Bevölkerung in der industriellen Revolution: Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands 9783666359637, 3325359632, 9783525359631

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Bevölkerung in der industriellen Revolution: Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands
 9783666359637, 3325359632, 9783525359631

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 12

KRITISCHE STUDIEN ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Christoph Schröder, Hans-Ulrich Wehler

Band 12 Wolfgang Köllmann Bevölkerung in der industriellen Revolution

G Ö T T I N G E N · V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T · 1974

Bevölkerung in der industriellen Revolution Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands

VON

WOLFGANG KÖLLMANN

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1974

ISBN 3-325-35963-2 Umschlag: Peter Kohlhase (c) Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1974. - Printed in Germany. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz u n d Druck: Guide-Druck, Tübingen. Bindearbeit: H u b e r t fic Co., Göttingen

Inhalt Vorbemerkung

7

Entwicklung und Stand demographischer Forschung

9

Genealogische Materialien in Deutschland als Grundlagen bevölkerungsgeschichtlicher Forschungen .

. . .

17

Bevölkerungsentwicklung und „moderne Welt" .

25

Die deutsche Bevölkerung im Industriezeitalter

35

Demographische „Konsequenzen" der Industrialisierung in Preußen

47

Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland 1815—1865

61

Bevölkerungsentwicklung in der Weimarer Republik .

99

Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage"

.

106

Der Prozeß der Verstädterung in Deutschland in der Hochindustrialisierungsperiode

125

Zur Bevölkerungsentwicklung ausgewählter deutscher Großstädte in der Hochindustrialisierungsperiode

140

Soziologische Strukturen großstädtischer Bevölkerung .

157

Binnenwanderung und Bevölkerungsstrukturen der Ruhrgebietsgroßstädte im Jahre 1907

171

Die Bevölkerung der Industriegroßstadt Barmen vor und während der Industrialisierungsperiode

186

Rheinland und Westfalen an der Schwelle des Industriezeitalters

208

Die Bevölkerung Rheinland-Westfalens in der Hochindustrialisierungsperiode

229

Rheinland-Westfalen in der deutschen Binnenwanderungsbewegung der Hochindustrialisierungsperiode

250

Abkürzungsverzeichnis . . .

.261

Anmerkungen

262

Verzeichnis der Erstdrucke

286

Vorbemerkung I m K o n t e x t sozialgeschichtlicher Forschungen spielte die Bevölkerungsgeschichte in Deutschland in den vergangenen J a h r z e h n t e n n u r eine u n t e r g e o r d nete Rolle. Die hier wie in der Wirtschaftsgeschichte immer noch verbreitete A b n e i g u n g gegen quantifizierende Analysen w i r k t e sich darin ebenso aus wie die Folgen nationalsozialistischer „Volkslehre" u n d „ V o l k - o h n e - R a u m " - P r o p a g a n d a . Dabei k a n n gerade f ü r das Zeitalter der Industrialisierung, in dem die amtliche Statistik eine Fülle von methodisch relativ leicht zu bewältigendem Quellenmaterial bereitstellt, ein bevölkerungsgeschichtlicher A n s a t z wesentlich zur E r k e n n t n i s des Verlaufs der Prozesse wirtschaftlicher Entwicklung und gesellschaftlicher U m f o r m u n g beitragen, wie andererseits bevölkerungsgeschichtliche Forschungen z u r empirischen Ü b e r p r ü f u n g und A u s f o r m u n g d e m o g r a p h i scher Theorie unerläßlich sind. Schon darin zeigt sich eine Mittlerstellung zwischen Geschichtswissenschaft u n d D e m o g r a p h i e , eine nicht n u r auf den methodischen Bereich beschränkte Integration beider Disziplinen, deren P r o bleme hier angesprochen werden, bedingend. Ich v e r d a n k e meinem Lehrer W e r n e r Conze, damals in Göttingen einer der wenigen H i s t o r i k e r , die sozialgeschichtliche P r o b l e m e in ihre Arbeiten einbezogen, die Anregung, m i d i mit Bevölkerungsfragen zu befassen. Er las im Sommersemester 1949 eine Ü b u n g zu dieser T h e m a t i k , die f ü r mich die erste Begegnung mit Bevölkerungslehre u n d historischer D e m o g r a p h i e bedeutete. N a c h meiner P r o m o t i o n w u r d e ich an der Sozialforschungsstelle der Universität Münster in D o r t m u n d Assistent G u n t h e r Ipsens, des Begründers der historischsoziologischen Bevölkerungstheorie in Deutschland. Die Z u s a m m e n a r b e i t und Auseinandersetzung mit diesem bedeutenden, w e n n auch nicht immer bequemen Gelehrten schärften mein Verständnis f ü r Theorie, wie sie meine Kenntnisse empirischer Untersuchungsmethoden erweiterten. So f a n d schon in diesem W e r degang der f ü r meine späteren Arbeiten in diesem Bereich bestimmende Bezug der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung zu Sozialgeschichte u n d D e m o g r a phie Ausdruck. Bereits in meiner Dissertation, Entwicklung der S t a d t Barmen von 1808 bis 1870 (Göttingen 1950), h a t t e ich versucht, die Bevölkerungsentwicklung als integralen Teilbereich der sozialen Prozesse städtischer Entwicklung zu a n a l y sieren. Auf A n r e g u n g W e r n e r Conzes entstand d a n n der „Bevölkerungs-Ploetz" (1. A u f l a g e 1955), in dem ich den Z e i t r a u m v o n 1750 bis zur G e g e n w a r t bearbeitete (in der dritten A u f l a g e B a n d 4). G e r a d e diese Zusammenstellung der Materialien zur Geschichte der W e l t b e v ö l k e r u n g bedeutete f ü r mich nicht nur eine Ausweitung meiner Materialkenntnisse, sondern v o r allem auch eine V e r t i e f u n g meiner Kenntnisse der P r o b l e m e m o d e r n e r Bevölkerungsentwick-

8

Vorbemerkung

lung, an denen das einseitige, immer noch von Malthus beeinflußte Verständnis sich abzeichnender Übervölkerungsphänomene weitgehend vorbeisieht. Hier wird der Ansatz sichtbar, der meine demographischen Forschungen bestimmte: die Frage nadi der Bedeutung und nach den Formen der Bevölkerungsentwicklung im Industrialisierungszeitalter und in Verbindung zum Industrialisierungsprozeß. In diesem Band sind seit 1956 entstandene Beiträge zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands gesammelt und unter sachlichen Gesichtspunkten geordnet. Vorangestellt wurde ein als Einleitung zu einem Sammelband 1972 geschriebener Aufsatz zur Entwicklung der Bevölkerungslehre, der zugleich meinen heutigen theoretischen Standort charakterisieren soll. Der zweite Beitrag weist auf einen f ü r die demographische Forschung besonders wichtigen Quellenbereich hin, der in einem zur Zeit in Bochum laufenden Forschungsvorhaben zur Problematik schichtenspezifischer Ausformung generativer Strukturen ausgewertet wird. Es folgen fünf Aufsätze, die sich mit der allgemeinen Entwicklung im Industriezeitalter bzw. in einzelnen Phasen befassen, während die nächsten vier der besonderen Problematik städtischer Bevölkerung gewidmet sind. Beide Problemkreise werden in den letzten fünf regionalgeschichtlichen Studien erneut aufgenommen. Im Einzelfall lassen sich Wiederholungen nicht vermeiden. Der letzte, in Frankreich erschienene Aufsatz dieses Bandes wurde deshalb nur im Auszug als Ergänzung des Vorangegangenen publiziert, um dort noch nicht angeschnittene Probleme zu erörtern. Wer die Aufsätze weniger aus historischem als aus demographischem Interesse in chronologischer Reihenfolge liest, wird eine allmähliche Veränderung meiner theoretischen Position erkennen können. Zunächst ganz den Auffassungen Ipsens und Mackenroths verhaftet, bemühte ich mich später um eine Ausformung und Erweiterung der historisch-soziologischen Bevölkerungstheorie durch kritische Überprüfung und Verbesserung der Theorie der generativen Stri kturen und Einbeziehung der Wanderungstheorie. Dies findet gerade in den jüngeren Beiträgen seinen Niederschlag. Zu danken habe ich H e r r n Dr. Reulecke f ü r seine Hilfe bei der Zusammenstellung und Kürzung der einzelnen Beiträge und der Vereinheitlichung der Anmerkungen. Bochum, im Januar 1974

Wolfgang Köllmann

Entwicklung und Stand demographischer Forschung Bevölkerungsfragen haben seit jeher Denker und Politiker beschäftigt, sind doch Volkszahl und Verteilung geschichtsmächtige Größen gesellschaftsstruktureller Gegebenheiten und Prozesse, die in Form und Richtung durch die eigenständige Dynamik des Bevölkerungsverhaltens bestimmt werden. Bevölkerungspolitische Konzeptionen der Expansion und der Reglementierung finden sich bereits im Alten Testament 1 und bei Piaton 2 ; sie wiederholen sich als Ausdruck jeweils aktuellen Verständnisses und als Zielsetzung entsprechenden politisdien Handelns bis in unsere Zeit. So ist, um nur diese Beispiele zu nennen, die intensive französische Familienpolitik der Gegenwart 3 auf Vergrößerung des Bestandes gerichtet, während vor allem in „Entwicklungsländern" — aber nidit nur dort — Programme zur Geburtenbeschränkung entworfen und praktiziert werden 4 . Von der Voraussetzung der Beeinflußbarkeit des Bevölkerungsverhaltens ausgehend, steht solche Rationalisierung der Bevölkerungsweise vor allem im Vordergrund wissenschaftlicher oder pseudowissenschaftlicher Beschäftigung mit Bevölkerungsproblemen und entsprechenden politisdien Handelns, seitdem Thomas Robert Malthus 5 in seinem 1798 zunächst anonym erschienenen Buch „An Essay on the Principle of Population as it Effects the Future Improvement of Society. . ." seine beiden „Naturgesetze" der Bevölkerungsentwicklung aufstellte und empirisch zu belegen versuchte: 1. Die Bevölkerung hat die beständige Tendenz, über ihren Nahrungsspielraum hinauszuwachsen; sie vermehrt sich in geometrischer Progression, während die Subsistenzmittel in arithmetischer Progression ansteigen. 2. Die Beschränkung des Nahrungsspielraumes zwingt zur ständigen Reduzierung der Bevölkerung auf seine Grenzen; sie wird durch repressive (Kriege, Seuchen, Hungersnöte usw.) oder präventive (für Malthus nur Enthaltsamkeit) Korrekturfaktoren bewirkt. Diese „Gesetze" — sie besagen im Grunde nichts anderes, als daß derjenige, der nidits zu essen hat, sterben muß, und sind in dieser verallgemeinernden Simplizität freilich unwiderlegbar — setzen „den Zeugungsvorgang, also einen physiologischen Vorgang, mit dem generativen Verhalten, einem sozialen Vorgang"" gleich und deuten alle historischen und sozialen Erscheinungen in die Korrekturfaktoren hinein. Sie trugen also weder zum Verständnis der Bevölkerungsvorgänge als solche noch zur Erklärung der einwirkenden Faktoren oder gar des Verlaufs von Bevölkerungsprozessen bei. Obwohl sie außergewöhnliches Aufsehen erregten und eine intensive Diskussion der „Bevölkerungsfrage" eröffneten, wobei die Bandbreite der Meinungen von emphatischer

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Entwicklung und Stand demographisdier Forschung

