Bertold Otto als pädagogischer Unternehmer: Eine Fallstudie zur deutschen Reformpädagogik 9783412502447, 9783412501730

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Bertold Otto als pädagogischer Unternehmer: Eine Fallstudie zur deutschen Reformpädagogik
 9783412502447, 9783412501730

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Beiträge zur Historischen Bildungsforschung Begründet von Rudolf W. Keck Herausgegeben von Meike Sophia Baader, Rudolf W. Keck, Elke Kleinau und Karin Priem Band 47

Klemens Ketelhut

Berthold Otto als pädagogischer Unternehmer Eine Fallstudie zur deutschen Reformpädagogik

2016

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einem Faltblatt mit Besucherordnung und Stundenplan der Berthold-Otto-Schule, 1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 209 Bl 99.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Frank Schneider, Wuppertal Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50173-0

Vorwort

Der Entstehungsprozess einer Arbeit wie dieser steht immer auch im Austausch mit anderen Menschen, die für den Prozess wie für den Abschluss bedeutsam sind. Zunächst danke ich Prof. Dr. Pia Schmid, die diese Arbeit mit all ihren Vorläufern, Nebengleisen und Sackgassen geduldig und äußerst hilfreich begleitet hat, sowie Prof. Dr. Elke Kleinau für ihre Unterstützung als Zweitgutachterin. Weiterhin danke ich dem Doktorandenkolloquium im Arbeitsbereich Historische Erziehungswissenschaft der MLU Halle-Wittenberg für geduldige Diskussionen, insbesondere Dr. Matthias Zaft und Dayana Lau in der Endphase der Textproduktion für ihre immer vorhandene Lesebereitschaft und stets konstruktive Rückmeldung. Ich danke auch der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung Berlin und besonders Prof. Dr. Sabine Reh für die Möglichkeit des Forschungsstipendiums sowie den Mitarbeiter_innen des Archivs, Dr. Bettina Irina Reimers, Ilka Lenze und Dr. Christian Kurzweg, für eine äußerst angenehme Arbeitsatmosphäre und die mir zugekommene Unterstützung bei der Recherche. Damit sind nur einige Menschen angesprochen, die den Weg der Entstehung dieses Textes ein größeres oder kleineres Stück mit mir gegangen sind. Auch den hier nicht genannten danke ich. Leipzig, im Juli 2015

Inhalt

Vorwort ...................................................................................................

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I.

EINLEITUNG ........................................................................................

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1.1. Fragestellung ............................................................................. 1.2. Forschungsstand ........................................................................ 1.2.1. Allgemeinpädagogische Darstellungen .......................... 1.2.2 Reformpädagogische Darstellungen ............................... 1.2.3. Berthold-Otto-Forschung ................................................ 1.3. Der pädagogische Markt............................................................ 1.3.1. Der pädagogische Markt ................................................. 1.3.2. Monopolstruktur des Marktes für schulische Erziehung 1.4. Inhaltliche Struktur ....................................................................

7 14 14 17 24 30 32 34 41

II. PÄDAGOGIK ........................................................................................ 45 2.1. Pädagogische Grundbegriffe bei Otto ....................................... 2.1.1. Das Bild des Kindes und seiner Entwicklung in der Familie ............................................................................ 2.1.2. Altersmundart, Sprachentwicklung und Spracherziehung......................................................................... 2.1.3. Gesamtunterricht............................................................. 2.2. Die Zukunftsschule im Zukunftsstaat ........................................ 2.2.1. Die Stellung des Lehrers im Zukunftsstaat ..................... 2.2.2. Das System der Zukunftsschule im Zukunftsstaat .......... 2.2.2.1. Die Dorfschule .................................................. 2.2.2.2. Die Kreisschule ................................................. 2.2.2.3. Großstadtschulen ...............................................

47 47 55 60 68 71 73 74 76 79

III. ANALYSEN ZUM UNTERNEHMEN BERTHOLD OTTO ........................... 83 3.1. Der Hauslehrer als publizistisches Rückgrat des Unternehmens ............................................................................ 3.1.1. Entstehung und Entstehungskontext ............................... 3.1.2. Der erste Jahrgang .......................................................... 3.1.2.1. Die Zielsetzungen der Zeitschrift: Programmatik der Probenummer ......................

83 85 89 90

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Inhalt

3.1.2.2. Kooperation zwischen Zeitschrift und Leser_innenschaft ........................................................ 96 3.1.2.3. Die „Tischgespräche“ als Vorläufer der Unterrichtsprotokolle......................................... 101 3.1.3. Die Zeitschrift im weiteren Verlauf (I): Suche nach Unterstützung.................................................................. 102 3.1.4. Die Zeitschrift im weiteren Verlauf (II): Strukturelle und inhaltliche Weiterentwicklung ................................. 111 3.1.5. Werbemaßnahmen .......................................................... 119 3.1.5.1. Direkte Werbestrategien .................................... 120 3.1.5.2. Aufforderungen zur „gemeinsamen Arbeit“...... 123 Exkurs: Die Weimarer Tagungen ................................... 127 3.1.6. Produktdiversifikation: Die „Zukunftsschule“................ 133 3.1.6.1. Programmatik .................................................... 133 3.1.6.2. Die Rolle der Zeitschrift im Unternehmen Berthold Otto ..................................................... 137 3.1.7. Umbenennung und Ausblick .......................................... 141 Exkurs: „Unser Vaterland. Schützengrabenbücher“ ..... 145 3.1.8. Der Hauslehrer als zentrales Medium für Aufbau und Erhalt der Hauslehrerbestrebungen ................................. 147 3.2. Expansion der Öffentlichkeitsarbeit: Der Berthold-Otto- ......... Verein E.V. ................................................................................ 148 3.2.1. Entstehungskontext ......................................................... 149 3.2.2. Ziele des Vereins ............................................................ 152 3.2.3. Aktivitäten des Vereins................................................... 157 3.2.3.1. Diskussionsabende ............................................ 158 3.2.3.2. Weitergabe von Literatur ................................... 166 3.2.3.3. Vorträge............................................................. 169 3.2.3.4. Ausstellungen .................................................... 171 3.2.3.5. Ortsgruppen ....................................................... 176 Exkurs: Familie Sträter und Berthold Otto .................... 182 3.2.3.6. Weitere Aktivitäten des Vereins ........................ 184 3.2.4. Der Verein nach 1917 ..................................................... 187 3.2.5. Der Verein als eine der unterstützenden Säulen des Unternehmens Berthold Otto .......................................... 188 3.3. Fritz Meyer. Vom Studenten zum designierten Nachfolger ...... Berthold Ottos ........................................................................... 191 3.3.1. Attraktive Angebote: Die „Großlichterfelder Kulturbestrebungen“ ....................................................... 193 Exkurs: Der Charon-Kreis.............................................. 196 3.3.2. Von Magdeburg nach Lichterfelde: Die Bedeutung des „Charon“ und die Annäherung an die Familie Otto ..........200

Inhalt

3.3.3. Mitarbeit in Schule und Verlag: Fritz Meyers Engagement für das Unternehmen Berthold Otto ........... 3.3.4. Fritz Meyers Entwicklung zum ‚zukünftigen Erben‘ ..... 3.4. Emmy Friedländer. Mäzenin und Kundin ................................. 3.4.1. Emmy Friedländer, geb. Huber. Eine biografische Annäherung..................................................................... 3.4.2. Die geschäftliche Beziehung .......................................... 3.4.3. Die nicht-geschäftliche Beziehung ................................. 3.4.4. Emmy Friedländer als wichtigste Unterstützerin des Unternehmens Berthold Otto .......................................... 3.5. Deutsche Volksgeistbriefe. Zeugnisse der symbolisch vermittelten Gemeinschaft .............................................................. 3.5.1. Der Aufruf und das Vorwort........................................... 3.5.2. Das Buch und die Briefe ................................................. 3.5.3. Netzwerk und Ressourcen .............................................. 3.6. Abwehr fremder Einflüsse. Der Schutz der eigenen Konzeption ................................................................................ 3.6.1. Alternative I: Landerziehungsheim................................. 3.6.2. Alternative II: Annäherung an das öffentliche Schulsystem ............................................................................. 3.6.3. Die Prüfungsproblematik ................................................ IV. RESÜMEE UND ERGEBNISSE ............................................................... 4.1. Ergebnisse ................................................................................. 4.1.1. Die Zeitschrift als primäre Präferenz .............................. 4.1.2. Delegation unternehmenswichtiger Aufgaben ................ 4.2. Thesen ......................................................................................

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213 229 230 232 237 256 261 263 264 267 274 276 277 282 287 299 300 303 304 305

V. ANHANG ............................................................................................. 307 5.1. Zeitachse zu Leben und Werk von Berthold Otto ..................... 307 5.2. Biographisches Glossar ............................................................. 314 VI. LITERATURVERZEICHNIS .................................................................... 6.1. Quellen ...................................................................................... 6.1.1. Ungedruckte Quellen ...................................................... 6.1.1.1. Briefe ................................................................. 6.1.1.2. Sonstige ungedruckte Quellen ........................... 6.1.2. Gedruckte Quellen .......................................................... 6.1.2.1. Artikel aus der Zeitschrift „Der Hauslehrer“..... 6.1.2.2. Artikel aus der Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ ............................................................... 6.1.2.3. Sonstige gedruckte Quellen ............................... 6.2. Forschungsliteratur ....................................................................

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I. Einleitung

1.1. Fragestellung Als „Paradies für Kinder“ und als die „freiheitlichste Schule der Welt“ beschreibt Berthold Otto1 (1859-1933) selber die von ihm gegründete und geleitete Berthold-Otto-Schule in Berlin-Lichterfelde. Diese Schule, die aus einem 1906 von ihm initiierten und geleiteten Unterrichtszirkel hervorgeht und Ende 1910 ihr eigenes Schulhaus in Berlin-Lichterfelde bezieht, gehört bis heute unbestritten zum Kanon der Reformpädagogik. Bereits zu Berthold Ottos Lebzeiten erfährt sie große Beachtung, die Zahl der Hospitantinnen und Hospitanten, die sie aus aller Welt besuchen, liegt bei weit über 4000. Zudem ist Berthold Otto ein vieldiskutierter und – nicht zuletzt aufgrund seiner äußerst umfangreichen Literaturproduktion – auch vielgelesener Pädagoge und Autor. Neben etwa 50 veröffentlichten Monographien erscheint (ab 1904 im eigenen „Verlag des Hauslehrers“) wöchentlich seine eigene Zeitschrift2, die er nahezu Zeit seines Lebens führt und deren Artikel er weitgehend selber schreibt. Vor allem zwei Aspekte seiner pädagogischen Vorstellungen haben Berthold Otto überaus bekannt gemacht. Zum einen handelt es sich dabei um eine methodisch-didaktische Form des Unterrichts, die unter dem Namen „Gesamtunterricht“ firmiert und von der Johannes Kretschmann, ein Zeitgenosse Ottos, schreibt, es handele sich dabei um einen Vorschlag „zur Heilung des veralteten Schulwesens“.3 Zum anderen hat Berthold Otto das Konzept der „Altersmundart“ prominent gemacht und damit eine Vorstellung davon, dass Kinder in verschiedenen Altersstufen eine eigenständige Sprachform nutzen, der sich der Erwachsene anpassen muss, wenn er ihnen im „geistigen Verkehr“ auf Augenhöhe begegnen will. Trotz dieser hohen Popularität hat die Schule selten mehr als 100 Schülerinnen und Schüler, oft sind es sogar deutlich weniger. Berthold Otto leitet seine Schule bis 1930; drei Jahre vor seinem Tod übernimmt dann seine Tochter Irmgard Meyer-Otto (1893-1982) die Schulleitung, ab 1966 liegt sie

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Eine Übersicht über das Leben von Berthold Otto findet sich im Anhang. 1901-1917 unter dem Titel „Der Hauslehrer“, ab 1917 unter dem Titel „Deutscher Volksgeist“. Kretschmann (1933): 13.

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Ein Einleitung

dann in den Händen en von Edzard Paulsen (1919-2008),4 einem Enkel Be Berthold Ottos. Sowohl Irmggard Meyer-Otto als auch Edzard Paulsen sind ehe hemalige old-Otto-Schule – die Schule bleibt über 100 Jahre re in den Schüler der Berthol Händen der Familie lie und wird von Personen geleitet, deren schulischee Erfahrungen direkt mit B Berthold Otto verbunden sind. Sie besteht heute no noch, ist aber die einzige, die sich explizit auf Berthold Otto und seine Pädagog ogik beden Schulversuchen anderer Reformpädagoginnen uund Reruft,5 was sie von de formpädagogen wie ie zum Beispiel Maria Montessori, Peter Petersen od oder Rudolf Steiner untersch scheidet.6

Abbildung 1: Berthold O Otto mit Schülerinnen und Schülern sowie Hospitantinnen im K Klassenzimmer, 9.7.1929.7

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Edzard Paulsen ist st der gemeinsame Sohn von Rudolf Paulsen (1883-1966) und un Ottos Tochter Franziskaa ((1888-1971). Es gibt allerdingss einige e Schulen, die nach Berthold Otto benannt sind, aberr nnicht im engeren Sinne nach ch seinem Konzept arbeiten. Vgl. Klaßen/Skierr rra (1993): 11ff. DIPF/BBF/Archiv, iv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 764.

Einleitung

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Berthold Otto ist Zeit seines Lebens in der Lage gewesen, die Unterstützung Dritter zu generieren, sei es die unmittelbare Unterstellung seiner Schule unter den Schutz des Preußischen Kultusministeriums oder die umfangreiche finanzielle Unterstützung beim Neubau der Schule durch Emmy Friedländer, seien es Elterngruppen, die immer wieder für die Schule Gelder sammeln oder Mäzene wie Otto Lademann, der 1911 ein Jahr lang die Finanzierung von Ottos Zeitschrift übernimmt. Das wird in der Arbeit von Rosemarie Wothge, vor allem aber in der umfangreichen Biografie von Paul Baumann thematisiert.8 Beiden Arbeiten ist gemein, dass sie auf Brief- und im Fall von Paul Baumann auch auf weiteres Quellenmaterial zurückgreifen.9 Spätere Arbeiten schließen sich dem in der Regel an, besonders Jürgen Henningsen10 betont ebenfalls die Unterstützung, die Berthold Otto durch politische Institutionen und private Mäzeninnen und Mäzene erfahren hat. Was allerdings im Kontext der Darstellungen dieser umfangreichen Unterstützungsleistungen unberücksichtigt bleibt, ist, auf welche Weise Berthold Otto diese Ressourcen für sich gewinnen konnte. Zwar finden sich vor allem bei Paul Baumann viele Hinweise auf die Unterstützung, die Berthold Otto erhält, allerdings schreibt er Berthold Otto in diesem Zusammenhang keine genuin aktive Rolle zu, sondern interpretiert ihn als pädagogischen und gesellschaftpolitischen Genius, der aufgrund genau dieser Eigenschaft von seinem sozialen Umfeld mit Ressourcen versorgt wird. Damit steht eine systematische Analyse aus, die sich mit der Frage befasst, wie Berthold Otto strategisch vorgeht, um diese kontinuierlichen und umfangreichen Unterstützungen zu akquirieren, und wie es ihm gelingt, als unterstützungswürdiger Pädagoge wahrgenommen zu werden. Diese Frage ist sowohl in der weiteren Forschungsliteratur zu Berthold Otto als auch in der reformpädagogischen Historiographie generell bisher nur marginal und nicht systematisch untersucht worden. Der Erklärungsansatz Paul Baumanns besteht vor allem darin, die Attraktivität, die Berthold Ottos pädagogisches Konzept im Kontext der zeitgenössischen Schulreform einnimmt, als Grund dafür anzunehmen, dass zum Teil sehr unterschiedliche Dritte dafür materielle und immaterielle Ressourcen zur Verfügung stellen. Der Konzeption dieser Pädagogik ist ein nahezu unüberwindbarer Gegensatz zwischen der „alten Schule“ und seinen Vorschlägen für eine „neue 8

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Wothge (1955): 23ff.; 237ff. Baumann (I-IV): passim. [Die fünfbändige Biografie von Paul Baumann wird hier nach Bänden zitiert, also Baumann I, II usw.; die Siglen werden im Literaturverzeichnis aufgelöst.] Der Nachlass von Hans und Rosemarie Ahrbeck, geb. Wothge, enthielt einen Teilnachlass von Berthold Otto, der in den jetzigen Archivalienbestand des Nachlasses Berthold Otto im Archiv der BBF integriert worden ist. Henningsen (1979).

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Einleitung

Schule“ inhärent.11 Unabhängig davon, ob sie tatsächlich als innovativ rekonstruiert werden kann oder nicht, konzipiert Otto seine Pädagogik explizit in Absetzung von der „alten Schule“, indem er das ihr zugrunde liegende Modell kindlicher Entwicklung als nicht zutreffend kritisiert, dem ein vollkommen anders gelagertes entgegensetzt und daraus seine pädagogischen Vorstellungen entwickelt. Mit diesen schreibt er sich in den zu seiner Zeit äußerst regen Diskurs zum Thema Schulreform ein und gestaltet diesen aktiv mit. Allerdings ist damit weder sein theoretisches Modell hinreichend beschrieben, noch können die Strategien, mit denen er Unterstützung organisiert, umfänglich rekonstruiert werden. Diese grundlegende Charakteristik, die als generelles Merkmal pädagogischer Innovationen und damit auch reformpädagogischer Experimente und Theorien verstanden werden kann,12 bietet wohl einen Ansatzpunkt, ist aber für eine genauere Analyse der Frage, wie es Berthold Otto gelungen ist, sich als besonderen Pädagogen zu etablieren und damit Ressourcen für seine Schule und weitere Vorhaben zu erhalten, nicht weitreichend und nicht präzise genug, da sie kein Alleinstellungsmerkmal darstellt. Zu Lebzeiten Ottos konkurrieren viele unterschiedliche pädagogische Ideen, die sich als neu darstellen, um die öffentliche Aufmerksamkeit – und die potentieller Geldgeberinnen und Geldgeber. Es ist also notwendig, andere Fragen als die nach der Attraktivität der Pädagogik Berthold Ottos zu stellen und somit eine neue Perspektive auf ihn und sein Umfeld einzunehmen: Wie macht Berthold Otto seine Ideen populär? Wie gelingt es ihm, Unterstützerinnen und Unterstützer zu finden und langfristig an sich zu binden? Welches sind die Ressourcen, welches die relevanten Kontexte und mit welchen Rand- und Rahmenbedingungen muss Otto sich arrangieren, auseinandersetzen und konfrontieren, um sein (Lebens)Werk aufzubauen und zu sichern? Um diesen Fragen nachzugehen, ist es erforderlich, ein anderes analytisches Instrumentarium zu nutzen, als es bisher in der reformpädagogischen Historiographie üblicherweise geschieht. Dieses besteht darin, Berthold Otto nicht ausschließlich als Schriftsteller und Pädagogen zu verstehen, sondern auch als – notwendigerweise – unternehmerisch Handelnden, der auf einem pädagogischen Markt um Ressourcen konkurriert und der sich daher der An-

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Für Jürgen Oelkers ist dieser Gegensatz einer, der vor allem durch Rhetorik hergestellt wird und den er als Mittel zur Sicherung der „optimalen Aufmerksamkeit“ kennzeichnet. (vgl. Oelkers (2005): 14ff.). Ob nun eher affirmativ wie bei Nohl (1988) und die an ihn anschließende Tradition oder kritisch betrachtet wie bei Oelkers (2005).

Einleitung

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forderung stellen muss, nicht nur ein besonderes pädagogisches Programm zu vertreten sondern dieses vor allem als solches zu vermarkten.13 Durch die Integration unternehmerischer Ansätze in die Analyse kann sichtbar gemacht werden, dass sein reformpädagogisches Projekt, – sowohl die Berthold-Otto-Schule, als auch im weiteren Sinne Teile der Otto’schen Literaturproduktion –, das als eine Privatinitiative konzipiert und betrieben wird, auch Strategien benötigt, die klassische Unternehmensfunktionen wie Marketing, Vertrieb oder Rechnungswesen betreffen. Diese werden aber bisher nicht als solche wahrgenommen oder benannt und sind damit einer eigenständigen Untersuchung nicht zugänglich gemacht worden. Lediglich Fragen nach Finanzierung und Auseinandersetzung mit knappen finanziellen Mitteln und politischer Unterstützung finden sich in einigen Studien zu anderen reformpädagogischen Schulen,14 werden dabei aber nicht zum zentralen Moment der Auseinandersetzung, sondern zu einem Teilbereich neben anderen Fragestellungen gemacht und keiner ökonomisch basierten Analyse unterzogen. Die der Arbeit zugrundeliegende unternehmerische Perspektive wird dabei als heuristisches Mittel zur Rekonstruktion verstanden. Sie nutzt ein begriffliches und theoretisches Instrumentarium, das einen bisher kaum untersuchten Aspekt (reform)pädagogischer Projekte in das Zentrum der Überlegungen stellt. Diese Vorgehensweise erweitert die bisherigen ideen- und sozialgeschichtlichen sowie biografischen Ansätze um einen Blick auf nichtpädagogische Voraussetzungen und Restriktionen pädagogischen Handelns und die entsprechenden Strategien, mit denen Berthold Otto als pädagogischer Akteur auf diese reagiert. Entsprechend weist dieser Ansatz über Berthold Otto und sein spezifisches Projekt hinaus und dürfte in der Anwendung auch für andere pädagogische Initiativen neue Erkenntnisse für deren Scheitern oder Gelingen ermöglichen. Dabei kommt vor allem die Darstellung der eigenen Inhalte nach außen als Notwendigkeit Berthold Ottos in den Blick. Für ihn selber ist unbestritten dieser Teil seiner Aktivitäten der wichtigste, die Arbeit an und vor allem die Publikation von Büchern und Zeitschrift ist gegenüber der Leitung der Schule prioritär. Gleichzeitig dienen ihm die Schriften auch als Instrument der Akquise und der Kund_innenbindung, wofür vor allem die Zeitschrift zentral eingesetzt wird.

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Auf die Notwendigkeit einer stärkeren Reflexion über die ökonomischen Bedingungen reformpädagogischer Schulen hat Jürgen Oelkers jüngst hingewiesen, allerdings hinsichtlich der Frage nach Herrschaftsformen, die er am Beispiel der Landerziehungsheime bearbeitet (Oelkers (2012)). Zu verschiedenen Landerziehungsheimen jüngst bei Dudek (2013) und Oelkers (2012); zur FSG Wickersdorf Dudek (2009).

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Einleitung

Diesem Vorgehen liegt Ottos eigentliches Ziel, die Initiierung einer Schulund einer Gesellschaftsreform zugrunde, von deren Notwendigkeit er vollkommen überzeugt ist und deren Gelingen er durch seinen Schulversuch zu belegen versucht. Was in der Hauslehrerschule im Kleinen funktioniert – das ist die implizite Logik –, wird auch in der Gesellschaft im Großen funktionieren. Die Schule wird damit zu einem Experimentalraum, der möglichst schnell über sich selber hinausweisen soll und über den deshalb konstant und intensiv berichtet werden muss, um die dort entwickelten und umgesetzten Ideen populär zu machen und sie zur weiträumigen Umsetzung zu bringen. Gleichzeitig dient dieses Selbstverständnis Otto dazu, finanzielle und immaterielle Ressourcen zu generieren. Gerade seine hierauf abzielenden Aktivitäten können durch eine ökonomisch angeleitete Analyse als planvoll und strategisch verstanden werden. Die Pädagogik Ottos ist nicht aus sich selber heraus bekannt geworden, erst durch die hochfrequente und harmonisierte Außendarstellung und ihre inhaltliche Verquickung mit gesellschaftlichen Reformen gewinnen Ottos Ideen an Popularität und werden so attraktiv für die Subvention durch Dritte. So entsteht dann auch um Berthold Otto herum ein Netzwerk von Unterstützerinnen und Unterstützern, dessen er sich bedienen kann, um unterschiedliche Problemlagen zu lösen. Berthold Ottos theoretisches Gebäude besteht aus Überlegungen zu unterschiedlichen Aspekten der von ihm als neue Leitwissenschaft verstandenen Psychologie. Vorrangig sind dies pädagogische, politische und nationalökonomische Themen,15 von denen nur die Pädagogik den Status einer praktischen Umsetzung erfahren hat. Diese im Folgenden als „pädagogisch“ und „politisch“ voneinander abgegrenzten Inhalte spiegeln sich auch schwerpunktmäßig in zeitlichen Phasen, wenngleich es zu keinem Moment zu der vollkommenen Aufgabe eines inhaltlichen Schwerpunktes kam. Dies zeigt sich sowohl an den Themensetzungen seiner Bücher, vor allem aber an der hauseigenen Zeitschrift: Zwischen 1901 und 1917 firmiert sie unter dem Titel „Der Hauslehrer. Wochenschrift für den geistigen Verkehr mit Kindern“.16 Ab 1917 wird sie in „Deutscher Volksgeist. Zeitschrift zur Verständigung zwischen allen Schichten des Volkes“ umbenannt. Die Namensänderung symbolisiert die Verlagerung der inhaltlichen Auseinandersetzung von einer primär pädagogischen hin zu einer primär politischen. Die Zäsur dient gleichzeitig der Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes, der sich in erster Linie auf die Zeit zwischen 1901 und 1917 erstreckt, dabei sein Zentrum in den Jahren 1910-1914 hat. Ende 1910 wird das neue, nach Berthold Ottos Vorstellungen errichtete Schulhaus bezogen. In dieser Zeit setzen dann Differenzierungs- und Professionalisierungstendenzen im Unternehmen Berthold 15 16

„Nationalökonomie gehört für mich genauso wie Politik und Pädagogik einfach zur angewandten Psychologie.“ (Otto (1910a): 390) Im weiteren Verlauf als Hauslehrer ohne Anführungszeichen bezeichnet.

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Otto ein, die durch andere Personen wie Emmy Friedländer oder Fritz Meyer sowie die Gründung des Berthold-Otto-Vereins vorangetrieben werden und mit einer quantitativen und qualitativen Erhöhung der Aktivitäten auf dem pädagogischen Markt einhergehen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stellt Berthold Otto dann den Hauslehrer auf eine nahezu reine Kriegsberichtserstattung um. Spätere Ereignisse werden zur Untermauerung der Befunde herangezogen, aber nicht im gleichen Ausmaß analysiert. Die ausgreifende Publizistik Berthold Ottos ist ein besonders prägnantes Merkmal seiner Aktivitäten, seine Zeitschrift stellt dabei ein zentrales strategisches Mittel dar. Sie ist das Medium, über welches Berthold Otto seine Leserinnen und Leser auffordert, durch eine Veränderung ihrer familiären pädagogischen Praxis an der Schul- und damit auch der Gesellschaftsreform mitzuwirken. Otto entwirft so die Vorstellung einer durch seine Pädagogik zusammengehaltenen und durch deren tägliches Praktizieren sich immer wieder neu konstituierenden Gemeinschaft. Damit entsteht ein Identifikationsangebot, dessen Wirksamkeit durch die Verbindung von der Idee einer besseren Zukunft getragen wird, die mit der Vorstellung gekoppelt ist, dass es jedem Menschen möglich ist, an deren Umsetzung aktiv mitzuwirken. Diese Praxis, die quasi-religiöse Züge aufweist, ist ein wichtiges strategisches Element für den Zusammenhalt der Unterstützungsbewegung Berthold Ottos. Hieraus erklärt sich auch die organisatorische Form seiner Schule als Halbtagsschule für Kinder, die primär in ihren Familien leben sollen. Familien sind der herausgehobene Ort der Pädagogik Berthold Ottos, die Schule dient als Verlängerung des familiären Erziehungssettings. Das Zusammenspiel dieser Elemente – der starken Betonung der Familie, der daraus resultierenden Organisation der Schule als Halbtagsschule und der hochfrequenten Publizistik mit ihrer Aufforderung zur gemeinsamen Arbeit – stellt Otto gegenüber anderen Reformpädagoginnen und Reformpädagogen heraus. Die in der Studie genutzten Quellen entstammen dem Nachlass Berthold Otto, der sich im Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) in Berlin befindet.17 Der Nachlass setzt sich aus dem persönlichen Nachlass von Berthold Otto und dem „Schularchiv“ der Berthold-OttoSchule zusammen. Insgesamt umfasst er 739 Akteneinheiten, in denen Lebensdokumente, persönliche und institutionelle Korrespondenzen,18 Samm-

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Vgl. hierzu und im Folgenden die Anmerkungen zum Nachlass im dazugehörigen Findbuch und im Katalog zur Ausstellung der BBF: „Berthold Otto. Meine Schule war und ist die freiheitlichste der Welt.“, die vom 19.1.-18.5.2007 dort stattgefunden hat. Die Korrespondenzsammlungen sind alphabetisch geordnet, eine Feinerschließung der Namen aller Briefautorinnen und Briefautoren, die auch eine weitere systematische Auswertung ermöglichen würde, steht noch aus. In vielen Fällen sind neben Briefen,

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lungen unterschiedlicher Materialien und nicht zuletzt mehr als 1450 Fotos enthalten sind. Der zeitliche Schwerpunkt des überlieferten Quellenmaterials liegt dabei in der Zeit zwischen 1900 und 1933. Im Folgenden wird der Forschungsstand dargestellt und dann aus einer Herleitung der Analyseperspektive die Gliederung der Arbeit abgeleitet.

1.2. Forschungsstand Dass Berthold Otto zum historiografischen „Kernbestand“ der Reformpädagogik gehört, dürfte unbestritten sein. Er taucht – sei es durch Nennung, sei es in ausführlicher Darstellung – in den meisten Übersichten und Lehrbüchern zur Reformpädagogik auf, kann also als kanonisiert verstanden werden. Im Folgenden werden drei verschiedene Rezeptionsfelder dargestellt: zum einen das Auftreten Ottos in allgemeinpädagogischen Sammlungen, also in Darstellungen der Geschichte der Pädagogik oder der pädagogischen Klassiker. Zum anderen wird, als zweiter wesentlicher Aspekt, Forschung dargestellt, die sich primär mit Reformpädagogik und ausgehend davon auch mit Berthold Otto befasst.19 Der dritte Schritt dient einer ausführlicheren Beschäftigung mit Arbeiten, die Berthold Otto als zentralen Gegenstand haben. Im Ergebnis kann bereits festgehalten werden, dass die Anzahl der Arbeiten, die sich mit Fragestellungen zu bestimmten Aspekten aus Leben, Werk und/oder Theorie Berthold Ottos befassen, in jüngerer Zeit eher gering ist,20 seine Präsenz in allgemeinpädagogischen Texten abnimmt, während sie in reformpädagogischen Texten nach wie vor hoch ist.

1.2.1. Allgemeinpädagogische Darstellungen Berthold Otto findet sich in unterschiedlichen Überblicken zur „Geschichte der Pädagogik“ und zu „Klassikern der Pädagogik“ wieder.

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die an Berthold Otto oder andere Familienmitglieder gerichtet sind, auch Durchschläge von Ottos Briefen in dem Nachlass enthalten. Diese zugegebenermaßen nicht ganz trennscharfe Unterteilung ist der Struktur der (reform-)pädagogischen Historiografie geschuldet, die zwischen allgemeinpädagogischer und reformpädagogischer Auseinandersetzung unterscheidet. Ob diese Unterscheidung systematisch begründet ist, scheint eine nicht abschließend zu klärende Frage zu sein, die sich je nach Perspektive auf das Phänomen Reformpädagogik unterschiedlich beantworten lässt (vgl. beispielsweise dazu Ullrich (1990), Benner/Kemper (2003) sowie Oelkers (2005)). Dies unterscheidet die Forschungslage zu der, die sich mit Landerziehungsheimen auseinandersetzt.

Einleitung

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In den geschichtlichen Darstellungen zur Allgemeinpädagogik, ist der systematische Platz seiner Erwähnung in der Regel im Zusammenhang mit „Reformpädagogik“ oder der „Pädagogischen Bewegung“,21 zumeist als Vertreter der „Bewegung vom Kinde aus“ und/oder als Vertreter einer Persönlichkeits-, resp. Individualpädagogik. Eine, gemessen an den genannten Darstellungen, relativ umfangreiche Auseinandersetzung mit Otto findet sich in der 2011 erschienenen „Geschichte der Pädagogik“ von Dieter Benner und Friedhelm Brüggen.22 Auch das Handbuch der Deutschen Bildungsgeschichte folgt der Interpretation von Berthold Otto als Vertreter der Pädagogik vom Kinde aus, allerdings kommt ihm hier noch eine weitere Bedeutung zu: Während im vierten Band (1870-1918) die Einordnung einmal im grundlegenden Kapitel „Industriegesellschaft und Kulturkrise“ von Christa Berg und Ullrich Hermann und ein zweites Mal im Kapitel „Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik“ unter der Überschrift „Mythos Kind – Pädagogik vom Kinde aus“ stattfindet, beschäftigt sich im folgenden Band (1918-1945) HeinzElmar Tenorth mit dem Thema „Pädagogisches Denken“. Hier erwähnt er Otto einmal als ein Beispiel für schulreformerische Ansätze, ein zweites Mal ordnet er ihn als Vertreter „ständisch-korporativen Denkens und antiliberaler Ansätze“23 ein, und interpretiert ihn damit als Pädagogen, dessen Konzept „dem nationalsozialistischen Denken affin“ war.24

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So bei Reble (1951): „Achtes Buch“ (Das zwanzigste Jahrhundert) 2. Kapitel: „Die pädagogische Bewegung bis 1933“, dritter Abschnitt „Pädagogik ‚vom Kinde aus‘“ (257ff.); Weimer/Jacobi (1992): „Das zwanzigste Jahrhundert – Das Bildungswesen 1918-1945 – Das Schulwesen und die pädagogischen Reformbestrebungen“ (188); Blankertz (1982): Kapitel „Große Industrie“, Unterkapitel „Pädagogik auf dem Weg zu einer selbständigen Wissenschaft“ und dort unter „Sozialgeschichtliche Voraussetzungen: Kulturkritik, Jugendprotest und der Zusammenbruch des Herbartianismus (210-214); Ballauf/Schaller (1973): Darstellung im Kapitel zu Montessori, basierend auf Böhm (1969) (694ff.); Blättner (1980) im Kapitel „Die Schule des wahren Lebens“ (277-290), ebenfalls im gleichen Atemzug wie Montessori. Elzer (1985) gibt eine kurze Darstellung Ottos (302-304). Rechtmann (1969): Otto wird als Vertreter der Persönlichkeitspädagogik beschrieben, eingeordnet in das Kapitel „Sozial- und Individualpädagogik“ (299ff.). Benner/Brüggen (2011). Diese folgt inhaltlich der Interpretation Ottos in Benner/Kemper (2003), freilich in sehr verknappter Form. Tenorth (1989): 135. „Aber nicht nur bei Kritikern der bürgerlichen Gesellschaft wie Krieck, auch im wohletablierten pädagogischen Denken fanden sich Konzepte, die dem nationalsozialistischen Denken affin waren: Ständisch-korporative Gesellschaftsbilder und antiliberales Denken zeigten Reformpädagogen und Schulmänner wie Scharrelmann, B. Otto oder der ‚Volkskonservative‘ W. Stapel; W. Rein rechnete Krieck zu den Völkischen ‚im guten Sinne‘, Spranger teilte die Parlamentarismuskritik von C. Schmitt, Flitner die

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In der „Geschichte der Erziehung“, die ab 1957 von der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften herausgegeben wurde, findet Berthold Otto in der 13. Auflage von 198225 zwei Erwähnungen. Im Abschnitt „Imperialistische Schulpolitik und Pädagogik – Schulpolitik, Pädagogik und Jugenderziehung im Zeitalter des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ wird er in der Gruppe der „bürgerlichen Pädagogen“ als „politischer Pädagoge“ gekennzeichnet, dessen Pädagogik den Bestand der „bürgerlichen Ordnung“ sichern wollte.26 Zudem wird seine Pädagogik als Teil der „deutschen Pädagogik“ interpretiert, die mit ihren „nationalistisch-romantisierenden Elemente(n) und (…) völkischen Tendenzen“27 wesentliche Anknüpfungspunkte für die „faschistische Erziehungslehre“ darstelle.28 In Heinz-Elmar Tenorths 1988 erstmalig erschienener „Geschichte der Erziehung“29 wird Otto nicht genannt,30 ebenso wenig in seiner Neuauflage der „Klassiker der Pädagogik“.31 In der vorherigen Ausgabe, die von Hans Scheuerl32 herausgegeben wurde, bekommt Otto ein würdigendes Portrait, das Jürgen Henningsen verfasst hat.33 Auch die inzwischen in drei Auflagen erschienenen „Klassiker der Pädagogik – Die Bildung der modernen Gesellschaft“, im Jahr 2006 herausgegeben von Bernd Dollinger,34 weisen Otto nur

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Kritik von Liberalismus und Kapitalismus, die sich innerhalb der jugendbewegten Gesellschaftstheorie z.B. im Umkreis von H. Freyer entwickelte.“ (Tenorth 1989: 135) Günther et al (Red.) (1982). „Die sich verschärfenden antagonistischen Gegensätze im imperialistischen Deutschland wollte er durch Erziehung zum ‚volksorganischen Denken‘ überbrücken und die Jugend zur Klassenharmonie führen, um den Bestand der bürgerlichen Ordnung zu sichern“ (Günther et al (1982): 440.) Günther et al (1982): 594. Neben Otto werden als weitere Vertreter der „deutschen Pädagogik“ genannt: Paul de Lagarde, Julius Langbehn, Friedrich Nietzsche und Paul Natorp (vgl. Günther et al (1982): 594). Tenorth (1988). Was möglicherweise auch der Struktur der Arbeit geschuldet ist. Tenorth folgt hier eher einem sozialstrukturellen und systemgeschichtlichen Ansatz, was allerdings nicht dazu führt, dass andere Protagonisten der Reformpädagogik (Lietz, Petersen) unerwähnt blieben. Tenorth (2003). Scheuerl (1979). Henningsen (1979). Henningsens Beitrag ist insofern von Interesse, als er en passant die Rolle von Mäzenen und Mäzeninnen im Umgang mit der finanziell schwierigen Situation von Ottos Unternehmen anspricht (vgl. Henningsen (1979): 130). Dollinger (2006).

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einen eher illustrativ wirkenden, nicht aber beschreibenden oder gar analytischen Platz zu.35 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Darstellungen in weiten Teilen die gleichen Inhalte in Bezug auf Berthold Otto aufrufen: Verstanden als Vertreter einer „Pädagogik vom Kinde aus“, wird er als Reformpädagoge charakterisiert. Genannt werden dabei die Hauslehrerschule, der Gesamtunterricht und die Altersmundart. Ottos Bedeutung für die Reformpädagogik wird als mindestens zentral36 gesehen. Über die genaueren Lebensumstände oder schulorganisatorische Problemstellungen gibt es kursorische Aussagen, etwas ausführlicher ist nur der Aufsatz von Jürgen Henningsen.

1.2.2. Reformpädagogische Darstellungen Ohne auf die teilweise sehr vielfältigen und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommenden Arbeiten zur Reformpädagogik systematisch näher einzugehen,37 kann festgehalten werden, dass Berthold Otto in nahezu allen eine wesentliche Rolle spielt. Der Fokus bei der folgenden Darstellung ist dabei nicht, zu eruieren, was die Arbeiten en detail in ihrem theoretischen Zugriff voneinander unterscheidet oder verbindet, auch geht es nicht um eine Präferenz einer Auslegung des Phänomens Reformpädagogik. Vielmehr soll der Schwerpunkt auf dem Nachweis liegen, dass Berthold Otto als Protagonist der Reformpädagogik resp. der Pädagogischen Bewegung38 fest kanonisiert 35

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Die Erwähnung findet sich im von Sabine Andresen verfassten Teil. Unter dem Titel „Reformpädagogik und Klassiker“ (Andresen 2006) versucht sie eine Diskussion dessen, wer in der Reformpädagogik Klassikerstatus haben könnte, um dann „untypische“ Vertreter (Georg Simmel, Julius Langbehn, Adele Schreiber) in das Zentrum ihrer Überlegungen zu stellen. Oder sogar mehr: Bei Weimer/Jacobi beispielsweise ist er – analog zur Bewertung Nohls – der „bedeutendste“ der frühen Reformpädagogen (vgl. Weimer/Jacobi (1992): 188). Vgl. hierzu und im Folgenden statt vieler den instruktiven Aufsatz von Heiner Ullrich (1990), in dem er sich mit den Thesen von Oelkers (1989) auseinandersetzt und dabei eine knappe, aber einsichtige Systematik der Geschichtsschreibung der Reformpädagogik bis 1990 zugrunde legt. Primär geht es bei den Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Reformpädagogik darum, ob von einer „pädagogischen Epoche“ (Nohl) gesprochen werden kann oder ob es sich nicht eher um ein immer wiederkehrendes Phänomen handelt, das „nur“ unterschiedliche inhaltliche Aspekte stark macht (Oelkers). Die Pädagogische Bewegung beschreibt üblicherweise die Zeit von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik – während pädagogische Bewegung auch andere Zeiträume beschreibt und damit umfassender aber unspezifischer ist (vgl. dazu Benner/Kemper (2003): 13-56 und Scheibe (1969b): 25-50; Scheibe spricht auch dezidiert von der Reformpädagogischen Bewegung).

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ist und dass es wesentliche Themen gibt, die immer wieder auftauchen. Entsprechend beziehe ich mich auf ausgewählte zentrale Darstellungen der Reformpädagogik: Herman Nohl als Schöpfer der „Meistererzählung“ der deutschen Reformpädagogik und der vermutlich folgenreichsten Traditionslinie, die durch Wolfgang Scheibe, Hermann Röhrs sowie Wilhelm Flitner und Gerhard Kudritzki fortgeführt und erweitert wird. Weiterhin ist der von Jürgen Oelkers 1989 erstmals veröffentlichte Text „Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte“ zu nennen, weil er zu einer intensiven Diskussion über die Vorstellung von Reformpädagogik beigetragen hat.39 Ebenfalls zu nennen ist das mehrbändige Werk von Dieter Benner und Herwart Kemper,40 die eine kombinierte Darstellung der Reformpädagogik anhand von Quellen und deren ausführlicher Interpretation vorgelegt haben. Sie alle weisen Berthold Otto einen zentralen Platz zu, wenn sie darstellen, was Reformpädagogik ist oder sein kann. Als eine anders verfahrende Auseinandersetzung kommt die Arbeit von Ehrenhard Skiera in den Blick, die trotz großer Ausführlichkeit Berthold Otto nur wenig Raum gibt. Alle diese Arbeiten sind solche, die versuchen, Reformpädagogik begrifflich – sei es systematisch und/oder historiografisch – näher zu bestimmen. Auseinandersetzungen mit bestimmten Aspekten oder detaillierten Fragestellungen41 in Bezug auf Reformpädagogik werden an anderer Stelle dargestellt. Herman Nohl beschreibt Berthold Otto in seiner folgenreichen Interpretation der Pädagogischen Bewegung neben Hermann Lietz als „interessanteste Erscheinung“ der Pädagogik vom Kinde aus und kennzeichnet ihn als eine der „ganz wenigen ursprünglich pädagogischen Persönlichkeiten“42 Deutschlands. Diese exponierte Würdigung ist auch deshalb von Bedeutung, weil die Darstellungen Nohls als Ausgangspunkt vieler weiterer Auseinandersetzungen mit Reformpädagogik verstanden werden können – ob nun affirmativ oder kritisch. Heiner Ullrich hält dazu fest: „Wer sich heute mit der deutschen Reformpädagogik beschäftigt, kann dies nicht mehr ohne Auseinandersetzung mit der großen, bis in die siebziger Jahre hinein nahezu kanonisch geltenden monumentalen ‚Meistererzählung‘ Hermann Nohls (…) 1933 39

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Die Arbeit von Oelkers ist nicht die erste kritische Auseinandersetzung – solche gab es bereits zeitgenössisch. Ehrenhard Skiera spricht gar von einem „Reigen der ProKontra-Literatur“ (vgl. dazu Skiera 2010: 12). Für eine Kritik aus marxistischer Perspektive vgl. Schonig (1973). Für eine erziehungsphilosophische Darstellung vgl. Koerrenz (2004). Hier interessiert der zweite Textband (Benner/Kemper (2003)). Wie zum Beispiel Meike Baaders Analyse in Bezug auf den Einfluss religiöser Aspekte auf reformpädagogisches Denken (Baader (2005)) oder die letzten Arbeiten von Peter Dudek (Dudek (2009), (2012), (2013)). Nohl (1988): 105.

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schrieb er der zeitgenössischen deutschen Reformpädagogik – hermeneutisch-lebensphilosophischer Orientierung gemäß – nachgängig die systematische Deutung“.43 Die Kennzeichnung als „Meistererzählung“ begründet Ullrich mit der folgenreichen Wirkung auf die historiografische Auseinandersetzung mit Reformpädagogik.44 Nohl interpretiert Otto als „sokratische(n) und unpathetische(n) Mensch“,45 der „in seiner stillen Art einen erstaunlichen Radikalismus der Theorie“46 entwickelt. Als zentrale Aspekte ruft er dabei die organische Perspektive und die Orientierung an der familiären Struktur von Ottos Pädagogik auf und benennt deren zentralen Aspekte, die in nahezu allen Darstellungen immer wiederkehren: Gesamtunterricht, Altersmundart und Kindzentrierung. Wilhelm Flitner und Gerhard Kudritzki geben 1961 erstmals den Band „Die deutsche Reformpädagogik. Die Pioniere der pädagogischen Bewegung“47 heraus, der 1995 in der 5. Auflage erscheint. Es handelt sich um eine von Wilhelm Flitner eingeleitete Quellensammlung, die als zentrale Themen u.a. die Kulturkritik, Landerziehungsheim- und Kunsterziehungsbewegung und, in Zusammenhang mit der Unterrichtsreform, Berthold Otto thematisiert. In seiner Einleitung charakterisiert Wilhelm Flitner Berthold Otto als „Denker“. In Bezug auf die Hauslehrerschule in Lichterfelde stellt er fest, dass Otto in dieser „mit meist sprachlich überdurchschnittlich entfalteten Kindern des Berliner Westens – bei aller unverkennbaren Einseitigkeit – glänzenden Erfolg aufzuweisen hatte“.48 In einer sich affirmativ auf den Vorschlag Nohls beziehenden Weise können die Arbeiten von Wolfgang Scheibe49 und Hermann Röhrs50 – beide aus der Schülerschaft Wilhelm Flitners hervorgegangen – gesehen werden. Sie

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Ullrich 1990: 895; vgl. ebd.: 901ff.; Hervorhebung von mir, KK. „Weniger Nohls tiefsinnige lebensphilosophisch-metaphysische Kulturdiagnose, vielmehr seine historiographische Sicht auf die Reformpädagogik als eine Epoche und als ein in sich einheitlicher Typ sozialer Bewegung mit einer notwendigen immanenten Phasenfolge hat bis heute weitergewirkt und für die bisherigen Gesamtdarstellungen kanonische Bedeutung behalten.“ (Ullrich 1990: 195; Hervorhebungen im Original) Nohl (1988): 106. Nohl (1988): 106. 1962 folgt der zweite Band mit dem Untertitel „Ausbau und Selbstkritik“ (Flitner/Kudritzki 1962). Flitner (1995): 26. Scheibe (1969b). Röhrs (1998).

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erweitern die Vorstellung der pädagogischen Epoche, wenngleich unterschiedlich weitreichend, um den Aspekt der Internationalität.51 Wolfgang Scheibes „Die reformpädagogische Bewegung“ erschien erstmals 196952 und steht deutlich in der Tradition Nohls, was bereits der Fokus des Titels auf „Bewegung“ nahelegt. Er übernimmt die Argumentationsfigur der kulturkritischen Perspektive von Nohl und auch dessen Idee der Wechselwirkung verschiedener sozialer Bewegungen mit der Pädagogischen Bewegung. Auch Scheibe ordnet Otto als Vertreter der kindzentrierten Reformpädagogik ein und stellt ihn als besonders wichtigen Protagonisten vor: „Der bedeutendste deutsche Vertreter der neuen Reformpädagogik, der im Blick auf das Kind umstürzend neue Gesichtspunkte für die Erziehung voranbrachte, war ohne Zweifel Berthold Otto.“53 Die weiteren Ausführungen zu Otto und seiner Schule stellen einen umfangreichen Überblick dar, der neben den zentralen theoretischen Aspekten auch die Schule als solche und besonders herausgehoben, den Gesamtunterricht54, abbildet. Hermann Röhrs55 weitet den Blick auf Reformpädagogik, indem er ihr stärker noch als Wolfgang Scheibe eine internationale Perspektive zuschreibt, sie also als Phänomen interpretiert, das in unterschiedlichen Ländern unter unterschiedlichen Bezeichnungen eine ähnliche Ausgangslage besaß und eine ähnliche Zielsetzung verfolgte.56 Dabei stellt auch er einen Zusammenhang zwischen Kulturkritik und Reformpädagogik her und benennt, wie Nohl,57 Lagarde, Langbehn und Nietzsche als deren literarische Wegbereiter. Berthold Otto wird von Hermann Röhrs als Vertreter der „anthropologisch-psychologisch bestimmten Reform“58 interpretiert; somit ordnet er ihn 51

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Ullrich kennzeichnet als Leerstellen bei Nohl das Fehlen der marxistisch und psychoanalytisch orientierten Reformer wie beispielsweise Bernfeld und die Verengung des Blicks auf den Kontext Deutschland (vgl. Ullrich (1990): 901). Insgesamt zehn Auflagen, letzter Nachdruck der 10. erweiterten Auflage: 1999. Wolfgang Scheibe war Schüler der Berthold-Otto-Schule und kannte Otto entsprechend als Lehrer (siehe DIPF/BBF/Archiv Nachlass Berthold Otto OT 118 Bl. 66 und Wehle (1969): 7). Scheibe (1969b): 52. Als weitere „Pioniere der neuen Pädagogik“ nennt Scheibe explizit: Ellen Key, Ludwig Gurlitt, Fritz Gansberg und Heinrich Scharrelmann, Johannes Gläser und die Hamburger Reformer, Maria Montessori, Ovide Decroly (Scheibe (1969b): 52ff.). Vgl. dazu auch Scheibe (1969a) und die entsprechenden Ausführungen im Kapitel 2. Der hier zugrunde gelegte Text aus Röhrs (1998) ist nahezu identisch bereits in Röhrs (1980) zu finden. Vgl. Röhrs (1998): 49ff. und passim; sowie Röhrs (1995) und (1994). Nohl (1988): 10ff. Röhrs (1998): 235ff.

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neben anderen59 der „wissenschaftlich geleiteten Bildungsreform“ zu. Besonders die Themen „Reform der Schule“ und „Zukunftsschule“ erhalten viel Raum, ebenso wird, als zweiter Teil des Unterkapitels, die Schule von Johannes Kretschmann,60 der viele Ideen Ottos übernahm, dargestellt. Zeitlich weit umfangreicher argumentieren Dietrich Benner und Herwart Kemper. Sie haben unter dem Titel „Theorie und Geschichte der Reformpädagogik“ ein mehrbändiges Werk, bestehend aus Text- und Quellenbänden, veröffentlicht, das von der Aufklärung bis in die 1990er Jahre reicht und explizit mit einer Vorstellung von „Normalpädagogik“ und „Reformpädagogik“ argumentiert.61 Hier interessiert der zweite Textband,62 der sich mit der „Pädagogischen Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik“ befasst. Die Darstellung zu Berthold Otto findet ihren systematischen Platz im Kapitel zu den Reformansätzen der Pädagogischen Bewegung. Dabei kennzeichnen die Autoren Otto zunächst über sein gesellschaftspolitisches Programm und entwickeln dann die These: „Zu den in systematischer Hinsicht grundlegenden Merkmalen der Pädagogik Berthold Ottos gehört in diesem Zusammenhang, dass er seine Konzeption einer Schule der Zukunft keineswegs linear aus seinen gesellschaftspolitischen Vorstellungen eines auf monarchistischer Grundlage zu errichtenden sozialistischen Staates ableitete, sondern auf von dieser völlig unabhängige pädagogische Überlegungen zur Einrichtung einer experimentellen Hauslehrerschule, zur Praxis eines sich des Gesprächs bedienenden Lehrens und eines als diskursive Praxis konzipierten Gesamtunterrichts gründete“.63 Aus dieser Perspektive legen sie, folgerichtig, den Schwerpunkt ihrer ausführlichen Darstellung auf den Gesamtunterricht, der ihnen als Ort der Erziehung zur Toleranz gilt.64 59 60

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Maria Montessori, Ovide Decroly, F.E. Otto Schultze, Peter Petersen und Martin Buber. Johannes Kretschmann (1859-1944) wird 1921 Lehrer einer einklassigen Dorfschule in Holbeck bei Luckenwalde. Er ist Teilnehmer und auch Beitragender auf den Weimarer Pfingsttagungen und Autor für den Deutschen Volksgeist. Methodisch geht er über Ottos Arbeit hinaus, als er den Unterricht in seiner Schule in weiten Teilen als Gesamtunterricht durchführt. Zu Ottos Lebzeiten publiziert er einen Erfahrungsbericht über den „Freien Gesamtunterricht in der Dorfschule“ (Kretschmann 1925) in einem Band mit „zentralen Aussagen“ des Otto’schen Denkens (Kretschmann 1929), der 1959 von Herbert Frommberger neu herausgegeben wird. Nach 1945 folgen weitere (vor allem auf Grund- bzw. Volksschule bezogene) pädagogische Publikationen, posthum u.a. von Otto Haas herausgegeben. Vgl. zu den ersten beiden Teilen: Depaepe (2003), zur Unterscheidung von Normalund Reformpädagogik: Benner (1998). Benner/Kemper (2003). Benner/Kemper (2003): 174. Vgl. Benner/Kemper (2003): 181ff. sowie Benner/Brüggen (2011): 286.

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Jürgen Oelkers veröffentlichte 1989 eine „kritische Dogmengeschichte“ zur Reformpädagogik. Oelkers` grundlegende These ist, dass Reformpädagogik eben keine einheitliche „mit einer originären Theorie und Praxis der Erziehung“65 sei, es handele sich vielmehr um eine Fortführung des neuzeitlichen pädagogischen Projekts.66 Entsprechend argumentiert er auch gegen eine unterstellte Einheit der Reformpädagogik und gegen eine Kanonisierung bestimmter Pädagoginnen und Pädagogen.67 Reformpädagogik bestehe aus einem Konglomerat von Semantiken, Praxen und Publizistiken sowie einem untereinander gut vernetzten Personal, was ihn zu der Einschätzung führt: „Das Objekt (= Reformpädagogik; KK) ist also vielfältig, nicht einheitlich, und die einzelnen Stränge müssen ebenso kontextspezifisch wie detailliert aufgearbeitet werden, ohne gleichsam in einer Summe zusammen zu stimmen.“68

Im Rahmen des Kapitels „Konzepte der Schulreform – Schulmodelle“69 stellt Oelkers Berthold Otto im Zusammenspiel mit vier weiteren Schulmodellen (Laborschule (Dewey), Landerziehungsheime (Lietz u.a.), Arbeitsschule (Kerschensteiner), Jena-Plan-Schule (Petersen)) vor, ein weiterer längerer Abschnitt70 ist im Unterkapitel „Unterrichtsmodelle“71 zu finden.72 Die Hauslehrerschule charakterisiert Oelkers als eine vorstaatliche Form von Schule, sie wäre dem in bürgerlichen und feudalen Milieus angesiedelten Hauslehrerunterricht nachempfunden. Interessant ist dabei, dass Oelkers so-

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Ullrich (1990): 895f. Es sei also die Frage zu stellen, „ob Reformpädagogik überhaupt eine pädagogische Epoche gewesen ist. Oft wird sie so verstanden, weil viele Akteure zwischen 1890 und 1930 von ‚neuer‘ im Unterschied zu ‚alter‘ Erziehung gesprochen haben und dabei einfach aus rhetorischen Gründen eine Art Epochenbruch unterstellten. Das ‚Neue‘ sollte sich in ganzer Linie vom ‚Alten‘ unterscheiden, weil das optimale Aufmerksamkeit sicherte.“ (Oelkers (2005): 14) Vgl. Oelkers (2005): 13f. Oelkers (2005): 17. Oelkers (2005): 153-191. Neben diesen beiden zentralen Orten finden sich im gesamten Text immer wieder Nennungen oder kurze Auseinandersetzungen mit Otto – er hat, zusammen mit Dewey und Pestalozzi, die meisten Einträge im Personenregister. Oelkers (2005): 192-217. Erstaunlich ist dabei, dass er sich vor allem auf die Arbeit von Gudrun Ferber (1925) bezieht und dies so begründet: „Neuere Arbeiten über Otto liegen nicht vor. Die meisten Darstellungen richten sich nach der Biografie von Paul Baumann (1959-1962), der als Schüler Ottos in hohem Maße befangen war. Ottos politische Anschauungen werden ausgeblendet und die pädagogische Konzeption wird über Maßen geschönt.“ (Oelkers (2005): 176, FN 46) Auch wenn der Hinweis auf die Bezüge zu Baumann stimmt, sind zumindest mit den Arbeiten von Elmar Schnücker (1990) und Reinhard Bergner (1999) über Baumann hinausgehende Darstellungen vorhanden.

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wohl die permanente Publizistik73 als auch die Tätigkeit des Berthold-OttoVereins74 als bedeutsam für den Erfolg von Berthold Ottos Bestrebungen benennt. Ausführlich widmet er sich dem Gesamtunterrichts, den er als „Kristallisationspunkt der deutschen Reformpädagogik“75 versteht und anhand überlieferter Unterrichtsprotokolle kritisch einordnet. Ehrenhard Skieras „Kritische Einführung in die Reformpädagogik“76 nimmt wiederum einen Blick auf deutsche und internationale Reformpädagogik ein. Systematisch folgt er durchaus affirmativ der Struktur, wie sie bei Nohl zu finden ist, allerdings bekommt Berthold Otto kein eigenes Kapitel,77 sondern neben einigen kursorischen Erwähnungen lediglich einen kurzen Auftritt am Ende des Textes, der auch eher der Illustration der Tatsache dient, wie die Kanonisierung eines Pädagogen durch die geisteswissenschaftliche Pädagogik innerhalb der reformpädagogischen Historiographie ablaufen kann.78 Auch in dem 2013 erschienenen „Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890-1933). Teil 2: Praxisfelder und Pädagogische Handlungssituationen“, herausgegeben von Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt, erfolgt eine Auseinandersetzung mit Berthold Otto. Im Kapitel „Schule“79 wird Otto deutlich von den Vertretern der Landerziehungsheime abgegrenzt80 und 73 74 75

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Oelkers (2005): 177, FN 48. Oelkers (2005): 178, FN 51. „Berthold Ottos ‚Gesamtunterricht‘ war einer der Kristallisationspunkte der deutschen Reformpädagogik. Der Methode wurde Dignität und Wirksamkeit unterstellt, obwohl oder weil unabhängige Beobachtungen kaum vorlagen. Die frühe und andauernde Publizistik setzte das Charisma der Methode voraus und kontrollierte die Effektbehauptungen allenfalls am Rande. Was Otto selbst zur Methode sagte, war weitgehend akzeptierte Wirklichkeit und damit reformerischer Ansporn. Andererseits geben die zahlreichen Unterrichtsprotokolle in etwa Aufschluss darüber, was die Praxis der Methode bestimmt hat. Wirkungsannahmen sind damit nicht verifizierbar, wohl aber kann die große Stilisierung des Gesamtunterrichts auf diese Weise durchsichtig gemacht werden.“ (Oelkers (2005): 200) Skiera (2010). Im Gegensatz zu Maria Montessori, der Landerziehungsheimbewegung, Peter Petersen und dem Jenaplan etc. Skiera (2010): 470. Gleichwohl betont Skiera kurz vorher, dass Berthold Otto in den Darstellungen zur Reformpädagogik eine wachsende Bedeutung erfahren habe, weswegen er ihn zumindest kurz in seine Betrachtungen mit aufnehme (vgl. Skiera (2010): 469). Keim/Schwerdt (2013): 657-776; Berthold Otto wird auf den Seiten 681-686 behandelt. „Im Unterschied zu den Landerziehungsheimen, die als radikalstes Experiment einer Erschließung von Erziehungs- und Bildungspotenzialen im Rahmen einer Lebensgemeinschaft von Heranwachsenden und Älteren und somit als Gegenentwurf zur tradi-

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als Reformpädagoge vorgestellt, der als ein Ziel seiner Tätigkeit die Reform des staatlichen Schulwesens begriffen hat.81 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass vor allem in den Darstellungen von Benner/Kemper und Oelkers neue Interpretationsansätze zu Berthold Ottos Werk zu erkennen sind. Gleichzeitig ist Berthold Otto im reformpädagogischen Kanon sicher verankert, selbst wenn er, wie bei Skiera, nur eine randständige Position einnimmt. Im folgenden Abschnitt werden nun Arbeiten vorgestellt, die sich zentral mit Berthold Otto befassen.

1.2.3. Berthold-Otto-Forschung Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zu Berthold Otto findet sich in der Arbeit von Elmar Schnücker.82 Schnücker unterteilt drei zeitliche Abschnitte in seiner Darstellung (1900-1933, 1933-1945 und 1945-1988), die im Folgenden zugrunde gelegt wird; die nach 1988 publizierte Forschungsliteratur wird ergänzt.83 Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Arbeiten, die nach 1945 erschienen sind. Neben den bereits im ersten Abschnitt dieses Kapitels genannten Darstellungen bzw. Erwähnungen in Lexika entstehen vor allem bis in die 1970er Jahre Arbeiten, die sich mit neuen Aspekten zu Berthold Ottos Leben und Werk befassen. Rosemarie Wothge interpretiert in ihrer Habilitationsschrift von 1955 Ottos Denken als „Beitrag zur Pädagogik des deutschen Imperialismus“.84 Diese Arbeit ist – jenseits ihrer politischen Gebundenheit – deshalb interessant,

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tionellen ‚Unterrichtsschule‘ wahrgenommen wurden, fand die ‚Hauslehrerschule‘ im Kontext einer ‚Pädagogik vom Kinde aus‘ Beachtung, deren Realisierbarkeit unter den institutionellen Bedingungen der Tagesschule erprobt werden sollte“ (Keim/Schwerdt (2013): 681). „Anders als die Gründer der Landerziehungsheime begriff Otto seine pädagogische Reformarbeit ausdrücklich als Beitrag zur Erneuerung der staatlichen Regelschule und zugleich als wissenschaftlich angelegten Schulversuch.“ (Keim/Schwerdt (2013): 682) Schnücker (1990): 36-51. Schnücker geht hier systematisch anders vor: Er subsumiert wissenschaftliche Arbeiten zu Otto jeglicher Provenienz in die drei zeitlichen Phasen, so dass dort auch pädagogische Lexika und Gesamtdarstellungen zur Reformpädagogik ihren Platz in der zeitlichen Einordnung finden. Wothge (1955).

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weil die Autorin Zugang zu Briefwechseln hatte, in denen es um die Organisation staatlicher Unterstützung und der daran beteiligten Personen ging.85 Ein weiteres wesentliches Dokument ist die Biografie von Paul Baumann, „Der Mann, das Leben, das Werk.“86 Trotz ihres hagiografischen Charakters – Altendorf verwendet das Prädikat „hymnisch“87 – ist diese Arbeit hinsichtlich der alltäglichen Hindernisse und der „Schulpraxis“ der Hauslehrerschule instruktiv. Als die einzig komplette Biografie88 zu Berthold Otto kommt sie auch in vielen Abhandlungen zu Otto als Quelle vor.89 Wie Wothge auch, hatte Baumann Zugang zu Archivmaterial, zudem stand er in Kontakt mit anderen Mitgliedern des Berthold-Otto-Kreises, der bis weit in die 1960er Jahre aktiv war.90 Aus diesem Zusammenhang stammt auch der Band „Berthold Otto. Leben und Werk“, den Alfred Roedl 1959, also im 100. Geburtsjahr Ottos, herausgegeben hat. Hier stellen neben anderen Paul Baumann, Alfred Roedl und Karl Kreitmair ihre individuelle Sicht auf Berthold Otto dar. 1969 publiziert Wolfgang Scheibe einen längeren Aufsatz, in dem er den Gesamtunterricht, wie er auf Otto zurückgeht, als Kernstück von dessen Pädagogik interpretiert.91 Dabei bezieht er sich auf einen Vortrag Berthold Ottos zum Gesamtunterricht und ordnet diesen anhand anderer Schriften und biografischer Bezüge ein. Diese Arbeit ist in Hinblick auf die zentrale Rolle des Konzepts „Gesamtunterricht“ bedeutsam, das bereits zu Ottos Lebzeiten für seine Popularität gesorgt hat. 1974 erscheint die Dissertation von Burkhard Dorn, 1989 die von Peter Langen. Beide stellen die Hauslehrerschule und die Pädagogik Ottos in den Kontext zeitgenössischer Entwicklungen im Schulsystem und befragen sie auf einen möglichen Gehalt. Bei Dorn ergibt dies die Frage nach dem Verhältnis von Zukunftsschule und Bildungsreform, bei Langen geht es um „Anregun85

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Rosemarie Wothge (1926-1981) ist die zweite Frau von Hans Ahrbeck (1890-1981). Dieser heiratete 1915 Elisabeth Sträter, Tochter von Edmund Sträter, einem Magdeburger Gymnasiallehrer, der Otto sehr nahe stand und verpflichtet war. Elisabeths Schwester Klara heiratete später Richard Hanewald, einen Lehrer der Berthold-OttoSchule, der dann mit seiner Frau und anderen zusammen Berthold-OttoVersuchsklassen in Magdeburg initiierte. (vgl. Bergner (1999)). Baumann I-VI. Altendorf (1988). Für weitere Literatur mit Hinweisen zur Biografie Ottos vgl. auch Weiß (1994): 1, FN 2. Vgl. statt vieler anderer: Henningsen (1979), Steinhaus (1965) und Scheibe (1969a, b). Vgl. dazu Dühlmeier (2004): 210f. Zudem kannte er Berthold Otto persönlich: Paul Baumann war eine der wesentlichen Protagonisten des Berthold-Otto-Vereins und von 1912-1914 Lehrer an der Berthold-Otto-Schule. Scheibe (1969a).

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gen des reformpädagogischen Modells (i.e. das von Otto, KK) für heute“. Ausgangspunkt der Überlegungen sind theoretische Schriften Ottos, es handelt sich also um Beschäftigungen mit Darstellungen, die Otto selber verfasst hat. Die von Elmar Schnücker 1990 vorgelegte, bereits angesprochene Dissertationsschrift setzt sich mit einer konsequenten Bearbeitung des Begriffsapparates und Theoriegebäudes von Berthold Otto auseinander. Diese Arbeit ist insofern bedeutsam, als sie ausdrücklich auf einen immanenten Zusammenhang von politischer, pädagogischer und psychologischer Theorie in Ottos Denken hinweist. Nur im Zusammenspiel dieser drei Instanzen und der jeweils zugehörigen Begriffe und Schriften wird für Schnücker die Zielrichtung von Ottos Pädagogik in ihrem Umfang verständlich. Entsprechend leistet diese Arbeit einen erheblichen Beitrag zum Verständnis des Denkgebäudes von Berthold Otto. 1995 erscheint unter dem Titel „Individualpsychologie und Reformpädagogik“ die Dissertation von Barbara Seidemann-Umbricht. Sie untersucht darin den individualpsychologischen Ansatz in den Wiener Schulen der Zwanzigerjahre und kontrastiert diese mit der Hauslehrerschule und den Hamburger Gemeinschaftsschulen. In Bezug auf Leben und Werk Ottos bietet die Arbeit wenig Neues – die Darstellung Berthold Ottos ist eng an den Arbeiten von Hermann Röhrs orientiert. Die derzeit jüngste Dissertation, die sich mit Berthold Otto (wenn auch im weiteren Sinne) befasst, ist die Studie zu den Magdeburger Berthold-OttoSchulen von Reinhard Bergner.92 Diese Arbeit ist insofern bedeutsam, als sie stärker als die bisher genannten die Vernetzung und personellen Verbindungen in den Blick nimmt, die den Aufbau und Erhalt der Magdeburger Berthold-Otto-Schulen betreffen. Damit ist sie nach der Biografie von Baumann die erste, die nicht primär eine immanent theoretische Perspektive einnimmt, sondern sich mit den Möglichkeitsbedingungen eines praktischen Schulversuchs auseinandersetzt. Edgar Weiß geht in einem 1994 erschienen Aufsatz kritisch der Frage nach, ob Berthold Otto wirklich als Vertreter der Pädagogik „vom Kinde aus“ gesehen werden kann, und kennzeichnet seine Pädagogik als eine, die nicht im Dienste der Demokratie stand.93 Karl Kreitmair gibt 1963 eine Textsammlung zu Bertold Otto heraus, 2008 erscheint eine ebensolche, herausgegeben von Joachim Henseler und 92 93

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Gernot Barth. In ihrem Nachwort eruieren die Autoren, in wie weit Berthold Otto auch als (im Sinne des zu seiner Zeit herrschenden Verständnisses) Sozialpädagoge interpretiert werden kann, geben dabei auch noch einmal einen prägnanten Überblick über die Rezeptionsgeschichte und versuchen eine politische Einordnung.94 2009 erscheint eine von Wolfgang Eichler verfasste Rekonstruktion des persönlichen Verhältnisses von Berthold Otto und Klara Sträter. Bis auf die Arbeiten von Paul Baumann, Reinhard Bergner und Wolfgang Eichler zielen die genannten Darstellungen primär auf theoretisch orientierte Fragestellungen ab und stützen sich dabei auf Texte von Berthold Otto – wenn biografische Bezüge hergestellt werden, sind diese in der Regel der Biografie von Paul Baumann entnommen.95 Entsprechend lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Vor allem reformpädagogisch gehört Otto zum Kernbestand der Ausführungen, auch wenn er seinen Status als „Klassiker der Pädagogik“ eingebüßt hat. Diese deutliche Zugehörigkeit dürfte der zentralen Rolle, die ihm als Vertreter einer „Pädagogik vom Kinde aus“ zugeschrieben wurde und wird, genauso geschuldet sein wie die Prominenz des von ihm entwickelten Konzepts des „Gesamtunterrichts“. Ottos intensive schriftstellerische Tätigkeit und die Tatsache, dass sein Schulmodell in der Struktur dem der staatlichen Schulen (Halbtagsschule, kein Internat) ähnelte, könnten ein Übriges dazu beigetragen haben. Die hohe Attraktivität seiner Verbindung gesellschaftstheoretischer und pädagogischer Überlegungen scheint bis heute ungebrochen (was sich bei Barth/Henseler zeigt) und hat verschiedene Auseinandersetzungen mit freilich sehr disparaten Ergebnissen angeregt. Dennoch kann von einer soliden Forschungslage in Bezug auf den theoretischen Rahmen von Ottos Pädagogik ausgegangen werden.96 Weniger gut erforscht hingegen ist die Alltagsgeschichte der Unternehmungen Berthold Ottos. Außer bei Paul Baumann, der viele Hinweise in sei94 95

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Barth/Henseler (2008): 213-225. Eine aktuelle Ausnahme ist die Arbeit von Susanne Schwarz, die sich mit dem „Altersgemischten Lernen im Religionsunterricht“ befasst (Schwarz (2013)). Susanne Schwarz widmet Berthold Otto – neben Maria Montessori und Peter Petersen – ein ausführliches Kapitel (Schwarz (2013): 113-187), in dem sie vor allem auf die theoretischen Grundlagen seines Denkens (v.a. Steinthal und Lazarus) und seine Pädagogik in Bezug auf altersgemischte Gruppen eingeht. Dabei nutzt sie neben der Biografie von Baumann und den veröffentlichten Quellen (Kreitmair (1963); Barth/Henseler (2008)) vor allem Monografien von Otto und einige Jahrgänge der Zeitschriften „Der Hauslehrer“ und „Deutscher Volksgeist“. Hierzu gehören auch die bildungsphilosophischen Auseinandersetzungen mit Otto von Alfred Schäfer (2013) und (2012), die Ottos theoretischen Rahmen genauer ausloten und interpretieren.

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ner Biografie gibt, und einem kurzen Kapitel bei Rosemarie Wothge, finden sich nur verstreute und kursorische Anmerkungen dazu, wie es Berthold Otto gelungen ist, seine Schule und seinen Verlag – also sein Unternehmen – aufzubauen und abzusichern. Dabei ist es naheliegend, ein (reform)pädagogisches Unternehmen, wie es die Hauslehrerschule war, dahingehend zu untersuchen, wie es sich auf dem pädagogischen Markt in Konkurrenz zu anderen Schulen und im Hinblick auf die Notwendigkeit der Finanzierung, die immerhin einen ganzen Familienhaushalt tragen musste, verhält. Hierzu sind bisher keine systematisierten Aussagen gemacht worden. Gleichwohl finden sich in verschiedenen aktuellen Studien zur Reformpädagogik vereinzelt Aussagen zu Fragen der Finanzierung anderer reformpädagogischer Projekte und deren Absicherung. In ihrer Studie „Pioniere der Reformpädagogik. Die Bender’schen Anstalten für Knaben in Weinheim an der Bergstraße 1829-1918“97 beschreibt Helene Eggert kurz den Umgang der Anstaltsgründer mit dem ökonomischen Risiko einer Privatschulgründung. Sie führt an, dass es Karl und Heinrich Bender gelungen ist, sowohl „wohlhabende Lehrer“ als auch junge Universitätsabsolventen zu engagieren. Den Grund der Attraktivität sieht sie in der „Chance zum schulischen Experiment“,98 das auch pädagogische Freiräume geschaffen habe und in der Lage gewesen sei, „das Vertrauen ambitionierter Eltern zu gewinnen.“99 Die Odenwaldschule steht im Zentrum der Arbeit von Birte LembkeImbold,100 in der sie auch die Rolle von Paul Geheebs Schwiegervater Ernst Cassirer als Mäzen der Odenwaldschule aufruft, der nicht nur die Anfangsinvestition, sondern auch weitere finanzielle Unterstützungen zum laufenden Schulbetrieb geleistet hat. Diesem Engagement ordnet Birte Lembke-Imbold zwei Motive zu: die Liebe Cassirers zu seiner Tochter Edith und das „Selbstverständnis der Bourgeoisie, sich bürgerschaftlich zu engagieren.“101 Peter Dudek hat 2009 eine umfangreiche Studie zur FSG Wickersdorf vorgelegt,102 in der er auch Aspekte der Finanzierung beschreibt, die durch die Gründung einer GmbH gesichert wurde. Wickersdorf war damit in Besitz der 97 98 99 100

101 102

Eggert (2006). Eggert (2006): 33. Eggert (2006): 33. Lembke-Imbold (2010). Zur Odenwaldschule sowie Paul Geheeb und Edith GeheebCassirer existieren mehrere Studien, hier wurde die aktuellste Einzelstudie ausgewählt. Lembke-Imbold (2006): 210. Dudek (2009).

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jeweiligen Gesellschafterinnen und Gesellschafter. Peter Dudek rekonstruiert die GmbH und deren Gründung dabei implizit als Möglichkeit, eine Privatschule zu finanzieren, legt sein Augenmerk dabei aber nicht auf die Auseinandersetzung mit Strategien der Absicherung und den Umgang mit Konkurrenz auf dem pädagogischen Markt.103 Eine weitere Studie von Peter Dudek ist die 2013 erschienene Arbeit zu den Reformpädagogischen Landerziehungsheimen „Bergschule“ und „Dürerschule“ im hessischen Hochwaldhausen.104 Sie beinhaltet einige Hinweise auf Gründungsstrategien. Der Gegenstand, den Dudek hier bearbeitet, sind zwei letztlich gescheiterte Landerziehungsheime.105 Der Fokus der Untersuchung liegt auf der Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von bürgerlicher Jugendbewegung und Reformpädagogik. Interessant ist vor allem ein Aspekt der Gründungsgeschichte der Dürerschule. Diese wurde 1912 von zwei ehemaligen Lehrern der FSG Wickersdorf gegründet – Georg Hellmuth Neuendorff (1882-1949) und seine Frau Elisabeth Louis-Neuendorff – und ist nach der Odenwaldschule die zweite Abspaltung von der FSG Wickersdorf. In ihrem Selbstverständnis wollte sie eine freie Schulgemeinde sein. In der Studie werden einige Maßnahmen zur Verbesserung der finanziellen Situation der Schule beschrieben.106 Es erfolgt keine Systematisierung und Einordnung dieses Vorgehens als strategisches. Insgesamt lässt sich zeigen, dass die Frage, wie eine Schule formalrechtlich organisiert und finanziert wurde, in einigen Studien eine Rolle spielt. Allerdings steht dies thematisch nie im Zentrum der Auseinandersetzungen, sondern stellt einen mehr oder weniger wesentlichen Teilaspekt der Untersuchungen dar. Eine ausführliche und systematische Auseinandersetzung, die nicht nur die Frage der Finanzierung, sondern auch die der Strategien der Akquise und Absicherung umfangreicherer Ressourcen in ihr Zentrum stellt, ist bisher weder für Berthold Otto ad personam noch für andere reformpädagogische Projekte unternommen worden. 103 104 105

106

Dudek (2009): 111. Dudek (2013). „Beide Landerziehungsheime gehörten zu der Vielzahl privater pädagogischer Einrichtungen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die in der Nachfolge der Landerziehungsheime von Hermann Lietz entstanden waren, eine eigene pädagogische Programmatik entwickelt hatten, aber dann aus verschiedenen Gründen wieder schließen mussten. Das Ende der hoch verschuldeten Dürerschule kam im Oktober 1920 abrupt, weil sein Gründer wegen sexuellen Missbrauchs mehrerer Schülerinnen überführt, dann 1924 vor Gericht gestellt und verurteilt wurde. Die Bergschule dagegen musste aus anderen Gründen ihre Pforten schließen – ihr gingen die Schüler und damit die finanziellen Mittel aus.“ (Dudek (2013): 7) U.a. der Versuch, eine GmbH zu schaffen, und die Gründung eines Fördervereins analog zum Wickersdorfer „Bund für Freie Schulgemeinden“ (Dudek (2013): 68ff.).

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1.3. Der pädagogische Markt Berthold Otto befindet sich als pädagogischer Unternehmer auf einem pädagogischen Markt, den er auch selber mit strukturiert. Auf diesem Markt werden sowohl pädagogische Ideen als auch Schulplätze gehandelt – beides ist für Berthold Ottos Unternehmen wichtig, und beides generiert Einnahmen. Hier bringt er sich als Vertreter reformpädagogischer Ideen und Ansätze in Stellung. Berthold Ottos Politik dabei ist es, sich von der „alten“ Schule, die er auch als „Beibringschule“ bezeichnet, abzugrenzen und durch diese Abgrenzung gleichsam eine Kontrastfolie für seine eigenen pädagogischen Vorstellungen zu entwickeln. Diese sind mit einer auf eine bessere Zukunft gerichteten Heilsvorstellung verbunden, die Otto durch zwei strategische Elemente erreicht: zum einen durch die Verbindung seiner Pädagogik mit entwicklungs- und gesellschaftstheoretischen Aspekten, zum anderen durch detailreiche und damit realisierbar wirkende Verbesserungsvorschläge. Unternehmensstrategisch kann dieses Vorgehen als Konsequenz aus der quasimonopolistischen, und damit für den einzelnen Anbieter schwierigen Marktstruktur für schulische Erziehung verstanden werden.107 Die Präsenz auf dem pädagogischen Markt, aber auch die Veränderungen und Anpassungen der eigenen Inhalte an dessen Erfordernisse108, ermöglichen es Berthold Otto, das wäre die zweite These, auf diesem pädagogischen Markt Ressourcen für sein eigenes Unternehmen zu generieren. Ressourcen können dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen – es kann sowohl um finanzielle Unterstützung, wie auch um die Bereitstellung freier Zeit oder das Aktivieren eigener politischer oder persönlicher Verbindungen zugunsten Ottos gehen. Dieses Unternehmen besitzt die Form eines patriarchal geleiteten Familienunternehmens, dessen Oberhaupt und Zentrum Berthold Otto ist. Familienangehörige und zeitweise auch Personen des nahen persönlichen Umfeldes stellen mit Teilen ihrer Zeit und Arbeitskraft eine wichtige Ressource des Unternehmens dar. Dabei ist Berthold Otto zwar die unhinterfragte inhaltliche Autorität, unternehmerische Professionalisierungen aber gehen nicht (nur) von ihm, sondern (oft) von anderen Personen aus, wie die Beispiele Fritz Meyers und Emmy Friedländers zeigen. Auch die Auseinandersetzung 107

108

Die grundlegende Forderung nach der Auseinandersetzung mit den ökonomischen Rahmenbedingungen wurde von Oelkers (2012) formuliert, wird hier aber verändert und weiterentwickelt. Zum pädagogischen Markt der Zeit ist zu sagen: Während der Markt für Schulplätze monopolistisch organisiert war, war es der für pädagogische Ideen oder Theorien wesentlich weniger stark, hier gab es, so lange es nicht um die praktische Umsetzung ging, ein sehr großes und vielfältiges Angebot. Zum Beispiel mit einer zunehmenden Hinwendung zu gesellschaftstheoretischen Themen ab 1917.

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mit finanziellen Schwierigkeiten lehnt Otto in weiten Teilen ab, was oft dazu führt, dass diese vor ihm geheim gehalten werden. Gleichzeitig ist er aber nicht in der Lage, inhaltliche Kompromisse einzugehen, welche die finanzielle Situation für ihn – und damit für alle Familienmitglieder – hätten verbessern können. Damit kann als dritte These formuliert werden, dass Berthold Otto ein pädagogischer Unternehmer war, der die meisten unternehmerischen Tätigkeiten an Andere delegiert109 hat. Im Folgenden geht es um die Frage, welcher Praktiken sich Berthold Otto bedient, um seine Unternehmungen – also die Schule, den Verlag und seine weiteren Publikationstätigkeiten – zu finanzieren, und welche „Unternehmensstruktur“ sich aus dieser Beschreibung ableiten lässt. Diese Praktiken werden als ökonomische Praktiken rekonstruiert. Diese Rekonstruktion begründet sich mit der These, dass es für Berthold Otto nicht das primäre Ziel war, im klassischen Sinne eine Unternehmung110 zu etablieren und zu führen; er ist also kein modern-kapitalistischer Unternehmer, dessen Ziel darin besteht, angelegtes Kapital für eine möglichst hohe monetäre Rendite zu investieren. Seine unternehmerische Tätigkeit entspringt vielmehr einer Notwendigkeit: Um seiner Tätigkeit als Schulleiter, Lehrer, Redakteur und Verleger nachgehen zu können, ist es für Berthold Otto nicht möglich ist, neben diesen Tätigkeiten eine bezahlte abhängige Beschäftigung auszuüben. Gleichzeitig ist es für ihn selber offenbar schwierig, inhaltliche Veränderungen seiner Vorstellungen zugunsten möglicher Kooperationen oder staatlicher Unter109

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Wobei „Delegation“ hier in einem weiteren Sinne verstanden werden muss. Es handelt sich dabei nicht um eine direkte Delegation durch Berthold Otto (verstanden in dem Sinne, dass er eine Veränderungsnotwendigkeit feststellt und mit deren Erledigung dann eine andere Person beauftragt), vielmehr übernehmen Dritte diese Tätigkeiten, um Otto zu unterstützen. Die Motivationen sind dabei unterschiedlich, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird. Aus der Sicht eines der zentralen Bereiche der klassischen Betriebswirtschaftslehre, der Investitionsrechnung, lässt sich die Zielsetzung eines Unternehmens wie folgt beschreiben: „Unter den von einem Unternehmen verfolgten monetären Zielen nimmt die langfristige Gewinnmaximierung eine herausragende Stellung ein. Daneben verfolgen Unternehmen nicht-monetäre Ziele wie das Streben nach Macht, Sicherheit, sozialer Anerkennung, Traditionspflege usw.“ (Wöhe (2000): 622). Dabei spielen die monetären Ziele, schon alleine, weil sie überprüfbar sind und zumindest den klassischen Modellen der Nutzenmaximierung entsprechen, eine bedeutsame Rolle, weil ein Unternehmen ohne Kapital nicht existieren kann. Schließt man einen permanenten externen Kapitalzustrom zunächst aus der Betrachtung aus, dann muss eine Unternehmung in irgendeiner Form selber Kapital erwirtschaften. In der ökonomischen Logik muss deshalb die Verzinsung des eingesetzten Kapitals aus dem Unternehmensgeschäft höher sein als alternative Anlagemöglichkeiten für das Kapital. Es lässt sich allerdings an mehreren Beispielen reformpädagogischer Schulversuche zeigen, dass genau diese Rationalität dort nicht zum Tragen kam.

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stützungen – und damit einer besseren und/oder sichereren Finanzierung – zu akzeptieren. Das bedeutet, es ist notwendig, den pädagogischen Markt als symbolischen Ort verschiedener Tauschakte zu analysieren, zu untersuchen, wie Berthold Otto auf ihm agiert, und Überlegungen dahingehend anzustellen, in welcher Form Berthold Otto den Notwendigkeiten einer Unternehmensführung nachkommt.

1.3.1. Der pädagogische Markt Märkte sind im engeren Sinne ein konzeptioneller Zentralbegriff der Ökonomik,111 in einem weiteren Sinn findet der Begriff Markt auch mit einem symbolischen Bedeutungsgehalt in anderen Kontexten Verwendung. Ein Markt ist ein realer oder gedachter Ort, an dem Tauschhandlungen zwischen Anbieterinnen und Anbietern auf der einen, Nachfragerinnen und Nachfragern auf der anderen Seite stattfinden. Angebot und Nachfrage bestimmen dabei unter der Bedingung, dass es keine weiteren Restriktionen gibt, den Preis.112 Weiterhin gilt, dass Tauschakte zwischen Marktteilnehmerinnen und Marktteilnehmern nur dann zustande kommen, wenn beide Seiten durch diese besser gestellt werden. Dieser Annahme liegt eine Vorstellung rational handelnder Akteurinnen und Akteure zugrunde, die bestrebt sind, ihren jeweiligen Nutzen zu maximieren,113 und zwar unter gegebener Knappheit der Ressourcen. Die Rationalitätsannahme begründet sich in der Vorstellung,

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Die Ökonomik beansprucht für sich, sehr verschiedene Gegenstandsbereiche mit ihrer Methodik erfassen zu können, prominent vertreten zuerst von Gary S. Beckers „Ökonomischem Imperialismus“ (vgl. Becker (1993), Pies/Leschke (1998), sowie über Becker hinausgehend: Friedman (2001)). Diese Forschungsrichtung ist ein Versuch, menschliches Verhalten als rational und auf gegebene Anreizstrukturen zurückführbar zu erklären. „Ein Markt besteht aus Gruppen potentieller Käufer und Verkäufer eines Gutes. Die Gruppe der potentiellen Käufer bestimmt die Nachfrage nach dem Gut, die Gruppe der Verkäufer bestimmt das Güterangebot.“ (Mankiw (1999): 70) Diese Annahmen gehen besonders prominent in das von der Ökonomik verwendete Konzept des „homo oeconomicus“ ein, der in den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Modellierungen zu finden ist. Dieses Konzept ist in vielerlei Hinsicht diskutiert und kritisiert worden (vgl. Kirchgässner (2000)).

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dass die Individuen in Entscheidungssituationen114 die Alternative wählen, die für sie den größten Nutzen hat.115 Dieser Nutzenbegriff kann dahingehend erweitert werden – und wird in der modernen Ökonomik auch so interpretiert –, dass „Nutzen“ mehr umfasst als die Frage nach dem jeweiligen zur Verfügung stehenden monetären Budget und den damit potentiell möglichen Tauschakten: „Der Begriff ‚Nutzen‘ ist in der modernen Ökonomik völlig offen und keineswegs nur monetär zu verstehen. Für viele Untersuchungen braucht man Spezifizierungen, die je nach Persönlichkeit, Beruf, Alter, Kultur, Erfahrungen, Plänen und Erwartungen stark differieren können. (…) [E]s gibt auch viele Menschen, die ihre persönliche Identität vor sich und anderen als ‚Nutzen‘ im Sinne der Ökonomik ansehen, ja sogar das Wohlergehen anderer Menschen kann Bestandteil ‚meines Nutzens‘ sein, wenn ich mich nämlich ‚altruistisch‘ verhalte.“ 116

Beispielsweise, das könnte für den gegebenen Kontext eine potentielle Fassung des „Nutzens“ sein, wäre es für Berthold Otto mehrfach möglich gewesen, seine finanzielle Situation dadurch zu verbessern, dass er für den Preis bestimmter Modifikationen an seinem schulischen Konzept interessanter für potentielle Schülerinnen und Schüler und auch für andere Geldgeberinnen und Geldgeber hätte werden können. Aus einer Perspektive, in der Nutzen eine rein ökonomisch bestimmte Größe ist, erscheinen seine Widerstände gegen diese Veränderungen nicht erklärbar. Erweitert man jedoch den Nutzenbegriff dahingehend, dass er nicht nur monetär, sondern umfassend verstanden wird, können Ottos Entscheidungen gegen diese Veränderungen als nutzenmaximierend interpretiert werden.117 Berthold Otto verfolgt das Ziel der Schulreform mit der festen Überzeugung, dass seine pädagogischen Vorstellungen, so sie einmal umgesetzt sind, der Menschheit einen segensreichen Dienst erweisen würden. Die Schule ist dabei streng genommen diesem Ziel untergeordnet. Sie nimmt zwar eine doppelte Funktion ein – sie soll möglichst Geld erwirtschaften, und sie ist Experimentalraum für Ottos Beobachtungen –, letztlich bleibt sie aber Mittel zum Zweck. Um einen bestimmten Markt nun genauer beschreiben zu können, ist es notwendig, diesen zu begrenzen. Eine Möglichkeit ist es, Märkte nach den auf ihnen gehandelten Gütern voneinander zu unterscheiden. Entsprechend müssten, streng genommen, mehrere Märkte, auf denen Berthold Otto agiert, dif114

115 116 117

Um solche handelt es sich bei Transaktionen auf Märkten grundsätzlich: Die Wahl einer Alternative wird als Entscheidung für diese und gegen alle anderen Alternativen verstanden. Zu einer Diskussion der Konzepte der Nutzenmaximierung und des vollständig rationalen Handelns vgl. Kirchgässner (2000): 27ff. Homann/Suchanek (2000): 30. Die entsprechenden Beispiele finden sich in Kapitel 3.6.

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ferenziert werden: einer für Schulplätze und einer für pädagogische und gesellschaftstheoretische Schriften. Diese beiden zusammenhängenden Märkte korrespondieren mit den zwei verschiedenen „Geschäftsbereichen“ des Ottoschen Unternehmens: der Schule und dem Verlag. Der Fragestellung folgend erfolgt die weitergehende Betrachtung für den Markt, auf dem Schulplätze (und damit eine bestimmte pädagogische Praxis und deren Darstellung) gehandelt werden, der Markt für die Publikationen wird nachrangig bzw. als zu diesem komplementär verstanden und nur bedarfsweise genauer analysiert. Symbolisch werden diese beiden Märkte durch die Ideen, die Otto in Bezug auf Erziehung und Gesellschaft formuliert und ebenfalls vermarktet, zusammengehalten, so dass auch dieser Aspekt in der Untersuchung eine Rolle spielt.

