die Leistung der philosophierenden Existenz, ihr wirkliches Selbstverständnis hier und jetzt als endgültig zu entwerfen. Daraus folgt für uns ein weiterführender ‚spannender‘ Auftrag. Nämlich, unser phänomenologisches Wahrnehmen zu Begrenzen und zugleich existentiell zu Vertiefen. (Hier ließe sich an die Entfaltung eines phänomenologischen Positivismus denken). Wie auch immer, eines zumindest sollte für uns immer einsichtiger werden. Das alles kann nie und nimmer eine bloß historische Nachzeichnung der Geistesgeschichte in einem herkömmlichen Sinne leisten. Eine solche Geschichtsschreibung ist notwendig aber nicht hinreichend. Erforderlich ist eine phänomenologische Reflexion der Konstitution des wirklichen und wesentlichen ‚leibhaften Bewusstseins der Moderne‘. Das ist eine wirkliche und wahrhaftige ‚systematische Korrelationsforschung‘. Es kann also gar nicht anders sein. Die Geschichte der Moderne ist – betrachtet aus der Perspektive der Phänomenologie – eine systematische Frage der abendländischen Reflexionsgeschichte. Die Reflexionsgeschichte der Moderne aber ist die endgültige Vorstellung der Reflexion der ‚Reflexion und Verzweiflung‘. Dem gilt es sich nun auch weiterhin zu stellen. Wo immer wir angesetzt haben, jeder Reflexionsgang führte uns zu der Einsicht: Es gibt weder historisch noch systematisch einen metaphysisch festen Grund. Das scheint nun auch das Ergebnis dieser Arbeit zu sein. Der Traum der Neuzeit, der Traum des Abendlandes ist ausgeträumt! Die ‚theologischen Über-Legungen‘ des Philosophen Descartes sind für uns endgültig existentiell haltlos. Wir bewegen uns mitten innerhalb einer von Anfang an ‚problematischen Reflexion‘. Schon die jeweiligen Versuche wirklich gründlich anzufangen, eröffnen das Bewusstsein selbst als ‚unaufhebbar skrupulös‘. Vor allem sich selbst, den eigenen Ansprüchen gegenüber. Die Frage ist daher jetzt wohl berechtigt, ob es philosophisch überhaupt (noch) möglich sein kann, über die Einsicht ‚des Fraglich-werden der Reflexion der Moderne‘ hinauszukommen. Es drängt sich auf, als ob die Reflexion der Reflexion der Reflexion selbst die einzige Institution (allerdings eine ‚absurde‘ Institution) für einen möglichen ‚wirklichen‘ Anfang sei. Wirklich paradox: ‚ein Bodenloser Grund‘! Die radikale Reflexion erfährt sich, vor allem auch sich selbst gegenüber, notwendig ‚schonungslos‘. Es geht nicht

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um Wünschenswertes, um Denkbarkeiten, um Großes, um Trost! Wir haben es wesentlich selbst geschaut. Jede Möglichkeit eines theologischen, ontologischen oder erkenntnistheoretischen Grundes wird philosophisch verworfen. Nicht leichtfertig, willkürlich, spielerisch. Wahrlich, eine auch existentiell sehr bedenkliche Potenz. Aber lassen wir uns davon nicht schrecken. Sehen wir noch genauer hin. Es ist eben nicht so, als ob die sich reflektierende Reflexion an sich selbst gründlich (ver)zweifeln müsste. Gerade im Gegenteil! Je radikaler sie sich wirklich entfaltet und korrelativ als Moderne des Abendlandes verendet, desto klarer gestaltet sie sich als einzig mögliche Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit der endlichen Existenz. So bleibt es dabei (und wir können uns darauf verlassen). Der philosophische Diskurs, der jetzt ansteht, ist von der phänomenologischen Form: ‚Reflexive Reflexion der Existenz der Verzweiflung‘. Ein weiter Blick in die Denkgeschichte der Moderne, also die Gestaltung der Kunst, vor allem der Lyrik, bestätigt es. Diese theoretischen, praktischen, ästhetischen Reflexionen der Existenz ‚entwerfen‘ nicht mehr ein neuzeitlich selbstbewusstes Bewusstsein. Sondern, ein zutiefst verunsichertes, fragwürdiges, wesentlich erschüttertes Bewusstsein ‚reflektiert‘ sich als zweifelhafte ‚Grenz-Bestimmung‘. Es ist eine ‚fragile, verzweifelte Vor-Stellung des grundsätzlich endlichen Selbst-Seins‘. Es ist nicht einmal mehr seiner Identität, seiner ‚transzendentalen Form‘, seines Glaubens und Hoffens gewiss.25 Beeindruckend, auch philosophisch eindringlich gefasst (um nur ein Beispiel zu nennen) in Rilkes Duineser Elegien. „Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir/atmen uns aus und dahin; von Holzglut zu Holzglut geben wir schwächeren Geruch . . .“ Diese Nachdenklichkeit der modernen Philosophie, (gleichgültig ob das Philosophieren sich erkenntnistheoretisch, wissenschaftstheoretisch begreift oder einen metaphysischen Diskurs wieder beleben möchte) fasst diese existentielle Hinterdenklichkeit, dieser eigenartige Blick in eine in Wirklichkeit bodenlose Transzendentalität. Das Philosophieren reflektiert sich als eine endgültige Überforderung. Das ist die Überforderung eines sich letztendlich aufgeklärt vernünftig vermeinenden Philosophierens, das sich aus der modernen Perspektive philosophisch geradezu ‚folgerichtig‘ überfordert. Radikal überfordert, weil es sich eben selbst überfordert; ihrer ‚Logik‘ entsprechend, sogar notwendig überfordern muss. Das alles darf nun nicht als eine nihilistische Ausrichtung oder als eine existentielle (existentialistische) Resignation gedeutet werden. Zugegeben, aus geltungstheoretischer Sicht könnte dieser (mögliche) Vorwurf durchaus als ‚gerechtfertigt‘ scheinen. Aber, diese erlebte existentielle Befindlichkeit 25 Vor allem die Psychoanalyse fordert hier heraus. Vgl. Manfred Pohlen/Margarethe Bautz-Holzherr (2001).