Ablehnung bei Marx und Engels 7 oder harmoniegläubigen liberalen Optimisten 8 bis zu ebenso emphatischer Zustimmung und Propagierung in der neomalthusianischen Bewegung 9 reichte, engten sie die Diskussion auf die Problematik Volkszahl und Nahrungsspielraum ein, verstellten also gerade den Blick f ü r die Probleme der Bevölkerungsstruktur und ihrer Dynamik. Dabei hatte mehr als ein halbes Jahrhundert vor Malthus der preußische Feldprediger Johann Peter Süßmilch, anknüpfend an die Arbeiten der englischen Arithmetiker John Graunt 1 0 und Sir William Petty 11 , eine erste umfassende Bevölkerungstheorie entwickelt. Der Titel seines 1741 in erster Auflage erschienenen Buches: „Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des Menschlischen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen" deutet auf Süßmilchs philosophisch-theologischen Ansatz: die Konstanz soziometrischer Kollektivmaße, die der menschlichen Vernunft erfaßbar sind, ist Ausdruck göttlicher Ordnung und damit Bestätigung der Existenz Gottes. Solche Ordnung schließt auch die zunächst scheinbar irregulären Phänomene — Totgeburten, Mehrlingsgeburten, Unfall, Kriegs- oder Seuchensterblichkeit — ein, sie ist in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift vollkommen und von unzerstörbarer Harmonie, und sie ist im Sinne eines schöpferischen Weltenplanes dauerhaft. In solchen Prämissen äußerte sich sowohl eine Vorstellung struktureller Gliederung der Gesamtheit als auch der Möglichkeit dynamischer Entwicklung, so daß Süßmilch als erster Struktur- und Prozeßcharakter des Bevölkerungsstandes und der Bevölkerungsbewegung erkannte. Zum erstenmal wurden hier demographische Phänomene und relative Gesetzmäßigkeiten selbständig und mit Hilfe eigenständig entwickelter statistischer Methoden umfassend analysiert 12 . Schon dies wäre als theoretische und empirisch-methodische Leistung von überragender Bedeutung gewesen, aber Süßmilch deutete darüber hinaus als erster die Problematik der Bevölkerung als gesellschaftliches Phänomen. Dies läßt sich aus der von ihm entwickelten Systematik der Erhebungsbögen, die nicht nur bevölkerungs- sondern auch sozialstatistische Daten einbezogen, und aus seinen bevölkerungspolitischen Folgerungen erschließen, die zwar im Sinne kameralistischer Vorstellungen eines idealen aufgeklärten Staates argumentierten, aber gezielte Einwirkungen auf Heirats-, Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsstruktur durch intensive Familien- und Sozialpolitik vorsahen, wie sie auch sozio-ökonomisch bedingte Differenzierungen der Bevölkerungsweise als historische Gegebenheiten annahmen. Obwohl dieses Werk seinem Autor in Preußen einige Anerkennung brachte — im Jahre nach der Erstveröffentlichung wurde er Konsistorialrat, 1743 dann auch Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften —, die ihm zugleich ermöglichte, weitere Belege zu sammeln, so daß die 1761 erschienene zweite Auflage wesentlich materialreicher war, geriet es bald in Vergessenheit. Der Ansatz des Gottesbeweises wie die N ä h e zu kameralistischen Vorstellungen der Abhängigkeit der staatlichen Machtfülle von der Volkszahl verstellten den Zugang wohl, noch bevor die allgemeine Faszination durch Malthus' Bestseller f ü r mehr als ein Jahrhundert die Auseinandersetzungen beherrschte. In ihrer

Entwicklung und Stand demographischer Forschung

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Fixierung auf Malthus trug auch die wissenschaftliche Diskussion wenig zur weiterführenden Erkenntnis des Bevölkerungsvorganges bei. So versuchten die Biologisten, ausgehend von Herbert Spencer 13 , Malthus zu widerlegen, indem sie Veränderungen des physiologisch gesetzten Rahmens durch Mutation oder Anpassung an den Stand der Zivilisation postulierten, während ökonomische Theorien mit psychologischer Argumentation aus sinkendem Grenznutzen des Geschlechtsgenusses in Konkurrenz mit anderen Genüssen Regulative bei steigendem Wohlstand 14 oder Einschränkung der Fruchtbarkeit bei Verelendung 15 erwarteten, soweit nicht einfach auf der Grundlage des malthusianischen Pessimismus Bevölkerungsoptima berechnet wurden 18 . Solche Auseinandersetzungen führten nicht zuletzt zu empirischer Forschung. Mit der Entwicklung und Verfeinerung statistischer Methoden der Erhebung und Analyse wuchs die Möglichkeit der Erfassung, Erklärung und Beurteilung demographischer Phänomene auch in längerfristiger Beobachtung 17 . Vor allem in den angelsächsischen Ländern vorangetrieben, wurde nicht nur versucht, den Bevölkerungsvorgang als solchen in seinen Variationen zu erkennen, sondern auch die Bezüge zu sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Prozessen zu ermitteln. Schon dies forderte und förderte die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen in den N a t u r - und Geisteswissenschaften. So charakterisieren die Interdisziplinarität der Forschung und ihre Eigenständigkeit im Rahmen der Gesellschaftswissenschaften den Standort moderner Demographie. Auf dem Kontinent war die französische Forschung bahnbrechend. Angeregt durch das Phänomen der Sonderentwicklung der französischen innerhalb der europäischen Bevölkerungen und in engem Zusammenhang mit der intensiven Bevölkerungspolitik Frankreichs stehend, erlangte dort die Demographie nationalpolitische Bedeutung, ohne ihre wissenschaftliche Eigenständigkeit zu verlieren. Im Gegensatz dazu wurden in Deutschland' fruchtbare Ansätze demographischer Forschung in den 20er Jahren, die vor allem mit den Namen Oppenheimer 19 , Mombert 19 , Kulischer, Heberle 20 und auch Burgdörfer verknüpft waren, durch die rassistische Ideologie des NS-Systems verdrängt oder verfälscht; zu den Nachwirkungen gehört die Randstellung der Demographie in der BRD, die sich erst in jüngster Zeit positiv verändert. Auf die in der Phase nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland gegebene Entwürdigung wissenschaftlicher Forschung unter dem geistigen Zwang ideologischer Setzungen mit allen ihren Unvereinbarkeiten, die vor allem die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften knebelten, dürfte mit zurückzuführen sein, daß die demographische Theorie Gunther Ipsens 21 in der deutschen wie in der internationalen Diskussion weithin unbekannt und unbeachtet blieb 22 . Sie wurde dazu an entlegenem Ort, in einem Torso gebliebenen Handbuch, eher als Entwurf denn als Ausführung einer Bevölkerungslehre publiziert und war in schwer zugänglicher, eigenwilliger Terminologie geschrieben, die vor allem durch Verwendung von Begriffen wie „züchterisches Artbild", „Rasse" oder „Herrschaftsraum" der Rassenideologie verhaftet schien, obwohl sie sich gerade in den Inhalten dieser Begriffe von ihr absetzte. Anknüpfend an Süßmilch,

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Entwicklung und Stand demographisdier Forschung

wurde hier Bevölkerung nicht als „Volkszahl", sondern in steter Auseinandersetzung mit dem ebenfalls dynamisch gesehenen Nahrungsspielraum als dynamisches und zugleich strukturiertes Geschehen, dessen „organische Verfassung" im Volkskörper, der durch Geburt und Tod bestimmten Alters-, Geschlechtsund Farpiliengliederung, sichtbar wird, verstanden. Hier war der Ansatz einer historisch-soziologischen Theorie der Bevölkerung gefunden: Wie aus der Weite des physiologisch gesetzten Rahmens exogen bedingte Einbrüche — durch Kriege, Hungersnot oder Seuchen hervorgerufene Verluste — im Volkskörper ergänzt bzw. ausgewachsen werden können, so sind Änderungen seiner Verfassung als Folge und Ausdruck gesellschaftlichen Wandels geschichtliche Gegebenheiten. Dem „Naturgesetz" des Malthus setzte Ipsen die sich in der Verfassung des Volkskörpers ausprägenden „geschichtlichen Gesetze" entgegen, in denen zugleich die langfristige Tendenz zu ständiger Erneuerung des Gleichgewichts von Bevölkerung und Nahrungsspielraum gegeben ist. In diese Prozesse fügen sich als kurzfristige Entspannung die Wanderungsbewegungen ein, aber gerade dieses „Element der Unruhe und Veränderung" wurde, auch von Ipsen nur in solchem Zusammenhang ausgesprochen, nicht ausgeführt. Von hier war es nur ein Schritt zur historisch-soziologischen Bevölkerungstheorie Gerhard Mackenroths 23 , in der nicht fnehr der Volkskörper als Ganzes, sondern die Bevölkerungsweise im Vordergrund der Betrachtung steht. Eine „Bevölkerungsweise" oder — synonym gebraucht — „generative Struktur" ist eine bestimmte Konstellation biologischer und soziologischer Elemente der Heirat, der Fruchtbarkeit und der Sterblichkeit, die sich innerhalb des physiologisch gesetzten Rahmens in Korrelation zum „sozialen Dasein" fügt. Das sich in dem Zusammenspiel der einzelnen, wechselseitig voneinander abhängigen Elemente ausprägende Baugesetz entspricht damit der geschichtlichen Situation; es ist keine allgemein gültige, sondern eine konkret erfaßbare historische Gesetzmäßigkeit, deren jeweilige Gültigkeitsdauer von der Beständigkeit des akzeptierten Sozialsystems abhängt. Deutlicher als Ipsen setzt Mackenroth die Dynamik des Bevölkerungsprozesses in Bezug zur Dynamik des Sozialprozesses, indem er zugleich den schichtenspezifischen Charakter des Wandels betont: Veränderungen vollziehen sich im Beginn in einer Schicht; die dort ausgebildete neue generative Struktur kann das Bevölkerungsverhalten des gesamten Sozialkörpers überformen, wobei kurz- oder längerfristige regionale und soziale „Abkapselungen" möglich sind. Neben dieser Erkenntnis schichtenspezifischer Ausformung generativen Verhaltens, die dem Volkskörper als Abbild der Verfassung Phasen des Wandlungsprozesses entgegenstellt, ist die Erkenntnis der Ausdrucksanalogie von Bevölkerung- und Wirtschaftsweise als integraler Bestandteil eines Sozialprozesses hervorzuheben. Beides „Komplexe sinnhafter menschlicher Verhaltensweisen", jedoch nicht identisch, sind sie der geschichtlichen Veränderung unterworfen, ohne daß sich aus Zeitdifferenzen — so war etwa die industrielle Wirtschaftsweise eher als die industrielle Bevölkerungsweise ausgebildet — kausale Abhängigkeiten, Zwangsläufigkeiten bestimmter Reaktionen konstruieren ließen.

Entwicklung und S t a n d demographischer Forschung

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Die Bevölkerungslehre Mackenroths eröffnet einen breiteren Zugang zur Erklärung historischer Phänomene des Gestaltwandels und zur Beurteilung des gegenwärtigen Zustands als alle älteren Theorien. Sie erweist den besonderen Vorzug gesamtgesellschaftlicher Betrachtung unter Einbeziehung auch des ö k o nomischen. Modifikationen einzelner Aussagen erscheinen notwendig, ohne daß davon dieser Ansatz aufgehoben wird. Fraglich dürfte die postulierte Gleichwertigkeit der interdependenten Elemente der generativen Strukturen sein; vor allem wäre die Einbeziehung der Heiratsstruktur nur unter den Bedingungen christlich-europäischer Familienverfassung gerechtfertigt, so daß ein gegenüber der Fruchtbarkeits- und Sterblichkeitsstruktur (Absterbeordnung) sekundärer Bereich überbewertet wird. Auch die von Ipsen als zentral angesprochene Problematik des latenten Spannungsverhältnisses von Bevölkerung und Nahrungsspielraum ist zwar in der „Ausdrucksanalogie" von Bevölkerungs- und Wirtschaftsweise aufgehoben, aber sie wird im wesentlichen nur unter dem Gesichtspunkt der Entstehung von „Bevölkerungsvakua" bei positiver Änderung des Nahrungsspielraumes, also unter weitgehender Vernachlässigung der Übervölkerungsphänomene betrachtet. Darauf dürfte zurückzuführen sein, daß die Wanderungsbewegungen von Mackenroth negiert werden, obwohl sie einen nicht zu unterschätzenden Faktor der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung darstellen. Es ist sicher zu fragen, ob Wanderungen nur eine Ausgleichs- und Ergänzungsfunktion besitzen oder ob sie darüber hinaus als verfassungsändernde Elemente konstitutiv den Gestaltwandel generativer Strukturen mitbestimmen. Wird nur der Abbau regionaler Überschußbevölkerung oder die Auffüllung regionaler Leerräume durch Verlagerung gesehen, wie es bereits Malthus getan hat und letztlich auch Ipsen tut, so ist die Frage des demographischen Einflusses auf Ausgangs- und Zielbevölkerung sekundär. Wanderungs„gesetze" ergeben sich dann als allgemeine oder als historisch gebundene Konstellationen demographischer, sozio-ökonomischer oder auch politischer Elemente. Von solcher Auffassung her entwickelte sich die Wanderungstheorie. Beginnend mit Ravensteins 24 „Naturgesetz" der mit der Entfernung des Zieles abnehmenden Wanderungshäufigkeit wurde versucht, Wanderung auf bestimmbare geographische oder ökonomische Größen zu fixieren und auf diese Weise gültige Regeln zu finden. Alexander und Eugen Kulischer 85 formulierten unter Verzicht auf solche Bindung ein „die Richtung der Wanderungsbewegungen bestimmendes Gesetz": „Die Wanderbewegung richtet sich aus dem Gebiete, wo der Nahrungsspielraum relativ (d. h. im Verhältnis zur Einwohnerzahl) kleiner ist, in das Gebiet, wo er relativ größer ist oder dank der Einwanderung selbst relativ größer werden kann." Aus diesem allgemeinen „Wanderungsgesetz" leiteten sie die „Mechanik" der Wanderungsbewegungen 26 ab und entwarfen auf solcher Grundlage eine Theorie der Weltgeschichte als Abfolge von Völkerbewegungen in den Formen der Kriegs- und Wanderzüge. Solche mechanistischen „Gesetze" fassen im Begriff des „Gefälles" alle sozialen, ökonomischen oder auch politischen und kulturellen Implikationen. Ihre Gültigkeit kann deshalb ebenso-