1.3.2. Monopolstruktur des Marktes für schulische Erziehung Im Gegensatz zu Märkten, auf denen sich viele Anbieterinnen und Anbieter und viele Nachfragerinnen und Nachfrager gegenüberstehen, den so genannten Polypolen, handelt es sich bei einem Markt, auf dem Schulplätze gehandelt werden, um einen mit einer anderen Struktur. Hier tritt das öffentliche Schulsystem als „großer“ Anbieter mit einer nahezu monopolhaften Stellung auf, es beherrscht also den Markt und hat damit die Macht, das Angebot zu regulieren.118 Zudem ist der Staat nicht nur Anbieter von Schulplätzen, sondern er ist auch die einzige Agentur auf diesem Markt, welche die Lizenz für andere Anbieter erteilt, der über die Vergabe von Berufsberechtigungen für Lehrerinnen und Lehrer wacht und der die Prüfungserlaubnis erteilt oder 118

Hier geht es um eine grundsätzliche Perspektive, die eine bewusste Verallgemeinerung – nämlich eine relative Ähnlichkeit aller öffentlich betriebenen Schulen – unterstellt. Diese Verallgemeinerung setzt eine Schulentscheidung voraus, die zunächst sehr grundsätzlich zwischen „öffentlichen“ sowie „den öffentlichen ähnlich geführten“ und „allen anderen“ Schulen unterscheidet. Damit wird eine Vergröberung der Perspektive in Kauf genommen, die allerdings in diesem Kontext sinnvoll erscheint. Eine Alternative wäre es, den lokalen Markt für Schulplätze in Lichterfelde oder in einem gegebenen Umkreis um Lichterfelde herum in den Blick zu nehmen. Damit könnten andere Entscheidungsparameter für oder gegen die Wahl eines Besuchs in der Berthold-Otto-Schule herausgearbeitet werden. Diese Perspektive ist allerdings für den hier vorliegenden Zusammenhang nicht bedeutsam, da Berthold Otto sich nicht gegen bestimmte Schulen in seiner Nachbarschaft abheben wollte, sondern er publizistisch die „alte Schule“, also die bisherige Art, schulische Pädagogik zu praktizieren, als Kontrapunkt für seine eigene Vorstellung von Schule nutzt. Sein Ansinnen war also, durch das Erproben seiner Ideen eine bestimmte bessere Schule anzubieten, die allerdings der Ausgangspunkt für die Verbesserung der Schule an sich sein sollte. Das erklärt auch, warum er in seinen Schriften nie eine konkrete Schule kritisiert, sondern immer verallgemeinernd innerhalb des Gegensatzes „alt versus neu“ argumentiert.

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verweigert. Er ist also sowohl Anbieter als auch der Akteur, der die Regeln, nach denen auf diesem Markt gehandelt werden kann, bestimmt.119 Allerdings tritt noch eine zweite Nebenbedingung hinzu. Der Staat als Anbieter ist hier kein Marktteilnehmer mit monetären Gewinninteressen. Wäre dies der Fall, hätte er den Anreiz, die Preise, die jede Schülerin und jeder Schüler entrichten müsste, so hoch wie möglich festzulegen, was durch seine Monopolstellung auch möglich wäre.120 Dass dies nicht der Fall ist, hat in der Regel politische Gründe: Sowohl der Einführung und Durchsetzung der Schulpflicht als auch der Ausweitung des öffentlichen Schulwesens geht eine entsprechende politische Entscheidung voraus. Diese Konstellation beschreibt damit eine für private Schulanbieter komplexe Ausgangssituation. Im Fall von Berthold Otto hat diese Marktstruktur vor allem die Konsequenz, dass er sich mit seinem Angebot erheblich von dem, was staatlicherseits im Schulwesen angeboten wird, absetzen muss, um die im Vergleich höheren Schulkosten seiner Schule zu rechtfertigen: Für einen Schulplatz in einer öffentlichen höheren Schule in Preußen muss mit Schulgeld zwischen 130 und 150 Mark p.a. gerechnet werden.121 Die Jahreskosten für den Besuch der Berthold-Otto-Schule liegen bei 400 Mark122 und damit weit unter denen der Lietzschen Landerziehungsheime, deren Schulgeld vor dem Krieg etwa 2000 Mark p.a. betrug,123 die Odenwaldschule kostete zwischen 1500 und 1700 Mark p.a.124 in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf lag der Jahressatz 1912 zwischen 1800 und 2300 Mark.125 Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Arbeitnehmers im Deutschen Reich beträgt

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Damit unterscheidet sich der Markt für schulische Erziehung von anderen, beispielsweise dem für Lebensmittel. Auch hier tritt der Staat regulierend auf, indem er Vorgaben macht, Bestimmungen und Gesetze erlässt und kontrolliert. Er tritt aber nicht als Anbieter von Lebensmitteln auf. Ein klassisches Beispiel für ein Monopol ist zum Beispiel der Fall, wenn ein privater Energieversorger als Einziger ein bestimmtes Wohngebiet mit Fernwärme beliefert und die Konsumentinnen und Konsumenten keine Möglichkeit haben, zu einem anderen Anbieter zu wechseln. Holtfrerich (1980): 33. In Berlin kostet ein Schulplatz in Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen im Jahr 1914 140 Mark, für auswärtige Schülerinnen und Schüler 180 Mark p.a. (Häußler (1914): 109). Einen ähnlichen Satz gibt Oelkers (2011: 156) für die 1908 in Stuttgart gegründete Heidehofschule, die als Großstadtschule am Stadtrand konzipiert war (und damit kein Internat war) an. Dort lagen die Gebühren zwischen 400 und 500 Mark p.a., was von der Schulaufsichtsbehörde als überhöht kritisiert wurde. Oelkers (2011): 88. Oelkers (2011): 156. Oelkers (2011): 174.

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1913 1031 Mark,126 was diese Gruppe als potentielle Kund_innengruppe ausschließt. Private, vor allem reformorientierte, Schulen sind dabei Nischenprodukte, sie bedienen quantitativ ein verschwindend geringes Segment in diesem Markt. 1914 gibt es in Preußen insgesamt 894 höhere Schulen, die von 241.051 Schülerinnen und Schülern besucht werden,127 eine davon ist die Berthold-Otto-Schule, die mit einer Schülerinnen- und Schülerzahl, die niemals über 100 hinausging, also eine verschwindend geringe Größe darstellt. Stellt man also die Marktstruktur mit dem Quasi-Monopol des öffentlichen Schulwesens auf der einen und den verschwindend geringen Marktanteil Ottos (und anderer Reformschulen) auf der anderen Seite in einen gedanklichen Zusammenhang, dann wird deutlich, dass er für seine Schule in einem hohen Ausmaß einen Mehrwert in Bezug auf die übrigen Konkurrentinnen und Konkurrenten schaffen (oder zumindest behaupten) muss – und zwar primär gegenüber dem öffentlichen Schulwesen und dessen Angeboten.128 Diese Notwendigkeit liefert eine mögliche Erklärung für die Radikalität, mit der Berthold Otto sein pädagogisches Programm von dem der öffentlichen Schulen abgrenzt, und dafür, warum er für bestimmte Bereiche – zum Beispiel in Bezug auf das Prüfungswesen – keine Kompromisse eingeht. Auch die hochfrequente Publizistik kann mit dieser Marktstruktur erklärt werden. Da Ottos Schule im Vergleich keine relevante Größe besitzt, ist es umso wichtiger, sie auf möglichst vielen Kanälen bekannt zu machen und ihren alternativen Charakter zu verdeutlichen. Auch zu anderen reformorientierten Schulen steht die Berthold-OttoSchule in einem Mitbewerberverhältnis, dieses dürfte aber zumindest vor 1918 in der Summe eher zu vernachlässigen gewesen sein, da Ottos Schule keine Internatsstruktur aufweist und damit für die existierenden und bestehenden Internatsschulen wie die Landerziehungsheime wenig Konkurrenz darstellt.129 Gleichzeitig ist sie damit auf Schülerinnen und Schüler angewiesen, die sie täglich erreichen können, sie bedient also Lichterfelde und Umgebung.130 Otto konnte sicherlich davon ausgehen, dass er in Lichterfelde ein entsprechendes Publikum vorfinden würde: Hier gab es vor allem Villen und 126 127

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Oelkers (2011): 156. Müller/Zymek (1987): 53, 55. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es im Deutschen Reich 2515 Höhere Schulen, davon 499 Privatschulen (nach Oelkers (2011): 154f.) – wie viele davon reformpädagogische Schulen waren, ist schwer einzuschätzen. Vgl. zu der Grundstruktur dieses Arguments Oelkers (2005) und (2011). Das dürfte sich nach dem Ersten Weltkrieg allerdings geändert haben, da in der Weimarer Republik viele (reformorientierte) Versuchsschulen existierten und etliche davon auch öffentliche Schulen waren (vgl. dazu Schmitt (1993)). Zwar gab es im Hause Otto einige Pensionsplätze, diese zählen aber nicht zur pädagogischen Konzeption.

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bürgerliches Publikum, zudem war Lichterfelde der Wohnort vieler lebensreformerisch und/oder völkisch interessierter Menschen. Was sind nun die zentralen Elemente, mit denen Berthold Otto sich auf diesem Markt in Stellung bringt und die Alleinstellungsmerkmale zu vermarkten sucht? Zunächst bringt er, wie gesagt, seine pädagogische Perspektive in eine Fronstellung zur herrschenden Pädagogik seiner Zeit. Dazu entwickelt er ein umfassendes theoretisches Konzept menschlicher Entwicklung, aus dem er seine pädagogische Praxis ableitet. Die Grundlage seiner Überlegungen sind dabei Beobachtungen an sich selber und an seiner unterrichtlichen Praxis mit seinen eigenen Kindern. Gleichzeitig erweitert er seine pädagogischen Vorstellungen um gesellschaftstheoretische Ansätze und verbindet beides mit einem Ziel, nämlich der Schul- und der Gesellschaftsreform. Erstere legt er dabei so an, dass sie zwar der aktuell dominierenden Form von Schule entgegensteht, gleichzeitig aber ein Mittel sein soll, diese im positiven – also Otto’schen – Sinne zu verändern. Durch seine detaillierten Beschreibungen der möglichen und in seinen Augen notwendigen Schulreform und deren Verkopplung mit der praktischen pädagogischen Tätigkeit in seiner Schule entwickelt Otto gleichzeitig eine doppelte Anreizstruktur für potentielle Unterstützerinnen und Unterstützer.131 Wesentliche Elemente, die den pädagogischen Teil der Marke „Berthold Otto“ beschreiben, sind der Gesamtunterricht, die Altersmundart und das Schülergericht sowie Ottos didaktische Methode der „Isolierung der Schwierigkeiten“, deren publizistische Darstellung aber im Gegensatz zu den anderen Elementen wesentlich geringer ausfällt. Besonders der Gesamtunterricht wird zu einem schwer zu schützenden Alleinstellungsmerkmal,132 während die Kindes- oder Altersmundart vor allem umstritten bleibt. Neben diesen pädagogisch-konzeptionellen Aspekten gibt es auch organisatorische Besonderheiten: Die Berthold-Otto-Schule arbeitet koedukativ in drei Alterskohorten, anstatt curricular festgelegter Unterrichtsinhalte gibt es ein durch die Interessen der Kinder festgelegtes Kurssystem. Zudem werden bei der Erstellung der Stundenpläne, die dieses Kurssystem abbilden, die Wünsche der 131 132

S.u. Die Schwierigkeit bestand auch darin, dass Otto zum einen ein hohes Interesse daran hatte, dass seine pädagogischen Ideen diffundieren und somit die avisierte Schulreform in Gang setzen würden. Auf der anderen Seite zeigt sich gerade beim Gesamtunterricht, dass dieser tatsächlich Eingang in viele pädagogische Diskussionen fand, aber in seiner Implementierung (auch in öffentlichen Schulen) seiner Eigenart – der Kindzentrierung – zugunsten einer Stoffzentrierung entledigt wurde. Damit entstand ein von der ursprünglichen Idee weit entferntes, ihr in Teilen sogar entgegengesetztes Konzept, das aber den gleichen Namen trug. Somit wurden zum Schutz des Originals abgrenzende Maßnahmen notwendig (vgl. dazu auch Kapitel 2).

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Schülerinnen und S Schüler berücksichtigt.133 Nicht zuletzt weist die Beerthold910, als das neue Schulhaus bezogen wird, in Arch chitektur Otto-Schule ab 191 und Inneneinrichtun tung Besonderheiten auf: Die Räume sind hell und nd durch flexible Wände in dder Größe veränderbar. Statt der üblichen Bankreihe ihen gibt es frei beweglichee T Tische und Stühle, es wird viel im Kreis und wenn nn möglich im Freien unter errichtet.134

Abbildung 2: Lese- und nd Erzählkreis von Lehrerinnen und Schülerinnen und Schül ülern, ca. 1919/1920.135

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Vgl. Otto (HL 1911 11b): 420f. Aus der Zeitschrift der Hauslehrer wird gesonder ert zitiert, die Systematik istt A Autor_in (HL Jahreszahl). Die entsprechenden Stellen sindd iim Literaturverzeichnis üb über diese Siglen zu finden. Diese räumlichen E Einrichtungen sind so eindrücklich, dass Wolfgang Scheibee ssie noch 1969 in seiner A Auseinandersetzung mit dem Gesamtunterricht erwähnt (Scheibe (1969): 31f.). Mus uscheler erwähnt diese Schule in ihren „Architekturgeschich chten“ als einen wesentlichen en Aspekt der Reformpädagogik (Muscheler (2007): 188). DIPF/BBF/Archiv, iv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 849.

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Die große Herausforderung besteht nun darin, die Besonderheiten der Pädagogik in der Berthold-Otto-Schule nach außen zu kommunizieren, und zwar möglichst so, dass sowohl die generelle Bekanntheit der Otto’schen Konzepte als auch die Zahl der Schülerinnen und Schüler erhöht werden können. Berthold Otto entwickelt dazu mehrere öffentlichkeitswirksame Kommunikationsmedien, die er zielorientiert und vor allem konsequent einsetzt. Neben der seit 1900 bestehenden Zeitschrift „Der Hauslehrer“, die er bis kurz vor seinem Tod wöchentlich nahezu komplett selber mit Inhalten bestückt, publiziert er über 50 Bücher und Schriften. Diese sind teilweise im Hauslehrer als Artikelserie im Vorfeld erschienen, viele sind aber auch vollkommen eigenständige Publikationen. Der Hauslehrer selber ist eine Mischung aus Artikeln in Altersmundart, Berichten aus der Schulpraxis, Protokollen von Gesamtunterrichtsstunden, persönlichen Mitteilungen Ottos und Ankündigungen. Ab 1912 lässt sich eine Ausweitung der Öffentlichkeitsarbeit – oder in heutiger Diktion: des Marketings – rekonstruieren: Der Berthold-Otto-Verein gründet sich und entfaltet relativ schnell ein ambitioniertes Arbeitsprogramm, mit dem sehr unterschiedliche Kommunikationskanäle bedient und zum Teil auch Aktivitäten wie öffentliche Vorträge gezielt angeboten, durchgeführt und später publizistisch genutzt werden. Zur gleichen Zeit wird unter der Ägide von Georg Kerner136 die Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ gegründet und herausgegeben, die bis zum Kriegsbeginn existiert. Sie unterscheidet sich in der Aufmachung und im Inhalt vom Hauslehrer, wenngleich das zentrale Thema beider Zeitschriften das gleiche ist, nämlich die Ideen Berthold Ottos, der auch Einfluss auf deren Inhalt gehabt zu haben scheint.137 Anhand dieser Beispiele lässt sich nun die analytische Perspektive präzisieren. Ähnlich wie in Patrick Resslers Auseinandersetzung mit Diffusionsprozessen des Bell-Lancaster-Systems unter Einbeziehung von Marketingaktivitäten138 soll die Analyse anhand der Begriffe „Markt“ oder „Marketing“ nicht aktuelle Konzepte auf historische Gegenstände und Gegebenheiten übertragen. Vielmehr dienen diese Konzepte als Heuristik, um einen bestimmten Aspekt, den die Historiographie der Reformpädagogik bisher nicht systematisch beleuchtet hat, zu präzisieren und an einem Beispiel – nämlich Berthold 136

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Georg Kerner, 14.1.1874-23.4.1959, war Theologe und Pfarrer in Zanzhausen/Pommern, Kreis Landsberg und ein enger Vertrauter der Familie Otto. Er publizierte im Hauslehrer, gab die Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ heraus und war für Berthold Otto der vermutlich wichtigste Gesprächspartner, worauf mehrere Tausend Briefe von und an Kerner, die im Nachlass enthalten sind, hindeuten. So z.B. im Zusammenhang mit der Kontroverse um den Besuch des Rein’schen Universitätsseminares in der Berthold-Otto-Schule (vgl. Otto (HL 1913j): 607ff.). Ressler (2010).

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Otto – darzustellen. Grundsätzliche normative Aussagen darüber, ob zum Beispiel privatwirtschaftliche Märkte effizientere Allokationsverfahren im Bereich des Schulsystems darstellen oder nicht, kann diese Perspektive nicht erbringen.139 Die Ergebnisse der Auseinandersetzung sind also keine Gestaltungsvorschläge oder Handlungsempfehlungen, wie sie durch ökonomische Forschung oft gewollt und auch hervorgebracht werden,140 sondern der Versuch, durch das Einnehmen einer bestimmten Perspektive zu neuen Erkenntnissen im Kontext der (reform-)pädagogischen Historiographie zu gelangen. Die Schwierigkeit, die dabei entsteht, liegt in der bereits angedeuteten Differenzierung der beiden Ebenen des pädagogischen Marktes. Diese Ebenen – also der Markt für Ideen und der Markt für Schulplätze – hängen eng zusammen und stehen in einem Wechselwirkungsverhältnis. Beide sind Orte, auf denen Berthold Otto Akteur ist, und beide ermöglichen Einnahmen, auf die das Familienunternehmen dringend angewiesen ist. Betrachtete man nur eine der beiden Ebenen gesondert, entstünden andere Ergebnisse. Es wäre sicherlich möglich, die Berthold-Otto-Schule als Unternehmung zu interpretieren, die auf dem monopolistisch strukturierten Schulmarkt ihrer Zeit versucht, Einkommen zu generieren. Genauso wäre es möglich, lediglich den Markt für pädagogische Ideen unter dem Blickwinkel, welche Ideen besonders attraktiv schienen und/oder sich durchsetzen konnten, zu analysieren. Solcherart getrennte Auseinandersetzung ließe aber gerade die Verquickung

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Ob es in diesem Kontext allerdings notwendig ist, eine „Ideologie des Marktes“ (Ressler (2010): 39) anzunehmen, ist zu hinterfragen. Zielführender wäre es sicherlich, verschiedene Bereitstellungsmodelle anhand ihrer Vorannahmen und Wirkungen zu diskutieren. Ressler unterliegt in seiner Argumentation an dieser Stelle einem Fehlschluss, da er die positive und die normative Aussageebene von Marketingstrategien und Märkten an sich nicht als zwei grundlegend verschiedene Perspektiven sieht und dadurch eine Abgrenzung vornehmen muss, die eigentlich gar nicht notwendig ist. Die Analyse bestimmter Praktiken als Marketingstrategien bedeutet nicht, gleichzeitig eine „Ideologie des Marktes“ zu übernehmen (wobei sich hier die Frage stellen lässt, was genau damit gemeint ist), sondern stellt zunächst nur die Rekonstruktion aus einer bestimmten Perspektive dar, also eine heuristische Nutzung. Erst in dem Moment, in dem aus der Analyse ein Gestaltungsanspruch erwächst, sie also handlungsleitenden Charakter bekommen soll, würde sich überhaupt die Frage nach einer Diskussion der Allokationsformen im Erziehungssektor stellen. Vgl. bspw. Suchanek (2000), Pies (2001). Diese Studien aus der Ökonomik arbeiten dezidiert mit dem Ansatz, dass aus den entwickelten Analysen Gestaltungsvorschläge abgeleitet werden. Oft wird ein solches Vorgehen unter der Formel „Erklärung zwecks Gestaltung“ zusammengefasst. Diese Formulierung findet sich auch in einigen politikwissenschaftlichen Publikationen und wird von Peter Erath – und zwar mit direktem Verweis zur Ökonomik – auch in der Sozialarbeitswissenschaft genutzt (Erath (2006): 51).

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beider Aspekte in Ottos Vorgehen selber und ihre Wichtigkeit füreinander141 aus dem Blick geraten. Was Berthold Otto auszeichnet, ist, dass er nicht nur eine pädagogische Theorie entwickelte und diese in seiner Schule praktizierte, sondern dass er ein komplexes Denkgebäude mit hoher Anschlussfähigkeit in sehr unterschiedlichen Bereichen geschaffen hat, das ihm wiederum dazu verhilft, an verschiedenen Stellen Ressourcen zu generieren.

1.4. Inhaltliche Struktur Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich der weitere Aufbau der Arbeit: Nach einer Darstellung der Pädagogik Berthold Ottos (2.) werden insgesamt sechs unterschiedliche Felder des Unternehmens und des unternehmerischen Handelns von Berthold Otto analysiert: Die Zeitschrift „Der Hauslehrer“ wird als publizistisches Rückgrat der Hauslehrerbestrebungen rekonstruiert (3.1.). Um diese Funktion zu präzisieren, wird in einem ersten Schritt der erste Jahrgang der Zeitschrift auf Programmatik und Struktur untersucht. Darauf folgt die Rekonstruktion eines Versuchs von Berthold Otto, finanzielle Unterstützung durch Dritte mit Hilfe einer „Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen“ einzuwerben. Im darauffolgenden Schritt werden Kontinuitäten und Veränderungen des Hauslehrers im Verlauf der Zeit untersucht. Im Anschluss werden unterschiedliche Formen der Werbung und Kundenbindung in den Blick genommen, und es wird die Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ als Beispiel für Produktdiversifikation vorgestellt. In einem letzten Teil werden die Veränderungen der Zeitschrift mit Beginn des Ersten Weltkrieges bis hin zu ihrer Umbenennung in „Deutscher Volksgeist“ skizziert. Das Kapitel enthält zudem zwei Exkurse: Der erste behandelt die „Weimarer Tagungen“, der zweite stellt die Aktivitäten Ottos im Zusammenhang mit den vom Preußischen Kultusministerium während des Krieges herausgegebenen „Deutschen Schützengrabenbüchern“ dar. Das folgende Kapitel (3.2.) stellt den 1912 gegründeten Berthold-OttoVerein vor und beschreibt seine unterschiedlichen Aktivitäten, mit denen er das Unternehmen unterstützt. Neben den vom Verein veranstalteten Diskus141

Und zwar in doppelter Hinsicht: Es gibt eine theorieimmanente Verschränkung in dem Sinne, dass Otto seine Schule als Ort der Herstellung erfahrungswissenschaftlicher Tatsachen zur Weiterentwicklung seines Programmes und zur Umsetzung der Schulreform darstellt, sich also praktische und theoretische Arbeit in einem Zustand der gegenseitigen Beeinflussung befinden. Und es gibt ein wechselseitiges Verhältnis dieser Ebenen in Bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit: Die Schule soll durch ihre Erfolge eine (empirische) Legitimation der entwickelten Ideen liefern, diese wiederum sind durch ihre Umfänglichkeit mit einer größeren potentiellen Reichweite ausgestattet und erlauben es, unterschiedliche Personenkreise, die als potentielle Unterstützung verstanden werden können, anzusprechen.

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sionsabenden sind dies Maßnahmen zur Absatzförderung der Bücher Ottos, die Präsenz auf einschlägigen Ausstellungen, die Beratung und Unterstützung bei Schulgründungen und die Ortsgruppenarbeit. In einem Exkurs wird die Familie Sträter, die in Magdeburg in einem hohen Maß für Berthold Otto gearbeitet hat, vorgestellt. Die beiden folgenden Abschnitte stellen zwei unterschiedliche Personen ins Zentrum ihrer Analysen: Zunächst geht es um Fritz Meyer (1890-1914) (3.3.), der als junger Student nach Lichterfelde zieht, weil er sich von den dortigen „Kulturbestrebungen“ angezogen fühlt. Es handelt sich dabei um die Hauslehrerbestrebungen und den Charon-Kreis um Otto zur Linde, der auch in einem kurzen Exkurs dargestellt wird. Untersucht wird, wie Fritz Meyer zunehmend in die Familie und das Unternehmen Berthold Otto integriert und schließlich zum designierten Nachfolger Berthold Ottos aufgebaut wird. Hier wird auf Fritz Meyers Tagebuch sowie einen Briefwechsel mit seinem Schwager Bernhard Becker und seiner Schwester Grete zurückgegriffen. Fritz Meyer ist in hohem Maße mit Berthold Otto und seinem Unternehmen identifiziert und engagiert sich intensiv für dessen Belange. Zusammen mit seiner späteren Frau, Irmgard Otto, übernimmt und optimiert er den „Verlag des Hauslehrers“. Er arbeitet als Lehrer in der Schule, publiziert eigene Artikel im Hauslehrer und vertritt Berthold Otto in unterschiedlichen Kontexten auf Vorträgen. Emmy Friedländer wird als Schülermutter und Darlehensgeberin für den Schulneubau im Jahr 1910 vorgestellt (3.4.). Ihr ist es zu verdanken, dass ausreichend Kapital für ein Schul- und ein Wohnhaus zur Verfügung steht. Aus ihrer anfänglichen Rolle als Geldgeberin entwickelt sich bald eine Position, in der sie Einfluss auf das Unternehmen Berthold Otto nimmt. Um ihre anfängliche Investition und den Schulplatz ihres Sohnes Eugen zu schützen, beginnt sie, die Einnahmen und Ausgabe der Schule ins Gleichgewicht zu bringen, und sorgt dafür, dass die finanziellen Angelegenheiten der Schule eine eigenständige Buchführung erhalten. Damit wird sie von der Geldgeberin zu einer Verwalterin der finanziellen Situation der Berthold-Otto-Schule, an deren Verbesserung sie beständig arbeitet. Das folgende fünfte Kapitel des Hauptteils (3.5.) stellt die Analyse eines von Georg Kerner herausgegebenen Bandes mit dem Titel „Deutsche Volksgeistbriefe“ ins Zentrum, durch die gezeigt werden kann, dass die Anhängerinnen und Anhänger Berthold Ottos in ihm eine für ihr eigenes Leben sinnstiftende Person sehen. Diese Auseinandersetzung führt zu dem wesentlichen Aspekt des strukturell-Religiösen, das Otto vermittelt und das zur Entwicklung einer symbolisch vermittelten Gemeinschaft führt. Abschließend wird im letzten Kapitel des Hauptteils (3.6.) ausgelotet, an welchen Stellen Berthold Otto seine eigenen Inhalte gegenüber potentiellen finanziellen Verbesserungen zu schützen weiß und so den Schutz seiner In-

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halte über mögliche finanzielle Erleichterungen, deren Bedingungen für ihn aber nicht erfüllbar sind, stellt. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst (4.).

II. Pädagogik

Die Pädagogik Berthold Ottos wird in allgemeinpädagogischen Werken und Handbüchern in der Regel als „Pädagogik vom Kinde aus“ bzw. als „Individual- oder Persönlichkeitspädagogik“ dargestellt. Damit wird auf eine bereits zu Ottos Lebzeiten bestehende Deutung seiner Pädagogik verwiesen, wie sie sich beispielsweise in dem 1930 veröffentlichten Überblick über „Die Neue Schule und ihre Unterrichtslehre“ von Adolf Rude142 findet, der Ottos Schule bescheinigt, dass sie „bahnbrechend wirkte“ und „den Grundsatz ‚vom Kinde aus‘ zuerst ernstlich durchführte.“143 Der Bezug Rudes ist hier die „Anwendung“, also das von Otto institutionell in seiner eigenen Schule umgesetzte – und damit beobachtbare – pädagogische Tun. Die pädagogische Konzeption Berthold Ottos allerdings ist wesentlich umfangreicher. Otto war nicht nur Schulleiter, sondern auch ein produktiver pädagogischer und gesellschaftstheoretischer Schriftsteller, Verleger und Redner, sein gedanklicher Horizont umfasste neben der häuslichen und schulischen Erziehung auch weitreichende Überlegungen zur Schulreform und zur Umgestaltung des gesellschaftlichen (Zusammen-)Lebens im Deutschland seiner Zeit. Oder anders gesagt: Ottos Pädagogik, die theoretische wie die praktische, ist eingebettet in einen weiträumig ausgeführten Begründungszusammenhang, der aus kulturkritischen, utopischen und biologistischen Argumentationsweisen schöpft und diese zu einer vielfältig anschlussfähigen Hintergrundfolie amalgamiert. Die Öffnung des Blicks auf Ottos Pädagogik, der auch die von ihm dargestellten Hintergründe und seine Perspektive auf die gesellschaftliche Umgestaltung und damit eine bessere Zukunft integriert, erscheint gerade im Hinblick auf die Frage nach der Attraktivität dieses Gedankenkosmos von Bedeutung. In diesem entwickelt Otto eine hohe und in gewisser Weise auch weitgefächerte Anschlussfähigkeit, die sich, so meine These, durch eine Mischung aus Erfahrungsberichten, Konkretionen und utopischen Vorstellungen ergibt. Die Darstellung von eigenen Erfahrungen, dahinter liegenden Erläuterungen und konkret gedachten und explizierten Vorstellungen, verbunden mit der Aufforderung an die Rezipientinnen und Rezipienten, sich an der Weiterentwicklung durch eigene Versuche und deren Protokollierung und Publizierung zu beteiligen, stellt ein in viele Richtungen anschlussfähiges Projekt dar, mit dem Unterstützung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen gewonnen 142 143

Rude (1930). Rude (1930): 13.

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wird. Diese wird noch durch die thematische Diversität des Werkes und Wirkens erhöht – pädagogische, politische und nationalökonomische Vorstellungen greifen so ineinander, dass sowohl an einzelnen Bereichen interessierte Personen als auch solche, die den Gesamtkomplex als wichtig erachten, angesprochen werden können. Ausgehend von dieser These geht es mir im Folgenden darum, den Bereich des Pädagogischen genauer zu analysieren und darzustellen. Dabei geht es im ersten Schritt um die grundlegenden Begrifflichkeiten und Vorstellungen der Pädagogik Ottos. Das Pädagogische unterscheidet sich vom Politischen und Nationalökonomischen in Ottos Denksystem deshalb, weil es zum einen den Beginn der öffentlichen Wahrnehmung Ottos markiert144 und weil es, im Gegensatz zu den anderen Bereichen, konkret wurde. Während die politischen und nationalökonomischen Ideen zwar publizistisch ein Erfolg waren, aber keine Realisierung in der gegebenen Gesellschaft erfuhren, ist Ottos Pädagogik in seiner Schule zu beobachtbarer und beobachteter Praxis geworden, die bis heute Teil des reformpädagogischen Kanons ist – worauf auch das eingangs stehende Zitat verweist. Die Pädagogik Ottos gliedert sich in verschiedene Bereiche und auf verschiedenen Ebenen, so dass Aspekte entstehen, die sich zum Teil überlappen. Die beiden zentralen Ebenen sind die handlungswirksam gewordenen Vorstellungen von Pädagogik und solche, die als Idee, als Weiterentwicklung in eine mögliche Zukunft hinein gedacht wurden. Die Bereiche, um die es dabei geht, sind einmal Pädagogik im Kontext häuslicher Erziehung und Pädagogik im Kontext schulischer Erziehung. Schulische Erziehung bedeutet in diesem Fall die Handlungspraxis im Kontext einer gegebenen Schule, also Lehrerhandeln, Unterrichtsformen oder Schuldisziplin. Neben diesen Fragen entwickelt Otto auch eine ausgreifende Konzeption eines Schulsystems (dem der Zukunftsschule), das im Zeichen gesellschaftlicher Verbesserung, genauer: der Schulreform, einem zentralen Fluchtpunkt für das Nachdenken Ottos, zu sehen ist. Integral ist dabei die Neufundierung einer Erziehungswissenschaft, deren Konzeption zum einen eine professionalisierte Lehrerausbildung (und damit einen professionalisierten Lehrerberuf mit erweiterten gesellschaftlichen Funktionen), zum anderen auch einen legitimatorischen Beitrag zur Schulreform leisten sollte.

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Nicht aber die publizistische Tätigkeit: Das erste veröffentlichte Werk war „Die sozialdemokratische Gesellschaft. Was sie kann und was sie nicht kann“ (Otto (1893)). Über die Rezeption ist wenig zu erfahren.

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2.1. Pädagogische Grundbegriffe bei Otto Berthold Otto denkt seine Pädagogik umfassend. Sie enthält sowohl eine anthropologisch grundierte Vorstellung des Kindes, eine damit zusammenhängende Idee der Gestaltung häuslicher Erziehung und Konsequenzen für deren schulpraktische Umsetzung. Außerdem gibt es methodische und didaktische Vorstellungen. Die Darstellung erfolgt dabei in dem für Otto charakteristischen Stil, der aus einer Mischung von Erfahrungen und Annahmen besteht, die eine systematische Darstellung erschweren; nicht, weil die Darstellungen Ottos unsystematisch wären, sondern weil sie einer Eigenlogik folgen, die sich eher an einzelnen Gedankengängen und weniger an analytischbegrifflichen Vorgehensweisen orientieren.

2.1.1. Das Bild des Kindes und seiner Entwicklung in der Familie Ottos Vorstellung vom Kind und damit auch seinen Überlegungen zur Pädagogik liegt eine bestimmte Idee von Familie zugrunde: Er geht davon aus, dass die „monogamische Ehe“ eine „so vortreffliche Organisation der Erziehung (ist), daß die höchste Weisheit und Kunst schwerlich jemals etwas Besseres an die Stelle setzen wird.“145 Vater und Mutter sollen beide erziehen, wenngleich die Mutter dabei die zentrale Rolle spielt. Für Otto ist die Familie das „wichtigste Gesamtwesen“ in einem Volk,146 dem er – wie jedem Gesamtwesen – eine besondere seelische Struktur zuschreibt: „Vater und Mutter sind nicht lediglich einzelne Persönlichkeiten, sondern außerdem sind sie Organe der Familie und haben als solche eine besondere seelische Struktur.“147 Für Otto entsteht diese Struktur in dem Moment, in dem aus Mann und Frau Vater und Mutter werden. Dieser Moment ist auch der, in dem die Erziehung des einzelnen Menschen vollendet wird, denn für Otto ist die Familie deshalb der optimale Erziehungsort, weil man hier „das richtige Verhalten zu unseresgleichen, zu Vorgesetzten und zu Untergebenen“148 – und damit alles, was man fürs Leben braucht – lernt. Als Kind kann man in der Fa145 146

147 148

Otto (1906): 26. Der Begriff Gesamtwesen beschreibt für Otto Entitäten, die aus „Einzelwesen“ bestehen, aber mehr als die Summe dieser Einzelwesen ausmachen. Diese Vorstellung hat er maßgeblich der „Völkerpsychologie“ von Steinthal und Lazarus entnommen (vgl. dazu Schnücker (1990): 142ff.). Beispiele für Gesamtwesen sind: Volk (und damit verbunden die Entstehung von Sprache, an der man besonders klar erkennen könne, dass sie nicht einem Einzelwesen zuzurechnen ist (vgl. Otto (1906): 27)), Dorfgemeinschaften oder „Berufsklassen“. Otto (1906): 28. Otto (1906): 28.

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milie das Verhältnis zu Vorgesetzten (Eltern) und seinesgleichen (Geschwistern) lernen, aber erst als Eltern das zu „Untergebenen“, so die Argumentation Ottos. Er geht aufgrund dieser Überlegungen so weit, dass er von der Familie als „Erziehungsautomat“149 spricht. In der Familie ist die Mutter primäre Bezugsperson und erste Lehrerin, sie strukturiert und ermöglicht die ersten kindlichen Lernerfahrungen, unter anderem das Erlernen der Sprache.150 Mütterliche Erziehung ist durch ein spezifisches Wissen gekennzeichnet, das sich vom professionell-pädagogischen Wissen unterscheidet. Dieses Wissen der Mutter, das in der Beziehung zwischen ihr und dem Kind zum Tragen kommt und die kindlichen Entwicklungsschritte in einer, wenn man so will, optimalen Form begleitet, ist gleichsam etwas, das wissenschaftlich151 erst entdeckt und für die Pädagogik fruchtbar gemacht werden muss.152 Die Mutter handelt in einer Form, die zum einen überzeitlich und überkulturell bestehende Elemente aufgreift, diese aber auch gleichsam neu erschafft.153 Otto 149 150

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Otto (1906): 27ff. In einem in den „Ratschlägen für häuslichen Unterricht“ veröffentlichten Brief an eine Mutter schreibt Otto dazu: „Ihre Kinder sind dreieinhalb und fünf Jahre alt. Das will sagen: sie haben bereits weitaus das Schwierigste, was ein Mensch in seinem ganzen Leben lang zu lernen hat, schon gelernt, und zwar ganz wesentlich unter Ihrer Leitung. Sie haben sprechen gelernt. (…) Und doch, wie geringfügig ist alles, was auch die kunstvollsten Sprachlehrmethoden lehren lassen, gegen das, was Sie schon geleistet haben, was jede Mutter für ihre Kinder in den ersten Lebensjahren leistet, daher man die zuerst gelernte Sprache auch Muttersprache nennt!“ (Otto (1908): 2). Otto geht davon aus, dass es noch keine gut entwickelte Erziehungswissenschaft gibt, weil es „bisher noch nicht gelungen ist, auf diesem Gebiete die Wahrheit festzustellen“ (Otto 1906: 14). Eine Erziehungswissenschaft müsste sich als empirisch beobachtende Erfahrungs- und Tatsachenwissenschaft zunächst entwickeln. In dem o.g. „Ratschlag“ findet auch das seine Erwähnung: „Nun sehen Sie, daß wir von Ihnen zu lernen haben, nicht Sie von uns. Denn wenn wir richtig unterrichten wollen, dann müssen wir doch zuerst ganz genau wissen, wie jedem Kinde in jedem Augenblick zumute ist. Nur wenn wir das wissen, können wir mit dem größten möglichen Erfolg auf das Kind einwirken.“ (Otto (1908): 4f.) Dass es sich hier unbestreitbar um eine idealisierte Vorstellung der Beziehung von Mutter und Kind handelt, liegt auf der Hand, und Otto gesteht dies in gewisser Weise auch zu, wenn er im Lehrgang der Zukunftsschule darauf hinweist, dass gerade „gebildete Mütter“ ihren Kindern gern „Paradestückchen“ beizubringen versuchen, was er aus seiner Perspektive allerdings für Zeitverschwendung hält. (vgl. Otto (1912): 3). Wichtig ist, dass Otto diese ideal gedachte Beziehung zwischen Mutter und Kind nicht nur als Hintergrundfolie, sondern nachgerade als pädagogisch zu imitierendes Modell für den Umgang mit Kindern begreift. Dabei handelt es sich um eine „viele Tausend Jahre alte Methode“, die sich zum Teil „durch natürliche Überlieferung fortpflanzt“ und von allen Müttern immer wieder neu geschaffen wird (Otto (1912): 2).

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gibt dieser Methode den Begriff des „natürlichen Unterrichts“, weil eben diese Unterrichtsform „bei allen Völkern dieselbe ist und anscheinend immer gewesen ist.“154 Gleichzeitig zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie, hinsichtlich ihrer Erfolge, allen anderen Methoden den Rang abläuft: „Die natürliche Methode ist also zugleich die einzige, die fast unbedingt sichere Erfolge aufweisen kann“155 – was so viel bedeutet, dass nahezu alle Kinder sprechen lernen. Dies liegt darin begründet, dass eine „Mutter (…) innerhalb ihres Pensums niemals Mißerfolge“156 hat. Erziehung ist „eine so natürliche Funktion des Menschen (…), wie nur irgend eine physiologische Funktion“,157 was dazu führt, dass sie nicht „die Formulierung irgend welcher wissenschaftlichen Wahrheiten zur Voraussetzung“158 hat, sondern durch die Existenz eines Naturtriebes erfolge, genauer „auf Grund der natürlichen Liebe der Eltern zu ihren Kindern.“159 Aus dieser Vorstellung leitet Otto nun zwei wesentliche Bezüge für die eigenen pädagogischen Überlegungen ab: Zum einen stellt sich für ihn die Frage, wie es möglich ist, diese pädagogische Konstellation in den Zusammenhang von Schule und Pädagogik generell zu überführen, und zum anderen entwickelt er aus dieser Beobachtung eine Idee kindlicher Eigenaktivität, die sehr weitreichend gedacht wird: Er geht davon aus, dass die geistige analog zur körperlichen Entwicklung einem ihr je eigengesetzlichen Prozess folgt.160 So wie der Körper eben qua seiner Anlagen wächst, so entwickelt sich auch der Geist jedes Menschen nach einer ihm inneliegenden Dynamik, die – das betont Otto immer wieder – so wenig wie möglich gestört werden darf.161 154 155 156 157 158 159

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Otto (1912): 2. Otto (1912): 2. Otto (1908): 5. Otto (1906): 47. Otto (1906): 24. Otto (1906): 24. Otto vergleicht hier quasi als Analogon die Erziehung mit der Nahrungsaufnahme: Beide sind eigentlich hochkomplexe Abläufe, wenn man sie wissenschaftlich betrachte. Und das wissenschaftliche Wissen könne auch zu einer Verbesserung der Nahrungszusammensetzung führen. Aber es ist nicht notwendig, die biochemischen Abläufe der Verdauung zu kennen, um ein Mittagessen einzunehmen und so seinen Hunger zu stillen: „Allerdings ist wohl nicht zu leugnen, daß durch das Fehlen wissenschaftlicher Erkenntnis die Ernährung gelegentlich verschlechtert worden ist; aber im großen und ganzen ist der Menschheit Speise und Trank sehr gut bekommen, und Jahrtausende lang ist trefflich verdaut worden, ehe die Wissenschaft von der Verdauung ihre unumstößlichen Wahrheiten richtig formuliert hat.“ (Otto (1906): 24) Vgl. dazu auch Otto (1914): 45ff. In den „Ratschlägen“ schreibt er dazu mit Bezug auf das in manchen Gegenden der Welt übliche Vorgehen, kleine Kinder fest in Tücher zu wickeln, damit ihre Körper richtig wachsen: „Das Wachstum des Geistes ist ebenso natürlich und unaufhaltsam

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Otto glaubt, dass jeder Lernprozess, jede geistige Entwicklung dann optimal abläuft, wenn sie in einem „günstigen Moment“162 stattfindet. Dieser günstige Moment lässt sich daran erkennen, dass das Kind ein spezifisches Interesse163 zeigt oder artikuliert, das wiederum einen Hinweis auf die, wenn man so will, aktuelle innere Konstellation des kindlichen Geistes gibt.164 Während die Mutter dieses „spürt“, muss der Pädagoge lernen, es zu erkennen. Die Mutter ist demnach aufgefordert, sich von diesem Interesse des Kindes leiten zu lassen und es bei Fragen nicht auf später, die Schule oder andere, zeitlich weit entfernte Momente zu vertrösten.165 Im Gegenteil: dadurch, dass der

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wie das des Körpers. (…) Nein, Ärmchen und Beinchen, Rückgrat und Vorstellungsgruppen wachsen nicht zufällig, sondern nach ihnen innewohnenden Gesetzen; Ärmchen und Beinchen sind von einer vorgeschrittenen Körperwissenschaft vom Wickeln befreit; aber die Vorstellungsgruppen werden weiter gewickelt. Deren Wachstum traut man noch immer keine vernünftige Tendenz zu.“ (Otto 1965: 26f.). Diese Parallelisierung von körperlichem und geistigem Wachstum versteht Otto als ein „Gleichnis“, das für seine Ausführungen zentral ist. Im „Königlichen Amt der Eltern“ (Otto 1906: 21f.) weist Otto darauf hin, dass er hofft, dass sein „Leser später auf eigene Hand noch öfter daran denke“. Mit Vorstellungsgruppen ruft Otto einen Begriff aus der Steinthalschen Sprach- und Völkerpsychologie auf (vgl. dazu Ullrich (1999): 304ff.). Diese günstigen Momente sind – im Gegensatz beispielsweise zu Montessoris „sensiblen Phasen“ – situativ und nicht in einer Abfolge oder direkten konstitutiven Beziehung zueinander gedacht. „Bisher lernt das Kind also immer das, wofür es Interesse empfindet; woraus dann wiederum zu erschließen ist, daß jedes Gelernte ihm irgendwann einmal interessant gewesen ist.“ (Otto (1912): 4) „In dem Augenblick, wo das Kind fragt, interessiert das Kind sich unzweifelhaft für die Sache; dann ist sein Geist darauf gespitzt, die Erkenntnis aufzunehmen. Geht dieser Augenblick ungenutzt vorüber, dann ist eben der günstige Moment verpaßt; dann muß, wenn die Schule im ‚Pensum‘ auf die Sache zurückkommt, die Aufmerksamkeit dafür erzwungen werden, und die erzwungene Aufmerksamkeit leistet nicht den hundertsten Teil von dem, was das freie, selbsttätige Interesse leistet. Haben wir aber den günstigen Moment nicht verpaßt, dann stellt das Kind die Erkenntnis her“ (Otto (1908): 9) sowie „Jedes Mal wenn ein Kind eine Frage stellen möchte, stehen in seinem Geiste Erkenntnispforten flügeloffen, und wenn sie dann mit rauher Hand zugeschlagen werden, dann schnappt oft das Schloß so fest ein, daß nachher kein Schlosser mit noch so künstlichen Dietrichen es zu öffnen vermag.“ (Hauslehrer 1902: 135-136; zit. nach Roedl (1959): 39f.) Linde (1984) zitiert eine ähnliche Stelle nach Kretschmann ((1933): 17), die gleich beginnt, aber so endet: „…mit rauer Hand zuschlägt, der tut Schlimmeres als der, der seinem hungrigen Kind einen Feldstein gibt, wenn es ihn um eine Stulle bittet.“ (Linde (1984): 71) „Ich kann Ihnen auf Ihre Frage, ob Sie Ihre Kinder selber unterrichten können, auch während der ersten Schulzeit, nur antworten: Niemand kann das so gut wie Sie als Mutter. Und wenn Sie weiter fragen, wer Ihnen dabei raten und wer Sie nötigenfalls führen kann, so muß ich weiter antworten: Niemand kann das so gut wie Ihre eigenen

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kindliche Geist zum Zeitpunkt des artikulierten Interesses für die entsprechende Erkenntnis entsprechend offen ist, gesteht Otto dem Kind ein „absolutes Fragerecht“166 zu. Findet dann im entsprechenden Moment eine Befriedigung der kindlichen Neugierde oder eine Beantwortung seiner Frage statt, entwickelt sich dadurch das, was Otto „Weltanschauung“ (gelegentlich auch „Weltbild“) nennt. Damit ist keine spezifische politische, religiöse oder kulturelle Sicht auf diese Welt gemeint, sondern dieser Begriff beschreibt, wie ein Mensch die/seine Welt sieht.167 Ein dabei zentrales Element ist die Sprache.168 Aus dieser Vorstellung heraus wird Ottos Forderung, Kindern ein unbeschränktes Fragerecht zu gewähren, verständlich. Er selbst begründet dies an einer Stelle wie folgt: „Ich bin durchaus nicht der Meinung, daß der kindliche Geist in seiner natürlichen Entwicklung sich ausschließlich auf Allotria richtet, auf Sachen richtet, die dem Kinde zu erfahren nicht gut sind, sondern ich bin der Überzeugung, daß, wie jedes organische Wesen aus der Welt, die es umgibt, sich das aussucht, was ihm gerade förderlich ist, und das natürlich und instinktiv zurückweist, was ihm schädlich ist, so auch der Kindergeist aus der ihm umgebenden Welt, also aus der Kulturwelt, in die es hineinwächst, sich immer gerade das wahrscheinlicher Weise heraussuchen wird, was immer diesem einzelnen Kinde zum Wachstum, zum geistigen Wachstum am besten förderlich sein wird.“169

Es ist das Ernstnehmen der Vorstellung dessen, dass Kinder im Gegensatz zur damalig vorherrschenden Idee schulischer Pädagogik Freiheit für ihre

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Kinder.“ (Otto (1908): 8f.), und etwas später nochmals eindringlicher: „Lassen Sie Ihre Kinder Ihre Lehrer und Studienleiter sein.“ (Otto (1908): 9f.) Dieser Terminus taucht unter anderem auch in der 1908 erschienen Werbebroschüre für die Hauslehrerschule auf. „Sorgfältige Beobachtung unserer Mitmenschen, ganz besonders der heranwachsenden von der ersten Kindheit an, richtig ausgedeutet durch sorgfältige Selbstbeobachtung, zeigt unzweifelhaft, daß jedes menschliche Wesen – ich selbst gehe noch weiter und sage: auch jedes tierische; aber das will ich hier beiseite lassen – von Urbeginn triebhaft an der Ausgestaltung eines möglichst vollständigen Weltbildes arbeitet, und daß die meisten Tätigkeiten, die es vollführt, sei es um sein Weiterleben zu sichern, sei es um sich über das Nötige hinaus allerlei Genüsse zu verschaffen, zum mindesten als Nebenzweck, wahrscheinlich aber als Hauptzweck das Bestreben hat, sein Weltbild sowohl ins Große wie ins Kleine hinein unermüdlich weiter auszubauen. Man muß sich dabei gegenwärtig halten, daß das Weltbild des einzelnen für ihn identisch ist mit der Welt selbst, die ja für ihn durchaus nur dadurch existiert, daß er sie in sein Weltbild aufgenommen hat, und in soweit existiert, wie ihm das gelungen ist.“ (Otto (1930/2008): 192f.) Vgl. dazu das entsprechende Unterkapitel. Otto (1913/2008): 131. Auch Berthold Otto weiß, dass die „Fragelust der Kinder (…) erfahrungsgemäß immer stärker (ist) als die Antwortlust auch der wohlwollendsten Eltern und Verwandten.“ (Otto (1913/2008): 130)

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Lernprozesse benötigen, die Ottos Denken und schulpraktisches Handeln motivieren. Dies ist seiner pädagogischen Idee gleichsam wie eine Prämisse vorangesetzt, die er rückblickend 1931 wie folgt formulierte: „Das freie Kind wächst frei zum freien Menschen empor. Wenn das überall so sein wird, dann ist das erreicht, was ich erstrebe.“170 Freiheit bedeutet hierbei nicht nur die Forderung nach einer freien geistigen Entwicklung, die Otto mit Rekurs auf die Natur des Kindes verlangt, ja sogar für unabdingbar hält – das Kind bringt auch eine sittliche Anlage und einen eigenen Willen mit, beides Aspekte, die Otto positiv bewertet. Für ihn ist die Vorstellung, dass der kindliche Willen gebrochen werden muss, falsch, und er weist eindringlich darauf hin, „daß der meiste Schaden, den wir in der Erziehung anrichten, aus einer Art von Verachtung der Kindesnatur entspringt.“171 Er kritisiert zum einen die Vorstellung, dass dem Kind gute Eigenschaften „eingepflanzt“ werden müssten, anstatt davon auszugehen, dass in jedem Menschen „ein guter Kern“ (ebd.) stecke. Zudem sei das Kind von Beginn seines Lebens an mit einem „Moralsystem“ ausgestattet: „die Kinder bringen nicht nur Brust und Leib und Arme und Beine, Kopf, Hirn, Herz und Lunge auf die Welt, sondern auch eine vollkommene Sittenlehre, die im Verhältnis ebenso entwickelt ist, wie körperlich Hirn und Herz entwickelt sind.“172 Damit ist das Kind nicht in der Situation, vom Erlernen des Gehorsams suspendiert zu sein, im Gegenteil. Aber dazu ist für Otto keine Notwendigkeit gegeben, den Willen des Kindes zu brechen.173 Otto zeigt dahingehend im „Königlichen Amt der Eltern“ auch, wie er als „Richter“ mit Konflikten zwischen den Kindern umgeht. Diese Aufgabe weist er eindeutig der männlichen Sphäre zu174 und analogisiert sie mit der Struktur eines „Staatswesens“: Entsteht also zwischen den Kindern ein Konflikt, der in seinem Ausmaß und seiner Lautstärke dazu angetan ist, das häusliche Umfeld zu beeinträchtigen, dann sieht Otto hier einen Anlass für eine „polizeiliche“ Intervention.175 Dieser folgt dann eine ad-hoc-Gerichtsveran170

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Otto (1931/1959): 15. Aufsatz „Was ich erstrebe“ – zuerst veröffentlicht in Rotten, E. und K. Wilker (Hg.): Das werdende Zeitalter – Eine Monatsschrift für Erneuerung der Erziehung, X. Jg. 11/1931; hier zitiert nach Roedl (1959). Otto (1906): 39. Otto (1906): 105. Otto (1906). 52. „Erzieher, Vater, der Hauslehrer oder auch wohl der Lehrer an einer Schule.“ (Otto (1906): 66) Der Moment ist dann gekommen, wenn der „ruhestörende“ Lärm der Kinder nicht jubelnde Freude darstellt, sondern wenn es sich um Töne handelt, die auf Wut, Zorn, Hass, Schmerz oder Entrüstung schließen lassen: „Sobald solche Töne sich vernehmen lassen, hat eine sorgsame Polizei sowohl im Staatswesen wie im Hauswesen unverzüglich einzugreifen und auf Herstellung der Ruhe hinzuwirken.“ (Otto (1906): 67)

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staltung, die in ihrem Wesen dem „natürlichen Rechtsgefühl“ entstammt, das auch die Grundlage des „richterlichen Amts des Königs“176 gewesen sei. An dieser Praxis lassen sich zwei wichtige Elemente zeigen, die für die gesamte pädagogische Konzeption Ottos von Bedeutung sind: Zum einen dürfte es sich hier um das Vorbild für das später von Irmgard Otto in der Schule eingeführte Schülergericht handeln,177 und zum anderen wird die große Ähnlichkeit der Organisation von Familie und des Staatswesens, die für Otto charakteristisch ist, hier besonders plastisch. Die Vorstellung, dass im Kind bereits eine moralische Werteinstanz angelegt sei, koppelt Otto mit einer weiteren: Für ihn gilt die Annahme einer fortschreitenden sittlichen Weiterentwicklung der Menschheit, die, so seine Argumentation, dadurch entstehe, dass die Kinder „in jeder Hinsicht, auch in sittlicher, um ein Weniges höher entwickelt sein könnten, als Eltern es waren.“178 Damit sind mehrere Aspekte der Perspektive Ottos angesprochen: Es geht sowohl um die Frage nach der Vererbung von Charaktereigenschaften als auch um die Funktion von Gemeinschaft. Die Vererbung des Charakters ist für Otto eine ungelöste Frage, deren Beantwortung er an die noch zu etablierende und inhaltlich zu füllende neue Erziehungswissenschaft verweist. Dabei geht er von Schopenhauer aus, den er als einen der größten „unter unseren Psychologen“179 kennzeichnet, dessen Aussage wäre, dass der eigentliche Charakter eines Menschen unveränderlich sei. Hingegen ist für Otto sicher, dass Eltern sich damit auseinandersetzen müssen, dass das Kind „nur eine, wenn auch mannigfach veränderte Fortset176 177

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Otto (1906): 68. Otto war zeit seines Lebens überzeugter Monarchist. Das Schülergericht ist die Instanz in der Berthold-Otto-Schule, die für die innere Disziplin, also die Schulzucht verantwortlich ist. Es stellt einen populären Teil der Schulpraxis dar und wird in den meisten Darstellungen der Pädagogik Ottos aufgerufen. Gegründet wurde es von Irmgard Otto (vgl. dazu ihre Beschreibung in Alberts (1925): 127-136). Es handelt sich um eine durch Schüler organisierte und verwaltete Instanz, welche die Schulzucht überwachte und aufrechterhielt. Der Vorsitz des Gerichts wurde dabei immer genderparitätisch besetzt. Berthold Otto macht im Flugblatt zur Eröffnung des neuen Schulhauses auch Werbung mit dem Schülergericht: „Eine Vorübung zur Einordnung in das Leben des Staates bedeutet das Schülergericht, eine Einrichtung zur Aufrechterhaltung der Disziplin, geschaffen von den Schülern selbst, in deren Händen die gesamte Disziplin liegt. Diesem Gericht untersteht ausnahmslos jeder Schüler. Die Eltern müssen sich für ihre Kinder den Entscheidungen des Schülergerichts unterwerfen. („Flugblatt zur Eröffnung“, zit. nach Barth/Henseler (2008): 141f. – dort wird das Flugblatt auf 1908 datiert, was nicht korrekt sein kann, da das Bild auf dem Flugblatt die 1910 erbaute Schule zeigt.) In diesem Zusammenhang sind auch die umfangreichen, von den Schülerinnen und Schülern selbst formulierten Gesetze der Schule bedeutsam. Otto (1906): 47. Otto (1906): 15.

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zung ihres (= der Eltern, KK) Lebens“180 darstelle. Diese Feststellung ist deshalb bedeutsam, weil sie die Eltern dazu anleiten soll, ihre Kinder zu beobachten und die eigenen biografischen Erfahrungen zu dem Beobachteten in Beziehung zu setzen. Die daraus idealiter folgende Selbst- bzw. WiederErkenntnis elterlicher Eigenschaften im eigenen Kind ist für Otto ein wichtiger Prüfstein für erzieherisches Handeln: „Auf solche Weise muß versucht werden, festzustellen, von wem das Kind möglicherweise die Charaktereigenschaft geerbt hat, die sich in diesem Benehmen kundgab; und dann können die Eltern gemeinsam überlegen, inwiefern diese Charaktereigenschaft sich sonst noch in ihrem Leben wirksam gezeigt hat, und ob es besser wäre, diese Eigenschaft zu missen oder sie zu haben.“181

Zusammenfassend bleibt also festzuhalten: Das Kind ist von Geburt an mit einem natürlichen Trieb zur Erkenntnis und einem „sittlichen“ Wertesystem ausgestattet. Es wird in die Familie hineingeboren, die als „Gesamtwesen“ gleichsam zur herausgehobenen Erziehungsinstanz wird, sie ist das zum Erziehungstrieb zugehörige Organ.182 Vor allem die Mutter ist mit einem natürlichen Wissen ausgestattet, das sich in der erziehenden Beziehung zum Kind aktualisiert. Die kindliche Entwicklung wiederum verläuft eigengesetzlich und benötigt, um nicht zu scheitern oder zumindest eingeschränkt oder behindert zu werden, eine auf das Kind positiv eingehende Umgebung. Damit spricht Otto vor allem die geistige Entwicklung an, die sich in einer gegebenen Umwelt vollzieht, die wiederum Anlass für die kindliche Auseinandersetzung ist und so, bei einer das Kind unterstützenden Haltung der Erwachsenen, zur Ausbildung eines Weltbildes führt, das auf „echten“ Begriffen und nicht auf „Scheinbegriffen“ beruht.183 Diese Umwelt besteht aus direkten Bezugsper-

180 181 182

183

Otto (1906): 33. Otto (1906): 35. „In der Natur sind eben Triebe und Organe aufeinander angewiesen; wenn ein Wesen irgendeinen bestimmten Trieb hat, so hat es immer auch die körperlichen und seelischen Organe, durch deren natürliche Betätigung der Trieb in gesunder Weise betätigt wird.“ (Otto (1906): 25) „Scheinbegriffe“ oder auch ein „verfälschtes Weltbild“ sind Konsequenzen aus einer das Kind in seinen Lebensvollzügen nicht ernstnehmenden Erziehung. Otto macht dies an einem Beispiel deutlich: Wie sollen Eltern sich verhalten, wenn Kinder andere Kinder oder generell andere Menschen hauen? Ottos Vorschlag: „Was ist nun in einem solchen Falle zu tun? Je nun, weiter nichts, als den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen. Was ist die natürliche Folge, wenn wir einen anderen prügeln? Selbstverständlich die, daß er wieder haut. Diese Erfahrung müssen wir das Kind von Anbeginn machen lassen. Wir betrügen das Kind um die Erkenntnis der wirklichen Lebensverhältnisse, wenn wir ihm diese Erfahrung vorenthalten. Das Kind, das beim Kratzen und Prügeln anderer Personen gewaltsam behindert wird, bekommt ein ganz falsches

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sonen (Familie, Spielkameraden), aber auch aus dem das Kind umgebenden Gemeinwesen. Das kann das Dorf genauso sein wie die Stadt. Aus dieser Überlegung ergibt sich der zentrale Stellenwert der staatsbürgerlichen Erziehung bei Otto, der sich sowohl an Inhalten, gut sichtbar an den Artikeln des „Hauslehrers“, aber auch an schulorganisatorischen Gegebenheiten, beispielsweise der Schulzucht, ablesen lässt. Auf dieser Grundlage entwickelt Otto nun weitere Aspekte seiner Pädagogik: Dabei geht es zunächst darum, welche Stellung und Bedeutung Sprache im pädagogischen Denkens Otto besitzt. Bekannt geworden ist er unter anderem durch seine Auseinandersetzung mit Fragen nach der „Altersmundart“, also einer Vorstellung davon, dass Kinder in verschiedenen Altersstufen eine je eigenständige Sprachform nutzen, der sich der Erwachsene anpassen muss. Ein zweiter Themenbereich, der sich aus der Vorstellung von Kind und häuslicher Erziehung für Otto ergibt, ist die Frage nach der Übersetzbarkeit dieser Ideen in einen schulischen Kontext. Wie kann der professionelle Pädagoge „natürlichen Unterricht“ veranstalten, wie kann Schule zu einem Ort werden, der dies ermöglicht? Damit werden sowohl pädagogische Kompetenzen einzelner Pädagogen, aber auch schulorganisatorische Aspekte thematisiert. In diesen Bereich fallen auch zentrale Themen wie Schülergericht, Gesamtunterricht und Stundenplangestaltung.

2.1.2. Altersmundart, Sprachentwicklung und Spracherziehung In der „Denkschrift über Entstehung, Zweck und Entwicklungsmöglichkeiten der Berthold-Otto-Schule“ von 1922 beschreibt Berthold Otto den Ursprung seines Nachdenkens über die Sprache der Kinder im Kontext des Unterrichtens der eigenen Kinder zuhause in den Jahren 1887-1893.

„Meinen Kindern verdanke ich aber dann noch etwas sehr Wesentliches und Wichtiges. Bei der knappen Zeit (die für den häuslichen Unterricht zur Verfügung stand; KK) mußte ich besonders darauf bedacht sein, die Antworten so zu geben, daß sie möglichst rasch verstanden wurden. Ich bemerkte, daß das am schnellsten ging, wenn (ich) nur Wörter und Satzformen brauchte, die ich von den Kindern selbst gehört hatte; d.h., ich tat das zunächst unbewußt und wurde erst hinterher darauf aufmerksam. Dabei fiel mir der Unterschied nicht nur des Wortschatzes, sondern auch der Satzformen in den verschiedenen Lebensaltern auf, d.h., ich bemerkte, daß ich dieselbe Frage

Bild von den tatsächlichen bestehenden Verhältnissen. Wir fälschen sein Weltbild.“ (Otto (1906): 58)

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Pädagogik dem jüngeren Kind anders beantwortete, als ich sie vielleicht kurz vorher dem älteren beantwortet hatte.“184

Die hier beschriebene Erfahrung, nämlich dass Kinder unterschiedlichen Alters sprachlich unterschiedliche Antworten auf ihre Frage erhalten, führt im Lauf der Zeit zu einem zentralen Aspekt der Pädagogik Ottos. Bekannt geworden unter dem Begriff der „Altersmundart“ handelt es sich, neben dem Gesamtunterricht, um den populärsten Teil von Ottos pädagogischer Konzeption. Populär deshalb, weil sich diese Vorstellung in diversen Kontexten niederschlägt, fast könnte man sagen: zu einer zentralen Haltung wird. Zum einen wird es zu einem integralen Bestandteil der Publizistik, und zwar sowohl im Hauslehrer als auch mit Büchern.185 Zum anderen erhält die „Altersmundart“ einen wichtigen inhaltlichen und didaktischen Stellenwert für das pädagogische Tun Ottos. So lautet der Untertitel des Hauslehrers: „Der Hauslehrer hat zuerst die wirklich gesprochene Sprache ohne schriftdeutsche Phrasen gedruckt vorgeführt. Genauso wie es hier gedruckt ist, hat der Herausgeber seit Jahrzehnten erst mit seinen Kindern, dann mit seinen Schülern gesprochen; er rät allen Eltern und Lehrern es ebenso zu machen, und sie sind zu Tausenden schon diesem Rate gefolgt. Auch ist hier zuerst mit Kindern über politische und zeitgeschichtliche Dinge gesprochen worden. – Die Beilage in Altersmundart gibt die Sprache der Kinder wieder, die wie jede natürliche Entwickelungsstufe ihren selbständigen Wert hat.“186

Es werden zwei Aspekte aufgerufen: zum einen das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache, zum anderen die Vorstellung einer altersunterschiedlichen Sprache, die sich im (kindlichen?) Entwicklungsverlauf immer wieder verändert und an den Pädagogen die Anforderung stellt, dem Kind auf dessen sprachlicher Ebene zu begegnen187 – eine Anforderung, de184

185 186 187

Otto (1922/2001): 223. An anderer Stelle beschreibt Otto die im Unterricht in Bezug auf Sprache gemachten Erfahrungen so: „Ich verfuhr rein gefühlsmäßig, brauchte für jedes Kind nur solche Wörter, die ich im Sprachklange dieses Kindes im Gedächtnis zu haben glaubte, die ich also von diesem Kind auch schon gehört hatte und als sicheren Besitz bei ihm voraussetzen konnte. Auch etliche Sprachformen, die den älteren geläufig waren, hatten die jüngeren nicht. (…) ich konnte jedenfalls feststellen, daß tatsächlich die Sprache ihr eigenes Wachstum hat, daß das achtjährige Kind darin auf einer anderen Entwicklungsstufe steht als das zehnjährige. so daß mir als neues Problem der Spracherziehung die Erforschung der Altersmundarten aufging, die später auch für die gesamte Sprachwissenschaft – namentlich auch für die Weiterbildung der Sprachen – von großer Wichtigkeit sein wird.“ (Otto (1930/2008): 190) Am populärsten wurde „Fürst Bismarcks Lebenswerk. Den Kindern und dem Volke erzählt“. Die erste Auflage erschien 1898, die achte und letzte 1918. Hier zitiert nach Otto (HL 1914a): 1. Eine zeitgenössische Kritik dazu findet sich beispielsweise bereits 1906 bei Johannes Gläser (vgl. Gläser (1906/1920)).

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ren Schwierigkeitsgrad nicht zu unterschätzen war. Otto selber veröffentlichte verschiedene Bücher und viele Artikel im Hauslehrer in „Altersmundart“ und hält dazu fest: „Die Erlernung der Kindersprache zum schriftstellerischen Gebrauch machte mir fast so viel Mühe wie die irgendeiner fremden Sprache.“188 1930 erscheint im „Handbuch der Pädagogik“ von Hermann Nohl und Ludwig Pallat der von Otto verfasste Artikel „Die Spracherziehung“.189 Ausgehend von der Feststellung eines Primats der lateinischen Sprache für die zeitgenössischen Vorstellungen von Bildung (und damit auch: für die zeitgenössische Praxis höherer Schulen) stellt Otto fest, „daß wir einen wichtigsten Teil unserer doch wohl als lebendig zu denkenden Bildung einem Toten (= Latein als „tote Sprache“; KK) entnehmen wollen.“190 Für Otto ist die Auseinandersetzung mit der Muttersprache die einzig mögliche Art, (formale) Bildung zu erlangen, das Erlernen einer Fremdsprache und die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit sind dem immer nachgeordnet, denn „überall, wo fremdsprachlicher Unterricht in dieser Weise bildend gewirkt hat, (liegt) das Bildende in dem latenten Unterricht der Muttersprache, ohne den die fremde Sprache vollkommen unverständlich geblieben wäre“,191 ja, der altsprachliche Unterricht ist ein „Hemmnis der geistigen Entwicklung“192 und kann zu einer Gefahr für die Ausbildung des Geistes werden (ebd.). Ottos Konzeption von Sprachunterricht vermittelt dabei nicht nur sprachliches Wissen, sondern soll zur Entwicklung eines begrifflichen Kategoriensystems beitragen, das auf unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden einen analytischen Zugang zur Welt resp. zu einer Ordnung der Auseinandersetzung mit der Welt führen soll. Dieses begriffliche Kategoriensystem besteht aus „Grundbegriffen“ – das sind „Ding, Eigenschaft, Vorgang, Zeit, Ort, Ganzes, Teile, Gattung, Stoff und Form, Ursache und Wirkung“,193 die notwendig für die formale Bildung im Sinne der grammatikalischen Durchdringung der Sprache notwendig sind. Sie bilden die Basis für die Überwindung der Unterscheidung zwischen „geistig Gebildeten“ und „geistig Ungebildeten“.194 188 189

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Otto (1908): 38. Im Folgenden zitiert nach Barth/Henseler (2008). Als Jahreszahl des Artikels wird dort 1929 angegeben, das Handbuch erschien 1930, entsprechend erfolgt die Zitation mit der Jahresangabe 1930. Otto (1930/2008): 178. Otto (1930/2008): 184. Otto (1897/2001): 179. Otto (1901b): 115. Die Grundbegriffe werden als Stufen von Erkenntnisprozessen gedacht (vgl. dazu Schnücker (1990): 135ff.). „Wenn es aber wirklich gelingt, diese Begriffe tadellos herauszuarbeiten – und es gelingt immer, wenn es auch bei manchen Kindern recht lange Zeit in Anspruch nimmt –

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Geistige Bildung ist das Ergebnis eines an den Grundbegriffen orientierten Auseinandersetzungsprozesses mit Sprache. „Gebildet ist, wer versteht, was er spricht“,195 und das kann jedes Kind erreichen. Spracherziehung (und in deren Ergebnis das, was Otto „formale Bildung“ nennt) ist damit nicht mehr ein Gegenstand höherer Schulbildung, sondern kommt als zentrales Thema der Volksschulerziehung196 vor. Der Fokus dieser Spracherziehung ist also ein doppelter: Einmal geht es um eine kategoriale Bestimmung sprachlicher Ordnungselemente (also um Grammatik), und zwar in Zusammenarbeit mit den Kindern. Ottos Vorstellung ist nicht, den Kindern ein „fertiges“ System beizubringen, sondern durch die Auseinandersetzung mit sprachlichen „Erlebnissen“ wird im Zusammenspiel von Schüler und Lehrer das hinter der Sprache liegende Ordnungssystem entwickelt. Entsprechend ist es für Otto Praxis, dass die Schüler grammatikalische Begriffe selber (er)finden.197 Zum anderen ist diese Spracherziehung aber auch der Weg der Herstellung der Weltanschauung: „Nichts geringeres als eine Weltanschauung ist es, die wir in den Kindern hervorbringen. Denn wer an jenen Grundbegriffen (…) den ihm zugänglichen Kreis der Anschauungen – zugänglich vielleicht im engsten Kreise des Heimatdorfes – wirklich

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wenn wir mit Hilfe dieser Begriffe die Kinder zum wirklichen Verständnis der Sprachlehre gebracht haben, und wenn wir es erreicht haben, dass sie an diesen Grundbegriffen den Schatz der ihnen zugänglichen Anschauungen durchgearbeitet haben, dann haben wir ihnen allen, mögen es Fürstenkinder oder Kinder des geringsten Tagelöhners sein, das gegeben, was den geistig Gebildeten vom geistig Ungebildeten unterscheidet.“ (Otto (1901b): 115) Otto (1901a): 164, zit. nach Schnücker (1990): 108. Vgl. auch dort für eine ausführlichere Darstellung und Kritik. Und etwas allgemeiner: „Als formal gebildet betrachte ich den Geist, der sich all seiner Grundkräfte und Betätigungsarten bewußt ist und dadurch bemüht bleibt, dieser Bewußtheit hinreichenden Einfluß auf seine Tätigkeit zu sichern.“ (Otto (1921): 201) In einem Artikel in der Sächsischen Lehrerzeitung aus dem Jahr 1928 geht Otto davon aus, dass „wir in nicht allzu ferner Zeit grade die allgemeine Volksschule auf einer Höhe sehen werden, wie die Welt sie noch nicht gekannt hat.“ (Otto (1928/2008): 119) „Noch nicht erwähnt habe ich hier, daß ich mehrfach schon die Kunstausdrücke der Grammatik durch deutsche Wörter, die sich aus dem Gespräch mit Kindern ergaben, ersetzt hatte (…). sobald ein Schüler einen besseren Ausdruck findet, wird der aufgenommen, zu entscheiden haben die Schüler. (…) Wir lassen selbstverständlich die Beobachtung immer der Benennung des Beobachtungsgegenstandes vorangehen und freuen uns, wenn das Kind eine bessere Benennung findet, als wir uns ausgedacht haben.“ (Otto (1930/2008): 188)

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durchgedacht und durchgearbeitet hat, der hat Weltanschauung. Weltanschauung ist nichts weiter als das.“198

Damit wird noch ein weiterer wesentlicher Aspekt in der Pädagogik Ottos aufgerufen: Die Ordnungsstrukturen von Sprache sind keine, die dem Kind von außen quasi als externes Wissen angetragen werden, sondern sie entwickeln sich aus der Auseinandersetzung des Kindes mit der Umwelt, die es umgibt. Diese Umwelt ist als konkret erfahrbarer Ort gedacht, aus dem heraus die Kinder ihr Weltverständnis entwickeln, dessen Struktur aber nur durch sprachliche Vermittlung erkennbar wird. Anders gewendet: „Die Sprache des Kindes entspricht genau seiner Weise, die Welt und diese einzelnen Dinge, über die es gerade spricht, zu betrachten.“199 Diese Auseinandersetzung führt zu dem, was Otto als „seelischen Vorgang“200 versteht, der von jedem Einzelnen aktiv durchlebt werden muss, damit der damit verbundene Gedanke zu einem „wirklichen“ Begriff im Geistesleben und nicht zu einem Scheinbegriff wird. Otto vergleicht das mit einem Sprung über einen Graben: „Es ist bestenfalls so, wie wenn jemand, der von einem andern über einen Graben weggehoben ist, sich einbildet, er sei über den Graben gesprungen. Er kann ja von sich aus und für sich geltend machen, es sei doch ganz unzweifelhaft, daß er vorher auf der andern Seite des Grabens gewesen sei, und nun sei er auf dieser Seite, er sei also doch unzweifelhaft hinübergelangt.“201

Ein auswendig gelernter Satz, der keinen selbsterlebten seelischen Vorgang als Entsprechung im Menschen hat, bleibt diesem Menschen äußerlich und nicht, wie Otto es für gut hält, „inwendig“.202 198

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Otto (1901b): 115. „Kinder machen sich die Welt zu eigen, indem sie den Dingen, die sie beobachten, Namen geben und sie durch Sprache für sich selbst verständlich machen. (…) Kinder erschließen mit Hilfe der Sprache die Welt und entwickeln ihr Weltbild. (…) Sie (= die Sprache, KK) macht die Gegenstände der Welt zum Eigentum des Geistes. So bekommt Sprache ihre bildende Funktion.“ (Schnücker (1990): 108) Otto (1914): 17. Otto (1914): 19. Otto (1914): 19. In den Ratschlägen für häuslichen Unterricht schreibt er dazu: „Von dem bisherigen Schulunterricht in der Grammatik kann man nicht behaupten, daß er die Grammatik volkstümlich macht; er wird doch meistens nur als Hilfsmittel der ‚Rechtschreibung‘ betrieben und nach der Schulzeit vom Geist wie ein lästiger Fremdkörper wieder ausgeschieden. Nach zehn bis fünfzehn Jahren sind höchstens zufällige Reste noch davon übrig.“ (Otto (1908): 40) Otto (1914): 19. Ebenso können Bücher keine Vorstellungen erzeugen, sondern nur Vorstellungen aneinanderreihen und rekombinieren; etwas lernen im Sinne der Weiterentwicklung seiner Kenntnisse, kann man aus einem Buch nicht. Otto lehnt Bücher nicht vollständig ab, er kritisiert eher die Funktion, die man ihnen zuschreibt (und die er als Fetischismus bezeichnet: Otto (1914): 27). Für ihn ist das Buch „in seiner wirk-

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Die Auseinandersetzung mit Sprache nimmt in Ottos pädagogischem Denken also verschiedene Funktionen ein: Zum einen versteht er sie als etwas, das sich mit dem Heranwachsen des Kindes weiterentwickelt. Kinder verschiedenen Alters sprechen verschiedene Sprachen, dieses Wissen führt zu der Erkenntnis, dass der Prozess der Sprachentwicklung und der der Welterkenntnis verkoppelt oder zumindest gleichförmig strukturiert sind. Beides ist pädagogisch bedeutsam: Ersteres, weil Pädagogen dadurch aufgefordert sind, in der jeweiligen Sprache des Kindes mit ihm zu sprechen, Letzteres, weil so eine kategoriale Ordnung (durch das „Auffinden“ der Grundbegriffe) von Welt(-erkenntnis) und Sprache geschaffen werden kann und somit jeder und jedem zugänglich wird. Wichtig ist dabei, dass nur der „richtig“ denken kann, der auch seine Sprache versteht: „Sprache und Denken versteht man im tiefsten Grunde nicht aus Büchern, sondern nur aus der Beobachtung wirklichen Sprechens und Denkens, die im letzten Grunde jeder nur an sich selbst vollziehen kann.“203 Verbindet man diese Aufforderungen mit der in Kapitel 1.1.1. dargestellten Vorstellung kindlicher Entwicklung, dann dürfte deutlich werden, dass die Vorstellung einer Schule, die einem festen Lehrplan mit fixierten Inhalten folgt, für Otto kontraproduktiv sein muss. Die kindliche Auseinandersetzung mit der Welt erfolgt individuell und eigengesetzlich, so dass vorher festgeschriebene Inhalte dieser Entwicklungsdynamik gar nicht gerecht werden können und den Herstellungsprozess des Weltbildes verhindern oder stören müssen. Otto stellt dem ein alternatives Schulorganisationskonzept und eine besondere didaktische Form – nämlich den Gesamtunterricht – entgegen.

2.1.3. Gesamtunterricht Der Gesamtunterricht ist neben der Altersmundart vermutlich das populärste, was aus der Pädagogik Berthold Ottos bekannt geworden und geblieben ist. Das zeigt sich zum einen daran, dass der Berthold-Otto-Verein die Mitschrift eines von Otto 1913 gehaltenen Vortrags zu diesem Thema in einer Auflage von 100.000 Stück als Flugschrift publizierte und verteilte,204 aber auch daran, dass der Begriff „Gesamtunterricht“ in andere, auch nicht reformpädagogische Kontexte Eingang fand,205 so dass eine Unterscheidung in „gebun-

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lichen Tätigkeit einigermaßen ähnlich der Tätigkeit des rechten Unterrichters und Erziehers: auch der will und kann nichts in den Schüler hineintun, er will nur hervorholen, was irgend darin ist.“ (Otto (1914): 29) Otto (1921): 202. Vgl. dazu auch Scheibe (1969): 16f. Vgl. beispielsweise Albert (1928).

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denen“ und „freien“ Gesamtunterricht etabliert wurde.206 Gesamtunterricht kommt in den meisten Darstellungen zu Ottos Pädagogik als zentrales Element vor.207 Wolfgang Scheibe hat dem o.g. Vortrag eine eigenständige Monographie gewidmet, in der er den Gesamtunterricht einordnet und interpretiert.208 Neben der Altersmundart spielt der Gesamtunterricht in vielen Artikeln im Hauslehrer eine wichtige Rolle, vor allem werden Protokolle und Themensammlungen publiziert.209 Diese hohe Popularität dürfte mindestens 206

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Bei Elmar Schnücker findet sich die Unterscheidung in der Frage nach der „Situation unterrichtlicher Gegenwart“: Während der „gebundene“ Gesamtunterricht durch eine Anordnung bestimmter Inhalte disziplinär unterschiedlicher Provenienz um ein bestimmtes Thema gekennzeichnet wird, umfasse der „freie“ Gesamtunterricht „die Ganzheit des Menschen und der Welt“ in einem „geschichtlichen, gesellschaftlichen und geistigen Zusammenhang“ (Schnücker (1990): 197, FN 10). Gerhard Linde hat dabei vier inhaltlich verschiedene Aspekte der „Gebundenheit“ identifiziert: Gebunden könne der Gesamtunterricht sein durch die inhaltlichen Vorgaben amtlicher Stoffund Lehrpläne, durch eine „mehr oder weniger formalistische Nachahmung gelungener Unterrichtsbeispiele“ (Linde (1984): 147), durch die Antinomie zwischen ganzheitlichem und stückhaftem Denken sowie „durch das Beharrungsvermögen tradierter Lebensformen.“ (Linde (1984): 147) Während sich also der Gesamtunterricht im Sinne Berthold Ottos um das Kind zentriert (vgl. dazu auch beispielsweise Roedl (1959), Rathenow (1981), Scheibe (1969) sowie den Aufsatz „Freier Gesamtunterricht im Sinne Berthold Ottos“ von Georg Friedrich Muth (o.J., DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 621 Bl. 58-67); ob dieser Aufsatz zur Veröffentlichung kam, ist unklar (vgl. auch Reble (1951): 261), fokussieren die meisten anderen Konzepte auf eine möglichst umfangreiche Behandlung bestimmter Gegenstände, allerdings in Abgrenzung zu den damals vorherrschenden Rein-Zillerschen Formalstufen (vgl. Linde (1984): 66ff.). Eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Auffassungen von Gesamtunterricht, welche die von Otto praktizierte Form von allen anderen Zugängen abgrenzt, findet sich bei Gustav Metscher (1929), eine auch auf andere Länder als Deutschland verweisende Darstellung gibt Franz Eitze (1933). Eitze und Metscher sprechen von einer „Gesamtunterrichtsbewegung“, was auf eine weiträumig geführte Diskussion zumindest des Begriffes in der pädagogischen Landschaft der Weimarer Republik verweist. Gerhard Linde (1984) merkt an, dass das erste Konzept des „gebundenen“ Gesamtunterrichts in der methodischen Abteilung des Leipziger Lehrervereins entwickelt wurde. Vgl. auch dort für eine detaillierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Varianten des Gesamtunterrichts. Das Ergebnis seiner Untersuchung unterschiedlicher Konzeptionen des Gesamtunterrichts ist: „Eine Bewegung von der Kühnheit einer ganzheitlichen, vorbehaltlosen Partnerschaft zwischen Erwachsenem und Kind, wie sie Otto vorschwebte, war zu gefährlich für die Sicherheit des althergebrachten Denkens in den Kategorien Kind-Erwachsener, klein-groß, oben-unten, fertig-unfertig usw.“ (Linde (1984): 149) Vgl. Forschungsstand, explizite Nennung auch in: Schonig (1998): 323. Scheibe (1969). Außerdem findet sich der Vortrag in unterschiedlichen Quellensammlungen zur Reformpädagogik – unter anderem bei Barth/Henseler (2008); Kreitmair (1963); Geißler (1967); Vilsmeier (1967); Roedl (1959). Vgl. Kapitel 3.1.

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zwei Faktoren geschuldet sein: Zum einen war der Gesamtunterricht strukturell etwas wirklich Neues,210 er stellte in gewisser Weise die gängige Schulpraxis der Kaiserreichschule vom Kopf auf die Füße.211 Er ist formal und inhaltlich schülerzentriert, was sich unter anderem durch die Bestimmung zu behandelnder Themen durch die Schüler zeigt. Zum anderen wirkt er auf den ersten Blick als einfach zu adaptierendes Konzept: Es werden kaum Hilfsmittel benötigt, keine umfangreichen methodischen Kenntnisse oder gar langfristig anzulegende Planungen.212 Den Begriff Gesamtunterricht hat Otto mit Arthur Schulz zusammen213 geprägt. Er denkt ihn als pädagogische Verlängerung des familiären Tischgespräches, das ja ebenfalls Erwachsene und Kinder verschiedener Eltern vereint und der Ort sein soll, an dem das am Tag Erlebte und die Fragen der Kinder ihren Platz haben. Form und Ablauf einer Gesamtunterrichtsstunde sind an unterschiedlichen Stellen in Ottos Werk beschrieben und inhaltlich protokolliert. Es handelt sich dabei um ein Unterrichtsgespräch, das von einer Person (im Regel-

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Womit nicht ausgesagt sein soll, dass es keine (möglichen) inhaltlichen Vorläufer bzw. Bezugspunkte gab – Rathenow weist auf Comenius (Didactica Magna), Rousseau (Gegenstand soll im Mittelpunkt stehen, nicht das Zeichen) und Pestalozzi (Kritik am „Maulbrauchen“) hin (vgl. Rathenow (1981): 178). Damit knüpft das Konzept des Gesamtunterrichts auch an die zeitgenössische Schulkritik an, welche die Perspektive vom Kinde aus zum „sine qua non jeder didaktischen und methodischen Überlegung“ (Linde (1984): 75) macht. Dass dem nicht so ist, zeigt Martin Spielhagen (1926), Lehrer einer einklassigen Landschule. In seinem Buch beschreibt er, wie er den Otto’schen Gesamtunterricht für seine spezifische Situation adaptiert und verändert hat. Neben konzeptionellen Weiterentwicklungen stellt Spielhagen auch Protokolle und Themenlisten zur Verfügung, verfährt also in der gleichen Art und Weise wie Otto in den entsprechenden Publikationen. Spielhagens Buch kann als unterstützende Literatur verstanden werden. „Berthold Otto war einer der ersten, der Vorschläge zur Heilung des veralteten Schulleidens machte. Seine Vorschläge liefen nicht darauf hinaus, die Fächerung zu beseitigen; er wollte nur eins: die Wiederherstellung eines natürlichen Verhältnisses zwischen Kind und Erwachsenem auch in der Schule. Für diese Form eines natürlichen Unterrichts wählte er die Bezeichnung Gesamtunterricht. Zögernd ist der Volksgeist seinen Gedankengängen gefolgt. Was Otto vor 20 Jahren gemeinsam mit seinem Freunde Arthur Schulz zum erstenmal Gesamtunterricht genannt hat, das dringt heute langsam in unsere öffentlichen Schulen ein“ (Kretschmann (1933): 13, ähnlich auch bei Oelkers (2005): 199, FN 91). Otto selber beschreibt die Wege der Entwicklung als sehr verschiedene: Während Schulz über die Erfahrung des Unterrichts im Freien zu einer Idee von Gesamtunterricht gekommen sei, entwickelte sie sich bei Otto selber aus der Auseinandersetzung mit Fragen kindlicher Entwicklung und formaler Bildung (vgl. Otto (1921): 201ff.).