IV. Reflexive Reflexion als abendländische Grenzbestimmung

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ist doch alles andere als ein bloß theoretischer Entwurf der Philosophie. Ein ‚akademisches Glasperlenspiel‘! Das alles geht selbstverständlich auch die Kunst, die Theologie und die Psychologie gleichermaßen entschieden an; es kann nicht anders sein, und sie lassen es auch wirklich ‚praktisch‘ sehen. Die Philosophie selbst aber reflektiert diese so oder so vorgestellte, so oder so eingeführte, so oder so inszenierte existentielle Entschiedenheit. Sie reflektiert sie radikal im Blick und Bindung auf den wirklichen Menschen als den wirklichen leibhaften Menschen. Noch einmal ausdrücklich und bestimmt! Das ist kein Rückgriff auf eine ‚dunkel fatalisitsch‘ gestimmte Lebensphilosophie oder einen unklaren, ‚trüben‘ Existentialismus. Sondern das ist bewusst und selbstverständlich ein ‚transzendentales Denken‘. (Das die Bedingungen der Möglichkeit der Existenz der Moderne denkt). Allerdings ein transzendentales Denken, das radikaler, leibhafter und wirklicher ist, als jede andere Form möglicher neuzeitlicher Transzendentalität. Dieses Denken stößt, gerade indem es sich ‚vollbringt‘, auf die Erfahrung einer entscheidenden Dynamik des abendländischen Philosophierens. Und zwar die Form unserer je eigenen unverlierbaren existentiell-endlichen Selbstbezüglichkeit. Damit verflochten ist nicht zu Letzt eine Möglichkeit, der radikalen, wirklich gründlichen philosophischen Selbstkritik. Das ist die wirkliche, unüberbietbar radikale Aufklärung. Die Aufklärung, die nicht mehr allein durch eine ‚Logik der wissenschaftlichen Vernunft‘ geleistet werden kann. Und wahr ist wohl auch diese Zusammenfassung, – das ist die wesentliche Gefährdung und ist zugleich die wesentliche Chance der Moderne. So verändert sich nun folgerichtig auch der Gesamt-Blick auf die Geschichte des neuzeitlichen Denkens. Schon Husserl weist darauf hin. Daran können wir nicht mehr vorbeisehen. Die Versuche des rationalistisch, idealistisch angelegten Denkens des 18. Jahrhundert, ‚den letzten Grund des Menschentums als Vernunft‘ gewinnen zu wollen, waren eine Naivität26. Eine (wortwörtlich) ‚bodenlose Naivität‘, die für das Denken der Moderne (einer existentiellen Reflexion der Reflexion) wirklich nicht als Vorlage dienen kann. Das gilt schon von der ‚Logik des Denkens‘ her. Diese Transzendentalität der Vernunft hat die Möglichkeiten der Reflexion nicht erschöpft. Erst eine existentielle Phänomenologie reflektiert sich selbst; reflektiert sich endlich radikal und gestaltet sich so als das wirklich wirkliche Denken der Moderne. Sie entwirft, inszeniert eine Transzendentalität, die sich nicht an verdeckten theologischen Ideen ausrichtet; (am ‚reinen‘ Bewusstsein, an der ‚absoluten‘ Wahrheit, an der ‚unbedingten‘ Geltung). Etwas emphatisch ausgedrückt, diese ‚existentielle Phänomenologie‘ der Moderne ist eine ‚leibhafte, wahrhaftige Subjektphilosophie‘, – wahrhaftig, eine Reflexion der Endlichkeit in Furcht und Zittern, in Reflexion und Verzweiflung. 26

Vgl. Krisis/§ 6.