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wenig bestritten werden wie die der Bevölkerungsgesetze des Malthus; sie besagen aber letztlich auch ebensowenig, zumal sie über Ausgangs- und Endstrukturen der Bevölkerungen nichts aussagen. Zumindest in bezug auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, also auf die Erklärung des in den mechanistischen Theorien nicht oder k a u m differenzierten Gefälles unter Einschluß der mittelbaren und unmittelbaren Motivationen, führte die Entwicklung von Typologien über diese ältere Wanderungstheorie hinaus. Ansätze hierzu finden sich bereits sowohl bei den Brüdern Kulischer als audi bei Burgdörfer, ohne daß sie ausformuliert wurden. Den jüngsten Versuch einer allgemeinen Typologie legte William Petersen 2 7 auf def Grundlage verhaltenstheoretischer Betrachtung vor. Aus der Zuordnung von Interaktionstypen zu Verhaltensnormen entwickelt, entstand hier ein Schema, das jedoch in seiner Allgemeinheit unverbindlich bleiben mußte, zumal auch der Gegensatz konservativer und innovatorischer Verhaltensweisen austauschbar erschien. Z w a r lassen sich hier alle Wanderungsbewegungen irgendwie einordnen, aber ihre soziologischen und ökonomischen Bezüge sind nur unbefriedigend differenzierbar. Eine solche allgemeine Typologie trägt also ebenfalls zur Erkenntnis singulären Geschehens nur wenig bei. Auch auf der Grundlage des Ausgleichs regionaler sozio-ökonomischer Ungleichgewichte führte notwendig nur die Herstellung der geschichtlichen Bezüge weiter. Einen Ansatz historischer Betrachtungsweise bot unter ausdrücklicher Berufung auf Mackenroth bereits Rudolf Heberle, ausgehend von den allgemeinen institutionellen Bedingungen. Eine ausgeführte raumzeitliche Typologie erarbeitete dann Peter Marschalck 2 " anhand einer Untersuchung der deutschen Uberseewanderung des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage eines theoretischen Ansatzes, der sowohl Ipsens Andeutung der kurzfristigen Entspannung aufnimmt und den Bezug zur Theorie der generativen Strukturen Mackenroths herstellt als auch versucht, die Problematik der Ungleichgewichte zu differenzieren und so zu einer integralen Betrachtung der Strukturen, Motivationen und Konsequenzen zu führen, die Daten also sozialgeschichtlich zu synchronisieren. Die dort gleichsam nebenbei formulierte Folgerung, daß nicht nur bestimmte Bevölkerungsweisen, sondern auch bestimmte Wanderungsweisen geschichtlichen Phasen zugeordnet werden können, bestätigt meine früher vor allem an H a n d von Binnenwanderungsuntersuchungen gewonnene A u f f a s s u n g der Interdependenz von Bevölkerungsweisen und Wanderungstypen 2 9 . Es ist aber hervorzuheben, daß es sich hier ebenfalls nicht um Kausalbezüge, sondern um Ausdrucksanalogien handelt, die Wanderungsweise also wie Bevölkerungsund Wirtschaftsweise Teil eines integralen Sozialprozesses ist. Wird bereits aus solcher Betrachtung die Wanderungstheorie in die historischsoziologische Bevölkerungstheorie eingebunden, so ist darüber hinaus die Problematik des Einflusses auf den Wandel der generativen Strukturen aufzugreifen 3 0 . Ipsens Annahme kurzfristiger Entspannung bezieht sich nur auf die Ausgangsbevölkerung. Hier bedeutet in der T a t die Entlastung durch A b w a n derung in entsprechender Größenordnung infolge fühlbarer Verringerung des

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Bevölkerungsdrucks notwendig ein stabilisierendes, konservierendes oder zumindest retardierendes Moment im Ablauf von Prozessen generativen Strukturwandels wie im Ablauf von Prozessen gesellschaftlicher Entwicklung. Deswegen sind Verlustberechnungen, wie sie etwa Burgdörfer durchführt 31 , verfehlt. Sie gehen von der irrealen Annahme aus, daß wachsende Übervölkerung ohne Einfluß auf die Elemente einer generativen Struktur bleibt, ohne zu beachten, daß bei Überschreitung der Grenzen des Nahrungsspielraumes Reduktionen notwendig eintreten müssen, sei es auch nur in der Form der Mehrsterblichkeit infolge von Unterernährung. Differenzierter sind die Einflußmöglichkeiten in der Bevölkerung des Zielgebiets, ebenfalls unter der Voraussetzung eines entsprechenden quantitativen Einflusses, anzusetzen. Da es sidi hier um unausgefüllte oder gar wachsende Nahrungsspielräume handelt, stabilisiert oder forciert die Zuwanderung eine auf Anpassung gerichtete bestehende Bevölkerungsweise, oder sie überformt durch Konservierung der Bevölkerungsweise der Ausgangsbevölkerung die generative Struktur der Zielbevölkerung, wenn das wirtschaftliche Wachstum des Zielraumes wesentlich durch sie bedingt ist. Im Extremfalle der Uberlagerung zweier Wirtschaftsweisen, wie sie etwa durdi das Vordringen bäuerlicher Siedler in von Jägern und Sammlern besetzte Räume gegeben sein kann, führt Zuwanderung audi zur Reduktion der Vorbevölkerung, weil hier ein sich ausweitender Nahrungsspielraum einen bestehenden, beide bezogen auf dieselbe Region, einengt. Wesentlich dürften aber die konservierenden und stabilisierenden Effekte sein, so daß im Zielgebiet wie im Ausgangsgebiet die Prozesse generativen Strukturwandels verzögert werden. Im Gegensatz zum Ausgangsgebiet führt aber im Zielgebiet die Wanderung nicht zur Stabilisierung bestehender Gesellschaft, sondern beschleunigt Prozesse gesellschaftlichen Wandels; es entsteht also ein „timelag" von wenigstens einer Generation zwischen gesellschaftlicher und generativer Strukturveränderung. Unter den Aspekten der allgemeinen Bevölkerungstheorie wie der Wanderungstheorie gewinnt die bevölkerungsgeschichtlidie Forschung im Rahmen der Demographie erhöhte Bedeutung. Zwar haben die Theoretiker seit jeher geschichtliches Material als Beleg ihrer Auffassungen herangezogen, aber dies beschränkt sich, bedingt schon durch die Kenntnisse, auf eher zufällige Äußerungen und Funde. Für die Geschichtswissenschaft, audi f ü r die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, blieben, obwohl gerade in Deutschland Karl Julius Belodi bereits 1886 mit seinen bahnbrechenden Untersuchungen zur „Bevölkerung der griechisch-römischen Welt" hervortrat, Volkszahl und Bevölkerungsbewegung Randerscheinungen. So wurde die etwa auf der Grundlage ihrer Wanderungstheorie entwickelte Theorie der Weltgeschichte Alexander und Eugen Kulischers von der Fachhistorie ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die bevölkerungsgeschichtlichen Ausführungen Gunther Ipsens. Dies änderte sich erst in jüngster Zeit im Zuge der Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses historischer Forschung. Vor allem in Frankreich regte die Historikerschule der „Annales" bevölkerungsgeschichtliche Untersuchungen an. Dort bildet die historische Demographie unter dem Einfluß der Arbeiten Louis Henrys, der als erster

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Entwicklung und Stand demographischer Forschung

genealogisches Material demographisch auswertet 32 , und Philippe Gouberts 33 bereits einen eigenständigen Forschungszweig. Von ihr empfing und empfängt die internationale bevölkerungsgeschichtliche Forschung ebenso entscheidende Impulse wie von der quantifizierenden Nationalökonomie. Indem sie zur Erkenntnis der Bedingungen und Prozesse geschichtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels ebenso beiträgt wie zur Erkenntnis der Bedingungen und Prozesse generativen Strukturwandels und der Wanderungen, erfüllt also die Bevölkerungsgeschichte eine doppelte Funktion: Einbezogen in die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte untersucht sie ein entscheidendes Element in den Konstellationen gesellschaftlichen Gefüges; einbezogen in die Demographie liefert sie in langfristiger Beobachtung empirische Grundlagen zur Beurteilung theoretischer Aussagen und zur Analyse des gegenwärtigen Zustandes. Dies gilt audi im Hinblick auf Prognosen zukünftiger Entwicklung und bevölkerungspolitische Maßnahmen, die positiv oder negativ auf Veränderung der Elemente generativer Strukturen, vornehmlich der Fruditbarkeitsstruktur, gerichtet sind. In diesem Ziel der Umsetzung historischer und theoretischer Erkenntnisse in politisches Handeln zur Bewältigung gegenwärtiger Probleme mit Blick auf die Z u k u n f t bestätigt sich die Aktualität demographischer Forschung erneut.

Genealogische Materialien in Deutschland als Grundlagen bevölkerungsgeschichtlicher Forschungen Die genealogische Forschung in Deutschland hat bereits im 19. Jahrhundert über den zweckbedingten Ahnennachweis adeliger Häuser hinausgegriffen. Das in der Romantik neugeweckte Bewußtsein der Geschichtlichkeit und ein daraus resultierendes neues Interesse an der Geschichte führten zur Entstehung erster großer Stammtafelwerke 1 , die, wie die „Genealogischen Tabellen zur Erläuterung der europäischen Staatengeschichte" des Hallenser Professors Traugott Gotthold Voigtei von 1811, zunächst durchaus nur als Hilfsmittel der allgemeinen Geschichtsforschung gedacht waren. Deshalb befaßten sich solche Tafelwerke vor allem mit den Ahnentafeln der regierenden Häuser und des Adels, aber bald entstanden auch erste Genealogien für Gründer bürgerlicher Geschlechter, in denen nicht zuletzt das soziale Selbstbewußtsein bürgerlicher Oberschichten einen Ausdruck fand. Der 1869 in Berlin begründete Verein „Herold", der sich mit einer eigenen Zeitschrift vor allem bemühte, „den Sinn f ü r Familiengeschichte in bürgerlichen Kreisen zu fördern" 2 , stieß auf das Interesse weiter Kreise auch der im Zuge der Industrialisierung sozial aufgestiegenen Bürgerlichkeit. Aber auch erste Stammtafeln bäuerlicher Familien wurden dort erarbeitet. Neben dem Berliner Verein entstanden regionale Vereine und Gesellschaften konfessioneller oder sozialer Sondergruppen, so die Gesellschaft f ü r jüdische Familienforschung in Berlin und der Verein f ü r bäuerliche Sippenkunde in Goslar. Auf der Grundlage eines privaten Vereins wurde 1904 die „Zentralstelle f ü r deutsche Personen- und Familiengeschichte" als eine gemeinnützige rechtsfähige Stiftung errichtet. Sie betreute nicht nur überregionale Publikationen, sondern richtete auch eine Bibliothek der vielfältigen genealogischen Veröffentlichungen, vor allem der Periodika, ein und sammelte darüber hinaus personen- und familiengeschichtliches Quellenmaterial. Zugleich fungierte sie als Auskunftsstelle. Hervorzuheben ist die von dieser Zentralstelle in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bücherei in Leipzig regelmäßig herausgegebene familiengeschichtliche Bibliographie. Während diese Vereine und Unternehmungen eine erste Blüte genealogischer Forschung in Deutschland meist auf privater Grundlage und aus laienhaftem historischem Interesse brachten, entwickelte sich gleichzeitig durch Ottokar Lorenz und Stefan Kekule von Stradonitz die Genealogie zu einer systematischen Wissenschaft. Dabei förderte Lorenz vor allem die „Tafel-Genealogie, ausgerichtet auf das Individuum" 3 , während Kekule als „die genealogische Einheit, gewissermaßen die genealogische Zelle, aus der die Grundformen der Genealogie entstehen" 4 , die Zweigenerationenfamilie (Eltern und Kinder) ansprach und von hier aus erneut den Zugang zur Erfassung ganzer Sippen und Sippenver2