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fall ist das der Lehrer) moderierend214 geleitet wird. Diese Moderationsleistung erfordert eine bestimmte Grundhaltung seitens des Lehrers: Er muss der Aufgabe in dem Moment seelisch gewachsen sein, ist er selber missgestimmt, kann keine seelische Gemeinschaft zustande kommen.215 Und er muss „die wunderlichste Meinung des sechsjährigen Kindes mit demselben Ernst (…) behandeln wie die genialste Theorie des berühmtesten Fachmannes.“216 Alle Personen sitzen dabei im Kreis oder gruppiert zusammen. „Dann meldet sich einer mit irgendeinem Thema. Es ist gänzlich gleichgültig, was das für ein Thema ist. Es kommen die einfachsten Erlebnisse, Tageserlebnisse, es kommen die tiefsten philosophischen Fragen, und öfters kommt es vor, daß diese beiden verschiedenen Arten sich unmittelbar gegenseitig ablösen. Wenn nun ein solches Thema angeregt ist, dann wird darüber solange diskutiert, wie das Interesse der Gesamtheit dafür rege bleibt. Das zu bemerken und zu beurteilen, ist Sache des Leiters.“217

Hier findet sich also die Vorstellung wieder, dass der kindliche Geist, angeregt durch die eigenen Erlebnisse mit seiner Umwelt (also durch Erfahrungen, Eindrücke, Gegenstände etc.) in einen Auseinandersetzungsprozess gelangt, dessen Inhalte er in dem aktuellen Moment (oder der aktuelle Phase) besonders gut zu dem jeweilig individuellen Weltbild gestaltet. Dieser Prozess wird nun nicht als individuell im Sinne einer differenzierten pädagogischen Einflussnahme interpretiert, sondern die Auseinandersetzung des Einzelnen, die Herstellung seines Weltbildes wird als Vorgang gesehen, der sich am besten in einem Kontext geistiger Gemeinschaft vollzieht: „Da meldet sich nun jeder zu Wort, der ein neues Stück Arbeit an seinem Weltenbau vollbracht hat und nun das Bedürfnis hat, seine Freude daran auch anderen mitzuteilen. Noch häufiger ist es, daß einer mit einem Bauversuch nicht fertig geworden ist und von anderen dabei Hilfe verlangt, die ihm dann sofort in dem weitesten Umfang zuteil wird, den die Kräfte und Kenntnisse der Anwesenden zulassen. Schließlich werden auch neu aufgestoßene Probleme als einfache Fragen vorgebracht.“218 214

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Otto selbst beschreibt sich in dieser Rolle so: „Ich leite die Versammlung nur, wie man eben in Vereinen, wo alle Mitglieder einander kennen, eine Versammlung leitet: man bemüht sich nur darum, daß jeder, der etwas Interessantes zu sagen weiß, möglichst ausgiebig zu Wort kommt.“ (Otto (1907/1963): 106) Vgl. Otto (1913/2008): 136. Otto (1921): 200. Otto (1913/2008): 134. Edmund Neuendorff charakterisiert die Fragen im Gesamtunterricht als „Ausdruck der Unbefriedigung über ein Nichtwissen und die Sehnsucht nach der Wahrheit.“ (Neuendorff (1921): 209) Otto (1930/2008): 197. Aus dieser Zielsetzung ergibt sich auch die geforderte Haltung des Lehrers: „Es wird weiter nichts vom Lehrer verlangt, als daß er sich der geistigen Gemeinschaft, die die Schüler erstreben, mit allen seinen Kräften zur Verfügung stellt;

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Abbildung 3: Gesamtunterricht im Freien. Berthold Otto und Schüler, in der Mitte ein Protokollant, ca. 1911/1912.219

Fragen werden gemeinsam diskutiert – ältere wie jüngere Schüler können sich gleichberechtigt einbringen, in den Aussprachen gab es sogar ein „Erstrederecht“ für jüngere Schüler. Themen, die von den Anwesenden nicht oder nicht erschöpfend behandelt werden können, werden vertagt, aber auch hier liegt es bei den Kindern, sie erneut anzusprechen.220 In der Berthold-OttoSchule gab es den Gesamtunterricht sowohl für alle Schüler, als auch separat für die jeweiligen Altersstufen der Schule, was Otto in der Funktion als komplementär denkt: „Diese beiden Verfahren ergänzen einander, daß die gleichaltrigen, die also nur in den Interessen verschieden sind, sich untereinander verständigen und daß auch Menschen von verschiedenen geistigen Entwick-

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daß er sich in der unermeßlich weiten Welt, die schon dem Auge des kleinsten Kindes offen steht, mit den suchenden Kindern gemeinsam auf die Suche begibt. Denn was er davon in seinem langen Leben kennen gelernt hat, ist ja doch im Vergleich zum Ganzen nicht allzuviel mehr, als was die Kinder schon kennen. Vieles gemeinsam erforschen und sich darüber verständigen, das ist Geisteswachstum, das ist Entwicklung.“ (Otto (1921): 204) DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 753. „Und wenn das Interesse der Kinder dann stark genug ist, dann wird das nächste Mal wieder gefragt: Sie wollten uns doch noch sagen, wie das und das wäre; und dann wird beim nächsten Male diese Auskunft erteilt.“ (Otto (1930/2008): 135; vgl. auch Otto (1921): 200)

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lungsstufen, also von verschiedenen Altersstufen, sich untereinander verständigen.“221 Otto betont die Wichtigkeit der Idee des Verbindenden in Bezug auf den Gesamtunterricht als „eine Lehrform, die sich bemüht, alles Trennende zu meiden, das durch Begriffswillkür Getrennte nach Möglichkeit durch begriffliche Bearbeitung wieder zusammenzubringen, in seinem organischen Zusammenhang zu erkennen und zu erfühlen und in tiefer Weise jeden teilnehmenden einzelnen wie die Gesamtheit der Teilnehmenden sich in diese tiefe Gesamtheit einleben, sich als ihre Glieder fühlen zu lehren. Im Gesamtunterricht schwindet die Trennung von Lehrenden und Lernenden. Jeder teilt mit, was er weiß, erfahren und beobachtet hat und fragt nach dem, was andere wissen, erfahren und beobachtet haben. Es schwindet die Trennung der Forschungsgebiete und Einteilung der Fächer, wie es ja in der Welt keinen Gegenstand gibt, der nicht in mehrere solcher Fächer gehörte. Es schwindet die Trennung der Teilnehmer in Alters- und Ausbildungsstufen, da es keiner dieser Stufen an eigener Beobachtung, Erfahrung und Wissenschaft mit durchaus mitteilenswerten Ergebnissen fehlt und Beobachtung, Erfahrung und Wissenschaft der Älteren vertieft und besser durchgearbeitet wird, wenn sie zur ausreichenden Beantwortung der Fragen Jüngerer dienen soll. Und mit allem anderen Trennenden schwindet auch wenigstens zeitweise die Trennung einzelner; die Teilnehmer fühlen sich in ihren Interessen und deren Betätigung als Gesamtheit, als Geistesgemeinschaft.“222

Es geht also nicht nur um die Gemeinschaft zwischen allen Beteiligten, die sich durch die Vorstellung, dass alle Lernende und Lehrende zu gleicher Zeit sind, ausdrückt, diese Gemeinschaft beinhaltet auch die Idee eines übergeordneten Zustandes – den der Geistesgemeinschaft –, in dem der Einzelne zumindest situativ aufgeht.223 Diese Vorstellung ist ein strukturelles Grundmotiv von Ottos Denken, das sich in ähnlicher Form in der Vorstellung der Einrichtungen (s.o.) oder auch in der Beziehung zwischen Einzelgeist und Volksgeist zeigt. Wichtig ist dabei, dass Denken für Otto ein Prozess ist, der nur im Kontext von Gemeinschaft lebendig wird. So, wie Denken nur gemeinschaftlich vonstattengehen kann,224 so ist es auch irreführend, ein be-

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Otto (1913/2008): 136. Otto (1921): 198. Neben der Geistesgemeinschaft besteht ein zweiter übergeordneter Zustand. Gerhard Linde (1984) hat herausgearbeitet, dass sich auch die Vorstellung von „Ganzheit“ einer theoretisch-abstrakten Erklärung widersetzt und ihr eigentliches Wesen nicht mitteilbar ist (vgl. Linde (1984): 96ff). Vgl. Schnücker (1990): 70ff. – Lebendiges Denken ist für Otto solches, das in die Zukunft weist. Das erklärt auch seine kritische Haltung zu Büchern. Diese lehnt er zwar nicht ab, aber für ihn ist die Vorstellung, dass das „Seelische“ der Wissenschaft in Büchern zu finden ist, ein Fehlschluss. Bücher sind „materialistische“ Artefakte, in

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stimmtes Thema einer bestimmten wissenschaftlichen (Teil-)Disziplin zuzuordnen. Aus dieser Prämisse leitet sich ab, warum für Otto von außen aufgegebene Lehr- oder Stoffverteilungspläne undenkbar sind.225 Dennoch gab es in der Berthold-Otto-Schule Stundenpläne, die unterschiedliche Fächer aufwiesen, was auf den ersten Blick kontraintuitiv wirkt. Die Stundenpläne folgen in ihrer Erstellung einer Eigenlogik, die eng mit dem Geschehen im Gesamtunterricht verbunden ist. Hier entwickeln die Kinder weiterführendes Interesse an bestimmten Themen, das zum Anlass für den so genannten „Fachunterricht“ zu nehmen ist: „Es zeigt sich: einzelne Kinder haben für diese oder jene Sachen mehr Interessen, als die anderen dafür aufbringen können. Dann ist der psychologische Moment gegeben, für diese Kinder einen Sonderkursus auf diesem Gebiete einzurichten.“226 Entsprechend versteht Otto den Gesamtunterricht als Möglichkeit, Interesse zu wecken oder zu verstärken und gleichzeitig im Schüler ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass nicht ein bestimmtes Fach wichtiger ist als die anderen. Im Gegenteil: Die Fachunterrichte und der Gesamtunterricht widerspiegeln Ottos Idee des Aufbaus von Gesellschaft: Der Gesamtunterricht „stellt sich zu den Fächern nur so, daß er jedem einzelnen seinen Platz innerhalb der großen Gesamtheit der Erkenntnis, innerhalb des ganzen Weltbildes anweist. (…) Wir möchten – und wir erreichen es im Gesamtunterricht – die Menschen von Jugend auf dahin bringen, daß sie die große Notwendigkeit jeder Art von Erkenntnis zur Gestaltung des gesamten Weltbildes nicht nur des einzelnen Menschen, sondern des ganzen Volkes und schließlich der ganzen Menschheit, nicht nur anerkennen, sondern tagtäglich neu erleben.“227

Dass die Fachkurse auf reges Interesse stießen, dokumentieren sowohl Otto in dem Vortrag zum Gesamtunterricht, als auch Eduard Reimpell, der als Lehrer der Berthold-Otto-Schule einen Mathematik-Kursus gab und darüber schreibt: „Er (= Rechenkurs; KK) wurde im November 1913 in den Pausen gehalten, weil sich die Kinder die andren Stunden auch nicht entgehen lassen wollten. Es beteiligten sich außer zeitweilig einem 10jährigen (Ludwig), 2 Kinder von 8 Jahren und einige, die nicht zu unsrer ‚Stufe‘ gehörten. Im ganzen waren es zusammen 8 (bis 10, zuweilen mehr) Knaben und Mädchen.“228

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denen Gedanken notiert und festgehalten sind, sie können aber nicht die „ganze geistige Gemeinsamkeit, die zur Wissenschaft gehört“ (Otto (1914): 18) abbilden. „Und das erfolgt nach den Geistesgesetzen, die kein Lehrer, keine Schulkonferenz gibt, sondern die der Geist ein für allemal sich selber gegeben hat und denen der Lehrer ebenso zu gehorchen hat, wie der Schüler ihnen gerne gehorcht.“ (Otto (1921): 20) Otto (1913/2008): 137f. Otto (1913/2008): 138. Reimpell (HL 1914a): 161.

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Fachunterricht und Gesamtunterricht haben auch verschiedene Funktionen und Aufgaben – sowohl in der Schule als auch für das Aufwachsen der Kinder. Gesamtunterricht ist nicht nur Ottos pädagogische Antwort auf die „Zersplitterung“ des Wissens in wissenschaftliche Disziplinen – zumal Otto von der Notwendigkeit der „Sonderforschungen“229 ausgeht. Zudem stellt es für den Gesamtunterricht eine Bereicherung dar, denn „je mehr verschiedene Fächer von den Teilnehmern am Gesamtunterricht getrieben werden, um so reichhaltiger werden die Anregungen im Gesamtunterricht.“230 Das Verhältnis zwischen Gesamt- und Fachunterricht ist ein anderes, weil sie sich beide in ihren Aufgaben und Funktionen ergänzen: „Er (= der Gesamtunterricht, KK) will nur als Gegengewicht dienen gegen die vollständige Trennung und Scheidung der Geister und der Interessen, die als Gefahr über der Scheidung in Völker und Berufe schwebt und alle Gemeinschaft zu zerreißen droht. So kann man sagen, das Fachwissen soll jeden für seinen Lebensberuf tüchtig machen, der Gesamtunterricht soll ihm sein Volkstum und sein Menschentum erhalten.“231

Es geht also nicht um die Konkurrenz zwischen Fach- und Gesamtunterricht, sondern Letzterer will gerade der Konkurrenz zwischen einzelnen Disziplinen etwas entgegensetzen. Otto verwehrt sich gegen die „Überhöhung“ einzelner Fächer zuungunsten anderer und vor allem ihrer unter Umständen exponierten Stellung in der Schule als Hauptfach, die dazu führen würde, dass „jeder Unglückliche, der für sie nicht genug Interesse gezeigt hat, niemals mit dem amtlichen Vollbildungsstempel gezeichnet werde.“232 Über diese Vorstellung hinaus schreibt Otto dem Gesamtunterricht auch positive Wirkungen für das gesamte Volk zu, die stark an seinen volksorganischen Vorstellungen orientiert ist. Der Gesamtunterricht hat nicht nur für die einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine positive Funktion, er dient auch der (Wieder-)Herstellung einer das Volk einigenden Form der „vollkommen einheitlichen Bildung“, deren Entstehen (durch Gesamtunterricht) zwar einige Generationen in Anspruch nehmen wird, dann aber die jetzt bestehende „Entzweiung“ durch die „zerrissene Bildung“ überwinden wird.233 Der Zusammenhang zwischen der pädagogischen Form „Gesamtunterricht“ und dem „Volk“ wird noch an einer weiteren Position Ottos deutlich: Der Gesamtunterricht ist nicht nur ein Mittel, das einigend wirkt, er bietet 229 230 231 232 233

Otto (1921): 199. Otto (1921): 206. Otto (1921): 199. Otto (1921): 199. Hier nimmt Otto Bezug auf den kulturkritischen Diskurs um Spezialisierung von Wissen, die einer (kulturellen) Einigung des deutschen Volkes entgegensteht.

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auch die Möglichkeit, „ein verkleinertes Bild des Volksgeists und all seiner augenblicklichen Regungen“234 zu erkennen. Diese an sich naheliegende Vorstellung – die Kinder bringen in den Gesamtunterricht das mit, was sie in ihrem Umfeld hören, sehen und erleben, worüber zuhause und auf der Straße gesprochen wird – birgt für Otto die Implikation, Forschungen über das „Geistesleben des Volkes“ anstellen zu können.235 Damit wird deutlich, dass Otto Pädagogik und Schule in ihrer Bedeutung erweitert: Neben der Aufgabe der Erziehung von Kindern und der Unterstützung ihrer Bildungsprozesse entwickelt er eine Konzeption der „Zukunftsschule“, die mit einer vollkommen neuen Schulorganisation auf gesellschaftlicher Ebene einhergehen soll und auch die Entwicklung einer Erziehungswissenschaft beinhaltet.

2.2. Die Zukunftsschule im Zukunftsstaat Während die bisher dargestellten Elemente der Pädagogik Ottos in seiner Tätigkeit als Hauslehrer und Schulleiter Anwendung fanden, sind die Vorstellungen Ottos zu Zukunftsschule und Zukunftsstaat literarisch geblieben. Dennoch erscheinen sie aus verschiedenen Überlegungen bedeutsam: Zum einen denkt Otto sein pädagogisches System als Ganzes, seine eigene Schule ist ein Teil dieser Überlegungen und steht mit den utopischen Vorstellungen in einer inhaltlichen Beziehung. Zum zweiten stellt der auf eine bessere Zukunft – besser, weil sie die Einigung des Volkes, eine umfassend vom Kind ausgehende Pädagogik und die Überwindung von Bildungsdifferenzen und der Geldwirtschaft in Aussicht stellt – orientierte Grundton einen wesentlichen Aspekt der Attraktivität von Ottos Werk dar. Es handelt sich also nicht 234 235

Otto (1921): 206. Und so ist es auch folgerichtig, dass Otto Themen des Gesamtunterrichts protokolliert und zwischen diesen und dem aktuellen (Tages-)Geschehen eine Verbindung herstellt: „Politik nahm in meinem Gesamtunterricht stets einen erheblichen Raum ein: ich schätze im ganzen etwa 25-30%. Im August 1914 stieg der Prozentsatz auf über 90 und hielt sich mit geringen Schwankungen dieser Höhe nahe bis Sommer 1917, wo ein starker Abfall eintrat. Darauf folgte wieder Steigen und neue, wenn auch nicht ganz so große Höhe, bis in den großen Ferien von 1919 der vollständige Absturz eintrat. Einzelne Schüler und Gruppen sprachen unter sich gelegentlich sehr eifrig; die älteren erörterten die Probleme der Staatslehre, aber Gegenstand allgemeinen theoretischen Gesamtinteresses zu sein hat die Politik bei uns 1919 aufgehört. Sie war nicht mehr Sache des Volksgeistes sondern nur noch Sache der Parteien. Wenn der Volksgeist sich wieder einigen, wenn nach dem furchtbaren Niedergang ein neuer Auftrieb erfolgen sollte, so werde ich das zuerst im Gesamtunterricht fühlen.“ (Otto (1921): 206f.)

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nur um eine Veränderung (und Verbesserung) der schulischen Situation für Kinder (und Lehrer), sondern gleichzeitig auch um die Möglichkeit, Zukunft verbessernd zu gestalten. Die Zukunftsschule236 bekommt in ihrer Gesamtheit bei Otto eine herausgehobene gesellschaftliche Funktion für den Zukunftsstaat zugeschrieben, die weit über die üblichen Funktionen von Schule hinausweisen: Sie wird Produzentin wissenschaftlicher Erkenntnisse, die wiederum für die Organisation des gesellschaftlichen Ganzen Voraussetzung sind.237 Erst durch die Verdeutlichung dieser wissenschaftlichen Funktion kann der Schule im Staat ihre tatsächliche Bedeutung zugemessen werden, nur dann „werden wir ihr die Stellung geben, in der sie am heilsamsten wirken kann.“238 Zudem beschreibt die Idee der Zukunftsschule – daher auch ihre Bezeichnung – nicht nur, wie Schule in einer noch kommenden Zeit konzipiert sein soll. Vielmehr verweist der Begriff „Zukunftsschule“ auch auf die Zukunftsorientierung von Pädagogik. Kinder sind für Otto „Zukunftskulturträger“, sie stehen in seinem Entwicklungsmodell für die sukzessive Verbesserung des Gesellschaftlichen in der Generationenfolge. Entsprechend muss Schule methodisch und inhaltlich auf die Zukunft und nicht – wie bisher – auf die Vergangenheit hin orientiert sein.239 Auch die entstehende Erziehungswissenschaft profitiert von der neuen Konzeption des Schulsystems – zum einen kann sie die hier entstehenden Wissensbestände nutzen, zum anderen dient zumindest die Dorfschule auch als Ort der praktischen Ausbildung zukünftiger Lehrerinnen und Lehrer.

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Dieser Terminus findet sich auch in anderen Publikationen (vgl. von Babo (1914) als eine eher auf didaktische und methodische Praxis abzielende Auseinandersetzung, Schaefer (1925), der „im Lichte der pädagogischen Weisheit Goethes“ eine Pädagogik der Arbeitsschule formuliert, und mit Bezug auf die Freie Schulgemeinde Wickersdorf Veeh (1913)). „Die Schule als Ganzes von der einfachen Dorfschule bis zur Universität ist das Erkenntnisorgan des Volkes; und zwar das wissenschaftliche Erkenntnisorgan, das Erkenntnisorgan, das Wissen schaffen will und soll. Das ist die gesamtorganische Funktion der Schule.“ (Otto (1914): 74). Otto (1914): 74. „Wenn ich die neugestaltete Schule überall eine Zukunftsschule nenne, hat das nicht lediglich die Bedeutung, daß wir diese Schule erst in der Zukunft haben werden. Es bedeutet mehr. Ich will damit sagen, daß alle bisherigen Schulen in meinem Sinne Vergangenheitsschulen sind, das heißt, daß diese ihre Richtlinien und ihr Erziehungsideal aus der Vergangenheit nehmen, während das Erziehungsideal immer in der Zukunft liegt und die Richtlinien immer dahin führen.“ (Otto (1912): 6f., zit. nach Dorn (1974): 43)

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Im Folgenden geht es weniger um die Einzelheiten des von Otto erdachten Systems der Zukunftsschule, hierzu genügen einige Anmerkungen.240 Zentral erscheint in Hinblick auf die Fragestellung, also danach, was die Attraktivität des Otto’schen Denkens und Tuns ausgemacht haben könnte, die Darstellung bestimmter Handlungsvorschläge, die Otto macht. Wie auch in anderen Bereichen (zum Beispiel der Rechenwirtschaft241) stellt Otto ein äußert detailliertes und genau beschriebenes System vor.242 Vor allem in dem Buch „Volksorganische Einrichtungen der Zukunftsschule“, das 1914 erscheint und das als zweiter Teil des „Lehrgangs der Zukunftsschule“ konzipiert ist, entwirft Otto seine Vorstellungen einer künftigen Schulorganisation im Zukunftsstaat. Zentral ist dabei sein Konzept der „Einrichtungen“. Dieses ist bedeutsam, weil es in Ottos Denken die Möglichkeit einer Erklärung dafür bietet, dass die Schulreform bisher nicht zustande gekommen ist, obgleich schon „alle vernünftigen Erzieher, seit Plato her und wahrscheinlich noch viel länger her, immer wieder dasselbe gesagt hätten.“243 Einrichtungen sind, modern gesprochen, strukturverwandt zu Institutionen in einem weiteren Sinne. Eine Einrichtung ist „die Gewohnheit eines Volkes, bestimmte Angelegenheiten im bestimmter Weise durch Denken und durch Tun zu erledigen.“244 Einrichtungen sind psychologisch unsichtbar. Was das bedeutet, macht Otto am Beispiel der Geldwirtschaft klar: „Da wird eine Einrichtung, deren Entstehung jeder Historiker unschwer nachweisen kann, trotzdem als etwas schlechthin Gegebenes, als etwas absolut Unverlierbares und Unveräußerliches nicht bloß gedacht, sondern in das ganze Gefühlsleben aufgenommen, nicht bloß aufgenommen, sondern der ganzen Betätigung des Gefühlslebens zugrunde gelegt. Und es kommt nicht im mindesten ins Bewußtsein, daß es eine Einrichtung ist, die von Menschen geschaffen worden ist und die einst auch, wenn es der Weltlauf so will, von Menschen wieder abgeschafft werden kann.“245

Otto bestreitet nicht, dass Einrichtungen sich in Materialität wiederfinden: So, wie die Geldwirtschaft sich unter anderem in Münzen, Banknoten oder Staatsschuldverschreibungen materialisiert, so findet das als Einrichtung gedachte Schulwesen seinen Niederschlag in Schulgebäuden und im Prüfungs240

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Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Peter Langen (1989: 54ff.), der Ottos Erziehungskonzeption hinsichtlich der Idee der Ganzheitlichkeit interpretiert, weiterhin bei Elmar Schnücker (1990: 144ff.) sowie Burkhard Dorn (1974: 43ff.). Vgl. Otto (1910a) und (1916). Eine umfassendere und auch in Bezug auf das volksorganische Denken Ottos interpretierte Darstellung findet sich bei Schnücker (1990): 144-173. Otto (1914): 4. Otto (1914): 9. Otto (1914): 7.

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wesen. Es ist die dahinter liegende Idee, die habitualisierte Struktur, die als Einrichtung wirkmächtig gedacht wird. Und diese zu verändern ist schwierig: „Zählebig hielten und halten Einrichtungen stand, die man für längst überlebt, für längst abgetan ansieht. Und sie halten stand in ihrer doppelten Gestalt als Funktionen unseres öffentlichen Lebens und als schwer beweglicher Inhalt unseres allgemeinen Denkens und Fühlens.“246

2.2.1. Die Stellung des Lehrers im Zukunftsstaat Dem Lehrer kommen in diesen Vorstellungen wesentlich weitreichendere Kompetenzen zu als bisher. Für Otto muss der Lehrerberuf in seiner gesellschaftlichen Stellung der des Arztberufes gleichgesetzt werden. Inhaltlich geht es dabei sowohl um eine Neugestaltung der Erziehungswissenschaft als auch um eine mit einer höheren Selbständigkeit ausgestattete berufliche und gesellschaftliche Position des Lehrers. Arzt und Lehrer sind beide um den Menschen bemüht. Während der Arzt die organische Seite behandelt, ist der Lehrer für eine gesunde geistige Entwicklung verantwortlich.247 Für Otto sind dies analoge Tätigkeiten. Anders als der Arzt aber, der in seinem Tun einen relativ hohen Grad an Autonomie genießt und aufgrund seiner wissenschaftlichen Ausbildung frei entscheidet, wie er den jeweiligen Patienten behandelt, ist der Lehrer durch Lehrpläne, Vorschriften und Verordnungen in seinem Handlungsspielraum wesentlich stärker eingeschränkt. Zwar sind beide Berufsgruppen dem „gesamten Volkswillen“ verpflichtet und diese Verpflichtung – Otto nennt sie „Einfügung“ – ist „viel strenger und bindender, als es auf den ersten Blick erscheint“,248 allerdings muss der Lehrer sich mit einer Einfügung abfinden, die „grob äußerlich, mechanistisch, materialistisch“249 ist.250

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Otto (1914): 5. Und aus genau diesem Grund ist es Otto wichtig, über Einrichtungen nachzudenken und in gewisser Weise nahezu aufzuklären. Seine Intention ist eine mögliche Veränderung, die sich auf das Schulsystem genauso wie auf die Organisation von Gesellschaft bezieht. Erst wenn Einrichtungen untersucht und ihrem Wesen nach verstanden sind, „können wir hoffen, Vorschläge über solche Einrichtungen zu machen, die der Denkarbeit und der Forschertätigkeit von Jahrtausenden endlich auch praktisch gerecht werden.“ (Otto (1914): 5). „Es ist klar, daß der Lehrer, daß die Schule in irgendeiner Weise zu sorgen hat für das gesunde Wachstum des kindlichen Geistes.“ (Otto (1914): 37) Otto (1914): 38. Otto (1914): 38. „Dem Lehrer wird jetzt bis in die kleinsten Einzelheiten hinein vorgeschrieben, wie er sich seinen Schülern gegenüber zu benehmen habe, welche Bücher er mit ihnen ge-

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Um diesen Zustand zu verbessern – und das bedeutet für Otto: für den Lehrer ein notwendiges höheres Maß an Freiheit in seiner pädagogischen Tätigkeit zu ermöglichen – ist die Etablierung einer wissenschaftlichen Grundlage der Pädagogik unabdingbar: „Dazu wäre es also erforderlich, daß es eine Erziehungswissenschaft und Erziehungskunst gäbe, wie es eine ärztliche Wissenschaft und eine ärztliche Kunst gibt, deren Grundsätze im großen und ganzen von dem Volksgeiste als richtig angenommen wären, und die es dann dem einzelnen ermöglicht, seine Funktionen so auszuüben, daß der Volksgeist im großen und ganzen damit einverstanden wäre.“251

Die Entwicklung einer pädagogischen Leitwissenschaft als Grundlage der Tätigkeiten des Lehrers verweist im Zusammenhang mit den bereits angesprochenen Aspekten – also der Verpflichtung auf das eigene Gewissen252 und die Arbeit an gesellschaftlich relevanten Tätigkeiten – auf eine notwendige Professionalisierung des Lehrerberufes. Diese Wissenschaft würde dann die Gesellschaft in die Lage versetzen, den Lehrern die gleichen Freiheiten in der Ausgestaltung ihrer Tätigkeit zuzugestehen, wie es bei den Ärzten bereits der Fall ist.253 So, wie der Arzt in erster Linie sich selber und seinen Patienten gegenüber verantwortlich ist, so soll der Lehrer nicht in erster Linie „seinem Direktor, seinem Schulrat, dem Provinzialschulkollegium, den Ministerien und wer weiß welcher anderen Behörde noch“254 gegenüber verantwortlich sein – denn diese Verantwortlichkeit zerstöre die Verantwortlichkeit –, sondern ausschließlich gegenüber seinem eigenen Gewissen und den Schüle-

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meinsam zu lesen und durchzuarbeiten habe, und in welchem Tempo er dabei vorzugehen habe.“ (Otto (1914): 38) Otto (1914): 39. Bereits in seinem Vortrag „Die Schulreform im 20. Jahrhundert“ (Otto (1901b)) weist Otto darauf hin, dass im Falle der Medizin wie der Erziehungswissenschaft eine behördliche angeordnete Reform immer auf den Ergebnissen wissenschaftlichen Nachdenkens aufbauen muss: „So hat sich die Lungenschwindsucht nicht ohne weiteres vor dem Tuberkulin zurückziehen wollen, so warm auch der Kultusminister von Goßler für die menschenfreundliche Erfindung des Professor Koch eingetreten war. Hunderte von nüchternen, wenig begeisterten aber sorgfältig beobachtenden Ärzten stellten dann fest, daß das Mittel trotz der Gunst der Behörde nicht die erhoffte Wirkung hatte.“ (Otto (1901b): 104) Otto (1914): 41. „Also dies angenommen – die Möglichkeit einer Erziehungswissenschaft, die etwa so begründet ist wie die ärztliche Wissenschaft jetzt – könnte man doch wohl an die Möglichkeit denken, die in dieser Wissenschaft vollkommen ausgebildeten Lehrer ebenso selbständig zu stellen wie jetzt die Ärzte dastehen.“ (Otto (1914): 40) Otto (1914): 41.

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rinnen und Schülern. Erst wenn das der Fall ist, kann eine Schulreform im positiven Sinne entstehen und durchgeführt werden.255 Otto macht also die Position des Lehrers in seinem erdachten Schulsystem zu einer wesentlich stärkeren, als das bisher der Fall ist. Neben der hier beschriebenen Stärkung der professionellen Autonomie konzipiert Otto auch eine inhaltlich umfassendere Rolle der Lehrerinnen und Lehrer in seinem geplanten Schulsystem. Dieses richtet er schulorganisatorisch nach den Wohn- bzw. Lebensräumen der Schülerinnen und Schüler ein. So entsteht ein System aus Dorf-, Kreis- und Großstadtschulen und daran anschließend die Universität.

2.2.2. Das System der Zukunftsschule im Zukunftsstaat Die neue Schule, die Otto als Zukunftsschule entwirft, soll das wissenschaftliche „Erkenntnisorgan des Volkes“256 sein. Damit bekommt sie eine radikal andere Funktion als die bisherige Schule, die Otto als „Gedächtnisübung des Volksgeistes“257 versteht, was soviel bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler dort ein bereits bestehendes Wissen beigebracht bekommen, dessen Inhalt und Ausmaß gesellschaftlich festgelegt ist.258 Entsprechend hat die alte, anders als die neue Schule, keine wissenschaftliche Funktion, sie kann keine neue Erkenntnis generieren. Wissenschaft entsteht für Otto „nur dadurch, daß eine große Menge von Einzelnen, die zu dem Volke gehören, die Erkenntnis vollkommen neu in sich selber erschaffen. Es ist nicht nötig, daß jeder Einzelgeist jede Einzelerkenntnis neu erschafft, er muß aber auf jedem Wissensgebie-

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Diese Überlegungen haben sicherlich auch biografische Züge. Otto selber war kein Lehrer und hatte mehrfach in seinem Leben als Hauslehrer seiner Kinder und als Schulleiter mit behördlichen Anerkennungsschwierigkeiten zu kämpfen. Otto (1914): 74. Otto (1914): 72. Dieser Vorgang ist auch für die Entwicklung des einzelnen Kindes problematisch, wie bereits in Kapitel 2 gezeigt – positiv verstandenes Wissen kann für Otto nur dann entstehen, wenn die Kinder selber im Zusammenhang mit ihrer eigengesetzlich ablaufenden Entwicklung Vorgänge in der eigenen Umgebung in einem „seelischen Prozess“ erleben. Dieser seelische Prozess führt zu einer „echten Weltanschauung“, die auch eine Weiterentwicklung bereits bestehenden Wissens beinhaltet. Das „Beibringen“ hingegen ist ein Vorgehen, das dieser Entwicklung zuwider läuft, sie also stört. Entsprechend beschreibt Otto die bisherige Schule als „Gedächtnisübung des Volksgeistes; was einmal an Wissensstoff festgelegt ist, das soll in der Erinnerung des Volksgeistes aufbewahrt sein und immer frisch bleiben. Das geht nur dadurch, daß immer die heranwachsende Generation von der vorhergehenden diesen Gedächtnisstoff übernimmt.“ (Otto (1914): 73)

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te, in dem er überhaupt Wissen erwerben will, die Grundlagen sich vollständig neu gestalten.“259

Schule bekommt also die „gesamtorganische“ Aufgabe, Wissen zu schaffen. Diese Aufgabe schlägt sich als zentrales Moment in allen von Otto vorgesehenen Schulformen nieder.

2.2.2.1. Die Dorfschule Ottos Konzeption der einklassigen Dorfschule kann als eine deutliche Aufwertung dieser Schulform gegenüber der zeitgenössischen ländlichen Volksschule gesehen werden, auch, weil sie für Otto die „Urzelle der Zukunftsschule“260 ist. Sie stellt eine eigenständige Institution dar, die von einem wissenschaftlich ausgebildeten Lehrer261 souverän geleitet wird und die neben den primären schulischen auch umfangreiche weitere – gesellschaftlich relevante – Aufgaben besitzt: sie ist Ausbildungsort für Studierende, beherbergt „herumwandernde Vertreter der Wissenschaft“,262 und sie steht allen Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes offen und wird so zu einer Art kulturellem Zentrum. Der Dorfschullehrer, den Otto lieber als „Landpfleger“263 bezeichnet wissen will, bewohnt das Schulhaus, das neben Unterrichtsräumen auch Unterbringungsort für die Praktikantinnen und Praktikanten und die Wanderlehrer ist. Als primäre pädagogische Aufgaben formuliert Otto für den Dorfschullehrer, dass dieser den Übergang von der familiären zur schulischen Erziehung möglichst bruchlos gestaltet, weshalb er die Kinder bereits vor dem ei259 260 261

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Otto (1914): 73. Otto (1914): 114. „Ich denke mir nämlich das Amt des Dorfschullehrers als Endziel auch wissenschaftlich gebildeter Männer, nicht als Durchgangsposten zu sogenannten höheren Stellungen.“ (Otto (1914): 88) Diese haben die Aufgabe, wissenschaftlich zu arbeiten und dabei auf die von Schülerinnen und Schülern gemachten Erkenntnisse zurückzugreifen. Otto führt dies am Beispiel eines Botanikers aus, der neben seinen erforschenden Tätigkeiten auch als Experte für andere Gegenden zur Verfügung steht, also Wissen mit den Kindern teilen kann (vgl. Otto (1914): 89ff.). Diese Bezeichnung wählt Otto als Provisorium. „Dorfschullehrer“ entspreche nicht dem Tätigkeitsspektrum, das mit dieser Position verbunden ist: „Denn einen sehr wichtigen Teil der Ausbildung der Studenten hat er zu leiten. Ferner hat er nicht unbeträchtliche Verwaltungsbefugnisse; er hat die Stammbücher von einer Reihe von Volksgenossen zu führen und wissenschaftlich zu bearbeiten. (…) Ebenso ist er – wenn auch hauptsächlich durch seine Schüler, so doch in allen Gebieten Aufsicht führend – korrespondierendes Mitglied von so und so vielen wissenschaftlichen Gesellschaften.“ (Otto (1914): 107)

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gentlichen Schulbesuch kennenlernen soll. Der zweite wesentliche Aspekt der pädagogischen Tätigkeit besteht darin zu erkennen, was die Eigenschaften des jeweiligen Schülers sind, die ihn „tüchtig und brauchbar machen.“264 Diese letzte Aufgabe wiederum fällt mit einer wissenschaftlichen Tätigkeit zusammen. Otto schlägt vor, dass in der Dorfschule biografische Berichte über die Entwicklung der Kinder angefertigt werden,265 die dann als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisgenerierung dienen sollen. Ziel dabei ist, Gesetzmäßigkeiten kindlicher resp. menschlicher Entwicklung finden und beschreiben zu können: „Immerhin läßt sich hoffen, daß auf diese Weise das Tun und Handeln, das Denken, die geistige und sittliche Entwicklung der Menschen einigermaßen mit derselben Sicherheit wissenschaftlich festgestellt wird, wie die Erscheinungen des organischen Lebens sonst durch die Wissenschaft festgestellt worden sind.“266

Zu diesem biografischen Material gehören auch die Beurteilungen – keine der Otto’schen Schulen sieht Zeugnisse vor –, welche die Lehrerinnen und Lehrer den Kindern geben. Beide Arten des Materials über die Kinder sollen vor allem auf das Gute hinweisen.267 Die Dorfschule wird damit in doppelter Weise der Forderung gerecht, „Erkenntnisorgan des Volkes“268 zu sein: einmal, weil durch die wissenschaftliche Arbeit der Wanderlehrer neue Erkenntnisse generiert werden, zum anderen, weil die biografische Forschung vor allem hier stattfindet. Entsprechend beschreibt Otto die Dorfschule auch als „Tastpapille des sozialen Körpers.“269 Einmal in der Schulzeit der Dorfschule sollen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam eine größere Reise unternehmen, die den Zweck erfüllt, erd264 265

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Otto (1914): 94. Diese Berichte enthalten auch Angaben über die persönliche und individuelle Erziehungs- und Bildungsgeschichte der einzelnen Kinder sowie Auskünfte über das familiäre und soziale Umfeld. Damit dienen sie sowohl der Grundlegung und Weiterentwicklung psychologischer und erziehungswissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auch der Kontrolle des Erfolgs von Erziehung und Unterricht (vgl. dazu auch: Otto (1914): 92ff und Schnücker (1990): 129f.). Otto (1914): 96. Diese Tätigkeit führt dazu, dass der Dorfschullehrer eine partiell dem Universitätslehrer gleichwertige Stellung bekommt. „Insoweit es sich dabei um die Herstellung eines mitzuteilenden Zeugnisses handelt, wird man sich durchaus zur Regel machen, auf das Gute hinzuweisen, was man an dem Schüler gefunden hat; und die bisher übliche Weise, das Fehlerhafte hervorzuheben, muß durchaus verlassen werden. Die Mängel dürfen angedeutet werden, und ihre Zusammenhänge mit den Vorzügen des Schülers dargelegt werden.“ (Otto (1914): 93f.) Das wichtigste Element dieses Zeugnisses aber ist die Charakteristik des Schülers. Und diese Forderung bezieht Otto auch primär auf diesen Schultyp. Otto (1914): 123.

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kundliche Anschauungen machen zu können. Für Otto steht außer Frage, dass die Schülerinnen und Schüler „ein Gebirge, einen größeren Fluß und alles was sonst an wichtigen Begriffen im eigenen Vaterland zu haben ist, selber angeschaut haben“270 müssen. Ebenfalls sieht Otto einen Schüleraustausch vor, diesen denkt er sich allerdings nicht international, sondern zwischen verschiedenen „Volksstämmen“ Deutschlands.271 Otto geht davon aus, dass die Dorfschule zwangfrei von den Kindern besucht werden wird,272 da sie die passende Antwort auf das in jedem Menschen angelegte Bildungsbedürfnis ist: „Wenn die Ziele der Schule mit den kindlichen Bedürfnissen übereinstimmen, entsteht daraus eine Schule, die auf dem Bildungsinteresse der nachwachsenden Generation beruht und nicht auf ‚Bildungszwang‘.“273 Nach der Volksschule – dem ungefähren Äquivalent zu Ottos Dorfschule – folgte üblicherweise eine Lehre oder der Besuch einer höheren Schule. Die berufliche Ausbildung seiner Zeit sieht Otto äußerst kritisch,274 so dass er sie im Rahmen der auf die Dorfschule folgenden Kreisschule anders konzeptioniert.

2.2.2.2. Die Kreisschule Kreisschulen werden von Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen 14 und 19 Jahren besucht und umfassen dabei 3000 bis 10.000 Plätze. Ihr Einzugsgebiet sind Dörfer und kleine Landstädte. Im Gegensatz zur Dorfschule 270 271

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Otto (1914): 113. „Es ist nicht nur erforderlich, daß jeder Mensch eine Anschauung von der Erdoberfläche in seinem Vaterlande bekommt, sondern er muß auch einen gewissen Begriff und eine Anschauung von anderer Sinnes- und Sprechweise seiner Volksgenossen erhalten. Er darf sich nicht einbilden, daß die Volksgenossen überall so sprechen, denken und sich benehmen, wie in seinem heimischen Dorf. Und dazu ist zweierlei nötig, das sich aber ganz naturgemäß vereinigen läßt. Der Einzelne muß eine Zeitlang unter Fremden leben, und er muß die Fremden eine Zeitlang in seinem eigenen heimischen Dorfe leben sehen.“ (Otto (1914): 114) Lediglich hinsichtlich der Eltern sei in einer Übergangsphase ein Schulzwang nötig, damit diese die Kinder in die Schule ließen (vgl. Otto (1914): 108). Schnücker (1990): 156. „Unter den bestehenden Verhältnissen hat sich der traurige Zustand herausgebildet, daß man die jungen Leute, die etwas lernen sollen, ansieht als sehr willkommene besonders billige Arbeitskräfte, und daß man sie als solche ausnutzt in einer Weise, die nicht nur eine Versündigung an diesen jungen Leuten, sondern eine Versündigung am Volksganzen darstellt. Nirgends ist das Interesse des Einzelwohles so entschieden im Widerstreit mit dem Interesse des Volkswohles wie hier bei der Ausbeutung des Lehrlings als billiger Arbeitskraft. Derlei muß durch die Einrichtungen der Zukunft vollkommen beseitigt werden.“ (Otto (1914): 115)

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handelt es sich bei den Kreisschulen um Internatsschulen; die Schülerinnen und Schüler leben gemeinsam in „Familien“, die von einem Elternpaar geführt werden.275 Dabei wählen die nicht-erwachsenen Familienmitglieder aus, mit wem sie zusammenleben wollen. Innerhalb dieser Familien findet die sittlich-gesellschaftliche Erziehung statt, die von den familiären Gemeinschaften getragen wird.276 Inhaltlich besteht die Kreisschule aus einer Mischung von vielen unterschiedlichen Schultypen,277 um den unterschiedlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Die Anteile zwischen beruflicher und wissenschaftlicher Bildung sind dabei individuell von den Talenten der Einzelnen abhängig. Otto geht davon aus, dass zumindest die Schüler zwei Berufe erlernen, für die Schülerinnen sieht er eine kürzere Schulzeit vor, da diese die beste Ausbildung durch die eigenen Mütter erhalten könnten,278 was allerdings nicht bedeutet, dass die Tätigkeiten der Schülerinnen „auf den Haushalt beschränkt“279 werden sollen. Neben Lehrerinnen und Lehrern gibt es in den Kreisschulen die so genannten Helfer, die in gewisser Weise sozialpädagogische Aufgaben übernehmen. Ein Helfer hat dafür Sorge zu tragen, „zunächst ihre (= Schülerinnen und Schüler; KK) geistige Ausbildung zu fördern und, wenn man es so nennen will, zu überwachen (…). Er ist derjenige, der neben den einzelnen Hausvätern über sie für allgemeine staatliche und wissenschaftliche Zwecke Berichte zu machen hat. Und er hat sie auch im Einzelnen in der Wahl ihrer Ausbildungsgegenstände zu beraten. Inwieweit man ihm eine entscheidende Gewalt zugestehen will, muß sich ebenfalls erst aus den Verhältnissen ergeben. Ich denke mir, daß dieser Helfer diese Schüler mindestens im Anfang täglich und später jedenfalls etliche

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Es handelt sich also um ein Modell, wie es sich auch in vielen Landerziehungsheimen findet, allerdings sieht Otto die Kreisschulen nicht als „geschlossene Anstalt“, wie das in seinen Augen Landerziehungsheime oder Kadettenanstalten sind, sondern er interpretiert sie als „einigermaßen freiheitlich gestaltetes Gemeinwesen.“ (Otto (1914): 119) „Also die gesellschaftliche Bildung, die eigentliche Gesittung, denke ich mir ganz vorzugsweise getragen von der Familienerziehung in der Kreisschule.“ (Otto (1914): 132) Es finden sich Elemente gymnasialen Unterrichts, „ferner alles, was in Fortbildungsschulen, und was in Fachschulen jetzt geboten wird; aber auch das, was in Volkshochschulen an den meisten Orten erst erstrebt, in nur wenigen erst geleistet wird.“ (Otto (1914): 122f.) „Übrigens würde ich die Schulpflicht der Mädchen nicht auf die vollen vier Jahre festsetzen, sondern auf drei oder vielleicht auch auf zwei, und die Mädchen die übrige Zeit den Müttern zur besonderen Ausbildung überlassen. Aber etliches gibt es doch, das Mädchen besser in Gemeinschaft lernen.“ (Otto (1914): 121; vgl. auch Schnücker (1990): 167) Otto (1914): 122.

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Pädagogik Male in der Woche eine Stunde um sich vereinigt und … alles das mit ihnen bespricht, was die Schüler auf dem Herzen haben.“280

Der Helfer hat also die Aufgabe, die geistige Entwicklung der Jugendlichen in einem engen persönlichen Verhältnis281 zu begleiten. Die Kreisschulen werden von den Jugendlichen selber verwaltet und stellen eigenständige Gemeinschaften dar, die sehr umfassend gedacht sind: Durch die vorhandenen Lehrbetriebe, die der beruflichen Ausbildung dienen, sollen Selbstversorgung und potentiell auch Teilnahme am volkswirtschaftlichen Warenaustauschverkehr entstehen. Die Erwachsenen sollen nur dann in die Selbstverwaltung der Schule eingreifen, wenn „sich wirklich Mißstände herausstellen sollten.“282 Die Kreisschulen sind also – im Gegensatz zu den Dorfschulen – vorbereitete pädagogische Umgebungen, die umfassende Aufgaben haben: Neben wissenschaftlicher und beruflicher wird durch die Familien auch gesellschaftliche Bildung ermöglicht, gleichzeitig erfahren die Schülerinnen und Schüler eine Erziehung in der283 und zur Gemeinschaft. Die eigenständige Verwaltung bildet dabei einen wesentlichen Aspekt der Auseinandersetzung mit gemeinschaftlichen Aufgaben. Die Kreisschulen stellen für Otto so Übungsfelder für das spätere politische und wirtschaftliche Leben in der staatlichen Gemeinschaft dar, als deren verkleinertes Abbild er sie sich vorstellt.284 Das bedeutet auch: So, wie die Dorfschule in erster Linie als Erkenntnisorgan des Volksgesamten dient, so findet die Kreisschule primär als Ort des Erkennens der volksorganisch gedachten Gesellschaft ihre Funktion für das Volksganze. Dieses Erkennen, das auch den Charakter einer Einübung be-

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Otto (1914): 139. Je Helfer stellt Otto sich eine Gruppe von 25-30 Jugendlichen vor, die sich in ihrer Zusammensetzung möglichst nicht verändern soll. Der Helfer soll auch erst dann eine andere Tätigkeit aufnehmen, wenn „seine“ Gruppe die Schule verlässt. Otto (1914): 128. Otto sieht eher die Gefahr, dass die Erwachsenen das zu früh als zu spät tun. Im kleineren Rahmen findet dies in den Familien statt, als größerer Rahmen steht die gesamte Schule. „In den Kreisschulen kommt das Kind in eine Gemeinschaft hinein, die der ganzen Struktur nach der großen und größten Gemeinschaft durchaus entspricht, aber den Vorzug hat, daß sie eben wegen ihrer eigenen Begrenzung jedem einzelnen vollkommen übersichtlich wird. Und der Knabe, das Mädchen, lernen sich in eine Gemeinschaft hineinfinden, wo ihnen jede einzelne Betätigung und jedes Zusammenarbeiten durchaus verständlich ist. Und sie lernen daraus eine wirtschaftliche und eine sittliche Gesamtheit erkennen; und nicht nur erkennen, sondern sie lernen sich tätig hineinzufügen und an ihrer Stelle an der Gesamtwirkung mitzuarbeiten. Ich meine, daß das die einzige vollkommene staatsbürgerliche Erziehung ist, die es überhaupt gibt.“ (Otto (1924): 124)

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sitzt,285 findet dabei nicht im luftleeren Raum statt – durch die volkswirtschaftliche Integration ist sie sowohl eigenständig, übernimmt aber auch die Funktion eines Modells, das durch seine Größe die (pädagogisch gewollte) notwendige Übersichtlichkeit behält. Zudem tragen auch die Kreisschulen zum Erkenntnisgewinn der Gesellschaft bei – indem sie durch Versuche in den Lehrwerkstätten Innovationen hervorbrächten.

2.2.2.3. Großstadtschulen Die Großstadtschulen sind für Kinder gedacht, die in Großstädten aufwachsen. Ähnlich wie andere Reformpädagogen formuliert Otto eine kulturkritische Haltung zum Leben der Kinder in den Großstädten: Für ihn sind sie Orte, an denen Kinder nicht in der für ihre Entwicklung notwendigen Freiheit heranwachsen können, was Otto mit „Kindermorden“ verstanden als „Morde an der Kindlichkeit“ gleichsetzt.286 Dementsprechend sieht er auch nur eine Verlagerung des kindlichen Aufwachsens aus der Stadt in die Natur als Möglichkeit, diesem problematischen Zustand zu begegnen. Um das zu erreichen, konzipiert er die Großstadtschule als – ganz im Goethe`schen Sinne – pädagogische Provinz. Am Rand der Stadt und von ihr durch einen schützenden Wald getrennt, verbringen die Kinder den Tag. Neben dem Angebot der Dorf- und Kreisschulen finden sich in der Großstadtschule auch Kindergärten und Sonderklassen für Schwererziehbare287 sowie behinderte Kinder. Die Großstadtschulen werden dabei in zwei Formen angelegt: für die Dorfschulen in dorfartigen Zusammenhängen, für die Kreisschulen in stadtähnlichen Anlagen. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich auch die konsequente Denkarbeit Ottos, die zu sehr detaillierten Vorstellungen führt: Neben der Einrichtung 285

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Otto schreibt der Kreisschule zu, dass sie das Organ sei, „in dem der Gesamtorganismus, in dem das Volk sich selbst erkennt.“ (Otto (1914): 126) Damit beschreibt er eine Struktur, die seine Pädagogik konsequent durchzieht: Aufgrund der Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler nicht etwas beigebracht bekommen, sondern sich die Erkenntnis selber „schaffen“, entwickeln sie auch die notwendigen Wissens- und Handlungsbestände des gemeinschaftlichen Lebens in der Gesellschaft weiter. Diese Weiterentwicklungen sind gleichzeitig ein Prozess der Erkenntnis (des Volksganzen), da hier ein Abgleich zwischen Bestehendem und neu Geschaffenem stattfindet. „Die Großstadt ist, so wie die Sachen jetzt eingerichtet sind, der beständige Kindermord, weniger dadurch, daß sie sie wirklich leiblich umbringt, als dadurch, daß sie die Kindlichkeit mordet und aus den Kindern frühreife Halberwachsene macht.“ (Otto (1914): 179) Otto verweist hier auf eigene positive Erfahrung in seiner Schule, in der es zeitweilig einen „Rowdykurs“ gegeben habe, in dem mehrere Schülerinnen und Schüler versammelt waren, die den restlichen Unterricht störten (vgl. Otto (1914): 187).

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und der Anordnung einzelner Schulteile zu „Dörfern“288 beschreibt Otto ein Schnellbahnsystem, das ausschließlich dem Transport der Schülerinnen und Schüler dienen soll.289 Insgesamt erhalten die Großstadtschulen, verstanden als künstlich angelegte Verbünde von Dörfern und Kleinstädten in einer pädagogischen Provinz, einen weniger prominenten Platz in der Systematik des Schulwesens, das Berthold Otto sich vorstellt. Das dürfte daran liegen, dass die für ihn eigentlich zentrale Schule die Dorfschule ist. Sie scheint durch ihre dörfliche Lage und den entstehenden Austausch von Wissen unter gleichzeitiger Beibehaltung regionaler Unterschiede (die ja einen wesentlichen Auseinandersetzungsanreiz darstellen und somit zur eigenen Erkenntnis anregen sollen) eine Möglichkeit zu sein, dörfliches Leben beizubehalten und es gleichzeitig für die Gesamtgesellschaft verwertbar zu machen. Hier wird besonders deutlich, dass Otto den kulturkritischen Diskurs seiner Zeit, der die romantisierte Vorstellung eines Lebens auf dem Lande und die Verklärung des Kindlichen in dieser Szenerie prominent machte, in seinen eigenen Vorstellungen verarbeitet. So erscheinen die Planungen des zukünftigen Schulwesens zwar in ihrer Gesamtheit tatsächlich utopisch, werden aber durch die Detaillierungen und die Diskussion vieler primär problematisch erscheinender Elemente plastisch und wirken dadurch realistischer. Die Einbettung in das volkswirtschaftliche System des Zukunftsstaates verweist dabei sowohl auf ein kohärentes Denksystem Ottos als auch auf eine ansprechende und anschlussfähig gehaltene Art der Darstellung, die, eben weil sie so präzise und detailliert ist, der Idee den Nimbus des Umsetzbaren verleiht.

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Legt man Ottos Vorstellung zugrunde, dass pro Kind mit einer Fläche für die Schule von durchschnittlich 100 m2 zu rechnen sei, es also bei 5000 Schülerinnen und Schüler immerhin einer Fläche von 500.000 m2 bedürfte (entspricht 50 Hektar – zum Vergleich: Der Vatikan hat eine Grundfläche von 44 Hektar.), ist diese Vorstellung durchaus verständlich. Dies mag als Illustration des detaillierten Denkens kurz ausgeführt werden: Otto setzt sich mit der Frage des Schülertransportes ausführlich auseinander. Hoch- oder Untergrundbahnen hält er für zielführend, Stufenbahnen oder Luftbeförderung hingegen nicht. Um den Mengen an Kindern, die jeden Morgen und Nachmittag transportiert werden müssen (Otto imaginiert Berlin, das 1914 ca. 2 Millionen Einwohner umfasste), Herr zu werden, werden mehr Schienen benötigt und es müsste eine gestufte Anfangs- und Endzeit für die Schülerinnen und Schüler organisiert werden. Otto führt diese Idee so weit aus, dass er beschreibt, wie auf den Schienen immer abwechselnd ein Zug für den „normalen“ Tagesverkehr und für den Schülerverkehr eingesetzt werden könnte (vgl. Otto (1914): 182f.). Diese Schilderung zeigt auch den Fortschrittsoptimismus, den Otto an vielen Stellen zum Tragen bringt.

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Als letzte Einheit des Systems der Bildungseinrichtungen nennt Otto noch die Universität, die als politisch unabhängige Institution gedacht wird und neben Forschung auch Innovationen im Bereich der Vermittlung von Wissen zu betreiben hat. Dazu zählt unter anderem die Begleitung der in den Dorfschulen hospitierenden Praktikantinnen und Praktikanten.

III.

Analysen zum Unternehmen Berthold Otto

3.1. Der Hauslehrer als publizistisches Rückgrat des Unternehmens Am 3.12.1897 hält Berthold Otto vor etwa 40 bis 50 Zuhörern den Vortrag „Die Schulreform im 20. Jahrhundert“, der Ottos Erscheinen auf der pädagogischen Bühne markiert und initialisierende Wirkung besitzt: Der an diesem Abend anwesende Verleger Reinhold Jentzsch aus Leipzig bietet Otto im Nachgang eine eigene Zeitschrift an. Es ist die „Die deutsche Schulreform“, aus der später „Der Hauslehrer“ hervorgeht, der als publizistisches Rückgrat der „Hauslehrerbestrebungen“ zu einem integralen Bestandteil des Unternehmens Berthold Otto wird. Er ist ab 1901 das zentrale Medium der „Bestrebungen“ Berthold Ottos und übernimmt dabei wesentliche Funktionen für den Aufbau und den Erhalt von Netzwerken und die Akquise von Ressourcen. Es wäre falsch, in ihm lediglich ein Medium der Informationsweitergabe zu sehen – die verschiedenen Funktionen des Blattes sind wesentlich komplexer und vielfältiger. Für deren genauere Analyse werden ausgewählte Jahrgänge der Zeitschrift untersucht: der erste und zweite Jahrgang, da in ihnen Struktur und Programmatik entwickelt und verstetigt werden, dann der achte Jahrgang, der die Entwicklung der Anfänge der Hauslehrerschule begleitet, sowie die Jahrgänge zehn bis vierzehn. Diese fünf Jahrgänge werden durch zwei zentrale Ereignisse zeitlich begrenzt: Im Jahr 1910 beginnen die Planungen für das neue Schulhaus. Ende 1910 erfolgt der Umzug, und damit beginnt eine Phase, in der sich das Unternehmen Berthold Otto (notgedrungen) differenziert und in der Expansionsversuche und Professionalisierungsbemühungen notwendig werden. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verändert der Hauslehrer dann fundamental seine Inhalte – die bisherige Struktur wird zugunsten einer nahezu ausschließlichen Darstellung der Kriegsereignisse aufgegeben –, bis er schließlich 1917 in „Deutscher Volksgeist“ umbenannt wird. Die Analyse der Zeitschrift verfolgt dabei nicht den Anspruch einer allumfassenden Auseinandersetzung. Bisher wurde der Hauslehrer vor allem auf zwei Arten für die Forschung genutzt: In den eher historiographischen Arbeiten von Rosemarie Wothge, Paul Baumann und Jürgen Oelkers290 so290

„Die Berthold-Otto-Schule berichtet ständig über sich in der Zeitschrift Der Hauslehrer.“ (Oelkers (2005): 17, FN 48)

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wie der historisch-systematischen Darstellung von Dietrich Benner und Herwart Kemper291 wird die Zeitschrift in gewisser Weise als „Sprachrohr“ Ottos verstanden, in anderen292 dient sie vor allem als inhaltlicher Stichwortgeber für die Auseinandersetzung mit Ottos Pädagogik. Beide Perspektiven sind denkbar, aber unvollständig, als sie nicht die zentrale Bedeutung des Blattes als Motor der Hauslehrerbestrebungen erfassen: Ihnen fehlt der Bezug zu den interaktiven Aspekten der Zeitschrift, die auf die Akquise und Sammlung von Unterstützerinnen und Unterstützern durch die Herstellung einer symbolisch vermittelten Gemeinschaft abzielt. Die Praxis, mit einer eigenen Zeitschrift über die eigenen pädagogischen Experimente zu berichten, ist dabei weder neu noch ein singuläres Phänomen: Bereits Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) hat beispielsweise mit den „Nachrichten aus Schnepfenthal“ den Versuch unternommen, „durch die pädagogische Publizistik über die Reformpraxis aufklärend auf das Lesepublikum einzuwirken und Einfluss in der pädagogisch interessierten Öffentlichkeit zu gewinnen.“293 Auch die „Deutschen Landerziehungsheime“ veröffentlichen zwischen 1906 und 1909 mit der Zeitschrift „Deutsche LandErziehungsheime in Schloss Bieberstein i. d. Rhön, Haubinda i. Thür., Ilsenburg i. Harz, Gaienhofen a. Bodensee und Sieversdorf b. Bukow“ eine selbst-berichtende Chronik ihrer Schulen.294 Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick über den Entstehungskontext der Zeitschrift bis zum ersten Jahrgang gegeben (3.1.1.). Im darauf folgenden Teil werden, anhand des ersten Jahrgangs, der als programmatischer Prototyp gesehen werden kann, die Grundzüge der Struktur der Zeitschrift skizziert und davon ausgehend Veränderungen und Erweiterungen beschrieben (3.1.2.). Daran anschließend wird die weitere Entwicklung der Zeitschrift vorgestellt. Dies geschieht einmal unter der Fragestellung, wie Berthold Otto Unterstützung für das Blatt akquiriert (3.1.3.) und wie sich der Hauslehrer strukturell und inhaltlich verändert (3.1.4.). In weiteren Abschnitten werden 291

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Dietrich Benner und Herwart Kemper beschreiben den Hauslehrer als „reformpraktische Werbebroschüre mit wissenschaftlichen Ambitionen, die sich an Eltern, Lehrer und Erzieher wandte.“ (Benner/Kemper (2003): 177) Vor allem bei Schwarze (2013), Schnücker (1990), Dorn (1974) und Langen (1974). Benner/Kemper (2009): 172. Vgl. ebendort zu einer genaueren Analyse der „Nachrichten aus Schnepfenthal“ und der von den dortigen Schülern verfassten „Schnepfenthäler Zeitung“. Das Spektrum (reform-)pädagogischer Zeitschriften im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik ist freilich wesentlich umfangreicher und vielfältiger, so dass eine umfassende Darstellung den Rahmen dieser Untersuchung bei Weitem sprengen würde. Meines Wissens steht eine systematische-vergleichende Analyse dieser Zeitschriften noch aus.

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verschiedene Formen von Werbemaßnahmen analysiert (3.1.5.) sowie die Produktdiversifikation am Beispiel der Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ dargestellt (3.1.6.). Abschließend wird die Umbenennung in „Deutscher Volksgeist“ auf ihre unternehmensstrategische Bedeutung hin befragt (3.1.7.) und eine zusammenfassende Einordnung für das Unternehmen Berthold Otto gegeben (3.1.8.).

3.1.1. Entstehung und Entstehungskontext Die Entstehungsgeschichte des Hauslehrers setzt bereits im Jahr 1897 ein, dem Jahr, in dem Berthold Otto mit seinen pädagogischen Vorstellungen zum ersten Mal öffentlich wahrgenommen wird. Er berichtet zehn Jahre später im Hauslehrer, also in dessen 8. Jahrgang, über diesen Abend: „Am 3. Dezember 1897 war, wo ich auf einen eigentlich recht zufälligen äußeren Anlass hin zum ersten Mal mit dem, was ich über Unterricht und Erziehung zu sagen habe, vor einen Kreis von Menschen trat, die nicht alle zu meiner engeren Bekanntschaft gehörten. Allzu groß war der Kreis allerdings nicht; wenn vierzig oder fünfzig Zuhörer da waren, dann waren es viel. Es war die Leipziger Abteilung des SchriftstellerVerbandes, der ich damals angehörte, in der ich manchen Vortrag mit angehört hatte, und wo dann der einzelne sich nach besten Kräften für das Gehörte revanchieren mußte, indem er auch etwas von dem vortrug, was er gerade mitzuteilen hatte.“295

Der an diesem Abend anwesende Verleger Reinhold Jentzsch aus Leipzig entschließt sich, diesen Vortrag als Flugschrift zu drucken und an alle Lehrer des Landes verteilen zu lassen. Zwar wird dieses Ziel nicht im geplanten Umfang erreicht,296 dennoch sind sich die Chronisten einig, dass dieser Abend 295 296

Otto (HL 1908a): 13. Dazu schreibt Berthold Otto: „Die Abende im Schriftstellerverband wurden auch von Verlegern und solchen, die es werden wollen, besucht und unter denen fand sich einer, dem grade mein Vortrag zu einem besonderen Plan geeignet erschien. Er wollte ihn drucken lassen und umsonst an alle Volksschullehrer Deutschlands verteilen. Das Unternehmen ist gar nicht so wunderlich, wie es zuerst klingt. Die Sache war als Inseratenunternehmen gedacht. Dem Vortrag sollten, wie es jetzt ja bei sehr vielen Büchern geschieht, Inserate beigegeben werden und die Gebühr für die Inserate sollte die Druckkosten und die Kosten der Verteilung tragen und darüber hinaus noch einen Gewinn abwerfen. Ich wurde gefragt, ob ich für einen solchen Zweck den Vortrag aufschreiben wollte und ich hielt mich nicht für berechtigt, nein zu sagen. Das Unternehmen lief nicht ganz so gut ab, wie der Unternehmer gehofft hatte. Es kam doch nicht die nötige Anzahl von Inseraten zusammen, und ich glaube kaum, daß es gelungen ist, wirklich jedem Volksschullehrer ein Exemplar in die Hand zu geben. Immerhin haben es recht viele erhalten, und von da an beginnt die Zeit, wo man in immer weiteren Kreisen etwas von meinen Bestrebungen erfuhr.“ (Otto (HL 1908a): 15; vgl. auch Baumann II: 78)

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Initialwirkung hatte, was die Verbreitung und Popularität von Ottos Ideen betrifft.297 Der Vortrag, der später in weiteren Auflagen im Verlag von Theodor Scheffer298 verlegt und publiziert wird, ist eine Darstellung von Ottos pädagogischer Programmatik in nuce. Aus der Erfahrung des Unterrichtens – sowohl von fremden Kindern als Hauslehrer als auch seiner eigenen Kinder – entwickelt Otto die zentralen Grundzüge seines pädagogischen Begriffsapparates und in Ansätzen auch seiner Vorstellungen, wie in Deutschland eine in seinen Augen notwendige Schulreform durchzuführen sei. Eine detailliertere Version hatte Otto bereits 1890 als Manuskript fertig gestellt – es handelt sich um den später publizierten „Lehrgang der Zukunftsschule“299 –, allerdings fand sich, unter anderem aufgrund eines negativen Gutachtens von Gustav Glogau, zunächst kein Verleger.300 Reinhold Jentzsch publiziert nicht nur die erste Auflage des Vortrages, sondern bietet Otto auch die Schriftleitung einer neu zu gründenden Zeitschrift an. So erscheint am 30.3.1898 die erste Ausgabe von „Die Deutsche Schulreform. Wochenschrift für psychologische Politik und Pädagogik“. Der Untertitel, den Otto selber formuliert hat,301 spiegelt eine der zentralen Grundannahmen von Ottos Denken: die Verbindung von Pädagogik und Politik als zwei wesentlichen Ausprägungen einer als neuer Leitwissenschaft verstandenen Disziplin der „Psychologie“. Zentrales Thema der Zeitschrift soll die Reform des Schulwesens sein. Otto beschreibt in der ersten Ausgabe die Zielsetzung dieser Zeitschrift so: „Die Überzeugung, daß eine vollkommene Umgestaltung des gesamten Schulwesens in nicht allzu ferner Zeit bevorsteht, daß sie einzig und allein aus den Kreisen der Lehrerschaft hervorgehen und daß sie dem Lehrerstand im deutschen Volke eine Stellung geben wird, die hoch über die ihm jetzt noch eingeräumte und gar noch vielfach miß297

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Sowohl Paul Baumann (Baumann II: 71ff.) als auch Gudrun Ferber (Ferber (1925): 103) ordnen den Vortragsabend so ein – spätere Darstellungen schließen sich dem in der Regel an. Theodor Scheffer (1872-1945), Verleger und Pädagoge. Scheffer gründet den Hauslehrerverlag, der 1904 von Berthold Otto übernommen wird, und publiziert in seinem eigenen Verlag unter anderem Schriften von Autoren aus dem Umfeld Berthold Ottos und des Charon-Kreises. Scheffer spielt sowohl bei der Gründung der nationalvölkischen Arndthochschule als auch der Deutschen Heimatschule Bad Berka eine tragende Rolle (vgl. Reimers (2003)). Der Lehrgang der Zukunftsschule erschien in drei Auflagen: 1901, 1912, 1928. Otto wollte den Lehrgang drucken lassen, durch ein ablehnendes Gutachten von Gustav Glogau, dem Ordinarius für Philosophie an der Universität Kiel fand er aber keinen Verleger. (Glogau stand unter anderem in brieflichem Kontakt mit Hajim Steinthal, einem der für Otto bedeutendsten Universitätslehrer, vgl. dazu Belke (1983).) Otto (HL 1908a): 15.

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gönnte Stellung hinausragt; die Zuversicht, dass diese Umgestaltung beschleunigt, vor Abwegen bewahrt und in richtige Bahnen gelenkt werden kann durch gegenseitige Aussprache, Einigung und gemeinsame Betätigung aller derer, die in ihrem Innern schon vorausschauend an jenem Zukunftsbau mitgearbeitet haben und weiter daran mitzuarbeiten entschlossen sind, haben Veranlassung gegeben zur Begründung der vorliegenden Zeitschrift.“302

Neben der sich bereits hier schon andeutenden Vorstellung einer „gemeinsamen Arbeit“, für welche die Zeitschrift die Grundlage sein soll und die später im Hauslehrer noch wesentlich deutlicher zum Tragen kommen wird, fällt auf, dass Berthold Otto explizit den „Lehrerstand“ als gesellschaftliche Trägergruppe der Schulreform adressiert. Als gesonderte Beilage enthält die Zeitschrift den „Lehrgang der Zukunftsschule“ in Form einer fortlaufenden Serie, 1901 erfolgt dann die Publikation des Gesamtmanuskriptes im Verlag von Theodor Scheffer.303 1899 wird Arthur Schulz,304 den Otto in der ersten Ausgabe als Mitarbeiter begrüßt und eingeführt hat, der neue Schriftleiter der Zeitschrift, ein Jahr später wird die „Deutsche Schulreform“ eingestellt. 1901 erscheint die erste Ausgabe von „Der Hauslehrer. Wochenschrift für den geistigen Verkehr mit Kindern“ ebenfalls bei Theodor Scheffer, für deren inhaltlichen Teil Berthold Otto verantwortlich zeichnet. Bereits in der „Deutschen Schulreform“ hat Otto den Versuch unternommen, neben der Darstellung theoretischer und praktischer Inhalten, mit der Rubrik „Briefkasten“ eine Möglichkeit der Interaktion mit den Leserinnen und Lesern zu etablieren. Diese fordert er auf, ihm zu schreiben, die Antworten auf diese Zuschriften sollten entweder individuell per Brief oder eben im „Briefkasten“305 erfolgen. Diese Struktur behält er in den frühen Jahrgängen des Hauslehrers bei. Eine weitere, strategisch nicht zu unterschätzende, Maßnahme war es, der Zeitschrift Beilagen hinzuzufügen, die in der Regel Artikelserien darstellten, und diese Serien später als eigenständige Bücher zu publizieren. Auch dieses Vorgehen findet sich bereits in der „Deutschen

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Zit. nach Baumann II: 79. Otto (1901b). Arthur Schulz (7.3.1864 Posen - 20.10.1930), Lehrer. Schulz veranstaltete bis 1914 die „Deutschen Erziehungstage“ in Weimar, an denen Berthold Otto teilnahm und die er nach dem Ersten Weltkrieg als „Volksorganische Tagungen“ fortführte. Er vertrat unter anderem eine Theorie des Unterrichts im Freien und leitete die „Gesellschaft für Deutsche Erziehung“ und war langjähriger Weggefährte Berthold Ottos. Eine weitere Rubrik, die ebenfalls interaktiv angelegt ist, ist der „Psychologische Sprechsaal“ (vgl. dazu Baumann II: 83f.).

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Schulreform“, hier mit dem „Lehrgang der Zukunftsschule“, und wird später im Hauslehrer und auch im „Deutschen Volksgeist“ weitergeführt.306 Nachdem die „Deutsche Schulreform“ nach zwei Jahrgängen bereits wieder eingestellt wird, geben Arthur Schulz und Berthold Otto nun jeder eine eigene Zeitschrift heraus und praktizieren damit eine arbeitsteilige Spezialisierung: Schulz vertritt mit den „Blättern für deutsche Erziehung“307 ein theoretisch orientiertes Blatt, Otto eines, das sich eher mit praktischer Pädagogik im weiteren Sinne308 befasst.309 Theodor Scheffer, in dessen Verlag der Hauslehrer bis 1904 erscheint, ist als Verleger äußerst rührig und mit den Ideen von Berthold Otto auch hoch identifiziert. Seine Verlagsgründung scheint in erster Linie für die Publikation der Schriften Ottos und des Hauslehrers erfolgt zu sein, wie er in einem Brief an Otto vom 27.01.1904 betont: „Nun kann ich wol (sic!) sagen, daß ich – einmal rein geschäftlich gesprochen – Ihre Feder zum Anlass genommen habe, einen Verlag zu gründen.“310 Für die „Hauslehrersache“ nimmt Scheffer Schulden in Kauf und subventioniert sie. Im selben Brief heißt es:

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Beispielsweise „Von der Helga“ (Otto (1910b)) und den „Ratschlägen für den häuslichen Unterricht“ (Otto (1908)). Andere Werke, zum Beispiel „Mammonismus, Militarismus, Krieg und Frieden“ (Otto (1918)), erscheinen ohne Vorabdrucke. Während des Ersten Weltkrieges erscheint der eigentliche Hauslehrer nahezu ausschließlich mit Artikeln über den Krieg, erhält aber im 17. Jahrgang eine Beilage „Zweites Blatt des Hauslehrers“, in der Teile von Ottos opus magnum, dem „Volksorganischen Denken“, vorabgedruckt werden. Das eigentliche Werk erscheint dann in vier Bänden von 19251926 (Otto (1925 a, b, c); Otto (1926)). Die „Blätter für deutsche Erziehung“ erschienen 1901-1919. Ab 1912 führten sie den Untertitel „Zeitschrift der Gesellschaft für deutsche Erziehung und des Bundes hessischer Schulreformer“. Der letzte Jahrgang führte den Untertitel „Monatsschrift für die Gebildeten aller Stände“. „Im weiteren Sinne“ bedeutet, dass Otto nicht nur über seine eigene Pädagogik und Erfahrungen mit ihr berichtet, sondern dass er vor allem Artikel in Altersmundart verfasst und klassische Stoffe für Kinder adaptiert. „Nachdem die ‚Deutsche Schulreform‘ von Berthold Otto im ersten, von Arthur Schulz im zweiten Jahrgang herausgegeben, erloschen war, betrachtet Berthold Otto seine Wochenschrift ‚Der Hauslehrer‘ als Fortsetzung und Arthur Schulz nennt seine Monatsschrift, die ‚Blätter für deutsche Erziehung‘ im Untertitel: ‚Dritter Jahrgang der deutschen Schulreform‘, der Jahrgang 1902 ist der vierte. Man versteht sich ausgezeichnet und in den kommenden Jahrzehnten bleiben Berthold Otto und Arthur Schulz eng verbunden in ihrer Arbeit als Schulreformer, Arthur Schulz als Theoretiker – so führt er auch seine Zeitschrift – Berthold Otto als Praktiker, und seine Zeitschrift faßt die Ergebnisse der Praxis zusammen.“ (Baumann III: 61f.) Theodor Scheffer an Berthold Otto, 27.1.1904. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 494 Bl. 4.

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„Aber meinen Unterhalt verdiene ich reichlich selbst; ich kann beim besten Willen das Tatsächliche der Geschäftszahlen nicht anders auslegen als dass der Zuschuss, den die Hauslehrerschriftstellerei noch erfordert, durch meine anderweitigen Unternehmungen in Verbindung mit Neuaufnahmen von Kapital aufgebraucht wird.“311

Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass Theodor Scheffer neben einer ideellen auch eine materielle Motivation hat, sich für die Expansion des Hauslehrers und des Vertriebs der bei ihm verlegten Werke Ottos zu engagieren. In den Anfangsjahren des Hauslehrers lanciert Scheffer umfangreiche Maßnahmen, um die Zeitschrift bekannt zu machen. Zusammen mit der fünften Nummer des Hauslehrers wird eine „Probenummer“ verschickt312 und Scheffer bietet kostenfrei, lediglich gegen Fahrtkostenerstattung, Vorträge an. Diese Vorträge, deren Themen zentrale Bereiche der Otto’schen Pädagogik abdecken,313 ordnet er in dem dafür werbenden Flugblatt als zur reformpädagogischen Bewegung gehörend ein und beschreibt sie als seine „Lebensaufgabe“. Dass es 1904 trotzdem zu einem Bruch der geschäftlichen Beziehung kommt, könnte am sich bereits abzeichnenden Konkurs Scheffers liegen und/oder an einem Konflikt, der sich vor allem zwischen Theodor Scheffer und Frida Otto entwickelt. Scheffer liefert den Hauslehrer zwar weiter an den Buchhandel aus, alle anderen verlegerischen Tätigkeiten sind aber jetzt bei Ottos angesiedelt.

3.1.2. Der erste Jahrgang Der erste Jahrgang des „Hauslehrers“ erscheint ab dem 24.02.1901 mit insgesamt 44 Ausgaben. Die erste Nummer wird Ende März noch einmal, erweitert um eine inhaltliche Zusammenfassung der Nummern 2-4, als Probenummer in hoher Auflage hergestellt.314

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Theodor Scheffer an Berthold Otto, 27.1.1904. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 494 Bl. 4. Die Anzahl der Abonnements lag in dieser Zeit bei etwa 80. (Wothge (1955): 21). Unter anderem „Das Fragerecht der Kinder“, „Die Sprechsprache und ihre pädagogische Verwendung“ oder auch „Der Hauslehrer, die Schule und die Eltern“ (vgl. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 1). Mit dieser Probenummer wurden dann später auch die Komplett-Jahrgänge, die ebenfalls zu erwerben waren, bestückt. (Otto (HL 1901g): 207; Baumann II: 90). Diese kompletten Jahrgänge wurden mit einem Stichwortregister ergänzt. (Otto (HL 1902a): 20).

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1901 lebt die Familie Otto noch in Leipzig, Berthold Otto arbeitet beim Brockhaus-Verlag und unterrichtet seine eigenen Kinder zuhause. Es gibt also noch keinen Unterricht mit fremden Kindern. Ottos pädagogisches Programm ist in Grundzügen bereits formuliert und die Zeitschrift hat, so die These des Kapitels, zunächst die Aufgabe, dieses Programm bekanntzumachen sowie Mitstreiterinnen und Mitstreiter zu gewinnen. Die im ersten Jahrgang angelegte Grundstruktur der einzelnen Hefte wird in der Folgezeit nur geringfügig verändert, aber erweitert. In der Regel beginnt die Zeitschrift mit einem oder mehreren Artikeln zu gesellschaftlich aktuellen oder historischen Themen, dargestellt in kindgerechter Sprache Diese Artikel werden im Folgenden als „inhaltliche Artikel“ bezeichnet. Wendet sich Otto an „Eltern, Lehrer und Erzieher“, dann stehen diese Artikel, die Otto als theoretische bezeichnet, an erster Stelle. Im Anschluss daran folgen die „Lateinische Ecke“ und/oder weitere Beiträge, die sich mit dem Erlernen der lateinischen Sprache auseinandersetzen. Ab und an werden auch spezielle Lesestücke für jüngere Kinder publiziert. Das Ende einer Ausgabe (in der Regel 16 Seiten) bilden der „Briefkasten“ sowie „Mitteilungen und Anzeigen“. In den folgenden Jahrgängen wird diese Struktur beibehalten: Die inhaltlichen oder theoretischen Artikel bilden den Auftakt, Mitteilungen und Anzeigen den Schluss des Blattes. Was sich ändert, ist, dass neue Artikelsorten hinzutreten und sich die Anzahl der Autorinnen und Autoren, die für den Hauslehrer schreiben, erhöht.

3.1.2.1. Die Zielsetzungen der Zeitschrift: Programmatik der Probenummer Das zentrale inhaltliche Element des Hauslehrers sind die Artikel in Altersmundart, also für ältere Kinder und Jugendliche geschriebene Darstellungen mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens. Warum es diese Artikel gibt, begründet Berthold Otto in der Probenummer in einer „Anrede an Eltern, Lehrer und Erzieher“315: „Unsere Kinder sind in manchem Betracht anders, als wir selbst vor 30 Jahren waren; sie haben einen großen Reichtum von Anschauungen und sind daher dem Lesen mehr ergeben; sie stöbern frühzeitig in Journalen und Zeitungen herum und thun deshalb öfter was wir als Kinder auch schon – nur seltener – thaten: sie fragen nach solchen Gegenständen und Vorgängen, die gerade die öffentliche Meinung bewegen. Der Krieg zwischen Buren und Engländern, die gemeinsame Aktion aller civilisierten Mächte in China, das lenkbare Luftschiff des Grafen Zeppelin, der Tod der Königin von England, ja selbst die Kohlennot sind Sachen, nach denen wohl die meisten Eltern gele315

Otto (HL 1901a): 1-2.

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gentlich gefragt sind. Und da werden Eltern sowohl wie Lehrer und Erzieher oft die Schwierigkeit empfunden haben, auf solche Fragen zugleich sachlich richtig und dem fragenden Kinde verständlich zu antworten.“316

Berthold Otto stellt also den Zugang zu Informationen, die Kinder haben, ins Zentrum seines Argumentes. Durch den „großen Reichtum von Anschauungen“, der für sie möglich ist, entwickeln sie mehr Fragen zu dem, was in der Welt um sie herum geschieht. Diese Welt ist – im Vergleich mit der Welt, in der Berthold Otto seine Kindheit verbracht hat – größer und vielfältiger geworden, da die informatorischen Möglichkeiten gewachsen sind; die fragende Haltung der Kinder hingegen sieht Otto als eine konstante Eigenschaft. Diese Zeitdiagnose führt dazu, dass Eltern, Lehrer und Erzieher, also die Personen, die pädagogisch Umgang mit Kindern haben, vor die Herausforderung des Umgangs mit den Fragen der Kinder zu diesen Themen der „öffentlichen Meinung“ gestellt werden. Die Schule, das führt Otto weiter aus, kann diese Aufgabe in ihrer jetzigen Struktur nicht meistern. Individuelle Kinderfragen sind dort nicht bearbeitbar, zudem stehen Lehrpläne dem kindlichen Interesse entgegen. Das wiederum stellt ein Problem dar: „Dennoch wäre es auch für die Schule wertvoll, die Kinder auch in dieser Hinsicht versorgt zu wissen, denn wenn alle solche erkenntnishungrigen Fragen der Kinder abgelehnt werden, so wird damit der Erkenntnistrieb der Kinder ebenso sicher geschädigt, wie jedes Organ verkümmert, das man seiner natürlichen Funktion entzieht. In dem Augenblick wo ein Kind nach einer bestimmten Erkenntnis fragt (…), ist der günstigste Moment für die Entstehung dieser Erkenntnis und vielfach auch für die Überwindung der dazu nötigen Vorstufen vorhanden; so günstig kommt er nie wieder, und es ist eine arge Verschwendung, ihn ungenützt verstreichen zu lassen.“317

Hier expliziert Berthold Otto in verknappter Form die Grundannahmen seiner entwicklungstheoretischen Perspektive, die ihm als Grundlage für seinen Problemzuschnitt dient. Der Erkenntnistrieb des Kindes weist die gleichen Funktionsmerkmale wie ein Organ des Körpers auf. Der Erkenntnistrieb ist damit die zentrale Antriebskraft des Kindes, die es dazu bringt, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Neben dieser kommt Otto zu einer zweiten Setzung: Erkenntnis gelingt immer dann besonders gut, wenn sie auf ein aktuelles Interesse trifft, das sich durch die kindliche Frage danach äußert und damit gleichzeitig den optimalen Moment zum Erkenntnisgewinn bezeichnet. Berthold Otto markiert hier also bereits das Spannungsfeld, in dem sich viele seiner pädagogischen Auseinandersetzungen abspielen werden: Er legt eine bestimmte Vorstellung kindlicher Entwicklung, die er als natürlich (und damit gegeben) annimmt, zugrunde. Diese stellt auf individuell gesteuerten Wissenserwerb und dafür besonders geeignete Momente ab und steht damit 316 317

Otto (HL 1901a): 1. Otto (HL 1901a): 2.

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zwangsläufig zu de der schulischen Praxis des späten Kaiserreichs im W Widerterstellte „Natürlichkeit“ wird in diesem Denkmode dell zum spruch.318 Die unter Ausweis des „Richt htigen“ – eine Pädagogik gelingt dann, wenn sie sich direkt an die Natur des Kin indes anschließt.

un Erzählstunde im Schulgarten vor dem Schulhaus, ca. 1919/19 /1920.319 Abbildung 4: Vorlese- und

Dieses Spannungsfe sfeld nun beschreibt den Bereich, in dem Berthold Ot Otto den Hauslehrer platziert ert. Die Zeitschrift soll den genannten Personengruppe pen eine Hilfestellung geben, en, die eben festgestellte Problematik beheben zu kön önnen: „Die pädagogische he Verwertung dieser spontan auftretenden Interessen der Kin inderwelt ist nun die Aufgabe abe, die der vorliegende Hauslehrer sich stellt. Er behandelt lt aalle ‚ak318

319

Die Kritik ist also, o, dass in der „alten“ Schule die Schülerfragen zu den Lehrer rerantworten passen müssen, en, während in der geforderten „neuen“ Schule die Lehreran antworten zu den Schülerfrag agen passen müssen. Zum Gegenstand des Lernens wird da damit die durch eigenes Erle rleben vorgefundene Welt und nicht die, bereits im Vorfel eld durch Lehrpläne gegliede derte, schulische Vorstellung von ihr (vgl. Oelkers (2005): 202 02f.). DIPF/BBF/Archiv, iv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 844.

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tuellen Fragen‘, also Alles, was dem Kinde im Gespräch und in der Zeitung aufstoßen und es zu Fragen veranlassen kann, und er behandelt es in einer den Kindern verständlichen Weise.“320

Berthold Otto unternimmt hier den Versuch, mit der Feststellung einer bestimmten Entwicklungstheorie, die in ihren Konsequenzen der schulischen Praxis entgegensteht, Nachfrage nach seiner Zeitschrift und seinen Inhalten zu schaffen.321 Er tritt dabei als Anbieter für Inhalte auf, die den Kindern von anderer Seite schwer oder gar nicht zugänglich sind, seiner Meinung nach aber unbedingt zugänglich sein müssen. Das strukturiert sein Angebot gleichzeitig so, dass es keine zeitliche Begrenzung gibt: Die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse wechseln, es kommen immer neue hinzu, so dass auch das Angebot an deren kindgerechter Erklärung immer wieder neu hergestellt werden muss. Immer wieder neue Entwicklungen evozieren also immer wieder neue Kinderfragen und damit immer wieder die Notwendigkeit, diese Zusammenhänge sachund kindessprachgerecht zu formulieren.322 Zudem wachsen auch immer neue Generationen nach, es gibt also nicht nur immer wieder neue Themen, sondern auch immer wieder neue Rezipientinnen und Rezipienten.323 Seine Expertise und Kompetenz für dieses – mehr als ambitionierte – Angebot führt Otto im weiteren Verlauf des Artikels auf seine eigene Erfahrung des geistigen Verkehrs mit seinen eigenen Kindern und auf seinen „Lehrgang der Zukunftsschule“ zurück, also auf (s)eine theoretische Auseinandersetzung, praktische Erfahrung und eine umfassende Sachkenntnis. Ein weiteres Merkmal, das die Kindgerechtheit der Artikel unterstreichen soll, ist, dass alle Artikel durch die Kinder im Hause Otto „geprüft“ wurden.324 Um den Bedürfnissen seiner Leserinnen und Leser (also seiner Kundinnen und Kunden) gerechter zu werden – vor allem in Bezug auf die Auswahl der behandelten Ereignisse –, bittet Otto gleich in der ersten Nummer um Rückmeldungen eigener Erfahrungen mit seiner Arbeitsweise und verbindet diese 320 321 322

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Otto (HL 1901a): 2. Damit ist diese Theorie nicht bewertet. Es geht um den markt-strategischen Aspekt dieses Vorgehens. Berthold Otto gibt immer wieder an, dass die schriftliche Darstellung von Inhalten in Altersmundart, also kindgerechter Sprache, eine für Erwachsene schwer zu erlernende Kunst ist und damit eine Art Expertenwissen darstellt – welches er hier zur Verfügung stellt. Was sich freilich auch nachteilig auswirkt, denn: Sind die aktuell vorhandenen Leserinnen und Leser erwachsen, benötigen sie unter Umständen auch die Zeitschrift nicht mehr. „Jeder einzelne im Hauslehrer gedruckte Artikel ist meinen eigenen Kindern vor dem Druck vorgelesen worden, deren Monita dabei natürlich berücksichtigt worden sind.“ (Otto (HL 1901a): 4)

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mit der Vorstellung, dass dadurch eine weitreichende Herausforderung gemeinschaftlich gelöst werden kann: „Denn es ist eine folgenschwere Aufgabe, die wir hier übernommen haben. Gelingt sie in der Weise, wie sie uns vorschwebt, so wird sie zu einer starken Steigerung der Ausbildung im selbständigen Denken und zu einer fühlbaren Entlastung der Schule führen. Denn das Aktuelle weist überall über sich selber hinaus, vor Allem auch auf historische Zusammenhänge, und so wird eine Unsumme von totem Stoff, den jetzt die Schule mühselig den Kindern gewaltsam aufnötigt, durch das eigenste Interesse der Kinder lebendig gemacht werden; und es werden Erkenntnisse entstehen, die nicht nur bis zur nächsten Prüfung, sondern über das Leben hinüber standhalten.“325

Neben der Vorstellung einer gedachten gemeinsamen Aufgabe – vermittelt durch eine geteilte Idee und geteilte pädagogische Praktiken – ist auffällig, dass Berthold Otto die bestehende Schule als ergänzungsnotwendig beschreibt. Auch wenn seine Kritik an ihr offensichtlich ist, besitzt sie zu diesem Zeitpunkt (zumindest hier in der Zeitschrift) noch nicht die Radikalität, die ihr später zu Eigen sein wird. Otto spricht davon, dass die Umsetzung seiner Vorstellungen, unterstützt durch den Hauslehrer, das selbständige Denken schulen und damit den „toten“ Stoff „lebendiger“ zu machen in der Lage ist, was zu einer Entlastung der Schule führen soll. Diese relativ zurückhaltende Formulierung vermag auch aufgrund der Tatsache, dass Berthold Otto seine eigenen Kinder nicht in eine Schule geschickt hat, erstaunen, kann aber als Versuch verstanden werden, eine möglichst breite Anschlussfähigkeit für die Zeitschrift herzustellen, die ja neu auf dem Markt etabliert werden muss. In der nun folgenden „Gebrauchsanweisung“ gibt Otto präzise Hinweise, wie die Artikel der Zeitschrift im häuslichen Umfeld zur Anwendung kommen sollen. Zunächst fordert Otto die Erwachsenen auf, nicht „an jedem Kinde ohne Weiteres herumzubessern, herumzuerziehen, herumzuunterrichten“,326 sondern sich auf Augenhöhe mit den Kindern zu begeben, um sie und ihre seelische Verfasstheit besser kennenzulernen. Dazu ist es notwendig, einen Perspektivwechsel vorzunehmen: Anstelle der Vorstellung, dass der kindliche Wille schädlich sei, müsse die Frage treten, wohin dieser Wille das Kind führt.327 Nur mit dieser Haltung sei die Entstehung einer wissenschaftlichen – 325 326 327

Otto (HL 1901a): 2. Otto (HL 1901a): 2f. Diesen Aspekt erweitert Otto später dahingehend, dass er sich nachdrücklich gegen die Vorstellung, dass das Kind „schlecht“ wäre, wendet. Diese Vorstellung sei falsch und müsse bekämpft werden: „Wir wollen nicht eher die Waffen niederlegen, bis wir nicht jedermann im deutschen Volke dahin gebracht haben darüber nachzudenken, ob er glaubt, daß seine Kinder wirklich von Grund auf schlecht wären und durch häusli-

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im Sinne Ottos verstanden als erfahrungswissenschaftlich fundierten – Pädagogik, dem großen Ziel Ottos, überhaupt erst möglich. Wie es möglich ist, den Willen des Kindes zu verstehen, beschreibt Otto dann so: „Wir wollen die Kinder zu Wort kommen, fragen lassen, wollen also eigentlich ihnen die Leitung des hier angebotenen Ergänzungsunterrichts übertragen. Es soll und wird sich dabei ganz von selbst herausstellen, wohin das Interesse der Kinder sich richtet, in welcher Weise wir es befriedigen können, und wie die vom ‚Hauslehrer‘ nur geförderte, nicht verursachte, Selbsterziehung und Selbstbildung den allgemeinen Geisteszustand der Kinder zu heben und dadurch auch auf ihr Fortkommen in der Schule zurückzuwirken geeignet ist.“328

Im Zentrum stehen die Prozesse der Selbsterziehung und Selbstbildung, die durch das, was die Zeitschrift anbietet, und dessen sachgemäßen Gebrauch329 gefördert, aber nicht verursacht werden können. Berthold Otto wechselt also die Perspektive: Kindliche Erziehung und Bildung sind Aktivitäten, die das Kind selber durchführt und die nicht von außen „gemacht“ werden können, notwendig dazu ist die Berücksichtigung des kindlichen Willens, der nachgerade die Richtschnur für diese Prozesse darstellt. Erfolgt diese Berücksichtigung, dann kann die pädagogische Bemühung positiv wirken, sowohl generell als auch auf die schulischen Erfolge bezogen. Damit wird die bereits weiter oben angesprochene, nahezu zurückhaltend wirkende Abgrenzung von der Schule, wiederholt. Otto spricht hier von „Ergänzungsunterricht“, nutzt also eine Vokabel, die im semantischen Feld der Schule angesiedelt ist und stellt gleichzeitig eine Verbesserung der schulischen Leistung der Kinder in Aussicht, wenn seine pädagogischen Vorschläge zur Anwendung kommen. Damit schafft er sicherlich einen weiteren Verkaufsanreiz. In dieser „Probenummer“, die in hoher Auflage hergestellt an Interessentinnen und Interessenten verteilt wurde,330 entwickelt Berthold Otto damit sein pädagogisches Programm und versucht, dieses als Ausgangspunkt für eine Neuentwicklung der pädagogischen Wissenschaft auf Grundlage gemeinsa-

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che Erziehung oder Schule erst zu ganz anderen Menschen gemacht werden müßten, wenn sie in der Welt etwas taugen wollen.“ (Otto (HL 1910a): 4) Otto (HL 1901a): 3. In der entsprechenden Passage des Artikels beschreibt Berthold Otto diesen detailliert. Dabei stellt er vor allem zwei Notwendigkeiten heraus: Erstens sollen die Artikel nur auf Verlangen der Kinder vorgelesen werden, und zweitens soll danach kein Wiederholen oder Abfragen erfolgen. „Mit solcher eindringlicher Werbung begnügte sich Scheffer keineswegs; er hat die Probenummer auch anderen weit verbreiteten Blättern beigelegt. So der damals in weiten bürgerlichen Kreisen verbreiteten Berliner Tageszeitung ‚Tägliche Rundschau‘ und Friedrich Naumanns ‚Hilfe‘.“ (Baumann II: 93f.)