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F. Die phänomenologische Lebensphilosophie

Dieser Bruch zwischen Neuzeit und Moderne ist nicht irgendwie systematisch erkünstelt. Genauso wenig aber historisch faktisch zu fassen; psychologisch oder wissens-soziologisch zu erklären; eindeutig festzulegen; kausal zu begründen. In einem Satz: Es sind nicht irgendwelche ‚äußeren‘, nicht-philosophischen Um- und Zustände, die das ‚neuzeitliche Selbstbewusstsein wesentlich herausfordern‘ und in die Verendung treiben. Sondern die systematische Gestaltung der sich ‚heillos‘, weil metaphysisch haltlos fort treibenden Reflexion erfährt, zwingt und radikalisiert sich selbst. Wahrhaftig also eine ausschließlich wirkliche, transzendentale Notwendigkeit. Diese transzendentalen, wirklichen Grenzbestimmungen, die sich hier und jetzt als Bedingungen der Möglichkeit des problematischen, verzweifelten Selbst-Bewusstseins der Moderne fassen, entfalten sich phänomenologisch als Prozess, als Gestalt und Gestaltung der ‚Krisis und Reflexion‘. So kann es für uns ‚phänomenologisch Schauenden‘ und ‚schauend Reflektierenden‘, für uns hier und jetzt ‚Selbst-Wahrnehmenden‘ gar nicht anders sein. Unser radikales Philosophieren der Moderne ist eingeflochten in selbst entworfene Reflexionsschleifen. Sie richten die weitere Entfaltung des Denkens, die Geschichte des Denkens und der Gedanken aus. Ausschließlich so gestaltet sich jetzt ein Philosophieren von Anfang an. Und nur so gibt die Rede von einem ‚wirklichen Anfang‘ der Philosophie hier und jetzt überhaupt noch Sinn. Das ist notwendig ein endgültiger, ein endlicher und trotzdem ein transzendentaler Anfang. Das ist philosophisch schwer zu fassen. Wie auch immer, zumindest für den so Philosophierenden gilt, kein denkendes Ausgreifen, kein Ausschau halten mehr nach irgendeinen onto-theologischen Grund, nach einer metaphysisch invarianten Sicherheit. Ein solches systematisches Philosophieren ist also wahrhaftig ein ‚schonungsloses Denken‘. Und zwar in einem eigenartigen Sinne. Es ist ein Denken, das vor allem ‚auf sich selbst bedingungslos Rück-Sicht‘ nehmen muss. Wortwörtlich! Es kann sich selbst nicht schonen; es hat sich selbst im Blick; es stellt sich selbst in dieser transzendental-endlichen Form in Frage. Und das in allem existentiellen Ernst! Das ist die philosophische Herausforderung; das ist der weitere phänomenologische Arbeitsauftrag. Systematisches Philosophieren der Moderne als eine ‚schonungslos eigensinnig radikale Reflexion.‘ Es ist so, oder es ist nicht mehr wirklich!27

27 „Philosophie ist (. . .) ihrem Wesen nach Wissenschaft von den wahren Anfängen, von den Ursprüngen (. . .). Logos/340.

V. Die ‚transzendentale Oberfläche‘

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V. Die ‚transzendentale Oberfläche‘ Schauen wir abschließend noch einmal zurück. Die Grundintention in der Philosophiegeschichte, die, mehr oder weniger klar vorgebrachte ‚existentielle Logik‘ des Philosophierens fassten wir phänomenologisch. Kurz und knapp in einem Satz: ‚Philosophieren heißt, wirklich, wahrhaftig und in Wahrheit endgültig zu-Grunde-gehen! Das ist der ‚existentielle Subtext‘ jeder Philosophie von Anfang an. Alles Philosophieren also, ein unterwegs sein hin zu einem vorgestellten, angenommenen ‚unbedingt sicheren Fundament des Wissens‘, und (eng damit verflochten) zu einem Grund, Anfang, zu Geltung und Sinn des Menschseins. Dabei wird sich schließlich und endlich diese eigene Form der Suchbewegung, die Reflexion, selbst zur Grund-Form des abendländischen Menschen. Eine Grund-Form, die (wortwörtlich) reflektiert. Eine Erfahrung, bedrängend, ja belastend und doch zugleich auf eine eigenartig einzigartige Weise beglückend. Das alles ist wirklich und wahrhaftig von Anfang an keine bloße Frage einer Erkenntnis oder Wissenschaftstheorie. Das wäre im Übrigen schon bedeutsam genug. (Darauf habe ich immer wieder hingewiesen). Die Gestalt(ung) der Reflexion wird hier und jetzt klar und deutlich selbst als ‚notwendige Form‘ menschlicher Existenz reflektiert. Sie zwingt letztendlich als Reflexion der Reflexion sich selbst in die Krisis als ‚existentielle Institution‘. Krisis drängt sich auf als eine ständige Einrichtung der Moderne; – und sie lässt den Philosophierenden verzweifeln und reflektieren und verzweifeln . . . Das ist kein Abgleiten in ein mehr oder weniger dunkles, mehr oder weniger vages Gestimmt-sein. Beispielsweise, ein Verzweifelt-sein, ein Weltschmerz a la Lord Byron. Das sind also keine psychologischen oder pathologischen Fragen. Dieser ganz und gar wirkliche Durchblick der Reflexion und Verzweiflung, – hier und jetzt als Verfassung der Moderne, – gestaltet den Anfang und erfüllt die Grundintention des Philosophierens. Das ist der Anfang einer wirklich existentiellen abgründigen philosophischen Radikalität. Und zeigt letztendlich die Erfüllung des abendländischen Gedankens. An dieser konkreten Gestalt(ung), an dieser wirklichen phänomenologischen Erfahrung konnten wir anknüpfen. Ganz bewusst bei der klassischen Frage nach dem ‚Anfang‘, nach Grund, nach Bedeutung und Sinn überhaupt.28 Aber nicht in einer spekulativen Ansicht, einer ‚Leerintention‘, die Ausschau hält nach einem über-wirklichen, metaphysisch, theologisch absoluten Anfang. Sondern es ist die evidente Erfahrung der Wirklichkeit der existentiellen Reflexion, die sich jetzt historisch und systematisch von An28