Köllmann, Bevölkerung

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Genealogische Materialien in Deutschland

bände gewann. In dieser Ausformung f a n d die Genealogie Eingang in die Universitätslehre. Im Rahmen der an den meisten Universitäten vertretenen Historischen Hilfswissenschaften, wenn audi nicht überall und nicht regelmäßig, gelesen, dient sie dort vor allem der erweiterten methodischen und fachlichen Ausbildung interessierter Studenten der Geschichtswissenschaft, während die genealogische Forschung bis zur Gegenwart fast immer von privat Interessierten betrieben wird. Es soll nicht verschwiegen werden, daß solche genealogischen Arbeiten durch die „Rassenideologie" des „Dritten Reiches" gefördert wurden. Mit der Gründung einer Reidisstelle für Sippenforschung 1933, die später zum Reichssippenamt ausgebaut wurde, und mit der Verfälschung zu einer „Sippenkunde als völkischer Wissenschaft", die der Erforschung von verwandtschaftsbedingten „Blutseigenschaften" dienen sollte 5 , wurde Ahnenforschung zum Bestandteil jener unheilvollen nationalsozialistischen Rassenpolitik, die in der Vernichtung von Millionen von Menschenleben endete. Dieser unwissenschaftliche und ahistorische Biologismus führte zur Forderung des „Ariernachweises", der durch Ahnentafeln, die mindestens drei Generationen zurückerfaßten und in deren Angaben mehr Wert auf „Eigenschaften" als auf Daten gelegt wurde, erbracht werden mußte. Erst nach dem 2. Weltkrieg konnte die genealogische Fachwissenschaft an ihre älteren Traditionen erneut anknüpfen. Diese hier nur kurz skizzierte Entwicklung der Genealogie in Deutschland hat dazu geführt, daß eine Vielzahl genealogischer Daten in aufgearbeiteten Editionen dem Forscher aus anderen Fachgebieten zur Verfügung gestellt werden kann, so daß er nicht mehr auf das Urmaterial, also vor allem auf Kirchenbücher und Standesregister, wie sie in einigen Teilen Deutschlands seit 1810, im gesamten Reichsgebiet seit 1876 geführt wurden, zurückgreifen muß. Neben der Geschichtswissenschaft bedienten sich vor allem Soziologie und Genetik genealogischen Materials. Schon Kekule hatte die Genealogie als eine Hilfswissenschaft der Vererbungslehre® gekennzeichnet, während vor allem Friedrich von Klocke und H e r m a n n Mitgau die Verbindungen zur Soziologie mit Fragestellungen wie der Problematik der Entstehung und des Wandels sozialer Eliten und der Problematik der Heiratskreise 7 betonten. Vor allem Familiensoziologie und Biostatistik greifen notwendig auf genealogische Materialien zurück und erweitern zugleich die genealogischen Erhebungen durch ihre Fragestellungen 9 . Ähnlich befruchtend wirkte die Genealogie auf bevölkerungsgeschichtliche Untersuchungen. Vor allem siedlungshistorische und wanderungshistorische Arbeiten bedienten sich genealogischen Materials*. Allerdings beschränkte sich die Auswertung auf die beschreibende Darstellung einzelner Familiengeschichten oder sozialer Gruppen; sie bewegte sich weitgehend im Vorfeld demographischer Forschungen, zumal ihre Fragestellungen nicht auf Struktur und Entwicklung von Bevölkerung oder Teilbevölkerungen, sondern auf Einzel- oder Familienschicksale gezielt waren. Dabei bietet sich das von der Genealogie erarbeitete Datenmaterial f ü r eine solche systematische, auf Struktur und Prozesse der Strukturveränderung gerichtete Auswertung geradezu an.

Genealogische Materialien in Deutschland

19

Aus der Vielzahl genealogischer Editionen sind vornehmlich drei zu erwähnen: die „Gothaischen genealogischen Taschenbücher" (kurz „ G o t h a " benannt), das „Deutsche Geschlechterbuch" und die Dorfsippenbücher. 1. D i e „Gothaischen genealogischen Taschenbücher" sind das älteste dieser großen Sammelwerke. Zuerst als H o f k a l e n d e r konzipiert, erschien das „ T a schenbuch der fürstlichen H ä u s e r " seit 1765. Als zweite Reihe k a m seit 1825 das „Taschenbuch der gräflichen H ä u s e r " , als dritte seit 1848 das „Taschenbuch der freiherrlichen H ä u s e r " , als vierte seit 1900 das „Taschenbuch der adeligen H ä u s e r " für den ritterbürtigen Uradel und als fünfte seit 1907 das „Taschenbuch der briefadeligen H ä u s e r " heraus. Seit 1951 wird der „ G o t h a " als „Genealogisches Handbuch des Adels, bearbeitet unter Aufsicht des Ausschusses für adelsrechtliche Fragen der Deutschen Adelsverbände in Gemeinschaft mit dem Deutschen Adelsarchiv" in vier Reihen — fürstliche, gräfliche, freiherrliche und adelige Häuser — fortgesetzt. Er zeigt B a n d f ü r Band nur den Familienstand der jeweils lebenden Familienangehörigen in genealogischem Zusammenhang auf, gibt also keine vollständigen Nachfahrentafeln des „ S t a m m v a t e r s " . Eine solche vollständige Tafel läßt sich nur durch den Vergleich der einzelnen Bände herstellen. D i e Stammtafeln gehen dementsprechend nicht weit zurück. Die Geschichte der Geschlechter vor dem Zeitpunkt der A u f n a h m e wird lediglich durch eine „urkundlich nachgewiesene Stammreihe, die möglichst weit zurück geht, mindestens aber vom Diplomerwerber abwärts lückenlos ist und den Zusammenhang der Linien zeigt", dargestellt 1 0 . An für demographische Forschungen interessierenden Daten wurden aufgenommen: Geburtsort und -datum, O r t und D a t u m der standesamtlichen und kirchlichen Eheschließung, Sterbeort und -datum. Die Grunddaten für demographische Untersuchungen liegen demnach für die Einzelpersonen vor. D a außerdem Angaben über Beruf, Titel und Grundbesitz aufgeführt werden, läßt sich auch die Problematik der sozialen Mobilität im Zusammenhang mit dem generativen Verhalten für diese soziale Sondergruppe des Adels aufgreifen. Allerdings erfordert eine demographische Auswertung zunächst die Rekonstruktion der Einzelfamilien aus den verschiedenen Bänden des Taschenbuchs. Zudem werden Aussagen erst mit der Aufnahme der Familie in den „ G o t h a " erlaubt, weil nur von diesem Zeitpunkt ab die vollständigen Angaben vorliegen. D a s bedeutet, daß wesentlich nur das 19. und 20. Jahrhundert erfaßt werden kann. Andererseits sind die Daten gesichert und weitgehend vollständig, können also jederzeit als Grundlage demographischer Untersuchungen im Sinne der Arbeiten von Louis Henry, C l a u d e L e v y und Τ . H . Hollingsworth dienen". Nachdem bis 1934 7647 Genealogien dieser Art veröffentlicht waren, liegen in den 25 Bänden der Nachkriegszeit, die bis 1961 erschienen, 2150 Stammfolgen vor, die auf den neuesten Stand gebracht, ergänzt und erweitert wurden. 2. Neben dem „ G o t h a " ist das „Deutsche Geschlechterbuch" als „Genealogisches Handbuch bürgerlicher Familien" das umfangreichste genealogische Sammelwerk. 1889 durch den Verein „ H e r o l d " begründet, stellt es eine Sammlung privat erarbeiteter Genealogien dar, wobei die Anregung und wissenschaftliche 2·

20

Genealogische Materialien in Deutschland

Beratung vor allem durch die Vereine für Familienforschung geleistet werden. Die Edition erfolgt unter Leitung eines fachkundigen Redaktionskomitees, das vor allem im Verein mit dem für jeden einzelnen Band zuständigen Bearbeiter die einheitliche Aufbereitung und Darstellung des Materials leistet, während die Materialsammlung und -aufbereitung zunächst durch die Familie selbst, bzw. durch von ihr beauftragte Bearbeiter durchgeführt wird. Die Grundsätze der Aufnahme veränderten sich seit Beginn der Edition. Während zunächst vorgesehen war, „daß nur gebildete Familien, welche den guten Ständen angehören, Aufnahme finden" 12 , wurde dieses elitäre Auswahlprinzip bereits nach dem 1. Weltkrieg aufgegeben: „Im Sinne wahrer Volksgemeinschaft, die letzten Endes auf dem gemeinsamen deutschen Blute begründet ist, hat das ,DGB' allen Schichten unseres Volkes seine Spalten geöffnet. Neben Kaufherren und Gelehrten, neben Künstlern und Geistlichen sind alle schaffenden Berufe vertreten." 13 Damit war allen an der Geschichte ihrer eigenen Familie Interessierten, die zudem Zeit und Kosten für die Bearbeitung aufbringen konnten, die Möglichkeit der Publikation ihrer Stammfolge gegeben. Dieses Prinzip wurde grundsätzlich auch in der seit 1955 beginnenden „Neuen Reihe" beibehalten. Diesem Wechsel des Editionsprinzips entsprach, daß nicht mehr, wie in den ersten Jahrzehnten, in allgemeinen Bänden Stammfolgen von Familien aus allen Teilen Deutschlands publiziert wurden, sondern regionale Reihen entstanden, die bürgerliche Familien einer Landschaft oder einer Stadt in ihrem Zusammenhang aufzeigten. Von den bisher erschienenen 144 Bänden sind 39 allgemeine und 104 Regionalbände. Dabei handelt es sich regelmäßig um einmalige Veröffentlichungen vollständiger Stammbäume, in denen die gesamte Nachkommenschaft auch der Töchter des frühest feststellbaren Vorfahren aufgeführt ist. Als Baustein der Stammtafeln gilt die genealogische Einheit, d. h. die Zweigenerationenfamilie. Die rund 3500 Stammfolgen, die bis heute publiziert sind, umfassen im Schnitt eine Geschlechterfolge von 11—-12 Generationen, so daß das Material bis in das 16. Jahrhundert zurückreicht. An demographischen Daten werden Geburts-, Heirats- und Sterbedatum und -ort gegeben, dazu ausführliche Berufsangaben, aus denen auch gegebenenfalls ein Ortswechsel hervorgeht, so daß sich Wanderungen ebenfalls verfolgen lassen. Die Zufälligkeit der vom persönlichen Interesse abhängenden Aufnahme in das Deutsche Geschlechterbuch schränkt seine Brauchbarkeit als Materialgrundlage für demographische Forschungen nicht ein. Da selbst in den frühen Bänden nur die bürgerliche Stellung dessen, der die Aufnahme beantragte, maßgebend war, wenn auch, dem elitären Charakter der Auswahl entsprechend, wenigstens drei Generationen in „achtbaren, angesehenen Stellungen in der betreffenden Stadt oder Landschaft gelebt" 14 haben sollten, so ergibt doch die Aufnahme möglichst aller Nachfahren eines 10 oder mehr Generationen zurückliegenden Stammvaters, gleichgültig in welcher sozialer Stellung sie sich befanden oder befinden, einen Querschnitt der sozialen Gruppen, der weit über den bürgerlichen Bereich hinausreicht. Dies läßt die beigegebene Tabelle erkennen, aus

Genealogische Materialien in Deutschland

21

der die breite Streuung der Berufsgruppen der in den niedersächsischen Bänden veröffentlichten Genealogien deutlich wird. Zwar stellen die bürgerlichen Berufsgruppen den Kern, aber neben den bürgerlichen Ober- und Mittelschichten und dem Kleinbürgertum der Handwerker und Kleingewerbetreibenden sind die unterbürgerlichen Schichten ebenso vertreten wie die agrarischen Schichten. Eine solche Streuung läßt erwarten, daß das demographische Verhalten aller dieser Schichten in seinem Wandel mit ausreichender Genauigkeit erfaßt werden kann. Problematischer als die soziologische Gruppierung ist der Grad der Vollständigkeit der Angaben zu einzelnen Familien innerhalb eines Stammbaumes. So wird das Material für das 16. und 17. Jahrhundert recht lückenhaft, weil die Unterlagen, aus denen es erarbeitet wurde, keine genauen Daten mehr geben. Fraglich ist audi, ob in den früheren Zeiten Totgeborene oder im Säuglingsalter verstorbene Kinder erfaßt sind. Bereits im 18. Jahrhundert dürfte aber ein hoher Vollständigkeitsgrad erreicht sein, so daß demographische Untersuchungen in dieser Zeit ansetzen können, ohne daß befürchtet werden muß, ihre Ergebnisse seien wegen der Lücken- und Fehlerhaftigkeit des Materials nur Zufallsaussagen. 3. Die Dorfsippenbücher entstanden aus dem vor allem in den 20er Jahren bereits vom „Verein für bäuerliche Sippenkunde" vertretenen Gedanken einer „Volksgenealogie". Dabei handelt es sich nicht um Ahnen- oder Nadifahrentafeln vollständiger Familien, sondern nur um eine Auswertung von Kirchenbüchern und weiteren Quellen, „die sämtliche Familien- und Einzelpersonen des einzelnen Dorfes mit ihren nachweisbaren Lebensdaten . . . hervorholen, in genealogischer Ordnung bringen" 1 5 sollen. Aus ihnen läßt sich also die Bevölkerungsgeschichte eines Ortes erstellen. Im Grunde handelt es sich dabei also um Verkartung von Kirchenbüchern und die Neuordnung der Karten nach Familien und Einzelpersonen. Vor 1945 sind insgesamt 37 solcher Dorfsippenbücher gedruckt worden. Diese Arbeiten werden ebenfalls nach dem Kriege fortgesetzt. Angeregt durch die Arbeiten von Louis Henry und Τ. H . Hollingsworth, sowie durch die noch laufende Untersuchung von D. E. C. Eversley zur Bevölkerungsgeschichte der Quäker, ist in Bochum von einer Forschungsgruppe mit der demographischen Auswertung dieses genealogischen Materials begonnen worden. Unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die 1969 mit einem Schwerpunktprogramm „Demographie" begann, sollen der Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel und dem Wandel generativer Strukturen im Zeitalter der Industrialisierung sowie die Problematik einer vorindustriellen und industriellen Bevölkerungsweise und des schiditenspezifischen Strukturwandels, die Mackenroth theoretisch entwikkelt hat 19 , empirisch überprüft werden. Als Materialgrundlage werden die Stammtafeln des Deutschen Geschlechterbuches genommen, weil sie die besten Einblicke in das Bevölkerungsverhalten