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mer Arbeit331 zu etablieren. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ruft Otto seine Leserinnen und Leser auf, in seinem Sinne pädagogisch mit Kindern zu arbeiten und ihm darüber Berichte zukommen zu lassen. So hat die Zeitschrift von Anfang an einen – modern gesprochen – interaktiven Aspekt und dient den „Bestrebungen“ als Plattform.

3.1.2.2. Kooperation zwischen Zeitschrift und Leser_innenschaft Die im ersten Jahrgang des Hauslehrers angelegte inhaltliche Struktur, die sich in etwa auch in den folgenden Jahrgängen findet, beinhaltet auch „theoretische“ Artikel. Im gesamten ersten Jahrgang werden lt. Gesamtinhaltsverzeichnis 209 Artikel veröffentlicht, davon sind 25 als „theoretische“ Artikel gekennzeichnet. Diese wiederum teilen sich auf in 17 Artikel einer Serie zur „Mütterfibel“332 und acht weitere – ein Anteil von nicht ganz vier Prozent. Dem stehen 58 Artikel zu aktuellen Themen (28%) und 39333 Artikel, die „unmittelbar aus dem eigenen Unterricht der Kinder des Herausgebers hervorgegangen“ sind (19%), gegenüber. In den hier untersuchten Jahrgängen lassen sich zu diesem Prozentsatz zwar geringe Schwankungen feststellen, insgesamt aber bleiben Artikel, die im Schlagwortregister als „theoretische“ gekennzeichnet werden, immer eine marginale Erscheinung,334 während die inhaltlichen335 Artikel überwiegen, was der Intention der Zeitschrift ent331

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335

Die Aufforderung zur pädagogischen Arbeit anhand des Materials, das Otto im Hauslehrer zur Verfügung stellt, und in der Art und Weise, die er vorgibt, soll „zu gemeinsamer Arbeit, zur Teilnahme an einer nicht unwichtigen Erweiterung der Grundlagen der pädagogischen Wissenschaft“ beitragen. (Otto (HL 1901a): 2). Diese wissenschaftliche Arbeit besteht aus drei Elementen: der Selbst- und der Fremdbeobachtung sowie der Auswertung biografischer Materialien wie Lebensläufen und Entwicklungsbeschreibungen. Diese sollen empirisch exakt analysiert werden, um so belastbare Aussagen zu erhalten (vgl. zu einer ausführlichen Darstellung Schnücker (1990): 115143). Diese werden 1903 als Buch im Verlag von Theodor Scheffer veröffentlicht. Dazu kommen zehn weitere Artikel dieser Kategorie, die allerdings einen Teil des „Lehrgangs der Zukunftsschule“ wiedergeben. 1902 sind es 10 von 238 (in etwa 4%), 1908 10 von 183 (etwa 5%), 1910 16 von 167 (etwa 9,5%), 1911 12 von 186 (6%), 1912 8 von 193 (4%), 1913 lediglich 3 von 303 (1 %) und 1914 sind es 2 Artikel. Der Jahrgang 1914 unterscheidet sich von den anderen, da er ab Kriegsbeginn nahezu kein anderes Thema mehr behandelt. Der Vergleich der einzelnen Zahlen ist aufgrund der nicht immer identischen Klassifikation der einzelnen Artikelrubriken, die damit zu unterschiedlichen Gesamtzahlen führt, nicht ganz eindeutig, weshalb sowohl absolute Zahlen als auch Prozentzahlen angegeben sind. Als „inhaltliche Artikel“ werden im Zusammenhang mit der Zeitschrift solche bezeichnet, in denen aktuelle, politische und historische Gegenstände in Altersmundart beschrieben werden. Diese inhaltlichen Artikel befinden sich in der Regel am Anfang einer Ausgabe des Hauslehrers. Als „theoretische Artikel“ hingegen werden, in An-

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spricht. Die theoretischen Artikel hingegen sind bedeutsam, weil sie neben inhaltlichen auch vernetzende Aspekte aufweisen. Das beschreibt Berthold Otto auch in seinem „Ostergruß“, der im 6. Heft des ersten Jahrgangs erscheint und mit „Schulreform und geistiger Verkehr mit Kindern“336 überschrieben ist: „Theoretische Artikel sollen für gewöhnlich im Hauslehrer keinen Raum finden, aber von Zeit zu Zeit, in größeren Zwischenräumen, scheinen sie sich doch nötig zu machen, wenn die Fühlung nicht verloren gehen soll.“337 Die Zielsetzung dieser theoretischen Artikel beschreibt Otto dann so: „Darum muß die Rubrizierungsarbeit, oder um ein anderes Bild zu brauchen, die Lockerung des Bodens, auf dem neue Saatkörner gestreut werden sollen, von Zeit zu Zeit, wie auch in der Landwirtschaft, etwas gründlicher wiederholt werden; vielleicht – wir müssen das, wie alle Einzelheiten unserer Hauslehrerarbeit, erst praktisch ausprobieren – sind die Vierteljahresanfänge geeignete Abschnitt dafür.“338

Inhaltlich befasst sich der Ostergruß mit den aktuellen Entwicklungen der Schulreform. Nach einer kurzen Darstellung der allgemeinen Situation339 fordert Berthold Otto darin die Eltern auf, aktiv an der Schulreform mitzuarbeiten, in deren Nähe er auch die Hauslehrerbestrebungen stellt. Der Hintergrund der notwendigen Schulreform ist, dass die gesellschaftlichen Veränderungen zu einer zu großen und unübersichtlichen Menge an „Stoff“ geführt hätten. Daraus resultiert für Otto: „Wir sind bei all unserer Vielleserei durch Mangel an gründlichen Anschauungen und sorgfältigem Denken geistig etwas zurückgeblieben; wir sind am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht in dem Maß geistige Herren unserer natürlichen, wirtschaftlichen und politischen Umgebung, wie unsere Vorfahren im achtzehnten Jahrhundert es waren.“340

Dem diagnostizierten Problem der Stoffüberbürdung stellt Otto als Lösung sein Vorgehen entgegen, den Kindern die Auswahl der Inhalte zu überlassen, da diese durch ihren natürlichen Entwicklungstrieb die für sie jeweils richtigen Gegenstände erfragen. Die Erwachsenen, sowohl die Eltern als auch die ohne eigene Kinder, profitieren davon, weil sie durch die Auseinandersetzung mit den kindlichen Fragen und der Notwendigkeit einer kindgerechten

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340

lehnung an die Sprachregelung der Zeitschrift, solche bezeichnet, in denen sich Berthold Otto mit seiner Pädagogik befasst. Otto HL (1901d). Otto HL (1901d): 73. Otto HL (1901d): 73. Otto nimmt hier vor allem Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Frage, welche der höheren Schulformen das Abitur ermöglichen soll und wie der Kaiser dazu positioniert ist. Otto HL (1901d): 78.

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Erklärung selber in einen Prozess der „Selbstunterrichtung“ eintreten. Deshalb liegt es im Interesse der Eltern, in „energischer Mitthäterschaft“ die Schulreform zu befördern: Sie ermöglichen so eine bessere kindliche Entwicklung und profitieren durch die Prozesse der Selbsterziehung:341 „Also eine Reform unseres geistigen Verkehrs mit Kindern ist es, was allein eine gründliche Schulreform möglich machen kann; das geistige Leben unserer Kinder, ja, und auch ihr Frohsinn, ihre Lebensfreude wird dadurch erheblich erhöht werden, daß wir nicht mehr jede Frage stolz oder überlegen lächelnd abweisen.“342

Um das zu erreichen, ist eine „Umwandlung unserer Lebensgewohnheiten erforderlich, wozu wir alle Leser und Freunde des Hauslehrers dringend bitten mitzuwirken“.343 Darunter versteht Otto eine vollkommen andere Haltung der Erwachsenen im Hinblick auf Kinder: Deren absolutes Fragerecht muss gewahrt und durch eine „Antwortpflicht“ der Erwachsenen unterstützt werden. Die Kinder sollen nicht auf die den „geisteszermahlenden Mechanismus des Lehrplans“344 angewiesen sein, sondern im Idealfall in einer Umgebung aufwachsen, in denen ihnen jede und jeder Erwachsene ihre Fragen beantwortet. Diese Haltung der Erwachsenen den Kindern gegenüber, die an romantisierende Vorstellungen dörflichen Gemeinschaftserlebens erinnern, bezeichnet Otto als „vielleicht das wichtigste Stück Schulreform.“345 Neben der inhaltlichen ist vor allem die auffordernde Perspektive dieses Artikels bemerkenswert. Berthold Otto kritisiert zwar den aktuellen Zustand, in dem sich in seiner Wahrnehmung die Schule seiner Zeit befindet, seine Änderungsvorschläge greifen aber nicht an Stellen an, die er nicht erreichen könnte. Anstatt eine Forderung, welche die Schuladministration oder die Politik adressiert, zu erheben, wendet er sich an die Eltern und fordert sie zur „energischen Mitthäterschaft“ auf. Damit erweitert Otto auch die Gruppe, die er für die Arbeit an der Schulreform anspricht: Zu den in der „Deutschen Schulreform“ noch ausschließlich adressierten Lehrerinnen und Lehrern kommen nun auch die Eltern hinzu. Durch eine Neujustierung des Generationenverhältnisses im Sinne der Hauslehrerbestrebungen, unterstützt durch die Zeitschrift, würde der Beginn der Schulreform möglich. Die gleichzeitig immer wieder formulierte Aufforderung, Berichte über eigene Erfahrungen an die Zeitschrift zu schicken, verstärkt diesen Versuch, die Leserinnen und Leser in eine Gemeinschaft, die sich durch gleiche Ziele und gleiche pädagogische Praktiken symbolisch 341 342 343 344 345

Otto HL (1901d): 78. Otto HL (1901d): 79. Otto HL (1901d): 79. Otto HL (1901d): 79. Otto HL (1901d): 79.

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konstituiert, einzubinden – und damit natürlich auch, sie als Kundinnen und Kunden zu halten. Diese erhoffte Identifikation soll auch zu einer schnellen Verbreitung des Blattes und damit zu einer Steigerung der Auflagenhöhe beitragen. Die Leserinnen und Leser werden immer wieder aufgefordert, die Zeitschrift bekannt zu machen und dem Verlag Adressen potentieller Interessentinnen und Interessenten zur Verfügung zu stellen. Selten fehlen dabei Hinweise auf „unsere Sache“ oder „die Bestrebungen“. In den ersten Jahren des Hauslehrers zeichnet Theodor Scheffer für diese Maßnahmen zur Expansion verantwortlich. Ein besonders prägnantes Beispiel ist ein Artikel von ihm, der in der Nummer 28 des ersten Jahrgangs erscheint.346 Gerichtet ist dieser „An unsere Freunde“, die sich an der Werbung für die Zeitschrift beteiligen sollen: „Wir sind der Überzeugung, daß es noch Hundertausende giebt, die sich im Interesse ihrer Kinder, denen sie ihre Begabung erhalten wollen, zu den darauf gerichteten Bestrebungen des Hauslehrers freundlich stellen würden. Denn der Leserkreis dieser Wochenschrift ist ja nicht auf ein vornehmlich pädagogisches Fachpublikum beschränkt, sondern alle Erzieher, alle Eltern können in die Arbeit eintreten, zu der der Hauslehrer anleiten will: den Kindern so zu antworten, wie es der Sache und dem Alter des Kindes entspricht.“347

Im weiteren Verlauf macht Theodor Scheffer klar, dass der Hauslehrer noch „einige Tausend“ Abonnentinnen und Abonnenten benötigt, „um auch an die Verwirklichung weiterer Pläne, die vorläufig noch zurückstehen müssen, herangehen zu können“.348 Um das zu erreichen, sollen die Leserinnen und Leser Adressen einschicken, es werden Werbepostkarten und zwei weitere Probenummern in beliebiger Menge kostenfrei zur Verfügung gestellt.349 Diese Werbemaßnahmen finden sich in allen hier untersuchten Jahrgängen, lediglich die Form ändert sich.350 Der Hauslehrer bietet – zumindest in seiner Anfangszeit – auch Hilfestellungen an. Es gibt im ersten Jahrgang zwei dezidiert interaktive Kategorien: den „Briefkasten“ und die „Ratschläge für den häuslichen Unterricht“. Der Briefkasten dient der Kommunikation mit Leserinnen und Lesern. Diese Rubrik findet sich ab der vierten Ausgabe351 im ersten Jahrgang in 14 Heften. 346 347 348 349 350 351

Scheffer (HL 1901b). Scheffer (HL 1901b): 399. Scheffer (HL 1901b): 399. Die „weiteren Pläne“ werden freilich nicht genauer beschrieben. Die Aufforderung, Adressen einzusenden, findet sich auch in anderen Zeitschriften der Zeit (vgl. Parr (2000): 40). Vgl. Kapitel 3.1.5. Otto (HL 1901c): 55.

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Die dort abgedruckten Nachrichten umfassen Ankündigungen, die „aufgelaufenen Briefschulden abzuarbeiten“,352 gelegentlich wird nach Adressen möglicher interessierter Personen gefragt353 und es werden einzelne Zuschriften, oft auch anonymisiert, beantwortet.354 Bis Heft 31 werden dort auch allgemeine Hinweise über Erscheinungsverzögerungen oder Ähnliches publiziert, diese finden sich dann ab Heft 32 in der neuen Rubrik „Mitteilungen und Anzeigen“. Eine zweite wichtige Rubrik, die als Kommunikation zwischen Leserinnen und Lesern sowie dem Herausgeber konzipiert ist, sind die „Ratschläge für den häuslichen Unterricht“. Diese beginnen in Heft 21/1901 und erscheinen in 15 Folgen, das letzte Mal in Heft 26/1902. Diese Artikelserie zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr Fragen, die Berthold Otto von Leserinnen und Lesern in Bezug auf die praktische Anwendung seiner Pädagogik erreicht haben, ausführlich von ihm beantwortet werden. 1908 erscheinen sie gesammelt als Buch im Verlag von Theodor Scheffer.355 Einige der Artikel richten sich in der Form eines Briefes an einzelne Personen,356 andere sind eher zusammenfassender Natur, wie beispielsweise die in der Nummer 31/1901 erschienene Auseinandersetzung mit dem Thema „Der geistige Verkehr mit Kindern“.357 Berthold Otto nutzt diesen Beitrag für eine generelle Darstellung seiner Perspektive auf die Beschaffenheit des Generationenverhältnisses und betont dabei besonders die Notwendigkeit des kindlichen Spiels.358 352

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„Alle meine Briefgläubiger muß ich wiederholt um Nachsicht und Geduld bitten. Meine Briefschulden wachsen beängstigend an, und ich darf nicht mehr, wie ich es in jüngeren Jahren gewohnt war, die Nachtarbeit ausgiebig zur Hilfe heranziehen, da es mir tagsüber sonst an der geistigen Frische für den Verkehr mit Kindern fehlt. Ohne diesen täglichen Verkehr wäre ich aber außerstande, für den Hauslehrer zu schreiben. Darum kann ich meine Briefschulden nur langsam und allmählich abarbeiten, und bitte daher um Geduld und Nachsicht. Berthold Otto.“ (Otto (HL 1901e): 127) Otto (HL 1901f): 142. Hier findet sich zudem der Hinweis, dass ein Abonnement auch an Kinder im Alter von 10-14 Jahren verschenkt werden kann. „A.W. in G. Ihre Bemerkungen, die von sorgfältiger Durcharbeit der Lateinbriefe Zeugnis geben, werden stets mit bestem Dank entgegengenommen. Entschuldigen Sie nur, dass ich nicht mehr die Zeit fand, auf jeden Brief auch mit einem Brief zu antworten.“ (Otto (HL 1901h): 320) An anderer Stelle wird Dr. Liebe (es handelt sich um Dr. Georg Liebe, einen reformorientierten Mediziner) mit vollem Namen angesprochen (vgl. Otto (HL 1901e): 127). Otto (1908). So beispielsweise eine ganze Serie an Dr. Georg Liebe (Otto (HL 1902 b, c, d, e, f)). Otto (HL 1901i): 438f. „Man muß sich beim Verkehr mit Kindern immer gegenwärtig halten, dass die Kindheit die schönste Zeit im Leben ist, vielleicht die einzige Zeit, in der die Lebensfreude zweifellos überwiegt, wenn sie nicht gar zu sehr von außen gestört wird. Darum soll man ein Kind nur im äußersten Notfall in seinem Spiel stören. Für das Glück der Menschheit ist dies Spiel vielleicht viel wichtiger als irgendeine befohlene Arbeit, die

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Insgesamt sind diese Artikel bedeutsam, da sie Berthold Otto die Möglichkeit geben, seine Zeitschrift an den Interessen und Fragen der Leserinnen und Leser auszurichten und gleichzeitig seine pädagogische Konzeption zu präzisieren. Die Einführung dieser Serie könnte zudem auch Aufforderungscharakter besessen haben, sich mit inhaltlichen Fragen direkt an Berthold Otto zu wenden, der wiederum dadurch Kenntnis über gemachte Versuche erhält und seine Darstellungen passgenauer ausrichten kann.

3.1.2.3. Die „Tischgespräche“ als Vorläufer der Unterrichtsprotokolle Ein wesentlicher Aspekt des Inhaltes der Zeitschrift besteht – qualitativ und quantitativ – darin, die pädagogische Praxis im Otto’schen Sinne anschaulich zu machen und zu vermitteln. Neben den bereits angesprochenen „Ratschlägen für den häuslichen Unterricht“, die Anfragen von Leserinnen und Lesern zum Anlass für Präzisierungen nehmen, sind es vor allem die inhaltlichen Artikel und die Tischgespräche, die einen direkten Bezug zur pädagogischen Praxis herstellen sollen. Die inhaltlichen Artikel kann man als „kindgerecht aufbereitete“ Darstellungen aktueller, politischer und historischer Ereignisse beschreiben, verfasst sind sie in Altersmundart, ihr Zweck ist zunächst, dass sie als Hilfestellung in der häuslichen Erziehung verwendet werden können. Die „Tischgespräche“ haben eine andere Struktur: Sie sind protokollierte Gesprächssituationen, in denen der für Berthold Otto zentrale „Geistige Verkehr mit Kindern“ dargestellt wird. Im ersten Jahrgang sind das Situationen aus dem Hause Otto. Insgesamt werden 1901 vier solcher Artikel publiziert. Den ersten, der im zweiten Heft vom 11.03.1901 erscheint, ordnet Berthold Otto wie folgt ein: „Unter dieser Rubrik werde ich solche Gespräche bringen, die mir zunächst noch keinen Anlass zu besonderen Artikeln gegeben haben. Der Gedankengang und, soweit es mir irgend möglich ist, der Wortlaut, entspricht genau dem thatsächlich geführten Gespräch. Die Kinder kontrollieren das selbst, da ihnen ja die Manuskripte, ehe sie zum Druck gehn, vorgelesen werden, und die Kinder kritisieren energisch jede Abweichung vom wirklichen Gesprächsgang.“359

Anders als die „inhaltlichen Artikel“ sind die Tischgespräche in der Form der Unterhaltung, die ihnen zugrunde liegt, angelegt. Dabei kommen verschiedene Themen zum Tragen, jeweils eingeleitet durch die Frage eines der Kinder.

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wir an die Stelle setzen. Denn erstens wirkt jedes Spiel als Übung des Erkenntnisvermögens und zweitens trägt es dazu bei, den Überschuss des Glücksgefühls zu stärken, den wir aus der Kindheit in das harte Leben mitbringen müssen, wenn wir nicht vorzeitig erliegen sollen.“ (Otto (HL 1901i): 438f.) Otto (HL 1901b): 27.

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Im vorliegenden Fall fragt Irmgard Otto nach der physischen Beschaffenheit einer Grenze, Felicitas Otto will den Unterschied zwischen Streu- und Speisesalz verstehen und Helene Otto fragt nach der Funktionsweise von Lebensversicherungen. Danach sind jeweils die Fragen und Antworten der anderen Kinder und Berthold Ottos notiert. Diese Form der Darstellung unterscheidet sich also fundamental von den Artikeln, in denen Berthold Otto ein bestimmtes Themengebiet oder Ereignis in Altersmundart darstellt, da sie einen direkten Einblick in die „Arbeitsweise“ Ottos beim Unterricht seiner Kinder ermöglichen. Diese Aufgabe werden in den späteren Jahrgängen vor allem die Protokolle aus dem Gesamtunterricht und weitere Beschreibungen schulischer Praxis übernehmen. Die hier vorgenommene Legitimation des Geschriebenen durch die Kinder, die an dem Gespräch, das Grundlage des Artikels ist, beteiligt sind, kann gleichzeitig als Ausweis für die Konsequenz, mit der Otto seine eigene Pädagogik betreibt, verstanden werden. Die Darstellungen solcher Gesprächssituationen haben mehrere Funktionen: Sie stellen für die Leserinnen und Leser ein mögliches Modell für den Umgang mit den eigenen Kindern im Sinne Ottos dar, sie können eine plausibilisierende Funktion haben, und sie sind die „Datenbasis“ für die eigenen Forschungen Ottos.

3.1.3. Die Zeitschrift im weiteren Verlauf (I): Suche nach Unterstützung Der Hauslehrer hat nie die von Berthold Otto avisierte Auflagenhöhe von 10.000 Exemplaren erreicht. Im Zusammenhang mit einer der vielen finanziellen Krisen seines Unternehmens kommt es im Jahr 1906 zu der Überlegung, den Verlag in eine Genossenschaft oder GmbH zu verwandeln. In diesem Kontext sind zwei Dokumente entstanden, die Aufschluss über Ottos Vorstellungen über die Ziele und seine Erwartungen im Hinblick auf den Hauslehrer verdeutlichen – es handelt sich dabei um einen kurzen Abriss der finanziellen Situation360 und eine „Denkschrift über die Hauslehrerbewegungen“.361 Es ist davon auszugehen, dass beide Dokumente als Unterlagen für potentielle Geldgeberinnen und Geldgeber bei der Akquise von Fremdkapital – denn nichts anderes wäre die Umwandlung des Verlages in eine der beiden genannten Rechtsformen gewesen – gedacht sind. Gerade das erste Dokument, das eine Mischung aus Bestandsaufnahme und Businessplan darstellt, zeigt eindrücklich, in welchen Dimensionen Otto sich den Hauslehrer eigentlich vorstellt. Ausgehend von der aktuellen Aufla360 361

DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 10-11. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 12-17.

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ge, die bei 2500 Stück liegt – was dem Dokument zufolge jährlich 7200 M Einnahmen und 6555 M Ausgaben bedeutet – rechnet Otto hier potentiellen Investorinnen und Investoren vor, dass die zu gründende Finanzierungsgesellschaft mindestens 135.000 M einsetzen müsse, was in etwa dem Zwanzigfachen der bisherigen Ausgaben entspricht. Diese werden benötigt, um die Zahl der Abonnements auf mindestens 10.000 Stück, möglicherweise auch 30.000-40.000 Stück zu steigern.362 Dabei geht er von einer jährlichen Bezahlung seiner eigenen Arbeit als Redakteur in Höhe von 12.000 M aus und der Einrichtung eines sachbearbeitenden Büros, das für die Inserate, die Organisation und die geschäftliche Leitung verantwortlich zeichnen soll. Dafür setzt er weitere 5000 M p.a. an. Ottos Argumentation ist dabei zunächst verblüffend einfach: Durch diesen Kapitaleinsatz wäre es möglich, in viel größerem Umfang als bisher Werbung zu betreiben, und das müsse die Anzahl der Abonnements zwangsläufig in die Höhe treiben. Hier lässt sich – exemplarisch – zeigen, mit welchem Blick Berthold Otto seine eigenen Aktivitäten sieht, nicht nur aber auch in Bezug auf den Hauslehrer: Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Übersicht, aus der die Zahlen entnommen sind, Werbung für Geldgeberinnen und Geldgeber ist, also positiv sein muss, erstaunt doch, dass Berthold Otto der Expansion der Zeitschrift keine anderen Restriktionen gegenüberstellt als den bisherigen zu geringen Einsatz von Werbung. Das Produkt, das er verkaufen will, also seine Ideen und pädagogischen Vorstellungen, ist für ihn so überzeugend, dass durch eine Vergrößerung des finanziellen Rahmens um ein Vielfaches eine Expansion unausweichlich geschehen muss. Mitbewerber, ein unter Umständen gesättigter Markt für Zeitschriften oder schlicht weniger Interesse durch das Publikum scheinen in seine Modellrechnung nicht einzufließen. Und so endet die Zusammenfassung seiner Vorschläge auch damit, dass seine eigene Stellung in der zu gründenden Gesellschaft bei steigenden Abonnementzahlen verbessert wird. Die dazugehörige Denkschrift, die sich an „einen engen Kreis von Leuten richtet, denen diese Bestrebungen schon durchaus bekannt sind, die sogar den

362

Dies geschieht mit der durchaus nachvollziehbaren Argumentation, dass die Kosten je Stück durchschnittlich sinken, wenn die Stückzahl steigt, da sich diese Kosten aus einem fixen und einem variablen Anteil zusammensetzen. Der Satz beispielsweise ist ein fixer Posten, der unabhängig von der Anzahl der gedruckten Exemplare immer in der gleichen Höhe anfällt. Je mehr Exemplare gedruckt werden, desto geringer ist der Anteil der Satzkosten, die je Stück zu kalkulieren sind. Variable Kosten sind beispielsweise Papier und andere Verbrauchsmaterialien. Diese könnten unter Umständen rabattiert werden, wenn der Umfang steigt, aber sie fallen grundsätzlich je hergestelltem Exemplar in der (nahezu) gleichen Höhe an.

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Willen haben, diese Bestrebungen entschieden zu fördern“,363 gibt Aufschluss darüber, wie Berthold Otto gegenüber potentiellen Geldgeberinnen und Geldgebern seine eigene Tätigkeit darstellt und wie er für finanzielle Unterstützung durch Dritte wirbt. Dabei verschränkt er in diesem etwa zehn Seiten langen Text drei Argumentationslinien: Zunächst beschreibt er die bedingte Neuheit seiner pädagogischen Vorstellungen, im Anschluss seine eigene Rolle als Prophet, daran schließt er die Förderungsnotwendigkeit der Zeitschrift an und gibt – als Resultat – eine konkrete Vorstellung der entsprechenden Unterstützung an. Zunächst stellt Berthold Otto seine pädagogischen Ideen vor. Dabei ist bemerkenswert, dass er zu Beginn der Denkschrift nicht das „Neue“ betont, sondern vielmehr darauf hinweist, dass seine pädagogischen Vorstellungen bereits von vielen anderen vor ihm formuliert wurden: „Fast alles, was wir wollen, ist schon gesagt oder erstrebt worden, über manche von den Einzelheiten, die wir bringen, sind schon vor Jahrhunderten glänzende Abhandlungen, ja grosse Bücher geschrieben worden. Darin haben unsere Kritiker vollkommen recht. Unrecht haben sie nur, wenn sie danach weiter meinen, durch jene glänzenden Abhandlungen und grossen Bücher sei die Sache nun aufs Glänzendste erledigt! -- Ganz im Gegenteil. Grade weil es seit Jahrhunderten schon glänzende Abhandlungen und große Bücher giebt, in denen die Richtigkeit und Zweckmässigkeit unserer Vorschläge aufs Beste bewiesen wird -- oft besser, als wir es selber können -grade darum ist es eine Sünde und eine Schande, dass die Sachen nicht schon längst praktisch durchgeführt sind.“364

Damit ordnet Berthold Otto seine Pädagogik doppelt ein: Zum einen stellt er seine Erkenntnisse als bereits bestehendes Wissen dar. Dessen Elemente sind bekannt, Otto kann sich also auf sie berufen. Sein Beitrag hingegen besteht in der praktischen Anwendung dieses Wissens, die dringend notwendig ist, damit „wir nicht noch mehr Sünde und Schande auf uns laden.“365 Interessant ist dabei, dass er hier nicht die Beobachtung von Kindern oder die Wahrnehmung pädagogischer Missstände als primären Ausgangspunkt beschreibt, sondern eine politische Situation: „Ich habe es nun schon öfter drucken lassen und hunderte von Malen gesagt, dass ich vor einem Vierteljahrhundert, als ich pädagogisch zu arbeiten anfing, überhaupt gar nicht ahnte, dass ich damit etwas neues machte. – Ich wollte auf eine politische Umgestaltung hinaus, auf die Durchführung der Politik, die in der Botschaft vom 17. No363 364 365

Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (1). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 12. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (1). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 12. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (1). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 12.

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vember 1881 begonnen und später von Wilhelm II weitergeführt wurde. Ich sah voraus, dass das Haupthindernis dieser Politik die Geistesentwicklung sein würde. Grosse neue Gedanken können nur dann von einem ganzen Volk ergriffen und durchgeführt werden, wenn nicht nur eine führende Kaste sondern das ganze Volk zum Denken bringen könnte.“366

Die „Botschaft vom 17. November 1881“, in der Otto von Bismarck die Sozialversicherung und deren Selbstverwaltung darstellte, ist für Berthold Otto eine zentrale (sozial)politische Vision, deren Realisierung er aber durch die nicht ausreichende „Geistesentwicklung“ des Volkes als nicht umsetzbar einschätzt. Otto gelangt zu der Erkenntnis, dass die gravierenden Unterschiede zwischen „gut begabten“ und „gänzlich unbegabten“ Kindern durch den „richtigen Umgang“ zum Positiven verändert werden können, also ein pädagogisches Problem darstellen, das entsprechend auch pädagogisch bearbeitet werden kann. „Daraus ergab sich“, so schreibt Otto, „für mich die Möglichkeit einer enormen Steigerung der Volksbildung, wie ich sie für die hohenzollerische Sozialpolitik unerlässlich hielt, und darum ging ich ans Werk, als Politiker in erster, als Pädagoge in zweiter Linie.“367

Ottos Bezugspunkt bei diesem Vorhaben ist die gymnasiale Bildung, die am höchsten anerkannt sei und deren Ziel eine „formale Bildung“ darstelle. Diese wiederum, so glaubt Otto nachweisen zu können, ist für jeden Menschen möglich, wenn man nach seinen Vorstellungen arbeitet. Sie bedarf nicht des Besuchs des Gymnasiums, sondern entsteht dann, wenn man – wie Otto – das „Unwichtige vom Wichtigen“ trennt, „wobei allerdings mit den herrschenden Meinungen über das Wichtige und Unwichtige stark aufgeräumt werden musste.“368 Otto entwickelt also sein pädagogisches System aus einer Neubewertung von Inhalten hin zum begrifflichen Denken und der formalen Bildung, die er als „höchste Geistesentwicklung“ begreift. Durch diese Verschiebung des Schwerpunktes kann er die bisher auf das Gymnasium beschränkte „höhere“ Bildung auch für den Bereich der Volksschule anwendbar machen. Gleichzeitig bestimmt er die Vorstellung, was „gebildet sein“ beinhaltet, damit neu. Bei diesem Prozess legt er Wert darauf, dass er sich dieses Vorgehen und die daraus resultierenden Ideen nicht etwa aus den weiter oben angesprochenen pädagogischen Werken angelesen hat, sondern die Erkenntnisse sind 366 367 368

Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (1-2). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 12. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (2). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 12. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (2). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 12.

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durch die eigenen praktische Arbeit entstanden – und das wiederum ist ein Prozess, den jeder Mensch vollziehen kann: „Ich selbst hatte, um die Sachen zu finden, genau so gearbeitet, wie nach mir später jedes Tagelöhnerkind in jeder Dorfschule alle grundlegenden Wahrheiten auffinden und wirklich lebendig erhalten soll.“369 Damit autorisiert er seine eigenen Erkenntnisse: Er kann sich auf eine Tradition bereits entwickelten Wissens berufen, wahr wird dieses Wissen aber besonders dadurch, dass er es durch die eigene Erfahrung ebenso entwickelt hat, wie bereits viele andere vor ihm.370 An dieser Stelle der „Denkschrift“ tritt nun eine zweite Argumentationsfigur zu der ersten inhaltlichen dazu. Ging es Berthold Otto bisher darum, zu zeigen, warum sein pädagogisches Denken dem zeitgenössischen überlegen ist, inszeniert er sich im Folgenden als Verantwortlicher dafür, dieses Wissen in die Welt zu bringen: „Mit den Ergebnissen meines Denkens musste ich ernst machen, wenn ich mich für einen anständigen Kerl halten sollte. (…) Jedenfalls war es nicht Leichtsinn, der mich auf alle Examina, auf jede offizielle Karriere verzichten liess. Ich wusste genau, was mir bevorstand, aber ich konnte nicht anders. In den bestehenden Einrichtungen war kein Raum für mich und meine Überzeugung; ohne meine Überzeugungen hineinzugehen, meine Überzeugungen zu opfern oder auch nur ‚einstweilen bei Seite zu stellen‘, das war mir nicht möglich.“371

Berthold Otto beschreibt, dass er seine eigene, eigentlich sichere, Zukunft für seine „Überzeugungen“ aufgegeben hat, denn diese sind stärker als die Annehmlichkeiten, die eine sichere Lebensplanung mit sich gebracht hätte. Diese Überzeugungen sind so stark, dass sie alle anderes überstrahlen: „Man kann ja doch, wenn man seine Überzeugungen einstweilen bei Seite stellt, vielleicht sogar für diese Überzeugungen im Verborgenen wirken. Aber ich kann das nicht. Und es muss immer Leute geben, die das nicht können, die sich lieber kreuzigen, hinrichten oder von ihresgleichen verachten lassen, ehe sie nur das Geringste von ihren Überzeugungen wegheucheln. Nur dadurch, dass es solche Leute giebt, merken die andern, dass es wirklich feste Überzeugungen giebt.“372

Die Überzeugung, das „Wissen“, die richtige Lösung für die bestehenden Probleme des deutschen Volkes gefunden zu haben, wird zum Gegenstand 369 370

371 372

Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (3). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 13. Gleichzeitig ist diese Vorstellung einer der zentralen Aspekte seiner pädagogischen Denkweise: Nur das, was sich in einem Menschen selber entwickelt hat, ist innere und damit wirkliche Erkenntnis, während die Übernahme bereits bestehenden Wissens dem Menschen äußerlich bleiben muss. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (3-4). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 13. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (4). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 13.

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einer religiösen Struktur. Berthold Otto beschreibt sich gleichsam als Propheten und Märtyrer in einem, der von seinem inneren Wissen getrieben wird. Die Aufgabe scheint ihm so groß, so wichtig zu sein, dass alles andere in den Hintergrund tritt, dass er sich in eine Reihe stellt mit solchen, die soziale Exklusion oder gar den Tod für ihre Überzeugungen in Kauf nehmen. Nur so kann verdeutlich werden, dass diese Überzeugungen wahr sind. Berthold Otto entscheidet sich nicht für seinen Lebensweg – er muss diesen Weg gehen. Dieser Lebensweg hat ihm viele Enttäuschungen abverlangt, und er musste viele Opfer bringen. Eines davon beschreibt er in der Denkschrift: „Was mich dieser Verzicht gekostet hat, das kann ich jetzt nicht alles niederschreiben, vielleicht nie. Nur ein Symptom will ich angeben. Ich hatte als Kind und bis zum Zeitpunkt dieses Verzichts die Gabe, mich herzlich zu freuen, so, dass mich die Freude für einige Zeit ganz ausfüllte und keine Nebenstimmung zuliess. Das ist eine sehr schöne Gabe; man bringt damit immer andere Leute dazu sich mitzufreuen; sie wirkt also ansteckend oder – wenn man ein Modewort vorzieht – suggestiv. Diese Fähigkeit ist mir gänzlich abhanden gekommen, ich muss mich hüten, unter Fröhliche zu gehen, da ich von ihnen leicht als störendes Element empfunden werde, obwohl ich wirklich von Herzen bemüht bin, mit den Fröhlichen fröhlich zu sein.“373

Es sind also nicht nur materielle Opfer, die Otto bringt, er opfert auch seinen Frohsinn zugunsten der Aufgabe, zu der er sich berufen fühlt. Gleichzeitig dienen diese Opfer auch der Legitimation für die Unterstützung durch Dritte, die Otto hier zu erreichen versucht: „Ich glaube aber jetzt wirklich bewiesen zu haben, dass meine Arbeitskraft etwas wert ist, dass ich auch einiges leisten kann, was sonst für Geld überhaupt nicht zu haben ist. Ich habe mir diese Fähigkeit in sehr schweren Lebenskämpfen erworben, darum würde ich es für gerecht und andererseits auch für nützlich halten, wie ich wirklich begonnen mich mit diesen Fähigkeiten recht vielen nützlich machen, dabei von solche, die die Mittel dazu haben und die Anhänger unserer Bestrebungen sind, finanziell ausreichend unterstützt würde.“374

Aus der Aufgabe und den damit verbundenen Opfern, so argumentiert Otto hier, entstand eine spezifische „Arbeitskraft“, die er als so besonders beschreibt, dass sie nicht „für Geld“ zu bekommen ist. Auch wenn es keine näheren Ausführungen gibt, kann davon ausgegangen werden, dass diese Arbeitskraft nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ herausragende Attribute besitzt, die als Konsequenz des bisherigen Lebens von Otto verstanden werden können.

373 374

Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (5). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 14. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (10). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 16.

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Diese drei Aspekte sind es, die für Otto seine finanzielle Unterstützung durch Dritte legitimieren. Ihm, der die Lösung für die Probleme des Volkes trägt und durch seine eigene Arbeit mit einem spezifischen Wissen ausgestattet ist, soll geholfen werden, um die Aufgabe zu vollenden, denn es sind „ganz besonders die geschäftlichen und pekuniären Sorgen (…) die mich jetzt aufreiben“375 – und damit von der eigentlichen, der wichtigen Tätigkeit abhalten. Gleichzeitig sieht Otto sich durch seine bisherige, als leidvoll erlebte, Arbeit auch berechtigt, im Rahmen der erhofften Subventionen ein Jahresgehalt von 12.000 M zu veranschlagen: „Vielleicht wird man mir entgegen halten, dass ich nicht ‚ideal‘ genug sei, wenn ich für mich selbst hohe Bezahlung verlangte. Darauf müsste ich zuerst antworten, dass ich rein geschäftlich, das heisst in Abwägung des Nutzens meiner Leistungen – die Bezahlung nicht für hoch halte und zweitens dass ich vor Jahrzehnten auf alles verzichtet habe, um meine Ideale wirklich aufrecht zu erhalten und zu verwirklichen und dass ich anderthalb Jahrzehnte lang die schwersten wirtschaftlichen Sorgen und Seelenkämpfe dafür ausgehalten habe.“376

Auch die dritte Argumentationslinie in dem Papier ist bemerkenswert und gibt einen Hinweis darauf, in welcher Form Berthold Otto sich die Arbeit an der Schulreform vorstellt. Er hat zu dieser Zeit bereits fremde Schülerinnen und Schüler, aber noch keine institutionalisierte Schule, sondern betreibt einen Unterrichtszirkel.377 Seinen hier gemachten Ausführung nach rechnet er für die Gründung einer eigenen Schule mit einer notwendigen Investitionssumme von 250.000-300.000 Mark, deren Akquise er zwar für machbar, aber nicht für sinnvoll hält. Der Ausgangspunkt für die Schulreform – die das eigentliche Ziel all seiner Bemühungen darstellt – liegt für Berthold Otto bei den Eltern: Nur, wenn diese sich auf ihn und seine Pädagogik einlassen, kann auch eine Schule nach seinen Grundsätzen gut funktionieren. Diese notwendige Kooperation, die im Verlauf der weiteren Geschichte der Schule immer problematisch bleibt,378 375 376 377

378

Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (10). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 16. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (10-11). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 16-17. Dessen Gründung geht auf den Wunsch der Eltern zurück. „Durch das Andrängen der Eltern bin ich genötigt worden, den Unterricht einer immer wachsenden Zahl von Schülern selber zu übernehmen oder doch zu leiten.“ (Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (7). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 15) So findet sich beispielsweise in der „Zukunftsschule“ 1914, 6. Heft, ein längerer Beitrag von Berthold Otto mit dem Titel „Berthold-Otto-Schule. Grundgedanken und Betätigung.“, in dem er auch die „Stellung zu den Eltern“ darstellt: „Also wir können nur von solchen Eltern die Kinder brauchen, die von den eben ausgesprochenen Grundsätzen durchaus überzeugt sind, und die niemals ihr Kind zu irgendwelchen besonderen Erkenntnisarbeiten zwingen wollen, die auch nicht dadurch, daß sie dem Kind irgend

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setzt voraus, dass Eltern mit seinen Ideen in Berührung kommen, und das könne der Hauslehrer in weitaus besserem Maße leisten, als eine Schule. Dazu wiederum ist es notwendig, mehr Werbung zu machen, um so die „Hundertausende(n) von Familien in Deutschland, die von dem Hauslehrer so viel Nutzen haben können“,379 zu erreichen.380 Die Rolle der Eltern für die Schulreform beschreibt Berthold Otto dabei so: „Alle Schulreformbestrebungen aber scheitern bisher im letzten Ende an den Eltern. Sie müssen vor allen Dingen für die Bestrebungen gewonnen werden, eher können die Schulen gar nicht ausreichend vorgehen. Und um die Eltern zu gewinnen, dazu ist wieder der Hauslehrer das beste Mittel, sodass wirklich die Hauslehrerpropaganda auch die beste Vorbereitung für die Gründung von Reformschulen ist.“381

Es handelt sich also um ein Argument, das die mögliche Reichweite und die investierten Mittel in ein Verhältnis setzt: Je mehr Menschen erreicht werden, desto schneller wird sich die Bewegung ausbreiten. Entsprechend plausibel ist Ottos Vorgehen, das die Zeitschrift einer möglichen Schule vorzieht. Dies untermauert er nun noch mit einem zweiten Argument: Solange nicht genügend Lehrerinnen und Lehrer mit der Kompetenz ausgestattet wären, nach seinen Vorstellungen zu unterrichten, wäre es schlicht unmöglich, eine Schule zu führen. Die Ausbildung dieser Lehrerinnen und Lehrer müsste also durch den Gewinn, den der Hauslehrer erwirtschaften soll, finanziert werden. Erst dann können Schulen in Ottos Sinne gegründet werden. Die Denkschrift endet mit einem Appell zur gemeinsamen Arbeit: „Und was wir gemeinsam leisten wollen, das ist doch schließlich der Mühe wert. Was seit Jahrtausenden die Denker als richtig erwiesen, die Volksfreunde vergeblich erstrebten, das machen wir zur Tat! Ist es nicht eine Ehre, dabei mitzuwirken?“382

379 380

381 382

welche Unzufriedenheit zeigen, das Kind veranlassen wollen, sich auf bestimmte Erkenntnisgebiete pflichtgemäß zu stürzen, und ferner fest entschlossen sind in der Weise, wie wir es für durchaus notwendig halten, dem Kinde auf vernünftige Fragen vernünftig und verständlich zu antworten.“ (Otto (ZS 1914): 202) Beiträge aus der Zukunftsschule werden – analog zu denen aus der Zeitschrift Hauslehrer – wie folgt zitiert: „Name (ZS Jahr)“. Die Siglen werden im Literaturverzeichnis aufgelöst. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (8-9). DIPF/BBF/Archiv Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 15-16. Otto schreibt dazu: „Immer wieder kommen Leute zu mir, die sich bitter beschweren, nie etwas von dem Blatte gehört zu haben, das ihnen sonst schon seit Jahren sehr großen Nutzen hätte bringen können.“ (Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (8). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 15) Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (10). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 16. Denkschrift der Hauslehrerbestrebungen (11). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 629 Bl. 17.

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Die Schulreform, ein Projekt, das immer wieder begonnen, aber bisher nicht vollendet ist, kann nun – durch Berthold Otto und mit Hilfe der Geldgeberinnen und Geldgeber – in die Tat umgesetzt werden. In dieser letzten Passage, dem Schlusssatz des Textes, spricht Otto erstmals von einem „Wir“ und ruft damit die Vorstellung eines gemeinsamen Tuns auf. Zu der Gründung einer GmbH oder einer Genossenschaft kam es nicht. Allerdings hat Otto Lademann die komplette Finanzierung des Hauslehrers für das Jahr 1907 übernommen und in dieser Zeit auch einen Geschäftsführer Schelkle eingesetzt.383 Diese Finanzierung hängt mit dem Konkurs von Scheffers Verlag im Jahr 1906 zusammen. In dessen Verlauf muss Berthold Otto noch ausstehende Schulden, die er bei Scheffer hat, ausgleichen. Diesen finanziellen Ausgleich, so ist es aus Briefen der daran beteiligten Personen zu rekonstruieren, besorgen Otto Lademann, Herr von Jena und ein A. Knoblauch,384 Rudolf Pannwitz ist an der Organisation beteiligt.385 Lademann und Knoblauch decken die noch ausstehenden Schulden, und Lademann finanziert gleichzeitig mit einem Darlehen den Fortbestand des Hauslehrers. Im Zuge dessen ist er auch bemüht, Einblicke in die Buchführung der Zeitschrift zu bekommen386 und Einfluss auf die Details der Organisation der Zeitschrift zu nehmen. Diese Interventionen versucht Otto unter Hinweis auf die prioritäre Stellung des Hauslehrers für sein gesamtes Werk zu vermeiden. Am 7.7.1907 schreibt er diesbezüglich an Otto Lademann: „Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit einen Schuldschein zu entwerfen, nach dem das Geld bis zum 1. Januar 1911 unkündbar bleibt und bis dahin die Zinsen zum Kapital geschlagen werden, während von da an die Zinsen quartaliter am Schluss des ersten Quartalmonats zu zahlen sind. Zu einer persönlichen Besprechung bin ich leider jetzt durch mein Befinden ausser Stande; nach der vom vorherigen Dienstag haben sich einige nicht unbedenkliche Folgen gezeigt. Ich gedenke jetzt wie seit Jahren ohne andere Hilfskräfte als Frl. Griebel und meine Kinder zu arbeiten. Es ist ja leider jetzt weniger zu tun als vor Herrn Schelkles Wirksamkeit. Wenn ich jetzt nur noch einige Monate Bewegungsfreiheit habe, dann hoffe ich auch noch andere Mittel herbeischaffen zu können. Allerdings darf ich dabei nicht das Erscheinen des Hauslehrers ein383 384

385

386

Baumann V: 42. Dieser ist zu der Zeit, in der es das Darlehen gibt, Generaldirektor des „Böhmischen Brauhauses Kommanditgesellschaft auf Aktien“. Weitere Informationen sind nicht verfügbar. Das geht aus Briefen des A. Knoblauch an Otto Lademann hervor: A. Knoblauch an Otto Lademann, 5.12.1906. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 13 und A. Knoblauch an Otto Lademann, 10.12.1906. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 14-15. Otto Lademann an Frida Otto, 26.2.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 17; Frida Otto an Otto Lademann, 1.3.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 50.

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schränken. Das würde ausserdem meine Stellung dem Ministerium gegenüber gefährden, die ganz und gar auf dem Hauslehrer beruht. Auch mein ganzer Schulzirkel wird nur aus Rücksicht auf den Hauslehrer geduldet; er würde mit dem Wegfall des Hauslehrers sofort aufhören. Also ich möchte Sie bitten, den Rest des Geldes, das Sie und Herr Kommerzienrat Knoblauch für den Hauslehrer bestimmt hatten, gegen Schuldschein und über die ganze Summe mir frei und ohne Verpflichtung besonderer Rechnungslegung zur Verfügung zu stellen, und verspreche dann weder Sie noch Herrn Kommerzienrat Knoblauch jemals wieder mit Bitten in Hinsicht Hauslehrer etc. zu behelligen.“387

Diesem Wunsch scheint Otto Lademann nachgekommen zu sein,388 was Otto allerdings nicht daran hindert, ihn am 21.8.1908 und am 28.2.1913, also zu der Zeit, in der bereits Emmy Friedländer die Schule samt Grundstück finanziert, wieder um Geld zu bitten.389

3.1.4. Die Zeitschrift im weiteren Verlauf (II): Strukturelle und inhaltliche Weiterentwicklung Der Hauslehrer entwickelt sich im Verlauf der Zeit von einer mehr oder weniger nur durch Berthold Otto gestalteten Zeitschrift zu einem Blatt, in dem unterschiedliche Autorinnen und Autoren Beiträge veröffentlichen. Diese Personen gehören alle zum Umfeld Ottos, und auch die Beiträge ordnen sich 387

Berthold Otto an Otto Lademann, 7.7.1917. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 56. 388 Das ergibt sich aus einem Brief von A. Knoblauch an Otto Lademann vom 24.4.1911. Er bittet Lademann darin um Rat, auf welche Weise er am besten an die Gelder gelangen könne, die er Otto geliehen hat: „Wie Ihnen ja bekannt, habe ich Herrn Berthold Otto in Grosslichterfelde 10,000 Mk. in diversen Raten geliehen. Die letzte Rate ist mit Mk. 2829,20 am 20. August 1907 bezahlt worden. Die Zinsen sollen vom 1. Januar 1908 mit 4% zum Kapital geschlagen werden, während sie vom 1. Januar 1911 an quartaliter postnumerando zahlbar sind. Das erste Quartal 1911 ist verflossen, Zinsen sind nicht gezahlt und irgendein Hinderungsgrund ist mir nicht mitgeteilt worden. Inzwischen bin ich meiner zunehmenden Schwerhörigkeit halber aus der Direction des Böhmischen Brauhauses ausgeschieden. Meine Mittel sind durch starke Verluste sehr angegriffen und ich bin nicht imstande, auf die Zinsen des Herrn Otto verzichten zu können. Sehr wäre mir mit der Rückzahlung des jetzt kündbaren Darlehens gedient und bin ich bereit, eine wesentliche Einbusse zu erleiden, wenn ich das Capital bis zum 1. Juli 1911 zurückerhalten würde. Ich wende mich vertraulich an Sie, mit der höflichen Bitte, mir Rat zu erteilen, welchen Weg ich wohl zur Ordnung dieser Angelegenheit einschlagen soll.“ (A. Knoblauch an Otto Lademann, 24.4.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 27-28) 389 Berthold Otto an Otto Lademann 21.8.1908. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 84-85, sowie Berthold Otto an Otto Lademann, 28.2.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 59.

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eng um seine Pädagogik an, wenngleich das Themenspektrum umfassender als in den Anfangsjahren wird. Trotz dieser Veränderungen bleibt Berthold Otto mit seinen Inhalten die Konstante des Hauslehrers. Er verfasst den Hauptteil der Artikel und ist das inhaltliche Zentrum dessen, was veröffentlicht wird. Dabei handelt es sich sowohl um Anschauungsmaterial aus dem Kontext der Berthold-Otto-Schule als auch aus anderen Zusammenhängen. Dazu treten die ebenfalls bereits im ersten Jahrgang etablierten „theoretischen Artikel“, diese enthalten zudem immer wieder persönliche Botschaften von Berthold Otto an seine Leserinnen und Leser. Weiterhin werden wichtige Ereignisse für die Hauslehrerbestrebungen, wie zum Beispiel die Weimarer Tagungen, gehaltene Vorträge und neu erschienene Publikationen besprochen, ab dem Moment seines Bestehens ist auch der Berthold-Otto-Verein390 erkennbar in der Zeitschrift vertreten. Insgesamt ist die Anzahl der Artikel, die Berthold Otto nicht selber verfasst, relativ konstant. In den Jahrgängen 1908 sowie 1910-1913 sind es im Schnitt zwei bis drei Beiträge je Zeitschrift, die von anderen Autorinnen und Autoren beigetragen werden. Gleichbleibend in allen diesen Jahrgängen ist, dass Georg Kerner für den Hauslehrer schreibt. Von ihm stammen Artikel, die ebenfalls in kindgerechter Sprache gehalten sind. Auch Eduard Reimpell, der Lehrer an der Berthold-Otto-Schule ist, tritt in allen hier untersuchten Jahrgängen als Autor in Erscheinung. Von ihm stammen vor allem Unterrichtsbeschreibungen, gelegentlich auch Artikel über die Berthold Otto-Pädagogik.391 Neben Reimpell schreiben weitere Lehrerinnen und Lehrer der Schule in der Zeitschrift: Gottfried Winter, Ernst Hering, Helene Ludwig,392 Magdalene Caspar, Fritz Meyer und Paul Baumann.393 Letzterer zeichnet mit der Gründung des Berthold-Otto-Vereins dann auch für die Mitteilungen und Anzeigen aus dem Verein verantwortlich, die im Hauslehrer regelmäßig veröffentlicht werden. 390 391 392 393

Vgl. Kapitel 3.2. Zum Beispiel beschreibt er die Pädagogik Berthold Ottos im Vergleich zu seiner früheren Tätigkeit in einer Baumschule (Reimpell (HL 1910): 214-215). Helene Ludwig schreibt nur im achten Jahrgang. Paul Baumann (8.3.1887-14.11.1971). Baumann ist zunächst Lehrer im DLEH Ilsenburg und an den „Trüper’schen Anstalten für abnorme Kinder“ in Jena, wechselt dann 1912 an die Berthold-Otto-Schule. Baumann ist zentrales Mitglied im BertholdOtto-Verein und Autor für diverse Lehrerzeitungen, den „Vortrupp“ und die Vossische Zeitung. Bereits während des Krieges gründet er seinen eigenen Verlag „Die Wende“, 1918 zieht er nach München, wo er als Verleger und Privatgelehrter arbeitet. Seine Biografie zu Berthold Otto besteht aus sechs Bänden, von denen die letzten beiden posthum von seiner Frau veröffentlicht wurden.

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Eine Besonderheit stellen die Artikel von Robert Theuermeister394 im achten Jahrgang des Hauslehrers dar. Es handelt sich dabei um Vorabdrucke von Kapiteln seines Buches „Unser Körperhaus. Wie ich mit meinen Kindern über ihren Körper rede“,395 das 1909 bei Theodor Scheffer erscheint und in den Jahrgängen 1910 und 1911 der Zeitschrift mit Anzeigen von Scheffer beworben wird. Dieses Vorgehen ist zwar ein im Hauslehrer übliches, allerdings sonst nur in Bezug auf Ottos eigene Bücher. Eine weitere zentrale Konstante sind die „Geschichten in Altersmundart“, die vom ersten Jahrgang an mit erscheinen.396 Diese Beilage enthält in Kindersprache adaptierte Erzählungen, darunter auch klassische Stoffe wie „Ilias“ und „Odyssee“, sowie von Kindern eingesandte kurze Texte und Briefe. Die zum Teil über eine große Anzahl von Nummern fortlaufenden Erzählungen werden in den Anfangsjahren des Hauslehrers von Berthold Otto und dann auch seinen Töchtern geschrieben, ab 1903 zeichnet Ida Griebel, ab 1910 Klara Sträter für die „Beilage“ verantwortlich. Die „Geschichten in Altersmundart“ stellen mit ihren explizit auf jüngere Kinder zugeschnittenen Inhalten einen wichtigen Beitrag für die Attraktivität des Hauslehrers dar. Ältere Kinder und Jugendliche werden inhaltlich durch den Haupttitel der Zeitschrift angesprochen. Die jüngeren Kinder erhalten eine eigene „kleine Zeitschrift“, die nur für sie gemacht wird. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Haupttitel und der Beilage ist, dass Berthold Otto deren Inhalte delegiert hat, während das Hauptblatt unter seiner direkten Federführung steht. Auch wenn es einige Autorinnen und Autoren gibt, die ebenfalls zum Hauslehrer beitragen, bleibt es die Zeitschrift Berthold Ottos. Das ergibt sich auch aus den genannten Personen: Die meisten sind Lehrerinnen und Lehrer an der Berthold-Otto-Schule, bei Georg Kerner handelt es sich um einen der engsten Vertrauten von Otto und seinem Unternehmen. Die Beiträge Dritter dienen also nicht einer inhaltlichen Auseinandersetzung oder der Darstellung kritischer oder kontroverser Perspektiven, es handelt sich vielmehr immer um unterstützend-affirmative Berichte, die symbolisieren, dass Ottos Pädagogik auch von anderen Lehrerinnen und Lehrern und in anderen Familien erfolgreich eingesetzt wird. Diese Form der

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Anton Robert Theuermeister, geb. 24.2.1882, Schriftsteller und Lehrer, unter anderem in Weißenfels und Ammendorf. Theuermeister (1909). Der Titel wird zwischen 1901 und 1906 eigenständig geführt, ab 1906 dann als „Beilage“ ausgewiesen. Allerdings werden die „Geschichten“ von Anfang an als Beilage des Hauslehrers geliefert. Zwischen 1917 und 1920 erhalten sie den Namen „Deutscher Volksgeist in Altersmundart der Kinder“, ab 1920 bis zur Einstellung der Zeitschrift werden sie als „Kinderzeitung des Deutschen Volksgeistes und Hauslehrers“ geführt.

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Publizistik hat tatsächlich einen werbenden Charakter, der als zentrales Element der Absatzförderung im Unternehmen gesehen werden kann. Neben den Artikeln in Altersmundart, in denen Berthold Otto politische und historische Ereignisse vermittelt, werden im Lauf der Zeit die Beschreibungen pädagogischer Praxis zunehmend inhaltlich und quantitativ bedeutsam. Diese können in drei Gruppen eingeteilt werden: zum einen Protokolle von Fach- und Gesamtunterrichtsstunden, die auf die in den Anfangsjahren der Zeitschrift vorhandenen „Tischgespräche“ folgen. Eine zweite Gruppe sind Artikel, welche die Praxis in der Hauslehrerschule beschreiben, sei es in einzelnen Altersgruppen oder generell, wenn es beispielsweise um die Stundenplangestaltung oder das Schülergericht geht. Im Gegensatz zu diesen Artikeln, die alle die Lichterfelder Schulpraxis zum Anlass und Gegenstand besitzen, gibt es als dritte Gruppe Artikel, in denen pädagogische Praxis nach Otto andernorts durch Dritte dargestellt wird. Die Protokolle der Unterrichtsstunden, vor allem des Gesamtunterrichts, sind an verschiedenen Orten bereits pädagogisch interpretiert worden.397 Für die hier zu bearbeitende Fragestellung ist dabei nicht primär deren pädagogische Aussage in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, sondern ihre Bedeutung für die Unternehmensfunktionen. Generell gilt für alle Darstellungen der Pädagogik Ottos in der Zeitschrift, dass sie die in der Schule und an anderen Orten praktizierte Pädagogik legitimieren sollen. Diese Legitimation dient der Untermauerung der behaupteten Überlegenheit der pädagogischen Praxis der Berthold-Otto-Schule und ist damit gleichzeitig eine zentrale Werbemaßnahme. So ist es auch nicht verwunderlich, dass gerade im 11. Jahrgang der Zeitschrift eine besondere Dichte solcher Artikel zu finden ist. In insgesamt 33 Nummern398 wird aus der Schule berichtet, nicht eingerechnet die gelegentlichen Anmerkungen Ottos dazu in den inhaltlichen Artikeln. Das Jahr 1911 ist das Jahr, in dem die Berthold-Otto-Schule in die neuen Räume eingezogen ist und dadurch hohe Darlehensschulden, vor allem bei Emmy Friedländer entstanden sind. Sie hat dabei immer wieder auf die Notwendigkeit einer Erhöhung der Schülerzahlen hingewiesen, um die Schule in eine finanziell ausgewogene Situation zu bringen.

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Bspw. eher kritisch bei Oelkers (2005): 175ff. und 199ff. als „Einübung in diskursive Gesprächspraktiken“ rekonstruieren den Gesamtunterricht Benner/Kemper (2003): 188ff. Wobei es einige Beiträge gibt, die über mehrere Nummern verteilt sind. So findet sich der Bericht über ein Börsenplanspiel von Gottfried Winter in den Heften 13-15 und 17 des 11. Jahrganges.

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Im Folgenden wird exemplarisch eine der Darstellungen pädagogischer Praxis in der Berthold-Otto-Schule vorgestellt. Es handelt sich um vier Artikel, die Magdalena Caspar aus ihrer Arbeit im Anfängerkurs verfasst hat.399 Drei davon erscheinen in direkt aufeinander folgenden Ausgaben des Hauslehrers im Februar,400 der vierte Ende April.401 Alle vier Artikel behandeln dabei verschiedene Unterrichtssituationen aus dem Unterkurs, den Magdalena Caspar leitet und der zu dieser Zeit aus zehn Schülerinnen und Schülern besteht. Es handelt sich dabei um eine gemeinsame Stundenplangestaltung, eine Schilderung der Tätigkeiten der Kinder in der so genannten „Arbeitsstunde“, den Bericht über einen Ausflug und eine Unterrichtseinheit in „Rechnen“, die mehrere Wochen dauert und spielerisch gestaltet wird. Interessant ist, dass die Artikel alle in kindgerechter Sprache verfasst sind, also den sprachlichen Gepflogenheiten, die in den Stunden geherrscht haben dürften, gleichen. Analysiert man diese Berichte nun unter dem Blickwinkel der oben genannten Kriterien – also der des Ausweises der Richtigkeit der Pädagogik Berthold Ottos und der Werbung –, dann fallen mehrere Aspekte besonders auf. Bereits die Stundenplanverhandlungen stellen gegenüber der Praxis der „alten Schule“ ein Novum dar: Die Kinder besprechen zusammen mit ihrer Lehrerin die Anzahl der Stunden der verschiedenen Fächer, die sie gerne haben möchten. Dabei werden die organisatorischen Gegebenheiten – Zeitkorridore für Gesamtunterricht und Schülergericht, anwesendes Lehrpersonal und die entsprechenden Fächer – bedacht. Auch der Wunsch, von Berthold Otto selber unterrichtet zu werden, findet Gehör und wird in der Stundenplanung berücksichtigt.402 Gleichzeitig wird deutlich, dass der Stundenplan nach den Wünschen der Kinder differenziert erstellt wird: „Wir haben nun auch weiter zweimal nach dem Gesamtunterricht Englisch, aber einmal ist es vorher, da sind die Kleinen allein zum Englisch, und da können sie das üben, was die Großen schneller behalten als die Kleinen. Einmal ist auch Rechnen nach dem Gesamtunterricht, da steht auf dem Stundenplan ‚Schnellrechnen‘. Ellen, Maria, Margy und Hanni, die können nämlich schon viel schneller rechnen als die andern und die haben Unterfranzösisch, während die andern rechnen, und nun wollen sie eine Extrarechenstunde haben, damit sie immer schneller rechnen lernen. Ellen und 399 400 401 402

Ähnliche Artikel finden sich beispielsweise im Hauslehrer 1908, hier geschrieben von Helene Ludwig. (Ludwig (HL 1908a, b, c, d)). Caspar (HL 1911a, b, c). Caspar (HL 1911d). „Nun hatten wir noch 11 Stunden frei. Da wollten die Kleinen nun Arbeitsstunde und Rechnen, und Geschichte und Gedicht und Lesen und Religion und Erdkunde und Englisch. Und dann fiel dem Lutz noch ein, daß sie doch auch bei Herrn Otto früher Stunde gehabt hätten, die hatte ihnen Herr Otto zuletzt nicht mehr gegeben, weil er krank gewesen war und weil die Kleinen nachher so viel gefehlt hatten. Und ich sagte dann, daß sie jetzt wieder Deutsch bei Herrn Otto kriegen könnten, und da freuten sie sich und wir schrieben gleich erst 2 Stunden dafür hin.“ (Caspar (HL 1911a): 79)

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Maria und Margy, die haben auch das Deutsch bei Herrn Otto nicht mit, sie haben unterdessen Naturgeschichte bei Fräulein Fintelmann. Und Hanni hat kein Unterenglisch mit, weil sie erst Französisch lernen will. Sonst haben wir aber alle Stunden zusammen.“403

Diese komplexe Unterrichtsorganisation ergibt sich aus dem Grundgedanken der Pädagogik Ottos, nach der das Kind entscheidet, welche Inhalte es wann lernen möchte. Entsprechend folgt der Stundenplan nicht der klassischen Systematik nach Klassen oder einer vorgeschriebenen Stoffverteilung, sondern die Angebote werden möglichst nach den Interessen der Kinder angeordnet. So gibt es sowohl Unterrichtsstunden, in denen die Kinder einer Gruppe zusammen Unterricht erhalten können, aber auch solche, in denen unterschiedliche Fächer stattfinden. In dem zweiten Artikel, in dem Magdalena Caspar von der „Arbeitsstunde“ berichtet, wird deutlich, dass auch in den einzelnen Stunden in einer Altersgruppe differenziert gearbeitet wird – sowohl im Rechnen als auch bei den Diktaten404 – und dass die Kinder auch voneinander lernen, indem sie sich beispielsweise gegenseitig erklären, wie sie eine Addition ausführen. Dabei werden die unterschiedlichen Methoden nicht bewertet, die Lehrerin gibt lediglich Hinweise, worin deren Schwierigkeiten und Grenzen bestehen. Weiterhin beschreibt Magdalena Caspar, dass sie einen Schüler, als dieser länger krank war, mehrfach zuhause besucht und unterrichtet hat. Zwar wird nicht klar, ob solche Besuche zum „Service“ gehören, aber diese Schilderung kann für Eltern, die ihre Kinder in der Berthold-Otto-Schule anmelden können, durchaus attraktiv wirken. Bemerkenswert ist auch, dass in diesem Artikel zum einen das „Rechenlotto“ ausführlich erwähnt und in seiner Benutzung positiv dargestellt wird. Das „Rechenlotto“ ist ein fester didaktisch-methodischer Bestandteil der Pädagogik Berthold Ottos. Zum anderen wird der Gebrauch eines Lesebuches beschrieben und über dessen positive Annahme durch die Kinder berichtet.405 403 404

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Caspar (HL 1911a): 79. „Aber Lutz hat ein anderes Diktat geschrieben als Ellen (9 Jahr) und Margy. Lutz (7 ½ Jahr) hat erst ein halbes Jahr Unterricht gehabt, er war lange krank. Darum habe ich für ihn das Diktat an die Tafel geschrieben, und dann habe ich ihm die Sätze gesagt, und wenn er beim Schreiben nicht wußte, wie ein Buchstabe gemacht wurde, dann hat er an der Tafel nachgesehen. Er weiß aber auch schon ganz schön, wie die Wörter geschrieben werden, denn er hat mir jedes Wort buchstabiert, eh ich es an die Tafel schrieb. Nur eins wundert ihn immer wieder, nämlich daß so oft ein neues Wort anfängt; er würde den Satz ‚Ich habe eine Brille‘ lieber in einem Zug schreiben. (…) Eugen kann noch nicht schreiben, er möchte es auch vorläufig nicht lernen, und darum zeichnet er; und Heinz kann sehr hübsch schreiben, aber er tut es nicht gern, und da hat er auch gezeichnet.“ (Caspar (HL 1911b): 92) „Die dritte Arbeitsstunde war am 21. Januar. Am Tage vorher hatten wir angefangen, ein Gedicht zu lernen aus dem neuen Lesebuch, was unsern Kindern so gefällt; es ist

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Es handelt sich dabei um „Mein Lesebuch“ von Anton Ettmayr,406 der in dieser Zeit zum engeren Umfeld der Berthold-Otto-Schule gehört, und dessen Erwähnung hier auch als Werbung interpretiert werden kann. Auch die anderen beiden Artikel aus dieser kleinen Serie beschreiben verschiedene schulische Situationen: Im Zusammenhang mit einem Ausflug in verschiedene Berliner Museen betont Magdalena Caspar zum einen die Wahlfreiheit, die an der Schule herrscht,407 sowie das intensive Interesse der Kinder an den Exponaten. Der letzte Artikel beschreibt eine Lerneinheit aus dem Bereich Rechnen. Didaktisch-methodisch wird ein Rollenspiel inszeniert, in dem die Kinder den Wirtschaftskreislauf kennenlernen und dessen Ausgestaltung Magdalena Caspar sehr detailliert und ausführlich darstellt.408 Besonders betont wird auch hier, dass die Idee zu dieser Szenerie von den Kindern stammt: Magdalena Caspar lässt ihren Artikel mit folgendem Satz enden: „Jedenfalls war mir diese von den Kindern selbst geforderte und mit Begeisterung aufgenommene Abwechslung in der Rechenstunde sehr interessant.“409 Insgesamt handelt es sich um Berichte, die wie zufällig herausgegriffene Situationen aus dem Schulalltag der Berthold-Otto-Schule wirken und durch ihre sehr detaillierte und konkrete sprachliche Vermittlung Nähe herstellen. In diesen Artikeln werden keine pädagogischen Theorien durchdekliniert, sondern ihre Anwendung wird – ohne dass sie allerdings ausgeflaggt werden – als alltägliche und erfolgreiche Praxis vorgestellt. Sie folgen damit der Struktur, die Berthold Otto bereits in den „Tischgesprächen“ der ersten Jahrgänge

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‚Mein Lesebuch‘ von Ettmayr, mit den schönen Bildern von Ubbelohde.“ (Caspar (HL 1911b): 92) Ettmayr (1910). Das Buch ist bei Scheffer erschienen und mit Bildern von Otto Ubbelohde versehen. Anton Ettmayr ist Lehrer, gehört zur gleichen Zeit wie Fritz Meyer dem Charonkreis an, publiziert im „Heiligen Garten“ und der „Brücke“ und steht der Hauslehrerbewegung und der Pädagogik Ottos nahe. Für das „Lesebuch“ sind im Hauslehrer auch Anzeigen geschaltet und zwar in den Nummern 4-7 sowie 22 und 23 des 11. Jahrgangs. Initiiert wird der Ausflug durch den Wunsch von einem Schüler und einer Schülerin, die „Tuberkulose-Ausstellung“ zu besuchen. Magdalena Caspar schildert den darauf folgenden Entscheidungsprozess: „Herr Otto hatte am Freitag früh alle Schüler in der großen Gesamtunterrichtshalle versammelt und da fragte er nun zuerst, wer in die Tuberkulose-Ausstellung gehen möchte. Und als sich die gemeldet hatten, da gingen sie raus, und Herr Winter mit ihnen. Und dann habe ich vorgelesen, welche Museen noch offen waren. Und nun riefen erstmal alle durcheinander, wo sie hinwollten.“ (Caspar (HL 1911c): 103) Beispielsweise berichtet sie nicht nur, wo und wann sie „Spielgeld“ besorgt hat sondern auch, wie jede einzelne Münzsorte in dem Spielgeldsortiment repräsentiert wird und welche Vorarbeiten sie dafür leistet. Caspar (HL 1911d): 214.

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des Hauslehrers an angelegt hat. Diese Artikel legitimieren die pädago gogische Praxis durch sich se selber und bieten dabei ein äußerst positiv gestaltete etes Bild dessen, was in derr Schule abläuft, an. Allein die beschriebenen Rahm hmenbePädagogin für maximal zehn Schülerinnen und Sch chüler – dingungen – eine P und die Abwesenhe heit von Konflikten oder Dissonanzen vermitteln de den Anschein einer erstreb rebenswerten pädagogischen Wirklichkeit, die in de der Bera umgesetzt dargestellt wird. thold-Otto-Schule als

Abbildung 5: Lehrerinn Magdalena Caspar mit Schülerinnen und Schülern im Schu hulgarten, März 1911.410

So, wie die Beschre hreibungen (schulisch-)pädagogischer Situationen de der Versuch sind, eine spez ezifische Form von Nähe zwischen Leserinnen undd Lesern auf der einen und dder Schule resp. dem Unternehmen auf der anderen ren Seite herzustellen, so ges eschieht dies auch durch eine weitere Strategie Be Berthold Ottos: In den vonn ihm geschriebenen Artikeln finden sich immerr wieder 410

DIPF/BBF/Archiv, iv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 877.

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Hinweise auf seinen schlechten Gesundheitszustand und auf seine Überarbeitung.411 Auch diese können als Versuch der Herstellung von Nähe verstanden werden, da Berthold Otto seinen Leserinnen und Lesern dabei einen – freilich kontrollierten – Einblick in seine seelische Verfasstheit gewährt. Gleichzeitig verdeutlicht er damit auch die großen Anstrengungen, die er für seine „Sache“, die ja dem ganzen Volk dienen soll, in Kauf nimmt.

3.1.5. Werbemaßnahmen Im Hauslehrer selber wird mit unterschiedlichen Strategien Werbung für die Zeitschrift betrieben. Die Absatzförderung ist für Berthold Otto ein zentrales Thema, da er den Erfolg seiner Zeitschrift vor allem von Umfang und Reichweite der unternommenen Werbemaßnahmen abhängig sieht. Gleichzeitig ist die Zeitschrift als das zentrale Kommunikationsmedium der Hauslehrerbestrebungen prädestiniert, Werbung für sich selber (und damit wieder für die „Bestrebungen“) zu machen. Neben eher klassischen Strategien der Werbung über Probenummern, Einzelheftbezug und den Abdruck positiver Meinungen von Kundinnen und Kunden, finden sich auch in vielen Artikeln Aufforderungen, für den Haus411

Beispielsweise teilt Otto seinen Lesern bei der Ankündigung einer Neuauflage der Lateinbriefe mit, dass es Schwierigkeiten bei ihrer Erstellung gab, auf die er hier aber nicht eingehen will, sondern an anderer, geeigneter Stelle. Gleichzeitig schreibt er aber, dass es bei der zweiten Auflage „ungeheuerlich viel Schwierigkeiten geschäftlicher, inhaltlicher Art und solche, die sich aus allerlei Stimmungen herleiten“ (Otto (HL 1913a): 34), gab. Einen der inhaltlichen Artikel, also einen, der sich primär an Kinder wendet, leitet Otto Anfang 1913 so ein: „Zu erzählen ist eigentlich eine große Menge, ich weiß nur nicht recht, ob ich es heute gut zustande bringen werde. Ich bin wieder einmal – oder eigentlich immer noch – krank, so daß ich heute wieder nicht zur Schule gehen konnte. Jedes unerwartete Geräusch regt mich auf; und wenn man vor Schülern stehen soll und keinen ungerecht behandeln will, dann muß man seine Nerven mehr in der Gewalt haben, als ich es jetzt habe. Und ich glaube, schreiben könnte ich jetzt auch nicht; wenigstens ist es mir nicht gelungen, einige Briefe zu schreiben, die ich notwendig zu schreiben hätte. Und auch könnte ich keinem lebendigen Menschen diktieren, denn da würde mich auch jede Bewegung stören, die er macht. Und in solchen Fällen ist der Parlograph einem ganz besonders dienlich, denn der nimmt nichts übel und der macht keine Bewegungen, die man nicht ganz genau vorher weiß. Deswegen kann ich überhaupt es wagen, mit dem Erzählen anzufangen.“ (Otto (HL 1913b): 73) In einer Schilderung des Besuchs der Hauslehrerschule im Landerziehungsheim in Ilsenburg von Berthold Otto findet sich eine Beschreibung eines „Ohnmachtsanfalles“. Diese Art Anfall habe er auch in Lichterfelde schon gehabt. Otto schildert knapp aber detailliert: „Das gab also wieder starke Aufregung und die gab längere Zeit 120 Pulsschläge in der Minute, was entschieden zu viel war. Zum Glück hatte ich ja Hilfe in der Nähe.“ (Otto (HL 1910j): 314)

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lehrer Werbung zu machen, die zum Teil mit Argumentationshilfen versehen sind.

3.1.5.1. Direkte Werbestrategien Die direkten Werbestrategien bestehen vor allem darin, dass Berthold Otto im Hauslehrer immer wieder Probehefte zum kostenlosen Bezug anbietet, von denen auch größere Mengen – so genannte Agitationspakete – verschickt werden, um sie dann beispielsweise bei Vorträgen oder anderen geeigneten Anlässen zu verteilen.412 Diese Form findet sich ab dem Jahrgang 1910 durchgängig bis zum Jahrgang 1914 und wird in der Rubrik „Mitteilungen und Anzeigen“ beworben. Weiterhin gibt es zumindest im Jahr 1913 auch „Informationspakete“, das sind 25 unterschiedliche Exemplare des Hauslehrers, die zum Preis von 1,20 M abgegeben werden, ohne dass man jedoch Einfluss darauf nehmen könnte, welche Nummern verschickt werden.413 Im Jahr 1910 wird in der Zeitschrift ein Artikel mit „Urteilen über den Hauslehrer“, zu der im Jahr davor aufgerufen wurde,414 veröffentlicht, eingeleitet durch einen knapp dreiseitigen Artikel, der sich mit der Frage „Wozu der Hauslehrer da ist und was er bringt und leistet“415 befasst. Beide Artikel sind einspaltig gedruckt und unterscheiden sich damit bereits optisch auffällig von der sonst zweispaltigen Aufmachung.416 Der Artikel, der sich mit der Aufgabe des Hauslehrers auseinandersetzt, verortet die Zeitschrift als „Freund der Eltern und Kinder“417 und weist sie

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Vgl. auch Kapitel 3.2. Im Jahrgang 1913 werden diese Informationssendungen dreimal angeboten, nämlich in den Nummern 1, 2 und 43. Agitationspakete hingegen bewirbt Berthold Otto achtmal, nämlich in den Nummern 2, 12, 16, 17, 22, 23, 32 und 43. Otto (HL 1910g): 256. Einige dieser Zuschriften scheinen auch in einer Nummer des „Heiligen Garten“ veröffentlich worden zu sein (Otto (HL 1910a): 2). Otto (HL 1910f). Und beide Artikel scheinen Teil der zu dieser Zeit entstehenden „Probenummer“ zu sein, das schreibt Berthold Otto im „Sommergruß“ dieses Jahrgangs (Otto (HL 1910i)). „Seit zehn Jahren wirkt er als Freund der Eltern und Kinder. Den Eltern ist er ein sehr ernster Berater, aber nicht etwa in der Weise, daß er lediglich Moralpauken hielte, sondern dadurch, daß er einen wesentlichen Teil der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit unmittelbar vormacht. – Da aber die Erziehungs- und Unterrichtsweise der Zukunft ganz und gar vom Spiel und von der Erkenntnisfreude der Kinder ausgeht, so tritt der Hauslehrer den Kindern nicht als pflichtheischender Wissenspauker, sondern als gern gesehener Freund, Berater, Unterhalter und Erzähler gegenüber. Grade dadurch, daß er den Eltern vormacht, wie sie mit ihren Kindern reden sollen, dadurch,

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als besonders für die staatsbürgerliche Erziehung der Kinder geeignet aus, indem er auf die in Altersmundart gehaltenen Artikel über alle nur denkbaren Themen verweist.418 Auch hier steht am Ende ein Aufruf, den Hauslehrer bei anderen bekannt zu machen, der allerdings indirekt formuliert ist: „In Tausenden von Familien ist der Hauslehrer seit zehn Jahren ein gern gesehener Gast. Wenn er das erst in Hundertausenden von Familien sein wird, dann wird es um Unterricht und Erziehung in unserem deutschen Vaterland doch etwas besser stehen als jetzt.“419

In dem folgenden Artikel werden dann 16 der eingesandten Urteile abgedruckt, jeweils mit dem Namen der Verfasserin bzw. des Verfassers. Außer der ersten Referenz, die ein Teilwiederabdruck eines Artikels von Adolph Matthias aus der „Monatsschrift für höhere Schulen“ aus dem Jahr 1902 ist, scheinen alle die veröffentlichten „Urteile“ aus dem Nachgang des Aufrufes zu stammen. Die Verfasserinnen und Verfasser gehören zum Teil zum engeren Kreis der Hauslehrerbestrebungen.420 Der Grundtenor der Aussagen ähnelt sich: in den meisten Fällen wird die Freude der Kinder und der Eltern an der Zeitschrift beschrieben, oft verbunden mit einer Schilderung von durch sie ermöglichten neuen Erfahrungen. Beispielsweise schreibt Ilse von Brandt geb. von dem Hagen aus Königsberg: „Es ist eine solche Fülle, die man empfängt, daß ich das nicht in einigen Sätzen ausdrücken kann. Erstens empfange ich selber (kann wohl sagen, daß ich ganz anders hören und sehen gelernt habe durch den Hauslehrer), zweitens empfangen meine Kinder, und drittens empfange ich am meisten dadurch, daß ich all das Schöne und Neue, das daß ich selbst erlebe, meinen Kindern mitteilen kann und mich an ihrer Freude noch einmal mitfreue. Ich habe schon so oft nach dem Lesen des Hauslehrers das Gefühl ‚was ist es schön Kind zu sein, was ist es schön Mutter zu sein, was ist es überhaupt schön zu leben‘. Es ist so, wie Sie schreiben, das Erkennen ist nicht erzwungene Pflichtarbeit, sondern schönste Freude des Geistes. Durch den Hauslehrer wird man erst auf die Erkenntnisfreude der Kinder aufmerksam, und wenn man erst von der Er-

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daß er solche Elternreden abdruckt, wird er den Kindern zur sehr lieben Lektüre.“ (Otto (HL 1910f): 254; Hervorhebungen im Original) Interessant ist dabei auch, dass Berthold Otto im Großen und Ganzen keine wesentlichen Veränderungen bei den Inhalten seiner Werbestrategien vornimmt. Zwar gibt es im Verlauf der Zeit eine deutlichere Betonung der Eltern als Zielgruppe und eine Betonung der „staatsbürgerlichen“ Inhalte, die Grundstruktur – also natürliche Entwicklung, Fragerecht des Kindes, Antwortpflicht des Erwachsenen, Altersmundart und kindliche Selbsttätigkeit – bleibt aber über die Zeit konstant. Otto (HL 1910f): 255. So etwa Emmy Friedländer, Wilhelm und Helene Frisch, Leni Ausfeld und Pfarrer Hans Spießer.

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kenntnisfreude weiß, denn ist auch sofort die Lehrfreudigkeit da. Also meinen Namen stelle ich gerne zur Verfügung.“421

Im gleichen Jahrgang findet sich unter der Überschrift „Weitere Urteile über den Hauslehrer“422 ein Artikel von Berthold Otto, in dem er zunächst begründet, warum es keine konstante Berichterstattung über Berichte über den Hauslehrer in der Zeitschrift gibt423 und in dem er sich dann mit verschiedenen – positiven wie negativen – Einlassungen Dritter zum Hauslehrer befasst. Otto referiert hier unter anderem einen Artikel aus der „Posener Lehrerzeitung“, in dem Kinder zu Wort kommen, die sich über den Hauslehrer äußern. Die von den Kindern zitierten Äußerungen sind durchweg positiv, ein wesentlicher Aspekt dabei ist die Bevorzugung des Hauslehrers gegenüber dem Lesebuch oder Büchern aus der Bibliothek, da diese nicht immer gut zu verstehen seien.424 Strategisch bedeutsam sind Äußerungen dieser Art, da sie von dritter Seite kommen und damit nicht dem Verdacht einer durch Otto selber geschönten Darstellung der Beurteilung seiner eigenen Werke ausgesetzt sind – sie besitzen also eine andere Autorität als das, was Berthold Otto (oder Kinder seiner Schule) selber über seine Produkte sagen kann. Diesem Zweck dienen auch die Darstellungen seiner Pädagogik an anderen Orten, die sich im Hauslehrer immer wieder finden.425

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Otto (HL 1910g): 257. Otto (HL 1910l). „Eigentlich müßte ich hier im Hauslehrer von allem wenigstens kurz berichten, was über den Hauslehrer gedruckt wird. So machen es alle anderen größeren Bewegungen damit. Die Anhänger einer solchen Bewegung haben eigentlich ein Recht darauf zu wissen, wie viele Gesinnungsgenossen sie haben und wie die Gesinnungsgenossen denken. Also das weiß ich sehr gut; aber trotzdem kann ich das nicht so machen. Es ist das jetzt schon so viel, daß einer damit vollständig zu tun hätte, das alles zu sammeln und kurze Auszüge daraus zu machen; und dann ist das auch noch so eine Sache. Am nützlichsten und erfreulichsten für unsere Freunde sind natürlich solche Äußerungen, wo am meisten gelobt wird. Aber da das meistens so gemacht wird, daß ich persönlich dabei mitgelobt werde, so mag ich das doch nicht immer gern hier im Hauslehrer gedruckt sehen. So sehr ich mich natürlich auch über jedes Lob freue, so ist es doch eine andere Sache sich selbst freuen, oder es selber weiter erzählen.“ (Otto (HL 1910l): 339) Exemplarisch sei eines der Urteile, die Otto zitiert, hier wiedergegeben: „Die Hauslehrer erzählen uns lustige Geschichten. Wenn man einen Hauslehrer durchliest, dann kann man sich eine Woche freuen. Die Geschichten im Hauslehrer sind viel schöner aufgeschrieben, als die im Lesebuch. Die Geschichten im Lesebuch muß man erst erklären, und dann weiß man erst, was los ist. Die Geschichten im Hauslehrer sind uns schon erklärt.“ (Otto (HL 1910l): 340) Beispielsweise die Artikelserie „Was ich mit meinen Schülern bespreche“ von Tilo Schwerdt in den Heften 11, 12/13, 19, 20, 25 und 26 des achten Jahrgangs.

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3.1.5.2. Aufforderungen zur „gemeinsamen Arbeit“ Am 10. Jahrgang lässt sich exemplarisch zeigen, mit welcher Konstanz Otto seine Leserinnen und Leser immer wieder auffordert, sich für die „Sache“ einzusetzen und zwar besonders, indem sie neue Abonnentinnen und Abonnenten werben. In unterschiedlichen Artikeln, die über den ganzen Jahrgang verteilt sind, thematisiert Berthold Otto dies immer wieder und aus verschiedenen Perspektiven. Im Folgenden wird dieses Vorgehen als Werbe-Strategie rekonstruiert.426 Die erste Ausgabe des Hauslehrers von 1910 beginnt mit einem „Neujahrsgruß an Eltern, Lehrer und Erzieher“, in dem Berthold Otto unter anderem beschreibt, in welchem Umfang er sich die Verbreitung seiner Gedanken vorstellt: „Wenn ich die Anzahl der Menschen, die von den Hauslehrerbestrebungen etwas wissen und der Hauptsache nach damit einverstanden sind, auf etwas über 10 000 anschlage, so habe ich sehr hoch gerechnet. Das ist sicherlich schon viel, ganz außerordentlich viel; aber für das, was erreicht werden kann und erreicht werden muß, ist es viel zu wenig. Selbst Hunderttausende würden noch nicht reichen. Es sind ja keine Einzelleistungen, keine Art von Virtuosenspielereien, die wir erstreben, sondern etwas, das sich über das ganze Volk erstrecken soll, das alle tätigen Kräfte des gesamten Volks durchdringen soll.“427

In der fünften Ausgabe des 10. Jahrgangs findet sich dann ein Artikel zu der Frage „Was der Hauslehrer will“.428 Hier entfaltet Berthold Otto die Grundzüge seiner Pädagogik und stellt dabei vor allem auf das Generationenverhältnis ab. Er ruft dabei nahezu alle wesentlichen Elemente, die sein pädagogisches Gebäude beschreiben, auf: das absolute Fragerecht des Kindes, die Antwortpflicht der Erwachsenen, die staatsbürgerliche Erziehung und in diesem Zusammenhang auch das Schülergericht sowie die in seinen Augen wesentliche Gleichberechtigung von gesprochener und geschriebener Sprache. Dieser Artikel kann auch als eine Art „Argumentationshilfe“ verstanden werden, eine Zusammenfassung der zentralen Inhalte. Im Ostergruß, der in Heft 13 erscheint,429 erneuert Berthold Otto seine Hoffnung auf „eine große Menge an neuen Freunden“,430 die für den Hauslehrer 426

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Damit ist nicht ausgesagt, dass Berthold Otto eine bewusst-intentional geplante Strategie verfolgt hat, sondern dass sein Vorgehen in diesem Kontext als strategisch verstanden werden kann. Otto (HL 1910a): 2 (Hervorhebungen im Original). Otto (HL 1910b). Otto (HL 1910b). Otto (HL 1910b): 125.

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gewonnen werden sollen. Dabei setzt er das Ziel der Hauslehrerbestrebungen in den Kontext des Osterfestes: So wie dieses das „allgemeine Fest der Auferstehung“ sei, so arbeite auch er an einer „Auferstehung“: „wir wollen auch die Kräfte, die durch die Ungunst der äußeren Verhältnisse gehemmt sind, zur freien Entwicklung bringen.“431 Daran anschließend präzisiert Otto seine Vorstellung des kindlichen Spracherwerbs unter anderem am Beispiel des Stellenwerts der „alten“ Sprachen und betont dabei die Vorstellung, dass die Muttersprache in einem Kind heranwächst oder von ihm gebildet wird, dass es sie also nicht im klassischen Sinne lernt.432 Am Ende des Ostergrußes beschreibt Otto dann noch einmal sehr eindrücklich die von ihm intendierte Zielsetzung des Hauslehrers: Er will anderen Menschen, insbesondere Erziehern und Eltern, dazu verhelfen, den adäquaten sprachlichen Gebrauch im Umgang mit Kindern zu erlernen. Diese „geistige Umstimmung“ der Erwachsenen ist sein Anliegen – und diesem misst er, wie der Schlusssatz des Artikels zeigt, eine hohe Bedeutung nicht nur für die einzelnen Kinder und Jugendlichen zu: „Und somit wünsche ich allen denen, die mit mir unserem Volksgeist die Auferstehung aus langer Winterzeit wünschen, ein fröhliches Osterfest.“433 Im „Sommergruß an Eltern, Lehrer und Erzieher“,434 der Anfang Juli im Heft 27 erscheint, fordert Berthold Otto seine Leserinnen und Leser explizit auf, Werbung für den Hauslehrer zu machen.435 Diese Aufforderung gab es in einem ganz ähnlichen Artikel auch im Jahr 1908, hier allerdings verbunden mit strategischen Hinweisen auf das „Vorgehen“, das bei einem Gespräch über die Zeitschrift hilfreich sein könnte, so dass hier der inhaltsähnliche aber weitreichendere Artikel aus dem Jahr 1908 genauer dargestellt wird.