Diese Frage ist natürlich historisch und biographisch keineswegs die erste.

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F. Die phänomenologische Lebensphilosophie

fang an philosophisch ernst nimmt. ‚Von Anfang an‘, – das benennt nun wirklich verstanden, – selbstverständlich auch die ‚formale‘ Denklinie einer existentiellen Phänomenologie. Und zwar als eine Suchbewegung ‚meiner je eigenen‘ Reflexion, die sich jetzt wirklich einsehbare wesentliche Leitfäden anschaulich vorstellt und einbildet. Oder, die sich selbst in die wirkliche Wirklichkeit phänomenologisch korrelativ einliest. Auch einer existentiellen Phänomenologie geht es um das Wesen, das Wesentliche. Das Wesentliche und Transzendentale ist aber wirklich lesbar nur in meiner wirklich angeschauten, so oder so wahrgenommenen Lebenswelt, meinen wirklich wirklichen Vorstellungen. Das ‚wirklich Wesentliche‘ als phänomenologische Leistung ist keine metaphysische Abstraktion. Das alles ist weder eine phänomenologische, philosophische Willkür; noch eine historische Willkür im Blick auf die Geschichte der Phänomenologie. Husserl selbst war es, der den philosophischen Blick für das Radikale einer ‚transzendentalen, wesentlich anschaulichen, wirklichen Lebenswirklichkeit‘ geschärft hat.29 (Ob es aber in allen Einzelheiten seiner bewussten Absicht entspricht oder nicht braucht uns hier nicht zu interessieren). Das sei aber abschließend noch einmal deutlich markiert. Wir folgten hier grundsätzlich einer ausdrücklichen Anlage und Möglichkeit phänomenologischer Reflexion. Kurz und knapp: Eine existentielle Phänomenologie ist die Konsequenz einer radikalen Entfaltung der Potentiale der Husserlschen transzendentalen Phänomenologie. Das begrenzte und erweiterte zugleich unser Philosophieren von Anfang an. Da alles scheint philosophisch trivial. Aber es ist auch weiterhin daran zu erinnern; und es hat uns durch die gesamte Arbeit getragen. Daran können wir nicht mehr vorbeidenken. Die Philosophie ist ausschließlich ganz und gar eine endliche Angelegenheit des wirklichen Menschen. Das Philosophieren hier und jetzt, – in der ‚Grenzregion‘ des Abendland, – bewegt sich ausschließlich im Horizont der endlichen Existenz des Menschen. Und das ist wahrhaftig nicht wenig! Eine phänomenologische Folgerung daraus darf nun nicht unterschlagen werden. Der phänomenologische Diskurs ist, – gemessen an der philosophischen Tradition, – eine ausschließende Ein-Richtung. Das ist offensichtlich! Es kann für uns nicht (nie!) mehr um ein ‚Entwerfen‘ großer geschlossener transzendentaler Systeme, um Letzt-Sinn-stiftende, absolute Entwürfe der Erkenntnis (der Wissenschaften, der Kunst, der Religion), nicht mehr um ein Ausloten irgendwelcher metaphysischer (Un-)Tiefen gehen. Die Zeit abendländischer Großprojekte ist zumindest für die Philosophie endgültig Geschichte; unbestritten, dass diese Vorstellungen eine historische Fassung von bedeutenden Geschichten bleiben.30 Wir mögen das alles bedauern oder nicht. 29

Was ‚der Anfang‘ ‚inhaltlich‘ sei, ist damit noch nicht bestimmt.