22

Genealogische Materialien in Deutschland LH Ν

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Ausländer in °/o

118

Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage" Einwohner davon: Ortsinsgesamt NahFern(in gebürtige wanderer 8 wanderer Tausend) in °/o in °/o in °/o

Ausländer in °/o

Dresden Leipzig Chemnitz Plauen Halle/Saale Mitteidt. Industriegebiet

512,2 505,0 260,8 108,6 172,1 1 046,5

43,0 45,2 44,8 44,4 40,6 44,3

35,8 40,8 45,3 41,8 44,1 42,5

16,3 10,7 4,9 8,2 14,4 9,6

4,8 3,3 4,9 5,6 1,0 3,5

Kiel Altona Hamburg Bremen Hafenstädte

175,5 167,6 826,7 221,4 1 391,2

32,2 40,3 48,2 52,0 45,8

30,5 31,2 22,2 26,6 25,0

35,6 26,5 26,4 17,2 26,1

1,7 2,0 3,2 4,2 3,1

Magdeburg Braunschweig Hannover Erfurt Kassel

239,3 136,7 246,6 100,2 141,2

44,7 46,2 38,6 46,4 36,3

36,6 39,3 35,2 39,9 36,3

18,0 12,8 24,6 12,8 26,0

0,8 1,7 1,6 0,9 1,3

Gelsenkirchen Dortmund Bochum Essen Duisburg Ruhrgebiet

154,6 188,8 125,9 242,2 204,3 915,8

38,6 41,9 36,5 46,6 48,6 43,3

28,5 30,7 39,8 30,8 31,1 31,7

31,2 25,1 22,2 20,3 13,7 22,0

1,7 2,2 1,4 2,2 6,6 3,0

Elberfeld Barmen Wuppertal

162,5 158,5 321,0

56,8 62,3 59,4

28,3 27,0 27,7

13,4 9,5 11,5

1,5 1,2 1,4

Krefeld Aachen Niederrheingebiet

110,6 150,3 260,9

60,6 65,4 63,3

31,4 24,7 27,5

6,1 5,7 5,9

1,9 4,1 3,2

Düsseldorf Rheinisch-Westfälisdies Industriegebiet Köln

262,5

41,6

30,0

25,3

3,1

1 760,2 436,5

49,0 49,7

30,1 34,7

18,1 14,5

2,7 2,1

106,6 341,2 171,6

34,1 37,6 41,8

32,2 30,3 37,7

29,4 29,5 18,2

4,2 2,6 2,3

Wiesbaden Frankfurt a. M. Mannheim

Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage" Einwohner

davon:

insgesamt (in Tausend)

119

Orts-

Nah-

Fern-

Aus-

gebürtige wanderer" wanderer in °/o in «/ο in °/o

länder in °/o

Rhein-Main-Gebiet

619,4

38,2

32,7

26,3

2,8

Karlsruhe Stuttgart Nürnberg

119,7 253,5

36,5 41,5

39,1 45,3

21,3 10,4

3,2 2,8

301,3 533,3

47,0 40,5

39,7

11,2

2,2

München"

31,6

23,2

4,6

Straßburg

162,8

41,6

28,6

26,5

3,4

11 792,0

42,4

32,0

22,9

2,7

Großstädte insgesamt

Quelle: StDR, Bd. 210/11; Wanderer zwischen den einzelnen Großstädten eines Agglomerationsgebietes sind stets zu den „Nahwanderern" gezählt, weil sie sich nicht ausgliedern lassen. * „Nahwanderer" sind im allgemeinen Zugezogene aus der gleichen Provinz bzw. dem gleichen Land; Ausnahmen: Stadt/Agglomerationsbereich

Nahwanderungbereich

Berlin Mitteldeutsches Industriegebiet

Provinz Brandenburg Kgr. Sachsen Provinz Sachsen Thüringen

Altona

Provinz Schleswig-Holstein Hamburg

Hamburg

Provinz Schleswig-Holstein Provinz Hannover Provinz Hannover Oldenburg

Bremen Braunschweig

Braunschweig, Anhalt Provinz Sachsen Provinz Hannover

Ruhrgebiet Wuppertal

Provinz Rheinland Provinz Westfalen

Frankfurt/Wiesbaden

Provinz Hessen-Nassau Großherzogtum Hessen

Mannheim

Rheinpfalz, Baden Württemberg

b

Von den Fernwanderern sind (in %>):

Berlin Charlottenburg Rixdorf Schöneberg Agglomeration Berlin c

Nordostdeutsche

Pommern

Schlesier

sonstige

14,1 15,2 10,9 13,3 13,9

6,3 6,4 5,2 6,2 6,3

7,1 7,7 6,1 7,5 7,1

11,6 15,6 10,7 18,1 12,3

Von den Fernwanderern (23,3°/o) sind: Nordbayern 15,3°/o, sonstige 8°/o.

120

Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage"

Tab. 3: Daten zur Herkunftsstruktur der Bevölkerung für 5 ausgewählte Großstädte (1907) München Königsberg"

Düssel- Chemnitz Gelsendorf kirchen

Einwohner insgesamt davon: vom Landeb je 100 Einwohner aus anderen Städtenb je 100 Einwohner Berufstätige und -zugehörige Industrie und Bergbau (B) je 100 Einwohner

533 253

221 347

262 474

260 795

154 585

174 128 32,6 118 289 22,3

90 138 40,7 38 310 17,3

48 204 18,4 97 030 36,9

50 870 19,5 80 189 30,7

47 181 30,5 45 091 29,2

224 358 42,1

89 104 40,3

150 777 57,4

171 208 65,6

119 839 77,5

Handel und Verkehr (C) je 100 Einwohner öffentliche Dienste/ Freie Berufe (E) je 100 Einwohner Ortsgebürtige je 100 Einwohner

142 516 26,7

60 158 27,2

59 210 22,6

52 362 20,1

16 561 10,7

61 801 11,6 216 203 40,5

16 296 7,4 90 339 40,8

20 658 7,9 109 034 41,6

8 520 3,3 116 876 44,8

4 830 3,1 59 612 38,6

168 891 31,6 123 626 23,2

111 912 50,5 16 563 7,5

78 926 30,0 66 308 25,3

118 229 45,4 12 830 4,9

44 019 28,5 48 253 31,2

81 200 15,3 1 382 0,3 41 044 7,7 24 633 4,6 230 244 43,6

55 0,0 6 321 2,9 10 187 4,8 2 560 1,2 90 815 40,7

1 543 0,6 8 367 3,2 56 398 21,5 8 206 3,1 101 452 38,6

1 653 0,6 1 168 0,4 10 009 3,8 12 860 4,9 115 844 44,4

290 0,2 34 325 22,2 13 638 8,8 2 701 1,7 50 018 32,4

27,1 39,5 27,8 18,3 0,3 9,2

29,8 58,7 9,9 0,0 3,5 6,4

29,1 32,4 33,6 0,9 4,7 28,0

31,0 53,4 7,8 0,8 0,7 6,3

13,9 34,0 48,9 0,4 32,8 15,8

Nahwanderer je 100 Einwohner Fernwanderer je 100 Einwohner davon: Nordbayern je 100 Einwohner Nordostdeutsche je 100 Einwohner sonstige Deutsche je 100 Einwohner Ausländer je 100 Einwohner Arbeitskräfte insgesamt" je 100 Einwohner je 100 Arbeitskräfte waren: Ortsgebürtige Nahwanderer Fernwanderer Nordbayern Nordostdeutsche sonstige Deutsdie

Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage"

München Königsberg*

121

Düssel- Chemnitz dorf

Gelsenkirchen

5,6 17,1 9,8

1,6 13,4 7,7

4,9 14,4 11,7

7,9 13,8 11,5

3,2 7,5 6,0

14,3 41,2 50,5

17,9 39,1 54,7

9,8 35,9 61,2

7,4 32,7 66,2

3,9 17,4 81,2

100 Selbständige (B + C) waren: Ortsgebürtige Nahwanderer Fernwanderer Nordbayern Nordostdeutsche sonstige Deutsche Ausländer 100 Angestellte (B + C) waren:

23,3 36,0 33,1 19,4 0,6 13,1 7,6

26,0 61,3 9,6 0,1 3,3 6,3 3,1

26,4 37,2 33,0 0,9 2,6 29,5 3,4

23,6 61,5 9,1 1,1 0,9 7,1 5,8

12,5 55,6 29,0 0,4 10,4 18,2 2,9

Ortsgebürtige Nahwanderer Fernwanderer Nordbayern Nordostdeutsdie sonstige Deutsche Ausländer

34,3 26,1 33,9 18,9 0,5 14,6 5,7

37,1 42,9 18,0 0,1 6,4 11,5 2,0

24,8 31,8 39,8 1,2 2,5 36,2 3,5

37,3 49,7 9,2 0,8 0,7 7,6 3,8

15,3 55,7 27,2 0,5 7,3 19,5 1,8

100 öffentliche Dienste/ Freie Berufe (E) waren Ortsgebürtige Nahwanderer Fernwanderer Nordbayern Nordostdeutsche sonstige Deutsche Ausländer

18,9 40,0 37,0 24,0 0,5 12,5 4,2

13,7 59,6 25,0 0,1 6,8 18,1 1,7

15,0 36,1 45,5 0,6 4,1 40,8 3,4

14,9 73,6 9,5 1,0 1,0 7,6 2,0

9,4 56,5 32,6 0,5 9,5 22,6 1,5

: 100 „Bürgerliche" waren: Ortsgebürtige Nahwanderer Fernwanderer Nordbayern Nordostdeutsche sonstige Deutsche Ausländer

24,4 35,0 34,7 20,9 0,5 13,4 6,0

22,5 57,0 18,3 0,1 5,5 12,7 2,2

22,7 35,2 38,6 0,9 3,0 34,7 3,5

26,5 60,0 9,2 1,0 0,9 7,4 4,3

12,8 55,8 29,2 0,4 9,1 19,6 2,2

Ausländer Selbständige (B + C) Angestellte (B + C) öffentliche Dienste/ Freie Berufe (E) „Bürgerliche" insgesamt Arbeiter (B + C)

122

Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage" München Königsberg"

je 100 Arbeiter (B + C) waren: Ortsgebürtige Nahwanderer Fernwanderer Nordbayern Nordostdeutsche sonstige Deutsdie Ausländer 100 Dienstboten im Haushalt waren: Ortsgebürtige Nahwanderer Fernwanderer Nordbayern Nordostdeutsche sonstige Deutsche Ausländer 100 Ortsgebürtige Arbeitskräfte waren: Selbständige (B + C) Angestellte (B + C) öffentliche Dienste/ Freie Berufe (E) „Bürgerliche" Arbeiter (B + C)

Düssel- Chemnitz dorf

Gesenkirchen

30,7 41,3 22,2 16,6 0,2 5,4 5,6

35,4 58,7 4,6 0,0 2,0 2,6 1,3

32,6 30,5 31,1 0,9 5,7 24,5 5,8

33,2 51,2 5,9 0,8 0,6 4,5 9,7

13,9 29,2 53,4 0,3 38,0 15,0 3,5

10,3 54,9 30,7 24,3 0,2 6,3 4,2

10,3 85,8 3,5 0,0 1,7 1,8 0,4

10,7 41,6" 45,0 0,5 5,2 39,3 d 2,7

18,1 69,2 6,2 1,0 0,5 4,7 6,6

19,7 41,8 36,9 0,4 2 7,7 8,9 1,7

14,9 12,5

11,7 9,6

13,1 10,0

10,5 13,9

6,7 6,6

10,1 37,5 57,6

8,2 29,5 65,5

5,0 28,1 68,9

3,5 27,9 71,0

2,6 16,0 81,5

13,9 5,6

16,6 11,4

15,9 10,7

12,3 9,9

18,3 37,8 54,6

10,9 38,9 57,7

10,1 36,7 63,5

6,4 28,7 70,0

13,0 14,0

14,1 13,8

16,1 13,5

4,5 3,4

45,3

13,2

9,0

2,6

100 nahgewanderte Arbeitskräfte waren: 15,7 Selbständige (B + C) 6,5 Angestellte (B + C) öffentliche Dienste/ 14,6 Freie Berufe (E) 36,9 „Bürgerliche" 54,5 Arbeiter (B + C) : 100 ferngewanderte Arbeitskräfte waren: 20,5 Selbständige (B + C) 12,0 Angestellte (B + C) öffentliche Dienste/ 19,2 Freie Berufe (E)

123

Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage"

München Königs- Düssel- Chemnitz berg* dorf „Bürgerliche" Arbeiter (B + C)