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Otto (HL 1910b): 125. „Die Muttersprache wächst in dem kleinen Kinde ohne Lernen. Wenn man das Erwachen der Sprache „sprechen lernen“ nennt, so müßte man ebenso gut das Aufblühen einer Blume als ein „blühen lernen“ nennen.“ (Otto (HL 1910b): 127) Otto (HL 1910b): 130. Otto (HL 1910i). „Ich bitte nun unsere Freunde, auch in diesem Jahre wie in den früheren, die Sommerreise, auf der man ja viele neue Menschen kennen lernt, mit dazu zu benutzen, diese neuen Bekanntschaften auf den Hauslehrer hinzuweisen. Bei allen, die Kinder haben und darüber hinaus auch bei solchen, die Kinder lieb haben, ergibt sich der Anlaß zu einem solchen Hinweis ja ganz von selbst. Man kann keine Fahrt im Eisenbahnwagen zurücklegen, keine Tour, keinen Spaziergang, ohne irgendetwas davon zu sehen, wie Erwachsene mit Kindern umgehen und überall da ist Gelegenheit, den Verkehr, den wir erstreben, zu vergleichen mit dem Verfahren das ein durch mancherlei Theorien beeinflusstes Herkommen jetzt immer noch das nahezu herrschende sein läßt.“ (Otto (HL 1910i): 273)

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Der Sommergruß im achten Jahrgang des Hauslehrers ist eine Aufforderung an Leserinnen und Leser, während ihrer Ferienreise andere Menschen auf die Zeitschrift und ihre Inhalte hinzuweisen. Neben der vorausgesetzten Wichtigkeit, über den Hauslehrer zu sprechen, gibt Berthold Otto dafür zwei Gründe an: Zum einen sei die Ferienzeit eine, in der Menschen sich gern „anders“ geistig beschäftigen möchten, als sie das in den Zeiten können, in denen sie innerlich vor allem mit ihrem Beruf befasst sind. Dieser Umstand sei eine gute Gelegenheit, über Erziehungsfragen im Allgemeinen und die „Hauslehrerbestrebungen“ im Besonderen nachzudenken. Zum anderen habe die Gründung der Schule Berthold Otto eine gewisse Popularität auch in der „Tagespresse“ eingebracht, eine Entwicklung, die gut genutzt werden könne, um seine Inhalte weiter zu verbreiten. Als strategische Hilfsmittel dazu benennt Berthold Otto die Möglichkeit, Probenummern zu beziehen, die verteilt werden können, sowie sein eben erschienenes Buch „Kindesmundart“.436 Neben diesen beiden „äußeren Hilfsmitteln“ beschreibt Otto, wie ein werbendes Gespräch am besten entstehen könnte: „Ganz besonders wirksam aber ist, wie alle unsere Freunde wissen, der Hinweis auf den Hauslehrer und dann möglichst eingehende Gespräche auf Grundlage gemeinsam gelesener Hauslehrernummern. Der Gang dieser Gespräche ist ja bekannt.“437

Im weiteren Verlauf wird der angesprochene „Gang dieser Gespräche“ in Form einer Argumentationshilfe dargestellt,438 und Berthold Otto weist auf potentielle Schwierigkeiten in diesem Gesprächsprozess hin – beispielsweise, dass „ein einzelner Mann oder eine Kategorie von Männern, denen schon ein gewisser Grad an Erkenntnis aufgegangen war, plötzlich wieder auf die Stufe der Nichterkenntnis zurücktreten.“439 Das Ziel des Artikels, von Otto als „ständiger Sieg der Hauslehrerbestrebungen“440 formuliert, ist es, Menschen zu motivieren, die grundlegenden Ideen von Berthold Otto weiter zu verbreiten und ihn zu unterstützen.441 Dazu gibt er seinen Leserinnen und Lesern detaillierte Vorschläge und Hand436 437 438

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Otto (1908). Otto (HL 1908b): 294. „Zuerst wird die Schreibweise des Hauslehrers als albern abgelehnt, dann wird behauptet, so spreche kein Mensch, und von den Geschichten in Altersmundart wird besonders behauptet, so spreche auch kein Kind und das sei nur eine künstliche Nachahmung. Da hilft denn der Hinweis auf die lebendigen Kinder; und grade in der Sommerfrische läßt es sich möglich machen, die Kindersprache unauffällig zu beobachten.“ (Otto (HL 1908b): 294) Otto (HL 1908b): 295. Otto (HL 1908b): 297. Ein weiterer Teil des „Sommergrußes“ ist ein Aufruf zur Subskription für eine Neuauflage der Lateinbriefe, mit der man ebenfalls seine Unterstützung zeigen könne.

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lungsoptionen an die Hand, die, wie der Vorschlag, mit einer Urlaubsbekanntschaft gemeinsam eine Nummer des Hauslehrers zu lesen oder Probenummern der Zeitschrift mit in den Urlaub zu nehmen, sehr weitrechend wirken. Durch die Formulierung des „ständigen Sieges“ bekommt der Unterstützungsaufruf dabei die Konnotation einer „übergeordneten“ Zielsetzung, deren Erreichen offensichtlich als erwünscht vorausgesetzt wird und durch die Steigerung zahlender Kundschaft offenbar befördert werden kann. Sicherlich ist es richtig, dass die so genannten „Mund-Propaganda“, und um nichts anderes handelt es sich hier, ein wichtiger Weg zur Absatzsteigerung ist. Allerdings erschöpft sich Ottos Vorgehensvorschlag gerade nicht darin, dass er die Auflage seiner Zeitschrift erhöhen will, das wird für ihn zum mittelbaren Zweck, das dem Erreichen eines größeren Zieles – nämlich einer vollkommenen Umsetzung seiner Vorstellungen der Schulreform im deutschen Volk – vorausgehen muss. Und gerade dieser Fluchtpunkt ist es, der seine hier vorliegende Argumentation überhaupt erst möglich macht: Für eine Zeitschrift würde man kaum in dem hier genannten Ausmaß werben, wohl aber für eine Bewegung oder eine Pädagogik, die mit einem Heilsversprechen verbunden ist.442 Der am 2.10.1910 abgedruckte Herbstgruß443 enthält an seinem Ende wiederum eine Aufforderung zur „gemeinsamen Arbeit“: „Nun gehen wir aber in ein neues Vierteljahr hinein, hoffentlich mit neuer Kraft zu neuem frischen gemeinsamen Erleben. Was wir hier im Hauslehrer wollen, ist ja nicht mehr lediglich das Werk eines einzelnen – ist es vielmehr nie gewesen – sondern ein Werk an dem in Tausenden von Familien mit verschiedener Kraft, aber mit gleicher Hingebung gearbeitet wird. Und zu dieser Arbeit wünsche ich allen Lesern, an die sich diese Worte richten, frischen Mut und tatfrohes Gelingen.“444

Wenn Berthold Otto hier von „gemeinsamer Arbeit“ spricht, hat diese Aussage eine doppelte Bedeutung: Sie ist integrativ, und gleichzeitig beinhaltet sie eine Aufforderung. Integrativ erscheint sie, weil Otto wiederum die Idee der symbolisch vermittelten Gemeinschaft, die sich durch geteilte Handlungspraxen und die (unterstellte) gleiche inhaltliche Zielsetzung konstituiert, aufnimmt. Dabei scheint hier die Bedeutung auf, die Berthold Otto seiner Pädagogik beimisst, nämlich dass durch ihre Verbreitung und Umsetzung ein anderes Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern entsteht und dass 442

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Gerade die Vorstellung, dass die Diskussion der gemeinsamen Lektüre eines Hauslehrers eine besonders gute Werbemöglichkeit sei, kann als verwandt zu religiösen Sozialpraxen verstanden werden: Das gemeinsame Lesen der Heiligen Schrift und der Austausch darüber sind vor allem in protestantisch geprägten Religionsgemeinschaften durchaus üblich. Otto (HL 1910m). Otto (HL 1910m): 429.

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diese Kinder dann als Erwachsene einen positiven Einfluss auf die soziale Wirklichkeit haben werden. Mit dieser Erwartung einer Verbesserung der Gesellschaft geht auch der Aufforderungscharakter einher: Dieses Ziel kann nur durch Veränderungen in vielen einzelnen Familien geschehen – in denen, die bereits nach Ottos Vorstellungen mit ihren Kindern umgehen, und in denen, die noch „geworben“ werden müssen.445 Die Idee einer gemeinsamen Arbeit findet sich dann auch noch einmal am Ende des letzten Artikels dieser Art im Jahrgang 1910, der mit „Allerlei Gedanken beim Ende des Jahrzehnts“446 überschrieben ist. Hier ordnet Berthold Otto diese Vorstellung nicht in das Konzept seiner Pädagogik ein, sondern er macht eine eher generelle Aussage darüber, dass die Welt sich nur dann verbessern wird, wenn jeder darum bemüht ist.447 Ein weiterer Ort der gemeinsamen Arbeit – neben der einzelnen Familie – sind die Weimarer Tagungen, auf denen Berthold Otto zunächst primär seine Arbeit bekannt macht. Im Lauf der Zeit dienen die Tagungen zunehmend dem Austausch und der Vernetzung, bis sie schließlich zu exklusiven Veranstaltungen der Hauslehrerbestrebungen werden.

Exkurs: Die Weimarer Tagungen Im Jahr 1904 findet zu Pfingsten zum ersten Mal der von Arthur Schulz und seiner völkisch-lebensreformerisch ausgerichteten „Gesellschaft für Deutsche Erziehung“448 veranstaltete „Allgemeine Tag für deutsche Erziehung“ statt. 445

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Freilich stellt sich die Frage, ob Otto hier nicht eine sehr optimistische Deutung dessen, was in einer Familie geschieht, die seine Zeitschrift abonniert hat, unternimmt. Wichtig für den vorliegenden Kontext ist das, was er zu vermitteln versucht, in diesem Fall ist es die Aufforderung zur „gemeinsamen Arbeit“, die er als wesentliches Element für die Veränderung des Gesellschaftlichen ausweist. Das kann als Versuch, den Abonnentinnen und Abonnenten ein Gefühl von Wichtigkeit zu vermitteln, wenn sie nach seinen Vorstellungen mit ihren Kindern leben, gedeutet werden. Otto (HL 1910n). „Das ist sicher, besser werden kann die Welt nur, wenn jeder seine Kräfte gut gebraucht, wenn eben jeder daran mitarbeitet, daß die Welt besser wird. Und da muß man nicht denken, daß dieses Mitarbeiten erst in einer späteren Lebenszeit anfinge, etwa wenn einer das Oberlehrerexamen oder das Assessorexamen oder das medizinische Staatsexamen gemacht hat.“ (Otto (HL 1910n): 567) Der Gesellschaft für Deutsche Erziehung gehörten neben Ludwig Gurlitt (1855-1931) unter anderem Ernst Wachler (1871-1945), Paul Förster (1844-1925) und Johannes Nickol (Lebensdaten unbekannt, Abitur 1889 in Berlin) an. Ernst Wachler begründet 1903 das Bergtheater Thale und gibt die Zeitschrift „Deutsche Volksbühne“ heraus. Er ist dem heidnischen deutsch-völkischen Spektrum zuzuordnen, war u.a. Mitglied in

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Das Ziel, und damit ist die Gesellschaft für deutsche Erziehung in der Nähe von Wilhelm Schwaners (1863-1944) Bund deutscher Volkserzieher anzusiedeln, ist eine auf völkische Erneuerung ausgelegte Schulpolitik und daraus resultierend die Forderung nach einer Umgestaltung des bestehenden Schulsystems zu einem germanisch-völkischen.449 Diese Tagungen,450 die bis 1913 jährlich veranstaltet werden, sollen vor allem der Vernetzung und der öffentlichen Sichtbarkeit der Anliegen von Arthur Schulz und seiner „Gesellschaft“ dienen, also Austausch- und Sammlungsfunktionen erfüllen.451 Thematisch orientieren sich die Vorträge im weiteren Sinne an Themen aus dem Kontext der Schulreform. Berthold Otto spricht mehrfach auf den Tagungen, thematisch dabei immer über seine eigene Pädagogik,452 und auch andere Schulreformer nutzen diese Plattform für die Darstellung ihrer eigenen Reformprojekte oder sind zumindest Teilnehmer.453 Die Themen der Vorträge sind dabei vielfältig, insgesamt fällt aber eine völkisch-nationale Orientierung auf,454 und es kann in diesem Rahmen

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der Guido-von-List-Gesellschaft und stand in Kontakt mit Jörg Lanz von Liebenfels (1874-1955), dem Gründer des rassistischen Neutempler-Ordens. Paul Förster, Lehrer, initiierte 1880 zusammen mit Max Liebermann zu Sonnenberg im Jahr 1880 eine Antisemitismus-Petition, deren Ziel die Rücknahme der Gleichstellungsgesetze der Juden war. Er war Mitbegründer der „Deutschen Antisemitischen Vereinigung“, die sich 1889 mit anderen Bewegungen zur Deutschsozialen Partei zusammenschloss (vgl. Ulbricht (1999); Bergmann (1999)). Vgl. Puschner (2001): 136f. Die Verhandlungen der ersten drei Tagungen werden in Buchform von der „Gesellschaft für Deutsche Erziehung“ veröffentlicht (Verhandlungen (1904, 1905, 1906)). Das geht auch aus der Eröffnungsrede, die Johannes Nickol anlässlich des „Ersten Allgemeinen Tages für deutsche Erziehung“ gehalten hat, hervor: „Denn der Zweck des Erziehungstages liegt nicht nur in den Reden, welche dabei gehalten werden sollen, d.i. in einer Kundgebung an die Öffentlichkeit. Fast ebenso wichtig erscheint es uns, daß die Damen und Herren, welche schon bisher so tapfer für unsere Ziele gewirkt haben, einander näher kennenlernen.“ (Verhandlungen (1904): 7) So beispielsweise 1905 über „Geistigen Verkehr mit Kindern“ (Verhandlungen (1905): 1); 1908 über „Erfahrungen im Gesamtunterricht“ (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 4), 1909 über „Wege und Ziele der Schulreform“ (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 7). Georg Kerschensteiner wird 1909 in einem Bericht als Diskutant erwähnt (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 6); Hermann Lietz trägt 1912 zu „Forderung und Durchführung deutscher Schulreform“ vor (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 36). Bei vielen dieser Vorträge wird die nationale Orientierung der Tagungen deutlich: Beispielsweise spricht Arthur Schulz 1906 über „Die deutsche Erziehung und ihre Gegner“, ein Oberlehrer Dr. Albert im gleichen Jahr über „Die Begabung des deutschen Volkes“ (Verhandlungen (1906): 1). 1907 trägt Hermann Obrist über „Deutsche und undeutsche Kunst“ vor (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 1). Im Jahr 1912 hält Paul Förster einen Vortrag zum Thema „Das Mädchengymnasium,

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von einer gewissen inhaltlichen und personellen Offenheit für diese Orientierung gesprochen werden.455 Die „Weimarer Tagungen“ werden hier vor allem aus der Perspektive ihrer Darstellung in der Zeitschrift und ihrer Funktion für die Hauslehrerbestrebungen dargestellt und analysiert.456 Die Tagungen werden kontinuierlich im Hauslehrer angekündigt, später wird über sie berichtet. So findet sich – hier exemplarisch vorgestellt – im 10. Jahrgang des Hauslehrers folgende Einladung: „Zur Teilnahme an der Tagung ist jeder Freund der Sache, insbesondere auch jeder Freund der Hauslehrerbestrebungen, übrigens auch jeder – einerlei ob als Freund oder Feind – der die Bestrebungen kennen lernen will, ohne weiteres berechtigt. Wer sich in die ausliegende Liste einträgt, erhält eine Teilnehmerkarte, die in der Regel bei dem Besuch Weimarer Sehenswürdigkeiten Preisermäßigungen erwirkt. Die Sitzungen finden im Saal der Erholung statt und beginnen in der Regel morgens um 9 Uhr. Am Pfingstmontag Abend nach 8 Uhr findet eine erste Zusammenkunft der dann schon eingetroffenen Teilnehmer ebenfalls in der Erholung statt. Wir bitten nochmals unsere Freunde, recht zahlreich zu erscheinen.“457

Am 5.6. erscheint dann ein Artikel über den Verlauf der Tagung: unter anderem wird ein Telegramm, das von den Anwesenden an den Kaiser abgesandt wurde, zitiert,458 und es werden die konstruktiven Ziele der Tagung betont.459

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eine Gefahr für das deutsche Volk“ und Heinrich Driesmans beschäftigt sich im gleichen Jahr mit der Frage „Hat die Rassenforschung Bedeutung für Schule und Erziehung?“ (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto, OT 644 Bl. 36) Darauf weist Berthold Otto auch bei seiner Einladung zur achten Weimarer Tagung 1911 hin: „Es kommen dort sehr viele wirkliche Persönlichkeiten zusammen; es ist daher auch gänzlich undenkbar, daß etwa alle in allen Punkten miteinander einverstanden wären. Es bestehen in vielen Dingen die allergrößten Meinungsverschiedenheiten; aber eben das gibt privatim noch mehr als in der öffentlichen Diskussion Gelegenheit zur fruchtbaren Aussprache.“ (Otto (HL 1911a): 295) Es sind weitere, umfangreichere Analyseperspektiven denkbar: Die Tagungen könnten anhand ihrer Rednerinnen und Redner für ihre Funktion einer allgemeiner als hier gefassten Schulreformbewegung interpretiert werden. Für die vorliegende Fragestellung hingegen ist es bedeutsam, die Entwicklung der Funktion der Tagungen für Berthold Otto zu erfassen. Generell steht eine detaillierte Aufarbeitung der Rolle von Arthur Schulz für die Schulreformbewegung noch aus. Otto (HL 1910d): 209. „Eure Majestät, dem Begründer der deutschen Schulreform, senden Schulreformer aus allen Parteien in geziemender Ehrfurcht ihre Huldigung. In siebenjähriger Arbeit ist es uns gelungen, den Gedanken, die eure Majestät der Zeit vorauseilend, vor zwanzig Jahren der Reformkommission darboten, eine Anzahl tatkräftiger Vorkämpfer zu werben. Die neue Generation wird für den pädagogischen Reformruf Eurer Majestät empfänglich sein.“ (Otto (HL 1910e): 242)

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In der Ausgabe vom 19.6.1910 gibt es dann eine Zusammenfassung von Ottos Vortrag auf der Weimarer Tagung,460 und später wird auf den ausführlichen Bericht von Rudolf Paulsen, der in der Zeitschrift „Der Heilige Garten“ erscheint, verwiesen.461 1912 kommt es zu einer Veränderung: Berthold Otto schreibt in seinem „Ostergruß an Eltern, Lehrer und Erzieher“,462 dass es anlässlich der kommenden Weimarer Pfingsttagung einen Abend geben wird, der sich speziell an die „Hauslehrerfreunde“ richten soll. Dieser soll zwei Funktionen haben: Zum einen soll er einen exklusiven Raum für die Anhängerinnen und Anhänger Ottos darstellen, zum anderen wünscht sich Otto auch, dass das dort Besprochene in die Tagung zurückstrahlt. Er begründet seinen Vorschlag so: „Meine Leser wissen, daß ich an der Gesellschaft für deutsche Erziehung während des ganzen Bestehens dieser Gesellschaft mitgewirkt habe und daß ich regelmäßig die Tagungen in Weimar besucht und dort auch öfter gesprochen habe. Ich habe dort namentlich in den letzten Jahren eine Anzahl von Freunden des Hauslehrers gefunden, und wir haben uns auch im engeren Kreise in mancher Hinsicht ausgesprochen. Ich meine, das ließe sich organisatorisch noch etwas erweitern. Wenn alle die, die mich persönlich über unsere Bestrebungen hören wollen, sich entschließen könnten, am Pfingstdienstag und Mittwoch in Weimar zu sein, dann hätten wir trefflich Gelegenheit, uns dort auszusprechen.“463

Das Vorhaben, ein spezielles Treffen für die „Hauslehrerfreunde“ zu veranstalten, soll keine Separierung von der „Gesellschaft für Deutsche Erziehung“ sein, Otto verweist explizit auf seine langjährige Verbundenheit. Dennoch stellt er hier den Bedarf eines Treffens fest, das sich speziell an seine eigenen Anhängerinnen und Anhänger richtet und das damit inhaltlich wesentlich mehr auf ihn und seine Inhalte zugeschnitten ist. Berthold Otto hat die Tagungen, das legen zumindest die Titel und Themen seiner Vorträge nahe, schon immer primär zur Darstellung seiner eigenen Inhalte genutzt.

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„Auch diese Weimarer Tagung hat jedem, der hören und sehen will wieder gezeigt, daß die Weimarer Reformer bei weitem nicht so schlimm sind, wie der Ruf, den sie bei ihren Gegnern haben. Die Leute, die da zusammenkommen, wollen nicht zerstören, sondern aufbauen.“ (Otto (HL 1910e): 242) Otto (HL 1910f). Otto (HL 1910k): 319. Der Bericht findet sich in: „Der Heilige Garten“ Jg. 5/1910, H 2-3, Februar-Juni 1910: 81-97. Außerdem wurden von diesem Bericht Sonderdrucke angefertigt, ein Exemplar befindet sich im Nachlass (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 12-20). Otto (HL 1912a). Otto (HL 1912a): 155.

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In demselben Artikel avisiert Otto auch zum ersten Mal die Idee der Gründung einer „Lesergesellschaft“.464 Und tatsächlich wird der Berthold-OttoVerein auch an diesem ersten „Abend der Hauslehrerfreunde“ gegründet. Damit kann die Einrichtung einer eigenen „Tagung in der Tagung“ als strategisches Vorgehen für die Ausweitung und besseren Strukturierung der Hauslehrerbestrebungen interpretiert werden,465 die mit dem Jahr 1911 beginnt. Aus dieser Perspektive kann die Einrichtung einer eigenständigen Veranstaltung auch als Beginn einer Ablösung aus dem Zusammenhang „Gesellschaft für Deutsche Erziehung“ als Gesamtkontext hin zu einer selbständigen Bewegung, die sich auch nach außen als solche darstellt, verstanden werden. Die letzte gemeinsame Tagung findet im Jahr 1913 wieder zu Pfingsten statt. Hier hält Berthold Otto einen Vortrag zum Thema „Reformation der Schule“.466 Es ist davon auszugehen, dass dieser sich auf das gleichnamige Buch Ottos, das im Jahr 1913 erscheint, bezieht, und zu dieser Zeit thematisch in allen Bereichen der Hauslehrerbewegung thematisiert wird.467 Im Jahr 1914 kommt es dann zu einer ersten eigenen Tagung, die unter dem Namen „Berthold-Otto-Tag / Tagung der Gesinnungsgenossen Berthold Ottos“468 stattfindet. Berthold Otto begründet dies mit einem Wechsel der Organisationsstruktur des „Allgemeinen Tages für deutsche Erziehung“, der ab 1914 alternierend in Weimar und an einem anderen Ort stattfinden soll. Diese Veränderung wird für die Zusammenkunft der „Hauslehrerfreunde“ als ungünstig empfunden, so dass es zu einer eigenständigen Tagung kommt.469 Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern befinden sich viele Personen,

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Otto (HL 1912a): 155. Im Jahr 1912 findet der „Allgemeine Tag für deutsche Erziehung“ und damit auch der erste „Abend der Hauslehrerfreunde“ erst im Herbst, genauer am 30.9.1912 statt (Otto (HL 1912b): 225; Otto (HL 1912c): 417). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 113. Vgl. dazu das Kapitel 3.2. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 303 Bl. 1 und OT 645 Bl. 4. „Pfingstdienstag also am 3. Juni, Nachmittags 5 Uhr, findet unsere Zusammenkunft in Weimar im Russischen Hof statt. Leider ist ja diesmal der Tag der deutschen Erziehung nicht zu Pfingsten in Weimar versammelt, wir werden also manchen nicht sehen, den wir sonst auch gern in unserer Mitte begrüßten. Sonst aber werden wir es bei diesem Zusammensein ganz eben halten wie bei denen, die bisher im Anschluß an die Weimarer Tagung stattfanden: wir werden uns ganz in Art des Gesamtunterrichts betätigen; wer etwas zu fragen hat, wird fragen; wer etwas mitzuteilen hat, wird es mitteilen. Zu unserer Freude werden sich viele beteiligen, die sich in regster Weise nach unserer Art im Unterricht betätigen; wir können also sicher erwarten, daß Mitteilungen und Erörterungen nach allen Seiten hin lebhafte Anregungen geben werden.“ (Otto (HL 1914b): 225)

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die auch sonst als aktive Mitstreiterinnen und Mitstreiter in Erscheinung treten.470 Der Erste Weltkrieg stellt auch hier eine Zäsur dar, die Tagungen werden erst 1926 unter dem Namen „Volksorganischer Erziehungstag“ (1926-1927) und darauf folgend „Volksorganische Tagung“ (1928-1932) wieder aufgenommen.471 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es auch im Kontext der Tagungen zu einer Ausdifferenzierung und Expansion des Unternehmens Berthold Otto gekommen ist. War Berthold Otto selber zunächst aktiver Teilnehmer des „Allgemeinen Deutschen Erziehungstages“, den er als Plattform für die Verbreitung seiner Konzepte nutzen konnte, entsteht in zeitlicher Nähe zu anderen Prozessen, die sein Unternehmen professionalisierten, eine Entwicklung zu einer eigenen Tagung – zunächst als eigene Veranstaltung im Rahmen des Erziehungstages, im Jahr 1914 dann als vollkommen eigenständige Form. Dieser Prozess speist sich sicherlich auch durch ein zunehmendes Interesse und eine zunehmende Institutionalisierung von Ideen der Schulreform, die als Alleinstellungsmerkmal für ein pädagogisches Unternehmen nicht mehr genügt. Dadurch wird es ebenfalls notwendig, neue Alleinstellungsmerkmale und neue Organisationsformen zu entwickeln – bei Berthold Otto ist das Erstere durch eine stärkere Betonung seiner gesellschaftstheoretischen Grundlagen, Letzteres durch die Gründung des Berthold-Otto-Vereins geschehen. Ein weiteres zentrales Element der Absatzförderung ist die Produktdiversifikation. Diese findet zum einen durch die „Beilage in Altersmundart“ statt, die sich an Kinder wendet, zum anderen gibt es den Versuch, mit der Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ einen Titel zu etablieren, der sich primär an Erwachsene mit eher theoretischem Interesse wendet.

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Unter anderem: Jakob Pfalzgraf, Katharine Otto, Dr. von Gyzycki (Schulrat im Berliner Hilfsschulwesen), Heinrich Burhenne, Paula Jolowicz, Georg Kerner, Bernhard Becker, Emilie und Edmund Sträter, Eduard Reimpell, Benno Menzel, Marianne Geibel, Askan Schmitt und die Leiterin des Schulzirkels in Frankfurt, Frl. Blitstein (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 303, Bl. 1-2). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 646. Die Namensänderung weist auch hier auf die stärkere Betonung des (gesellschafts-)politischen Aspekts von Ottos Werk in dieser Zeit hin.

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3.1.6. Produktdiversifikation: Die „Zukunftsschule“ Im Herbst 1913 erscheint die erste Nummer der Zeitschrift „Die Zukunftsschule. Monatsschrift im Sinne der Bestrebungen Berthold Ottos“. Herausgegeben wird sie von Georg Kerner im Verlag von Berthold Otto. Die „Zukunftsschule“ richtet sich explizit an Erwachsene und ist damit eine Ergänzung zum Hauslehrer, dessen Zielgruppe primär Kinder und Familien sind. Inhaltlich stellt die Zeitschrift vollkommen auf die Hauslehrerbestrebungen und Berthold Otto ab. Es werden vor allem Berichte und theoretische Artikel, zum Teil in erheblicher Länge, veröffentlicht. Die Autorinnen und Autoren stammen – neben Georg Kerner und Berthold Otto selber – nahezu alle aus dem unmittelbaren Umfeld der Hauslehrerbestrebungen. Insgesamt sind neun Nummern der Zeitschrift erschienen, die Probenummer mitgerechnet. Die letzte Ausgabe datiert von Juni 1914, die Zeitschrift wird aus Kriegsgründen eingestellt und erscheint danach nicht mehr. Um die Bedeutung der „Zukunftsschule“ für das Unternehmen Berthold Otto erfassen zu können, wird zunächst, ausgehend von der Probenummer, ihre Programmatik rekonstruiert und in einem zweiten Schritt untersucht, in welchem Verhältnis die Zeitschrift zu anderen Aspekten der Öffentlichkeitsarbeit der Hauslehrerbestrebungen steht.

3.1.6.1. Programmatik In der ersten Nummer, der Probenummer, beschreibt Georg Kerner einführend das Programm der Zeitschrift472 und führt den schon durch den Untertitel gegebenen Zusammenhang zu Berthold Otto weiter aus. Dabei stellt Kerner vor allem auf die Eigenaktivität des Kindes ab, die durch die zeitgenössische „Zwangsschule“473 gestört werde. Gleichzeitig kritisiert er die Haltung der Eltern, die Kinder „fest an die Hand“ zu nehmen und sie „von vorneherein auf den rechten Weg“ zu leiten. Aus dieser Kritik heraus beschreibt er dann, welche Aufgaben er für die Zeitschrift sieht: „Nun, es wird mit zu den Aufgaben dieses Blattes gehören, das Sicherheitsgefühl des Erwachsenen, mit dem er über den rechten Weg zur rechten Bildung Bescheid zu wis472 473

Kerner (ZS 1913). Die Schule ist deshalb eine Zwangsschule, weil die Lehrpläne der kindlichen Eigenaktivität widersprechen. Damit entsteht eine Frontstellung zwischen Kindern und Lehrern, die verhindert, dass die beiden Gruppen in der Schule freiwillig zusammenarbeiten. Entsprechend benötigt die Schule Zwang, um zu funktionieren. Und auch das Berechtigungswesen sieht Kerner aus dieser Perspektive: Es zwinge die Eltern, die Kinder in diese Schulen zu schicken, weil nur hier die für die spätere wirtschaftliche Existenz notwendigen Zeugnisse zu erhalten sind (vgl. Kerner (ZS 1913): 1).

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sen glaubt, etwas zu erschüttern, ihm dafür aber ein um so stärkeres Bewußtsein von der Kraft zu geben, mit der ein Kind sich in seinem dunklen Drang des Weges bewußt ist, der es in die Zukunft führt, in seine Zukunft, die ihm vom Schicksal bestimmt ist und für die es von der Natur mit reichen Kräften ausgestattet ist.“474

Diese Vorstellung entspricht genau dem, was auch Berthold Otto pädagogisch formuliert und fordert: das Kind ist in seiner Entwicklung eigengesetzlich und für seinen eigenen Weg mit den dafür notwendigen Eigenschaften ausgestattet, danach muss die Pädagogik ausgerichtet werden. Neben dieser Begründungsfigur, die auf das Kind als Individuum abstellt, entwickelt Georg Kerner noch eine weitere, die einen menschheitsgeschichtlichen Bezug hat: „Gäbe es eine Entwicklung, einen Fortschritt der Menschheit oder einzelner Völker, wenn das aufwachsende Geschlecht nur dieselben Wege gehen dürfte, die das Elternhaus schon gegangen ist? Ist es wirklich nötig, daß gerade die Tüchtigsten, also die eigentlichen Zukunftsträger unter den Jüngeren, sich immer erst unter furchtbaren Kämpfen gegen die eignen Eltern und Lehrmeister die Bahn frei machen müssen? Soll man etwa sagen, der Schulzwang sei deshalb so segensreich, damit im Kampf gegen ihn das junge Geschlecht zur Freiheit erstarke? Das wäre doch grausamer Hohn.“475

Die Ermöglichung einer eigengesetzlichen kindlichen Entwicklung – jenseits von Zwangsschule und Vorgaben durch Erwachsene – ist, so argumentiert Kerner, auch konstitutiv für die Weiterentwicklung der Menschheit. Das „junge Geschlecht“ soll seine Kraft, seine Energie nicht damit verschwenden müssen, gegen ein System zu kämpfen, sondern sich seiner eigenen Entwicklung und damit der Menschheitsentwicklung widmen können. Um das zu erreichen, gibt es nur einen Weg, und das ist der von Otto vorgeschlagene und praktizierte „geistige Verkehr mit Kindern“. Ausgehend davon positioniert sich die „Zukunftsschule“ nun als Blatt, das die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen dieses geistigen Verkehrs in ihr Zentrum stellen will: „Je größer der Kreis der Leser geworden ist, je mehr Lehrer und Eltern versuchten, die neuen Ideen, soweit sie es können oder dürfen, in die Wirklichkeit zu übersetzen, um so mehr stellt sich das Bedürfnis nach einem Blatt heraus, in dem all die Probleme, die da auftauchen, besprochen werden können. Es muß jeder, der etwas geleistet hat, seine Erfahrungen mitteilen können, damit die andern davon lernen oder wenigstens daraus Mut schöpfen. Es muß auch die Gelegenheit gegeben sein, Bedenken auszusprechen, damit wir sie entweder mit Hilfe unserer Erfahrungen zerstreuen können oder uns bewußt machen, vor wie tiefe Probleme uns dies Suchen und Vorwärtsschreiten auf neuen Wegen führt!“476 474 475 476

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Kerner greift hier also eine Zielsetzung, die auch Otto immer wieder formuliert hat, auf: Es geht um den Austausch gemachter Erfahrungen im Umgang mit den Kindern nach der Pädagogik Ottos und um Vernetzung. Dabei soll die Zeitschrift dezidiert für Erwachsene bestimmt sein und damit eine Leerstelle, die im Hauslehrer besteht, füllen477 und gleichzeitig zu einer Plattform für die „Praktikerinnen und Praktiker“ werden, auf der die gemeinsame Arbeit reflektiert und weitergeführt wird. Dabei gibt es neben der Schulreform ein weiteres übergeordnetes Ziel. Georg Kerner plädiert – auch hier wieder ganz im Sinne Berthold Ottos – für die Neufundierung einer Wissenschaft vom Kind: „So wollen wir auf diese Weise hinaus auf eine Wissenschaft vom Kinde; auf eine Wissenschaft seiner Sprache, seiner Spiele, seiner Entwicklungsstufen, seiner Art, Herr zu werden über sich und sich einzufügen in seine Umwelt. Und zwar soll es eine Wissenschaft sein, die aus der Liebe zum Kinde hervorgeht; und wir meinen, daß das im Grunde die einzig mögliche Wissenschaft ist.“478

Damit sind Zielgruppe und inhaltliches Programm der Zeitschrift beschrieben: Sie richtet sich an Erwachsene, die Erfahrung mit der Otto-Pädagogik haben oder machen wollen, und dient sowohl der Darstellung theoretischer Auseinandersetzungen als auch dem Austausch über eigenes praktisches Handeln. Zusammengebunden wird diese Darstellung mit der Vorstellung einer „gemeinsamen Arbeit“ für die Schulreform und die Entwicklung einer neuen wissenschaftlichen Perspektive auf das Kind. Am Ende seiner Vorrede verdeutlicht Kerner die gewünschte Reichweite der von ihm vorgestellten Ziele: „Dienen soll diese Arbeit unserm ganzen Volke, wie sie nur durch unser Volk bestehen kann. Denn wir sind der Meinung, daß diese Ideen, die wir hier entwickelt haben und weiter entwickeln wollen, nur dann von wahrem Wert sind, wenn es nicht geistreiche Ideen eines Einzelnen oder eines kleinen Kreises Bevorzugter sind, sondern wenn sich in ihm das offenbart, was in der Seele unsres Volkes als Entwicklungsdrang zur Zukunft wach zu werden beginnt. In diesem Sinne fassen wir Berthold Otto und seine Mitarbeiter als die Träger des Zukunftsbewußtseins unsres Volkes auf.“479

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Diese Leerstelle, also die primär theoretischen Auseinandersetzungen, wurden zeitweise im Hauslehrer durch die so genannte „Elternbeilage“ ausgefüllt, in der beispielsweise Kapitel aus „Vom königlichen Amt der Eltern“(Otto 1906) vorabgedruckt wurden. Auch der Hauslehrer selber enthielt immer wieder theoretische Artikel, allerdings stellten diese nur einen geringen Teil der dort publizierten Texte dar. Die „Zukunftsschule“ wird explizit als deren Fortführung beworben (s.u.). Kerner (ZS 1913): 3f. Kerner (ZS 1913): 5f.

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Die „Zukunftsschule“ formuliert zwar in ihrer programmatischen Selbstdarstellung vor allem Interaktion und Erfahrungsaustausch als zentrales Anliegen, löst dies aber nur mittelbar ein. In den insgesamt neun erschienenen Ausgaben sind 45 Artikel publiziert. Davon sind wiederum neun Erfahrungsberichte von Dritten, die meisten allerdings stammen aus dem direkten Umfeld der Hauslehrerbestrebungen.480 Georg Kerner veröffentlicht fünf Protokolle über die Entwicklung seiner eigenen Tochter, die im eigentlichen Sinne die Form des von Berthold Otto favorisierten Materials aufweisen.481 Weitere sieben Beiträge sind Ankündigungen des Berthold-Otto-Vereins, die in der Regel mit den im Hauslehrer veröffentlichten identisch sind. Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt der Zeitschrift besteht aus Artikeln, die Wiedergaben von Vorträgen Berthold Ottos sind. Zwar handelt es sich dabei lediglich um fünf Beiträge, dazu kommen der Bericht vom „Hauslehrerabend“ der Weimarer Tagung 1912 und eine ausführliche Darstellung der „Grundgedanken und Betätigung“ der Hauslehrerschule, der die gesamte neunte Nummer umfasst – diese insgesamt sieben Beiträge sind allerdings die ausführlichsten und erstrecken sich zum Teil über mehr als die Hälfte einer Ausgabe482. Nicht zuletzt befindet sich in der zweiten Ausgabe auch der Briefwechsel zwischen dem Vertreter des Rein’schen Universitätsseminares und Berthold Otto.483

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Von Heinrich Burhenne finden sich folgende Artikel: „Heimatmundart und Schule. Mundartproben aus Niederdorf-Herongen (Burhenne (ZS 1914a)); „Fragestunde“ (Burhenne (ZS 1914b)). Von Jakob Pfalzgraf stammen drei Beiträge: „Über die Einrichtungen der Zukunftsschule“ (Pfalzgraf (ZS 1914a)); „Eine Gesamtunterrichtsstunde in einer Mädchenoberklasse der Volksschule“ (Pfalzgraf (ZS 1914b)); „Pirmasenser Ortsmundart“ (Pfalzgraf (ZS 1914c)). Eduard Reimpell, Lehrer an der BertholdOtto-Schule ist ebenfalls mit drei Artikeln vertreten: „Die ‚Extravaganz‘ in der Arbeit“ (Reimpell (ZS 1914a)); „Mein Kind in Italien, Deutschland und Brasilien. Beschrieben von Mutter Anna. Mit ihrer Erlaubnis 1914 zum Druck gegeben durch Eduard Reimpell“ (Reimpell (ZS 1914b)); „Mein Kind in Italien, Deutschland und Brasilien. Von Mutter Anna. Mitgeteilt von Eduard Reimpell“ (Reimpell (ZS 1914c)). Sie sind den Berichten, die Berthold Otto über die Entwicklung seiner jüngsten Tochter Helga im Hauslehrer und später auch als Buch veröffentlicht hat, sehr ähnlich. „Vom Abend der Hauslehrerfreunde in Weimar Pfingsten 1913. Aufgeschrieben von Klara Sträter“ (Sträter (ZS 1913)); „Die volkorganischen Einrichtungen der Zukunftsschule. Vortrag von Berthold Otto, gehalten im Rathause zu Charlottenburg, in der Ortsgruppe des Bundes für Schulreform, am 31. Oktober, abends 8 Uhr“ (Otto (ZS 1914a)). Otto (ZS 1913). Es handelt sich dabei um drei Schreiben: zwei von einem Oberlehrer Böhm, der das Seminar vertritt, und eines von Berthold Otto. Um diese Hospitation herum entstand eine ganze Reihe von Aktivitäten (vgl. dazu Kapitel 3.2.).

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3.1.6.2. Die Rolle der Zeitschrift im Unternehmen Berthold Otto484 Sicherlich muss bei der Einordnung der Zeitschrift in Rechnung gestellt werden, dass sie nur über einen Zeitraum von knapp neun Monaten erschien und damit wenig Möglichkeit hatte, sich zu etablieren. Das inhaltliche Programm ist, auch wenn es nicht genau das einzulösen vermag, was Georg Kerner angekündigt hat, ambitioniert, dabei aber wenig innovativ: Durch die hier veröffentlichten Artikel, die zum Teil wesentlich ausführlicher sind als die im Hauslehrer, können Themen intensiver und anschaulicher dargestellt werden, ohne dass sie sich über mehrere Ausgaben verteilen, wie das im Hauslehrer der Fall ist. Gleichzeitig ermöglicht die „Zukunftsschule“ einen Einblick in die Hauslehrerbestrebungen: Es wird pädagogisches Anschauungsmaterial veröffentlicht – sowohl aus dem schulischen Kontext, allerdings nicht aus der Berthold-Otto-Schule, als auch Entwicklungsbeobachtungen – aber auch inhaltliche Vorträge von Berthold Otto und der Bericht über den Abend der Hauslehrerfreunde samt der dort geführten Diskussionen. Trotzdem geht die „Zukunftsschule“ nicht über das inhaltliche Programm Ottos hinaus. Sie stellt lediglich einen anderen Zuschnitt und andere Zugangsmöglichkeiten zu seinen Themen dar, ihre Eigenständigkeit als Zeitschrift ist also in der Form, nicht aber in den Inhalten begründet. Diese Inhalte können als eine Art inhaltlicher „Background“ dessen, was Berthold Otto im Hauslehrer darstellt, verstanden werden, so dass die „Zukunftsschule“ als seine inhaltliche Verlängerung und Vertiefung erscheint. Durch ihre Programmatik wendet sich die „Zukunftsschule“ an ein anderes Publikum und soll, das ist vermutlich eine Intention, zusätzlich neue Personenkreise, die bisher mit dem Hauslehrer oder Berthold Otto nicht oder nur marginal in Berührung gekommen sind, erreichen bzw. erschließen.485 Es handelt sich also um eine so genannte Produktdiversifikation: Ein inhaltlich

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Im Kontext des Unternehmens Berthold Otto könnte es naheliegen, die „Zukunftsschule“ als eine Wiederaufnahme der Zeitschrift „Der Heilige Garten. Beiträge zur Erforschung der Kindheit“, die zwischen 1906 und 1910 von Carl Rössger herausgegeben wurde und im Verlag von Scheffer erschien, zu interpretieren. Der „Heilige Garten“ unterscheidet sich aber grundlegend durch seine inhaltliche Struktur von der „Zukunftsschule“ – er weist eine wesentlich höhere Anzahl von Autorinnen und Autoren auf. Inhaltlich gibt es zwar eine Nähe zu den Hauslehrerbestrebungen, insgesamt aber ist dieses Blatt wesentlich eigenständiger und breiter in seinem thematischen Zuschnitt, so dass es eher als „freundschaftlich“ und nicht als Teil des Unternehmens gesehen werden kann. Dafür spricht auch, dass die Mitteilungen des Berthold-Otto-Vereins hier ebenfalls abgedruckt werden.

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ähnliches Produkt wird in verschiedenen – oft zielgruppenspezifischen – Varianten angeboten.486 Dafür spricht der Titel, in dem ein zeitgenössisch populäres Thema aufgerufen wird, der aber erst durch den Untertitel auf die spezifische Nähe zu Berthold Otto hinweist – anders als der Hauslehrer, nach dem sich die „Bestrebungen“ benennen. Im Gegensatz zum Hauslehrer ist die „Zukunftsschule“ handlicher im Format und erscheint auch nur monatlich. Dabei ist sie mit einem jährlichen Bezugspreis für zwölf Hefte von 6 M – der Hauslehrer kostet zu dieser Zeit jährlich, also mit 52 Heften, 6,40 M – relativ teuer. Auch der Zeitpunkt der Gründung kann unter dem Aspekt einer gewünschten Ausweitung des anzusprechenden Personenkreises gesehen werden: Im Herbst 1913 hat der Berthold-Otto-Verein seine Arbeit öffentlichkeitswirksam aufgenommen, die Schule ist seit zwei Jahren in den neuen, nur auf sie zugeschnittenen Räumlichkeiten, und die finanzielle Situation wird von Emmy Friedländer zumindest in Teilen mit gesteuert. Die „Zukunftsschule“ wird neben dem Hauslehrer und dem Berthold-Otto-Verein zur dritten Säule der Öffentlichkeitsarbeit und des Marketings der Hauslehrerbestrebungen. Und so verwundert es auch nicht, dass bereits im zweiten Heft (November 1913) eine äußerst positive „Rezension“ der „Volksorganischen Einrichtungen der Zukunftsschule“ von Georg Kerner publiziert wird und im Februarheft des Folgejahres auf 44 Seiten ein Vortrag von Berthold Otto erscheint, der sich ebenfalls direkt auf die „Einrichtungen“ bezieht. Es ist davon auszugehen, dass auch hier – ähnlich wie im Berthold-Otto-Verein – ein inhaltlicher Schwerpunkt auf das im Oktober 1913 erschienene Buch Ottos gelegt, also Absatzförderung betrieben wird. Um die neue Zeitschrift bekannt zu machen, wird im Hauslehrer massiv Werbung betrieben: Bereits im Juni 1913 weist Berthold Otto auf das baldige Erscheinen der „Zukunftsschule“ als Ersatz für die „Elternbeilage“ hin,487 im September liegt die Probenummer dem Hauslehrer bei. Berthold Otto schreibt dazu:

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Eine ähnliche Strategie findet sich auch im Umfeld des Charonkreis: Dort wird der „Stammzeitschrift“ – dem Charon – noch eine weitere Zeitschrift „Die Brücke“ zur Seite gestellt, die dazu gedacht war, eine Verbindung zu Personen zu entwickeln, die bisher mit dem Charon keine Berührung hatten (vgl. dazu Kapitel 3.3.). „Ferner ist mitzuteilen, daß einer der nächsten Nummern des Hauslehrers das erste Heft einer neuen Monatsschrift beiliegen wird, die bestimmt ist, die früheren ‚Elternbeilagen‘ des Hauslehrers in etwas umgestalteter und erweiterter Form fortzusetzen. Sie wird den Titel ‚Die Zukunftsschule‘ führen. Georg Kerner, den Lesern des Hauslehrers wohl bekannt, übernimmt die Herausgabe der Zeitschrift. Und in der ersten Nummer wird unter anderm ein sehr vollständiger Bericht über den Hauslehrerabend am Pfingstmontag in Weimar enthalten sein.“ (Otto (HL 1913d): 273)

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„Zur Weiterführung und theoretischen Vertretung unserer theoretischen Bestrebungen ist eine Monatsschrift in Aussicht genommen, von der zunächst einige Probenummern erscheinen werden. Die erste liegt der heutigen Hauslehrernummer bei. Wo sie fehlen sollte, wird sie auf Wunsch kostenfrei nachgesandt, ebenso werden gern Exemplare an uns angegebene Adressen versandt. Sobald die Anzahl der Bestellungen es uns möglich macht, wird die Monatsschrift als eine der ersten Einrichtungen der Zukunftsschule regelmäßig erscheinen.“488

Am 12.10.1913 erfolgt der Hinweis, dass noch nicht genügend Abonnenten für die dauerhafte Produktion der „Zukunftsschule“ vorhanden sind und dass diese „das hohe Ziel, das Berthold Otto dem deutschen Volke gesteckt hat“,489 nämlich die Schulreform, unterstützen will. Bereits eine Woche vorher findet sich in den Mitteilungen des Berthold-Otto-Vereins der Hinweis, dass für Vereinsmitglieder ein Sonderpreis für den Bezug der Zeitschrift vereinbart wurde: Sie zahlen statt 1,50 M je Quartal nur 1 M. Gleichzeitig wird diese Vergünstigung auch als Anlass genommen, für den Vereinseintritt zu werben.490 Ab da finden sich in vielen Hauslehrerausgaben Inserate,491 außerdem wird die „Zukunftsschule“ in der Rubrik „Mitteilungen und Anzeigen“ angekündigt und mitsamt ihren jeweiligen Inhalten vorgestellt. Es gibt redaktionelle Querverweise, welche die Nähe zwischen den beiden Zeitschriften besonders deutlich machen. So berichtet Georg Kerner im Hauslehrer über seinen Vortrag mit dem Titel „Staatsbürgerliche Erziehung im Jugendverein“ in Reichenberg in Böhmen und verweist darauf, dass die im Nachgang erfolgte Aussprache in einer der nächsten Nummern der „Zukunftsschule“ publiziert wird.492 Im Hauslehrer vom 14.6.1914 findet sich ein kurzer Artikel über die „Zusammenkunft der Hauslehrerfreunde“, die an Pfingsten in Weimar stattgefunden hat. Hier wird darauf verwiesen, dass die dortigen „Verhandlungen“ in einer der folgenden Nummern der „Zukunftsschule“ publiziert wer-

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Otto (HL 1913f): 439. Otto (HL 1913g): 482. Baumann (HL 1913r): 471. Diese Vergünstigung wird auch als Werbung für den Verein genutzt, wie eine entsprechende Postkarte, mit der man Mitglied werden konnte, zeigt (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 56). Ein Hinweis auf die geplante Zeitschrift findet sich ebenfalls im Kontext der Mitteilungen des Vereins vom 15.6.1913, also eine Woche nach der Ankündigung von Otto. Auch hier wird auf den geplanten Abdruck der Aussprache eines von Berthold Otto gehaltenen Diskussionsabends hingewiesen (Baumann (HL 1913l): 287). Die letzte Anzeige ist in Jg. 14/1914, H 16 (19.4.1914) abgedruckt. Kerner (HL 1914a): 20. Der entsprechende Artikel findet sich in der Januarausgabe 1914 der Zeitschrift (Kerner (ZS 1914)) – hier verweist Kerner wiederum darauf, dass es bereits einen kurzen Bericht im Hauslehrer gegeben hat.

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den.493 Ein besonders ausführlicher Artikel erscheint zum Jahresende 1913 im Hauslehrer. Hier macht Berthold Otto prominent im ersten Artikel der letzten Nummer des Jahrgangs 1913 auf die „Zukunftsschule“ aufmerksam und beschreibt dabei auch, warum sie in seinen Augen eine gute Ergänzung zum Hauslehrer ist: „Es mag ja ruhmredig klingen, weil sehr viel darin das wiedergibt, was ich selber gesagt habe. Aber ich habe schon wer weiß wie oft ausgeführt – allerdings für die meisten meiner Gegner vollständig vergeblich – daß ich das, was ich in jedem einzelnen Falle sage, gar nicht so sehr mir selbst verdanke, als den augenblicklich anwesenden Hörern. Sie sind es, die mich veranlassen, das grade so auszusprechen, wie ich es denn ausspreche. Und so kommt durch einen bestimmten Hörerkreis mitunter eine Darstellung zustande, die ich hier an dem Platz, wo ich meine Hauslehrerartikel in den Parlographen hineinspreche, niemals in dieser Weise zustande gebracht hätte.“494

Die „Zukunftsschule“ bietet also Raum für Mitschriften der von Berthold Otto gehaltenen Vorträge, die, anders als „normal“ diktierte Artikel eine eigene inhaltliche Ausgestaltung haben, die durch die Anwesenheit von Zuhörerinnen und Zuhörern ermöglicht wird. Diese Vorträge erhalten in der neuen Zeitschrift einen eigenen Ort.495 Beide Zeitschriften werden auch auf der Buchgewerblichen Weltausstellung 1914 in Leipzig in der Fachzeitschriftenschau gezeigt.496 Auch die geplante Unterbrechung des Erscheinens der Zeitschrift durch den Beginn des Ersten Weltkriegs wird im Hauslehrer angekündigt.497 Neben dem inhaltlichen gibt es also auch einen organisatorischen Zusammenhang im Gesamtkontext des Unternehmens Berthold Otto: Nicht nur die Werbe- und Absatzmaßnahmen laufen bei ihm zusammen, er ist es auch, der mit der Druckerei über die Zeitschrift verhandelt. Die „Zukunftsschule“ wird in der gleichen Druckerei – der von Otto Nuschke in Leipzig – wie der Haus493

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„Von den Verhandlungen ist eine stenografische Aufnahme gemacht worden, die mit Ausscheidung ganz weniger für die Öffentlichkeit nicht bestimmter Dinge in vollem Umfange ungekürzt in der Monatsschrift ‚Die Zukunftsschule‘ veröffentlicht werden wird, und zwar voraussichtlich in einem Doppelheft Juli-August.“ (Otto (HL 1914c): 282) Dieses Heft ist allerdings bereits nicht mehr erschienen. Otto (HL 1913j): 606. Am Ende des Artikels gibt Otto noch eine Vorschau auf die Artikel der kommenden Ausgaben. „Die große Fachzeitschriftenschau auf der Buchgewerblichen Weltausstellung Leipzig 1914, Mai-Oktober, bringt zum Aushang 1. den Hauslehrer, 2. die Zukunftsschule, Monatsschrift im Sinne der Bestrebungen Berthold Ottos, herausgegeben von Georg Kerner“ (Kerner (HL 1914b): 224). Die BUGRA wurde von Max Seliger, dem Direktor der Königlichen Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe zu deren 150jährigen Bestehen veranstaltet. Sie wurde von 2,3 Millionen Menschen besucht. Otto (HL 1914d): 391.

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lehrer gedruckt.498 Otto Nuschke macht Berthold Otto am 28.5.1913 einen entsprechenden Kostenvoranschlag, geplant ist eine Auflage von 2500 Stück pro Monat,499 also die gleiche Auflage, die auch der Hauslehrer hat. Ob diese Auflage dann hergestellt wurde, ist nicht zu erfahren.

3.1.7. Umbenennung und Ausblick Die Umbenennung der Zeitschrift – von „Der Hauslehrer. Wochenschrift für den geistigen Verkehr mit Kindern“ zu „Deutscher Volksgeist. Zur Verständigung zwischen allen Schichten des Volkes“ – erfolgt mit der Ausgabe 40/1917 vom 7.10.1917. Der Jahrgang 1917 enthält ein eingeheftetes „Zweites Blatt des Hauslehrers“, das sowohl die Paginierung des „Hauptblattes“ als auch eine eigene Seitenzählung besitzt und von den insgesamt 616 Seiten des Jahrgangs 1917 immerhin 200 umfasst.500 Das „Zweite Blatt“ hat primär zwei zentrale Inhalte: Teile des „Volksorganischen Denkens“ werden hier abgedruckt (insgesamt 47 Artikel) sowie 40 Ausgaben des „Vocabularium Latinum“. In der Nummer 35/1917 des „Zweiten Blattes“ findet sich auch der Artikel, mit dem Otto die Namensänderung bekanntgibt und begründet. Zunächst stellt Berthold Otto dar, warum er immerhin 17 Jahre lang an dem bisherigen Titel festgehalten hat – dieser entspricht in seiner Diktion genau der Intention, die er mit der Zeitschrift verfolgt hat: „Das Blatt sollte ‚der Hauslehrer‘ werden und bleiben für alle Familien, die in unserem Sinne die Kinder nicht nur abrichten und drillen, sondern auch in freiem geistigen Verkehr zu ihrem geistigen Wachstum soviel beitragen wollten, wie das die natürli-

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Das geht aus einem Beschwerdebrief von Berthold Otto an Otto Nuschke vom 26.9.1913 hervor: „Ich selbst habe von Hauslehrerabonnenten, die den ‚Hauslehrer‘ durch Scheffer beziehen, Beschwerde erhalten, dass weder die Bestellkarte noch die Monatsschrift beigelegen hat. Ich werde deswegen noch einen energischen Hinweis auf die Monatsschrift in der nächsten Hauslehrernummer bringen. (…) Dazu kommen noch die sehr erheblichen Verzögerungen der Lieferung die für die ‚Lateinbriefe‘ das ganze diesjährige Geschäft verdorben haben. Und dann die sehr merkwürdige Sache, dass wir zwei Hauslehrersendungen nacheinander verspäten mussten, weil das eine Mal die Bestellkarten, das andere Mal die erforderliche Anzahl der Monatsschriften fehlte. Alle diese Dinge bedeuten für mich erstens sehr grosse Aufregung und zweitens eine wirklich nicht unbeträchtliche finanzielle Schädigung. Vor beidem muss ich mich in Zukunft zu schützen suchen.“ (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 Bl. 109) Mitteilung von Nuschke an Otto 28.5.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 Bl. 87. Hier wird nach der Hauptpaginierung, also der des gesamten Blattes, zitiert.

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che, nur durch unzweckmäßige Einrichtungen beiseite geschobene Pflicht der Eltern ist.“501

Die Entscheidung für den Titel ist also eine programmatische, welche die Funktion des Blattes abbilden soll. Diese Begründung – also die Kongruenz von Titel und Programmatik - gibt Berthold Otto bereits im ersten Jahrgang des Hauslehrers an.502 Gleichzeitig aber hat der Hauslehrer nicht nur das Ziel, Kinder zu erziehen, sondern Ottos Vorstellung ist es, dass durch den „Geistigen Verkehr mit Kindern“, also die gleichberechtigten Kommunikation zwischen Kindern und Erwachsenen, auch für die Erwachsenen ein positiver Effekt entsteht. Dieser Prozess, den Otto als „Selbsterziehung“ versteht, ist mit einer großen Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung verbunden: „Also wenn der Hauslehrer, wie ich es in den kühnsten Träumen wohl erhofft hatte, in Hunderttausende von Familien Einlaß gefunden hätte, so wäre aus der Kindererziehung heraus, d.h. aus der, die alle Eltern ihren einen Kindern angedeihen lassen, und aus der Gegenwirkung der Kinder auf sie eine Befreiung unseres politischen Denkens wohl hervorgegangen.“503

Das politische Denken, das für Otto in parteipolitischen Inhalten gefangen ist, die mehr der eigenen Parteilinie und nicht dem „klaren, ehrlichen und aufrichtigen“ Denken des Einzelnen verpflichtet sind, stört die Entwicklung der Gesellschaft zum Besseren. Dass sich seine Hoffnung nicht erfüllt hat, führt Otto unter anderem auch darauf zurück, dass die Erwachsenen sich nicht auf den von ihm vorgeschlagenen gegenseitigen Erziehungsprozess

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Otto (HL 1917b): 413. „Wenn eine Familie den Beschluss fasst, sich einen Hauslehrer zu halten, so will sie damit den Kindern das Lernen, die Ausbildung in irgendeiner Weise erleichtern, die Kinder sollen etwas empfangen, das in öffentlichen oder privaten Schule entweder überhaupt nicht oder nicht in der gewünschten Weise oder nicht in der räumlichen Nähe geboten wird.“ (Otto (HL 1901a): 1) Am 14.11.1913 denkt er in einem Brief an Georg Kerner darüber nach, ob Name und Programm der Zeitschrift noch zusammenpassen: „Denn es scheint mir nämlich der Moment gekommen den Titel des Hauslehrers zu ändern wenn er überhaupt jemals geändert werden soll. Und ich fürchte, wenn er so bleibt wie er ist, werden wir niemals über die jetzige Abonnentenzahl, die seit zehn Jahren konstant ist, hinauskommen. Und ausserdem ist ja das Blatt über das was der Titel besagt längst hinausgewachsen, er ist nicht nur ein Hauslehrer sondern ein Lehrer auch für Schule und sogar für Leute, die weder mit Kindern noch mit Schulen irgend etwas zu tun haben. Ich meine, der Inhalt würde am besten ausgedrückt durch ein Wort etwa wie ‚Weltkünder‘.“ (Berthold Otto an Georg Kerner, 14.11.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 22) Otto (HL 1917b): 413.

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eingelassen haben,504 und dass die schulische Praxis seiner Zeit eigenes Denken verhindere und nicht befördere.505 Trotzdem hat sich durch den Ausbruch des Krieges eine Veränderung der Anlässe für die Artikel des Hauslehrers ergeben: Bisher ging Otto so vor, dass er die Inhalte behandelte, nach denen er entweder von Kindern gefragt wurde oder aber von denen er annahm, dass Kinder ihn danach fragen würden. Der Kriegsbeginn habe nun dazu geführt, dass „nämlich auch Erwachsene, die nicht durch Kinderfragen dazu gedrängt wurden, sich über die verschiedenen Zeitereignisse und deren richtige Würdigung bei meinen Ausführungen Rat holten.“506 Otto schreibt weiter, dass er dieser Entwicklung Folge leisten will, die Zeitschrift also an ein weiteres Publikum richte (nämlich dezidiert Erwachsene und Kinder), dabei solle aber weiterhin gelten, „daß sich mein Denken in vollkommener Freiheit von allen Parteidogmen bewegt und solche Freiheit beim Leser auch voraussetzt oder nach Möglichkeiten herzustellen sucht.“507 Der neue Titel ist dabei eine Konsequenz aus den Erkenntnissen, die Otto in seinen Überlegungen zum „Volksorganischen Denken“ entwickelt hat: „Jede deutsche Zeitung ist Organ des deutschen Volksgeistes, mag sie das nun wollen oder nicht. Der Hauslehrer darf diesen Ruhm aber vielleicht noch etwas mehr als die meisten anderen für sich in Anspruch nehmen, da er vom ersten Erscheinen an, aber allmählich immer entschiedener und bewußter für alle lebendigen und gesunden Regungen des Volksgeistes eingetreten ist und zwischen den Schichten des Alters, des Standes, des Berufs und der Bildung, also schließlich zwischen allen Schichten des Volkes, die Verständigung gesucht hat und doch wohl nicht ganz ohne Erfolg. Er wird sich auch in Zukunft mit Entschiedenheit zu dieser Aufgabe bekennen.“508

Die Änderung des Namens, so scheint es, folgt primär einer Verschiebung der Leserinnen- und Leserkreise. Berthold Otto stellt fest, dass zunehmend auch Erwachsene seine Analysen des politischen Tagesgeschehens verfolgen 504

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„Sehr vielen Erwachsenen war es durchaus unerwünscht, irgendwie und nun gar von den eigenen Kindern darauf hingewiesen zu werden, daß ihr politisches Denken einer Umgestaltung dringend bedürfe, ja wohl gar darauf aufmerksam zu werden, daß sie sich statt des politischen Denkens bisher nur mir ziemlich mechanischer Wiederholung eingelernter Redensarten beholfen hatten, bei denen ein eignes Denken kaum im allerbescheidensten Maße zur Tätigkeit gelangt war.“ (Otto (HL 1917b): 413f.) „Der Mensch gewöhnt sich dort von Jugend an, Erkenntnisse nicht etwa in sich wachsen zu lassen oder gar zu erschaffen, sondern sie fertig in Büchern zu finden und daraus auswendig zu lernen, wobei sie dann freilich im Wesentlichen dazu dienen, auswendig als Fahnen herausgehängt zu werden und dadurch allerdings den Mitmenschen die Möglichkeit geben, ohne besondere Mühe den Träger der verschiedenen Fähnlein in die richtigen Gruppen einzureihen.“ (Otto (HL 1917b): 414.) Otto (HL 1917b): 414. Otto (HL 1917b): 414. Otto (HL 1917b): 415.

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und von diesen profitieren. Das begrüßt er, zumal seine Vorstellung, dass er sich mittelbar über die Kinder an die Erwachsenen richten kann, nur eingeschränkten Erfolg gezeigt und der Hauslehrer auch nicht die erhofften „Hunderttausenden“ Familien erreicht hat. Gleichzeitig verfolgt Otto eine Mission. Die Befreiung des politischen Denkens soll zu einer „Verständigung zwischen allen Schichten des Volkes“ führen und gleichsam eine Verbesserung des Zusammenlebens hervorbringen. Diese Mission hofft er durch seine Bücher und durch die Zeitschrift zu erreichen. Und somit kann die Namensänderung auch anders verstanden werden: Es ist durchaus denkbar, dass es sich nicht (nur) um die Folge einer veränderten Struktur der Leserinnen- und Leserschaft handelt, sondern dass (auch) neue Rezipientinnen und Rezipienten gewonnen werden sollen. Immerhin hat der Hauslehrer nun eine komplette Generation von Kindern und Jugendlichen begleitet, deren Interesse an der Zeitschrift durch eine stärker auf Erwachsene hinzielende Variante gesichert werden könnte. Oft wird der Hauslehrer tatsächlich mit dem Argument abbestellt, dass die Kinder „zu groß“ geworden seien.509 Damit wäre eine Ausweitung der potentiellen Zielgruppe eine sinnvolle Maßnahme zur Steigerung des Umsatzes – gerade in der Zeit des Krieges, in der die wirtschaftliche Situation nicht besonders gut ist. Für diese These spricht auch, dass Berthold Otto in der Zeit, in welche die programmatische Veränderung der Zeitschrift fällt, mehrere politisch orientierte Bücher veröffentlicht.510 Der Hauslehrer wird aber nicht vollständig aufgegeben. Das „Zweite Blatt“511 findet auch nach der Umbenennung der Zeitschrift weiter statt und erhält den Titel „Der Hauslehrer für geistigen Verkehr mit Kindern“. Diese Beilage umfasst wöchentlich vier Seiten und liegt dem Haupttitel bei. Im Jahr 1919 finden sich darin neben den Vorbadrucken des „Volksorganischen Denkens“ und einigen Mitteilungen auch Artikel, die die Pädagogik der Berthold-Otto-Schule beschreiben.512 Der Hauslehrer verändert also als Beilage seine Struktur, einige Inhalte werden aber beibehalten. 509 510

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Otto (HL 1917a): 305. Neben den Schützengrabenbüchern (s.u.) sind dies „Kriegsrechenwirtschaft als wirtschaftliche und finanzielle Kriegsrüstung“ (Otto (1916)); „Mammonismus, Militarismus, Krieg und Frieden“ (Otto (1918)) sowie die Vorabdrucke von Teilen des „Volksorganischen Denkens.“ (Otto (1925), (1926)) Von dem Otto selber sagt, dass es „schon mit in Voraussicht dieser Ereignisse begründet worden ist.“ (Otto (HL 1917b): 415.) Diese machen im Jahrgang 1919 prozentual den größten Anteil an Artikeln aus: Von den insgesamt 81 Beiträgen sind 31 Vorabdrucke von Teilen des „Volksorganischen Denkens“, also etwa 38%. Artikel, welche die Pädagogik der Berthold-Otto-Schule thematisieren, machen mit 18 Stück die nächstgrößere Gruppe aus und stellen so ca. 22% der Beilage.

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Der „Deutsche Volksgeist“ aus dem Jahr 1919 enthält insgesamt 227 Artikel, von denen lediglich 5% (= 12 Stück) keine politischen Inhalte aufweisen. Die restlichen 215 Artikel haben „Rückblicke auf den Weltkrieg“ (32) oder „Ausblicke auf die Gemeinwirtschaft“ (18) zum Thema. Auch der neu gegründete Verein, der „Bund für inneren Frieden“, ist mit seinen Mitteilungen und Berichten stark vertreten, er taucht im Jahrgang 1919 insgesamt 37 Mal auf. Eine weitere Veränderung, die sich bereits im Jahr 1914 im Hauslehrer abzeichnet, ist, dass Berthold Otto wieder nahezu alle Artikel selber verfasst. Waren in den Jahrgängen davor sehr viele und sehr unterschiedliche Autorinnen und Autoren vertreten, finden sich im 19. Jahrgang kaum andere Beitragende als Berthold Otto selber.513 Insgesamt symbolisiert der Wechsel des Titels des Hauptblattes eine Verschiebung des inhaltlichen Schwerpunktes, weg von der Pädagogik, hin zu politischen Themen. Für Otto ist diese Verschiebung eine natürliche: Es handele sich „um ein und dasselbe Blatt (…), das eben nur durch etwas weiteres Wachstum einige frühere Hüllen abwerfen muß.“514 Aus seiner eigenen Denkperspektive ist diese Aussage auch plausibel: Pädagogik und Politik sind integrale Bestandteile seines gesamten Denkgebäudes, bilden dabei nur verschiedene Aspekte. Dennoch sind die damit einhergehenden Veränderungen der inhaltlichen Struktur prägnant, die Artikel sind in einem wesentlich höheren Ausmaß politisch-ökonomisch orientiert. Hier könnte ein weiterer Zusammenhang bedeutsam werden, der bisher kaum thematisiert wurde: Berthold Ottos Aktivitäten rund um die so genannten Schützengrabenbücher während des ersten Weltkriegs.

Exkurs: „Unser Vaterland. Schützengrabenbücher“ Im Karl Siegismund Verlag Berlin erscheinen zwischen 1915 und 1919 120 Bände einer Reihe „Schützengrabenbücher für das deutsche Volk“, jedes 48 Seiten stark. Die Gesamtauflage wird auf 14,5 Millionen veranschlagt. Die Initiative für diese Buchreihe liegt bei Friedrich Schmidt, 1915 als Ministerialdirektor für Wissenschaft und Kunst beim Preußischen Kultusministerium tätig. Er macht Berthold Otto zum inhaltlich Verantwortlichen der

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Beispielsweise schreibt Irmgard Meyer-Otto einen Bericht über die Vorbereitungen des 60. Geburtstags ihres Vaters in der Berthold-Otto-Schule (Meyer-Otto (HL 1919a, b)). Von Georg Muth stammt ein Artikel über die Entwicklung seiner Tochter Hildegund (Muth (HL 1919)). Otto (HL 1917b): 415.

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Reihe,515 die den deutschen Soldaten an der Front als patriotisch ausgerichtete Motivationshilfe516 zur Verfügung gestellt werden soll. Die verlegerische Verantwortung wird von Karl Siegismund517 übernommen. Schmidts ursprünglicher Plan, dass Berthold Otto die meisten der Bände verfassen soll,518 wird nicht in die Tat umgesetzt, da Otto sich dieser Arbeitsbelastung nicht gewachsen sieht.519 Er konzipiert allerdings das Programm520 und verfasst sechs Titel der Reihe.521 Interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Aspekte: Zum einen wird der Hauslehrer im Zusammenhang der Planungssitzungen von Schmidt lobend erwähnt,522 zum anderen wird deutlich, dass die Bezeichnung „Schützengrabenbücher“ auf Berthold Otto zurückgeht und dass dieser damit eine sehr umfassende Bedeutung verbindet. Er schreibt in seinem Brief vom 27.2.1915 an Georg Kerner: „Der Vorschlag ‚Schützengrabenbücher‘ stammt von mir und soll nicht nur bedeuten, dass die Bücher im Schützengraben gelesen werden sollen, sondern dass sie dem Einigungsdrang des deutschen Volkes dienen sollen, der in den Schützengräben seinen 515

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Die entsprechende Zusammenkunft, die bei Schmidt zuhause stattfand, beschreibt Otto eindrücklich in einem Brief an Georg Kerner vom 25.2.1915 (Berthold Otto an Georg Kerner, 25.2.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 65-68). Berthold Otto schreibt Georg Kerner: „Auch von den wirtschaftlichen Dingen wollte Schmidt etwas hineinbringen, ich lehnte das durchaus nicht ab, meinte aber, das müsse sehr vorsichtig gehandhabt werden, um unseren Feldgrauen kein zu düsteres Bild von den heimischen Verhältnissen zu geben.“ (Berthold Otto an Georg Kerner, 25.2.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 67) Karl Siegismund (1861-1932) war Preußischer Kommerzienrat sowie Sächsischer Geheimer Hofrat und von 1910-1916 erster Vorsteher des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und eine zentrale Figur bei der Gründung der Deutschen Bücherei. Er hatte auch engen Umgang mit Friedrich Althoff. Es ist allerdings nicht zu rekonstruieren, im welchem Umfang diese Reihe zu Beginn geplant war. Berthold Otto an Georg Kerner, 27.2.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 69. Berthold Otto an Georg Kerner, 27.2.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 70. Es handelt sich dabei um folgende Bände: Belgien und die Neutralität (mindestens 3 Auflagen – 131.000 Auflage) lfd. Nr. 3. Unser Feind England (mindestens 3 Auflagen – 134.000 Auflage) lfd. Nr. 6. Unser Feind Russland (mindestens 3 Auflagen – 131.000 Auflage) lfd. Nr. 5. Unser Feind Frankreich (mindestens 3 Auflagen – 131.000 Auflage) lfd. Nr. 4. Weltkrieg und Weltgeschichte (mindestens 4 Auflagen – 134.000 Auflage) lfd. Nr. 1. Wer hat Schuld an dem Weltkriege? (mindestens 4 Auflagen – 134.000 Auflage) lfd. Nr. 2. Berthold Otto an Georg Kerner, 25.2.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 65.

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stärksten Ausdruck gefunden hat. Denn so wie dort sind sich noch nie deutsche Männer aller Stände seelisch nahe getreten, und die Erinnerung daran wird von Generationen festgehalten werden.“523

Diese Reihe verhilft Berthold Otto, und das macht sie im Zusammenhang mit der Umbenennung der Zeitschrift Hauslehrer interessant, zu der Möglichkeit, politische Schriften in einer sehr hohen Auflage zu veröffentlichen, die ihn sicherlich vielen Lesern (und Leserinnen?), die ihn bisher nicht kannten, als gesellschaftspolitischen Autor bekannt gemacht haben. Diese Bekanntheit nutzt Otto auch, indem er den „Deutschen Volksgeist“ ein Jahr lang zusätzlich als Sonderdruck unter dem Titel „Berthold Ottos Kriegswochenschau“ veröffentlicht.524

3.1.8. Der Hauslehrer als zentrales Medium für Aufbau und Erhalt der Hauslehrerbestrebungen Es ist deutlich geworden, dass der Hauslehrer für das Unternehmen Berthold Otto wesentliche Funktionen übernimmt: Er dient dazu, Berthold Otto und seine Inhalte bekannt zu machen und über die Aktivitäten der Hauslehrerbestrebungen zu informieren. Gleichzeitig ruft Berthold Otto seine Leserinnen und Leser beständig zur „gemeinsamen Arbeit“ auf, was sowohl die Arbeit an der Schulreform durch die Umsetzung seiner pädagogischen Vorstellungen im Rahmen der Familie, als auch die Gewinnung neuer Leserinnen und Leser beinhaltet. Dies verdeutlicht auch, dass Berthold Otto in den Eltern die wesentliche Trägergruppe der Schulreform sieht, weshalb der Hauslehrer gegenüber der Berthold-Otto-Schule eine prioritäre Rolle übernimmt. Noch 1906, als bereits ein Unterrichtszirkel besteht, den Otto leitet, verdeutlicht er, dass die Ziele, die er erreichen möchte, besser mit der Zeitschrift als mit einer Schule erreichbar seien. Insgesamt ist der Hauslehrer das publizistische Rückgrat der Hauslehrerbestrebungen: Er vereint in sich positive Darstellungen von Ottos Pädagogik – zunächst solche, die in der Arbeit mit seinen eigenen Kindern entstanden sind, später vor allem solche aus der Berthold-Otto-Schule und aus anderen Kontexten. Im Hauslehrer werden Schriften Ottos vorab gedruckt, später werden sie ausführlich beworben; die Weimarer Tagungen werden ausführlich dargestellt, und es gibt unterschiedliche Formate für verschiedene Zielgruppen. Dies geht allerdings über die durchaus üblichen Funktionen hinaus, 523 524

Berthold Otto an Georg Kerner, 27.2.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 70. Und zwar von Heft 40/1917 bis Heft 40/1918. Ob diese auch an die Front geliefert wurde oder überhaupt andere Distributionswege erfahren hat, ist nicht bekannt.

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da die Zeitschrift auch einen wesentlichen Anteil an der Herstellung und Erhaltung der Hauslehrerbestrebungen als symbolisch vermittelte Gemeinschaft hat: Sie besitzt von Beginn an interaktive Elemente. Diese gehen, zusammen mit der Vorstellung der gemeinsamen Arbeit, weit über klassische Kund_innenbindung hinaus. Vielmehr entwirft Berthold Otto die Vorstellung einer symbolisch vermittelten Gemeinschaft, die sich auf zwei Ebenen konstituiert: Zum einen durch ihre beständige literarisch-publizistische Wiederholung, die primär in der Zeitschrift stattfindet, zum anderen durch die Übernahme pädagogischer Praxen in den je individuellen Alltag. Diese Gemeinschaftserzählung, an der Berthold Otto beständig arbeitet, besitzt als Fluchtpunkt die Etablierung einer besseren Pädagogik und Gesellschaftsorganisation, für die Otto präzise und detaillierte Vorstellungen und Handlungsoptionen anbietet. Während seine Bücher vor allem dazu dienen, ausführlich und konkret darzustellen, welche Veränderungen in Ottos Augen wie erreicht werden können, kommt der Zeitschrift eher die Aufgabe zu, die Leserinnen und Leser in diese symbolisch vermittelte Gemeinschaft zu integrieren und sie dort zu halten. Dass dies gelungen ist, zeigt besonders eindrücklich der von Georg Kerner herausgegebene Band „Deutsche Volksgeistbriefe“.525

3.2. Expansion der Öffentlichkeitsarbeit: Der Berthold-OttoVerein E.V. Am 1.9.1912 wurde auf dem „Hauslehrerabend“, der als ein Teil des „Allgemeinen Deutschen Erziehungstages“ stattfand, der Berthold-Otto-Verein gegründet.526 Vor allem Paul Baumann, Paula Jolowicz und Jakob Pfalzgraf spielen eine wesentliche Rolle dabei.527 Sie stellen auch den ersten Vorstand. Der Verein trägt den Namen „Berthold-Otto-Verein E.V.“ und ist in Berlin angesiedelt. Interessant ist der Verein unter anderem deshalb, weil er schnell nach seiner Gründung rege Aktivitäten entfaltet, die auch öffentlichkeitswirksam, vor allem im Hauslehrer und in der „Zukunftsschule“, dargestellt werden. Das Vereinsziel, so ist es in der ersten, noch vorläufigen Satzung zu lesen, ist die „Förderung der von Berthold Otto eingeleiteten Schul- und Gesellschaftsre525 526

527

Vgl. Kap. 3.5. Dies geht aus der ersten Satzung hervor. Bergner verlegt mit Referenz auf Ferber (1925) die Gründung auf „November 1912“ und den Ort der Gründung auf Berlin (vgl. Bergner (1999): 69). Beide Zeitpunkte haben ihre Berechtigung: Wurde auf der Tagung der Beschluss zur Gründung gefasst, fand das eigentliche Gründungstreffen kurz danach in Berlin statt. Vgl. Bergner (1999): 69.

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form“.528 Um dieses Ziel zu erreichen übernimmt der Verein bestimmte unternehmenswichtige Aufgaben, nämlich Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Vertrieb. Neben dem „Hauptverein“ entstehen einige Ortsgruppen; die im Hinblick auf die Vereinsziele erfolgreichste ist sicherlich die Ortsgruppe Magdeburg.529 Im Folgenden soll zunächst der Entstehungskontext skizziert werden (3.2.1.), danach werden in einem zweiten Schritt die Zielsetzungen des Vereins anhand der Satzungen vorgestellt (3.2.2.), in einem dritten Schritt werden die einzelnen Aktivitäten beschrieben (3.2.3.). Danach werden die Ortsgruppen genauer dargestellt (3.2.4.), und in einem letzten Kapitel wird der Verein in seiner Funktion im und für das Unternehmen Berthold Otto interpretiert (3.2.5.).

3.2.1. Entstehungskontext Der „Berthold-Otto-Verein E.V.“ wird im Rahmen des neunten „Allgemeinen Deutschen Erziehungstages“ 1912 gegründet. Diese Tagung, die sonst zu Pfingsten stattfand,530 stellt einen wichtigen Ort der Vernetzung der an Berthold Ottos Ideen und Tätigkeiten interessierten Personen dar. Im Jahr 1912 wird zum ersten Mal ein so genannter „Hauslehrerabend“ explizit in das Programm aufgenommen. Dieser entstand aus einer Idee Ottos. In Heft 14/1912 des Hauslehrers schlägt er die Durchführung einer „Zusammenkunft der Hauslehrerfreunde“ in seinem „Ostergruß an Eltern, Erzieher und Lehrer“ vor und begründet diese Idee damit, dass sich im Verlauf der letzten Tagungen immer mehr an seinen Inhalten interessierte Menschen gefunden hätten. Um diese Verbindungen zu vertiefen und inhaltlich zu konzentrieren, scheint ihm ein speziell dafür geschaffener Ort naheliegend.531

528 529

530

531

DIPF/BBF/Archiv Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 1, ohne Datum. Wobei davon auszugehen ist, dass der Erfolg dieser Ortsgruppe auch darin begründet ist, dass es in Magdeburg bereits vor der Vereinsgründung einige sehr aktive Mitstreiterinnen und Mitstreiter der „Hauslehrerbestregungen“ gab. Die Gründe für das (einmalige) Verschieben der Tagung in den Herbst sind nicht ganz eindeutig zu rekonstruieren. In einem kurzen Artikel im Hauslehrer 20/1912 schreibt Otto dazu: „Es gilt eben immer noch als heikle Sache, auf dem deutschen Erziehungstag in Weimar zu sprechen.“ (Otto (HL 1912b): 225) Auch Rosemarie Wothge argumentiert für die Verschiebung des Termins in diesem Sinne (vgl. Wothge (1955): 240). Vgl. dazu den Exkurs im Kapitel 3.1.

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Diese Begründung ist nachvollziehbar: Im Gegensatz zu den später stattfindenden „Volksorganischen Erziehungstagen“ ist der „Allgemeine Deutsche Erziehungstag“ noch keine exklusive Veranstaltung Ottos, sondern steht unter der organisatorischen Ägide von Arthur Schulz` „Gesellschaft für deutsche Erziehung“. Entsprechend waren diese zwar reformpädagogisch ausgerichtet, thematisch aber noch weiter und offener, also nicht nur auf Berthold Otto und seine Inhalte zugeschnitten. Aus dem von Fritz Meyer verfassten Bericht532 dieses ersten Hauslehrerabends geht hervor, dass dieser von ca. 60 Personen besucht war und dass vor allem Fragen und Erfahrungen in Bezug auf den Gesamtunterricht und die Hauslehrermethode diskutiert wurden. Anwesend waren neben Berthold und Irmgard Otto auch Klara Sträter, weiterhin Eduard Reimpell533 und Ernst Hering, beide Lehrer an der Berthold-Otto-Schule, sowie Georg Kerner. Ebenfalls im Vorfeld der Tagung avisiert Otto in o.g. „Ostergruß“ auch die Idee einer „Lesergesellschaft“, die ihm von „Freunden“ vorgeschlagen wurde. Dabei handelt es sicherlich auch um Fritz Meyer, der in einem Brief an seine Schwester Grete und seinen Schwager Bernhard Becker bereits am 28.1.1912 folgendes schreibt: „Ich wollte ein Schreiben an alle treueren Anhänger unserer Bewegung schicken. Also vor allem an die, die immer gleich auf die Neuerscheinungen subskribieren. Und da sollte gefragt werden, ob sich 300 Leute zusammen finden zu einem ‚Verein zur Förderung der Hauslehrerbestrebungen‘. Jahresbeitrag mindestens 3 Mark. Dann wäre eine Jahreseinnahme von 900 Mark garantiert. Nur in diesem Falle sollte die Gründung geschehen. Von diesen 900 Mark wäre das Erscheinen von zwei Hauslehrerschriften gesichert. Die bekämen dann die Mitglieder gratis geliefert. Steigen die Einnahmen, so kann die Anzahl der Erscheinungen ständig vermehrt werden.“534

532 533

534

DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 37-51. Eduard Reimpell war seit 1908 Lehrer an der Berthold-Otto-Schule. Nach dem Krieg unterrichtet er in der Odenwaldschule und gründet dann eigene Kinderheime. Berthold Otto ist sehr angetan von ihm. (Baumann V: 39). Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 28.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 44-45. Fritz Meyer hatte durch sein Leben im Hause Otto und durch seine Mitarbeit im Verlag auch Einblicke in die Unternehmenszahlen. In den Jahren 1909-1919 erscheint die Zeitschrift in einer Auflagenhöhe von 2500 Stück pro Woche (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 und 467. Vgl. dazu unter anderem Otto Nuschke an Berthold Otto, 31.3.1909. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 Bl. 5; Kontoauszug von Otto bei Nuschke 31.12.1910. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 Bl. 37-38; Kontoauszug von Otto bei Nuschke 30.06.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 Bl. 4445; Kontoauszug von Otto bei Nuschke 1.4.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 Bl. 63; Quartalsauszug von Nuschke an Otto 30.06.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 Bl. 93; Kontoauszug von Otto bei

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Zwar sieht Fritz Meyer die Realisierung dieses Planes eher skeptisch,535 aber in diesem Fall hat Otto die Idee aufgenommen und führt sie in dem bereits angesprochenen Ostergruß, nach dem Vorschlag für einen gemeinsamen Abend der Hauslehrerfreunde, aus.536 Er argumentiert dabei bezugnehmend auf bereits existierendes Material für verschiedene Schriften, deren Drucklegung er sehr begrüßen würde, und avisiert auch die Möglichkeit einer qualitativen Verbesserung des Hauslehrers als Zeitschrift: „Ich will da gleich noch anfügen, daß, wenn reichlichere Mittel zur Verfügung stünden, jetzt eine Vergrößerung des Hauslehrers und eine Ausstattung mit Bildern nahe läge. Der Stoff ist jetzt schon so groß, dass man mitunter eine schmerzhafte Auswahl treffen muß.“537

Otto lotet also in diesem Artikel in einer affirmativen Art (auch er sei zunächst gegen das Vorhaben gewesen, habe dann aber darüber nachgedacht) die möglichen Vorteile einer solchen „Lesergesellschaft“ für Schriften aus dem Hauslehrerverlag aus. Diese Idee wird dann tatsächlich mit der Gründung des Berthold-Otto-Vereins umgesetzt, zu Beginn ist sie sogar die zentrale inhaltliche Ausrichtung, wie sich aus der ersten Fassung der Satzung des Vereins ergibt. Berthold Otto selber setzte hohe Erwartungen und Hoffnungen in die Arbeit des Vereins:

535

536

537

Nuschke, 26.11.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 467 Bl. 37), wobei von einer Abonnentenzahl auszugehen ist, die etwa 50% der Auflage umfasst. Mindestens 300 – vermutlich mehr (weil er mit Absagen rechnen musste) zählt Fritz Meyer zu den „treueren Anhängern“. Er schreibt im gleichen Brief weiter: „Die ganze Schwierigkeit liegt wieder bei Berthold Otto. Sonst wäre die ganze Sache schon längst in Fluss. Denn den Plan hatte ich schon vor zwei Wochen gefasst. Und hatte da gleich ein Rundschreiben aufgesetzt. Aber nun will Berthold Otto selbst was im Hauslehrer schreiben. Und so kann es kommen, dass es nichts wird.“ (Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 28.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 44-45) Nach einer Darstellung davon, wie viel Material es noch zu publizieren gebe und dass dies lediglich durch die zu geringen Mittel des Verlages verzögert oder gar verhindert wäre, schließt Otto folgenden Vorschlag an: „Da ist mir nun von Freunden unserer Sache ein Vorschlag gemacht worden, der wohl geeignet erscheint, all diesen Übelständen abzuhelfen. Es würde damit ein Gedanke nachgemacht, der schon an vielen anderen Stellen organisatorisch gestaltet worden ist. Man hat für bestimmte Zwecke, z.B. für den ‚Kosmos‘, also für naturwissenschaftliche Schriften, aber auch vielfach für andere Schriften, besondere Lesergesellschaften gebildet, von denen jedes Mitglied sich zu einem bestimmten Jahresbetrag verpflichtet, und in der Höhe dieses Beitrages dann Schriften geliefert bekommt. Wenn das geschieht, dann ist nämlich das Erscheinen einer Reihe von Büchern, nämlich so viel wie für die eingegangenen Beträge gedruckt werden kann, vollständig gesichert. (…) Auf diese Weise ließe sich sehr wohl eine ganze Hauslehrerbücherei herstellen.“ (Otto (HL 1912a): 155) Otto (HL 1912a): 156.

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„Dem wichtigsten Zweck – die Gedanken auszubreiten, sie dahin zu bringen, wohin sie noch nicht gelangt sind, sie da zu befestigen, wo sie bisher nur seltene Gäste waren – wird der Verein jedenfalls gerecht. Dem Wichtigen und Wesentlichen gegenüber dem Unwesentlichen zur Geltung zu verhelfen, gehört aber doch wohl zu den Hauptgrundsätzen, die wir in Pädagogik und Politik verfolgen. Ich wünsche daher, daß man die Gründung des Vereins als entscheidende Wendung in der Geschichte unserer Bewegung betrachten möge.“538

3.2.2. Ziele des Vereins Aus den beiden ersten Satzungen539 lassen sich die Ziele des Vereins ableiten. Beide Satzungen sind vor der Eintragung des Vereins beim Amtsgericht entstanden,540 die zweite, die gegenüber der ersten deutlich umfangreicher und differenzierter ist und auch viele formal-rechtliche Angaben541 enthält, vermutlich zu genau diesem Zweck. Bereits in der ersten Satzung werden wichtige inhaltliche Zielsetzungen formuliert, die sich auch mit den späteren Aktivitäten decken. Neben der bereits angesprochenen Grundsatzaussage, dass der Verein der „Förderung der von Berthold Otto eingeleiteten Schul- und Gesellschaftsreform“ dienen soll, wird in § 3 beschrieben, wie der Verein dieses Ziel zu erreichen sucht, nämlich durch „weiteste Verbreitung und Bekanntmachung Berthold Ottoscher Schriften und Ideen.“542 Als „nächstliegende“ Tätigkeit, die diesem Ziel zuträglich sei, wird primär eine Verbesserung und Verstetigung der finanziellen Situation des Hauslehrerverlages avisiert, um eine schnellere Veröffentlichung bereits existierenden Materials zu ermöglichen. Dies soll dadurch erreicht werden, dass der Verein Gelder akquiriert, mit denen Bücher und Schriften Ottos angekauft werden, die dann kostenfrei an Bibliotheken und öffentliche Lesehallen, also an Institutionen, die multiplikatorisch wirken können, abgegeben werden. Die Mittel dazu sollen 538 539

540

541 542

Otto (HL 1912d): 574. (Hervorhebung von mir, KK.) Erste Satzung: DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 1, ohne Datum; zweite Satzung: DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 2-5, ohne Datum; ebenfalls in: Baumann (HL 1913j). Diese erfolgte im Mai 1913 (vgl. Baumann (HL 1913k): 262). Hier berichtet Paul Baumann über die erfolgreiche Eintragung „in das Vereinsregister des Amtsgerichts Berlin-Lichterfelde unter Nr. 106.“ Vgl. auch Baumanns Bericht in der Probenummer der Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ (Baumann (ZS 1913)). In der gleichen Ausgabe befindet sich auch ein Bericht über die Ortsgruppe Magdeburg von Emilie Sträter (s.u.). Beispielsweise zur Zusammensetzung des Vorstands, zu Wahlbestimmungen und zu Mitgliederversammlungen. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 1.