V. Die ‚transzendentale Oberfläche‘

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Diese existentiellen Bewegungen eines natürlich endlichen Philosophierens lassen sich nicht einmal mehr wirklich unter große ‚Überschriften‘ zusammenfassend führen. Beispielsweise unter die Vorstellung eines phänomenologischen Idealismus, kritischen Realismus oder Positivismus bringen. Die Reflexion der hier vorgestellten Phänomenologie ist bei aller Komplexität wirklich einfacher, sinnlicher, leibhafter, endlicher, – ja wirklich ganz ausdrücklich ‚oberflächlicher‘. Und das beim Wort genommen. Die existentielle Phänomenologie ist, wenn man so will, eine ‚Reflexion der Oberfläche‘. Aber, vor allem auch, – und das gehört mit zu dieser Wirklichkeit der phänomenologisch fassbaren Oberfläche, – der wesentlichen Möglichkeiten der ‚Oberfläche‘. Es gibt durchaus auch eine wahrnehmbare ‚Tiefe‘, es gibt sichtbare Sachlagen, erfahrbare Vorgänge ‚unterhalb‘ einer ‚Oberfläche‘. Das ist wohl wahr! ‚Spekulativer, dunkler Tiefsinn‘ darf damit aber nicht mehr verbunden werden. ‚Tiefsinn‘, – so stellt Husserl zu Recht fest, – ist ausschließlich Sache der Weisheit;31 und so füge ich hinzu, der Theologie. Im Übrigen (um das ausdrücklich anzusprechen) nichts liegt mir ferner als diesen ‚Tiefsinn‘, diese Weisheit abzuwerten. Aber, ‚Tiefsinn‘ liegt eben nicht in der Intention der phänomenologisch gerichteten Philosophie, liegt nicht in der Reichweite einer ‚reflexiven Reflexion‘. Die existentielle Phänomenologie reflektiert die wirkliche Wirklichkeit. Reflektiert sie aber als Wirklichkeit und Möglichkeit vielfältiger Wirklichkeiten. Diese wirkliche Wirklichkeit erscheint (unmittelbar, mittelbar) ausschließlich als ‚Oberfläche der Reflexion‘. Die Leitfäden, die aus dieser Oberfläche ‚herausgelesen‘, herausgeschaut werden, drängen sich gerade als so erscheinende in dieser ihrer wirklichen Wirklichkeit auf; und gerade so genommen, bestimmen sie – reflektiert – selbst wiederum die ‚Erfahrung der Wirklichkeit‘. Auch eine möglich vorgestellte ‚Tiefe‘ wird an der ‚anschaulichen‘ Oberfläche gemessen; und wird an der ‚Oberfläche der Reflexion‘ klar und gibt so phänomenologisch wesentlich Sinn. Dieser Sinn ist aber kein metaphysischer Tiefsinn. Die ‚wirkliche Lebenswelt‘, also meine und unsere anschauliche Lebenswelt ist wesentliche ‚oberflächliche‘ Anschauung. Diese ‚Anschauung‘ ist phänomenologisch schon eine Frage der Reflexion der Existenz. Die ‚lebensweltliche Oberfläche‘ erscheint vor diesem Hintergrund gesetzt als ‚diskrete Fläche‘ für eine phänomenologisch-existentielle-transzendentale‘ Reflexion der Moderne, und selbstverständlich, und nicht zu Letzt, des so bestimmten Bewusstseins der Moderne. Sie ist in diesem Entwurf einer 30

„Die Frage ist, was ein Mensch unter ernsthaftem Philosophieren versteht. Tiefe, die sich nicht bei Kleinigkeiten aufhält, oder Sorgfalt, die sich von Tiefe nicht beeindrucken lässt.“ Eike von Savigny (1969), S. 17. 31 Logos/340.

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existentiellen Phänomenologie der verdichtete, wirkliche Forschungsleitfaden, der durch das Weitere bis hin zur Ver-Endung abendländischer Reflexionsgeschichte führt. Die Reflexion selbst erfasst sich im Blick, in der Form, der Gestaltung dieses dichten, wirklichen Leitfadens konkret als Leistung und als Geleistetes der leibhaften, endlichen Existenz. Sie ‚sieht‘ sich jetzt erst wirklich als Re-flexion. Diese Reflexion der lebensweltlichen Oberfläche verweist intentional immer auf einen wesentlichen phänomenologischen Grund-Gedanken. Sie zeigt ihn wirklich, und so ‚zeigt‘ sie sich selbst. Ich selbst, als Da, mit Erinnerung und Erwartung, endlich, leibhaft, historisch biographisch wirklich, bin der wesentliche ‚Grund-Gedanke der Reflexion‘, – einer konkret-wirklichen, oberflächlichen Anschauung. Das kann nicht mehr aus dem Blick verloren werden. Es sichert die Idee der radikalen, eben wirklichen Anfänglichkeit des Philosophierens. Sie darf auch nicht von vorneherein spekulativ oder positivistisch verspielt werden. Das ist jetzt unsere abschließende Frage: Auf welche Weise, in welcher Form, mit welchen Inhalten, mit welcher Gestalt und Gestaltung reflektiert (sich) die Reflexion der lebensweltlichen Oberfläche. Diese Frage ist existentiell höchst bedeutsam. Gerade diese Reflexion der ‚konkreten‘ Reflexion nämlich ist es, die jetzt den wirklichen Ort, die Ortschaft‘ der Moderne und des Bewusstseins der Moderne entwirft.