72,3 25,4

41,2 56,5

38,6 50,0

10,4 88,5

27,5 25,0

14,5 14,7

17,6 11,2

8,6 8,0

25,0 77,5 20,0

6,7 35,9 62,6

8,7 37,5 60,1

5,7 22,3 75,4

30,9 16,2

12,5 14,2

8,0 6,1

18,7 12,0

2,4 1,3

22,5 69,6 27,9

35,3 62,0 31,8

8,6 22,7 74,4

10,8 41,5 57,4

1,1 4,8 94,2

24,6 15,6

13,0 13,8

15,2 15,1

15,6 14,0

8,7 7,5

19,6 59,8 29,9

50,6 77,4 22,0

14,2 44,5 53,5

8,9 38,5 47,8

5,6 21,7 77,3

23,7 10,0

25,9 9,6

10,2 8,5

10,2 5,5

6,6 3,3

10,7 44,5 50,8

19,0 54,5 42,7

6,9 25,7 72,8

1,9 17,6 81,9

1,8 11,7 87,0

51,8 40,6

100 nordbayerischer Arbeitskräfte waren: Selbständige (B + C) 18,3 Angestellte (B + C) 10,2 öffentliche Dienste/ Freie Berufe (E) 18,9 „Bürgerliche" 47,3 Arbeiter (B + C) 46,0 100 nordostdeutsche Arbeitskräfte waren: Selbständige (B + C) Angestellte (B + C) öffentliche Dienste/ Freie Berufe (E) „Bürgerliche" Arbeiter (B + C) 100 sonstige deutsche Arbeitskräfte waren: Selbständige (B + C) Angestellte (B + C) öffentliche Dienste/ Freie Berufe (E) „Bürgerliche" Arbeiter (B + C) 100 ausländischer Arbeitskräfte waren: Selbständige (B + C) Angestellte (B + C) öffentliche Dienste/ Freie Berufe (E) „Bürgerliche" Arbeiter (B + C)

Gelsenkirchen

Quelle: S t D R , Bd. 210/11. " Alle Werte für die „Nordostdeutsdien" enthalten die Ostpreußen nidit, da diese hier „Nahwanderer" sind. b N u r Deutsche. c O h n e Land- und Fortwirtsdiaft (Berufsabteilung A ) ; bei den Werten „je 100" ist zu

124

d

Industrialisierung, Binnenwanderung und „Soziale Frage"

beaditen, d a ß außer den angegebenen Abteilungen B, C und Ε in der Gesamtsumme auch die Abteilung D (Häusliche Dienste) enthalten ist; die Aufrechnung k a n n also nie 100 ergeben. Die Dienstboten im Haushalt sind in der Gesamtsumme nicht enthalten. Bei Umgliederung der aus der Provinz Westfalen stammenden Dienstboten (23,2 %>) von der Fernwanderung zur N a h w a n d e r u n g w ü r d e der Nahwanderungsanteil auf 68,2°/» steigen, der Anteil der sonstigen Deutsdien auf 1 6 , 1 % sinken.

Der Prozeß der Verstädterung in Deutschland in der Hochindustrialisierungsperiode Der Prozeß beschleunigter Verstädterung, wie er sich in Deutschland nach der Mitte des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen beginnt, war eine Begleit- und Folgeerscheinung der Industrialisierung. Gewiß läßt sich bereits für das 18. Jahrhundert regional ein nicht unbeachtliches Anwachsen städtischer Bevölkerung feststellen, das im Einzelfalle durchaus auf die gewerbliche Entwicklung des Merkantilzeitalters zurückgeführt werden kann 1 , doch blieb diese ältere Zunahme städtischer Bevölkerungen in die Rechtsordnung „Stadt" eingebunden, die die soziale Stellung des Bürgertums im engeren Sinne sowie der Eximierten und der Schutzverwandten stabilisierte und sich infolge des an relativ hohe finanzielle und soziale Voraussetzungen gebundenen Erwerbs des Bürgerrechts und der nur mit Sonderprivileg (ζ. B. Freimeisterprivileg) zu durchbrechenden Enge der Zunftverfassung eher hemmend als fördernd auswirkte, so daß in diesem Zeitraum die gewerbliche Verdichtung agrarischer Gebiete (ζ. B. in Schlesien, Sachsen, Berg und Mark) bis hin zu Vorformen städtisch-gewerblicher Strukturen 2 bedeutender war. Sie schuf allerdings zugleich Standortbedingungen und Ansätze f ü r „neue" städtische Entwicklungen. Erst die Aufhebung der älteren Stadtverfassungen beginnend in der direkt oder indirekt von den revolutionären Neuordnungen in Frankreich wie von Wirtschaftsauffassungen des klassischen Liberalismus beeinflußten Reformperiode zu Anfang des 19. Jahrhunderts und fortgesetzt in den Städte- und Gemeindeordnungen der Jahrhundertmitte, die in Beseitigung älterer Sonderstellung audi in diesem Bereich die rechtliche Gleichheit aller Staatsbürger verfügte, beseitigte ebenso wie der schrittweise Abbau zuzugshemmender Bestimmungen jeder Art in Gewerbeordnungen und Verfassungen bis hin zur Reichsverfassung von 1871 die Hemmnisse städtischer Entwicklung, während sich gleichzeitig die älteren Formen gewerblicher Wirtschaft infolge der vom technischen Umbruch eingeleiteten Umgestaltung der Produktion zu den neuen Formen industrieller Wirtschaft wandelten. In Fortentwicklung von Gedanken Werner Sombarts 3 und Gottlieb Gasserts 4 hat Gunther Ipsen die Industrie als den eigentlichen Städtebildner der Neuzeit gekennzeichnet 5 . Indem der industrielle Standort als Träger primärer Leistungen sekundäre Leistungen, deren Träger „vor allem H a n d w e r k , Baugewerbe, Einzelhandel, Großhandel, Bankwesen, Verkehr, freie Berufe, kulturelle Betriebe, Gastwirts- und Versorgungsbetriebe, Verwaltung usw., all die Betriebe, die von einem Punkt ein mehr oder weniger großes Hinterland bedienen"®, voraussetzte oder bedingte, bedeutete das die Ausgewichtung industrieller und nichtindustrieller Stellen, wobei nach dem zum mindesten f ü r die Periode industriellen Ausbaus gültigen „Gesetz vom doppelten Stellenwert" 7 je 100 neu-

126

Verstädterung in Deutschland

geschaffener Stellen im „primären" Sektor 100 Folgestellen im sekundären Sektor mitgesetzt wurden. Stand das Städtewachstum in Deutschland in der Industrialisierungsperiode unter diesem „Gesetz", so wirkte sich die maßgebliche Rolle der Industrie in diesem Prozeß in einer Umgewichtung der städtischen Funktionen aus. Obwohl die Städte, allen voran die Großstädte, mit Ausnahme weniger neuer und ausschließlicher Industriesiedlungen weiterhin die Funktionen des zentralen Verwaltungs- und Handelsortes behielten, traten diese gegenüber der Funktion des zentralen Produktionsortes zurück. Die Industrie bemächtigte sich der Stadt und gestaltete sie um. Die demographischen Voraussetzungen des Verstädterungsprozesses entstanden in der Periode des industriellen Anfangs vor der Jahrhundertmitte, die durch eine steigende Diskrepanz von Arbeitskräftepotential und Arbeitsplatzangebot gekennzeichnet war®. Obwohl regional beachtliche Unterschiede auftraten, galt doch für das gesamte Gebiet des Deutschen Reiches von 1871, daß das Wachsen der Bevölkerungsüberschüsse von der gegebenen agrarischen und gewerblichen Wirtschaft nicht zu absorbieren war. Auch die Auswanderungen 9 brachten keine wesentlichen Entlastungen. Die Erscheinungen gravierender Übervölkerung, die ihren sozialen Ausdruck in steigender Massenverelendung (Pauperismus) fanden, wurden erst im Zuge der nach 1850 verstärkt einsetzenden Industrialisierung — der Rettung vor der Verelendung durch das Elend des frühindustriellen Arbeiterdaseins — allmählich abgebaut. Nicht zuletzt aber förderte das Anwachsen der eigentums- und nahrungslos entwurzelten Überschußbevölkerung die Bereitschaft zur Mobilität, zur Wanderung der Arbeit nach. Die Massenauswanderungen waren nur ein Symptom dieser neuen Mobilitätsbereitschaft, die in weit höherem Maße die Wanderung in die industriellen Standorte mit ihren neuen und ständig wachsenden Arbeitsplatzangeboten zur Folge hatte. Obwohl der Prozeß der Verstädterung bereits um die Jahrundertmitte einsetzte, vollzog er sich im wesentlichen zwischen 1871 und 1910. E r brachte eine Verlagerung der Reichsbevölkerung bis zur Verdoppelung des Anteils der städtischen Einwohnerschaft, lebten doch in den Gemeinden mit über 5 000 Einwohnern 1871 nur insgesamt 23,7 % , dagegen 1910 48,8 % der im Deutschen Reich Gezählten, während der Anteil der Landbevölkerung, einschließlich der in den ländlichen Märkten (Landstädten) Wohnenden von drei Vierteln auf die Hälfte der Reichsbevölkerung zurückging. Weitaus am stärksten stieg allerdings der Anteil großstädtischer Einwohnerschaft ( + 443 % ) , wobei berücksichtigt werden muß, daß in den meisten Fällen die Gemeindegrenzen, sobald die Agglomeration sie übergriff, entsprechende Korrekturen erfuhren 10 . Durch solche Eingemeindungen wurde versucht, eine relative Übereinstimmung der Gemeindegrenzen mit dem großstädtischen Agglomerationsbereich zu erzielen, sofern nicht, wie im Ruhrgebiet, audi diese erweiterten Großstädte nur Glieder eines städtischen Ballungsraumes bildeten. Dieser Raum extremer Verstädterung wurde, von einer Provinzgrenze zerschnitten, nie zu einer Verwaltungseinheit, während der Raum der Agglomeration Berlin 1920 durch Einge-

Verstädterung in Deutschland

127

Tab. 1: Verstädterung Deutschlands, 1871—1910 Gemeindegrößenklasse

Städte mit (über 100 000 Einwohnern) Städte mit (10 000 — u n t e r 100 000 Einwohnern) Städte mit (5000 — u n t e r 10 000 Einwohnern) Gemeinden mit (2000 — unter 5000 Einwohnern) Landgemeinden mit (unter 2000 Einwohnern)

Anteil der Einwohner an der Reichsbevölkerung (in % ) 1871 1910 4,8

21,2

7,7

13,4

11,2

14,1

12,4

11,3

63,9

39,9

Quelle: W. Köllmann, Bevölkerung und Raum in Neuerer und Neuester Zeit. Raum und Bevölkerung in der Weltgeschichte, Bd. 4 3 , Würzburg 1965, S. 92 (Bevölkerungsploetz).

meindung der Städte Charlottenburg, Neukölln, Schöneberg, Wilmersdorf — diese vier waren 1910 statistisch bereits „Großstädte" —, ferner Köpenick, Lichtenberg und Spandau sowie von 56 Dörfern und 29 Gutsbezirken zu einer Stadtgemeinde zusammengefaßt wurde. Regional ergaben sich dabei beträchtliche Unterschiede, entsprechend der jeweiligen Wirtsdiaftsstruktur. Während 1871 der agrarische Osten, aber audi der Südwesten und Westfalen noch annähernd gleiche Besetzung mit städtischer Bevölkerung aufwiesen, von denen sich die Werte f ü r die in der Frühindustrialisierungsperiode am weitesten fortgeschrittene Rheinprovinz und das Königreich Sachsen deutlich absetzen, traten die Unterschiede 1910 klar hervor: Den höchsten Verstädterungsgrad erreichte die Rheinprovinz, in der fast 3/4 der Bevölkerung in städtischen Siedlungen, davon über die H ä l f t e in Großstädten lebten. Ihr kam die Provinz Westfalen am nächsten, wenn auch in diesem Gebiet das Gewicht noch auf den klein- und mittelstädtischen Einheiten lag, wobei berücksichtigt werden muß, daß sich der Prozeß der Verstädterung hier im wesentlichen auf den Westen (d. h. den östlichen Teil des Ruhrgebiets und das südliche anschließende Kleineisengebiet des märkischen Sauerlandes) konzentrierte, während der Bereich in der Rheinprovinz, das westliche Ruhrgebiet, das Bergische Land, die Rheinufer und die niederrheinischen Industrielandschaften bis Aachen im Westen einschloß. Immerhin übertraf der Besatz an Stadtbevölkerung in der Provinz Westfalen bereits den im Königreich Sachsen, wenn auch dort die Großstadtbevölkerung einen fast dreimal so hohen Anteil besaß. Im Gegensatz zu diesen drei hochindustrialisierten Bereichen blieb der agrarische Osten weiter zurück, am deutlichsten Ostpreußen. Aber auch der gewerblich und industriell durchsetzte Südwesten wies Werte auf, die