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vor allem aus den Mitgliedsbeiträgen der Vereinsmitglieder kommen. Jedes Mitglied soll mindestens fünf Mark Jahresbeitrag zahlen, von dem eine Mark für die Vereinsarbeit verwendet wird. Der Restbetrag wird dann in ein Guthaben umgewandelt, in dessen Höhe Schriften von Berthold Otto aus dem Hauslehrerverlag543 bezogen werden können. Dieses Guthaben ist auf andere Vereinsmitglieder oder auf den Verein selber übertragbar, damit sollen dann die Bücher zur kostenfreien Verteilung angeschafft werden. Die von Fritz Meyer entworfene und dann von Berthold Otto vorgeschlagene Grundidee einer „Lesergesellschaft“ findet hier also ihre Realisierung. Die inhaltliche Ausgestaltung unterscheidet sich dabei allerdings von dem, was Fritz Meyer ursprünglich angedacht hatte, nämlich dass bei regelmäßiger und gesicherter Zahlung jeweils eine ganz bestimmte Schrift bezogen werden konnte, deren Produktion durch die eingenommenen Gelder hätte möglich werden sollen. Es hätte also keine Auswahlmöglichkeiten gegeben. Die vermutlich zweite Fassung der Vereinssatzung ist wesentlich umfangreicher und wird in Broschürenform und im Hauslehrer veröffentlicht. Diese Fassung ist auch mit einer Präambel versehen, die drei zentrale Aussagen enthält: Erstens erfolgt eine Begründung für die Wahl des Vereinsnamens, zweitens wird der Wunsch nach Vernetzung auf der Ebene von „Bewegungen“ formuliert, und drittens wird beschrieben, wer sich dem Verein anschließen kann / soll. Offensichtlich war es den Autorinnen und Autoren zunächst wichtig zu begründen, warum der Verein den Namen „Berthold-Otto-Verein“ trägt. Zwar seien die Bestrebungen Berthold Ottos unter dem Namen „Hauslehrerbestrebungen“ eingeführt, dieser Begriff würde aber Verwechslungen mit den Belangen der Berufsgruppe der Hauslehrer begünstigen. Gleichzeitig wolle der Verein „für eine Lebensgestaltung im Sinne Berthold Ottos wirken“,544 und um dies zu verdeutlichen, wurde der entsprechende Name gewählt, nicht aber „um irgendwelchen Personenkultus zu betreiben, sondern weil wir keine anderen Möglichkeiten sahen, die vielseitigen Bestrebungen in einem Namen zusammenzufassen.“545 543 544 545

Schriften, die Otto bei anderen Verlagen publiziert hat, sind zunächst ausgenommen, es soll aber Verhandlungen in diese Richtung geben. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 2. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 2. Reinhard Bergner sieht die Namenswahl retrospektiv kritischer: „Schon der Name des Vereins läßt die starke Fixierung nicht nur auf die Ideen, sondern auch die Person Ottos erkennen. Viele Texte unterstreichen diesen Eindruck, die Verehrung nahm mitunter kultähnliche Formen an.“ (Bergner (1999): 69) Rosemarie Wothge weist darauf hin, dass Otto von seinen engeren Anhängern häufig „Meister“ genannt wurde (Wothge (1955): 241; vgl. dazu Kapitel 3.5).

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Berthold Otto selber äußert sich relativ schnell nach der Vereinsgründung im Hauslehrer ebenfalls zu diesem Thema und schreibt: „Also einen zusammenfassenden und schon jetzt gemeinverständlichen Namen für meine Bestrebungen weiß ich selber nicht. Dazu fassen sie zu vieles zusammen, was bisher nur als ganz getrennt gedacht wurde. So muß ich es gelten lassen, daß man meinen Eigennamen als Lückenbüßer benutzt. Dann brauchen Tausende, die den Vereinsnamen zum ersten Mal hören, wenigstens nicht umzudenken, wenn sie näher erfahren, was es mit dem Verein für eine Bewandtnis hat.“546

Weiterhin sei es der Wunsch des Vereins, sich „mit gleichgerichteten Bewegungen zusammenzuschließen und auch sie zu unterstützen.“547 Damit soll der Eindruck der Einseitigkeit vermieden werden: „Die Berthold-Otto-Schule soll in keiner Weise etwa Musterschule oder Schema für Neugründungen sein. Das hieße, die Absichten Berthold Ottos schlecht verstehen!“548 Diese Betonung des Individuellen soll auch für die Arbeit der Mitglieder gültig sein. Dazu findet sich in § 4 der ersten Satzung die Aussage: „Die Art der Arbeit bleibt der Individualität des Einzelnen überlassen“,549 in der Vorbemerkung zu der zweiten ist zu lesen: „Grundsatz ist dabei: Geistesfreiheit für jeden. Mithin ist auch keiner gezwungen, sich auf irgendein ‚Programm‘ festzulegen.“550 Diese Vorgehensweise ist nah an Ottos Denken angesiedelt und lässt verschiedene Interpretationen zu: Zum einen kann in ihr die Idee des „Organischen“, verstanden als die Otto’sche Vorstellung von Verschiedenheit und Einheit, gesehen werden. Diese Offenheit stellt eine wichtige Strategie dar, mit der der Berthold-Otto-Verein versucht, Mitglieder und damit Ressourcen zu akquirieren. Die Betonung der individuellen und programmatischen Freiheit in der Vereinsarbeit, die sich lediglich durch das gemeinsame Ziel der Schul- und Gesellschaftsreform beschreibt, ist Selbstzweck. Der Verein muss sich in dieser Zeit gegenüber vielen anderen entstehenden und bestehenden Vereinen behaupten, so dass es notwendig erscheint, eine optimale Strategie der eigenen Positionierung in einer Situation, die von starker Konkurrenz geprägt ist, einzunehmen. Letztlich gibt es hier zwei mögliche Strategien: Entweder ein

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547 548 549 550

Offensichtlich hatte es bereits mehrfach den Vorschlag gegeben, einen Verein zu gründen, bisher waren diese Vorschläge aber an Ottos Widerstand gescheitert. Und auch im jetzigen Fall stellt er dar, dass er durchaus Bedenken hatte: „Aber ich will die Sache denn doch nicht wieder verderben, besonders da der Erfolg der ersten Tage meine Erwartungen durchaus übertraf.“ (Otto (HL 1912d): 573) DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 2. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl .2. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 1. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 2.

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sehr präzises und enggefasstes inhaltliches Programm oder eine offene Ausrichtung, die sich über eine Zielsetzung beschreiben lässt. Eine zu enge inhaltliche Ausrichtung könnte sich dabei als Beschränkung und zu hohe Zugangsbarriere erweisen. Der Berthold-Otto-Verein unternimmt den Versuch, sich nach außen als Sammelbewegung zu präsentieren, die sich für die Umsetzung der Schulreform einsetzt, wenngleich die genauere Lektüre der Satzung deutlich macht, dass es sich sehr wohl um einen ausschließlich auf Berthold Otto fokussierten Zusammenschluss handelt. Das zeigt die Beschreibung der Vereinszwecke, die eine deutliche Ausweitung und Präzisierung erfahren hat. So ist in § 3 der neueren Fassung der Satzung zu lesen: „Der Zweck des Vereins ist die Förderung der von dem Schriftsteller, Pädagogen und Schulleiter Berthold Otto eingeleiteten Reform, insbesondere die weiteste Verbreitung und Bekanntmachung von Berthold Ottos Schriften und Ideen. Zur Erreichung des Zwecks sollen Schriften Berthold Ottos in größerer Menge angekauft und an öffentliche Bibliotheken abgegeben, Vorträge gehalten und Diskussionsabende abgehalten sowie Auskunftsstellen eingerichtet werden, die über alle Fragen bezüglich Otto’scher Pädagogik Auskunft geben, nach Möglichkeit Rat und Hilfe beim Einrichten neuer Reformschulen, beim Anstellen von Lehrkräften erteilen etc. Religiöse und politische sowie gewerbliche Zwecke sind hierbei ausgeschlossen.“551

Das geplante Arbeitsprogramm ist in Bezug auf die Inhalte und Aktivitäten breiter und umfangreicher geworden. Neben der Verbreitung von Schriften und Elementen der geplanten „Lesergesellschaft“, soll es Vorträge und Diskussionsabende – also Foren der Wissensvermittlung und des Austausches – und Auskunftsstellen, die beratend bei der Umsetzung von Ottos pädagogischen Ideen tätig sein sollen, geben. Tatsächlich finden sich alle diese Aktivitäten – und weitere – in der aktiven Vereinsarbeit wieder. Ebenfalls erweitert wird auch der Grad der Strukturierung: § 17 der zweiten Fassung der Satzung befasst sich mit Ortsgruppen und beschreibt auch deren Aufgaben. Diese sollen mindestens einmal im Quartal eine Versammlung abhalten, und sie sollen sich das Ziel setzen „auf einem ganz besonderen Gebiet die Sache Berthold Ottos zu fördern.“552 Generell scheint der Verein nie zu einer großen Organisation geworden zu sein. Aus den Mitgliedsbeiträgen des ersten Jahres lässt sich eine geschätzte

551 552

DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 3-4. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 5. Auch hier wird deutlich, dass der Verein vollkommen an Berthold Otto orientiert ist.

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Anzahl von in etwa 140 Mitgliedern ermitteln,553 und Paul Baumann weist bereits in seinem Bericht in der Probenummer der „Zukunftsschule“, die im September 1913 veröffentlicht wird, darauf hin, dass die Anzahl der Vereinsmitglieder, gemessen an den anstehenden Aufgaben, zu klein ist. Zwar habe man diese sogar mit persönlichen Briefen (anstelle der unpersönlichen Drucksachen) zu werben versucht, die Resonanz aber sei gering: „Es fehlten und fehlen uns heute noch Arbeitskräfte.“554 Angesprochen wurden die „Anhänger Berthold Ottos in den verschiedenen Weltgegenden“,555 die sich, das präzisiert Baumann in demselben Bericht, vor allem aus den Gruppen der Eltern und der Lehrer zusammensetzten.556 Dass es sich um diese beiden Gruppen handelte, ist naheliegend: Es geht um Pädagogik und Schule, und damit werden Eltern in einem doppelten Sinne eine interessante Zielgruppe: zum einen, weil sie als potentielle Leserinnen und Leser der Erziehungsbücher und Zeitschriften Ottos angesprochen werden konnten, zum anderen aber auch als potentielle Kundinnen und Kunden der Berthold-Otto-Schule. Auch für Lehrerinnen und Lehrer bietet Otto neben der Möglichkeit reformpädagogischen Handelns ein weiteres attraktives Element an: Seine Neukonzeption von Schule enthält eine für die damaligen Verhältnisse sehr attraktive Positionierung der Lehrer in der Gesellschaft, die durch hohe Autonomie, Professionalisierung und bessere finanzielle Verhältnisse gekennzeichnet sein soll.557 Zudem stellen diese beiden Gruppen auch die Personenkreise dar, die Berthold Otto mit dem Hauslehrer und seinen Schriften selber erreichen will.

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Im ersten Jahresbericht werden 684,95 Mark Mitgliedsbeiträge ausgewiesen, eine Summe, die nicht ohne weiteres zu entschlüsseln ist, da die Ortsgruppen einen nicht benannten Teil ihrer eigenen Beiträge an die „Zentrale“ weitergeben mussten. Ebenfalls unklar ist, ob und wenn ja in welchem Umfang höhere Beiträge als die mindestens geforderten fünf Mark bezahlt wurden (vgl. Baumann (HL 1913q)). Im Nachlass Berthold Otto (BBF) finden sich keine Unterlagen, die eine präzisere Bestimmung der Vereinsgröße zulassen würden. Für das Jahr 1924/25 berichtet Gudrun Ferber von 360 Mitgliedern (Ferber (1925): 77). Baumann (ZS 1913): 36. Baumann (ZS 1913): 36. Und zwar im Kontext der Funktionen der Ortsgruppen: „Die können durch ihre Veranstaltungen das tiefere Verständnis für Berthold Otto in die weitesten Eltern- und Lehrerkreise bringen.“ (Baumann (ZS 1913): 37) Vgl. Kapitel 2. Freilich kann er mit seinen finanziellen Mitteln diese Vorstellungen an seiner eigenen Schule nicht umsetzen.

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3.2.3. Aktivitäten des Vereins Der Verein beginnt bald nach seiner Gründung rege Aktivitäten zu entfalten. Darüber informiert werden auch die Leserinnen und Leser des Hauslehrers und der „Zukunftsschule“, in beiden Zeitschriften wird (in der Regel durch Paul Baumann,558 für die Magdeburger Ortsgruppe von Emilie Sträter) regelmäßig und ausführlich559 berichtet. Ab Ausgabe 13/1913 finden sich auch Berichte aus der Ortsgruppe Magdeburg, auf die später noch genauer einzugehen sein wird.560 Die im Folgenden vorgenommene Darstellung der Aktivitäten des Berliner ‚Muttervereins‘ orientiert sich dabei an den Jahrgängen 1912-1914 des Hauslehrers,561 also von Beginn der Vereinsgeschäfte bis zum Beginn des Krieges. Mit Kriegsbeginn werden die Tätigkeiten des Vereins nahezu eingestellt, und auch die Zeitschrift wird der neuen Situation angepasst und konzentriert sich ab Heft 35/1914 ausschließlich auf das Kriegsgeschehen.562 Die einzige Tätigkeit des Vereins, die für diese Zeit zu ermitteln ist, ist eine Anlaufstelle für Notsituationen.

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Umso erstaunlicher ist es, dass er in seinem sechsbändigen Werk über Berthold Otto die Gründungsphase des Vereins nur kurz und sich selber in dem Zusammenhang gar nicht erwähnt (vgl. Baumann V: 95). Er gibt einen kurzen Hinweis auf Paula Jolowicz, die er als Vorsitzende einführt und deren „Tüchtigkeit“ über einen Brief von Klara Sträter an Georg Kerner dargestellt wird. Auch im weiteren Verlauf seiner Darstellungen spielt der Verein eine eher marginale Rolle. Im Jahrgang 1913 des Hauslehrers findet der Verein in insgesamt 26 der 52 Ausgaben Erwähnung. Die Magdeburger Ortsgruppe ist die einzige, die regelmäßig mit Aktivitäten publizistisch in Erscheinung getreten ist (s.u.). Im Nachlass finden sich wenige Dokumente zum Berthold-Otto-Verein. Möglicherweise sind diese an anderen Stellen archiviert, da der Verein bzw. sein Nachfolger bis weit in die 1960er Jahre aktiv war. „An unsere Leser. Wir haben jetzt alle keinen anderen Gedanken als den Weltkrieg. Er entscheidet ja alles; denn wer von uns möchte unter russischer, französischer oder gar englischer Oberherrschaft weiter wirken? – Darum stellen wir hier im Hauslehrer einstweilen alles bei Seite, was nicht vom Kriege handelt. So wird naturgemäß der Hauslehrer jetzt zu einer volkstümlichen Kriegs-Wochenchronik. Wir bitten unsere Leser, darauf im Bekanntenkreis aufmerksam zu machen. Unsere zahlreichen auswärtigen Abonnenten haben wir durch den Krieg vorläufig verloren; das ist immerhin ein empfindlicher Ausfall; aber wenn unsere Leser uns etwas dabei unterstützen, kann er leicht im Inland gedeckt werden. Wir können uns doch auch darauf berufen, daß wir vieles, was jetzt Allgemeingut geworden ist, aber bisher überall bespöttelt wurde, hier im Hauslehrer seit Anfang des Jahrhunderts verfochten haben.“ (Otto (HL 1914e): 416)

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Analysen zum Unternehmen Berthold Otto

Wie bereits aus der Satzung deutlich wurde, umfasst die Vereinsarbeit sehr unterschiedliche Tätigkeiten, die, das ist allen gemein, eine informierende, aufklärende oder unterstützende Funktion in Bezug auf die pädagogischen und zum Teil auch politischen Tätigkeiten Ottos entfalten Es handelt sich dabei um Diskussionsabende, die Weitergabe von Literatur, Vortragstätigkeiten und deren Unterstützung, Präsenz auf einschlägigen Ausstellungen und in einem Fall auch die beratende Unterstützung bei einer Schulgründung.

3.2.3.1. Diskussionsabende Die Diskussionsabende werden relativ schnell nach der Gründung begonnen. Sie finden – unterbrochen von Pausen, wie zum Beispiel den Sommerferien – in etwa alle 14 Tage statt.563 Es werden unterschiedliche Orte ausprobiert, einige Male findet man sich in der Schule im Gesamtunterrichtsraum oder im Schulgarten zusammen, zu anderen Terminen trifft man sich in privaten Wohnungen. Zu den Diskussionsabenden wird im Hauslehrer und postalisch eingeladen, oft folgen Berichte, die das behandelte Thema, Referentin oder Referenten, die Anzahl der Anwesenden und Ergebnisse beinhalten, im Hauslehrer. Aus diesen Berichten lassen sich für das Jahr 1913 insgesamt 18 Diskussionsabende ermitteln, die meisten davon mit Themen und Referentin bzw. Referent, im Jahr 1914 werden zumindest fünf Diskussionsabende angekündigt.

563

Baumann (HL 1913q). Vgl. auch Baumann (HL 1913c), hier kündigt Paul Baumann den von nun ab geltenden 14-Tages-Rhythmus der Abende an.

Analysen zum Unternehmen Berthold Otto Datum564 1913 21.1.1913565 4.2.1913567 18.2.1913568 4.3.1913569 18.3.1913570 1.4.1913571 15.4.1913572 20.5.1913573 3.6.1913574 17.06.1913

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Thema

Referentin/Referent

Zusätzliche Informationen

Vom königlichen Amt der Eltern566 Familienreform Familienreform Reformation der Schule (geplant) k.A. Reformation der Schule k.A. Kind und Politik k.A. k.A.

Paula Jolowicz

1. Diskussionsabend, 23 Personen anwesend 31 Personen anwesend 39 Personen anwesend

k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. k.A. Berthold Otto Berthold Otto Arthur Schulz

575

23.6.1913576

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565 566 567 568 569 570 571 572 573 574 575 576

Grundlagen der kunftsschule

Zu-

Berthold Otto

Besuch von Mitgliedern des Rein’schen Lehrerseminars, Jena (s.u.), 150 Anwesende

Kursiv gestellte Daten weisen auf eigene Rekonstruktion hin, d.h. das Datum wurde kontextuell erschlossen, wenn beispielsweise ein Diskussionsabend nicht mit Datum angekündigt wurde oder in einem Bericht vorkam. Dabei wurde der 14-TageRhythmus als Orientierung zugrunde gelegt. Es ist davon auszugehen, dass die Diskussionsabende ab 1914 nicht regelmäßig angekündigt werden, darauf verweisen die „Mitteilungen und Anzeigen“ im Hauslehrer (Baumann (HL 1914a): 47), in denen der Ausfall des Diskussionsabends am Kaisergeburtstag ohne vorherige Einladung oder Ankündigung in der Zeitschrift annonciert wird. Andere Wege der Bekanntgabe waren persönliche Einladungen. Baumann (HL 1913b): 60. Dieser Abend bezieht sich vermutlich auf das gleichnamige Werk Ottos (Otto (1906)). Baumann (HL 1913b): 60 und Baumann (HL 1913c): 82. Baumann (HL 1913c): 82 und Baumann (HL 1913d): 108. Baumann (HL 1913d): 108. Baumann (HL 1913e): 154. Baumann (HL 1913e): 154. Baumann (HL 1913f): 179. Baumann (HL 1913k): 262. Baumann (HL 1913l): 286. Baumann (HL 1913l): 287. Baumann (HL 1913m): 298 und Baumann (HL 1913n): 311.

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160 Datum

Thema

Referentin/Referent

9.9.1913577

Staatsbürgerliche Erziehung Vom Elternhaus zur Schule Gesamtunterricht

Berthold Otto

23.9.1913578 21.10.1913579

4.11.1913580 18.11.1913581 2.12.1913582 16.12.1913583

1914 3.2.1914584 24.2.1914586 10.3.1914587 24.3.1914588 12.5.1914589

577 578 579 580 581 582 583 584 585

586 587 588 589

Der Lehrer als Bürokrat Die einklassige Dorfschule Geistige Anarchie als Vorbereitung fürs Leben Erziehung zum Staatsbürger in der Zukunftsschule offen585 offen offen offen k.A.

Zusätzliche Informationen

Ernst Hering Berthold Otto

Dieser Vortrag wird später vom BertholdOtto-Verein als Flugschrift veröffentlicht

Ernst Hering Ernst Hering Eduard Reimpell Eduard Reimpell

k.A. k.A. k.A. k.A. Eduard Reimpell

Vortrag in dessen Privatwohnung

Baumann (HL 1913o): 422 und Baumann (HL 1913p): 446. Baumann (HL 1913o): 422; Baumann (HL 1913p): 446 und Baumann (HL 1913t): 518. Baumann (HL 1913s): 495 und Baumann (HL 1913t): 518. Baumann (HL 1913t): 518 und Baumann (HL 1913w): 591. Baumann (HL 1913w): 591. Baumann (HL 1913v): 565 und Baumann (HL 1913w): 591. Baumann (HL 1913v): 565 und Baumann (HL 1913w): 591. Baumann (HL 1914b): 60. Es „soll nach ganz kurzen Einleitungsworten irgendein besonders gewünschtes Gebiet der Pädagogik eingehend in der Diskussion erörtert werden. Wir rechnen dabei auf rege Beteiligung aus Eltern- und Lehrerkreisen“ (Baumann (HL 1914b): 60) – es handelt sich also um ein an den Gesamtunterricht angelehntes Vorgehen. Baumann (HL 1914b): 60. Baumann (HL 1914c): 125. Baumann (HL 1914c): 125. Baumann (HL 1914d): 210 und Baumann (HL 1914f): 306.

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Bemerkenswert an dieser Aufstellung ist zunächst, dass im Jahr 1914 wesentlich weniger Diskussionsabende stattfinden, die in der Zeitschrift angekündigt oder besprochen werden, als im Jahr 1913. Hier kann nur gemutmaßt werden – sei es, dass die Termine inzwischen Routine waren, sei es, dass die Diskussionsabende an und für sich weniger Bedeutung in der Vereinstätigkeit einnahmen oder auch, dass der Schwerpunkt der Vereinsarbeit ein anderer geworden ist. Weiterhin zeigt ein Vergleich der beiden Jahre, dass im Jahr 1913, also in der Zeit, in welcher der Verein seine Arbeit erst aufgenommen hatte, auch die Struktur der Diskussionsabende eine andere ist als 1914. Während im Jahr 1913 thematisch vorstrukturierte Abende mit Referentinnen und Referenten – mehrfach sogar mit Berthold Otto selber – stattfinden, werden die Veranstaltungen im Jahr 1914 als Ausspracheabende mit spontaner Themenwahl durch die Anwesenden durchgeführt. Auch diese Veränderung könnte auf eine Institutionalisierung verweisen und die These einer Verschiebung der Schwerpunkte in der Vereinsarbeit stützen, da die Variante ohne Vortrag wesentlich weniger Planungsaufwand erfordert. Betrachtet man die Vorträge aus dem Jahr 1913 gesondert, dann lassen sich einige charakteristische Merkmale feststellen: Zunächst fällt auf, dass die referierenden Personen mit einer Ausnahme (nämlich Arthur Schulz) allesamt der Berthold-Otto-Schule angehören und dort als Lehrerinnen und Lehrer arbeiten. Fünf der Vorträge – und damit die meisten, von denen die vortragende Person zu eruieren ist – hält Berthold Otto selber. Thematisch sind die Vorträge Anfang 1913 eng an Ottos Schriften („Vom königlichen Amt der Eltern“ (1906); „Familienreform“ (1911), „Reformation der Schule“ (1912)) gebunden, ab dem zweiten Halbjahr wird die „Zukunftsschule“ das Zentrum der Vorträge.590 Ein möglicher Grund dafür könnte sein, dass Otto zu dieser Zeit die „Volksorganischen Einrichtungen der Zukunftsschule“ beendet und Mitte September 1913 die Subskriptionsphase dafür beginnt.591 Ob es sich hierbei um eine abgesprochene Konzentration auf das Buch handelt oder vielleicht auch darum, dass das Thema in der Zeit der Beendigung des Buches im Kontext der Schule, die ja der Ort ist, an dem sich

590 591

Für die beiden Vorträge von Eduard Reimpell wird in der Ankündigung sogar explizit auf die Verbindung hingewiesen (vgl. Baumann (HL 1913v): 565). Otto (HL 1913e): 425. Danach wird in allen Ausgaben bis auf Nr. 40 darauf verwiesen, in Heft 42 schließlich wird das Ende der Subskriptionsmöglichkeit angegeben (Otto (HL 1913h): 485).

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alle beteiligten Akteurinnen und Akteure treffen, besonders intensiv besprochen wird, lässt sich nicht eindeutig ermitteln.592 Insgesamt bilden die Vorträge mit ihren Themen über das Jahr ein relativ umfassendes Bild der Otto’schen Pädagogik ab. Die gesellschaftstheoretischen Vorstellungen Ottos kommen, wenn überhaupt, nur vermittelt über die Pädagogik zum Ausdruck. Das betrifft auch die auf den ersten Blick inhaltlich „politisch“ wirkenden Themen („Kind und Politik“; „Erziehung zum Staatsbürger“). Diese können als Auseinandersetzung mit einer zeitgenössischen Debatte über die Fragen, ob Kinder politische Inhalte vermittelt bekommen sollen und wie die staatsbürgerliche Erziehung gestaltet werden könnte, verstanden werden. Die Diskussionsabende können von ihrer Anlage her das Ziel des Vereins gut unterstützen. Sie bieten einen Raum zur Information und Diskussion mit den Inhalten von Ottos Pädagogik und ermöglichen es, unterschiedlichen Gruppen (Eltern, Interessierte, Lehrerinnen und Lehrer) ins Gespräch zu bringen. So schreibt Paul Baumann über den Diskussionsabend am 4.2.1913: „Was beim letzten Abend so erfreulich war: daß einige Eltern von Schülern aus der Hauslehrerschule da waren und von den vorzüglichen Fortschritten der Kinder berichten konnten, wird hoffentlich wieder der Fall sein. Es ist jeder, der Lust hat, herzlich eingeladen.“593 (Positive) Erfahrungsberichte von Eltern sind sicherlich sehr willkommen, bieten sie doch eine Möglichkeit, die Umsetzung der pädagogischen Ideen als erfolgreiche Praxis zu belegen.594 Aus den wenigen Angaben über die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer kann zumindest bis zur Jahresmitte ein Anstieg – die Klimax ist sicherlich der Vortrag von Berthold Otto am 23.06.1913 –, danach eher wieder ein Rückgang geschlossen werden. Paul Baumann geht in seinen Berichten davon aus, dass diese Entwicklung auch mit der Wahl des Veranstaltungsortes zusammenhängen könnte.595 Der offensichtlich am besten besuchte Diskussionsabend hat das Thema „Die Grundlagen der Zukunftsschule“ und weist eine weitere Besonderheit auf: Am 23. 6.1913 findet in der Berthold-Otto-Schule ein Besuch von Vertretern 592

593 594

595

Auch kann nicht nachgewiesen werden, ob an den Diskussionsabenden auch Bücher von Otto verkauft wurden, da dies aber zu anderen Anlässen, also Vorträgen und bei Ausstellungen, der Fall war, kann zumindest davon ausgegangen werden. Baumann (HL 1913c): 82. Damit wird eine auch von Berthold Otto selber oft genutzte Strategie angewandt: Praktikerinnen und Praktiker seiner Pädagogik forderte er immer wieder auf, Erfahrungsberichte zu schicken; diese wurden dann zum Teil auch in den Zeitschriften veröffentlicht. Baumann (HL 1913w): 591.

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des Rein’schen Universitätsseminars (Jena) statt. Diese Hospitation wird zu einem besonderen Ereignis, das im Nachgang auch eine publizistische Darstellung erfährt: Sie endet mit einer Kontroverse, die sich an einem kritischen Bericht der Hospitanten entzündet, der von einem Mitglied des Universitätsseminars, einem Oberlehrer Böhm, an Berthold Otto geschickt wird. Otto publiziert diesen Brief und seine Antwort zusammen mit Abschriften von zwei Vorträgen, von denen einer als Diskussionsabend des Vereins mit über 150 Besucherinnen und Besuchern veranstaltet wird,596 in der „Zukunftsschule“.597 Auch im Hauslehrer wird die Kontroverse Thema, hier in einem Artikel, in dem Otto auf die neue Zeitschrift (also „Die Zukunftsschule“) verweist.598 Der zweite Diskussionsabend, der eine Besonderheit aufweist, ist der vom 21.10.1913, an diesem Abend spricht Berthold Otto zum „Gesamtunterricht“. Dieser Vortrag ist einer der bekanntesten599 von Otto, vielleicht auch, weil er 596

597 598

599

Interessanterweise erwähnt Paul Baumann in seinem Bericht über den Verein in der Probenummer der „Zukunftsschule“ den Anlass des Vortrages von Otto nicht. Er erwähnt lediglich die Zahl von Besucherinnen und Besuchern: „Ein Vortragsabend in Lichterfelde, an dem Berthold Otto über die ‚Grundlagen der Zukunftsschule‘ sprach, war so besucht – es waren über 150 Personen anwesend – daß die Leute längst nicht mehr alle Platz fanden und z.T. außen an den offenen Fenstern standen, um etwas zu hören“ (Baumann (ZS 1913): 36) Aus der Retrospektive weist er darauf hin, dass die „rege Tätigkeit des Vereins“ es nahe gelegt hätte, dass dieser die Hospitierenden aus Jena zu der Aussprache im Rahmen des Diskussionsabends eingeladen habe (vgl. Baumann V: 95). Otto (ZS 1913). Am Vormittag des 26.3.1913 hielt er anlässlich des Besuches einen Vortrag mit dem Titel „Zur Einführung in die Arbeit der Berthold-Otto-Schule“. Otto (HL 1913j): 607ff. Die Kontroverse dreht sich im Kern um Kritik am Gesamtunterricht, der den Jenaer Pädagogen nicht dafür geeignet erscheint, ein differenziertes Angebot an jüngere und ältere Schülerinnen und Schüler gleichzeitig zu machen. Außerdem kritisieren sie Ottos Ablehnung von Lehrplänen jeglicher Art, dies würde zum einen die Interessen Einzelner gegenüber denen aller „majorisieren“ und zu einer „Regellosigkeit“ der Stoffdarbietung führen. Letztlich dürfte sich die Kritik daran entzündet haben, dass hier zwei unterschiedliche Vorstellungen von Schule und von kindlicher Entwicklung aufeinanderprallten, die unweigerlich in verschiedenen Perspektiven auf die pädagogischen Praxen in der Berthold-Otto-Schule zum Ausdruck kommen mussten. Anzumerken ist noch, dass Otto in dem genannten Artikel im Hauslehrer einige der gemachten Anmerkungen des Oberlehrers Böhm zu widerlegen sucht und dabei betont, dass er sich bereits während der Hospitation „missverstanden“ gefühlt habe und dass der Brief aus Jena zu einem für ihn unpassenden Moment bei ihm ankam. Er schreibt: „Der Brief traf mich in einem ungünstigen Augenblick; ich war gerade im Begriff, die Einrichtungen der Zukunftsschule zu Ende zu diktieren und fühlte mich dabei durch diese Mitteilung etwas gestört. Deswegen ist mein Antwortbrief (…) etwas lebhafter gehalten, als ich sonst auf derartige, mir ja nicht neue Ausführungen zu antworten pflege.“ (Otto (HL 1913j): 607f.) Vgl. dazu Kapitel 2.1.3.

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vom Berthold-Otto-Verein in einer Auflage von immerhin 100.000 Stück als Flugschrift gedruckt und kostenfrei zur Verteilung abgegeben wurde. Darüber berichtet Paul Baumann im Hauslehrer Anfang Mai 1914.600 Die Druckkosten wurden zum Teil mit Annoncen finanziert.601 Die Flugschrift enthält neben dem eigentlichen Vortrag auch eine Einleitung durch den Vereinsvorstand, in der auf die Wichtigkeit des Themas „Gesamtunterricht“ hingewiesen und zur Mitarbeit im Verein aufgerufen wird, denn „Berthold Otto führt den Kampf für Geistesfreiheit und für die innere Einigkeit deutscher Kultur seit über einem Vierteljahrhundert; wir wollen uns nun endlich zusammenfinden, wir, die wir auf dem einen oder anderen Gebiet gleiches wollen wie er. Und dann kann jeder umso energischer das vertreten, was ihm gut scheint, in dem Bewußtsein, Helfer zu haben, wenn er welche braucht.“602

Der Verein wird dann als die „starke Organisation“, die für die „Durchsetzung idealer Positionen“603 bedeutsam ist, beschrieben. Am Ende der kleinen Broschüre finden sich dann einige Anzeigen,604 ein Verzeichnis der Schriften Berthold Ottos, ein kurzer Text, der die BertholdOtto-Schule beschreibt,605 sowie eine Übersicht von „Schulen, die korporativ oder deren Leiter dem Berthold-Otto-Verein beigetreten sind.“606 Diese Auf600

601 602 603 604

605

606

Baumann (HL 1914d): 210. Allerdings beschreibt ein Lehrer G. Blättner aus Pirmasens bereits in der Ausgabe vom 26.4.1914, dass er einen Vortrag gehalten habe, der das Ziel verfolgte, seine jungen Kollegen über das Lebenswerk Ottos zu informieren. „Herr Pfalzgraf stand mir bei der Diskussion wieder in dankenswerter Weise zur Seite. Im Anschluß an den Vortrag verteilte ich die Flugschrift über den Gesamtunterricht“ (Blättner (HL 1914): 199), so dass davon auszugehen ist, dass die Flugschrift bereits einige Wochen vorher im Umlauf war. Baumann hatte das Erscheinen bereits für März avisiert (Baumann (HL 1914c): 125). Ein Exemplar befindet sich im Nachlass Berthold Otto (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 30-37). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 30. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 30. Unter anderem eine, sogar redaktionell gestaltete, der Firma „Möbel Dittmer“, deren Inhaber der Kaufmann Otto Lademann ist, ein langjähriger Unterstützer von Ottos Bestrebungen, und eine ebenfalls redaktionell gestaltete Anzeige der Odenwaldschule. Daneben auch klassische Annoncen. Dieser Text enthält einen interessanten Aufruf: Schulen oder Lehrerinnen und Lehrer, die Gesamtunterricht praktizieren, werden gebeten, dazu einen Bericht an den Berthold-Otto-Verein zu schicken. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 36. Hier werden genannt: Pädagogium Ostrau bei Filehne, Leitung Beheim-Schwarzbach; Reformvorschule der Mainzer Frauenarbeitsschule Mainz, Leitung Frl. M. Noack; Odenwaldschule Oberhambach, Leitung: Paul Geheeb (zugleich: Ortsgruppe Oberhambach des Berthold-Otto-Vereins); Heilerziehungsheim für psychopathische Kinder BerlinZehlendorf, Leitung: Frau Dr. med. Anna Geheeb-Lieberknecht; Privatschule in

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listung ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Zum einen lässt sie einige Rückschlüsse auf die Reichweite und die Klientel des Berthold-Otto-Vereins zu,607 es handelt sich primär um reformorientierte Schule und immerhin drei deutsche Schulen im Ausland. Zum anderen stellt diese Darstellung auch ein Mittel der eigenen Positionierung dar – nämlich im Kontext von unterschiedlichen reformpädagogischen privaten und öffentlichen Schulen, die alle mit Ottos pädagogischen Ideen experimentieren bzw. sie umsetzen. Damit ist sowohl ein Hinweis auf die zeitgenössische Anschlussfähigkeit gegeben als auch der Anschluss an den aktuellen Diskurs zur Schulreform. Durch die Aufzählung der unterschiedlichen Schulen und deren Kontextualisierung im Umfeld von Berthold Otto wird dessen Pädagogik als weitreichend und bedeutsam charakterisiert. Entsprechend kann dieser Aufzählung ein Charakter der Legitimation der Richtigkeit der Otto’schen Pädagogik zugeschrieben werden. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass Paul Baumann im Juni 1914 im Hauslehrer anbietet, dass die Flugschrift noch in einer qualitativ hochwertigeren Variante gedruckt werden könnte – mit besserem Papier, buntem Umschlag und ohne Annoncen – falls sich genügend Abnehmerinnen und Abnehmer finden würden, die eine solche Ausgabe gern haben würden.608 Die Diskussionsabende können also als Orte der Information, des Austausches und der Vernetzung beschrieben werden, mit Möglichkeiten des persönlichen Kontaktes (auch mit Berthold Otto), die aber eine räumliche Begrenzung dadurch erfuhren, dass sie in Berlin oder in Lichterfelde stattfanden.609 Regelmäßig teilnehmen konnte nur, wer keinen zu weiten Weg hatte.

607 608 609

Lasdehnen (Ostpreußen), Leitung: Frl. Lottermoser; Ostdeutsches Landerziehungsheim für Mädchen Stolpen bei Ullenst., Leitung: Frl. M. Stobbe; Landerziehungsheim für Mädchen Breitbrunn am Ammersee, Leitung: F. Utz.; „Heimgarten“ Landerziehungsheim bei Jugenheim an der Bergstraße; Deutsche Schulen in Busteni (Rumänien), Leitung: Frl. Cl. Binder, Mediasch (Ungarn), Leitung: Frl. Binder, Tsi-nan-fu, Direktor: Dr. Melchers; Lehrerinnenseminar Frankfurt am Main, Leitung: Direktor Ernst Keller; Gemeindeschule Siebleben bei Gotha, Leitung: Schuldirektor Meiselbach; Volksmädchenschule Magdeburg-Ottersleben, Leitung: Rektor Harz und Volksmädchenschule Magdeburg Staßfurter Straße, Leitung: Rektor Kohlhase. Ein Mitgliederverzeichnis oder Ähnliches ist im Nachlass von Berthold Otto nicht vorhanden. Baumann (HL 1914e): 270. Ob dieses Vorhaben realisiert wurde, ist nicht mehr zu eruieren. Am Ende des Jahres 1913 kündigt Paul Baumann an, dass die Diskussionsabende unter Umständen wieder von Berlin nach Lichterfelde verlegt würden, von wo man sie wegen der langen Anfahrt eigentlich wegverlegt hatte, da sinkende Besucher_innenzahlen zu verzeichnen seien (Baumann (1913w): 591).

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Zudem stellt Eduard Reimpell zur generellen Situation bezogen auf entsprechende inhaltliche Angebote in Berlin fest: „Man sagt, Berlin sei ‚vereinsmüde‘. Aber nicht nur deshalb, sondern wegen der großen Fülle wertvoller Dinge, die allabendlich hier genossen werden können, ist es für einen Verein gelegentlich schwierig, einen ‚vollen Saal‘ zu haben.“610

Diese räumliche und gewissermaßen auch durch konkurrierende Angebote bestehende Beschränkung wird zwar durch den Abdruck von Vorträgen in den Otto-Zeitschriften611 zu überwinden versucht, aber mit diesen erreicht man natürlich auch nur die bereits Interessierten, die diese Zeitschriften auch lesen bzw. sie überhaupt kennen.612 Um dem Vereinsziel der Weiterverbreitung der Otto’schen Ideen also näher zu kommen, müssen weitere Wege der Informationsweitergabe gesucht und gefunden werden. Einer davon ist die kostenlose Verteilung von Otto’schen Schriften an Bibliotheken und öffentliche Lesehallen.

3.2.3.2. Weitergabe von Literatur Das kostenlose Verteilen von Werken Berthold Ottos ist eine weitere wesentliche Säule der Tätigkeiten des Vereins und einer der ausdrücklich benannten Zwecke der Mitgliedsbeiträge. War es zu Beginn der Vereinstätigkeit noch so, dass ein Teil dieses Beitrages automatisch in ein Guthaben zum eigenen Literaturbezug umgewandelt wurde, auf das man zugunsten der Literaturspenden an Dritte verzichten kann, wird diese Regelung später geändert. Bereits Anfang März 1913 teilt Paul Baumann im Hauslehrer mit, dass der Mitgliedsbeitrag zunächst für Bücherspenden verwendet wird, es sei denn, man widerspricht dem ausdrücklich zu Beginn seiner Mitgliedschaft.613 Um das Angebot bekannt zu machen, schaltet der Verein zu Beginn des Jahres 1913 Anzeigen im Hauslehrer mit folgendem Wortlaut: „Öffentliche Bibliotheken und Lesehallen, Schul- und Seminarbibliotheken, die sich für die pädagogischen, politischen und nationalökonomischen Schriften Berthold Ottos interessieren, solche aber aus pekuniären oder anderen Gründen nicht selbst anschaffen können, werden gebeten, sich mit dem unterzeichneten Verein in Verbindung zu setzen. Es sollen nämlich eine Anzahl Werke Berthold Ottos kostenlos aus Ver610 611 612

613

Reimpell (HL 1914b): 305. Die Vorträge sind primär in der „Zukunftsschule“ erschienen. Sicherlich wurden die Zeitschriften auch verteilt und weitergegeben, dennoch verblieb der Kreis der Rezipientinnen und Rezipienten vermutlich eher in einem kleineren Rahmen. Ausnahme ist die Flugschrift zum Gesamtunterricht, die mit ihrer großen Auflage ganz andere Reichweiten erzielen konnte. Baumann (HL 1913d): 107.

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einsmitteln abgegeben werden. Gesuche sind zu richten an die Geschäftsstelle des Berthold-Otto-Vereins. BLN-Lichterfelde, Holbeinstraße 25 bei Paul Baumann. Ebendort möchten sich Interessierte für den Verein melden.“614

Dass dieses Angebot scheinbar gut angenommen wurde, berichtet Paul Baumann in den Vereinsmitteilungen im Hauslehrer bereits eine Woche nach dem Erscheinen der ersten Anzeige.615 Er listet die weitergegebene Literatur sowie die Empfängerinnen und Empfänger auf.616 Die Auflistung zeigt, dass sehr unterschiedliche Institutionen begünstigt wurden – sowohl Volks-, Schul- als auch Lehrerbibliotheken finden sich, aber auch ein pädagogisches Seminar (an der Universität Halle), dem ein Abonnement des Hauslehrers zur Verfügung gestellt wurde. Über weitere Verteilaktionen schreibt Baumann unter anderem im Hauslehrer 38/1913,617 42/1913 sowie in der Ausgabe 4/1914, in der berichtet wird, dass 15 Bibliotheken ein Exemplar der eben erschienen „Volksorganischen Einrichtungen der Zukunftsschule“ erhalten haben. Das ist insofern bedeutsam, da der Verein aus seinen eigenen Mitteln 100 Exemplare in der Subskriptionsphase zu Verteilzwecken zu beschaffen

614 615 616

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Diese Anzeige erscheint insgesamt zehn Mal, und zwar in den Heften 3-8 und 15-18 des Jahrgangs 1913. Was darauf verweist, dass die Kommunikation über den Verein auch andere Wege gehabt haben muss, als nur die Zeitschrift. „Es hat sich schon in der kurzen Zeit gezeigt, daß die Gründung des Vereins ein Bedürfnis war: von mehr Seiten, als erwartet, sind bei uns Anfragen über die Schule und die Bestrebungen Ottos, Gesuche um leihweise oder geschenkweise Überlassung der Schriften eingelaufen, Bitten um Vortragsmaterial. Dank der Opferwilligkeit einer Anzahl Mitglieder, die auf Bücherlieferung verzichteten, waren wir in der Lage, eine Anzahl der Gesuche zu berücksichtigen. Andere kommen nächstens an die Reihe. Bisher erhielten Bücher: 1. Die landwirtschaftliche Schule zu Heide (Holstein): Den ‚Zukunftsstaat‘. 2. Das pädagogische Seminar der Universität Halle ein Abonnement auf den ‚Hauslehrer‘. 3. Die Gemeindeschul- und Volksbücherei Emskirchen: ‚Fürst Bismarck‘, ‚Kieler Kriegshafen‘. 4. Die Schulbibliothek Heinrichsdorf bei Rheinsberg: ‚Fürst Bismarck‘. 5. Die Volks-Bibliothek Klein-Wissek: ‚Familienreform‘, ‚Reformation der Schule‘. 6. Lehrerbibliothek zu Amberg: ‚Lehrgang der Zukunftsschule‘. 7. Schulbibliothek zu Kriegsdorf: ‚Agrarier, Arbeiter, Armee‘. 8. Gemeindeschule zu Lübben, O.-L.: ‚Kindesmundart‘, ‚Fürst Bismarck‘. 9. Schulbibliothek zu Grischlin: ‚Agrarier, Arbeiter, Armee‘, ‚Fürst Bismarck‘, ‚Vom Deutschen Reich‘. 10. Mädchenschule und Lyzeum zu Eisenach: „‘Vom Deutschen Reich‘, ‚Familienreform‘, ‚Reformation der Schule‘, ‚Recht auf Arbeit‘, ‚Agrarier, Arbeiter, Armee‘, ‚Kieler Kriegshafen‘, ‚Ein innerer Feind‘. 11. Kreislehrerbibliothek zu Seehausen: ‚Kindesmundart‘. In fast allen Fällen waren uns von den betreffenden Bibliotheken die speziellen Wünsche genannt worden. Das ist uns auch immer das liebste. In nächster Zeit können wir wieder einige der Gesuche berücksichtigen.“ (Baumann (HL 1913a): 47) Es wurden 30 Exemplare des eben erschienen Buches „Kindergeschichten in Altersmundart“ an verschiedene Bibliotheken verteilt (Baumann (HL 1913p): 447).

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plant618 und dass diese Schrift – wie bereits im Kapitel über die Diskussionsabende deutlich wurde – im zweiten Halbjahr des Jahres 1913 als inhaltlicher Fokus unterschiedlicher Aktivitäten des Unternehmens Berthold Otto gesehen werden kann. Aus dem Bericht über die erste ordentliche Mitgliederversammlung des Vereins ist zu erfahren, dass bis September 1913 insgesamt 479,40 M für Bücher aus dem Hauslehrerverlag aufgewendet wurden.619 Abgegeben wurde Literatur im Wert von 84,60 M. Die Differenz – immerhin 394,80 M – wird nicht näher erläutert. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil der gekauften Bücher in die Leihbibliothek, die der Verein betreibt, übernommen wurde, vielleicht wurde auch ein Vorrat an bestimmten Büchern angelegt, worauf die geplante Subskription auf 100 Exemplare der „Volksorganischen Einrichtungen der Zukunftsschule“ bei der Mitgliederversammlung am 16.9.1913 verweisen würde.620 Die Verleihbibliothek wird immer von einem Vereinsmitglied betreut.621 Hier kann Literatur vier Wochen kostenlos geliehen werden, jede weitere Woche kostet 15 Pfennig, diese werden beim Kauf des entsprechenden Buches verrechnet.622 Diese Regelung bietet also sowohl kostengünstigen Zugang zu Otto’scher Literatur als auch den Anreiz, diese bei Gefallen zu kaufen. Zudem tritt der Verein auch als Vertriebsstelle für „sämtliche Werke Berthold Ottos, soweit nicht vergriffen“623 auf. Das Verleihmodell wird auch in der Ortsgruppe Magdeburg durchgeführt. Die Weitergabe von Literatur an Bibliotheken und andere Orte, an denen eine multiplizierende Wirkung zu erwarten ist, sowie das Angebot eines leihweisen Zugangs zu Büchern von Berthold Otto sind zwei wichtige Säulen der Arbeit des Vereins und können als weitere Strategien der Informationsweitergabe – oder wie es zeitgenössisch ganz positiv heißt, der „Agitation und Propaganda“ – verstanden werden. Daneben ermöglicht der Verein durch den Ankauf von Büchern auch dem Hauslehrerverlag eine bessere Einkommenslage und versucht, die Positionierung des Unternehmens Berthold Otto auf dem pädagogischen Markt gleichsam doppelt zu stärken: durch die Steigerung der Einnahmen und durch das Bekanntmachen der Ideen Berthold Ottos.

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Baumann (HL 1913q): 457ff. Baumann (HL 1913q): 457ff. Zumindest hatte der Verein eigene Exemplare erworben, denn vier Wochen nach Ende der Subskription wurden diese für den ermäßigten Preis vom Verein für seine Mitglieder angeboten (Baumann (HL 1913u): 543). Bis November wird diese von Paula Jolowicz betreut, danach von Ernst Hering. Baumann (HL 1913q): 457ff. Baumann (HL 1913g).

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Gelegentlich nutzen auch Vortragende – meist sind es Lehrerinnen und Lehrer, die in Kollegien oder Lehrervereinen sprechen – die Leihbibliothek, um sich auf ihre Vorträge vorzubereiten. Viele kommen der Aufforderung nach und senden Berichte über die von ihnen gehaltenen Vorträge ein. Gleichzeitig vermittelt der Verein auch Vortragende bzw. halten Vereinsmitglieder selber Vorträge.

3.2.3.3. Vorträge Vorträge sind im Rahmen der Diskussionsabende des Vereins ein zentrales Element. Dort werden sie, wie bereits gezeigt, nahezu ausschließlich von Lehrerinnen und Lehrern der Berthold-Otto-Schule selber gehalten. Es gibt Hinweise, dass der Verein auch bei Vorträgen, die nicht von ihm selber veranstaltet werden, eine unterstützende Rolle spielt. Paul Baumann weist bereits im Hauslehrer 4/1913 darauf hin, dass „Bitten um Vortragsmaterial“ an den Verein herangetragen wurden.624 Im Hauslehrer 2/1913 berichtet ein Lehrer Ballin aus Eckstein über einen Vortrag im Lehrerverein in Seehausen i. Altm. u.U. Der Vortrag war von Rektor Mahlow gehalten, der zuvor einen Besuch in der Berthold-Otto-Schule gemacht hatte.625 Bei einer Wiederholung eines solchen Vortrages ist geplant, Werbung für den Berthold-OttoVerein zu machen.626 In den Hauslehrerjahrgängen 1913 und 1914 finden sich verschiedene Berichte über Vorträge, unter anderem gehalten von Eduard Reimpell, Ernst Hering und Georg Kerner.627 Diese Berichte weisen allerdings keinen expliziten Bezug zum Berthold-Otto-Verein in der Weise auf, dass etwa die Unterstützung durch den Verein erwähnt wird oder von Werbung für den Verein gesprochen würde. Lediglich ein weiterer Bericht beschreibt eine Nähe zu den Vereinstätigkeiten: Bei seinem zweiten im Hauslehrer beschriebenen Vortrag628 berichtet der Hilfslehrer G. Blättner davon, nach seinem Vortrag über Kindesmundart im Junglehrerverein Pirmasens die Flugschrift des Vereins zum Gesamtunterricht verteilt zu haben.629

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Baumann (HL 1913a): 47. Und dort nach Aussagen des Lehrers Ballin vom Kritiker zum Anhänger „bekehrt“ wurde (Ballin (HL 1913): 22). Ballin (HL 1913): 23. Unter anderem in den Ausgaben 9, 14, 16, 34, 49 und 52 des Jahrgangs 1913 und 2, 11, 17, 22 und 26 des Jahres 1914. Blättner (HL 1913). Blättner (HL 1914): 198.

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Von November 1913 an bewirbt der Verein dann im Hauslehrer die Möglichkeit, dass durch ihn Vortragende zu Themen der Hauslehrerbestrebungen vermittelt werden,630 und versucht so, einen weiteren niedrigschwelligen Werbekanal zu etablieren. Gerade bei diesem Themenkomplex zeigt sich, dass Aktivitäten unterschiedlichen Personen(-gruppen) und deren institutionelle Zugehörigkeiten nicht immer trennscharf voneinander zu analysieren sind: Lehrerinnen und Lehrer der Schule sind gleichzeitig zentrale Akteurinnen und Akteure des Vereins, so dass die Differenzierung dahingehend, welche Veranstaltungen unter welcher Flagge stattgefunden hat, nicht immer vorgenommen werden kann. Die Intensität, mit der sich „Anhängerinnen“ und „Anhänger“ also für unterschiedliche Aspekte der Hauslehrerbestrebungen interessieren, verweist auf eine hohe Bindungskraft, welche die Bewegung zusammengehalten haben muss. Auch wenn das Zusammenspiel von Vorträgen und Vereinstätigkeiten nicht unmittelbar ersichtlich ist, scheint es auf jeden Fall einen mittelbaren Zusammenhang durch Personen zu geben. Vorträge und die an sie in der Regel angeschlossenen „Aussprachen“ sind ein Mittel, um neue Personenkreise für die Ideen Ottos (und damit vermutlich auch seiner Werke und Zeitschriften) zu interessieren. Viele der in den Hauslehrerjahrgängen 1913 und 1914 erwähnten Vorträge finden in Lehrerinnen- und Lehrervereinen631 oder verwandten Zusammenhängen sowie in eher national orientierten Gruppierungen wie Deutschbundgemeinden oder dem Ernst-Moritz-Arndt-Bund632 statt. Neben der bereits erwähnten Flugschrift stellt der Verein auch einen „Werbebogen“ bereit, „der die wichtigsten Punkte der Bestrebungen Berthold

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Dies geschieht vermittels einer Anzeige, die sich an Lehrerseminare und Vereine richtet. Als thematische Ausrichtung wird „Reform in Schule und Leben“ genannt und darauf hingewiesen, dass Redner zu diesem Thema nachgewiesen werden können. Die Anzeige erscheint erstmalig in der Ausgabe des Hauslehrers vom 16.11.1913 (HL Jg. 13/1913, H 46, 16.11.1913: 544) und bis dahin nahezu regelmäßig bis einschließlich Heft 38/1914 (nicht erschienen war diese Anzeige bis dahin in den Heften 5, 7, 8, 34, 35, 37/1914). Ab Heft 39 kommt die Veröffentlichung von Annoncen generell nahezu vollständig zum Erliegen. Lehrerinnen- und Lehrervereine waren standespolitische Berufsvereine, die im späten Kaiserreich wie auch in der Weimarer Republik eine wichtige Rolle spielten (vgl. dazu Bölling (1978)). Der „Deutschbund“ wurde 1894 von dem völkischen Journalisten Friedrich Lange gegründet. Er hatte 1914 1534 Mitglieder. Seine Ausrichtung war völkischantisemitisch (vgl. Fricke (1999)). Der Ernst-Moritz-Arndt-Bund war ein antisemitisch orientierter Bund (vgl. Bach/Breuer (2010): 153.).

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Ottos zusammenfaßt und zur Mitarbeit auffordert.“633 Der Bogen kann angefordert werden, liegt mindestens einmal einer Ausgabe des Hauslehrers634 bei und eigne sich „namentlich gut zur Verteilung nach Vorträgen.“635 Er erlaubt es, eine Vereinsmitgliedschaft zu beantragen und sich auf einer Art Verteiler für Diskussionsabende eintragen zu lassen.636 Eine weitere Form der zielgerichteten Öffentlichkeitsarbeit ist die Teilnahme des Vereins an Ausstellungen.

3.2.3.4. Ausstellungen Im Jahr 1913 werden insgesamt drei Ausstellungen beschickt: die Ausstellung „Das Kind“ in Berlin, die vom 12.4. bis zum 14.5.1913 dauert, die Ausstellung „Kind und Jugendpflege“ in Iserlohn (14.-26.11.1913) und eine nicht näher bezeichnete Ausstellung in Köln.637 Das Präsidium der Ausstellung „Das Kind“ besteht aus Generalleutnant z.D. von Strubberg und Graf Eberhardt von Moltke,638 dazu kommt ein umfangreiches „Ehrenkomitee“,639 bestehend aus den Oberbürgermeistern verschiedener Städte, Professoren der Medizin sowie im Bereich von Erziehung und Fürsorge tätigen Personen. Die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung ist patriotisch gefärbt640 und will ein Gegengewicht zu der von den Veranstaltern wahrgenommenen überbordenden aber inhaltsarmen Auseinandersetzung mit Kindheit und Kindern

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Baumann (HL 1913h): 226. Baumann (HL 1913j): 238. Baumann (HL 1913h): 226. „Wer Mitglied werden will, möge auf der zweiten Seite des Werbebogens unterschreiben und den Abschnitt an mich (= Paul Baumann; KK) einsenden. ebendort auf der zweiten Seite möge sich – unter Durchstreichung alles andern – unterzeichnen, wer Einladungen zu Diskussionsabenden wünscht. Und zwar gilt das nicht nur für Leute in der Nähe Berlins, sondern es ist uns von besonderm Wert, auch von außerhalb die Adressen zu erhalten. Bildet sich dann an dem betr. Ort eine Orts- oder Landesgruppe, so erhalten alle, die sich gemeldet haben, Einladung zu Diskussionsabenden. Es ist für uns sehr wichtig, daß sich recht viele melden, damit wir einen Überblick haben, wie groß an den einzelnen Orten das Bedürfnis nach einer Ortsgruppe ist.“ (Baumann (HL 1913j): 238) Baumann (HL 1913f): 179 und Baumann (HL 1913q): 459. Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 3. Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 3-5. Die Ausstellung wurde mit einem Aufruf begonnen, „in dem wir das ‚Kind‘ dem Wohlwollen patriotisch gesinnter Männer und Frauen ans Herz legten.“ (Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 8)

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zugunsten der „ernsthaften“ Beschäftigung damit sein. Entsprechend heißt es im Vorwort des Ausstellungskataloges: „Nachdem die Schlagworte ‚Seine Majestät das Kind‘ und ‚wir leben im Jahrhundert des Kindes‘ durch den deutschen Blätterwald geklungen waren und nachdem die Fünfuhrtees und abendlichen Festveranstaltungen zum Besten der Säuglinge und Fürsorgezöglinge epidemisch geworden waren, lag der Gedanke einer Ausstellung, die den Namen ‚Das Kind in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung‘ führen sollte, sehr nahe. Für ernsthafte Menschen, denen das Wohl der Kinderbewegung wirklich am Herzen lag, galt es nämlich aus der Spreu der überhandnehmenden Vereinsmeierei den Weizen echter Menschlichkeit und Aufopferung zu suchen.“641

Der Aufruf, mit dem für Beteiligung an der Ausstellung geworben wird, beginnt mit den Worten „Die Zukunft des Vaterlandes liegt in der körperlichen, geistigen und moralischen Ausbildung des heranwachsenden Geschlechts.“ Im Anschluss daran werden die Ziele formuliert: Es soll ein Geschlecht erzogen werden, „das mit einem kernigen Körper sicheres Selbstvertrauen, klares Urteil und ausgeprägten Sinn für Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit vereinigt.“ Die Ausstellung soll dazu verhelfen, „den Ernst der Aufgabe der Allgemeinheit darzulegen“, denn: „Wer mithilft, erwirbt sich ein Verdienst um das Vaterland.“642 Die Bandbreite der beteiligten Firmen, Institutionen und Personen ist groß und reicht von (teilweise lebensreformerisch orientierten) Unternehmen643 über Verlage und Schulausstatter bis hin zu Darstellungen kommunaler Kinder- und Jugendfürsorgeaktivitäten. Es präsentieren sich Einzelpersonen (die z.B. Gemälde oder Fotografien anfertigen), unterschiedliche Erziehungseinrichtungen, ein Bündnis verschiedener Initiativen gegen Alkoholismus, Jugendbünde644 und diverse Bildungsvereine. Aus dem Kontext der Schulre-

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644

Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 7f. Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 10f. Neben Firmen wie Maggi, Knorr und Nestlé finden sich auch Unternehmen, die Nahrungsmittel, Spielzeuge oder Bücher speziell für Kinder vertreiben. Auch lebensreformerische Angebote – von „Buttere zuhause“ (zur häuslichen Herstellung von Pflanzenfett) bis hin zu Malzkaffeeanbietern sind vertreten. Zum Beispiel der „Groß-Gau Berlin des Deutschen Wandervogel e.V.“ mit seiner Mädchenabteilung oder das „Jugendkorps blau-weiß-blaue Union“, ein Verein für Jungen ab 11 Jahren, in dem vormilitärische Übungen und Kriegsspiele durchgeführt wurden und der nach Eigenaussage in 70 deutschen Städten zu finden ist (Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 106f.; vgl. auch Flugblatt des Jugendkorps blau-weiß-blaue Union, DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 94 Bl. 86-91).

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formbewegung findet sich neben dem Berthold-Otto-Verein auch die Freie Schulgemeinde Wickersdorf GmbH.645 Im redaktionellen Teil des Kataloges stellen sich 34 Ausstellende genauer vor, den Text für den Berthold-Otto-Verein hat Paul Baumann verfasst.646 In diesem stellt er die zentralen Inhalte der Pädagogik Berthold Ottos647 dar und verortet sie in den Kontext von „gesunden Reformen einer natürlichen Erziehungslehre und Lebensgestaltung“648. Die Gedanken Ottos müssten „Gesamtgut des deutschen Volkes werden“,649 und der Verein wolle zu dieser wichtigen Aufgabe seinen Beitrag leisten – durch Vernetzung mit anderen „gleichlaufenden Bewegungen“, durch Aufklärungsarbeit und dadurch, „daß wir in Fühlung stehen wollen, wie mit dem Volk so mit den Regierungen und Ministerien, welche die Arbeit Berthold Ottos hochschätzen und unterstützen.“650 Die Teilnahme des Vereins an der Ausstellung wurde wesentlich von einem Vereinsmitglied, Clara Fürstner,651 ermöglicht.652 Gezeigt werden sollten „Schülerarbeiten, Vereinsflugblätter und sämtliche Schriften Berthold Ottos, sowie Bilder aus der Hauslehrerschule.“653 Die gezeigten Schülerarbeiten entstammten dem laufenden Unterrichtsbetrieb,654 die Fotografien aus dem Schulalltag hat das Vereinsmitglied Herr Ebel angefertigt. 645

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Die Heterogenität derjenigen, die ausstellen, bildet sich auch in den zwölf Abteilungen des Programms ab: Körperpflege (darin unter anderem „Der jugendliche Idealkörper“), Belehrung, Erziehung, Spiel und Unterhaltung (darin u.a. Spielzeug, Lektüre und Vereine zur Förderung des patriotischen Geistes), Ernährung, Kleidung und Wohnen, Jugendwohlfahrtseinrichtungen, Vorbereitung für den künftigen Beruf, Historische Vergleiche und Kinematografische Vorstellungen. (Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 12f.). Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 98f. Freie geistige Betätigung, freies geistiges Wachstum, Altersmundart, Staatsbürgerliche Erziehung des Kindes, die Berthold-Otto-Schule, der Hauslehrer also Anschauungsmaterial für die Umsetzung von Ottos Ideen in die Praxis, Fragerecht der Kinder und die Notwendigkeit der Reform der Lehrerausbildung. Erstaunlich ist, dass der Gesamtunterricht, an sich eines der zentralen Markenzeichen, nicht erwähnt wird (Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 99). Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 98. Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 98. Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin 1913: 98. Clara Fürstner stiftete auch ein Stipendium (vgl. Kapitel 3.3). Baumann (HL 1913f): 179 und Baumann (HL 1913q): 458. Baumann (HL 1913f): 179. Es handelte sich dabei um „Plastilinarbeiten der Kleinsten“, „Zeichnungen und kleine Malereien“ und ein großes gebautes Boot, das ein Schüler hergestellt hatte (Otto (HL 1913c): 182).

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Der Stand wurde von Mitgliedern des Vereins ehrenamtlich betreut, was bei der Ausstellungsdauer von über 30 Tagen eine logistisch-organisatorische und finanzielle Leistung darstellt. Um diesen Aufwand bewältigen zu können, bittet Baumann bei den Vereinsmitgliedern um Unterstützung: „In Anbetracht der Wichtigkeit der Sache wollen wir unsern Platz auch wirkungsvoll herrichten; nur sind dabei die Kosten so hoch, daß wir alle, die sich für die Sache interessieren, um einen Extrabeitrag bitten müssen. Wir hoffen diesen Beitrag von jedem, der es ermöglichen kann, zu erhalten – mögen doch nur alle bedenken, daß hier Gelegenheit ist, viele Zehntausende auf einmal mit der Berthold-Otto-Sache bekannt zu machen, und zwar in einer Stadt, wo jeder sich leicht weiter mit der Sache beschäftigen kann durch Hospitieren in der Berthold-Otto-Schule oder durch Besuch unserer Diskussionsabende. Unser zweiter Wunsch ist, daß sich Freunde finden mögen, die an den einzelnen Tagen oder Nachmittagen die Aufsicht über unseren Platz übernehmen würden, den Besuchern Erklärung gäben und dergleichen.“655

Neben der Bitte um Mitarbeit spricht Paul Baumann hier einen weiteren zentralen Punkt an: Die Hoffnung ist, dass die Arbeit bei der Ausstellung einen signifikant höheren Bekanntheitsgrad der „Sache“, also der Hauslehrerbestrebungen erbringen wird, da man „viele Zehntausende auf einmal“ erreichen könne. Sowohl die inhaltlich-konzeptionelle Ausrichtung der Ausstellung, ihre Größe als auch die Tatsache, dass sie in Berlin – also nahe der Schule – stattfindet, macht sie attraktiv für die Berthold-Otto-Anhänger – und auch für Berthold Otto selber. Er nutzt die Ausstellung als Aufhänger für einen längeren Artikel656 im Hauslehrer. Dieser Artikel ist deshalb bedeutsam, da Otto hier ausgehend von der Ausstellung einen Überblick über die Kernthemen seiner Pädagogik und seiner Schule gibt. Zwar wird das Thema „Ausstellung“ zweimal aufgegriffen – einmal in Bezug auf die Ausstellung „Das Kind“, das andere Mal in Bezug darauf, dass auch in der Schule regelmäßig Ausstellungen von Schülerarbeiten gezeigt werden,657 die von den Kindern selber ausgehen,658 der

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Baumann (HL 1913f): 179. Otto (HL 1913c). Vgl. dazu auch zwei Berichte: den von Willi Becker (Becker (HL 1914) und den von Ernst Hering (Hering (HL 1913)). „Nun, wir in der Hauslehrerschule sind ja Ausstellungen gewöhnt. Aber bei uns ist das eine andere Sache. Da geht das nicht von irgend einem Komitee aus und nicht solchen, die anderen etwas zeigen wollen, sondern das geht immer von den Schülern aus. Wenn da einige allerlei zurechtgearbeitet haben, was sie wohl auch ihren Mitschülern zeigen möchten, dann meldet sich im Gesamtunterricht einer und fragt, ob wir nicht einmal wieder eine Ausstellung machen wollen. Und wenn dann die Mehrzahl damit einverstanden ist, dann wird ein Ausschuß gewählt und der richtet dann alles ein. Und dann wird ein Vormittag festgesetzt und an diesem Vormittag, da wird denn aus dem anderen Unterricht gewöhnlich nicht viel. Sondern da werden erst die Sachen aufge-

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Hauptteil des Artikels besteht allerdings aus einer Darstellung der schulischen Aktivitäten, die Otto an seine pädagogischen Grundannahmen und deren Umsetzung (v.a. Gesamtunterricht) zurückbindet. Dieser Artikel erhält gerade im Licht der Ausstellung eine besondere Bedeutung, da davon auszugehen ist, dass am Stand des Vereins auch Hauslehrer-Exemplare verteilt wurden oder eingesehen werden konnten. Diese Verbindung kann als kluge unternehmerische Strategie interpretiert werden. Im Jahresbericht des Berthold-Otto-Vereins, der im September im Hauslehrer veröffentlicht wird, wird das Beschicken der Ausstellung retrospektiv positiv eingeordnet: „Zur Verbreitung der Ideen wurde die Ausstellung ‚Das Kind‘ beschickt, auf der wir dank der Vermittlung unseres Mitgliedes Frau Cl. Fürstner einen Platz erhielten. Durch diese Ausstellung sind sehr viele Berliner mit den Bestrebungen Berthold Ottos bekannt geworden. In verschiedenen sehr bekannten Zeitschriften sind im Zusammenhang hiermit Aufsätze über die Berthold-Otto-Schule erschienen. (…) Augenblicklich ist der Verein an Ausstellungen in Iserlohn (Westfalen) und Köln beteiligt.“659

Die angesprochene Ausstellung in Iserlohn trägt den Titel „Kind und Jugendpflege“ und findet vom 14.-26.11.1913 in Iserlohn statt. Über die genauen Umstände der Beteiligung des Vereins wird dazu wenig berichtet. Aus dem Resümee, das Paula Jolowicz in Heft 2/1914 des Hauslehrers660 zieht, ist zu erfahren, dass neben anderen auch die Lietz’schen Landerziehungsheime mit „großen Tafeln“ vertreten sind. Der „Berthold-Otto-Stand“, so nennt Paula Jolowicz ihn, stellt „Bilder, Plastilinarbeiten, Zeichnungen, Schreibhefte, und alle Bücher“661 aus. Folgt man dem Bericht, dann scheint auch diese Ausstellung ein Erfolg für den Verein (und damit die Schule) zu sein: „Mit großem Interesse ließen sich Eltern von den neuartigen Schulen berichten, besonders von der Berthold-Otto-Schule. Direktoren, Rektoren und Lehrerschaft wollten Genaueres wissen. Es wurde mir nicht schwer, falsche Meinungen, die mir oft entgegengebracht wurden, zu berichtigen. Das Interesse war schließlich so groß, daß aus Barmen, Elberfeld, Hohenlimburg und anderen Orten der Umgegend Lehrer und Lehrerinnen kamen, die von Kollegen auf den Stand aufmerksam gemacht worden waren. Die katholische Lehrervereinigung veranstaltete Dienstag, den 25. November einen Diskussionsabend, der von Rektoren, Lehrern und Lehrerinnen gut besucht war. Nachdem ich einen kurzen Vortrag gehalten, setzte eine lebhafte Aussprache ein. Am Schluß wünschten viele der Versammelten, Bücher geliehen zu bekommen, um die

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stellt, und die übrige Zeit vergeht damit, daß sie von allen, auch von Eltern und Freunden der Hauslehrerschule angesehen werden.“ (Otto (HL 1913c): 181) Baumann (HL 1913q). Jolowicz (HL 1914a). Jolowicz (HL 1914a): 20.

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Werke Berthold Ottos näher kennen zu lernen. Der Vorsitzende und Leiter des Kreisschulvereins wollte die meist gewünschten Bücher für den Kreisschulverein ankaufen. Für die Volksbibliothek in Iserlohn wurden verschiedene kleinere und größere Werke Ottos bestellt.“662

Deutlich wird, dass die bisher dargestellten Strategien der Öffentlichkeitsarbeit alle zur Anwendung kommen: Es gibt einen Stand mit Anschauungsmaterial und einer Ansprechperson – anders als bei den Landerziehungsheimen, die offensichtlich auf eine personelle Ausstattung ihrer Präsentation verzichtet haben. Paula Jolowicz, die als Lehrerin der Berthold-Otto-Schule eigene Erfahrungen mit der Pädagogik Berthold Ottos besitzt, hält einen Vortrag, bei dem auch eine Aussprache stattfindet.663 Diese Kombination unterschiedlicher Aktivitäten scheint dann auch zum Erfolg zu führen: Neben der Möglichkeit, inhaltliche Missverständnisse zu korrigieren, werden auch Bücher verliehen und verkauft. Diese Ausstellungen, die man vermutlich aufgrund ihrer Struktur und ihrer Zielsetzungen heute eher als „Messen“ beschreiben würde und die man im Kontext der Zeit sicherlich als wichtige Einrichtungen für die Verbreitung von Informationen sehen kann, sind also eine wichtige und erfolgversprechende Möglichkeit für die Mitglieder des Berthold-Otto-Vereins, bei einem breiten und potentiell interessierten Publikum für Berthold Otto und seine Pädagogik zu werben. Auch die Ortsgruppen, die sich gründen, stellen eine Möglichkeit dar, nicht nur im Gebiet von Berlin, sondern andernorts die Vereinsziele wirksam zu vertreten.

3.2.3.5. Ortsgruppen Ortsgruppen sind dezentrale Untereinheiten des Berliner Hauptvereins. Sie sollen dort gegründet werden, wo „in einem Orte oder in seiner Nähe mehrere Mitglieder anwesend sind.“664 In § 17 der Satzung (2. Version) werden ihre Aufgaben damit beschrieben, dass mindestens eine Versammlung pro Quartal stattfinden soll, die Anwesenheit bei der Generalversammlung des

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Jolowicz (HL 1914a): 21. Einen zweiten geplanten Vortrag im evangelischen Lehrerverein musste sie absagen, „da Frl. Katharine Otto dringend meine Anwesenheit in Frankfurt a.M. zu ihrem an demselben Abend stattfindenden Vortrag wünschte.“ (Jolowicz (HL 1914a): 20) DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 624 Bl. 4

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Vereins wird gefordert, und die Ortsgruppen sollen sich das Ziel setzen, „auf einem besonderen Gebiet die Sache Berthold Ottos zu fördern.“665 Gudrun Ferber benennt für das Jahr 1925 fünf Ortsgruppen: Magdeburg, Weimar, Breslau, Frankfurt/Main und Leipzig.666 Im hier untersuchten Zeitraum kommt es auf jeden Fall zur Gründung von Ortsgruppen in Magdeburg, Frankfurt am Main und Oberhambach sowie einer „Informationsstelle“ in Reval.667 Eine weitere Gruppe in Halle (Saale) ist in Planung. Die Ortsgruppen unterscheiden sich in ihrer Arbeit voneinander. Es kann davon ausgegangen werden, dass in Magdeburg die deutlichste Aktivität zu verzeichnen ist, was sich auch in den dort ab 1924 stattfindenden Schulgründungen widerspiegelt. Auch in Frankfurt/Main gibt es zumindest den Versuch einer Schulgründung. Die Ortsgruppe in Oberhambach hingegen dürfte eher symbolisch-strategischen Charakter haben: „Die Leitung hat Herr Paul Geheeb, der Gründer und Leiter der Odenwaldschule übernommen. Den Hauptstamm, bis jetzt 8 Mitglieder, stellt allerdings Herr Geheeb mit seinem Lehrerkollegium.“668

Für diese These würde auch sprechen, dass Paul Geheeb später, unter anderem mit Emmy Friedländer und Emilie Sträter, in den Ehrenausschuss des Vereins gewählt wird.669 Weitergehende Aktivitäten dieser Ortsgruppe sind nicht zu erfahren. In Frankfurt am Main bildet sich an Ostern 1914 ein „Verein zur Förderung des Berthold-Otto-Reformschulzirkels“, der dem Berthold-Otto-Verein 665

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DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 624 Bl. 4. Diese Formulierung ist wiederum ein Hinweis darauf, dass der Verein kein klassischer Träger- oder Unterstützerverein der Schule oder des Verlages von Otto sein wollte, sondern dass die „Hauslehrerbestrebungen“ als etwas Umfassenderes verstanden wurden. Das dürfte auch erklären, warum sowohl in der Satzung als auch in der Vereinsdarstellung im Ausstellungskatalog der Berliner Ausstellung der Begriff „Lebensführung“ fällt. Dieser ist anschlussfähig an lebensreformerische Vorstellungen, also Versuche, durch eine individuell veränderte Lebensführung eine gesellschaftliche Veränderung zu initiieren oder wenigstens zu unterstützen. Ferber (1925): 77. Die Aufzählung endet mit „und andere“. Aufgrund der örtlichen Rechtslage war es nicht möglich, in Reval eine Ortsgruppe zu gründen, so dass diese als „Auskunftsstelle“ firmierte. Geleitet wurde sie von Herrn Baron E. von Erdberg von der dortigen Landwirtschaftsschule (Baumann (HL 1913v)). Baumann (HL 1913i): 238. Baumann (HL 1913q): 459. Weiter Mitglieder waren Frau Fürstner, Berlin; Frau von Brandt, Lichterfelde; Frau Freudenberg, Nikolassee; Herr Justizrat Axhausen, Leipzig; Herr Pfarrer Kerner, Zanzhausen; Herr Pfarrer Spießer, Waldhambach. Außer Frau von Brandt und Frau Freudenberg hatten zum Zeitpunkt der Verkündung alle Mitglieder ihre Mitgliedschaft im Ehrenausschuss bestätigt. Die meisten hier genannten Personen stehen eng in Verbindung mit Berthold Otto.

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„angeschlossen“670 und damit die Ortsgruppe Frankfurt/M. ist. Vorsitzender ist ein Prof. Dr. Goldstein, neben anderen gehört auch Paula Jolowicz diesem Verein an. Am 31.5.1914 berichtet Paula Jolowicz ausführlich aus Frankfurt/M., wo sie sich zu dieser Zeit aufhält, um die dortigen Gründungsbemühungen des Vereins und des Schulzirkels zu unterstützen. Sie schreibt: „Meine Aufgabe in Frankfurt a.M. war, einen Berthold Otto-Schulzirkel und eine Ortsgruppe ins Leben zu rufen. Beides ist gelungen. Einen längeren Bericht werde ich in Weimar auf unserer Berthold Otto-Tagung geben. Heute möchte ich nur einiges über unsern ersten Diskussionsabend mitteilen. Er fand in den Räumen des Frauenklubs, Hochstraße 14 am Donnerstag, den 7. Mai abends 8 Uhr statt. Es waren etwa 90 Personen anwesend, darunter die Eltern unserer Schüler, Lehrer männlichen und weiblichen Geschlechts jeden Grades und Ärzte. Alle größeren Zeitungen brachten Berichte.“671

Dass die Gründung erfolgreich war, lässt sich aus der o.g. „Ankündigung des Berthold-Otto-Reformschulzirkels Frankfurt am Main“ entnehmen. Dort heißt es: „Der Schulzirkel wurde Ostern 1914 eröffnet, Ostern 1915 wurde eine zweite Stufe angefügt. Geplant ist, allmählich eine Schule aufzubauen, die es ermöglicht, Kinder bis zum Eintritt in eine berufliche Ausbildung zu unterrichten.“672

Der Schulzirkel arbeitet, soweit sich das der „Ankündigung“ entnehmen lässt, sehr nah an den von Berthold Otto entwickelten pädagogischen Vorstellungen. Sowohl der Gesamtunterricht, die ungestörte kindliche Entwicklung als auch das gemeinschaftliche Zusammensein als Erziehungsmittel673 werden erwähnt. 670

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Ankündigung des Berthold Otto-Reformschulzirkels Frankfurt am Main; DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 49-50 (Datum: nachträglicher Vermerk „ca. 1916“). Jolowicz (HL 1914b): 258f. Ob ihr vorheriger Besuch in Frankfurt/M., der im November 1913 im Zusammenhang mit einem Vortrag von Ottos Schwester Katharine Otto steht, zu der Gründung beigetragen hat oder überhaupt in Zusammenhang steht, ist nicht zu eruieren (Jolowicz (HL 1914a): 20f.). Ankündigung des Berthold Otto-Reformschulzirkels Frankfurt am Main. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 49. Inzwischen gab es auch eine neue Leitung. War es 1914 Frau Blitstein-Barkau, wird nun Frl. Grete Koltermann als Leiterin benannt. „Zu selbständigem Denken, das den Menschen befähigt, sich in allen Lebenslagen zurecht zu finden, sollen die Kinder gewöhnt, zu strenger Selbstzucht durch starkes Gemeinschaftsleben geführt werden. So werden sie befähigt, sich in die menschliche Gesellschaft einzufügen und sich den notwendigen Gewalten freiwillig zu unterwerfen.“ (Ankündigung des Berthold Otto-Reformschulzirkels Frankfurt am Main. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 49)

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Interessant ist, dass Paula Jolowicz, die zeitweise auch Lehrerin an der Berthold-Otto-Schule ist, hier eine Art Mentorinnenrolle einnimmt und vor Ort die Gründung der Ortsgruppe und des Schulzirkels begleitet. Auch die starke Nähe des Konzepts zu den von Otto selber vertretenen Grundsätzen deutet darauf hin, dass es sich hier um einen inhaltlichen Wissenstransfer durch eine Expertin zur Unterstützung der Hauslehrerbestrebungen handelt. Bereits am 30.3.1913, also einige Monate nach der Gründung des BertholdOtto-Vereins, findet sich im Hauslehrer die Mitteilung, dass in Magdeburg eine Ortsgruppe gegründet wurde: „Es hat sich in Magdeburg eine Ortsgruppe des Berthold-Otto-Vereins gebildet. Die Führung der Geschäfte haben vorläufig Frl. Hedewig, Dr. Menzel und Frau Emilie Sträter übernommen. Der erste Diskussionsabend, zu dem Professor Sträter den einleitenden Vortrag übernommen hat, wird voraussichtlich am 9. April um 8 Uhr stattfinden. Wer an ihm teilzunehmen wünscht, wird gebeten, dies möglichst bald Frau E. Sträter, Pappelallee 18 mitzuteilen, damit er rechtzeitig eine Einladung erhalten kann.“674

Ebenso wie in Berlin gibt es regelmäßig Diskussionsabende, die immer am ersten Mittwoch im Monat stattfinden sollen. Emilie Sträter schreibt dazu Einladungen und gelegentlich auch Berichte für den Hauslehrer. Bis September 1914 finden insgesamt acht Diskussionsabende, meist im „Alkoholfreien Restaurant“, Große Münzstraße in Magdeburg, statt. Zu diesen werden Gäste immer ausdrücklich eingeladen. Folgende Themen werden dort verhandelt: Datum

Thema

Referentin/Referent

9.4.1913675

„Alle Fragen Ottoscher Pädagogik“ „Das Interesse des Kindes“ „Altersmundart“ „Altersmundart“

Prof. Edmund Sträter

o.D.676 4.6.1913677 3.9.1913679 674

675 676 677 678

679

Zusätzliche Informationen Erster Diskussionsabend

Prof. Edmund Sträter Frl. Ausfeld678

Baumann (HL 1913e): 154. Reinhard Bergner gibt anstelle von Frl. Hedewig Fritz Rauch als Vorstandsmitglied an, es ist also davon auszugehen, dass relativ bald ein Wechsel stattgefunden hatte (Bergner (1999): 50). E. Sträter (ZS 1913): 37; Baumann (HL 1913e): 154 und Sträter (HL 1913a): 167. E. Sträter (ZS 1913): 37. E. Sträter (ZS 1913): 38 und Bauman (HL 1913k): 262. Leni Ausfeld, Teilnehmerin an den privaten „Lesekränzchen“ bei Prof. Edmund Sträter. Lehrerin an der Augustaschule Magdeburg. Bruder Walter Ausfeld. Nach Bergner (1999) hat sie Richard Hanewald (den späteren Mann von Klara Sträter und Leiter einer der Berthold-Otto-Schule in Magdeburg) in das Lesekränzchen eingeführt (Bergner (1999): 62). E. Sträter (ZS 1913): 38 und Sträter (HL 1913b): 410.

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180 Datum

Thema

12.11.1913680

k.A.

4.2.1914.682

„Was kann man heute schon von Berthold Ottos Ideen in der Volksschule verwirklichen?“ „Was kann man heute schon von Berthold Ottos Ideen in der Volksschule verwirklichen?“ „Bronchard und seine Berührungen mit Berthold Ottos Bestrebungen im Rechnen und Geometrie-Unterricht“

11.3.1914683

22.4.1914684

Referentin/Referent

Zusätzliche Informationen Vor dem Diskussionsabend findet die Mitgliederversammlung statt681

Mittelschullehrer Fritz Rauch

Mittelschullehrer Fritz Rauch

Zweiter Teil des Vortrags

Oberlehrer Laumann

Deutlich wird, dass die Magdeburger Ortsgruppe die Struktur der Diskussionsabende des Berliner „Muttervereins“ nahtlos übernommen hat: Es gibt ein einführendes Referat, und aus den Berichten von Emilie Sträter ist zu erfahren, dass sich daran zum Teil sehr lebhafte Aussprachen anschließen.685 Die Diskussionsabende werden von Lehrerinnen und Lehrern sowie von Eltern besucht. Wie in Berlin, so gibt es auch in Magdeburg eine „Hauslehrerbücherei“; diese soll „Informations- und Agitationszwecken dienen.“686 In ihr sind alle Schriften Berthold Ottos und einige wenige von anderen Autoren687 enthal-

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Sträter (HL 1913c): 519 und Sträter (HL 1913d): 531. Mit folgender Tagesordnung: „1. Jahresbericht und Rechnungslegung. 2. Entlastung des geschäftsführenden Ausschusses. 3. Mittelungen über Erfolge usw. unserer Bestrebungen. Pünktliches Erscheinen dringend erbeten.“ (Sträter (HL 1913c): 519) Baumann (HL 1914b): 60. Sträter (HL 1914a): 101. Sträter (HL 1914b): 187. Baumann (ZS 1913): 37f. Baumann (ZS 1913): 37. Frisch, Sieverts, Theuermeister. (Naumann (ZS 1913): 37).

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ten. Diese Leihbibliothek wurde, aufgrund der knappen Mittel, von einem Vereinsmitglied in Teilen vorfinanziert. Auf der Mitgliederversammlung, über die im Hauslehrer vom 28.9.1913 ausführlich berichtet wird, hebt Paul Baumann hervor: „Eine besondere Leistung der Magdeburger Ortsgruppe ist, daß der JugendschriftenAusschuß – früher der heftigste Gegner der Altersmundart – auf der Magdeburger Messe die ‚Kindergeschichten‘ verkaufen wird.“688

Generell scheint es in Magdeburg gut zu gelingen, inhaltliche Auseinandersetzungen mit Personen und Verbänden zu initiieren, die Berthold Otto eher kritisch gegenüberstehen. Reinhard Bergner beschreibt ein weiteres Beispiel: Fritz Rauch hält im Winter 1913/14 einen Vortrag mit dem Titel „Welche Ideen Berthold Ottos lassen sich jetzt schon an öffentlichen Schulen verwirklichen?“ im Magdeburger Lehrerverein,689 in dem „die Gegnerschaft vermutlich größer [ist] als die Zahl der Sympathisanten.“690 Dem Vortrag folgend wird im „Schulblatt der Provinz Sachsen“, dem Organ des Lehrervereins, ein Leitartikel zum Thema veröffentlicht.691 Die Magdeburger Ortsgruppe wird übereinstimmend als die aktivste im Berthold-Otto-Verein beschrieben.692 Für ihre Wichtigkeit im Kontext des Gesamtvereins spricht auch, dass sie als einzige neben dem Berliner Mutterverein regelmäßig im Hauslehrer und auch in der „Zukunftsschule“ präsent ist, dass Mitglieder aus Magdeburg an der Hauptversammlung in Berlin teilnehmen und dass die zweite Hauptversammlung, die für den 5. und 6.9.1914 geplant war, in Magdeburg stattfinden soll.693 Sicherlich sind die persönlichen 688 689 690

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Baumann (HL 1913q): 459. Der Verein ist von Bergner als „Höhle des Löwen“ charakterisiert worden (vgl. Bergner (1999): 70). Bergner (1999): 70. Problematisch war hier auch, dass der „Gesamtunterricht“, also der zentrale Markenkern der Otto’schen Pädagogik, bereits in anderen Reformkontexten zwar dem Namen, nicht aber der Idee und dem Inhalt nach, ausprobiert wurde. Rauch hatte also eine doppelte Aufgabe: Zum einen musste er den Otto’schen Gesamtunterricht von anderen Formen absetzen, zum anderen musste er zeigen, wie das „Original“ in öffentlichen Schulen umsetzbar sein kann. Für Bergner weist das auf eine beginnende Akzeptanz des Themas hin (Bergner (1999): 71). Außerdem findet am 1.11.1913 noch ein weiterer Vortrag statt, dieser vermutlich aber nicht in einem dezidiert kritischen Kontext: Katharine Otto spricht im „Gartensaal der Freundschaft“ über ihre Erfahrungen im Berliner Hilfsschulwesen (Sträter (HL 1913c): 519). Wothge (1955): 242; Bergner (1999): 69; Ferber (1925): 77. „Die zweite ordentliche Generalversammlung unseres Vereins wird dieses Jahr in Magdeburg stattfinden, und zwar am Samstag den 5. und am Sonntag den 6. September 1914. Die Leiter unserer Ortsgruppe Magdeburg, Frau Prof. Sträter und Herr Dr. Menzel, haben in dankenswerter Weise die Vorarbeit übernommen, und es ist so ein

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Beziehungen zwischen Familie Sträter und Familie Otto ein wesentlicher Motor für das hohe Engagement, das sich um Emilie Sträter in Magdeburg entfaltet. Edmund und Emilie Sträter sind mit den Ideen Ottos sehr vertraut, und entsprechend benötigten sie auch keine inhaltliche Unterstützung, wie Paula Jolowicz sie in Frankfurt/M. gab. Dies könnte auch ein Grund sein, warum der Verein in Magdeburg relativ schnell nach seiner Gründung bereits in dem dargestellten Ausmaß arbeitsfähig und auch in einem so hohen Ausmaß engagiert ist.

Exkurs: Familie Sträter und Berthold Otto694 Die erste persönliche Begegnung der Familie Sträter mit Berthold Otto findet 1905 statt, anlässlich seines Vortrags mit dem Thema „Die Bedeutung des Spiels und Umgang des Lehrers mit dem Erkenntnistrieb als natürliches Organ des kindlichen Geistes“. Es scheint Franz Lichtenberger gewesen zu sein, der, nachdem er auf der Weimarer Pfingsttagung war, Otto nach Magdeburg einlud. Neben ihm und Berthold Otto spricht zu diesem Anlass auch Katharine Otto.695 Darauf folgt ein weiterer Vortrag Ottos in Burg, eingeladen war er von Hermann Rassow, an dem auch die gesamte Familie Sträter teilnimmt. Folgt man Paul Baumann, dann schien dieser Vortrag eine Art Initial gewesen zu sein, denn: „Professor Sträter (…), seine Frau Emilie und die Tochter Klara gehören von da ab zum treuesten und unermüdlichen Freundeskreis Ottos.“696 Diese Aussage deckt sich auch mit der Einschätzung, die Reinhard Bergner in Bezug auf das Aufwachsen von Klara Sträter gibt. Er schreibt: „Ihre familiäre Sozialisation hatte einen völlig auf Ottos Ideen abgestellten Sinnhorizont zur Folge. Ottos Schriften wurden studiert, in der Familie nachgestaltet, die Mut-

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Programm zustandegekommen, das wohl manchen verlocken wird, auch von außerhalb nach Magdeburg zu kommen. An Vorträgen sind in Aussicht genommen: Samstags den 5. September abends: Vortrag von Herrn Berthold Otto; am Sonntag vorm.: Vortrag von Herrn Jak. Pfalzgraf über Erfahrungen mit Gesamtunterricht an der Volksschule.“ (Baumann (HL 1914g): 367) Auswärtige sollten bei Vereinsmitgliedern und Freunden untergebracht werden. Diese Versammlung wurde dann aber aus Kriegsgründen abgesagt (Sträter (HL 1914c): 404). Vgl. hierzu Bergner (1999): 55-68. Katharine Otto (1872-1953), Schwester von Berthold Otto. Volksschul- und Handarbeitslehrerin, betreibt einen privaten Schulzirkel für „schwachbegabte Kinder“ nach den pädagogischen Grundsätzen ihres Bruders in Berlin und hält Vorträge über die Berthold-Otto-Pädagogik. Baumann III: 11.