VI. Der Gedanke der Großstadt Soweit also der wirkliche Horizont der Philosophie! Philosophisch bewegt sich die existentielle Phänomenologie in der ‚anschaulichen‘ Wirklichkeit der Reflexion. Das ist offensichtlich zumindest ein arbeitsfähiger Anfang. Diese Wirklichkeit der Reflexion entfaltet sich ausdrücklich als Reflexion einer ‚wahr-genommenen‘ Wirklichkeit, eben, einer ‚Wirklichkeit der Oberfläche‘. Die Reflexion der Reflexion der Wirklichkeit, intentional eingerichtet, (auch das ausdrücklich als eine ‚erfahrbare Gerichtetheit‘) konkretisiert sich mit der bewussten Setzung, dem wirklichen Entwurf der Leitfäden. Phänomenologisch, so scheint es, durchaus ‚einfach‘. In der deskriptiven Entfaltung allerdings ‚natürlich, wirklich komplex‘. Jeder so wahrgenommene Leitfaden ist in und mit seiner Wirklichkeit, mit seiner intentionalen, konstituierten Form nach ‚innen‘ und nach ‚außen‘ verknotet. Leitfäden sind auch darüber hinaus ineinander, geradezu systemisch verflochten. Sie zeigen sich gegenseitig, verweisen aufeinander. Letztendlich, lassen sie den lebensweltlichen Horizont ‚der wirklichen, leibhaften Existenz‘ denkbar werden. Ein korrelatives Gefüge. Eine Reflexion, die selbst sich reflexiv aneignet. Eben, – als ‚meine‘ wirkliche innere Ortschaft und meinen konkret gestalte-

VI. Der Gedanke der Großstadt

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ten Ort. Das eröffnet und klärt intentional die wirkliche Möglichkeit eines existentiell transzendentalen Denkens. Das Deskriptive der phänomenologischen Arbeit, ‚entlang‘ der Leitfäden, konstituiert ‚schauend‘ das wirklich Wesentliche, das wesentlich Wirkliche meiner Existenz. Die reflexiv entworfene notwendige Rückbindung bestätigt mich selbst, für mich selbst, als ein unbedingt in eine leibhafte Endlichkeit eingeflochtenes ‚Wesen‘. Das ist eine philosophisch sehr fordernde Arbeit. Vielleicht sogar gerade wegen der konkreten, wirklichen Leitfäden, gerade wegen des ausdrücklichen Aufenthaltes an der ‚Oberfläche‘. Auch ein mögliches Scheitern ist dabei nie ausgeschlossen. Eines können wir mit Fug und Recht behaupten. Das kann nicht bestritten werden. Alles in allem, ist das nicht wenig, was hier die Phänomenologie zu leisten hat, was sie sich selbst zumutet, – sich zumuten muss! Das erste war zunächst, sich über die ‚phänomenologische Haltung‘, die ‚phänomenologische Einstellung‘ selbst wesentlich klar zu werden. Also, eine phänomenologische Haltung zur eigenen phänomenologischen Haltung zu diesen Fragen zu gewinnen. Das ist keine Frage der Psychologie oder der Sozialwissenschaften. Sondern, auch das forderte und fordert eine philosophische Reflexion. Die Phänomenologie beginnt, indem sie sich von ihrer außer-gewöhnlichen Anschauung der Anschauung der Wirklichkeit des Zeitraums selbst ‚wirklich bedrängen‘ lässt. Diese Anschauung, die sich phänomenologisch als ‚Lebenswelt vorstellt‘, wird in der Form der radikalen Reflexion ausdrücklich ‚transzendental und existentiell ‚verstanden‘. Es gibt für mich so Philosophierenden keine wirkliche, wahrhaftige ‚Nulllinie der (meiner) Wahrnehmung‘, der (meiner) Erkenntnis, des (meines) Wissens; – keine Nulllinie meiner gelebten Existenz. Jeder Versuch sie philosophisch idealistisch oder auch positiv-wissenschaftlich abstrakt zu denken, zu erkünsteln, zu erfinden, (beispielsweise, als ein erkenntnistheoretisch und ontologisch absolut vernünftiges ‚Jenseits‘ der geschichtlich wirklichen, leibhaften Existenz), wird letzten Endes scheitern. Schon scheitern am eigenen unbedingten Geltungs-Anspruch, der sich selbst zu verwirklichen hat. Und immer noch die Frage: Was bleibt uns noch? Sind damit alle möglichen philosophischen und wissenschaftlichen Vorstellungen erschöpft? Nun, aus der Perspektive der Phänomenologie bleibt philosophisch mehr als genug. Als erstes und sehr naheliegend, schlicht anfangen ‚mitten in‘ unserer je eigenen wirklichen Wirklichkeit. Einschließlich der phänomenologischen Wahrnehmung des phänomenologischen Wahrnehmens, meines und unseres konkreten Wahrnehmens. Es gibt eben kein Leben, keine Erkenntnis vor oder jenseits dieser ‚dichten wirklichen‘ Wirklichkeit. Es gibt keine ‚voranschauliche‘, theoretische Einübung in die Anschauung der leibhaften Wirklichkeit. Eine wirklich wirkliche Anschauung bewegt sich also ‚nach‘