128

Verstädterung in Deutschland

annähernd um die Hälfte niedriger lagen als der der Rheinprovinz. Zwar war der Unterschied zum Osten, auch zu Westpreußen, vor allem im groß- und mittelstädtischen Bereich größer geworden, aber die überwiegend gewerblichund kleinindustrielle Struktur Badens und Württembergs ließ den Besatz an städtischer Bevölkerung insgesamt zurückbleiben. Deutlicher allerdings rückt ein Teil der Südwestregion in die Nähe der industriell am weitesten fortgeschrittenen Regionen, wenn der Zuwachs an städtischer Bevölkerung in der Phase 1871 bis 1910 betrachtet wird. Dann zeigt sich, daß im Südwesten zwar ein geringerer Verstädterungsgrad erreicht wurde, aber die städtische Bevölkerung zum mindesten in Baden doch in gleichem Maße gewachsen war wie in den Gebieten älterer industrieller Verdichtung, also im Königreich Sachsen und in der Rheinprovinz während die Ostprovinzen wesentlich geringere Werte auswiesen und audi Württemberg zurückblieb. Die höchsten Werte wurden in Westfalen erreicht, dessen bergbauliche und schwerindustrielle Entwicklung den Verstädterungsprozeß am stärksten beschleunigte. Hier bestätigt sich die Auffassung Ipsens, daß der „technische Großbetrieb" das entscheidende Element für den Verlauf des Verstädterungsprozesses und für die erreichten Größenordnungen bildete11. In allen Gebieten aber absorbierten die Städte fast den gesamten Bevölkerungszuwachs der Region. In Sachsen, in der Rheinprovinz und in Westfalen überstieg die städtische Bevölkerung von 1910 sogar die Gesamtbevölkerung von 1871. Das bedeutete zugleich die Stagnation der Landbevölkerung. Das Land einschließlich der ländlichen Marktorte mit weniger als 5 000 Einwohnern war bereits 1871 ausgesiedelt; die ländlichen Stellen einschließlich der Stellen der Nahversorgung waren besetzt, so daß die natürlichen Bevölkerungsüberschüsse notwendig dem städtischen Bereich zufließen mußten. Tab. 2: Bevölkerung in ausgewählten Regionen 1871—1910

Region

Ostpreußen Westpreußen Kgr. Sachsen Westfalen Rheinprovinz Baden Württemberg Quelle:

Gesamtbevölkerung 1871 1910 Zuwachs rn Tsd. in Tsd. in Tsd.

in °/o Zuwachs Stadtbevölkerung Gesamt1871 1910 Zuwachs bevölkein °/o in Tsd. in Tsd. in Tsd. in °/n rung

1822,9

2064,2

241,2

13,2

217,2

554,2

337,0

155,2

139,7

1314,6

1703,5

388,9

29,5

208,8

533,7

324,9

155,6

23,5

2556,2 1775,2

4806,7 4125,1

2250,4 2349,9

88,2 131,9

832,2 373,2

2902,6 2617,1

2070,3 2243,8

236,8 601,2

92,0 95,5

3579,3 1461,6

7121,1 2142,8

3541,8 681,3

99,2 46,6

1387,4 224,8

4806,7 811,3

3419,3 586,5

246,5 260,9

96,5 86,1

1818,5

2437,6

619,0

34,6

300,9

872,2

571,3

189,9

92,3

1871: StDR, Bd. 2, S. 16 ff., S. 56 ff.; 1910: StDR, Bd. 240, II, S. 57 ff.

Verstädterung in Deutschland

129

Wird die Zuwachsrate der Reichsbevölkerung für den Zeitraum 1871—1910 an die Bevölkerung der Regionen von 1871 angelegt 12 , so ergibt sich ein grober Maßstab f ü r das mögliche Wachstum aus eigener Volkskraft. Im Falle der Provinz Westfalen würde das, um nur ein Beispiel zu geben, einen Anstieg von 1871—1910 auf rund 2,8 Millionen Menschen ergeben, d. h. daß nicht einmal die H ä l f t e des Zuwachses an städtischer Bevölkerung aus der Region hätte gedeckt werden können. Im Falle Ostpreußens überstieg der Zuwachs an Stadtbevölkerung sogar den Zuwachs an Gesamtbevölkerung. Würde aber hier der Gesamtzuwachs der Reichsbevölkerung angeglichen, so ergäbe sich ein Soll des Anstiegs auf rd. 2,9 Millionen Menschen und ein städtischer Anteil am Gesamtzuwachs von nunmehr fast 32 °/o. Dies illustriert die Wanderungsverluste des agrarischen Nordostens, der in der Phase nach 1871 mehr als seine natürlichen Uberschüsse abgegeben hat, wobei ein kleiner Teil dieses Mehr auch dem Ausbau des eigenen städtischen Bereichs zugute kam. In welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit sich die Entwicklung einer industriellen Ballung vollziehen konnte, läßt das — extreme — Beispiel der Stadt Gelsenkirchen im westfälischen Teil der Emscherzone des Ruhrgebiets erkennen. Diese Stadt entstand erst 1903 durch Zusammenlegung von sieben Gemeinden, die um die Mitte des 18. Jahrhunderts Bauernschaften mit einem ländlichen Markt („Alt-Gelsenkirchen") als Zentrum gewesen waren. 1856 begann die Teufe des ersten Schachts der Bergwerksgesellschaft Hibernia und Shamrock und löste eine explosionsartige Ausweitung der Bevölkerung aus, die sich in den 13 Jahren von 1858 bis 1871 vervierfachte, in den folgenden 14 Jahren bis 1885 noch einmal verdreifachte. Danach verlangsamte sich die Zunahme: Die nächste Verdreifachung brauchte 25 Jahre, wobei zum mindesten der Zuwachs seit 1895 wesentlich Folge des Ausbaus der örtlichen Versorgung der Bevölkerung war; überörtliche Versorgungsfunktionen besaß Gelsenkirchen nicht. Derartige Funktionen wurden zum Teil von den Städten der Hellwegzone 13 , den älteren Zentren städtischen Lebens im Ruhrgebiet, mit übernommen, in deren Verband die jüngere Stadt einrangierte. Auf der gleichen Fläche hat sich die Bevölkerung Gelsenkirchens zwischen 1871 und 1910 mehr als verzehnfacht (1 : 10,6). Ein derartiges Größenwachstum erreichte außer den sich zu Großstädten auswachsenden Vorstädten Berlins keine andere Stadt in dieser Periode. Unter den von Schott untersuchten 37 Großstädten 1 4 wies Kiel, die nach 1871 ausgebaute Flottenbasis des Deutschen Reiches, mit einem Verhältnis von 1 : 5,5 das höchste Wachstum auf; es folgten mit einem Verhältnis zwischen 1 : 5,0 und 1 : 4,0 die sächsische Textilstadt Plauen i. V., die rheinische Metropole Düsseldorf, mit ausgeprägter Maschinen- und Eisenindustrie ein Ausläufer des Ruhrgebiets, zugleich Sitz industrieller Verwaltungen, und die beiden rheinischen montanindustriellen Zentren des Ruhrgebiets Essen und Duisburg, mit einem Verhältnis zwischen 1 : 4,0 und 1 : 3,5, der badische Industriehafen Mannheim, zugleich Vorort des südwestdeutschen Maschinenbaus, die westfälische Montanstadt Dortmund, das Zentrum des saarländischen Bergbaus, Saarbrücken, und Nürnberg mit einer Vielfalt von mittleren Industrien. Unter 9

Köllmann, Bevölkerung

130

Verstädterung in Deutschland

diesen neun Städten mit Spitzenwachstum waren also vier Standorte des Bergbaus und der Schwerindustrie, vier weitere, die durch Eisenindustrie und Maschinenbau bestimmt wurden, und nur eine Stadt textilindustrieller Prägung. Dies differenziert zugleich den Stellenwert der einzelnen Industriebereiche f ü r den Verstädterungsprozeß der Hochindustrialisierungsperiode: Bergbau, Schwerindustrie und Maschinenbau dominierten vor den anderen Industriezweigen im Aufbau industriegeprägter Großstadtbevölkerung; ihrer großbetrieblich orientierten Struktur entsprach die Tendenz zu großstädtischer Agglomeration. Von den textilindustriell bestimmten Städten erreichten nur Plauen und ebenfalls noch mit einem Verhältnis von 1 : 3,25 Chemnitz das Spitzenwachstum; auch hier dominierte die großbetriebliche Struktur, wobei vor allem Chemnitz wieder durch den Ausbau des Maschinenbaus entscheidende Impulse empfing, während die älteren westdeutschen Textilstädte Elberfeld (1 : 2,3), Barmen (1 : 2,25), Krefeld (1 : 2,1) und Aachen (1 : 1,8), deren Industrien vorwiegend mittel- und kleinbetrieblich organisiert blieben, ein solches Wachstum nicht mehr erreichen konnten. Verstädterung entsteht in der Binnenwanderung. Ermöglicht wurde das Städtewachstum erst durch den hohen Grad der Freisetzung von Bevölkerung in der agrarischen Übervölkerung bis zur Jahrhundertmitte. Die gesamte Bewegung zwischen dem Land und der Stadt läßt sich nur in wenigen Zählungen messen. Vor allem die Volks-, Berufs- und Betriebszählung von 1907 gestattet einen Einblick am Ende der hier untersuchten Periode der Verstädterung. Wenn auch, dem Stadtbegriff der Zählung entsprechend, die in ländlichen Märkten mit 2 000 bis unter 5 000 Einwohnern Ansässigen in der Stadtbevölkerung eingeschlossen sind und sich nicht herausredinen lassen, so läßt sich doch als Trend der Abfluß vom Lande in die Stadt deutlich erkennen. Bei Aufrechnung der Ströme der aufs Land gezogenen Stadtgebürtigen und der in die Stadt gezogenen Landgebürtigen ergibt sidi ein Saldo von rd. 8,3 Millionen Menschen zugunsten der Land-Stadt-Wanderung. Die Relationen variieren in den einzelnen Regionen: Den geringsten Abfluß von der Stadt zum Land und zugleich den höchsten Zufluß vom Lande in die Stadt wies die Zone höchster Verstädterung, Rheinland-Westfalen, auf, während Ostdeutschland durch den höchsten Abfluß bei geringstem Zufluß charakterisiert war. D a ß die ostdeutschen Verhältnisse vor allem im Austausch zwischen dem ländlichen Marktort und dem Dorf begründet waren, zeigt sich an Pommern, Mecklenburg und Ostpreußen, den Gebieten mit dem geringsten städtischen Besatz überhaupt. Hier fehlte die Ausschöpfung des Umlands durch sich entwickelnde mittel- und großstädtische Zentren, die f ü r die Rheinprovinz und Westfalen das Maß des Abflusses der Landbevölkerung setzten. Ebenso führte das Wachstum der Agglomeration Groß-Berlin weit über die erst 1920 berichtigten Grenzen der Stadt Berlin hinaus zu den hohen Zuzugsüberschüssen aus den brandenburgischen Landgebieten, während sich das Königreich Sachsen als zweite Zone höchster Verstädterung erwies.

Verstädterung in Deutschland

131

Dabei schöpfte die Stadt nicht nur ihren Umlandbereidi aus, soweit die Agglomeration nicht in ihn hineinwuchs, sondern auch den Nahwanderungsbereich, grob umschrieben mit dem Bereich der Provinz oder des Landes, in dem sie lag. Spitzen wurden aus der Fernwanderung und der Einwanderung von Ausländern erzielt. Für die deutschen Großstädte des Jahres 1907 — nur für sie liegen die statistischen Angaben vor — erstellt sich dabei ein Verhältnis von Ortsgebürtigen : Umlandzuwanderern/Nahwanderern : Fernwanderern/ Einwanderern zwischen den Extremwerten 1 5 von 6,5 : 2,5 : 1,0 für Aachen und 3,7 : 4,0 : 2,4 für Bochum. Ganz allgemein läßt sich erkennen, daß der Anteil an Fern- und Einwanderern um so höher war, je weniger die Industriegroßstadt im A u f b a u auf ein gewerblich oder industriell ähnlich strukturiertes U m l a n d zurückgreifen konnte. Dies gilt für die Hafenstädte des Nordwestens — Kiel, Altona, H a m b u r g und Bremen — ebenso wie für die Großstädte des RheinMain-Gebietes — Wiesbaden, F r a n k f u r t und Mannheim — wie auch für einzelne industrielle Zentren in agrarischen Gebieten, wie ζ. B. Kassel, w ä h r e n d die mitteldeutschen Städte als Zentren eines ausgedehnten Gewerbegebiets — Dresden, Leipzig, Chemnitz, Plauen und H a l l e an der Saale — den geringsten, die Ruhrgebietsstädte — Gelsenkirchen, Dortmund, Bodium, Essen und Duisburg — trotz der extremen Verhältnisse in Gelsenkirchen nur einen dem Durchschnitt entsprechenden Anteil an Fernwanderern besaßen. Die Stadt nahm aber nicht nur die Bevölkerungsüberschüsse des Landes auf, sondern die Geburtlichkeit der zugewanderten Landbevölkerung trug darüber hinaus zum beschleunigten Ausbau städtischer Bevölkerung bei. Z w a r begann der Geburtenrückgang, Kennzeichen der neuen „industriellen" Bevölkerungsweise, in den industriellen Standorten, doch verminderte sich hier die Sterblichkeit a u f g r u n d der relativ stärkeren Besetzung der jüngeren J a h r g ä n g e im Volkskörper und vielleicht auch besserer hygienischer Verhältnisse und besserer Versorgung früher und in höherem Maße, so d a ß die Geborenenüberschüsse vermutlich allgemein über dem Durchschnitt der Reichsbevölkerung lagen 1 '. W i r d dieser Sachverhalt einbezogen, so verschiebt sich die Proportion Eingesessener : Zuwanderer innerhalb der städtischen Bevölkerung je nach Intensität und Dauer der Zuwanderung noch einmal beträchtlich. Einen Einblick ermöglicht nur die Volkszählung von 1900, die grobe Altersstrukturen für Ortsund Fremdgebürtige ausweist. In den ausgewählten Städten ergab sich ein um 12,5 % bis 17,6 % höherer Anteil an Zuwanderungsbevölkerung, wobei Krefeld mit frühzeitig fast abgeschlossener Zuwanderungsperiode den geringsten, Dortmund in einer Periode größter Zuwanderung den höchsten Anteil aufwies. Noch deutlichere Maßstäbe zur Beurteilung der Zuwanderungseinflüsse lassen sich aus Vorausschätzungen aus einem gegebenen Stand und Vergleich zwischen dem geschätzten Bevölkerungsstand und der gezählten Bevölkerung in einem späteren Volkszählungsjahr gewinnen. U m hier nur zwei Beispiele anzuführen, würde die Bevölkerung Barmens bei Ausschaltung der Zuwanderung mit Anlegung der Zuwachsrate der Reichsbevölkerung zwischen 1871 und 1910 von 75 074 auf 115 924 gewachsen sein, w ä h r e n d sie in Wirklichkeit auf 169 214 9'