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ter engagierte sich auch überregional außerordentlich für die Ideen, der Vater pflegte vor allem sein pädagogisches Interesse.“697

Klara Sträter wird Lehrerin und ist in ihrer Studienzeit bereits in hohem Maße für die Berthold-Otto-Schule in Lichterfelde und die Familie Otto engagiert.698 1917 verlobt sie sich mit Richard Hanewald, der bereits einmal verheiratet war. Ein Brief von Emilie Sträter an Georg Kerner unterstreicht noch einmal die starke Ausrichtung ihres Denkens an Berthold Otto: „Klara hat, wenn überhaupt geheiratet werden muß, wirklich das große Los gezogen. Einen besseren Mann findet man nicht, kein gütigeres Herz, keinen bescheideneren Sinn; dabei sehr intelligent. Sehr hat mich in dieser Hinsicht Ottos Urteil gefreut, der schreibt, daß nur selten er in seinem Leben einem Mann von so selbständigem Denken begegnet sei (…) Und wie steht Hanewald zu Otto? Er entwickelt sich immer kräftiger zu ihm hin, wird nie sein blinder Nachbeter werden, dazu ist er zu selbständig – aber er wird sicher später zu seinen besten Schülern gezählt werden. Und es ist kein anderer geeignet, in einigen Jahren eine Berthold-Otto-Schule zu gründen, und ich hoffe stark, dass es dazu kommen wird.“699

Auch Klara Sträter selber unterstreicht die Notwendigkeit einer Orientierung an Otto. Am 14.10.1917 schreibt sie in einem Brief an Georg Kerner: „Das wichtigste, das unbedingt Notwendige ist, daß mein Mann direkt von Otto lernt. Ich habe die Hoffnung auf ein gemeinsames Wollen. Wenn sie fehlschlägt, bleibt im-

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Bergner (1999): 64. Edmund Sträter war Gymnasiallehrer, einer seiner Schüler war Hermann Hoffmann-Fölkersamb, eine zentrale Figur der Wandervogelbewegung. Sträter praktizierte Unterricht in Altersmundart. Seine Tochter Klara (geb. 1888) engagierte sich phasenweise sehr stark für die Berthold-Otto-Schule und auch in der Familie Otto und heiratete dann Richard Hanewald, einen der Lehrer der Magdeburger Berthold-Otto-Schulen. Im Übrigen nicht immer zur Freude von Ottos Tochter Irmgard, die sich in einem Brief an ihren Verlobten über den Besuch kritisch äußert (Irmgard Otto an Fritz Meyer 16.6.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 679 Bl. 221-224). Drei Tage später schreibt sie dann: „Klara macht sich jetzt mächtig an Baumann ran. Aber sie hat es ihm übel genommen, dass er in Weimar gesagt hat, dass Sträters gegen die Gründung des Vereins waren. Sie ist der Ansicht wie damals Helga: ‚Das wissen wir nun schon?‘ Sonst ist Klara viel netter wie das letzte Mal, sie beschäftigt sich mehr mit der Kleinen und weniger mit Papa, darüber bin ich froh.“ (Irmgard Otto an Fritz Meyer 19.6.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 679 Bl. 233-236) Klara Sträter an Georg Kerner, o.D. Zitiert nach: Baumann V: 92. Bergner (1999): 67 gibt fälschlich das Datum mit 13.1.1917 an. Paul Baumann zitiert aber aus dem Brief, der „ein Vierteljahr später“ (Baumann V: 92) als der auf den 13.1.1917 datierte Brief entstand. Die Hoffnung, dass Richard Hanewald eine Schule gründen sollte, erfüllte sich 1924 tatsächlich.

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mer noch die Liebe. Nur: beirren in meinem Weg, der Sache untreu zu werden, kann er mich nicht.“700

Es kann also davon ausgegangen werden, dass in der Familie Sträter eine wesentliche Orientierung an Ottos Inhalten und seiner Person bestand, die einen Erklärungsansatz für die Gründung einer so aktiven Ortsgruppe liefern könnte.701

3.2.3.6. Weitere Aktivitäten des Vereins Neben dem bisher dargestellten Spektrum sind noch zwei weitere Aktivitäten des Vereins bedeutsam: die eingegangene Verbindung mit dem Unternehmen von Jaques Dalcroze und die Veränderung der Vereinstätigkeit mit Kriegsbeginn. Bereits in der Präambel der zweiten Vereinssatzung wurde als Ziel formuliert, sich „mit gleichgerichteten Bewegungen zusammenzuschließen und auch sie zu unterstützen.“702 Im Bericht über die erste Mitgliederversammlung wird die Verbindung zu drei Organisationen genannt, die als „gleichgerichtete Bewegungen“ verstanden werden können: der Verein der Freunde deutscher Landerziehungsheime, die Vereinigung für staatsbürgerliche Erziehung und eben das Unternehmen von Jaques-Dalcroze.703 Letzteres ist von Interesse, weil es sich hier um eine Unternehmenskooperation handelt. Émile Jacques-Dalcroze, ein 1865 in Genf geborener Professor für Musiktheorie, entwickelte 1892 die so genannte rhythmische Gymnastik, „mit der die Gestalt und das Wesen der Musik erlebt und dadurch gleichzeitig alle seelisch-schöpfer. Kräfte gelöst und gesteigert werden sollten.“704 1911 gründete er in Dresden-Hellerau die Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus, der er bis 1914 vorstand. In einer „Sonderbeilage zum Hauslehrer vom 13.4.1913“ (i.e. Heft 15/1913) bewirbt Paul Baumann die neu installierte Unternehmenskooperation. „Und es freut uns, zugleich mitteilen zu können, daß es uns gelungen ist, eine Vereinbarung mit dem hiesigen Institut der Bildungsanstalt Jacques-Dalcroze (…) zu treffen 700 701 702 703 704

Klara Sträter an Georg Kerner, 14.10.1917, zit. nach Baumann V: 93. Die Tatsache dieser starken Orientierung wird auch im Schlussteil bei der Auseinandersetzung mit der Frage der religiösen Strukturen noch einmal aufgegriffen. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 2. Baumann (HL 1913q). Die „Gesellschaft für Deutsche Erziehung“ von Arthur Schulz wird ebenfalls einmal genannt (Baumann (HL 1913g)). Historisches Lexikon der Schweiz, hier in der Online-Version (http://www.hls-dhsdss.ch/textes/d/D9499.php; Zugriff am 25.1.2014). Dort finden sich auch weitere biografische Informationen.

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betreffs Einrichtung von Kursen in rhythmischer Sportgymnastik an der BertholdOtto-Schule. Die Kurse sind auch für Nicht-Angehörige der Berthold-Otto-Schule.“705

Aus der „Sonderbeilage“ geht hervor, dass Baumann sich bereits früher mit dem Thema der rhythmischen Sportgymnastik befasst hat – sie enthält einen Wiederabdruck eines Artikels von ihm selber dazu.706 Baumann kommt im Ergebnis seiner Auseinandersetzung zu der Aussage, dass Otto und Dalcroze etwas dem Kind innerliches, immanentes, erwecken und fördern wollen und sich dabei einmal primär auf die körperliche und einmal primär auf die geistige Ebene beziehen. Insgesamt sieht Baumann in dieser Parallelität die Begründung für die Sinnhaftigkeit der Kooperation. Eine über die inhaltliche Kongruenz hinausweisende Interpretation dieser Kooperation wird möglich, wenn man diese auf ihre mögliche strategischunternehmerische Bedeutung hin befragt: Durch das Angebot einer seinerzeit durchaus bekannten und dem lebensreformerischen Spektrum nahestehenden Methode könnten neue Kundinnen und Kunden auf die Berthold-Otto-Schule 705 706

Baumann (HL 1913q). Erschienen 1910 in der Zeitschrift „Bühne und Sport“. Als zusammenhaltender Topos wird die „Erziehung zum Guten“ genannt, die alle Gesetze („denn das Gesetz ist da um des Menschen willen, nicht der Mensch um des Gesetzes willen) überflüssig machen wird, weil die Menschen eben gut sein werden. Dieses Ziel begründet die Bestrebungen der Schulreformer, der Landerziehungsheime, Gartenstadtbewegung, Aufschwung des Sports. Das Spezifische an dem Ansatz von Dalcroze wäre nun die Verbindung von Rhythmik und Kind und damit eigentlich von Kind und Kunst und auch von Kind und Natur. „Was aber gerade der Methode Jaques-Dalcrozes ein besonderes Gepräge verleiht, ist die Vermischung von geistiger und körperlicher Betätigung. Körper und Geist werden erzogen, keine Einseitigkeit wird geduldet, noch mehr: auch die Seele wird durch den Einfluß der Kunst veredelt. Im seelenerhebenden Rhythmus lösen sich der enge Geist und die gebundenen Glieder zu freiem, schönheitsvollem Spiele; was den Menschen fesselte, an Geistig-Niedrigem, an Körperlich-Ungewandten, entfaltet sich im hohen Ebenmaße der Bewegung zu vornehmer Leichtigkeit; ein Vergessen der Erdenschwere, eine Erziehung zur wahren Freiheit. Unter den Übungen der Dalcrozeschen Methode nimmt das Marschieren den ersten Platz ein. Nicht etwa ein ‚Parademarsch‘, der den Gliedern eine widernatürliche Steifheit aufzwingt, leichte, rhythmische Bewegungen und – was das Besondere ist – eigene Bewegungen für alle Glieder; während die Füße marschieren, schlagen die Arme, kräftig ausgreifend den Takt dazu. Aber es braucht gar nicht der Takt zu den Bewegungen der Füße zu sein: die höchste Stufe rhythmischer Ausbildung ist erst erreicht, wenn man imstande ist, jedes Glied in verschiedenem Takte zu bewegen, wenn sich der Kopf z.B. im Zweitakt bewegt, der rechte Arm im Dreitakt. der linke im Viertakt, die Füße im Fünftakt sich bewegen.“ (Baumann (HL 1913q)). Der erzieherische Wert liege darin, den Körper dem Geist untertan zu machen, dadurch eine gewisse Routine zu bekommen (man braucht den Willen dann nicht mehr, das automatisiert sich). Außerdem würde so die Freude an der Arbeit als drittes Erziehungsziel deutlich. Der „Turner“ soll zum „Künstler“ werden.

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aufmerksam gemacht werden. Da sich die Kurse an alle Interessierten richten, ergibt sich auch die Möglichkeit, dass Menschen in die Räume der Schule kommen, die bisher keinen Kontakt mit ihr hatten. Ein zweiter Aspekt ist, dass durch das Angebot eine höhere Attraktivität der Schule auch für Schülerinnen und Schüler (resp. deren Eltern, die ja ihre Kinder anmelden und dann das Schulgeld zahlen) entstehen kann, das Produkt „Schule“ also aufgewertet wird. Sieht man also die Kooperation zwischen der Schule und dem Institut als eine wirtschaftliche Kooperation an, dann bekommt auch die Rolle des Vereins nochmal eine andere Bedeutung – anstelle des Besitzers und Leiters, also Berthold Otto, kümmert sich der Verein um die Verbesserung des Angebotes der Schule. So wie der Verein auch Vertriebsstelle für Literatur des Verlages ist (und damit an sich auch eine originär unternehmerische Funktion mit übernimmt), so wird er auch hier zu einer Größe, die direkt im unternehmerischen Handlungskontext agiert. Die bisher dargestellten Aktivitäten weisen auf eine positive Entwicklung der Vereinstätigkeiten hin. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges aber lässt das Engagement notgedrungen nahezu zum Erliegen kommen. Mit dem Krieg verändert der Verein, jetzt vor allem von Paula Jolowicz verantwortet, sein Tätigkeitsfeld und wird zu einer Anlaufstelle für (vor allem) Frauen aus dem „ärmeren Mittelstand“. Dazu schreibt Paula Jolowicz im Hauslehrer 36/1914: „Unseren Freunden und Mitgliedern zur Nachricht, daß sich auch unser Verein in den Dienst des Vaterlands gestellt hat. Da von den Behörden und großen Vereinen für die Allerärmsten gesorgt ist, so wollen wir uns des ärmeren Mittelstands annehmen. Wir wollen ihm den Weg zur sparsamsten und leichtesten Wirtschaftsführung ebnen. (…) Darum hat die Geschäftsstelle ein großes Zimmer und ihren großen Garten zur Verfügung gestellt, damit auch die Mütter, die ihre Dienstmädchen entlassen und vermehrte Arbeit haben, einmal sich etwas ausruhen können. Und zu unserer Freude ist schon die Speiseanstalt, die Wäscherei, der Kinderhort und der Vorlesebetrieb im Gange und gut besucht.“707

Dazu veröffentlicht der Verein einen Aufruf im „Lichterfelder Generalanzeiger“, der im Hauslehrer ebenfalls abgedruckt wird.708 707 708

Jolowicz (HL 1914c): 425. Ein Original befindet sich auch im Nachlass Berthold Otto: DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 52. In diesem Aufruf geht es – nach der Aufforderung zu Tapferkeit und Edelmut und einer Darstellung der besonderen Situation des Krieges – um sehr konkrete Aktivitäten. Um sich denen, die an der Front sind, würdig zu erweisen, und denen, die Hilfe brauchen, Unterstützung zu geben, soll Folgendes getan werden: „Damit Kräfte frei werden für die Berufe, die unumgänglich notwendig weiter betrieben werden müssen, brauchen wir: 1. Kinderhorte, 2. Speiseanstalten in Art der Volksküchen, 3. Waschanstalten, die pfundweise Wäsche waschen und rollen.

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Neben diesen Aktivitäten bietet Paula Jolowicz auch weiterhin Sprechstunden an, die „für alle Vereinsangelegenheiten und für alle Fragen der Berthold-Otto-Pädagogik“709 offen sind.

3.2.4. Der Verein nach 1917 Die Tätigkeiten des Vereins werden nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufgenommen, allerdings in veränderter personeller Form.710 Während in Magdeburg in dieser Zeit die beiden Versuchsschulen aufgebaut werden,711 findet sich bei Berthold Otto selber eher eine Orientierung hin zu politischen Themen. Das zeigt sich auch daran, dass sich 1919 der „Bund für Inneren Frieden zu Verständigung zwischen allen Schichten des Volkes“ gründet, der die politisch-gesellschaftstheoretischen Aspekte in Ottos Werk als Gegenstand seiner Aktivitäten hat. Auch dieser Verein spricht nur eine kleine Gruppe von Menschen an, auch hier bildet sich – dieses Mal in Eisenach – eine besonders aktive Gruppe außerhalb von Berlin. Eine der wichtigsten Aktivitäten des Berthold-Otto-Vereins nach dem Krieg ist sicherlich eine Unterschriftensammlung, vermutlich aus dem Jahre 1919, die mit Aufruf an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung verbunden wird. Gefordert werden eine bessere finanzielle Absicherung der Schule durch den Staat und das Erteilen einer offiziellen Prüfungsberechtigung für die Schule.712

709 710 711

712

Drum wird Meldung erbeten: 1. a) von guten Menschen, die Raum mit Garten oder auch bloß einen großen Raum zur Verfügung für Kinderhorte stellen; b) von solchen, die Pflege und Aufsicht umsonst oder gegen Vergütung übernehmen; 2. a) von Gastwirten, die für 25 bis 30 Pf. einen Liter gesundes, dick zusammengekochtes Essen liefern; b) von Frauen, die ehrenamtlich bei den Gastwirten beim Einkauf und der Verteilung des Essens helfen; 3. von Waschanstalten mit Angabe des billigsten Waschpreises; 4. von Kindern, die das Stiefelputzen und andere kleine Arbeiten in den Häusern übernehmen wollen, in denen Hilfe notwendig ist. Jeden Abend von 9 bis 10 Uhr: Vorlesung der neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatz und Veranschaulichung auf der Karte. Jedermann herzlich willkommen!“ (HL Jg. 14/1914, H 36, 6.9.1914: 426) Neben diesen Aktivitäten bietet Paula Jolowicz auch weiterhin Sprechstunden an. Otto (HL 1915): 536. Ebenfalls Ende 1915 findet in Magdeburg auch ein Diskussionsabend mit Georg Kerner als Referierendem statt. (Sträter (HL 1915): 571). Paul Baumann kehrt nach dem Krieg nicht nach Berlin zurück, sondern zieht nach München. Vgl. dazu Bergner (1993) und (1999). Allerdings sind die Magdeburger Versuchsschulen, auch wenn sie sich inhaltlich deutlich an den Ideen Ottos orientieren, keine „Kopien“ der Berthold-Otto-Schule. Bergner (1993) weist darauf hin, dass vielmehr auch andere reformpädagogische Ansätze in deren Konzeption eingingen. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 46-47. Entsprechend bedankt sich Otto bei einem Lehrer Karl Schulz in seinem Brief vom 2.5.1919 für die gesam-

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Während der Zeit des Nationalsozialismus unternehmen einige Vereinsmitglieder den Versuch, durch die „Schriften zur volksorganischen Forschung“ und Einzelaufsätze eine in die Zeit und Ideologie passende Interpretation von Ottos Schriften zu lancieren.713 Nach Kriegsende gründet sich der Verein in der jungen Bundesrepublik unter dem Namen „Berthold-Otto-Kreis“ Ende der 1940er Jahre neu und besteht noch bis 1972. Seine Mitglieder sind vor allem Pädagoginnen und Pädagogen, ehemalige Schülerinnen und Schüler sowie Dozenten von Pädagogischen Hochschulen.714 Neben jährlichen Treffen werden monatliche Rundbriefe versandt, die aus Artikeln von Mitgliedern und Wiederabdrucken von Otto-Texten bestehen.715

3.2.5. Der Verein als eine der unterstützenden Säulen des Unternehmens Berthold Otto Mit dem ausgehenden Jahr 1912 kann insgesamt eine Intensivierung der Tätigkeiten im Unternehmen Berthold Otto in Bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit festgestellt werden: Neben der Gründung des Berthold-Otto-Vereins wird Mitte 1913 auch die Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ etabliert.716 Zusammen mit dem Hauslehrer existieren somit drei Säulen der Außendarstellung, die sich mit unterschiedlichen Inhalten an unterschiedliche Personengruppen richten:

713 714

715 716

melten Unterschriften und verspricht, diese dem Verein weiterzuleiten, der „auch die Verhandlungen mit dem Ministerium führt.“ (Brief von Berthold Otto an Karl Schulz vom 2.5.1919 DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 20) Vgl. Wothge (1955): 242. Vgl. Dühlmeier (2004): 210f. Die Auseinandersetzung mit den durch Personen weitergeführten Traditionslinien und ihre Adaptionen der Ideen Ottos an die Verhältnisse der jungen BRD ist bisher nahezu unerforscht. Diese Rundbriefe sind für die Jahre 1950-1972 im Nachlass Berthold Otto. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 151-167 (ca. 1250 Seiten) enthalten. Vgl. Kapitel 3.1.6.

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len der Unterstützung des Unternehmens Berthold Otto.717 Abbildung 6: Drei Säulen

Das Foto zeigt diee R Rückseite eines Faltblattes, in dem der aktuelle Stu StundenO -Schule ab dem „20. April bis auf weiteres“ s“ abgeplan der Berthold-Otto sch als würde die Schule mit ihrer Arbeit (nebe ben dem druckt ist.718 Es scheint, Stundenplan ist noc och eine Besucherordnung enthalten) auf drei Säulen en ruhen: den beiden Zeitschr hriften und dem Verein. Diese Perspektive scheint fü für 1913 und das erste Halbj lbjahr 1914 stimmig zu sein: In den Verein werden en große Hoffnungen gesetzt tzt, Berthold Otto hofft gar, dass er eine „Wendung ng in der Geschichte unserer er Bewegung“ (s.o.) einleiten würde. Es erscheint aus us dem Rückblick naheliegend, dass ab 1911 eine A Ausweitung der Öffentlichk hkeitsarbeit stattfindet: 1911 war das neue Schulhaus us bezogen worden, die Sch chule hatte also einen abgesicherten Ort, der nach Be Berthold Ottos Wünschen ges gestaltet war. Finanziert wurde es über ein Darlehen vvon Dr. Emmy Friedländer,719 das Otto offensichtlich kaum bedienen konnt nte. Das Geld, so ist aus Brie riefen seiner Tochter Irmgard aus dieser Zeit zu erfah ahren, ist knapp. In dieser Situationn müssen also neue Strategien gefunden werden, Ei Einkommen zu generieren. n. Das kann auf zwei Wegen geschehen: eine Erhöhu hung der Publikationen und eine Erhöhung der Zahl der Sch chülerinAnzahl verkaufterr P nen und Schüler.. W Während letzteres durch die Konzeption der Schu chule als Halbtagsschule ohn hne Internat räumlich beschränkt bleiben muss, ist ei eine Expansion des Verkau aufs von Schriften eine Strategie, die mehr Erfolgsmö möglichkeiten verspricht. 717 718 719

DIPF/BBF/Archiv, iv, Nachlass Berthold Otto OT 209 Bl. 99. DIPF/BBF/Archiv, iv, Nachlass Berthold Otto OT 209 Bl. 98-99. Vgl. Kapitel 3.4.

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Dieses Ziel ist auch das erste, das der Verein als konkrete Aktivität formuliert, weitere Tätigkeiten können als Ableitungen davon verstanden werden: Bei allem, was der Verein unternimmt, stehen die Inhalte der Pädagogik Berthold Ottos, vermittelt über die Publikationen, im Zentrum. Die einzige Ausnahme ist die Unterstützung einer Schulgründung in Frankfurt am Main, diese kann als mittelbar wirksam verstanden werden: Durch die Erschließung neuer Kund_innenkreise an einem anderen Ort könnte auch hier eine steigende Nachfrage nach Schriften von Otto entstehen. Damit wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass für Berthold Otto der Vertrieb des Hauslehrers das eigentliche Zentrum seiner Aktivitäten ausmacht. Der Verbund der drei Säulen wird auch an den bereits angesprochenen personellen Überscheidungen sichtbar, die neben der idealistischen Ausrichtung, die es sicherlich auch gibt, auch ganz konkrete individuelle Bedürfnisse zur Grundlage gehabt haben dürfte: Die Lehrerinnen und Lehrer der BertholdOtto-Schule, die zu weiten Teilen den Verein organisieren und sich in ihm engagieren, haben auch ein Eigeninteresse an einer finanziell abgesicherten Berthold-Otto-Schule, von deren Erträgen immerhin ihre Gehälter gezahlt werden. Schule und Verlag bilden dabei ein Unternehmen, sowohl finanziell als auch in Bezug auf die mögliche Expansion. Gleichzeitig kann der Verein da besonders wirksam werden, wo bereits auf Otto eingestellte Personen sind – das zeigt das Beispiel Magdeburg besonders gut. Entsprechend nimmt der Verein in diesem Kontext eine wichtige Rolle ein: Durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit (modern gesprochen also „Marketing“) auf unterschiedlichen Feldern und mit unterschiedlichen Mitteln wird versucht, neue Zielgruppen für die Hauslehrerbestrebungen zu interessieren, in der Hoffnung, dass dadurch die Erzeugnisse des Hauslehrerverlages stärker nachgefragt werden. Die Aktivitäten versuchen dabei, an unterschiedlichen Orten und Bedürfnissen anzusetzen: Sind die Diskussionsabende räumlich limitiert und auch auf den aktiven Besuch von Interessierten angewiesen, kann hier also eine lokale Ausweitung nur durch die Ortsgruppen geschehen, versprechen Ausstellungen ein größeres Publikum, das zudem auf die Zielgruppe (nämlich pädagogisch interessierte Eltern und Lehrer_innen sowie Multiplikator_innen im schulreformerischen Sektor) zugeschnitten ist. Wer Interesse hat, kann sich Bücher leihen oder diese eben kaufen. Die Ausstellung in Berlin kann auch als Werbung für die Schule in Lichterfelde gesehen werden – ob die Schüler_innenzahlen dadurch erhöht haben, ist allerdings nicht mehr festzustellen.

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Neben der Notwendigkeit, neue Personenkreise zu erschließen, ist es auch wichtig, die eigene Marke auf dem pädagogischen Markt zu etablieren und zu behaupten. So ist es naheliegend, gerade zum Themenfeld „Gesamtunterricht“ ein Flugblatt mit hoher Auflage zu erstellen. Der Gesamtunterricht, ursprünglich eine Erfindung von Arthur Schulz und Berthold Otto, droht als Markenkern zu entgleiten – vielerorts werden sehr unterschiedliche Unterrichtsformen unter diesem Namen gehandelt, so dass es notwendig wird, hier das originäre Konzept zu verteidigen720 und so den Markenkern zu schützen. Durch „Kooperationen“ und „freundschaftliche Verbindungen“ wird versucht, die eigene Positionierung auf dem pädagogischen Markt zu präzisieren, nämlich in dem Bereich „Schulreform“ (freundschaftliche Verbindung mit dem Vereine der Freunde deutscher Landerziehungsheime) und „Lebensreform“ (Kooperation mit dem Institut Jacques-Dalcroze). Gleichzeitig ist es natürlich notwendig, die eigenen Alleinstellungsmerkmale zu betonen, wie es eben der Gesamtunterrichts eines ist. Die Unterstützung der Frankfurter Schulgründung wiederum kann in diesem Kontext als der Transfer von Expertinnenwissen, vermittelt durch eine mit Ottos Methodik vertraute und erfahrene Lehrerin, verstanden werden. Diese „Gründungsberatung“ ist sowohl für die neu entstehende Schule wichtig, da sie Wissen zur Verfügung gestellt bekommt, das literarisch schwierig zu vermitteln gewesen wäre. Gleichzeitig stellt es aber auch einen Versuch dar, die Marke Berthold Otto zu schützen: Wo nachher, so könnte man sagen, Otto draufsteht, soll auch wirklich Otto drin sein. Gerade im Hinblick auf die problematischen Erfahrungen mit dem Gesamtunterrichtskonzept ist dieses Vorgehen nachvollziehbar. Abschließend lässt sich sagen, dass durch die Verbindung und inhaltlich ähnliche Ausrichtung der drei Säulen des Unternehmens ein hohes Maß an Aktivitäten erfolgt, die durch den Kriegsbeginn ein jähes Ende erfahren, so dass ihre Wirksamkeit nicht klar eruiert werden kann.

3.3. Fritz Meyer. Vom Studenten zum designierten Nachfolger Berthold Ottos Fritz Meyer (1.5.1891- 22.01.1915) kommt Anfang 1911, vermutlich durch die in seiner Heimatstadt Magdeburg lebenden und dort in Bezug auf die Hauslehrerbestrebungen sehr aktiven Eheleute Emilie und Edmund Sträter,721 720 721

Vgl. Kapitel 2 sowie Linde (1984). Vgl. Kapitel 3.2.

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Analysen zum Unternehmen Bertho thold Otto

mit den Ideen Berth rthold Ottos in Kontakt. Ebenfalls im Jahr 1911 führt rt er sein in München und Le Leipzig begonnenes Studium in Berlin fort, wird do dort Stipendiat an der Bert erthold-Otto-Schule, zeitweiliger Leiter des Hausleh ehrerverlages und später der er Ehemann von Berthold Ottos dritter Tochter Irmggard. Er Soldat – 1914 sein Oberlehrerexamen ab und fällt 19 1915 im legt – bereits als So Krieg.

Abbildung 7: Fritz Meye yer, ca. 1912. 722

Fritz Meyers Entwi wicklung ist die eines an Ottos Schriften interessierte rten jungen Studenten hinn zzum designierten Nachfolger und „Erben“ Berthold old Ottos

722

DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 1100.

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als Schulleiter der Berthold-Otto-Schule. Diese kann anhand des vorliegenden Quellenmaterials nachvollzogen werden. Im Nachlass finden sich, neben einigen Briefen zwischen ihm und Frida und Berthold Otto, vor allem die Korrespondenz, die er mit seiner Schwester Grete und seinem Schwager Bernhard Becker, einem Volksschullehrer aus Beendorf, führt,723 sowie sein Tagebuch für den Zeitraum von Juni 1911 bis Februar 1912. Anhand dieser Quellen ist es möglich, zu rekonstruieren, wie Fritz Meyer im Verlauf der Zeit immer mehr in die Familie und das Unternehmen Otto hineinwächst und sich zum Kenner der Otto’schen Ideen entwickelt. Er vertritt diese auch in Vorträgen und Zeitschriftenartikeln nach außen hin und entwickelt Strategien, um die Abläufe im Unternehmen zu verbessern. Ebenfalls wird deutlich, dass Berthold Otto Fritz Meyer zu seinem Nachfolger aufbaut.

3.3.1. Attraktive Angebote: Die „Großlichterfelder Kulturbestrebungen“ Fritz Meyer wird am 1.5.1891 geboren, besucht die Magdeburger Bürgerschule, danach die städtische Realschule und schließlich die Guerickeschule, also die Oberrealschule, in der Edmund Sträter unterrichtet. Ob sich bereits hier der Kontakt zur Familie Sträter und zu Berthold Ottos Ideen entwickelt, ist nicht eindeutig zu sagen, aber aufgrund der starken inhaltlichen Orientierung Sträters an Ottos Gedankenwelt anzunehmen.724 Nach dem Abitur nimmt er sein Studium in den Fächern Philosophie, Philologie und Germanistik auf – zunächst in München, weitere Stationen werden Leipzig, Berlin, Jena und Rostock sein.725 Seine erste Kontaktaufnahme mit Berthold Otto ist vermutlich Ende 1910 / Anfang 1911 gewesen. In seinem Brief vom 13.1.1911, dem ältesten, der im Nachlass erhalten ist, schreibt Fritz Meyer an ihn: „Meinen besten Dank für Ihren freundlichen Brief, wenn er mir auch eine Enttäuschung bereiten mußte. Vor allem danke ich Ihnen auch, daß Sie mir Hoffnung für eine spätere Zeit machen. Ich habe nun trotzdem die Absicht, im nächsten Semester nach Berlin zu gehen und dort zu studieren. Könnte ich dann schon wenigstens gelegentlich in Ihrer Schule hospitieren? Wenn ich dann außerdem all Ihre Bücher gründ-

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Erhalten sind nur Briefe, die Fritz Meyer geschrieben hat. Vgl. dazu den Exkurs im Kapitel 3.2. Studienunterlagen Fritz Meyer. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 710.

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lich durchlese, so denke ich, müßte ich später noch viel mehr Nutzen von dem Stipendium haben.“726

Das angesprochene Stipendium ist von Clara Fürstner gestiftet worden. Sie finanziert mit einer Unterstützung von 250 M. pro Monat zwei Stellen für Stipendiaten727 an der Berthold-Otto-Schule, die dort dann als Lehrer tätig sind.728 Fritz Meyer will sich inhaltlich auf dieses Stipendium vorbereiten729 und er avisiert, „vielleicht in den Ferien die ersten Erzählungen meiner Nichte zu stenographieren“,730 also die Entwicklung kindlicher Sprache zu dokumentieren. Dazu fordert Berthold Otto die Leserinnen und Leser des „Hauslehrers“ immer wieder auf. Fritz Meyer zeigt sich also sehr interessiert und engagiert und sucht nach Möglichkeiten eines direkten und längerfristigen Kontaktes mit Berthold Otto. Bereits drei Wochen später, am 4.2.1911, schreibt Fritz Meyer an Berthold Otto, dass er sich „einigermaßen plötzlich“ entschlossen habe, nach Berlin zu fahren und dass er sehr gern am kommenden Tag in der Schule hospitieren würde.731 Zu dieser Hospitation kommt es dann auch: Er berichtet rückblickend in seinem Tagebuch ein Jahr später davon.732 726 727

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Fritz Meyer an Berthold Otto, 13.1.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 1. In ihrem Brief vom 7.1.1911 teilt Clara Fürstner Berthold Otto mit, dass sie ab jetzt das Stipendium über ein Bankhaus auszahlen lassen wird. Wann das Stipendium gestiftet wurde, ist nicht zu erfahren. (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 399 Bl. 35). Clara Fürstner wurde später Mitglied im Berthold-Otto-Verein und organisierte Anfang 1913 im Berliner Frauenclub einen Vortrag von Otto, den sie mit Pressetexten und anderen Maßnahmen professionell flankierte (Clara Fürstner an Irmgard Otto, 28.1.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 399 Bl. 39, und an Berthold Otto, 31.3.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 399 Bl. 40). Weitere Stipendien wurden auch von Emmy Friedländer finanziert. Die Auswahl der Stipendiaten (und Stipendiatinnen?) oblag Berthold Otto. Weitere Details sind nicht bekannt. Die entsprechenden Schriften Ottos bekommt er bei Emilie Sträter und zwar mit 25% Rabatt, wie er am 2.2.1911 seinem Schwager Bernhard Becker schreibt. (Fritz Meyer an Bernhard Becker, 2.2.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 33). Dabei nennt er den „Lehrgang der Zukunftsschule“ und den „Zukunftsstaat“ sowie Preyers „Die Seele des Kindes“. Preyers Vorstellungen von Beobachtungen als empirisches Vorgehen für die Psychologie dürften denen Ottos auf diesem Gebiet ähnlich sein (vgl. dazu Hoope-Graf/Kim (2007)). Fritz Meyer an Berthold Otto, 13.1.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 1. Fritz Meyer an Berthold Otto, 4.2.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 2. Dieser Tag wird auch gefeiert und soll – so der Vorschlag von Irmgard Otto – ab jetzt jedes Jahr als besonderer Tag gestaltet werden. Vermutlich sind sich Fritz Meyer und

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Fritz Meyers Engagement kann mit seiner Faszination für zwei kulturelle Bewegungen, die 1911 in einem engen Kontakt zueinander stehen, erklärt werden: Neben den Hauslehrerbestrebungen, also einer primär pädagogischgesellschaftstheoretischen Bewegung, handelt es sich dabei um den ästhetisch ausgerichteten Künstlerkreis um Otto zur Linde,733 den „Charon“. Am 15.2.1911 schreibt Fritz Meyer, noch aus Leipzig, an Grete und Bernhard Becker: „Robert Janecke und ich, wir wollen im April einen Zyklus halten: Groß-Lichterfelder Kulturbestrebungen. Jeder 2 Vorträge vielleicht: er über den Charon, ich über Berthold Otto. (…) Hier ist’s öde öde öde, wenn es nicht zu Berthold Otto oder dem Charon irgendwie in Beziehung steht. Ich zähle die Tage, bis ich Leipzig leichten Herzens Lebewohl sagen kann.“734

Zusammen mit Robert Janecke, einem Freund aus dem Magdeburger Umfeld, plant Fritz Meyer, Vorträge über die „Groß-Lichterfelder Kulturbestrebungen“ zu halten. Für ihn gibt es zwischen den Hauslehrerbestrebungen und der Charonbewegung eine klare inhaltliche, aber auch lokale Nähe. Als Verbindungselement zwischen den beiden Kulturbestrebungen soll der geplante Zyklus nicht etwa eine inhaltlich orientierte Überschrift erhalten, die ebenfalls möglich gewesen wäre, sondern das Gemeinsame ist hier der Ort GroßLichterfelde.735

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Irmgard Otto an diesem Tag zum ersten Mal begegnet (Tagebuch Fritz Meyer. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 713 Bl. 105). Otto zur Linde (26.4.1873-16.2.1938) war ein aus Essen gebürtiger freier Schriftsteller, Sohn eines Volksschullehrers und späteren Kaufmanns. Er promovierte 1898 mit einer Arbeit über „Heinrich Heine und die deutsche Romantik“ und lebte bis 1902 als freier Schriftsteller und Literaturkritiker in London, wo er zeitweilig auch am Britischen Museum beschäftigt war. Nach seinem Umzug nach Berlin gründete er zusammen mit Rudolf Pannwitz und Rudolf Paulsen 1904 den Charon-Kreis und lebt als Schriftsteller. Otto zur Lindes Frau Verena zur Linde, geb. Reichenberger, die er in London kennengelernt hatte, schrieb unter anderem auch für den Hauslehrer und die „Beilage in Altersmundart“ des Hauslehrers Märchen (vgl. den Eintrag in „Neue deutsche Biografie online“: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118773283.html; Zugriff am 25.2.2014, sowie Hennecke (1952)). Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 15.2.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 34-35. Uwe Puschner weist darauf hin, dass es im Südwesten Berlins zu einer vermehrten Ansiedelung „völkischer Prominenz“ seit der Jahrhundertwende kam (Puschner (2001): 164). Hier residierten nicht nur zentrale Personen, sondern auch wesentliche Institutionen der völkischen Bewegung, u.a. der Germanenorden, der Deutsche Kulturbund sowie der esoterisch-völkische Verlag von Paul Zillmann. Bertha von Petersenn, die spätere Ehefrau von Hermann Lietz, gründete zudem Anfang des 20. Jahrhunderts in Lichterfelde das erste Landerziehungsheim für Mädchen, das 1904 nach Gaienhofen am Bodensee verlegt wurde.

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Exkurs: Der Charon-Kreis Otto zur Linde, Rudolf Paulsen736 und Rudolf Pannwitz737 gründen 1904 den Charon-Kreis738, einen Dichterkreis, der sich vor allem mit (prä-)expressio736

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Rudolf Paulsen (18.3.1883-30.3.1966), Sohn des Pädagogikprofessors Friedrich Paulsen, heiratete 1910 Berthold Ottos Tochter Franziska Otto (1888-1971), ihr gemeinsamer Sohn Edzard Paulsen (21.11.1919-14.8.2008) leitete die Berthold-Otto-Schule von 1966-1991. Rudolf Paulsen arbeitete als freier Schriftsteller, seine Werke stehen in einem engen Kontext mit denen von Otto zur Linde. Er veröffentlicht unter anderem auch in dem von Carl Rössger herausgegebenen „Heiligen Garten“ Artikel, die sich positiv mit Berthold Otto befassen. (vgl. u.a. den Eintrag in „Neue deutsche Biografie online“: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116066121.html; Zugriff am 25.2.2014) Über das Verhältnis zwischen Rudolf Paulsen und Otto zur Linde schreibt Anselm Salzer 1926: „Für seinen Meister brachte er (= Paulsen; KK) als Grundvoraussetzung sein reines Deutschtum durch seine Abstammung mit. Friesen sind seine Ahnen. Er wurde 1883 in Berlin als der Sohn des bekannten Philosophen Friedrich Paulsen geboren und lebt in Berlin. Den männlichen Willen gab diesem männlichen Dichter der Vater, die Mutter den sinnlichen Schmelz des Klanges.“ (Salzer (1926): 2218). Paulsen widmete Otto zur Linde eine eigene Schrift mit dem Titel „Blätter und Briefe von Otto zur Lindes Grab“ (Paulsen (1938)). Rudolf Pannwitz (27.5.1881-23.3.1969), ein Schul- und Jugendfreund Rudolf Paulsens, studierte Geisteswissenschaften in Marburg und Berlin. Er war kurzzeitig Lehrer im Haus von Georg Simmel sowie Reinhold Lepsius, später war er auch einige Zeit in Wynekens Freier Schulgemeinde Wickersdorf beschäftigt, zeitweise publizierte er auch im Hauslehrer. Ab 1911 arbeitete er als freier Schriftsteller und Philosoph. 1906 heiratete er Berthold Ottos Tochter Helene (14.12.1887-24.4.1966), die Ehe wurde 1922 geschieden. Zwischen ihm und seinem Schwiegervater kam es bereits früh zum Bruch. Zwei weitere wichtige Vertreter sind Karl Röttger und Erich Bockemühl. Karl Röttger (23.12.1877-1.9.1942), absolvierte seine zweite Lehrerprüfung 1900 in Petershagen und arbeitete zwischen 1898 und 1941 als Lehrer, mit einer Unterbrechung zwischen 1909 und 1914. In dieser Zeit gab er zusammen mit Franz Lichtenberger (31.8.1881-7.11.1942) die Zeitschrift „Die Brücke“ (erschien 1911-1914) heraus. Röttger wurde 1909 Mitherausgeber des „Charon“ und engster Mitarbeiter von Otto zur Linde; außerdem war er an der Zeitschrift „Der Heilige Garten“ beteiligt, die von Franz Lichtenberger begründet wurde. Er veröffentlichte mehrere Gedichtbände im Charonverlag, unter anderem „Wenn deine Seele einfach wird“ (Röttger (1909)) sowie „Lieder von Gott und dem Tod“ (Röttger (1912)), insgesamt zählt sein literarisches Werk über 50 Titel, darunter Prosa, Lyrik, Sachbücher und Theaterstücke. Erich Bockemühl (12.7.1885-12.5.1967) war Lehrer und Schriftsteller. Unter anderem veröffentlichte er verschiedene Artikel in Ottos Hauslehrer. Außerdem besorgte er die Auswahl einer Gedichtsammlung Otto zur Lindes im Jahr 1952. Er war Autor zahlreicher Kinderbücher und gab ab 1948 als Nachfolger Lichtenbergers die Reihe „Marholds Jugendbücher“ heraus, in der auch Titel von Franz Lichtenberger und Heinrich Burhenne erschienen. In einem zu Bockemühls 50. Geburtstag erschienen Bändchen (Burhenne (1935)), in dem auch Karl Röttger, Rudolf Paulsen und Franz

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nistischer Lyrik739 befasst und in dessen Zusammenhang auch die Monatszeitschrift „Charon“ herausgegeben wird.740 Zwischen den Hauslehrerbestrebungen und dem Charon-Kreis gab es eine mehrjährige enge Verbindung. Diese Beziehung741 entsteht relativ bald nach der Gründung des Charon. Berthold Otto hatte über Ludwig Gurlitt,742 der mit Pannwitz eng verbunden war, einen Aufsatz über Sprache von Rudolf Pannwitz erhalten, den dieser im Kontext seiner Tätigkeit als Privatlehrer bei den Familien Simmel und Lepsius geschrieben hatte. Daraufhin kommt es zur ersten Einladung von Pannwitz durch Otto, später wird auch Otto zur Linde eingeladen. Seitdem es persönlichen Kontakt zwischen Berthold Otto und Otto zur Linde gibt, werden die neu erscheinenden Charonnummern im Hauslehrer angekündigt, außerdem sind auch Inserate zu finden, die Werbung für die Zeitschrift und andere Werke aus dem Charonumfeld machen – einige dieser Werke verlegt Theodor Scheffer, bei dem auch die ersten Jahrgänge des Hauslehrers veröffentlicht wurden.743 Eine weitere Verbindung sind Anzeigen für die von dem Charontiker Karl Röttger herausgegebene Zeitschrift „Der Heilige Garten“, die 1908 sowohl mehrfach im Hauslehrer erscheinen, als auch in Askan Schmitts744 „Knote“.745 In diesen Anzeigen heißt es:

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Lichtenberger kurze Beiträge haben, schreibt Heinrich Burhenne „Erich Bockemühl als Pädagogen“ einen verehrenden Artikel (Burhenne (1935): 21-24). Anselm Salzer ordnet den Charon in seiner „Illustrierten Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart“ (Salzer: (1926)) als „Vorläufer des Expressionismus“ ein (Salzer (1926): 2215). Der „Charon“, den zur Linde bis 1906 mit Rudolf Pannwitz und ab 1909 mit Karl Röttger herausgab – und viele seiner Werke – erschienen im eigenen „Charonverlag“, der 1906 kurzzeitig an Scheffer überging. Der Zeitschrift ist kein großer Publikumserfolg beschieden gewesen: Im Jahr 1911/1912 erlebte sie ihren Zenit mit einer Auflage von 8000 Stück, 2367 festen Abonnenten und 4500 Lesern (Parr (2000): 35). Vgl. hierzu und im Folgenden Baumann IV: 68ff. Ludwig Gurlitt (31.5.1855-12.7.1931) war Lehrer und Schulkritiker. Er vertrat eine „natürliche Erziehung“, die künstlerische und körperliche Aspekte besonders betonte. Gurlitt war politisch stark von den Schriften Langbehns und de Lagardes geprägt. Er unterstützte die Wandervogelbewegung, die sich zur Zeit seiner Lehrtätigkeit an einem Steglitzer Gymnasium bildete. Unter anderem war er Mitglied in der von Arthur Schulz gegründeten Gesellschaft für Deutsche Erziehung. Die Ankündigungen finden sich regelmäßig in vielen Hauslehrerausgaben, ebenso die Anzeigen (vgl. auch Baumann IV: 65ff.). Askan Schmitt (12.7.1867-1945), Sohn eines Hauptmanns aus Spandau, wuchs in Kassel auf, Studium der Chemie und Volkswirtschaft, machte in seiner Leipziger Zeit Bekanntschaft mit Berthold Otto, der ihn stark beeinflusste. Er publizierte neben diversen Büchern die Zeitschriften „Der Knote. Ein unmodernes Überwitzblatt“, die „Weimarer Botenfrau“ sowie „Knorke. Blätter für deutsche Kultur“. Nach seinem Studium zog er nach Weimar, dort trat er als politischer Redner und später auch als Stadtführer hervor. 1932 veröffentlichte er mit „Weimar A-Z“ (Schmitt (1932)) ein

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„Der Heilige Garten steht auf dem Boden der Pädagogik Berthold Ottos / an der Seite des Hauslehrers / kämpft für das Prinzip der Altersmundart und verlangt Anerkennung des Künstlers in jedem Kind und freie Bahn für künstlerische Selbstverwirklichung.“746

Das vierte Heft des fünften Jahrgangs des „Heiligen Gartens“ ist Berthold Otto zu seinem 50. Geburtstag gewidmet, unter anderem mit Beiträgen von Rudolf Paulsen und Erich Bockemühl. Rudolf Pannwitz wiederum, der 1906 Helene Otto heiratet, widmet Otto eines seiner Werke, das unter dem Titel „Kultur, Kraft, Kunst: Charon-Briefe an Berthold Otto“747 ebenfalls 1906 im Verlag von Theodor Scheffer herausgegeben wird. 1908 kommt es dann zu einer offenbar nicht zu bereinigenden Kontroverse zwischen Rudolf Pannwitz und seinem Schwiegervater, die zudem das Verhältnis von Vater und Tochter belastet.748 Gleichzeitig sind viele Mitglieder der Charongesellschaft Mitarbeiter Berthold Ottos – wie auch Fritz Meyer.749

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kombiniertes Auskunfts- und Wörterbuch, das als Vorläufer stadtgeschichtlicher Lexika gilt. Er ist zeit seines Lebens eng mit Berthold Otto verbunden, nimmt an den Weimarer Tagungen teil und hält auch Vorträge über Berthold Otto. Wothge (1955): 246. HL Jg. 8/1908 H 3, 26.1.1908: 32. Pannwitz (1906). Rosemarie Wothge beschreibt diesen Konflikt zwischen Berthold Otto und Ludwig Pannwitz so: „Der Konflikt scheint zu Pfingsten auf der ‚Weimarer Tagung‘ (…) zum Ausbruch gekommen zu sein. Nachdem nämlich Ludwig Gurlitt auf Ottos Aufforderung hin – die ihm durch Pannwitz übermittelt wurde – einmal über den geistigen Verkehr mit seinen Kindern zu schreiben, das Buch ‚Mein Verkehr mit meinen Kindern‘ veröffentlicht hatte, wurde dieses Buch auf der Weimarer Tagung von Pannwitz in einer solchen Form besprochen, daß die Meinung entstehen mußte, als gebühre Gurlitt, Pannwitzens Freund, die Priorität des familiären geistigen Verkehrs mit Kindern, und Otto habe diese Idee von ihm übernommen. Dazu kommt Ottos Empörung über einige sehr taktlose Bemerkungen von Pannwitz, der seinen Schwiegervater zwar ohne Namensnennung, aber unverkennbar einmal als ‚redende Leiche‘ bezeichnet und die Ansicht äußert, daß Ottos Methode ‚als großes Unglück in die häusliche Erziehung gekommen sei‘“ (Wothge (1955): 27). Das angesprochene Buch von Gurlitt trägt tatsächlich den Titel „Der Verkehr mit meinen Kindern“ und ist 1907 in vier Auflagen erschienen (zu weiteren Aspekten dieses Konflikts vgl. Baumann V: 18ff.). Paul Baumann nennt unter anderem die Lehrer Georg Winter und Ernst Hering (Baumann IV: 71). In den ersten Jahrgängen des Charon finden sich auch Gedichte der drei Otto-Töchter Helene, Franziska und Irmgard (Wothge (1955): 244), diese gehören auch alle dem „inneren Kreis“ des Charon an (s.u.). Diese personelle Überschneidung könnte sich auch aus der Tatsache erklären lassen, dass sowohl die Zeitschrift Charon als auch der Hauslehrer viele Lehrerinnen und Lehrer – vor allem von Volksschulen – als Leserinnen und Leser hatten. Entsprechend ist es auch nicht verwunderlich, dass

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Ebenfalls lassen sich große inhaltliche Überschneidungen finden: Neben der intensiven Beschäftigung mit Sprache und sprachlichem Ausdruck unter dem Bezugspunkt der „Natürlichkeit“750, gibt es auch Ähnlichkeiten in Bezug auf das Verhältnis des Einzelnen und der Gemeinschaft. Dazu schreibt Karl Röttger 1912: „Was der Charon erstrebt, ist dies: den Einzelnen, der sich nicht zersplittert, der alle Fähigkeiten entwickelt, organisch sich selbst entfaltet, (…) und doch nicht sich absondert, sondern zur Gemeinschaft strebt: Gemeinschaftsdienst durch Selbstentfaltung.“751

Die so verstandene Beziehung von Individuum und Gemeinschaft weist eine deutliche Nähe zu den Vorstellungen Ottos in Hinblick auf das Verhältnis von Einzelgeist und Volksgeist auf. So heißt es im vierten Band des „Volksorganischen Denkens“: „So sehr ich jedes Lebewesen als Teil des größeren Ganzen ansehe, also der Familie, der Schule, der Gemeinde, des Volkes, so entschieden verlange ich auch, daß zunächst das selbständige Wachstum dieses Teiles gefördert werde, der meiner Meinung nach alle die Triebe in sich hat, die zu seiner ganzen Betätigung, als auch zu der als Glied eines größeren Ganzen, nötig sind. Wenn ich nicht von vorneherein die Vermutung habe, ein Kind mit ungesunden Trieben vor mir zu haben, so kann ich also im Interesse des größeren Ganzen, dessen Glied das Kind werden soll, nichts Besseres tun, als das Kind vollkommen frei wachsen zu lassen.“752

1912 kommt es zu einem Bruch, der wohl von Otto zur Linde ausging und mit dem Verhältnis zwischen den Inhalten der beiden „Bewegungen“ und deren Darstellung „nach außen“, also zu (potentiellen) Rezipientinnen und Rezipienten, zu tun hatte. Das Problem, das diesen Ablösungsprozess in Gang gesetzt hatte, bestand in der Schwierigkeit, die Originalität der beiden Ansätze in Bezug auf die Sprache trennscharf zu halten, es ging also um die Wahrung der jeweils eigenständigen Leistungen und Perspektiven hinsichtlich der Außenwahrnehmung der beiden Bewegungen.753 Die darüber entste-

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die meisten Vorträge, über die im Charon berichtet wurde, in Lehrerinnen- und Lehrervereinen gehalten wurden. (zu den Vorträgen vgl. Parr (2000): 40, FN 129). Parr geht davon aus, dass diese Konzentration von Lehrerinnen und Lehrern darin begründet lag, „daß die Zeitschrift immer wieder für die Hauslehrerschule Berthold Ottos eintrat, wobei vor allem die von Otto vertretene Theorie der Altersmundarten Anknüpfungspunkte an die Poetologie zur Lindes bot.“ (Parr (2000): 43; vgl. auch Kapitel 3.5) Vgl. Baumann VI: 65ff., insb. 70. Röttger, Karl: Die Charonbewegung. In: Der Kunstwart, Jg. 25/1912 H 20, 2. Juliheft: 81. Zit. nach Parr (2000): 43. Otto (1925d):162, Abschnitt 3216. Baumann (IV: 75) folgend war das Problem, dass Otto zur Linde den Eindruck gewonnen hatte, der Charon (und damit er selber) werde nicht mehr als eigenständige

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henden Auseinandersetzungen führten letztendlich zu einer Stilllegung der persönlichen Beziehungen zwischen Berthold Otto und Otto zur Linde.754 „Nach außen hin“, so schließt Paul Baumann, „blieb die gegenseitige freundschaftliche Einstellung, die sachliche Wertschätzung unverändert und auch die meisten Anhänger und Mitarbeiter blieben beiden treu.“755

3.3.2. Von Magdeburg nach Lichterfelde: Die Bedeutung des „Charon“ und die Annäherung an die Familie Otto Fritz Meyer kommt mit der Charonbewegung zu einer Zeit in Berührung, in der es zwischen Berthold Otto und Otto zur Linde noch kein Zerwürfnis gibt. Im Gegenteil: Der Charon ist Teil des Umfeldes, mit dem er sich bereits vor seinem Umzug nach Berlin identifiziert, und das für ihn alles andere, insbesondere die universitären Studien, als unerträglich „öde“ erscheinen lässt. Die „Großlichterfelder Kulturbestrebungen“ hingegen scheinen ihn zu beflügeln, und er teilt seinem Schwager mit, dass er sich überlegt, seine Doktorarbeit über Berthold Otto zu schreiben.756 Für die nun folgenden Monate sind keine Briefe von Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker erhalten, der nächste vorliegende Brief datiert vom

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Bewegung wahrgenommen, sondern als Appendix zu Berthold Otto, die Sprache des Charon wäre eine Übernahme der Otto’schen Sprachvorstellungen. Ein Konflikt dieser Art kann durchaus auch aus ökonomischer Perspektive interpretiert werden: Es geht dann um die jeweiligen Markenkerne, das, was die eigenen Produkte von anderen unterscheidet. Otto zur Linde schreibt dazu in einem Brief an Fritz Meyer vom 8.1.1912: „Ich bin jahrelang so intensiv, anhaltend und allseitig für Berthold Otto eingetreten, dass ich draußen als Schüler Berthold Ottos gelte und der Charon als literarischer Ableger des Hauslehrers. Dazu konnte ich weise schweigen.“ (Otto zur Linde an Fritz Meyer, 8.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 69) Sogar der sonst wenig kritische Paul Baumann bemerkt in Bezug auf Otto und zur Linde im Kontext dieses Konfliktes: „beide waren ja überempfindlich“ (Baumann IV: 76). Rosemarie Wothge schreibt unter Bezugnahme auf einen Brief von Berthold Otto an Klara Sträter vom 1.6.1912: „Otto bezeichnet in seiner Neigung, menschlich schwierige Situationen durch seine Überempfindlichkeit noch mehr zu komplizieren, seine Begegnung mit dem ‚Charon‘ als das größte Unglück seines Lebens.“ (Wothge (1955): 245) Baumann IV: 76. Rosemarie Wothge interpretiert die Situation etwas anders: Sie geht davon aus, dass nach dem Bruch der persönlichen Beziehung eine Wiederannäherung stattgefunden habe, die dann eher auf der sachlichen Ebene angesiedelt war (vgl. Wothge (1955): 245). Das scheint er Berthold Otto auch schon mitgeteilt zu haben, denn in seinem Brief gibt er dessen Kommentar dazu wieder: „Er meint, es könnten noch 50 über ihn schreiben. Recht bescheiden!“ (Fritz Meyer an Bernhard Becker, 2.11.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 33)

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8.10.1911. Dafür ist einiges aus dem Tagebuch von Fritz Meyer zu erfahren.757 Dieses Tagebuch umfasst den Zeitraum 24.6.1911-12.2.1912 und kann in drei Abteilungen gegliedert werden: Zu Beginn enthält es tägliche Einträge, gelegentlich sind diese zwei oder drei Tage später nachgetragen. Inhaltlich finden sich sowohl Schilderungen der emotionalen Verfassung, die zunehmend mit Irmgard Otto in Verbindung gebracht wird, als auch des alltäglichen Lebens, das sich für Fritz Meyer in dieser Zeit zwischen dem CharonKreis, der Hauslehrerschule, der Familie Berthold Otto und seinem Studium abspielt. Die täglichen Einträge werden am 4.9.1911 zum ersten Mal durch einen Text, der eine ganze Woche umfasst, unterbrochen, ein zweites Mal findet sich ein Eintrag über mehrere Tage für die Zeit vom 18.-23.9.1911. Die dazwischen liegenden täglichen Aufzeichnungen sind im Gegensatz zu denen am Anfang bedeutend kürzer und wirken teilweise fragmentarisch. Der dritte Abschnitt kennzeichnet sich dadurch, dass nach dem 6.10.1911 nahezu drei Monate überhaupt nichts vermerkt wird. Am 3.1.1912 setzt das Tagebuch dann wieder ein und fasst in sechs längeren Textelementen dieses fehlende Vierteljahr zusammen. Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen, als Fritz Meyer bereits in Lichterfelde wohnt.758 Aus den Einträgen für den 24.-26.6.1911 ist zu erfahren, dass er in der Berthold-Otto-Schule tätig ist, aber noch ohne Stipendium. Er gibt Stunden in Erdkunde, Rechnen, „Sagen“ und Diktat, betreut Hospitierende759 und hospitiert auch selber bei Berthold Otto im Lateinunterricht.760 Zwei Monate nach seinem Umzug nach Lichterfelde ist er also bereits mit vielen schulischen Tätigkeiten betraut – er unterrichtet verschiedene Fächer und kümmert sich um die immer anwesenden Hospitantinnen und Hospitanten, die auch die Atmosphäre des Unterrichts beeinflussen: Im beschriebenen Fall

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Das im Nachlass Berthold Otto erhaltene Tagebuch umfasst 106 Seiten, geschrieben mit Schreibmaschine, in weiten Teilen dürfte es sich um Durchschläge handeln. Der erste Eintrag setzt relativ unvermittelt ein, es gibt keine Reflexionen über dieses Tagebuch, so dass hier unter Umständen nur ein Teil davon vorliegt (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712, Bl. 1-106). Der Umzug war am 19.4.1911 (Tagebuch Fritz Meyer 3.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 99). „Dann hatte ich Sagen. Dazu hatte ich 13 Hospitanten, darunter 11 Russen. Zum Schluss musste ich ablesen, weil ich nicht geglaubt hatte, so weit zu kommen. Nach der Stunde wurde ich noch viel gefragt.“ (Tagebuch Fritz Meyer 26.6.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 3). Tagebuch Fritz Meyer 26.6.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 3.

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sind es 13 zusätzliche Personen, die bei einer Klassen- bzw. Kursgröße von zehn bis 15 Kindern sicherlich deutlich zu bemerken sind.761 Sein soziales Umfeld besteht vor allem aus anderen jungen Männern, mit denen er über den Charon-Kreis verbunden ist, unter anderem sind das Rudolf Paulsen, Karl Röttger, Gottfried Winter, der ab 1909 ebenfalls Lehrer an der Berthold-Otto-Schule sein wird,762 und der bereits angesprochene Robert Janecke. Gelegentliche Begegnungen mit anderen Personen, die er im Hause Otto kennenlernt, scheinen aber nicht zu näheren Bekanntschaften geführt zu haben. Neben der Arbeit in der Schule ist es also vor allem der soziale und inhaltliche Kontext der Charongesellschaft, die für Fritz Meyer in dieser Zeit bedeutsam ist. So schreibt er über einen Besuch bei Otto zur Linde: „Ich blieb über 2 Stunden, trank auch Kaffee mit, dann philosophierten wir wieder sehr lebhaft. Zum Schluss las Otto zur Linde ganz wundervolle Sachen vor aus ‚Sprache und Dichtkunst‘, die er gerade niedergeschrieben hatte. Ich war mal wieder begeistert, das ist eine ganz neue Art zu denken. Das wird alles reformieren, revolutionieren.“763

Gemeinsam mit anderen Besuchern des Charon-Kreises entwirft Fritz Meyer Maßnahmen, wie der Charon organisiert und bekannter gemacht werden könnte: „Jedenfalls fassten wir folgende Beschlüsse: Möglichst viel Ortsgruppen, ein Teil von deren Beitrag fließt in die Kasse der Zentrale. Den 1. Versuch wollen wir in Magdeburg machen. Die korrespondierenden Mitglieder bekommen vierteljährlich einen Bericht. Darin sollen auch sämtliche Adressen angeführt werden. Und Berichte über alle Versammlungen der Zentrale und der Ortsgruppen. Ich denke, die Sache wird sich schon machen. (…) Ich werde Kassierer sein.“764 761

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Da Hospitationen für die Schule in ihrem Selbstverständnis wichtig waren, sie den Schulbetrieb aber nicht zu sehr stören sollen, wurden regelmäßig „Besucherordnungen“ veröffentlicht, die für Hospitierende bestimmte Regeln vorgaben. In einer solchen aus dem Jahr 1914 heißt es unter anderem: „Irgendeine Begrüßung der Besucher durch die Schüler ist nicht üblich. Wer mit einem Schüler reden will, muß selbstverständlich durchaus den herablassenden Ton vermeiden, in den Erwachsene leicht Kindern gegenüber verfallen. (…) In allgemeinen Gesprächen, besonders im Gesamtunterricht, können Besucher ebensogut wie Lehrer und Schüler jederzeit sich zu Wort melden. Im kleineren Kreise aber wird um möglichste Zurückhaltung, namentlich auch in den Kundgebungen des Beifalls oder Mißfallens, gebeten.“ (Stundenplan der Berthold-Otto-Schule vom 20. April 1914 bis auf weiteres. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 209 Bl. 98-99) Otto erwähnt ihn sogar in seinem Werk „Volksorganisches Denken“. (Otto (1925b): Abschnitt 3050. Tagebuch Fritz Meyer 24.6.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 1. Tagebuch Fritz Meyer 25.6.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 2-3. Am 26. Juni wird dann noch eine „Pressekommission“ gebildet, deren Mit-

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Es ist davon auszugehen, dass es sich hier um die lokale Ausgestaltung der am 13.5.1911 gegründeten Charon-Gesellschaft765 handelt, die vor allem mit Rudolf Paulsen in Verbindung gebracht wird. Neben ihm gehören dem erweiterten Vorstand Karl Röttger, Eugen Styx, Ernst Hering, Fritz Henning und Otto Lademann an. Letzterer, ein Berliner Industrieller, gilt als langjähriger

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glieder sich verpflichten, monatlich eine Besprechung des Charon oder eines Charonbuches zu liefern (Tagebuch Fritz Meyer 26.6.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 3). Deren Entstehung hat Rolf Parr (2000) nachgezeichnet. Die Charongesellschaft sollte auf Basis bereits bestehender Ortsgruppen, deren Vorsitzende nahezu alle auch im Umfeld der Berthold-Otto-Schule wiederzufinden sind, neben der Zeitschrift „Die Brücke“ das zweite Element einer funktionierenden Öffentlichkeitsarbeit sein. Unter anderem finden hier sich Robert Janecke, Erich Bockemühl, Gottfried Winter und Anton Ettmayr wieder. Außer Robert Janecke sind alle auch Autoren des Hauslehrers. (Parr (2000): 40). Die von Parr herausgearbeitete Struktur der Öffentlichkeitsarbeit des Charon – nämlich neben der Hauptzeitschrift eine weitere, die sich an Außenstehende wenden sollte („Die Brücke“ wird herausgegeben von Karl Röttger, also nicht Otto zur Linde selber) und die Gründung eines Vereins mit Ortsgruppen – weist frappierende Ähnlichkeiten mit der ab 1913 existierenden Form der Öffentlichkeits- und Unterstützungstätigkeit rund um die Hauslehrerbestrebungen auf: Hier wird ebenfalls ein Verein mit Ortsgruppengliederung gegründet und neben dem Hauslehrer eine weitere Zeitschrift – „Die Zukunftsschule“, die von Georg Kerner herausgegeben wird, – installiert. Es ist davon auszugehen, dass es sich dabei, gerade aufgrund der hohen personellen Überschneidung, nicht um eine Koinzidenz handelt. Anders hingegen ist die Öffnung hinsichtlich des Publikums organisiert – kann die Struktur der Charon-Bewegung als in drei um Otto zur Linde herum gruppierte, konzentrische Kreise verstanden werden (vgl. Parr (2000): 42; zum innersten Kreis gehörten demnach unter anderem die Otto-Töchter Helene und Franziska, Verena zur Linde, Rudolf Paulsen und Karl Röttger), sind die „Hauslehrerbestrebungen“ wesentlich offener. Die „Zusammenkunft der Hauslehrerfreunde“, die 1912 auf der Weimarer Tagung das erste Mal stattfinden soll, ist für alle offen, die Otto persönlich hören und in eine Aussprache treten wollen (Otto (HL 1912a): 155). Diese Öffnung hängt auf der einen Seite sicherlich mit dem Gegenstand der jeweiligen Bewegungen zusammen: War es bei zur Lindes Charon die Lyrik, handelte es sich bei Berthold Otto um Pädagogik (und daran angeschlossen sowohl Schul- als auch Gesellschaftsreform) und damit um etwas, das weniger gut literarisch zu anderen Menschen zu transportieren war. Zum anderen hat Berthold Otto mit der Schule einen eigenen Ort, an dem das, was er vertritt, sichtbar gemacht werden und eben auch an die Kundin oder an den Kunden gebracht werden musste. Anders gesagt: War es für den Charon eher bedeutsam, eine elitäre Haltung zu vertreten, ist es für die Hauslehrerbestrebungen sowohl ausgehend von der praktischen Seite (also Kundinnen und Kunden zu generieren, die Schulgeld bezahlen), als auch für die Vorstellung der Umsetzung der Schulreform geboten, eben keine auf Exklusivität orientierten Ausschlüsse bezüglich der anzusprechenden Personengruppen zu formulieren. Das konnte sich die Schule aufgrund ihrer finanziellen Situation schlichtweg nicht leisten.

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Mäzen zur Lindes766 und hat auch Berthold Otto über viele Jahre finanziell unterstützt. Von einem der Leseabende der „Ortsgruppe Lichterfelde“ der CharonGesellschaft findet sich auch ein Bericht in Fritz Meyers Tagebuch.767 Während Fritz Meyer diesen Kontext als inhaltlich anregend wahrnimmt, sind Studieninhalte und Seminarbesuche nicht sehr bedeutsam für ihn. Hier ist er unregelmäßig, behilft sich mit Ausreden, um sein Fehlen zu entschuldigen,768 und die meisten Seminare empfindet er als uninteressant. Zudem erlebt er die großstädtische Kultur Berlins als etwas „sehr ungesundes, Treibhausmässiges“,769 das in ihm ein fast beängstigendes Gefühl des Erotischen auslöst. Dieses empfindet er nicht, wenn er in der Berthold-OttoSchule ist, obwohl es dort auch Situationen gibt, die erotisch aufgeladen sein können. Dass dies nicht geschieht, wirkt auf Fritz Meyer positiv: „Das ist das Befreiende an der Schule. Vielleicht der Anfang einer neuen Kultur.“770 Die Schule wird also für ihn zu einem beruhigenden Gegenpol, zu einem Ort, der keine der Gefahren birgt, denen sich Fritz Meyer durch die Großstadt ausgesetzt sieht. Ende Juni beginnt Fritz Meyer auch mehr über seine innere, emotionale Annäherung an Irmgard Otto zu schreiben. Er sucht das Haus der Ottos gezielt

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Baumann IV: 66. Dafür spricht auch, dass sich Anzeigen von Lademanns Unternehmen „Möbel Dittmar“ in den Charon-Notheften, die zwischen 1920 und 1921 erschienen, finden. Lademann war auch Anzeigen-Stammkunde im Hauslehrer Ottos und finanzierte auch viele der „Allgemeinen Deutschen Erziehungstage“ von Arthur Schulz` Gesellschaft für Deutsche Erziehung mit (Baumann IV: 97). „Zuerst sprach Winter einige einleitende Worte. Manches gefiel mir gut. Dann las Schumitz eine ziemlich lange Sache vor, leider in einem sehr pastoralen Tone. Aber die Sache selbst war gut. Es war sein Glaubensbekenntnis. Besonders stark betonte auch er den Gedanken des organischen Wachstums. Ich hatte auch da das Gefühl, dass ich mich daneben nicht hören lassen konnte.“ (Tagebuch Fritz Meyer 1.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 10) „Ich habe sehr lange geschlafen, so lange, dass ich beinah nicht mehr rechtzeitig zu Breysig gekommen wäre. Er war sehr freundlich, erkundigte sich nach meinem Zustand und ich log das Blaue vom Himmel herunter.“ (Tagebuch Fritz Meyer 1.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 10) Tagebuch Fritz Meyer 3.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 11. An anderer Stelle berichtet er von einem Besuch im Freibad Schlachtensee: „Ich fand das (sic!) eine ungesunde Atmosphäre dort herrschte. Auch im Trikot blieben es die üblichen Ladenmädel. Es fehlte doch der ganz natürliche Zug, der die Spiele als etwas Selbstverständliches nimmt.“ (Tagebuch Fritz Meyer 2.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 11) Tagebuch Fritz Meyer 3.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 11.

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auf, um sie zu sehen,771 und hofft auch im Kontext der Schule auf ihre Anwesenheit. Gleichzeitig bekommt er am 30.6.1911 den Bescheid von Berthold Otto, dass er nun – mit einem Stipendium von 130 M pro Monat – das nächste Vierteljahr in der Schule sein kann.772 Der Ablösungsprozess von seiner ehemaligen Heimat Magdeburg wird jetzt immer deutlicher. Am 5.7.1911 findet sich im Tagebuch ein Eintrag, dass er sich seiner Verliebtheit gegenüber Irmgard sicher ist, am 7.7.1911 schreibt er seiner ehemaligen Freundin – Lotte – einen Brief, der zwar keine explizite Trennung formuliert, aber in Fritz Meyers Augen eindeutig genug sein musste: „Es wurde gar nichts besonderes. Ich hab einfach erzählt. Trotzdem wird sie merken, was Sache ist. Ich fühle, dass da eine Unehrlichkeit dabei ist, aber ich habs nicht fertig gebracht, mehr zu schreiben. Die grosse Frage ist nun, wie sie auf diesen Brief reagiert. Ich hab ihn unumwunden geschrieben, wie sehr mir daran lag, das nächste Quartal hier zu bleiben. Daran muss sies merken.“773

Auch von Robert Janecke, dem Freund aus Magdeburg, der ebenfalls in Berlin ist, löst er sich zunehmend. Bereits am 13.7.1911 stellt Fritz Meyer fest: „Ich fange eben ein ganz neues Leben an.“774 Der neue Wohnort, die neue Umgebung bieten sowohl neue soziale Kontakte als auch ein intellektuell-kulturelles Umfeld, das Fritz Meyer sehr anspricht, wobei sicherlich der persönliche Kontakt zu gleich zwei ihn beeindruckenden Persönlichkeiten – Otto zur Linde und Berthold Otto – für ihn eine hohe Attraktivität aufweisen.

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„Ich glaube, Robert ahnt, was mich eigentlich zu Ottos zieht. Sprechen mag ich mit ihm noch nicht drüber. – Also am 29. Juni ging ich zu Ottos, um mit Irmgard zusammen zu sein. Darüber war ich mir nun völlig klar.“ (Tagebuch Fritz Meyer 30.6.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 8) Tagebuch Fritz Meyer 30.6.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 8. Tagebuch Fritz Meyer 7.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 17. Es scheint ihm auch im weiteren Verlauf der Zeit schwer gefallen zu sein, (s)eine klare Trennung mit Lotte zu besprechen. Am 29.8.1911 beschreibt er einen Besuch in Magdeburg, bei dem er auf Lotte trifft: „Man liess uns anfänglich unglücklicherweise allein. Ich war freundlich, aber im Grunde genommen sehr reserviert. (…) Während der ganzen Zeit versuchte Lotte meine Augen einzufangen. Das war mir sehr peinlich und ärgerlich. Ich merkte direkt mit Schrecken, wie unglaublich fremd sie mir geworden ist. Ein paar Mal erwiderte ich ihre Blicke, aber ganz eisig.“ (Tagebuch Fritz Meyer 29.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 78) Diesem Treffen waren noch weitere Briefe vorweggegangen. Tagebuch Fritz Meyer 13.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 29.

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Die Annäherung an Berthold Otto und seine Familie findet zunächst auf zwei Ebenen statt, die sich freilich immer wieder durchkreuzen und beeinflussen: Zum einen wird Fritz Meyer ein wichtiger Teil der Berthold-Otto-Schule; er bemüht und engagiert sich, als Lehrer gut zu arbeiten, später übernimmt er auch zunehmend Tätigkeiten im Hauslehrerverlag. Zum anderen integriert er sich schnell in die Familie Otto: Er schließt bald Freundschaft mit der damals dreijährigen Tochter Helga,775 gibt Richard Otto, auch wenn er ihn nicht besonders gut leiden kann, Nachhilfe in Mathematik776 und wird im Lauf der Zeit immer wieder zum Essen bei Familie Otto eingeladen. Fritz Meyer registriert in seinem Tagebuch gerade die Geschehnisse im Zusammenhang mit den Essenseinladungen als Indikator für seine Zugehörigkeit zur Familie. Finden die Einladungen zu Beginn seiner Zeit in Lichterfelde eher zufällig oder situativ statt,777 ist ab Mitte Juli 1911 eine Verstetigung zu erkennen. Am 17.7. wird er von Berthold Otto zum Abendessen eingeladen, bei diesem Anlass überträgt er Fritz Meyer den Oberkurs in Mathematik.778 Am 20.7.1911 ist für ihn bereits „Abendbrot geschnitten“, als er von der Universität zu Ottos kommt, es scheint dazu keiner expliziten Einladung mehr bedurft zu haben.779 Drei Tage später berichtet Fritz Meyer dann davon, dass er eine für ihn bestimmte Serviette beim Abendessen vorfindet und dass Berthold Otto ihn fragt, warum er nicht beim Mittagessen ebenfalls im Haus gewesen sei.780 Das scheint zwar nicht bedeutet zu haben, dass Fritz Meyer

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Die ihn zunächst nicht mochte, weil er „sonen komischen blauen Anzug anhätte und sonen komischen Schlips“ (Tagebuch Fritz Meyer 25.6.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 2), ihn aber dann „officiell als ihren Freund anerkannt“ hat (Tagebuch Fritz Meyer 9.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 25). Und Fritz Meyer weiß es auch so einzurichten, dass diese Mathematik-Nachhilfe im Hause Otto stattfindet: „Mit Richard Otto verabredete ich, dass ich ihm bei der Analytik helfen sollte. Ich sollte am andern Tag um halb 9 kommen, womit ich natürlich gern einverstanden bin. Ich wusste ihm sogar erst plausibel zu machen, dass es besser wäre, wenn ich käme, weil er doch die Bücher da hätte. An und für sich ist es mir ja gar nicht verlockend, Richard Otto zu helfen, aber ich habe doch so die Gelegenheit, meine Irme zu sehen.“ (Tagebuch Fritz Meyer 7.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 18) Oder auch gar nicht, was ihn sehr betrübt (Tagebuch Fritz Meyer 4.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 12). Tagebuch Fritz Meyer 17.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 33. Tagebuch Fritz Meyer 20.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 35. „Beim Kaffeetrinken hat Berthold Otto mich gefragt, wo ich zum Mittagessen gewesen wäre, er hatte es also einfach als selbstverständlich angesehen, dass ich mitgeges-

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das Mittagessen bei den Ottos ohne Einladung hätte einnehmen können,781 beim Abendessen aber hat er nun einen festen Platz neben Berthold Otto, da sie beide „Fachinger“ trinken.782 Zwei Tage später allerdings wird er von Irmgard Otto an ihre Seite platziert,783 am 1.8.1911 dann lädt Frida Otto ihn für die Ferienzeit zu seiner großen Freude zu allen Mahlzeiten ein.784 Diese Einladung erneuert Berthold Otto nach Ablauf der Ferienzeit.785 Am 24.8.1911 schreibt Fritz Meyer dann, dass „sein“ Platz beim Kaffeetrinken neben Irmgard ist,786 und Anfang September 1911 findet sich folgender Eintrag im Tagebuch: „Sonst hab ich es ja jetzt so, wie ich es mir besser nicht wünschen kann. Ich werde durchaus zur Familie zugerechnet.“787 Am 17.9.1911 bekommt er die Zusage für weitere drei Monate des Stipendiums. Im Zuge dessen wird er nun zahlender Essensgast im Hause Otto, und Frida Otto bietet ihm das Zimmer ihres Sohnes an, falls dieser ausziehen

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sen hätte.“ (Tagebuch Fritz Meyer 23.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 39) Es kommt in den kommenden Tagen zu weiteren Einladungen, diese müssen also noch ausgesprochen werden (Tagebuch Fritz Meyer 25.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 42). Tagebuch Fritz Meyer 25.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 42. Tagebuch Fritz Meyer 27.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 45. Tagebuch Fritz Meyer 1.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 51. Das Zustandekommen dieser Einladung zeigt gleichzeitig, wie diffizil der soziale Umgang im Hause Otto geregelt war: Am 21.8. hat Fritz Meyer ein Gespräch mit Frida Otto, in dem es darum geht, ob er, da die Ferien ja beendet sind, weiter mitessen könne. Allerdings fragt er nicht direkt und auch Frida Otto macht keine eindeutige Aussage sondern spricht davon, dass sie Fritz Meyers grundsätzliche Stellung in der Schule mit ihrem Mann besprechen müsse. Daraufhin schreibt Fritz Meyer: „Ich glaube nun, dass ich also bis dahin nicht mehr mitessen würde. Ich konnte mir ja denken, dass sie es nicht so meinte, musste es aber doch so auffassen.“ (Tagebuch Fritz Meyer 21.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 72) Daraufhin isst er am darauffolgenden Tag tatsächlich auswärts, ihm wird aber später von Berthold Otto gesagt, dass es sich alles um ein Missverständnis gehandelt habe. Tagebuch Fritz Meyer 22.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 72). Tagebuch Fritz Meyer 24.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 73. Tagebuch Fritz Meyer 4.-10.9.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 84.

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würde788 – was sich dann auch bewahrheitet, so dass Fritz Meyer ab November im Hause Otto wohnt.789 Dieser Prozess der Annäherung – von eher sporadischen Einladungen hin zum regelmäßigen Gast mit Unterkunft – wird sicherlich dadurch unterstützt, dass Fritz Meyer zum einen zunehmend Aufgaben in Verlag und Schule übernimmt, also sich für das Unternehmen Berthold Otto engagiert, und dass er zum anderen immer häufiger auch im Hause Otto präsent ist. Gerade die Verbindung von Tätigkeiten in Schule und Verlag heben Fritz Meyer heraus. Zwar halten einige an der Schule arbeitende Lehrer Vorträge und schreiben Artikel für den Hauslehrer,790 sind also über den Unterricht hinaus tätig, und mit Paul Baumann wird später auch ein Lehrer eine treibende Kraft des Berthold-Otto-Vereins werden. Das Alleinstellungsmerkmal Fritz Meyers allerdings ist, dass er sowohl inhaltlich als auch organisatorisch tätig wird und es ihm gelingt, eine feste Position in der Familie zu erreichen. Flankiert wird dieser Prozess zum einen natürlich durch seine emotionale Bindung an Irmgard Otto, aber auch dadurch, dass er relativ schnell in der Position des zukünftigen Schulleiters gesehen wird. Berthold Otto überträgt ihm sukzessive weitere Aufgaben in der Schule: Nach den Ferien ersetzt Fritz Meyer einen bisher angestellten Lehrer, der die Schule verlassen hat,791 er ist allerdings weiterhin Stipendiat. Am 28.7.1911 kommt es dann zum ersten Mal dazu, dass die Idee, dass Fritz Meyer zukünftig die Schule leiten könne, ausgesprochen wird, und zwar in einem Gespräch zwischen ihm und Rudolf Paulsen: „Er meinte, wenn Sie ein genialer Mensch sind, dann müssen sie natürlich mal die Schule übernehmen, das wissen Sie doch. Ich wäre ja der nächste dazu, aber ich kanns nicht, also kommen doch nur Sie in Betracht (…). Wenn ich auch schon nicht mehr dran glaube, so freut es mich doch sehr, dass es mal so unumwunden ausgesprochen ist, und noch dazu von Paulsen. Jetzt hiesse es nur, orntlich in der Schule was zu leisten. Da kommen doch schon wieder die Hoffnungen.“792

Dieses Gespräch findet lange vor dem Moment statt, in dem Fritz Meyer und Irmgard Otto eine auch nach außen sichtbare Beziehung zu führen beginnen, dennoch zielt die Aussage Paulsens darauf ab, dass Fritz Meyer als anzunehmender Schwiegersohn in spe den Familienbetrieb einst leiten wird – was 788 789 790 791 792

Tagebuch Fritz Meyer 17.9. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 90. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, vermutlich November 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 39. Beispielsweise Eduard Reimpell und Gottfried Winter. Tagebuch Fritz Meyer 22.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 72. Tagebuch Fritz Meyer 28.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 46.

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an sich seine, also Paulsens oder aber Richard Ottos Position wäre, die er aber nicht einnehmen kann bzw. will. Damit wird deutlich, dass es nicht nur bei Berthold Otto selber eine Vorstellung davon gegeben hat, dass die Schule als Teil des Unternehmens im familiären Kontext verbleiben muss, sondern dass zumindest Rudolf Paulsen als Schwiegersohn auch ein entsprechendes Wissen hatte.793 Das Gespräch darüber spornt Fritz Meyer an, jetzt erst recht „orntlich in der Schule was zu leisten“, weil sich damit eine Zukunftsperspektive in dem kulturellen Umfeld eröffnet, das für ihn so attraktiv ist. Hier wird auch deutlich, dass Rudolf Paulsen für ihn eine wichtige Person im Kontext der Familie Otto ist. Er ist eine zentrale Figur im Zusammenhang der Charon-Gesellschaft794 und persönlich eng mit Otto zur Linde verbunden. Für Fritz Meyer wird er zunehmend zur Vertrauensperson. Für den 31.7.1911 notiert Fritz Meyer in seinem Tagebuch: „Ich freue mich vor allem, dass ich mich mit Paulsen jetzt so gut stehe. Er erzählt mir jetzt ziemlich intime Sachen aus seinem Leben, von seinen ehemaligen Liebschaften u.s.w. Ich kann über alles mit ihm sprechen. Ganz besonders lieb ist es mir, dass er mich zum Schreiben aufmuntert.“795

Rudolf Paulsen versorgt Fritz Meyer auch mit Informationen aus dem Innenleben der Familie Otto,796 und das Vertrauensverhältnis ist so groß, dass auch 793

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Bei Paul Baumann findet sich der Hinweis, dass Paulsen im Jahr 1908 sowohl bei Otto in der Schule unterrichteten und dass es auch den Plan gab, dass diese Tätigkeiten verstetigt und ausgeweitet würden, um Berthold Otto zu entlasten. Baumann begründet das Scheitern dieses Vorhabens mit dem Tod von Friedrich Paulsen (Baumann V: 38f.). Paulsen unterstützt den Charon auch finanziell und publizistisch: „Paulsen sagte mir noch eine neue Möglichkeit, für den Charon Geld zu beschaffen. Er hat eine Abschrift vom Testament seines Vaters. Darauf hin könnte er 3 Tausend geborgt bekommen. Ein Tausend hat Otto zur Linde übrigens schon von ihm. Er hat jetzt auch schon wieder mehrere Bittschriften geschrieben, aber um kleine Summen. Er schrieb grade an der Broschüre über Otto zur Linde.“ (Tagebuch Fritz Meyer 19.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 71) Tagebuch Fritz Meyer 31.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 50. Am 30.7.1911 notiert Fritz Meyer nach einem Gespräch mit Rudolf Paulsen: „Und da haben wir denn mal ausführlich über Ottos gesprochen. Er denkt über die ganzen Verhältnisse ungefähr ebenso wie ich. Manches war mir noch sehr interessant. Die Verschwendung ist masslos. Aber er macht auch keinen eigentlichen Vorwurf. Dafür ist es eben wirklich die geniale Familie. Dafür sind auch neben den großen Schattenseiten die großen Lichtseiten da.“ (Tagebuch Fritz Meyer 30.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 45-46) Ein ähnliches Gespräch scheint es am 24.8.1911 gegeben zu haben, hier notiert Fritz Meyer aber keine inhaltlichen Einzelheiten (Tagebuch Fritz Meyer 24.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 74).

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über intime Dinge gesprochen wird.797 Die beiden Männer verbindet neben der Zugehörigkeit zum engeren Kreis des Charon, der sich immer an den Mittwoch-Abenden trifft,798 auch das Interesse an der Schriftstellerei. Rudolf Paulsen ist von Beruf Schriftsteller, Fritz Meyer experimentiert mit verschiedenen sprachlich-künstlerischen Ausdrucksformen. In seinem Tagebuch finden sich viele von ihm selbst verfasste Gedichte, die er zu unterschiedlichen Anlässen auch vorträgt. Ferner wird ein Aufsatz von Fritz Meyer in der Zeitschrift „Charon“ veröffentlicht. Er berichtet, dass er auch immer von Otto zur Linde zum Verfassen und Vortragen von Gedichten angehalten wird. Im Oktober 1911 schreibt er seiner Schwester und seinem Schwager, dass er dieser Aufforderung nachgekommen ist und welche Bedeutung die Integration in die Charonbewegung inzwischen für ihn bekommen hat: „Du hast das Oktoberheft (= Charon; KK) erhalten mit meinem Aufsatz. Das war die eine Sensation dieser Woche, dass ich zum ersten Mal im Charon drin stehe. Ich bitte um Euer Urteil. Es ist so komisch. Das Gefühl, an der Weltgeschichte beteiligt zu sein. Das hab ich noch viel stärker durch die andere, noch viel größere Sensation dieser Woche. Ich hab am Freitag Otto zur Linde Gedichte von mir gegeben. Es war ein großer Entschluss. Die Gedichte gefielen ihm ausnahmslos sehr gut. Und er hat sich sehr darüber gefreut. Paulsen kam hinzu und war direkt begeistert. Es ist ganz seltsam. So seit Ende August ist mir die Zunge gelöst. Ich hab mich selbst gefunden.“799

Diese kulturelle Umfeld, vor allem der Charon, stellt für Fritz Meyer nicht nur eine Möglichkeit des Teilens literarischer Produktionen mit anderen dar, es bedeutet für ihn, „an der Weltgeschichte beteiligt zu sein“ und auch eine tatsächliche Lebenseinstellung, die er als Begründungsfigur für Entscheidungen anführt. In einem Brief an seine Schwester und seinen Schwager, der 797

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Fritz Meyer berichtet über ein Gespräch mit Rudolf und Franziska Paulsen, in dem es um vorehelichen Geschlechtsverkehr geht (Tagebuch Fritz Meyer 17.9. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 90). Der bereits angesprochene „innere Zirkel“ der Charonbewegung traf sich jeden Mittwoch Abend um halb neun bei Otto zur Linde, dort wurden auch nur in Ausnahmen Gäste zugelassen (Parr (2000): 42), während so genannte Charon-Abende, bei denen Texte von Otto zur Linde (der dabei selber nicht anwesend war), aber auch Eigenproduktionen rezitiert wurden, in Lichterfelde meist an Samstagen, gelegentlich aber auch zu anderen Zeiten abgehalten wurden. Am 5.8.1911 liest Fritz Meyer beispielsweise anlässlich einer solchen Veranstaltung einen Aufsatz von sich vor und erhält dafür positive Rückmeldungen (Tagebuch Fritz Meyer 5.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 55). Auch Irmgard Otto ist im Charon aktiv und zwar sowohl im inneren Zirkel als auch bei den Samstags-Terminen, bei denen sie gelegentlich eigene Gedichte vorliest (Tagebuch Fritz Meyer 12.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 63). Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 8.10.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 37.

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vermutlich im November 1911 verfasst wird, beschreibt er diese umfassende Perspektive: „Und dann in den Staatsdienst trete ich nie. Das ist zu spät. Ich bin verloren, wie Paulsen sich ausdrückte. Entweder ich gehe nun den Weg ganz und bin ein Genie. Oder ich bin es nicht und leide Schiffbruch. Nun denn, so hab ich doch gelebt. Ich will sein können, was ich bin. Und ich will mich nicht ducken. Ich will nicht nur vom Charon überzeugt sein, ich will ihn auch leben. Und das heisst eben, ich will ich sein.“800

Fritz Meyer will „den Charon“ leben, dieser wird zu weitaus mehr als einer Gruppe, in der gemeinsam literarischer Austausch betrieben wird,801 für Fritz Meyer ist er etwas, das Teil seiner Lebensführung werden soll. Eine ähnliche Perspektive wird sich später auch im Umfeld des Berthold-Otto-Vereins finden, in dessen Satzung es explizit heißt, der Verein wolle „für eine Lebensgestaltung im Sinne Berthold Ottos wirken.“802 Beiden Bewegungen eröffnen also neben ihrer ähnlichen inhaltlichen Ausrichtung die Möglichkeit, sie als umfassendere Systeme mit quasi-religiösem Charakter zu begreifen, die Einfluss auf die individuelle Lebensführung besitzen, und damit lebensreformerische Elemente aufgreifen.803 Für Fritz Meyer scheint es so zu sein, dass zwischen einem Leben, das am Charon ausgerichtet ist, und einem Leben als Lehrer im Staatsdienst ein kaum aufzulösender Widerspruch besteht: Er kann sich nur das eine oder das andere vorstellen, und die richtige Wahl verhilft ihm so gleichzeitig zu einer Feststellung seiner Identität. Den Charon leben zu wollen bedeutet für ihn: „ich will ich sein“. Und falls er sich doch noch für eine Tätigkeit im Staatsdienst entscheide, wäre das in seiner Diktion „klein beigeben“, was aus zwei Gründen geschehen könne, nämlich: „dass ich doch im Grunde meiner Seele zu sehr Philister oder zu unbedeutend bin.“804 „Philister sein“, also nicht die Kunst sondern die „irdischen“ Bedürf800 801

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Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, vermutlich November 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 39. Das deckt sich auch mit der Wahrnehmung von anderen Charontikern: Erich Bockemühl beschreibt 1921 den Charon als eine „Berliner Dichterschule, die keine Schule ist höchstens in dem Sinne der mittelalterlichen natürlichen Kunstgemeinschaften.“ (Bockemühl (1921)) DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 2. Die Charon-Bewegung sah sich selber als allumfassend an: „Über den engen Bereich der Poetik hinaus verstand sich der Charon als totalisierendes, letztlich alle Lebensbereiche umfassendes Lebens-Reformprojekt“, das Ziel war eine „geistige deutsche Wiedergeburt“ (Parr (2000): 37), was auf eine strukturell religiöse Perspektive verweist. Diese speist sich auch aus dem von Otto zur Linde formulierten elitären Anspruch an den Charon: „Ich will die geistige Elite um mich und den Charon scharen. Ich habe oft gesagt: ich will keine geistige Plebs um mich.“ (in: Charon Jg. 5/1908, Beiblätter, H 3: 19; zit. nach Parr (2000): 39) Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, vermutlich November 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 39.