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F. Die phänomenologische Lebensphilosophie

Idealismus und Positivismus (diesen letzten großen neuzeitlichen metaphysisch abstrakten Entwürfen) zunächst wortwörtlich und wirklich in der ‚Ortschaft der Moderne‘. Verstanden jetzt nicht mehr in einem übertragenen Sinne. Sondern ganz konkret und vor allem auch – und dabei bleiben wir – wirklich phänomenologisch ‚oberflächlich‘. Nur die ‚Oberfläche der Reflexion‘ zeigt mir und zeigt mich wirklich anschaulich. Bewegen wir uns also ohne Vorurteile tradierter Vernunft, einer historisch vorgeschriebenen Vernünftigkeit, ohne Vorschriften der Wissenschaften, mitten in unserem Denk- und Wahrnehmungsraum. Diese ‚Ortschaft der Moderne‘ und ihr gestalteter Ort ist phänomenologisch (aber auch erkenntnistheoretisch, ontologisch und metaphysisch) ‚das Denken der Großstadt‘; ist die Großstadt als die wirkliche, für uns selbstverständliche, lebensweltliche Gestalt. Kurz und knapp, die Großstadt als die existentielle Gestaltung meiner wirklichen Welt. Die Großstadt als Entwurf und Widerfahrnis, als Schutz und Bedrohung; – als faszinosum und tremendum.32 Diese Wirklichkeit der Großstadt ist also als Gedanke, als Idee geradezu ‚theologisch‘ aufgeladen. Sie ist der wesentliche, existentielle Ort der ‚modernen Erfahrung‘. Zugleich ist sie der wesentliche Vordergrund und Hintergrund meiner Existenz. Bildlich gesprochen: Die Großstadt als eine ‚selbstverständliche Erfahrung‘, die dem Menschen hier und jetzt Wort wörtlich in ‚Fleisch und Blut‘ übergegangen ist.33 Damit ist die Großstadt nicht nur eine architektonische Größe; oder eine Frage für eine der Wissenschaften; also für Soziologie, Medizin (Hygiene), Psychologie (Thema: Nervosität) u. ä. Sie ist der existentielle Horizont der Moderne. Die Großstadt ist der wirklich durchdringende, ja durchschlagende ‚Gedanke der Moderne‘ als Bestimmung des Denkens. Die Reflexion der Moderne bewegt sich hier immer schon ‚in‘ ihrem wirklichen Anfang und ihrer möglichen abendländischen Endgestalt. Das also ist unsere weitere philosophische Aussicht. Die ‚moderne Großstadt entworfen als Korrelat des Großstadt-Bewusstsein‘. Das ist der wirkliche Horizont, der erfahrene Bewegungsraum der Wirklichkeit einer ‚phänomenologischen Oberflächen-Reflexion‘. Auf eine mögliche Fehldeutung sei auch hier abschließend noch kurz aufmerksam gemacht. Diese ‚Reflexion der Oberfläche‘, der Gedanke der Großstadt als konkreter Lebenswelt der Moderne, verkürzt den breiten wissenschaftlichen Wahrnehmungs-Horizont der Großstadt nicht. Als ob es rechtmäßig nur noch diesen phänomenologischen Gedanken der Großstadt geben könne. Eine Einschränkung der möglichen Wahrnehmungsfülle, der 32

Sehr deutlich in der expressionistischen Lyrik. Dazu Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995. 33

VI. Der Gedanke der Großstadt

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unterschiedlichen Perspektiven, (also, wissenschaftlich, literarisch, architektonisch, ästhetisch), der Großstadt, des Großstädtischen liegt nicht in meinem Sinn. Der Ausblick auf die Möglichkeiten des großstädtischen Wirklichen und auf die offene Fülle großstädtischer Ansichten bleibt also durch das phänomenologisch so vorgestellte Wesentliche ausdrücklich unverstellt. Ja, gerade im Gegenteil! Diese phänomenologisch entworfene Wirklichkeit der anschaulichen ‚Oberflächen-Erfahrung‘, (die eben keine ‚oberflächliche Erfahrung‘ ist), gewährleistet die Methode, die Leistung, der ‚Wesensschau‘. Auf diese Weise gestaltet, entwirft sich erst der ‚Evidenz-Raum‘ der Reflexionen der Großstadt. Und wahr ist auch und es wird sich anschaulich zeigen lassen: Erst die wirkliche phänomenologische Er-Fahrung der ‚Oberfläche der Großstadt‘, – ausdrücklich als ‚Phänomenologie der Oberfläche‘, – konstituiert ein notwendiges ‚Unterhalb‘, und sogar die Erfahrung eines möglichen ‚Darüber-hinaus‘.