132

Verstädterung in Deutschland

anstieg, die Bevölkerung Gelsenkirchens von 16 023 auf 24 742 gegenüber einem Stand von 169 513 17 . Damit geht im Falle Barmens ein errechenbarer Mehrzuwachs von 53 290 Menschen, im Falle Gelsenkirchens ein Mehrzuwachs von 144 771 Menschen auf den Einfluß der Zuwanderung zurück. Das ist in Barmen — f ü r Gelsenkirchen läßt sich der Wanderungsgewinn nicht erstellen — mehr als das Dreifache des reinen Zuwanderungsgewinns von 16 555 Menschen. Erst in solchen Vergleichen wird die Bedeutung der hohen Mobilität der deutschen Bevölkerung für den Verstädterungsprozeß voll sichtbar, setzte sich doch der Zuwachs der Landbevölkerung im Zuwachs der Stadtbevölkerung fort. Wurde der Verstädterungsprozeß insgesamt als Verlagerung der Bevölkerung vom Lande in die Stadt gedeutet, so sollte doch nicht übersehen werden, daß sich Binnenwanderung nicht in der Land-Stadt-Wanderung ersdhöpfte, sondern daß sich diese Bewegung in der Stadt-Stadt-Wanderung fortsetzte. Die Untersuchungen Heberies und Meyers heben die Bedeutung dieser Wanderungsprozesse „namentlich f ü r die zentralen Städte in Gebieten dichter Besiedlung" 18 hervor. Die Bereitschaft zu weiterer Mobilität wurde gefördert durch die häufig unbefriedigende Anfangssituation der Neukommenden, denen zunächst nur die Stellen offenstanden, die die Ansässigen ihnen ließen, aber auch durch den Wettbewerb der Leistungen, der zu kompromißloser Verdrängung der weniger Geeigneten oder weniger Willigen führte 1 9 . Daraus erklärt sich, daß der Bevölkerungsumschlag der Städte wesentlich höher lag als ihr Wanderungsgewinn, wobei die H ö h e der Mobilität und die des Wanderungsgewinns voneinander unabhängig waren. So wiesen von den rheinisch-westfälischen Städten die Großstädte der Hellwegzone des Ruhrgebiets eine weitaus höhere Mobilität auf als die Rheinuferstädte und die niederrheinischen Großstädte, während der Wanderungsgewinn in den westfälischen Städten dieser Zone — Dortmund und Bochum — bis zum Dreifachen größer war als der der rheinischen Hellwegstädte Essen und Duisburg. Ähnlich unterschieden sich die Rheinuferstädte Düsseldorf und Köln, während Krefeld und Aachen am Ende ihrer Industrialisierungsperiode bei minimalem Wanderungsgewinn in Aachen und schon Wanderungsverlust in Krefeld einen weitaus geringeren Wanderungsumschlag besaßen. Die Sonderstellung Gelsenkirchens im Ruhrgebiet dürfte sich nicht zuletzt aus der monoindustriellen Struktur dieser Bergbaustadt erklären, wobei darauf hingewiesen werden muß, daß die f ü r den Bergbau angeworbenen und am Zielort in bereitgestellte Wohnungen eingewiesenen Zuwanderer aus N o r d ostdeutschland vermutlich eine höhere Seßhaftigkeit am ersten Zielort besaßen als die ohne solche Voraussetzung gekommenen. Die Phase der Hochindustrialisierung bedeutete eine Umgewichtung der deutschen Bevölkerung zugunsten der Stadt, vor allem der Großstadt, durch Wanderung und Umgruppierung der Gemeinden bei Überschreiten der Schwellenwerte der Einwohnerzahl. So gewannen zwischen 1882 und 1907 die Großstädte 8,5 Millionen und die Land-, Klein und Mittelstädte 8,4 Millionen Menschen, während auf dem Lande 1907 0,4 Millionen Menschen weniger lebten 29 . Diese Umschichtung der Zahlen Schloß zugleich die soziale Umschich-

Verstädterung in Deutschland

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tung ein: die Ausformung industrieller Gesellschaft in horizontaler (Binnenwanderung) und vertikaler (sozialer Auf- und Abstieg) Mobilität. Die Stadt, vor allem die Großstadt, war der Ort, an dem diese neue Gesellschaftsordnung entstand und sich ausformte, so daß im Verstädterungsprozeß neben den wirtschaftlichen Strukturänderungen zugleich die sozialen Strukturänderungen mitbegriffen werden müssen. In diesem Sinne ist die industrielle Verstädterung als „a cumulative process with rising incidence and more differentiated structures" 21 zu verstehen. Auch hierfür waren die Voraussetzungen die Labilität ländlicher Ordnung nach den Reformen des frühen 19. Jahrhunderts sowie die ländliche Übervölkerung. Diese ländliche Überschußbevölkerung der Eigentumslosen und Verelendenden bedrohte die Stabilität der agrarischen Sozialordnung von unten her, ein Prozeß der Desintegration agrarischer Gesellschaft 22 , der in der Neuintegration industrieller Gesellschaft aufgefangen werden konnte. Die Grundverhältnisse der „Vereinzelung und Solidarität", aus denen „Ordnungsformen neuer Art, wesentlich: sachliche Ordnungen" 2 3 folgten, bestimmten diese Neuformierung einer Gesellschaft, deren Ordnungsprinzipien Leistung und Verfügbarkeit waren. Hier griffen horizontale und vertikale Mobilität ineinander: Die Abwanderung vom Lande in die Stadt bedeutete fast immer sozial das Ausscheiden aus dem agrarischen und die Eingliederung in ein gewerblich-industrielles Gefüge, sozialer Auf- oder Abstieg in diesem Gefüge bedeutete häufig Ortswechsel, wie denn auch die zwischenstädtische Wanderung als Ausfluß soldier sozialer Mobilität mitgesehen werden muß. Durch den Abfluß vom Lande erneuerte sich darüber hinaus die Stabilität der agrarischen Ordnung. Das von den Überzähligen entlastete Dorf fand zur Eigenständigkeit älterer Ordnung zurück, deren Fortdauer und Beständigkeit durch die dauernde Aufnahmefähigkeit des sich stetig erweiternden industriellen Sektors gewährleistet blieb. Die gesellschaftliche Gliederung des deutschen Volkes, wie sie sich in der Hochindustrialisierung ausbildete, wies drei sektorale Hierarchien auf: die agrarische Ordnung des Landes und die industrielle der Stadt, verklammert durch einen dritten Sektor öffentlicher, den beiden anderen gemeinsam zugeordneter Dienstleistungen, der staatlichen und kommunalen Verwaltung, sowie der Kirchen. Entscheidendes Merkmal dieser gesellschaftlichen Struktur war neben der Vielfalt der Gruppen die Durchlässigkeit der Ordnungen, wobei nur zwischen der agrarischen Oberschicht und den agrarischen Mittelschichten sowie zwischen den durch Ausbildung und Laufbahn gegeneinander abgegrenzten Beamtenschichten feste Schranken bestanden. Allerdings blieb die Ordnung des Dorfes insgesamt relativ starr, während die industrielle Ordnung als Ordnung der sozialen Mobilität gelten darf. Zum mindesten die Chance sozialen Aufstiegs, aber auch die Gefährdung sozialen Abstiegs waren in jedem Einzelfall gegeben, beginnend mit der Möglichkeit innerbetrieblichen Fortkommens und endend mit der Möglichkeit der Selbständigkeit und der Ausweitung des Verfügungsbereiches bis hin zur Spitzenposition. Nicht selten vollzog sich solcher

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Aufstieg audi im Generationswechsel unter Ausnutzung der Ausbildungsmöglichkeiten jeder Art, die die S t a d t dem Nachwuchs bot. Die industriellen Unterschichten rekrutierten ihren Zuwachs im wesentlichen aus den agrarischen Unterschichten, die industriellen Mittelschichten aus den industriellen Unterschichten u n d die industriellen Oberschichten aus den industriellen Mittelschichten. Letztere traten aber ihrerseits wiederum in engen K o n t a k t zu den staatlichen und agrarischen Oberschichten, wie auch der Übergang in Stellungen des öffentlichen Dienstes auf jeder Stufe eine entscheidende Möglichkeit sozialer Veränderung war. Aber trotz solcher Möglichkeiten des .Ausscherens, auch trotz bleibender verwandtschaftlicher Bindungen der Zuwanderer v o m L a n d zu den Zurückgebliebenen hatte das Gros seinen neuen Standort in der sozialen O r d n u n g der industriellen Welt zu finden und zugleich zu variieren. So vollzogen sich die einschneidenden W a n d l u n g e n der sozialen S t r u k t u r im A u f - u n d Ausbau der Städte, wobei gerade in der von der K u l t u r k r i t i k so o f t beklagten Vereinzelung des Menschen und der Versachlichung der Beziehungen das Moment neuer Unabhängigkeit und neuer Selbstbestimmung gegeben w a r , das die Veränderung der sozialen Position erlaubte u n d beförderte. Dies galt vor allem wieder f ü r den Menschen in der G r o ß stadt, w ä h r e n d in Klein- u n d Mittelstädten häufig ältere soziale Muster der H o n o r a t i o r e n o r d n u n g wie des engeren persönlichen Kontaktes über die reine Sachbezogenheit hinaus größeren Einfluß behielten. Dies minderte in diesen Bereichen soziale Konflikte, die in den G r o ß s t ä d t e n in der Form wirtschaftlicher u n d politischer Auseinandersetzungen, sozialer u n d politischer Bewegung u n d Parteiung voll zum Ausdruck kamen. D e r wachsende Dualismus von sozialer Mobilität und sozialem Antagonismus w a r im Verstädterungsprozeß als dem Prozeß der gesellschaftlichen Umstrukturierung u n d N e u f o r m u n g von A n f a n g an mitgesetzt, zugleich kennzeichnete er aber auch die Labilität dieser neuen Strukturen wie den Willen zu ihrer Veränderung. Die Statistik erlaubt nur vergröberte Gruppierungen. Sie läßt allerdings selbst in der kurzen Spanne zwischen 1895 u n d 1907, also einer bereits relativ späten Phase der Hochindustrialisierung, die wesentlichen Veränderungen der H a u p t g r u p p e n erkennen: die A b n a h m e der Erwerbstätigen in der L a n d - u n d Forstwirtschaft auf dem L a n d e u n d den Zuwachs der industriellen Daseinsformen selbst in klein- u n d mittelstädtischen Bereichen. Dabei w u r d e die Abw a n d e r u n g ländlicher Arbeitskraft durch den verstärkten Einsatz mithelfender Familienangehöriger ausgeglichen. Die Z u n a h m e der in der Statistik aufgef ü h r t e n mithelfenden Familienangehörigen von 1,7 auf 3,4 Millionen, also auf das Doppelte 2 4 , w a r nicht allein auf Verbesserung der Erfassungsmethoden der Zählungen zurückzuführen 2 5 , sondern d a r a u f , „daß auch tatsächlich eine stärkere H e r a n z i e h u n g der Angehörigen zur Arbeitsleistung stattgefunden haben muß" 2 e . H i e r f a n d Ausdruck, d a ß die A b w a n d e r u n g v o m L a n d e die Schwelle der Entlastung der ländlichen Bevölkerung von freigesetzten Uberschüssen bereits überschritten h a t t e u n d somit das wachsende Fehl an ländli-

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