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Sennet, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1999 Simmel, Georg: Das Individuum und die Freiheit, Stuttgart 1957 Staiger, Emil: Friedrich Schiller, Zürich 1967 Steiner, Reinhard: Egon Schiele. 1890–1918. Die Mitternachtsseele des Künstlers, Köln 1999 Stern, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr, München 1986 Straus, Erwin: Vom Sinn der Sinne. Berlin/Göttingen/Heidelberg 19562 Szilasi, Wilhelm: Einführung in die Philosophie Edmund Husserls, Tübingen 1989 Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1996 Tenbruck, Friedrich H.: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz/Wien 1984 Theunissen, Michael: Der Begriff ‚Ernst‘ bei Kierkegaard, in: Symposion I, Freiburg und München 1958 Thomae, Hans: Das Individuum und seine Welt. Eine Persönlichkeitstheorie, Göttingen 1968 Thyssen, Johannes: Die Philosophie in der gegenwärtigen geistigen Krise, Bonn o. J. Wagner, Hans: Philosophie und Reflexion, München/Basel 19672 – Die Würde des Menschen, Würzburg 1992 Weber, Max: Die protestantische Ethik I, 19847 Weigert, Hans: Die Kunst am Ende der Neuzeit, Tübingen 1956 Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, Darmstadt 1983 von Weizsäcker, Carl Friedrich: Wahrnehmung der Neuzeit, München/Wien 1983 Wisser, Richard: Philosophische Wegweisungen. Versionen und Perspektiven, Würzburg 1996 Wuchterl, Kurt: Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Bern/Stuttgart/Wien 1995

Sachwortverzeichnis Durchgängig vorkommende Begriffe sind in das Register nicht aufgenommen. Abendland 10, 12, 19, 27, 41–42, 49, 53–57, 131, 135–137, 140, 145, 152, 163, 174, 177, 186 Anfang 5, 11, 13–16, 22, 31, 125, 141, 142, 165–166, 183–184, 191, 195 Angst 36, 81, 101 Aufklärung 24, 26–27, 30, 34, 57, 67, 80, 99, 110, 162 Denkgeschichte 25, 129 Einzelne (der) 113–114 Entfremdung 99, 192 Existentialismus 64, 70, 181, 203 Existenzphilosophie 64 Geistesgeschichte 17, 19, 62, 75, 78, 169, 201 Geltung 11, 25, 26 Glaube 25, 51 Gott 15, 24, 27, 44, 45, 46, 50, 52, 56, 95, 126, 192 Horror 111, 115 Idealismus 6, 31, 38, 45–46, 63, 78, 96, 115, 122, 128, 190 Kultur 12, 66, 72, 111, 149 Kunst 12, 15, 18–20, 36, 39, 45, 51, 55, 59–60, 66, 81, 89, 93, 98, 111, 116–118, 145, 163–164, 194 Lebenswelt 5–6, 10, 15–16, 19, 22, 30, 36

Literatur 18, 19, 36, 39, 42, 51, 98, 114, 145 Lyrik 21, 55, 69, 105 Malerei 19 Masse 112–113 Metaphysik 30, 53 Mythos 11 Natur 24 Nihilismus 70, 86, 96 Oberfläche 46, 52, 77, 105, 153, 157, 181, 209 Ordnung 118 Positivismus 63, 78, 201 Psychoanalyse 19, 28, 68, 157, 202 Reflexionsgeschichte 23, 25, 32, 160, 166 Religion 12, 15, 18, 30, 51, 60, 93, 151, 163, 182, 189 Romantik 20, 46 Selbst-Bestimmung 11, 21, 31, 57, 91 Selbst-Vergewisserung 10, 121 Selbst-Verpflichtung 37 Selbst-Verständnis 19, 23, 34, 48 Stimmung 21, 73, 74, 180 Technik 18, 91, 131 Theologie 17, 45, 46, 50, 53, 55, 74, 80–82, 89, 93, 164, 167, 174, 189, 194, 196 Traum 104–106, 143

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Sachwortverzeichnis

Vernunftgeschichte 23, 29, 36 Verzweiflung 11, 16, 17, 19, 20, 21, 22, 30, 35, 39, 41, 54 Wahrhaftigkeit 27, 34, 38, 81

Wahrheit 20, 27, 31, 34, 50, 93, 94 Wissenschaft 5, 11, 15, 17, 22, 27, 30, 44, 50, 71–72, 87, 93, 122, 133, 139, 148, 150–156, 158, 189 Wissenschaftsgeschichte 22, 53