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nisse als zentrales Motiv des eigenen Handelns zu favorisieren, das scheint für Fritz Meyer im Kontext des Charon und dem Umfeld Berthold Ottos gleichsam einem Versagen gleich zu kommen, das er zwar (vorsorglich) bereits in seine Zukunftsplänen einkalkuliert, dem er aber eigentlich entgehen will. Trotz seiner hohen Identifikation mit der Charonbewegung scheint es Fritz Meyer, als der Konflikt zwischen Berthold Otto und Otto zur Linde virulent wird, wichtig zu sein, sich in diesem Konflikt zu positionieren und für eine der beiden „Seiten“ zu entscheiden und damit einen anderen Weg zu gehen als sein zukünftiger Schwager Rudolf Paulsen. In einem Brief, den er am 18.5.1912 an Grete und Bernhard Becker verfasst, berichtet er von dieser Situation: „Gestern früh kam die Bombe. Der neueste Charon mit dem Artikel Charon und Hauslehrer. Berthold Otto hat sich wahnsinnig aufgeregt. Ich auch. Berthold Otto schrieb sofort einen Abschiedsbrief an Otto zur Linde. Ich fertigte die Kopie an. Meine Lage war schwierig. Noch schwieriger, als ich selbst zuerst vermutete. Besondere Schwierigkeiten machte mir die Charongesellschaft. Bis Mittwoch Nachmittag musste ich einen Entschluss gefasst haben, da war Vorstandssitzung. Am Mittwoch Mittag ging ich zu Paulsen und teilte ihm meinen Austritt aus der Charongesellschaft mit.“805

Diese Positionierung ist ein Hinweis darauf, dass für Fritz Meyer die Zugehörigkeit zum nahen Umfeld Berthold Ottos wichtiger ist als die zur Charongesellschaft. Gleichzeitig kann sie als Akt der Loyalität gegenüber Otto verstanden werden. Ab diesem Zeitpunkt findet das Thema „Charon“ nur noch zwei Erwähnungen in Fritz Meyers Briefen: Einmal im Zusammenhang damit, dass Berthold Otto Erholung braucht, weil ihn die Charonsache „ziemlich mitgenommen“ habe,806 ein anderes Mal schildert er ein Zusammentreffen mit Robert Janecke im Hause Otto, bei dem es zu einem Konflikt zwischen diesem und Berthold Otto kommt. Fritz Meyer behält seine eingenommene Position bei, was die fortgeschrittene Entfremdung zwischen den beiden ehemaligen Freunden verdeutlicht.807 Diese Entfremdung kann symbolisch auch für die hier rekonstruierte Entwicklung Fritz Meyers stehen: Er verlässt das „alte“ Umfeld Magdeburg, zu dem Robert Janecke gehört, zugunsten des Lebens in Groß-Lichterfelde. Außer zu seiner Schwester und zu seinem Schwager werden auch die Kontakte dorthin spärlich, die Beziehung zu seiner ehemaligen Freundin gibt er zugunsten von Irmgard auf. Auch sei805 806 807

Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 18.5.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 50. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 23.6.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 54. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 4.8.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 55.

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ne beruflichen Pläne verändern sich: Inspiriert von der Auseinandersetzung mit neuen kulturellen Einflüssen, wird der Plan, als Lehrer im Staatsdienst tätig zu sein, für ihn unattraktiv, und sein Studium setzt er nur fort, weil damit eine Möglichkeit, in der Berthold-Otto-Schule zu arbeiten und diese später zu leiten, verbunden ist.

3.3.3. Mitarbeit in Schule und Verlag: Fritz Meyers Engagement für das Unternehmen Berthold Otto Die Arbeit in der Berthold-Otto-Schule ist für Fritz Meyer entsprechend eine attraktive Alternative zum Staatsdienst. Sie verspricht weiterhin die Nähe zu Berthold Otto und Otto zur Linde und ist für Fritz Meyer in großem Maße sinnstiftend. So, wie er immer mehr Zeit im Haus der Ottos verbringt, so überträgt Berthold Otto ihm auch zunehmend Aufgaben, welche die Schule, die Zeitschrift und den Verlag betreffen. Der Hauslehrerverlag, der vor allem für die Herstellung und Distribution des Hauslehrers und anderer Schriften von Otto zuständig ist, befindet sich im Haus der Ottos. Die anfallenden Tätigkeiten werden vor allem von den Kindern übernommen. Am 7.7.1911 notiert Fritz Meyer eher beiläufig in seinem Tagebuch, dass er im Verlag geholfen habe – „Marken aufkleben und all sowas“808 –, und in der darauffolgenden Zeit berichtet er immer wieder davon, ohne dass er das besonders hervorhebt. Es scheint, als wäre es Teil seines Alltags geworden, sich mit um die Arbeiten rund um den Verlag zu kümmern.809 Aus seinem Brief von 9.12.1911 an Grete und Bernhard Becker ist dann zu erfahren, dass er nun die Leitung des Verlages übernommen hat: „Ich will ihn (= den Verlag; KK) bis Ostern führen. Ich glaube ich kann sagen, dass ich da doch etwas geleistet habe, wenn ich bedenke, welche Unordnung da herrschte. Ich glaube dass nachher nicht viel dazu gehört, es weiter zu führen. Soweit will ich es haben“810

Die Verlagsarbeit endet nicht Ostern 1912, da Fritz Meyer seine Pläne noch einmal ändert und erst zum Herbst 1912 Lichterfelde für die letzten zwei Jahre seines Studiums verlässt. Inzwischen führt er den Verlag zusammen mit 808 809

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Tagebuch Fritz Meyer 7.7. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 17. Tagebuch Fritz Meyer 26.7. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 43, sowie Tagebuch Fritz Meyer 18.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 46. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 9.12. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 41.

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Irmgard, und neben den alltäglichen Routinearbeiten beginnen die beiden, organisatorische Verbesserungen einzuführen, wie Fritz Meyer im August 1912 seiner Schwester und seinem Schwager berichtet: „Wir haben jetzt eine richtiggehende Buchführung eingerichtet. Jetzt haben wir also erst einen richtigen Überblick über den Verlag, also alles mit Aussenständen, Schulden etc. so ist es erst richtig. Jeden Augenblick kann ganz leicht festgestellt werden, wie der Verlag financiell steht. Es ist natürlich ein ganz Teil mehr Arbeit, aber ich freue mich doch.“811

Neben dem Hinweis darauf, dass die Finanzen des Verlages offenbar bisher nicht in einer geordneten Form geführt wurden,812 zeigt sich hier eine Verantwortungsübernahme und damit auch eine mit mehr Vertrauen ausgestattete Position Fritz Meyers im Unternehmen, die Berthold Otto auch zu schätzen weiß.813 Weiterhin entwickelt Fritz Meyer auch Ideen, die auf die geschäftliche Weiterentwicklung des Verlages zielen, beispielsweise die Gründung einer Lesegesellschaft, deren Mitglieder mit Vorauszahlungen und Abnahmegarantien die Einnahmenseite des Verlags stabilisieren und für die Möglichkeit regelmäßiger Veröffentlichungen sorgen sollten. Gleichzeitig ist ihm daran gelegen, bisher unveröffentlichte Texte von Berthold Otto zur Publikation zu bringen, auch, weil er die Manuskripte für äußerst lesenswert und wichtig hält.814 Er übernimmt also sowohl unternehmensinterne Aufga811 812 813

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Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 4.8.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 55. Ein Phänomen, das auch für die Finanzen der Schule gültig gewesen zu sein scheint (vgl. Kapitel 3.4.). Dieser habe sich, so berichtet Fritz Meyer am 4.9.1912 an Grete und Bernhard Becker, wiederholt über die Veränderungen im Verlag geäußert und: „Neulich hat er gesagt, Organisationstalent und grosser Fleiss steckten drin. Da hab ich mich doch drüber gefreut.“ (Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 4.9.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 56) Dass diese Verantwortungstätigkeit nicht immer reibungslos ablief, zeigt ein Konflikt, der sich Anfang 1914 abgespielt hat. Der genaue Hergang ist aus dem vorhandenen Material schwierig zu rekonstruieren; Gegenstand der Auseinandersetzung waren mehrere Absprachen von Paul Baumann, die er in seiner Funktion als Vorsitzender des Berthold-Otto-Vereins mit Berthold Otto getroffen hatte. Dieser wiederum hatte weder Irmgard Otto noch Fritz Meyer, die sich für den Verlag verantwortlich fühlten, darüber informiert, so dass es für beide zu kompromittierenden Situationen aufgrund dieses Nicht-Wissens gekommen sein muss. Aus diesen ergaben sich kommunikative Störungen dergestalt, dass Berthold Otto mit seiner Tochter gar nicht mehr und mit seinem zukünftigen Schwiegersohn nur noch brieflich kommunizierte (Fritz Meyer an Berthold Otto, 11.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 8-9, und Berthold Otto an Fritz Meyer, 12.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 15). Fritz Meyer versucht eine Klärung, auch um das Verhältnis zu seinem zukünftigen Schwiegervater zu retten, er scheint dabei aber keinen Erfolg zu haben. Auch, dass er seine zukünftige Schwiegermutter als Vermittlerin einschaltet,

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ben, hat aber auch die Stellung des Verlages auf dem pädagogischen Markt im Blick: Die Veröffentlichung bereits fertiger aber noch nicht publizierter Manuskripte bedeutet nicht nur, weitere wichtige Inhalte Ottos zu verbreiten sondern kann auch als Versuch verstanden werden, ihn und seine Schriften noch besser auf dem pädagogischen Markt zu etablieren. Fritz Meyer beginnt auch relativ rasch, im Hauslehrer zu publizieren. Beginnend am 10.9.1911 erscheinen im Jahr 1911 sechs Artikel, die er verfasst hat, es handelt sich dabei ausschließlich um Protokolle des Gesamtunterrichts.815 1912 finden sich 15 Artikel – ein Vortragsbericht,816 zwei Artikel zum „Foucaultschen Pendelversuch“,817 zwei Artikel, die über den „Abend der Hauslehrerfreunde“ auf der Weimarer Tagung informieren,818 ein Protokoll über Schülergerichtssitzungen,819 eines über eine Diskussion mit Hospitanten820 und acht von Unterrichts- und Gesamtunterrichtsstunden.821 1913 sind es zwölf Beiträge: zwei Vortragsberichte,822 eine Besprechung,823 zwei Arti-

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führt zunächst nicht zu einer Lösung (Fritz Meyer an Frida Otto, 13.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 17-22, und 20.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 25-26). Das Ende dieses Konfliktes ist unklar. Meyer (HL 1911a, b, c, d, e, f). Bericht über einen Vortrag, den Fritz Meyer am 24.4.1912 im Neuköllner Lehrerverein über Berthold Otto gehalten hat, es waren ca. 200 Zuhörer anwesend (Meyer (HL 1912f)). Es handelt sich dabei um einen Artikel, der in zwei Teilen veröffentlicht wurde (Meyer (HL 1912k, l)). Dieser umfangreiche Bericht wurde auf zwei Nummern des Hauslehrers verteilt: Meyer (HL 1912n, o). Der zweite Teil ist mit einer kurzen Einleitung von Berthold Otto versehen. Ein Manuskript dieses Berichts findet sich auch im Nachlass (DIPF/BBF/Archiv Nachlass Berthold Otto OT 644 Bl. 37-51). Meyer (HL 1912j). Meyer (HL 1912i). Meyer (HL 1912a, b, c, d, e, g, h, m). Meyer (HL 1913f, g). Bei Letzterem handelt es sich um einen Vortrag, den Eduard Reimpell in Stettin beim Ernst-Moritz-Arndt-Bund gehalten hat. Fritz Meyer berichtet über die nach dem Vortrag entstandene Diskussion: „An den Vortrag schloß sich eine etwa einstündige Diskussion. Sie war zum Teil außerordentlich lebhaft. Es sprachen hauptsächlich Herr Seminaroberlehrer Dr. Hadlich, Herr Bibliothekar Dr. Ackerknecht und von uns Irmgard Otto, Herr Reimpell und ich.“ Fritz Meyer berichtet also nicht nur über den Vortrag, sondern er schaltet sich auch in die Diskussion als Befürworter der Berthold-Otto-Schule ein. Meyer (HL 1913k): 447. Fritz Meyer bespricht hier „Urkunden der deutschen Erhebung“ von Georg Merseburger (Merseburger (1913)).

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kel zur Trigonometrie824 und acht Unterrichts- bzw. Gesamtunterrichtsprotokolle.825 Der Hauptteil der Artikel sind Protokolle aus Fach- und Gesamtunterrichtsstunden, die meistens Berthold Otto gehalten hat. Fritz Meyer schreibt seinen ersten inhaltlichen Artikel, der kein Protokoll ist, für die Nummern 34 und 37 des zwölften Jahrgangs des Hauslehrers. Er berichtet seinem Schwager in einem Brief vom 4.9.1912 über die anfänglichen Schwierigkeiten, die ihm dieser Artikel bereitet hat.826 Die Protokolle der Unterrichtsstunden – seien es Fach- oder Gesamtunterrichtsstunden – sind wichtige Texte, die im Hauslehrer häufig vorkommen und die auch an für die Schule wichtige Personen verschickt werden.827 Dabei werden sowohl Protokolle aus der Berthold-Otto-Schule als auch solche von anderen Personen, die Gesamtunterricht praktizieren, veröffentlicht.828 Diese Protokolle dienen vor allem der Außendarstellung der Besonderheit der Pädagogik Berthold Ottos. Da der Gesamtunterricht zum einen eines ihrer zentralen Merkmale darstellt, der Begriff aber auch schnell in andere Schulkonzepte einwanderte, allerdings zum Preis einer Veränderung des inhaltlichen Konzepts, sind diese Protokolle ein zentraler Baustein der Kommunikation der Marke Berthold Otto. Ottos Zutrauen in Fritz Meyer ist in diesem Bereich so groß, dass dieser bereits im September 1911 in seinem Tagebuch vermerkt, dass Berthold Otto seine geschriebenen Protokolle nur noch sporadisch gegenliest.829

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Meyer (HL 1913h, m). Meyer (HL 1913a, b, c, d, e, i, j, k). Am 4.8.1912 schreibt er: „Es ist nämlich ziemlich schwer, über sowas zu schreiben, schwerer, als ich gedacht habe.“ (Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 4.8.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 55) Einen Monat später fragt er seinen Schwager dann: „Wie hat Dir übrigens mein Foucaultscher Pendelversuch gefallen? Da hätte ich gern Dein Urteil. Ich muss gestehen, es hat mir einige Mühe gemacht, besonders der Anfang, bis ich etwas reingekommen war. (…) Es ist ja mein erster Hauslehrerartikel, der kein Protokoll ist. Ich habe alles Irmgard diktiert. Nur an der ersten Seite habe ich nachher geändert.“ (Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 4.9.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 56) Zum Beispiel an Emmy Friedländer. Zum Beispiel von Jakob Pfalzgraf, der in den Hauslehrernummern 26-30 des Jahrgangs 1914 eine ganze Serie solcher Protokollen aus seiner Volksschule in Pirmasens veröffentlicht. „Am Dienstag gab ich Berthold Otto das Protokoll meiner Gesamtunterrichtsstunde. Er sagte, dass es gleich in den nächsten Hauslehrer reinsollte. Außerdem sollte ich aber gleich ein ausführliches Protokoll der Geschichts- und Gesamtunterrichtsstunde im Oberkursus schreiben. Da hab ich so ziemlich den ganzen Nachmittag dran gesessen. Am Abend hab ich selbst dann noch alles an Nuschke (= Druckbetrieb für den Hauslehrer; KK) geschickt. B. Otto las sich meins gar nicht mal durch, nur die erste

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Neben seiner publizistischen Tätigkeit übernimmt Fritz Meyer auch Vorträge,830 die sich mit Berthold Otto und seiner Pädagogik beschäftigen. Für den 11. Juli 1911 findet sich in seinem Tagebuch folgender Eintrag: „Ich hab vormittag einen Vortrag über Berthold Otto angefangen. Hab auch nach dem Essen noch dran geschrieben. Und ich bin mit viel Lust dabei. Es geht auch gut. Ich habe gleich annähernd 6 Seiten runtergeschrieben.“831

Ob Fritz Meyer diesen Vortrag gehalten hat, ist aus dem Tagebuch nicht zu ersehen, aber im November berichtet er in einem Brief an Grete und Bernhard Becker von einem Vortrag, den er in Magdeburg gehalten hat,832 in seinem Tagebuch ordnet er diesen rückblickend als ein positives Erlebnis ein.833 Im Dezember desselben Jahres berichtet er von einem kommenden Vortrag in der Gesellschaft für Deutsche Erziehung: „So ist mir auch etwas komisch zu Mute, wenn ich an den Mittwoch denke. Ich halte in der Gesellschaft für Deutsche Erziehung (also Gurlitt, Schulz und die Leute) einen Vortrag: Aus der Praxis der Hauslehrerschule. Nur Berthold Otto wegen. Das (sic!) es ihm nicht gefallen könnte. Was die anderen denken, lässt mich ziemlich kalt. Ich will auch zum 1. Male frei sprechen. Ich bin neugierig, wie es gehen wird.“834

Es handelt sich um eine besondere Situation: Fritz Meyer wird einen Vortrag über die Hauslehrerschule halten, bei dem Berthold Otto augenscheinlich anwesend sein wird. Nur dessen Reaktion scheint für ihn bedeutsam zu sein. Damit wird noch einmal mehr deutlich, dass Berthold Otto für ihn eine herausgehobene Position besitzt. Darauf könnte auch der Hinweis, dass Fritz Meyer „frei sprechen“ will, deuten: Berthold Otto sprach seine Vorträge grundsätzlich ohne Manuskript, so dass Fritz Meyer hier vielleicht versucht,

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Seite.“ (Tagebuch Fritz Meyer 4.-10.9. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 83) Vorträge sind ein zentrales Element der Öffentlichkeitsarbeit, es finden sich im Hauslehrer immer wieder Vortragsberichte von ganz unterschiedlichen Personen. Diese werden auch durch flankierende Maßnahmen wie die Verteilung von Probenummern des Hauslehrers unterstützt. Auch im Kontext der Charon-Bewegung werden Vorträge gehalten und in der hauseigenen Zeitschrift dargestellt, auch hier dienen sie wohl vor allem einer Erhöhung der Abonnentinnen- und Abonnentenzahlen. Tagebuch Fritz Meyer 11.7. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 27. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, vermutlich November 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 39. Tagebuch Fritz Meyer 3.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 101. Dort ist auch zu erfahren, dass dieser Vortrag am 13.11.1911 vor 150 Personen stattgefunden hat. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 9.12. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 42.

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es seinem Vorbild gleich zu tun. Zudem kann das Vorhaben des freien Vortrags auch auf eine gewisse Routine des Vortragens verweisen. Im gleichen Brief berichtet Fritz Meyer auch davon, dass er als „Vertreter und Berichterstatter für Berthold Otto“ auf vielen Veranstaltungen „für Schulreform oder gegen“835 gewesen sei. Hier übernimmt er also stellvertretend für Berthold Otto Aufgaben in der Öffentlichkeitsarbeit und erarbeitet sich so auch zunehmend die Position des zukünftigen Schulleiters. Am 24.4.1912 referiert Fritz Meyer dann im Neuköllner Lehrerverein, im März 1913 übernimmt er zwei Vorträge im Rahmen eines Helmstedter Ferienkurses. Er berichtet seiner Schwester und seinem Schwager davon in einem Brief am 25.3.1913: „Heute wurden Herrn Otto zwei Vorträge für die Ferienkurse in Helmstedt angeboten. Der eine Vortragende Papst ist plötzlich erkrankt, es wurde sofortiger telegraphischer Bescheid erbeten. Ich schicke nun jetzt gleich noch einen Eilbrief hinterher, in dem ich mich als Ersatz anbiete. Ihr staunt wohl einigermassen? (…) Ich glaube ja auf keinen Fall, dass es was wird, es wäre denn, dass sie jetzt absolut keinen andren kriegen könnten jetzt mehr.“836

Fritz Meyers hier formulierte Befürchtung erfüllt sich nicht: Er wird eingeladen und berichtet dann im Hauslehrer vom 6.4.1913837 von diesen beiden Vorträgen, die er thematisch ganz auf Berthold Otto ausgerichtet hat: Am ersten Tag referiert er über die Hauslehrerbestrebungen, am zweiten über Berthold Ottos Leben und Werk.838 Einen sich von den bisher dargestellten Vorträgen unterscheidenden hält Fritz Meyer im Rahmen eines von ihm initiierten „Elternabends“ an der BertholdOtto-Schule. Von diesem berichtet er in seinem Brief an Grete und Bernhard Becker vom 9.12.1911 und auch in seinem retrospektiven Tagebucheintrag vom 3.1.1912. Auch der anlässlich dieses Elternabends gehaltene Vortrag ist im Nachlass vorhanden.839 Aus dem Vortragsmanuskript lässt sich auf der einen Seite ableiten, mit welcher Motivation Fritz Meyer diesen Elternabend – ohne das Wissen der anderen Lehrer – veranstaltet, und zum anderen wird deutlich, wie stark er 835 836 837 838 839

Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 9.12. 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 42. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 25.3.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 65. Meyer (HL 1913f): 167. Meyer (HL 1913f): 167. „Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 37-43.

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sich selber mit den Inhalten Berthold Ottos identifiziert und wie er diese für sich interpretiert. Die Ausgangsidee für den Elternabend war, die Eltern der Schülerinnen und Schüler zu motivieren, sich für Berthold Otto und die Hauslehrerbestrebungen zu engagieren. Um die Notwendigkeit dieses Engagements zu begründen, verbindet Fritz Meyer verschiedene Argumentationslinien. Zunächst stellt er die Berthold-Otto-Schule in einen größeren geistig-kulturellen Zusammenhang: „Wenn unsere Schule jetzt vielleicht noch nicht die entsprechende Beachtung findet, so sind wir doch fest überzeugt, dass einmal die Geschichte der Hauslehrerschule das allergrösste Interesse der Öffentlichkeit finden wird. Dass man von der Gründung der Hauslehrerschule ab ein neues Zeitalter des Unterrichtswesens in Deutschland rechnen wird, ein neues Zeitalter der Befreiung des kindlichen Geisteslebens. Wann diese Zeit kommen wird, wo unsere Schule die gebührende Würdigung finden wird, können wir nicht wissen. Und es kann wohl sein, dass diese Zeit noch weit weg ist. Wir handeln jedenfalls in diesem Bewusstsein.“840

Fritz Meyer sieht – wie Berthold Otto – in der Hauslehrerschule den Keim der Schulreform, die zu einem „neuen Zeitalter des Unterrichtswesens“ und zu einer „Befreiung des kindlichen Geisteslebens“ führen wird. Insofern ist die Berthold-Otto-Schule nicht einfach eine Schule unter vielen, sondern sie besitzt historische Bedeutung, die wiederum zu einer gemeinsamen Verantwortung führt: „So haben wir auch hier das Bewusstsein der Verantwortlichkeit vor aller Welt. Wir haben hier die Pflicht, Grosses zu leisten, wir alle. Dass die Gründung dieser Elternabende wiederum in der Geschichte unserer Schule und in der Geschichte der ganzen Bewegung, die sich an den Namen: Berthold Otto knüpft, von einschneidender Bedeutung sei. Das ist die grosse Aufgabe dieser Abende. Die erste Vorbedingung dafür ist aber, dass wir uns alle einig sind über die weltgeschichtliche Bedeutung der Hauslehrerbestrebungen.“841

Das Wissen, dass es sich bei den Hauslehrerbestrebungen, als deren Teil die Schule zu sehen ist, um eine Bewegung mit weltgeschichtlicher Dimension handelt, führt, so argumentiert Fritz Meyer hier, zu der Pflicht „Grosses zu leisten“. Folgt man diesem Argument, dann entsteht aus der Wichtigkeit der Bewegung die Notwendigkeit, sogar die Pflicht, sich einzubringen, sich zu engagieren, Teil des „Gesamten“ zu werden. Das Ziel dabei ist, die „alten“ zugunsten der „neuen“ Vorstellungen zu überwinden, er konstruiert also eine Frontstellung zwischen dem, was ist, und dem, was werden soll. Das Kom840 841

„Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 37. „Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 37-38.

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mende bezeichnet er dann konsequenterweise als „Revolution des Geisteslebens“ und beschreibt es als einen langwierigen Prozess, der sowohl auf der individuellen als auch auf der Ebene des „Geisteslebens des Volkes“ stattfinden müsse, deren Zusammenhang er analog zu Ottos Vorstellungen fasst: „Eine solche organische Auffassung des menschlichen Geistes vereinigt also das individual- und das Volksgeistleben, d.h. sie ermöglicht dem Einzelgeiste volle Wachstumsfreiheit und setzt ihn auch zu gleicher Zeit in engste Beziehung zum geistigen Wachstum des ganzen Volkes.“842

Die Veränderungen, die Fritz Meyer zweifelsfrei für notwendig hält, benötigen durch dieses spezifisch gedachte Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft Zeit, um sich entwickeln zu können. Dennoch ist mit der Hauslehrerschule ein erstes Zeichen der Veränderung sichtbar geworden, sie stellt die „erste sichtbare Verkörperung von zukünftigen Einrichtungen“ dar, sie ist der „erste Schritt zu den Einrichtungen der Zukunftsschule.“843 Als zwei ihrer besonderen Merkmale stellt Fritz Meyer das Schülergericht844 und den Gesamtunterricht dar, Letzterer sei die einzige Art des Unterrichts, die „ein freies Wachstum des Geistes“845 überhaupt ermögliche. Vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass die Berthold-Otto-Schule als erste sichtbare Auswirkung und als Initial der Schulreform zu sehen ist, beschreibt Fritz Meyer dann, welche besondere Bedeutung und welche Aufgaben folglich den Elternabenden seiner Meinung nach zukommen müssen: „Die Elternabende sollen nicht nur insofern etwas ganz besonderes sein, als sie eben ein Elternabend der Hauslehrerschule sind, sondern als eine Zusammenkunft von Leuten, die das Gefühl haben, dass sie an einer ganz grossen Sache beteiligt sind. Und von dieser Sache ist die Schule eben nur ein Teil. Und mag der Teil auch noch so wichtig

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„Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 39. Elmar Schnücker schreibt zum Verhältnis von Einzelgeist und Volksgeist bei Berthold Otto: „Dieses Verhältnis beschreibt man im Sinne Berthold Ottos am besten als organologische Einheit, bei welcher der Volksgeist dem Einzelgeist nicht übergeordnet und der Einzelgeist in den Volksgeist nicht eingeordnet wird. Organologische Einheit bedeutet eine wechselseitige, aufeinander bezogene Verantwortlichkeit von Volksgeist und Einzelgeist.“ (Schnücker (1990): 68) „Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 40. Dessen besondere Bedeutung liege vor allem darin, dass es von den Schülerinnen und Schülern selber initiiert wurde. „Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 41.

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sein, so bleibt es eben doch nur ein Teil. Und so denke ich mir, dass im Mittelpunkt dieser Elternabende die ganze Bewegung steht.“846

Als Motivation nennt Fritz Meyer neben der Veränderung des Prüfungswesens, einem zentralen Anliegen Berthold Ottos,847 vor allem das „Glücksgefühl, überhaupt für etwas Grosses wirken zu können.“848 Die Gelegenheit sei jetzt besonders günstig: „Ich glaube, dass der Augenblick gekommen ist, wo von hier aus mal ein grosser Vorstoss gemacht werden muss. In ganz Deutschland werden ständig Vorträge über Berthold Otto gehalten. In unzähligen Zeitungen wird über ihn geschrieben. Die Verbreitung der Schriften ist extensiv über die ganze Erde. Und nun muss eben eine großartige Propaganda einsetzen, die alle diese Kräfte vereinigt zu einem energischen Vorstoss für unsere Sache.“849

Auch wenn die Darstellung der publizistischen Bekanntheit Ottos vermutlich nicht ganz der Realität entspricht, so wird jedoch der Grundgedanke, der für Fritz Meyer die zentrale Rolle spielt, deutlich: Die Voraussetzungen gestalten sich jetzt besonders positiv, um gemeinsam durch eine konzertierte Aktion dem von Berthold Otto vorgeschlagenen „Neuen“ Bekanntheit zu verschaffen, es zu dem zu machen, was es in seinem Ursprung eigentlich ist: eine soziale Bewegung, die pädagogische und gesellschaftliche Veränderung bewirkt. Wie aber nun sollen die entsprechenden Aktivitäten aussehen? Wie Fritz Meyer sich die notwendig zu unternehmende „Propaganda“, die er als „Ehrenpflicht“ versteht, denkt, macht er am Ende seines Vortrags deutlich: Zunächst müssten die Elternabende zu großen Veranstaltungen mit vielen Besucherinnen und Besuchern werden. Diese sollen „kommen und in der Schule hospitieren. Und dass sie sich die Schriften Berthold Ottos kaufen. Überhaupt: wir brauchen eine große Propaganda für den Hauslehrer und für die Schriften. (…) Das soll ein ganz wesentlicher Zweck dieser Abende sein. Und ich meine, wenn es gelingt, der ganzen Bewegung durch diese Abende mehr Stosskraft zu geben, so liegt darin eine außerordentliche Bedeutung der Abende. (…) Und

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„Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 41-42. Und wenn man davon ausgeht, dass in der Schule vor allem Kinder waren, die mit dem öffentlichen Schulwesen weniger kompatibel waren, dürfte diese potentielle Veränderung auch für viele Eltern attraktiv gewesen sein. „Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 42. „Zweck und Bedeutung der Elternabende“. Ohne Datum, vermutlich Ende 1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 625 Bl. 42.

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das meine ich deshalb, weil eine grosse Sache grosse Begeisterung, grosse Hingabe, grosse Opferwilligkeit, grosse Taten verlangt.“850

Das Ziel ist, die Popularität der Ideen Berthold Ottos zu steigern. Geschehen soll dies durch Hospitationen, aber vor allem durch den Verkauf der hauseigenen Schriften. Eingebettet wird dieses Ziel in die Vorstellung einer weltgeschichtlich bedeutsamen Bewegung, die sich mit dem Namen Berthold Otto verbinden soll und deren quantitative Ausdehnung noch nicht ihrer Wichtigkeit entspricht. Die Verbesserung der schulischen Situation, die das originäre Interesse der Eltern sein dürfte, wird so mit einer metaphysischen Aufladung versehen, die eine andere Form von Sinnstiftung und damit einen höheren Anreiz für das Engagement des Einzelnen vermitteln soll. Ausgehend von einer gegenwärtig problematischen Schulsituation, einer Wahrnehmung, die wohl von den Eltern, die ihre Kinder in einer privaten Reformschule unterrichten lassen, geteilt werden dürfte, entwirft Fritz Meyer das Bild einer besseren Zukunft. Diese stellt einen Gegensatz zur Gegenwart dar, sie verspricht eine „geistige Revolution“ und ist im Kleinen, nämlich der Hauslehrerschule, angelegt und damit sichtbar. Durch eine gemeinsame Arbeit für die Schule und die sie umgebenden Vorstellungen können und müssen – so Fritz Meyer – alle damit in Kontakt stehenden Personen Teil einer Veränderungsbewegung werden und so zum Fortschreiten der avisierten Revolution beitragen. Strategisch gesehen geht es auch darum, das Unternehmen Berthold Otto besser auf dem pädagogischen Markt zu etablieren und den Absatz der angebotenen Produkte zu steigern. Diese Produkte, zum einen die Schule, zum anderen die Schriften, sind die beiden zentralen Einnahmequellen des Unternehmens Berthold Otto: die Schule, weil sie Schulgeld erwirtschaftet, die Schriften, weil sie Einnahmen für den Verlag generieren. Das eindringliche Plädoyer, das Fritz Meyer auf diesem Elternabend vorgetragen hat, scheint allerdings nicht die erwartete Resonanz entwickelt zu haben. Seiner eigenen Aussage zufolge zog der Elternabend vor allem eine Kontroverse mit an der Berthold-Otto-Schule arbeitenden Lehrerinnen und Lehrern nach sich, die Fritz Meyer von seinem Plan nicht in Kenntnis gesetzt hatte: „Ich hab davon übrigens ziemlich viel Ärger gehabt. Mit dem Lehrerkollegium. Die eine Lehrerin sagte mir am andern Tage, sie hätte mir nur in jedem Punkte widersprechen können. Sie waren wohl verstimmt, dass ich die ganze Sache ohne sie gemacht

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hatte. Aber grade dadurch bewiesen sie, wie wohl begründet die Befürchtungen waren, dass sie nämlich Kohl reden könnten.“851

Sicherlich ist auch die Frage, ob gerade die Eltern, die bereits Schulgeld für ihre Kinder zahlen, die richtigen Adressatinnen und Adressaten für den Versuch der Gründung einer Unterstützungsbewegung für Berthold Otto sind. Zwar gab es Eltern, die hier durchaus Aktivitäten entfaltet haben – ein besonders prägnantes Beispiel ist Emmy Friedländer –, aber es bleibt fraglich, ob die von Fritz Meyer so hoch aufgehängte Bedeutungsebene der OttoPädagogik für eine Mehrzahl von Eltern überhaupt bedeutsam war. Er selber hingegen, und das lässt sich gerade aus diesem Vortrag ableiten, war in einem hohen Ausmaß identifiziert mit den Inhalten, die Berthold Otto vertreten hat. Für ihn ist der Elternabend ein Versuch, ein Mehr an Unterstützung für das Unternehmen Berthold Otto, für die Hauslehrerbestrebungen zu generieren und das vermutlich sowohl aus der Überzeugung der Richtigkeit der Ottoschen Ideen, als auch, weil er die finanzielle Situation im Hause Otto aus der Innenperspektive kannte und einschätzen konnte, er also wusste, dass die monetären Mittel knapp waren. Entsprechend engagiert er sich auch in diesem Bereich. Neben der bereits angesprochenen Idee der Gründung einer Lesergesellschaft, die auch eine Verstetigung der Verlagseinnahmen bewirken sollte, und der besseren Organisation der Verlagsfinanzen entwickelt Fritz Meyer auch weitere Ideen, wie der Bücherabsatz optimiert werden könnte. So schreibt er seinem Schwager Bernhard am 7.1.1912 anlässlich eines Vortrages, den dieser halten wird: „Zu Deinem Vortrag möchte ich noch sagen, dass es doch sein könnte, dass Bücher gekauft werden und dass dann mehrere von einer Sorte verlangt werden. Dann ist es vielleicht angebracht, gleich die Bestellungen auf einer Liste entgegen zu nehmen. Sonst besinnt sich doch noch mancher zu Hause wieder und unterlässt es. Die Bücher werden dann den Bestellern direkt gesandt (also genaue Adresse). Dann ist ja ausgeschlossen, dass Du irgendeinen Profit davon hast. Es liegt Dir doch grade dran, diesen Schein zu vermeiden. Vielleicht findest Du auch einen anderen Modus. Jedenfalls ist es sehr gut, wenn Du direkte Bestellung am selben Abend noch erzielen kannst. Ich hab ja bei meinem Vortrag für 25 Mark verkauft.“852

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Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 9.12.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 42. In seinem Tagebuch ordnet Fritz Meyer den Versuch, diese Elternabende zu installieren, als „etwas böses Kapitel“ in seiner Geschichte mit der Berthold-Otto-Schule ein (Tagebuch Fritz Meyer 3.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 101). Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker. 7.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 43.

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Fritz Meyer gibt seinem Schwager praktische Hinweise an die Hand, wie dieser den Bücherverkauf nach seinem Vortrag organisieren und optimieren kann und zwar so, dass die Käuferinnen und Käufer es sich später nicht wieder anders überlegen – und damit die Einnahmen geringer ausfallen würden. Inhaltliche Fragen oder Bezüge hingegen spielen in dem Brief keine Rolle, so dass davon auszugehen ist, dass hier primär die Organisation des Schriftenverkaufs ein besonderes Anliegen ist. Für Fritz Meyer ist es wichtig, vor allem seinen Schwager für die Hauslehrerbestrebungen zu interessieren. In vielen Briefen an Grete und Bernhard Becker finden sich dahingehende Aufforderungen unterschiedlicher Art: Im Dezember 1911 soll Bernhard Becker auf die im Erscheinen begriffene „Reformation der Schule“ subskribieren,853 Anfang Januar 1912 soll Bernhard Becker einen Bericht über einen von ihm gehaltenen Vortrag einsenden und Fritz Meyer fordert ihn auf: „Und dann noch eins. Schreib doch mal an Berthold Otto über die Reformation der Schule. Er freut sich über jede Zuschrift ganz außerordentlich“,854 Und am Ende dieses Monats bittet er Bernhard ein weiteres Mal, Berthold Otto zu schreiben, um diesem eine Freude zu machen: „Schick doch recht bald deine Sache über die einklassige Volksschule. Es wäre gar nicht ausgeschlossen, dass du dadurch Berthold Otto im günstigen Sinne beeinflusstest, dass er nämlich sich wieder an die Einrichtungen heranmacht. Die sind in den letzten Wochen wieder nicht weitergekommen. Also bitte bald.“855

Bei den „Einrichtungen“ handelt es sich wohl um das Manuskript zu „Die Einrichtungen der Zukunftsschule“, um dessen Fortgang sich Fritz Meyer sorgt. Um Berthold Otto zu unterstützen, soll sein Schwager Berthold Otto etwas über seine eigenen Schulerfahrungen schreiben und ihn damit „günstig beeinflussen“, sodass er weiter an dem Manuskript arbeitet. Gleichzeitig versucht er aber so auch, seinen Schwager inhaltlich an die Hauslehrerbestrebungen heranzuführen und ihn stückweise zu integrieren: Die Aufforderung, dass Bernhard Becker einen Artikel über seine Arbeit an Berthold Otto schicken soll, signalisiert auch Interesse an der Arbeit des Volksschullehrers von Seiten Ottos. Bernhard Becker soll sowohl den Weimarer Erziehungstag besuchen856 als auch zusammen mit seiner Frau Mit853 854 855

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Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 9.12.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 40. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 7.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 43. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 28.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 45. Die „Sache mit der einklassigen Volksschule“ wird später in der Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ abgedruckt (Becker (ZS 1913)). „Ich halte es entschieden für wichtig, dass du kommst. Und es ist wichtig, dass recht, recht viel kommen. (…) Also sieh, dass du recht viele mit nach Weimar schleppen

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glied im Berthold-Otto-Verein werden.857 Im August 1912 fordert Fritz Meyer Bernhard Becker dazu auf, Berthold Otto zum Geburtstag eine Gratulation zu schicken und einen Artikel für den Hauslehrer zu verfassen.858 Für Fritz Meyers Lebensplanung ist, neben seiner Liebesbeziehung zur Irmgard Otto, auch bedeutsam, dass Berthold Otto ihn mehrfach auf die Möglichkeiten seiner Karrieremöglichkeiten in Bezug auf die Hauslehrerschule hinweist. Es ist also nicht nur Rudolf Paulsen, der dieses Thema aufruft, sondern auch Berthold Otto selber stellt diese Möglichkeit immer wieder in den Raum. Für ihn ist Fritz Meyer im Laufe der Zeit zu einer wichtigen Unterstützung in Schule und Verlag geworden. Und entsprechend ist es auch Fritz Meyers „schönstes Weihnachtsgeschenk“, als Berthold Otto ihm am 23.12.1911 ein Exemplar der „Reformation der Schule“ mit der Widmung „Seinem getreuen Mitarbeiter“ schenkt.859 Dieses Buch ist auch jenseits der Widmung für Fritz Meyer bedeutsam. Zum einen war er der erste, der es gelesen hat, und er hat den Moment der Fertigstellung miterlebt. Darüber berichtet er Grete und Bernhard Becker brieflich am 7.12.1911: „Vorgestern Abend wollte ich auch schon mal anfangen, an Euch zu schreiben. Aber grade als ich anfangen wollte, versagte das elektrische Licht. Und wir sassen für eine halbe Stunde im Dunkeln. Berthold Otto sagte noch, er hätte das als persönliche Ovation aufgefasst. Er hatte nämlich grade in dem Moment die Reformation der Schule beendet. Wo nun so viel Licht in die Welt gekommen wäre, da hätte das elektrische Licht sich für überflüssig gehalten“860

Zum anderen schreibt er in seinem Tagebuch über die „vielen schönen Stunden, wenn Berthold Otto daraus vorlas.“861

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kannst. Mit!“ (Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 3.5.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 47) Der Deutsche Erziehungstag fand 1912 nicht wie üblich an Pfingsten statt, sondern im Herbst – entsprechend erfolgt auch hier kurz vorher eine Aufforderung von Fritz Meyer an Bernhard Becker, dass er dorthin und vor allem zum „Abend der Hauslehrerfreunde“, der zum ersten Mal stattfindet, kommen soll (Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 4.9.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto. OT 685 Bl. 56). „Bernhard, Du oder Ihr werdet doch Mitglied des Berthold-Otto-Vereins? Ich werde Euch die Statuten schicken lassen.“ (Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 8.12.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 61) Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 4.8.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 55. Tagebuch Fritz Meyer 3.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 101. Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 7.12.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 40. Tagebuch Fritz Meyer 3.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 101.

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Über ein Gespräch mit Berthold Otto in Bezug auf die Leitung der bestehenden oder einer neu zu gründenden Hauslehrerschule berichtet Fritz Meyer in zwei Briefen an seine Schwester und seinen Schwager. Wiederum am 7.12.1911 schildert er seine (geheimen) Pläne für seine Zukunft nach einem Gespräch mit Berthold Otto: „Wenn ich sage, ich gehe nicht in den Staatsdienst über, so habe ich damit rein äusserlich durchaus nicht alle weitfliegenden Pläne aufgegeben. Im Gegenteil. Sie gehen so weit, dass ich mich etwas scheue, sie auszusprechen. Und ich würde sie auch nicht aussprechen, wenn mich nicht andere drauf hingewiesen hätten. Berthold Otto sagte mir kürzlich, dass er bestimmt damit rechne, dass ich mal eine Hauslehrerschule gründen würde. Das ist natürlich schön gesagt. Immerhin hab ich mich doch gefreut, beweist es doch, dass er es mir zutraut. Aber ich habe noch ganz andre Absichten. Das ist mir selber nur eine ganz vage Hoffnung. Und so bitte ich also es zu nehmen. Und vor allem bitte ich nicht drüber zu sprechen. Es ist die Aussicht, eventuell die Hauslehrerschule einmal selbst zu leiten.“862

Nach einem knappen dreiviertel Jahr, das Fritz Meyer nun in Lichterfeld lebt, scheinen sich seine Vorstellungen über seinen künftigen Lebensweg zu konkretisieren. Er fühlt sich im Umfeld der Schule so wohl, dass er sich selber vorstellen kann, sie zu leiten, und auch Berthold Otto scheint in ihm einen fähigen Lehrer (in seinem Sinne) zu sehen, so dass er die Idee einer zweiten Hauslehrerschule, die Fritz Meyer gründen könnte, in den Raum stellt. Ein weiteres halbes Jahr später, als es um die Frage des weiteren Studiums geht, bespricht sich Fritz Meyer diesbezüglich mit Berthold Otto, der ihm den Rat gibt, das Oberlehrerexamen zu machen, weiterhin sei davon auszugehen, dass es in absehbarer Zeit in der Berthold-Otto-Schule mindestens zwei neue Oberlehrerstellen geben würde, von denen Fritz eine bekommen solle.863 Auch wenn das Thema „Schulleitung“ nicht explizit angesprochen wird, so ist doch klar, dass Fritz Meyer eine Zukunft in der Schule bekommen soll. Fritz Meyer nimmt diesen Rat auch an: Zum Wintersemester 1912 zieht er nach Jena, ein halbes Jahr später dann nach Rostock, in der Hoffnung, dort einfach sein Staatsexamen ablegen zu können.864 862

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Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 7.12.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 41. Anfang 1912 notiert er ähnliche Gedanken in seinem Tagebuch: „Entweder gründe ich selbst eine Hauslehrerschule oder – ich übernehme die Hauslehrerschule einmal. Das ist mir jetzt doch durch verschiedene Umstände nahe gelegt und gar nicht mehr so was ungeheuerliches.“ (Tagebuch Fritz Meyer 3.1.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 712 Bl. 100) Dies teilt Fritz Meyer seiner Schwester und seinem Schwager am 23.6.1912 per Brief mit (Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 23.6. 1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 52). Fritz Meyer an Grete und Bernhard Becker, 9.2.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 62. Zum Studium in Jena hatten ihm Sträters geraten: Fritz

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Zu Beginn seiner Jenaer Zeit, am 8.11.1912, schreibt Fritz Meyer an Berthold Otto einen ausführlichen Brief, in dem er rückblickend zusammenfasst, was ihm die Zeit, die er in der Familie Otto verbringen konnte, bedeutet: „Ich möchte Ihnen nochmal danken für alles. Dass ich so lange Zeit in Ihrem Haus zubringen durfte. Man empfindet das Schöne oft erst so recht deutlich, wenn man es nicht mehr hat. So geht es mir. Ich möchte, dass Sie merken, wie dankbar ich Ihnen bin.“865

Im Folgenden beschreibt er dann, wie er versucht, Ottos grammatische Systematik, die dieser für den Unterricht in Latein und Griechisch entwickelt hat,866 für das Althochdeutsche zu nutzen. Damit will er Berthold Otto zeigen, dass er gerade im Zusammenhang mit seiner Arbeit besonders viel Dankbarkeit und Freude empfindet:867 „Ich meine nun, an diesen Beispielen können Sie sehn, wieviel Freude Sie in der Welt verbreiten. Denn das sind ja nur verschwindende Kleinigkeiten innerhalb Ihres Werkes. Schon allein die unendliche Freude, die dadurch nur in die Welt reingekommen ist, dass Sie so viele Menschen die Schönheit der Kinder haben sehen lassen. Nur so, lieber Herr Otto, lesen Sie bitte meine Zeilen: Dass Sie an meiner großen Freude über dies wenige spüren, wieviel Freude Sie täglich vielen vielen Menschen spenden, ohne davon zu erfahren. Und wenn ich diese Freude nicht hätte, schiene mir meine ganze Arbeiterei ganz trostlos.“868

Fritz Meyer erfährt durch seine Arbeit, die an der seines Vorbildes anknüpft, so viel Freude, dass er diese Berthold Otto mitteilen will. Dabei extrapoliert er sein eigenes Erleben, er geht davon aus, dass „viele Menschen“ genauso empfinden, Berthold Otto auch dankbar sind für das, was er tut. Gleichzeitig ist diese Freude für Fritz Meyer auch Ansporn, seine Zeit an der Universität, die er im weiteren Verlauf des Briefes als „mechanische Geistesarbeit“ bei der „über alles hinweggehuscht“ werde, beschreibt, besser bewältigen zu können.

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Meyer an Grete und Bernhard Becker, 4.9.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 56. Fritz Meyer an Berthold Otto, 8.11.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 3. Diese Systematik ist die Grundlage der „Lateinbriefe“ Berthold Ottos, die als Selbstlernkurs konzipiert sind und sich gut verkaufen. In der Zeit, als Fritz Meyer bei der Familie Otto wohnt, erscheint die zweite Auflage der insgesamt 25 Briefe. „Wenn ich mich freue, dann möchte ich es immer gern denen sagen, denen ich die Freude verdanke. Und ich hab so viel Freude durch Sie. Und damit Sie meine Freude ermessen können, nur darum möchte ich Ihnen von meiner Arbeit erzählen.“ (Fritz Meyer an Berthold Otto, 8.11.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 3) Fritz Meyer an Berthold Otto, 8.11.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 4.

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Am Ende des Briefes thematisiert Fritz Meyer dann einen Prospekt, in dem die Schriften Ottos beworben werden und der einer der folgenden Hauslehrernummern beigelegt werden soll: „Und für den Verlag freue ich mich noch ganz besonders, denn ich glaube, dass er sich sehr günstig auf den Bücherverkauf auswirken wird. Es wäre nur sehr wünschenswert, wenn er dem Hauslehrer recht bald beigelegt würde. Damit er für Weihnachten recht wirkt. Das gilt wohl auch für die à cond-Versendung an die Buchhandlungen. Brauns sagte mir, dass er Ihnen das schon hätte vorschlagen wollen, das wäre gut, da würde immer viel verkauft.“869

Hier drückt Fritz Meyer nicht nur sein Wohlgefallen über den Prospekt aus, sondern er beendet seinen Brief mit Vorschlägen, wie dieser Prospekt optimal zu nutzen ist. Dabei spricht er auch noch einen weiteren Aspekt des Verlagsgeschäftes an: nämlich die in seinen Augen positive Möglichkeit, den Buchhandel „à cond“ – also auf Kommission – zu beliefern, eine Möglichkeit, das Verkaufsrisiko der Buchhändler zu minimieren. Diese verpflichten sich nicht durch den Einkauf von Büchern, sondern sie werden lediglich zu Verkaufsagenten, das Risiko bleibt in diesem Fall bei den Verlagen, da diese sich verpflichten, die nicht abgesetzte Ware wieder zurückzunehmen. Mit dieser Schlusspassage wird eine zweite Bedeutungsebene des Briefes deutlich, eine, in der sich Fritz Meyer als am Unternehmen Berthold Otto interessiert und beteiligt zeigt und seine Stellung in der Familie und im Unternehmen zu erhalten sucht. Er gibt zum einen einen Hinweis, dass der Prospekt bald der Zeitschrift beigelegt werden soll, damit er positiv in Bezug auf das Weihnachtsgeschäft wirkt. Zum anderen schlägt er eine Veränderung der geschäftlichen Praxis vor, von der er sich einen positiven Effekt auf den Absatz des Verlages verspricht. Dass er darüber auch schon mit dem Grossisten Brauns gesprochen hat, unterstreicht seine eigene Vernetzung in Bezug auf das Verlagsgeschäft und die Bedeutung, die das Familienunternehmen Otto für ihn besitzt. Zusätzlich macht er deutlich, dass er sein Studium nur deshalb positiv besetzen kann, weil er sich auch im Sinne Berthold Ottos mit den Inhalten befasst. Damit unterstreicht Fritz Meyer dass er auch in Zeiten, in denen er nicht im Hause der Ottos lebt, die Perspektive von Berthold Otto beibehält und empfiehlt sich in dieser Art und Weise als dessen Nachfolger.870

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Fritz Meyer an Berthold Otto, 8.11.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 4. Eine mögliche dritte Bedeutungsebene könnte hier sein, dass er seinen zukünftigen Schwiegervater bezüglich der bald darauf erfolgende Verlobung positiv stimmen möchte.

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Dass Berthold Otto in Fritz Meyer diesen Nachfolger gesehen hat, zeigt sich exemplarisch auch in der Retrospektive in einem Brief von Berthold Otto an einen Prof. Brunner vom 7.2.1918. Dieser hatte um ein Manuskript für eine Publikation des „Deutschen Hilfsbundes, Abt. Kinderhilfe“ gebeten.871 Die Ausgestaltung des Artikels war frei, sollte aber die Pädagogik Ottos darstellen. Otto antwortet am folgenden Tag, dass er aus Arbeitsüberlastungsgründen selber keine zusätzlichen Tätigkeiten annehmen könne. Da ihm der Plan aber zusagt, „habe ich meine Tochter, die meine getreue Schulmitarbeiterin und auch Schriftstellerin ist – ihr Mann, der der Erbe meiner Arbeit sein sollte, ist schon bald gefallen – gebeten, ein Stimmungsbild aus meiner Schule zu geben.“872

3.3.4. Fritz Meyers Entwicklung zum ‚zukünftigen Erben‘ Fritz Meyers Integration in das Unternehmen und in die Familie Berthold Otto spielt sich, das konnte gezeigt werden, auf drei verschiedenen Ebenen ab: Erstens ist es seine Faszination für neue kulturelle Strömungen, für alternative Lebensvorstellungen, die er in Lichterfelde zu finden glaubt. Dabei spielen sowohl der Charon-Kreis als auch die eng mit ihm verbundene Hauslehrerbewegung eine wesentliche Rolle. Otto zur Linde und vor allem Berthold Otto werden zu Vorbildern für Fritz Meyer. Beide verkörpern für ihn Träger weltgeschichtlicher Veränderungen, neue Wege zu Kunst und Pädagogik, neue Auseinandersetzungen, die ihn viel mehr in den Bann ziehen als es zu dieser Zeit sein Studium vermag. Der zweite wichtige Grund, der für die entstehende Nähe zur Familie Otto gesehen werden kann, ist die aufkeimende Liebe zu Irmgard Otto, mit der Fritz Meyer sich Weihnachten 1912 verlobt und die er kurz vor seinem Kriegseinsatz heiratet. Diese Annäherung, die sich vor allem über sein Tagebuch rekonstruieren lässt, ist hier aus analytischen Gründen weniger behandelt, da es vor allem ihr Ergebnis ist, das für die Fragestellung von Relevanz ist: Mit ihr hängt die dritte Ebene der Integration Meyers zusammen. Dabei handelt es sich um die Zukunftsperspektiven, die er durch Berthold Otto eröffnet bekommt. Aus seiner Auseinandersetzung mit Charon und Hauslehrerbestrebungen wird Fritz Meyer schnell klar, dass seine berufliche Zukunftsperspektive nicht im Staatsdienst liegen soll. Durch sein hohes Engagement und durch seine Beziehung zu Irmgard avanciert er zum zukünfti871 872

Prof. Brunner an Berthold Otto, 6.2.1918. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 385 Bl. 93. Berthold Otto an Prof. Brunner, 7.2.1918. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 385 Bl. 95.

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gen „Erben“ von Berthold Ottos Werk und erhält dadurch eine berufliche Perspektive, die für ihn äußerst attraktiv ist und für die er es auch unternimmt, sein Oberlehrerexamen zu absolvieren. Während seiner Zeit als Stipendiat der Schule unterstützt er seinen zukünftigen Schwiegervater durch unterschiedliche Tätigkeiten, die die Position des Unternehmens auf den pädagogischen Markt stärken sollen: Er verfasst Artikel für den Hauslehrer, erstellt Protokolle von Unterrichtsstunden, hält Vorträge und besucht für Berthold Otto Veranstaltungen zum zentralen Thema „Schulreform“. Er versucht eigeninitiativ die Elternbeteiligung an der Schule zu intensivieren, entwickelt die zentrale Idee, die zur Vereinsgründung führt und strukturiert die Verlagsgeschäfte neu, so dass auch Aussagen über die finanzielle Situation des Verlages möglich werden. Und er sucht nach Möglichkeiten, bereits vorhandene Manuskripte Berthold Ottos zur Veröffentlichung zu bringen. Dabei hat er sowohl die ökonomische Gesamtsituation im Hause Otto, die er aus eigenem Erleben gut kennt, vor Augen, als auch die Arbeitsüberlastung von Berthold Otto, die er zu verringern sucht und die ihm gleichsam als Aufforderung zur Übernahme verschiedener Tätigkeiten für das Unternehmen erschienen sein muss. Berthold Otto gegenüber ist er, sieht man von einem umfangreicheren Konflikt ab, äußerst loyal: Inhaltlich steht er an dessen Seite, und selbst, als es zum Bruch mit Otto zur Linde und dem Charon kommt, folgt seine eigene Reaktion der Berthold Ottos, obwohl der Charon eine zentrale Bedeutung für ihn selber hatte.

3.4. Emmy Friedländer. Mäzenin und Kundin Anhand der Rekonstruktion der Rolle, die Emmy Friedländer für das pädagogische Unternehmen Berthold Otto gespielt hat, lässt sich erkennen, dass Berthold Otto ein pädagogischer Unternehmer mit einer klaren Vision war, dass er aber wenig für die eigentlichen Aufgaben der Unternehmensorganisation übrig hatte. Sein schwieriges Verhältnis zu Geld und seine Haltung gegenüber notwendigen Planungen scheinen immer von der Frage nach kurzfristigen finanziellen Lösungen auf der einen, nach neuen Projekten und einem Sich-Annähern an das eigentliche Ziel, also Schul- und Gesellschaftsreform, auf der anderen Seite geprägt zu sein. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Otto später eine geldfreie Gesellschaftsform, die so genannte Rechenwirtschaft, entwirft, die vor allem Sicherheit vor Zins- und Spekulationsrisiken beinhalten sollte.873 873

Die Rechenwirtschaft entwickelt Otto in seinem späteren Werk, zentral dabei sind die Titel „Kriegsrechenwirtschaft als wirtschaftliche und finanzielle Kriegsrüstung“ (Otto (1916)), „Mammonismus, Militarismus, Krieg und Frieden“ (Otto (1918)), „Abschaffung des Geldes, Arbeitswährung, Rechenwirtschaft. Aufgaben und Einrichtungen der

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Für die finanzielle Situation von Schule und Verlag wird ab 1910 für viele Jahre Dr. Emmy Friedländer eine zentrale Rolle spielen. Anhand der im Nachlass vorhandenen Briefe874 und Korrespondenz zwischen Berthold Otto und seiner Bank, der „Disconto-Gesellschaft“875 lässt sich rekonstruieren, dass sie zum einen viel Kapital in das Unternehmen Berthold Otto investiert hat – ohne sie wäre der umfangreiche Schulbau in der Holbeinstraße 21 wohl nicht möglich gewesen. Zum anderen kann eine Annäherung an ihre eigene Motivation für die Unterstützung erfolgen: Es wird deutlich, dass Berthold Otto versucht, ihr möglichst viele Tätigkeiten im Bereich der finanziellen Organisation der Schule zu übertragen, und schließlich lässt die Korrespondenz auch einige Rückschlüsse auf eine geschlechtliche Arbeitsteilung im Hause Otto zu. Diese Korrespondenz, die sich im Nachlass Berthold Otto befindet, beinhaltet insgesamt 71 Schreiben aus den Jahren 1911-1928. Bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich dabei um Briefe von Emmy Friedländer an Berthold Otto (46) und Frida Otto (15). Die restlichen Dokumente sind Abschriften von Antwortbriefen von Frida Otto (1) und Berthold Otto (4) an Emmy Friedländer, die Vermählungsanzeige von ihr mit Bruno Wille, die Todesanzeige von Bruno Wille und zwei Briefe eines Herrn Tisuji. Neben dem Fehlen der meisten Briefe der Ottos an Emmy Friedländer ist davon auszugehen, dass sich auch nicht alle Briefe von Emmy Friedländer im Nachlass befinden, da es zeitweilig nicht erklärliche zeitliche Lücken im Korrespondenzverlauf gibt. Der zeitliche Schwerpunkt der im Nachlass vorhandenen Briefe liegt in der Periode zwischen Ende 1911 und 1914 (insgesamt 43 Briefe), die meisten Briefe an Frida Otto sind für die Jahre 1911-1913 erhalten. Zunächst erfolgen einige biografische Anmerkungen zu Emmy und Eugen Friedländer In einem zweiten Schritt wird die sich verändernde Struktur ihrer Unterstützung rekonstruiert um dann mögliche Motive der Emmy Friedländer für ihre umfangreichen Investitionen zu eruieren.

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volksorganischen Gemeinwirtschaft. Denkschrift an die Denker im deutschen Volk“ (Otto (1924)), „Von der Rentenmark zur Arbeitsmark“ (Otto (1928)) und sein Hauptwerk „Volksorganisches Denken“ (Otto (1924-1926)). Die Rechenwirtschaft ist ein gemeinwirtschaftliches Modell, dessen Währung nicht, wie bisher, Geld sein wird, sondern Arbeitskraft. Dieser Themenkomplex war auch für die Arbeit des „Bundes für Inneren Frieden“ zentral. Eine übersichtliche Darstellung dazu findet sich bei Schnücker (1990): 272ff., einen Überblick über die Entwicklung der Ideen geldfreier Wirtschaftsordnungen gibt bspw. Werner (1990). DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 392. Weitere in Zusammenhang mit Kontoführung stehende Dokumente finden sich nicht im Nachlass.

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riedländer, geb. Huber.876 Eine biografische Annähe herung 3.4.1. Emmy Frie Über Emmy Friedlä dländer ist wenig Biografisches bekannt. Meist wird rd sie im Zusammenhang mit it einem ihrer Ehemänner thematisiert, lediglich be bei Paul Baumann (und denn ihm folgenden Publikationen zu Berthold Otto) st steht sie als eigenständige P Person zentral. Das dürfte daran liegen, dass ihree beiden edict Friedländer und Bruno Wille – als bekannte P PersönEhemänner – Bened lichkeiten und desha shalb entsprechend eher in der literarischen Auseinan andersetzung wahrgenomme men werden. Beide spielen im Leben der Emmy Fried iedländer tatsächlich auch ein ine wichtige Rolle.

Abbildung 8: Eugen und nd Emmy Friedländer, Dezember 1915.877 876 877

Die Lebensdaten si sind nicht bekannt. DIPF/BBF/Archiv, iv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 1065ÜF.

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Emilie, Emmy, Friedländer geborene Huber, ist Tochter eines evangelischen Dekans aus Schwäbisch Hall.878 Sie heiratete 1902 den Zoologen, Sexualwissenschaftler und Verbandsaktivisten Benedict Friedländer879 (1866-1908), aus der Verbindung ging ihr Sohn Eugen (geb. 25.3.1903) hervor. Kennengelernt haben sich Benedict Friedländer und Emmy Huber im Hause ihres Onkels, des Patentamt-Präsidenten Huber, in Berlin. Benedict Friedländer war mit dessen Söhnen befreundet und verkehrte so in diesem Haus, in dem seine zukünftige Frau die Haushaltsführung übernommen hatte. Die Verlobung fand im Mai 1901 in Schwaben auf der Burg Weibertreu statt, geheiratet wurde dann im Juli des gleichen Jahres.880 Ob die Ehe glücklich gewesen ist, darüber werden unterschiedliche Einschätzungen abgegeben.881 Der Sohn Eugen, psychisch und physisch belastet,882 soll nicht in eine öffentliche Schule eingeschult werden,883 und so wird 878 879

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Hegemöller (2010): 351-353. Die Lebensdaten sind nicht bekannt. Benedict Friedländer: Geboren 1866 als Sohn von Carl Jacob Friedländer, einem a.o. Professor für Nationalökonomie und dessen Ehefrau, einer Tochter des Industriellen Adolf Nuglisch, in Berlin. Neben seinen zoologischen Forschungen setzt er sich auch mit den Werken von Schopenhauer, Haeckel, Darwin, Henry George und Eugen Dühring auseinander. Benedict Friedländer nimmt gegen Ende 1902 Kontakte zum Wissenschaftlich Humanitären Komitee (WHK) auf, unterstützt dieses finanziell und publizierte in dessen Zeitschrift „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“. Nach einer nicht beizulegenden inhaltlichen Kontroverse mit Magnus Hirschfeld und Max Spohr gründete er 1906 eine Splittergruppe des WHK, die er „Sezession des WHK“ nannte. Er kämpfte für „Emanzipation der Männerliebe und die Abschaffung des § 175“ (Keilson-Lauritz (2005): 311). Sein 1904 erschienenes Hauptwerk „Die Renaissance des Eros Uranios“ ist die Darstellung einer an griechischen Vorbildern orientierten utopischen Gesellschaftsform, die von zwei „Grundübeln“ befreit sei, nämlich des „Pfaffentrugs“ und der „Weiberherrschaft“. Benedict Friedländer hatte enge Kontakte zu Hans Blüher, dessen Männerbund-Theorien stark von Friedländers Werk beeinflusst wurde, und zu Bruno Wille, dem späteren Mann von Emmy Friedländer. Er nahm sich, im Angesicht einer unheilbaren Krankheit, am 20.6.1908 das Leben. Eine kurze Beschreibung der Beerdigung findet sich bei Hans Blüher: „Wir haben ihn zu Grabe getragen unter den Klängen von Beethovens Eroika. Bruno Wille hielt die Grabrede.“ (Blüher (1953): 235) Wille (1930): 38. „Der Vermutung, die Ehe sei unglücklich gewesen, widerspricht der Bericht, Friedländer habe in seinem Abschiedsbrief an seine Frau geäußert, sie habe es ihm schwer gemacht, Abschied vom Leben zu nehmen.“ (Keilson-Lauritz (2005): 318, Hervorhebung im Original) Vgl. dazu Emmy Friedländer an Berthold Otto, 26.09.1916. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 66-67. In diesem Brief beschreibt Emmy Friedländer auch rückblickend vor allem die psychische Entwicklung von Eugen als sehr problematisch. Der Hinweis auf seine körperliche Schwäche findet sich in vielen der Briefe, die sie an Berthold Otto schreibt (s.u.). Auch Paul Baumann weist, bezugnehmend auf das „Rundbuch“ der Emmy Friedländer, das zur Verbreitung von Informationen in der Familie zirkulierte, und vermutlich auch aus eigenem Erleben als Lehrer

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er 1910 Schüler der Berthold-Otto-Schule.884 Zeitweilig lebt noch seine Cousine Elisabeth mit im Haushalt, damit Eugen nicht als Einzelkind aufwachsen muss,885 später berichtet Emmy Friedländer in Briefen auch von Reinhardt, dessen Eltern in Amerika zu sein schienen und der deshalb bei ihr und Eugen lebt.886 Relativ schnell im Anschluss an Eugens Einschulung tritt Emmy Friedländer nicht mehr nur als Mutter eines Schülers, sondern auch als Kreditgeberin in Erscheinung, die ein Schul- und Wohnhaus samt Grundstück in der Holbeinstraße 21 durch ein umfängliches Darlehen finanziert. Nach Eugens Tod am 12.3.1920887 heiratet Emmy Friedländer Weihnachten 1920 ein zweites Mal, dieses Mal den Freidenker und Monisten Bruno

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der Berthold-Otto-Schule zu Eugens Schulzeit, auf Eugens Schwierigkeiten hin: „Eugens Verhältnis zur Mutter ist großen Schwankungen unterworfen; ins Herz läßt er sich nicht sehen; so sehr die Mutter um den Sohn sich sorgt und bemüht – wenn man die Tagebuchaufzeichnungen durchblättert, spürt man, wie er ihr immer weiter entgleitet:“ (Baumann VI: 13) Blüher hingegen sieht Eugens Lebensschwierigkeiten darin begründet, dass seine Mutter Christin (und in Blühers Diktion damit: germanisch), der Vater hingegen Jude sei, was allerdings nichts mit Antisemitismus zu tun habe (Blüher (1953): 235). Auch wenn Blühers Interpretation ohne Zweifel mehr als problematisch ist, so weist sie darauf hin, dass er Eugen persönlich gekannt haben und ihn als auffällig wahrgenommen haben muss. In Bezug auf Emmy Friedländer schreibt Paul Baumann über das Jahr 1909, in dem Emmy Friedländer sich in Lichterfelde niederlässt: „Der Schulbeginn (= Eugens; KK) wird zunächst um ein Jahr auf ärztliches Anraten hinausgeschoben. Aber was soll dann sein? Keinesfalls darf Eugen in eine öffentliche Schule kommen – das hat sie (= Emmy Friedländer; KK) Ben versprochen: denn Ben, gerade weil er so hochbegabt war, hat auf der Schule Qualen erlitten, an die er nur mit Schaudern zurückdachte. Dem Sohn, diesem eigenartigen, fast menschenscheuen Kinde, soll Jugend und Leben nicht gleichermaßen zerstört werden.“ (Baumann V: 53) Zeitgleich mit Alfred Kantorowicz. Die Schule hat zu diesem Zeitpunkt 45 Schüler: 24 Jungen, 21 Mädchen, die Altersspanne geht von 7 bis 18 Jahre (vgl. Gruner (2006): 27 und Winter (HL 1910)). Es handelt sich um Elisabeth Mährlen (vgl. Baumann V: 53). Elisabeth Mährlen war vom 1.1.1911 bis Ende September 1915 Schülerin der Berthold-Otto-Schule und mehrere Jahre Oberrichterin des Schülergerichts. Sie verfasste unter anderem eine Handreichung „An den kommenden Oberrichter“, die sich im Original in einer Art „Protokollheft“ befindet, das verschiedene Informationen zum Schülergericht enthält (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 589 Bl. 24-48). Die Handreichung wurde später auch in dem Band „Aus dem Leben der Berthold-Otto-Schule“ von Alberts veröffentlicht (Alberts (1925): 136-141). Aus ihrem Bericht über die Maifahrt 1915, die im Kontext der Schule stattfand, ist zu erfahren, dass sie ihrem Cousin von unterwegs „Käfer und Feldwanzen“ mitbrachte, da Eugen ein Käfersammler war (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 591 Bl. 32). Emmy Friedländer an Berthold Otto: 21.5.1914 (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 51); 29.10.1914 (Bl. 59) und 11.1.1915 (Bl. 60). Eugen nahm sich das Leben (vgl. Baumann VI: 13).

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Wille (1860-1928),888 den sie bereits lange kannte und mit dem sie auch brieflich verkehrte.889 Nach dessen Tod890 publizierte Emmy Wille seine Werke.891 Wie genau Emmy Friedländer mit Berthold Otto, seinem Werk und seiner Schule in Kontakt gekommen ist, lässt sich nicht sagen. Offensichtlich ist aber, dass sie mit der Schule große Erwartungen für die Entwicklung ihres Sohnes verknüpft. In einem ungewöhnlich ausführlichen und persönlichen Brief an Berthold Otto beschreibt sie die Situation Eugens und formuliert dabei – auch rückblickend –, welche Hoffnungen sie mit der Pädagogik in der Hauslehrerschule und auch der Person Berthold Otto verbindet. Sie stellt das Wesen ihres Sohnes in diesem Brief zunächst als verschlossen, dabei hoch empfindlich, nervös und reizbar dar. Gleichzeitig ziehe Eugen sich immer wieder in sich selbst zurück und provoziere aus für Außenstehende nicht nachvollziehbaren Gründen, Konflikte. Sie kommt dann zu dem Schluss: 888

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Bruno Wille (1860-1928) war zur gleichen Zeit wie Benedict Friedländer Lehrer an der Arbeiterbildungsschule Liebknechts, wo sie sich 1891 kennenlernten (Wille (1930): 36). Er gründete unter anderem die „Freie Volksbühne“ und später mit Rudolf Steiner zusammen den Giordano-Bruno-Bund. Neben Verbandstätigkeiten vor allem im Umfeld von freireligiösen Vereinen betätigte Wille sich als Schriftsteller freiheitsphilosophischer und später auch pantheistisch-mystischer Werke. Er war Mitglied im Friedrichshagener Künstlerkreis, aus dem später die Gartenstadtbewegung hervorgehen sollte und zu dem unter anderem auch der junge Moeller van den Bruck gehörte (vgl. hierzu vor allem Schlüter (2010): 36.). Bruno Wille gehörte, wie auch Rainer Maria Rilke und Ferdinand Avenarius, mit zu den Unterzeichnern der von Magnus Hirschfeld 1897 initiierten Petition für die Abschaffung des § 175 (Hirschfeld (1914/2001): 977). Weiterhin war der Gründungs- und Direktoriumsmitglied der 1902 in Berlin gegründeten Freien Hochschule (Schuster (1999): 638). Dies geht u.a. aus einem Brief von ihr an Berthold Otto (Emmy Friedländer an Berthold Otto: 18.6.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 74) hervor, in dem sie ihm nahelegt, seinen Bund für Inneren Frieden mit dem Weltkunstbund Willes zu fusionieren und dazu auch einen Brief von Bruno Wille beilegt. Bruno Wille wird im gleichen Grab wie Benedict und Eugen Friedländer im Parkfriedhof Lichterfelde, Berlin-Steglitz beigesetzt. Dabei scheint sie sowohl Texte von Bruno Wille als auch von Benedict Friedländer veröffentlicht zu haben, ohne jedoch die jeweilige Autorenschaft direkt zu kennzeichnen. Emmy Wille „veröffentlichte unter dem Titel Philosophie der Liebe nachgelassene Texte ihres verstorbenen zweiten Mannes, darunter als ‚II. Teil: Die Liebe Platons‘ fast 180 Seiten aus der Feder ihres ersten Mannes, nämlich aus Friedländers Renaissance des Eros Uranios und Die Liebe Platons. Dies wird jedoch weder im Vorwort der Herausgeberin noch aus dem Inhaltsverzeichnis deutlich, sondern erschließt sich erst aus einem eigenen Vorwort zu diesem Teil II von Wille, der Darstellung von ‚Benedict Friedländers Persönlichkeit‘ aus Willes Feder und einem Vor-Vorwort der gemeinsamen Witwe.“ (Keilson-Lauritz (2005): 326f.; Hervorhebungen im Original, für weitere Nachweise siehe dort)

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„Da er trotz seines liebevollen Wesens großes Talent hat, die Menschen abzustoßen und zu verletzen, so liegt für ihn die Gefahr völliger Isolierung sehr nahe, und damit er dann nicht zum äußersten getrieben wird, muß er wenigstens eines Menschen immer ganz sicher sein.“892

Das „äußerste“, das geschehen könnte, wäre, dass Eugen, wie sein Vater, sein Leben selber beendet. Ob sie ihren ersten Ehemann ähnlich wie ihren Sohn erlebt hat, geht aus dem Brief nicht explizit hervor, ist aber anzunehmen. Trotz aller Konflikte und Schwierigkeiten sieht sie allerdings Hoffnung und schreibt weiter an Berthold Otto: „Doch liegt es mir fern, nur diese trüben Perspektiven zu sehen. Im Gegenteil: da er ja das Glück hat, unter sehr viel günstigeren Schulverhältnissen aufzuwachsen als z.B. sein Vater, so habe ich die Hoffnung, daß bei seiner reichen Veranlagung schließlich doch das Positive die Oberhand gewinnt und ihm ein wertvolles Schaffen beschieden wird. Gerade zu entscheidend für sein Schicksal sehe ich an, daß ihm das Glück zuteil wurde, unter Ihre Leitung zu kommen, in jeder anderen Schule wird er mit Sicherheit tief geschädigt worden sein. und diese glückliche Fügung sehe ich als eine gewisse Garantie an, daß auch sein künftiges Leben unter einem günstigen Stern steht.“893

Paul Baumann berichtet zudem von einem engen persönlichen Kontakt zwischen Berthold Otto und ihr, der sich ebenfalls vor allem um Fragen der Erziehung von Eugen drehte.894 Neben diesem für sie zentralen Anliegen wären weitere Gründe für ihr Engagement denkbar: Zum einen schien sie lebensreformerischen Kreisen und Ideen gegenüber sehr offen zu sein, was sich bereits durch die Verbindungen sowohl mit Benedict Friedländer895 als auch mit Bruno Wille zeigt, zum anderen war sie in einer persönlichen Lebenssituation, die es ihr erlaubte, Darlehen zu geben, da davon auszugehen ist, dass ihr verstorbener erster Mann, der selber aus einer sehr wohlhabenden Familie kam, sie gut finanziell versorgt hatte. Im Folgenden wird das Verhältnis zwischen der Familie Otto und Emmy Friedländer rekonstruiert. Dabei lassen sich zwei Ebenen unterscheiden – 892 893 894

895

Emmy Friedländer an Berthold Otto, 26.9.1916. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 66. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 26.9.1916. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 66. „Oft und viel hat sie (= Emmy Friedländer; KK) mit Berthold Otto über ihre schwierige Erziehungsaufgabe gesprochen, sich gern von ihm beraten lassen.“ (Baumann V: 53) Diesen habe sie, nach Bruno Willes Bericht, auch bei der Publikation seiner Gedanken über die „physiologische Freundschaft“, die eine deutliche Tendenz zu männerbündischen Vorstellungen hatten, durch ihre „Güte und Sinn für Wahrheit“ (Wille (1930): 38) immer unterstützt.

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Eugen als Schüler und damit Emmy Friedländer als Mutter und Kundin der Schule auf der einen, Emmy Friedländer als Kreditgeberin und zeitweise Geschäftsführerin der Schule auf der anderen Ebene. Das vorliegende Material erlaubt vor allem einen Einblick in die geschäftliche Beziehung.

3.4.2. Die geschäftliche Beziehung Am 9.1.1911 bezieht die Hauslehrerschule das neue Gebäude in der Holbeinstraße 21.896 Der Umzug war nötig geworden, da der Mietvertrag für den bisherigen Standort nicht verlängert wurde. Da es offensichtlich auch nicht möglich war, eine entsprechende Immobilie zu mieten, entschloss Emmy Friedländer sich, das Grundstück über ein Darlehen in Höhe von 20.000 M zu finanzieren.897 Dieses stellt sie für zehn Jahre zinsfrei zur Verfügung. Gleichzeitig sucht sie im Kreis der Eltern nach weiteren Darlehensgebern und -geberinnen, die das eingebrachte Geld mit 3% von Berthold Otto verzinst bekommen würden. Außerdem stiftet sie der Schule zwei Stipendien, mit denen junge Lehrerinnen und Lehrer beschäftigt werden können.898 Anfang 1912 unternimmt Emmy Friedländer einen zweiten Versuch, weitere Eltern mit ins Boot zu holen, der allerdings wenig Erfolg zeigt, denn am 13.2.1912 berichtet sie Frida Otto brieflich, dass sich aus ihrem Schreiben an die Eltern „einiges Interesse, wenn auch nicht viel“ ergeben hätte und dass sie die Eltern zu sich zu einer Besprechung einladen möchte.899 Bereits zu Beginn des Jahres 1911 hatte sie versucht, ein freiwilliges erhöhtes Schulgeld mit einigen Eltern zu vereinbaren und in diesem Zuge auch in der Elternschaft über die finanzielle Situation der Schule, über die es offensichtlich Missverständnisse gab, aufzuklären.900 896

897

898

899 900

Dieses neue Schulgebäude wurde genau nach Ottos Vorstellungen geplant und gebaut. Prägnant waren vor allem die offenen und in ihrer Größe variablen Räume und das Fehlen von Schulbänken – in der Berthold-Otto-Schule gab es frei bewegliche Tische und Stühle. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 1. Es handelt sich hier um ein Rundschreiben von Emmy Friedländer, in dem sie andere Eltern auffordert, sich ebenfalls an der Finanzierung über ein Darlehen zu beteiligen. „Schließlich denkt die Stifterin auch an den Betrieb der Schule: Stipendien für zwei junge Lehrer – von Berthold Otto persönlich ausgewählt – werden in Höhe von 125,Mark jeden Monatsersten vom Bankhaus Sass und Martini zugesandt.“ (Baumann V: 56) Emmy Friedländer an Frida Otto 13.2.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 14. Sie schreibt an Frida Otto: Sie haben deshalb gewiss nichts dagegen, wenn ich von mir aus privatim an diejenigen Eltern schreibe, die sich seinerzeit bereit erklärt hatten, etwas für die Schule zu tun, und schließlich dann doch die ganze pekuniäre Last mir

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Abbildung 9: Ansicht der Berthold-Otto-Schule in Berlin-Lichterfelde.901

Im Jahr 1912 ist ihre Investitionssumme bereits auf 50.000 M gestiegen,902 gleichzeitig sieht sie sich mit einer Situation konfrontiert, in der sie nahezu

901 902

überließen. Ich würde sie darum bitten, wenigstens das Schulgeld freiwillig auf 400 M zu erhöhen. Dabei würde ich auch den Irrtum, in dem sich ein Teil der Eltern befindet, aufklären, als ob die Schule genug Mittel hätte. Ich werde ihnen sagen, dass es bis jetzt gar nicht abzusehen ist, wie die Schulden getilgt werden sollen und daß das Wohnhaus nicht aus Luxus, sondern aus praktischen Gründen, um es event. später besser verwerten zu können, so groß gebaut wurde, und dass der Zins nicht mehr betrage als bisher die Miete, die Sie gezahlt haben.“ (Emmy Friedländer an Frida Otto, ohne Datum. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 1) DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 1245. Sie schreibt am 9.8.1911 an Frida Otto, die offensichtlich um weitere finanzielle Unterstützung gebeten hatte: „Ich habe in nächster Zeit auch 13.000 Mark an Liebert zu bezahlen, da ist es ganz ausgeschlossen, dass ich sonst noch irgendeine Zahlung leisten kann. Sie müssen bedenken, dass mein Konto für dieses Jahr mit 50.000 Mark für Sie belastet ist, während anfangs immer nur von 20.000 Mark die Rede war.“ (Emmy Friedländer an Frida Otto, 9.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 3) Es ist davon auszugehen, dass Emmy Friedländer zum einen ein direktes Darlehen gewährt hat und zum anderen auf das Grundstück, auf dem die Hauslehrerschule steht,

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keine Unterstützung aus der restlichen Elternschaft erhält und sich gleichzeitig mit unerwartet schnell steigenden Kosten und Bitten um weitere finanzielle Hilfen seitens Ottos auseinandersetzen muss. Die Notwendigkeit einer umfangreicheren finanziellen Unterstützung erklärt sich wohl vor allem daraus, dass die Kosten, die für die Schule, den Verlag und die Notwendigkeiten der Lebensführung in der Familie Otto anfallen, durch die Einnahmen aus Schule und Verlag nicht gedeckt werden. Anders als beispielsweise die Freie Schulgemeinde Wickersdorf, die über eine GmbH finanziert und damit auch durch einen Vorstand kontrolliert wird903, besitzt das „Unternehmen Otto“ keinerlei organisatorische Finanzstruktur oder formale Rechtsform, was die unübersichtliche finanzielle Situation begünstigt. Zudem scheint es wenig Kommunikation zwischen Frida und Berthold Otto, die finanziellen Angelegenheiten betreffend, zu geben. Das muss auch Emmy Friedländer schnell deutlich geworden sein, denn bereits am 31.August 1911 schreibt sie Frida Otto, dass sie weitere finanzielle Unterstützung nur unter der Voraussetzung einer geregelten und vor allem für sie nachvollziehbaren Handhabung der Einnahmen und Ausgaben gewähren wird: „(…) ich habe diese fortgesetzten Schwierigkeiten nicht erwartet. Dieselben einigermaßen zu heben, möchte ich Ihnen den Vorschlag machen, bei meinem Bankier ein Konto „Schule“ einzurichten, an das die Schulgelder direkt eingezahlt und aus welchem alle weiteren Auslagen, meine Zinsen und die Gehälter der Lehrer bestritten werden. Nur dadurch verschaffe ich mir eine gewisse Einsicht in der Entwicklung der Schule, ich hätte mehr Klarheit, und Sie sehr viel weniger Sorgen und Ärger. Gründe, die gegen diese Regelung sprechen könnten, sehe ich keine. Gehen Sie auf diesen Vorschlag ein, so bin ich bereit, für 5000 Mark Bürgschaft zu übernehmen, andernfalls ist die Sache für mich erledigt, da ich mich unmöglich mit weiteren Summen ohne Garantien beteiligen kann.“904

Dieser Plan, der weniger ein Vorschlag und mehr eine Bedingung ist, wird nach und nach in die Tat umgesetzt, und es scheint, als wäre im Verlauf der Zeit dadurch tatsächlich eine größere Stabilität der wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie Otto entstanden. Zunächst aber muss Emmy Friedländer weitere Investitionen tätigen, um ein einigermaßen sicheres Fundament für die Finanzen der Schule überhaupt erst zu ermöglichen, wenngleich sie dies

903 904

Hypotheken eingetragen waren. Dass diese nicht alle zu Gunsten der Emmy Friedländer waren, geht aus einem Brief von ihr an Frida Otto vom 13.2.1912 hervor (Emmy Friedländer an Frida Otto, 13.2.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 14). Vgl. Dudek (2009). Emmy Friedländer an Frida Otto, 31.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 4 (Hervorhebungen von mir, KK).

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offensichtlich nicht geplant hatte. So teilt sie am 14.12.1911 Frida Otto mit: „Daß ich mich für mehr als die 15.000 M weiter verbürge, ist ausgeschlossen.“905 Der Grund dafür scheint zu sein, dass Frida Otto, vermutlich aus der Not heraus, die bereits an sie geflossenen Gelder, die eigentlich für die Handwerker, die Schul- und Wohnhaus bauten, gedacht waren, anderweitig ausgegeben hat und nun die Handwerkerrechnungen nicht gezahlt werden können.906 Im gleichen Brief schlägt Emmy Friedländer Frida Otto nochmals vor, die Einnahmen und Ausgaben in Bezug auf die Schule über das inzwischen eingerichtete Konto „Hauslehrerschule“ beim Bankhaus Sass & Martini abzuwickeln. Zwar wäre dann kaum noch verfügbare Liquidität auf dem Konto vorhanden, aber „das Haushaltungsbudget wäre dann mit Leichtigkeit geordnet zu führen, u. Sie hätten so viele Erleichterungen, die Sie früher nicht hatten.“907 Emmy Friedländer weiß, dass die finanziellen Probleme in der Regel auf den Schultern von Frida Otto ruhen und diese sie auch vor ihrem Mann verheimlicht. Gleichzeitig muss sie aber einen bürgerlich-repräsentativen Haushalt führen, der, um den Tätigkeiten ihres Mannes gerecht zu werden, auch eine gewisse Öffentlichkeit hat.908 In dem einzigen Brief von ihrer Hand an Emmy Friedländer, der im Nachlass Berthold Ottos vorhanden ist, zeigt sich genau dieses Spannungsfeld mit seinen drei Seiten – also die Notwendigkeit des bürgerlichen Haushaltes, die fehlenden Mittel und die Schwierigkeit, die finanziellen Probleme vor ihrem Mann verbergen zu müssen – sehr deutlich. In diesem Brief, er ist vom 21.3.1912,909 versucht sie detailliert ihre Situation gegenüber Emmy Friedländer zu beschreiben, verbunden mit dem Anliegen einer noch weitergehenden finanziellen Unterstützung. Das Bild der finanziellen Lage, das sie 905 906

907 908 909

Emmy Friedländer an Frida Otto, 14.12.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 11. „Als ich mich dafür verbürgte, sprachen Sie davon, schon von diesem Quartal ab je 500 M abtragen zu wollen, und nun sind noch nicht einmal die Ausgaben gedeckt, für die ich das Geld hergegeben hatte.“ (Emmy Friedländer an Frida Otto, 14.12.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 11) In einem Brief an Frida Otto vom 13.2.1912 schreibt sie: „Es ist mir natürlich auch nicht sympathisch, die Gelder für die Bauten, die ich Ihnen seinerzeit bezahlt habe, nun zum zweiten Mal zu zahlen, das geht gegen alle geschäftliche Ordnung.“ (Emmy Friedländer an Frida Otto, 13.2.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 14) DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 11. Berthold Otto hält wöchentliche „Sprechstunden“ bei sich zuhause ab, die auch Aspekte bürgerlicher Geselligkeiten haben. Frida Otto an Emmy Friedländer, 21.3.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 16-17.

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zeichnet, ist desaströs: Von den Einnahmen, die sie im letzten Quartal zur Verfügung hatte, sei nahezu alles für die Zahlung von älteren Schulden verwendet worden. Und weiter: „Von den 750 M vom Ministerium musste ich 300 M Pension und Schulgeld für meinen Sohn zahlen, und dann war auch ein Wechsel fällig, den mein Mann einlösen musste. Von den Eingängen aus dem Verlag haben wir bis jetzt nur durchgehalten. Das ist aber so wenig, daß ich damit nicht auskommen konnte, und so musste ich Schulden machen beim Kaufmann und die sollen im April bezahlt werden. Da die Summe, die im Januar bei Sass und Martini zur Verfügung stand, lange nicht groß genug war, um die Forderung ganz zu bezahlen, so habe ich jedem etwas gegeben, um sie vorläufig zu befriedigen. Im April soll aber alles bezahlt werden, da die Leute mit dem Geld bestimmt rechnen. Was Zinsen und Gehälter angehen, bleibt nichts für diese Zahlungen übrig. Und warten werden die Leute nicht, sie werden klagen.“910

Das Geld aus dem Ministerium, seinerzeit gedacht als Substitut des Einkommens Ottos beim Brockhausverlag, mit dem Ziel, dass er ganz seiner pädagogischen Arbeit nachgehen können soll, scheint also bei weitem nicht mehr auszureichen, um den Lebensunterhalt und alle laufenden Kosten zu decken. Im Gegenteil: Nicht einmal die Gehälter der Lehrerinnen und Lehrer der Schule können im Moment gezahlt werden. Im Anschluss an diese Passage führt Frida Otto einige Kosten auf, die in Bezug zur Schule stehen – dabei handelt es sich sowohl um laufende Betriebskosten wie elektrisches Licht, Steuern und das Honorar für den Hauswart, als auch um noch zu zahlende einmalige Rechnungen, zum Beispiel an den Tischler für Stühle. Für den „Notfall“ hat sie sich als Lösung überlegt, eine Hypothek zu erhöhen, also das Grundstück weiter zu belasten, wofür sie allerdings die Zustimmung von Emmy Friedländer zu benötigen scheint. Insgesamt müsste, ihrer Rechnung nach, ein Betrag von 10.000 M ausreichen, um die Finanzierungslücke zu decken. Auch ihrer Verzweiflung über die Situation verleiht sie in diesem Brief Ausdruck: „Ich habe meinem Mann über die Lage noch nichts gesagt, und warte erst Ihre Ansicht ab. Gelingt es nicht, diese Sache auf eine gesunde Basis zu stellen, so muß ich ihn ja so gut es geht, darauf vorbereiten, daß wir unser Leben anders einrichten müssen. Wie weiß ich auch nicht. Ich bin gar nicht mehr imstande, diese beständigen unsicheren Geldgeschäfte durch zu führen. Sie regen mich furchtbar auf und nach so einer schlaflosen Nacht denke ich manches mal ich werd nicht aufstehen können. Mein Herzlei-

910

Frida Otto an Emmy Friedländer, 21.3.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 16.

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den hat sich in dem letzten Winter so verschlimmert, daß der Arzt mich durchaus weg haben will, am liebsten in ein Sanatorium. Daran kann ich gar nicht denken.“911

Um diese schwierige Situation, in der sie sich befindet, entschärfen zu können, macht Frida Otto zwei Vorschläge. Zum einen: „Aber wenn mir die nötigen Einnahmen sicher wären, so daß ich ohne Sorge meinen Haushalt in Ordnung halten könnte, ich denke, das würde schon helfen.“912 Zum anderen zeigt sie ihre eigenen Bemühungen dahingehend auf, dass sie bereits an bestimmten Stellen die Ausgaben reduziert habe. Sicherlich muss dieser Brief unter dem Aspekt gesehen werden, dass er einem Zweck diente, nämlich dem, die Notwendigkeit einer noch größeren finanziellen Unterstützung zu verdeutlichen und die dafür notwendige Kooperation von Emmy Friedländer zu bewerkstelligen. Dass Berthold Otto nahezu kaum in der Lage war, mit Geld planend umzugehen und dass dies auch große Schwierigkeiten für seine Frau mit sich brachte, ist bereits einige Jahre vor dem Schulneubau in Ottos Umfeld bekannt gewesen. Auch aus einem Brief, den Georg Kerner von einem befreundeten Dr. Schwarzkopff vermutlich im Jahr 1908 erhält – es geht um die Frage, ob Kerner für ein Darlehen an Otto bürgen soll –, ist zu erfahren, wie schwierig das Verhältnis von Berthold Otto zu finanziellen Notwendigkeiten ist. So schreibt Schwarzkopff: „Denn das ist das bedauerlichste an Berthold Ottos Lage, daß er kein Geldwirt ist und Sie ziemlich sicher sein können, Ihr Geld niemals wieder zu bekommen. Berthold Otto wird stets gerade so viel Geld brauchen, wie er hat.“913 Aus dem gleichen Jahr stammt auch ein Brief von Emilie Sträter an Georg Kerner, und zwar im Kontext einer Geldsammlung, die Freunde Ottos im Jahr 1908 initiierten. Sie habe das Bedürfnis, Kerner mitzuteilen, wie sie Otto sehe, und schreibt: „Ich halte ihn für eines der größten pädagogischen Genies das die Erde gesehen hat, ich liebe Otto, den Menschen, aufrichtig; aber eben meine Liebe macht, daß ich auch seine Schwächen sehe. Und seine Schwäche ist sein Verhältnis zum Gelde: es ist gleichzeitig seine Stärke; denn ein sorglicher Familienvater hätte nie den ‚Hauslehrer‘ 911 912 913

Frida Otto an Emmy Friedländer, 21.3.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 17. Frida Otto an Emmy Friedländer, 21.3.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 17. Dr. Schwarzkopff an Georg Kerner, zit. nach Baumann V: 46; dort keine näheren Angaben zum Datum des Briefes. Baumann lässt diese Deutung, die, legt man das vorhandene Quellenmaterial als Beleg zugrunde, naheliegend ist, nicht gelten. Für ihn erklären sich Ottos Schwierigkeiten im finanziellen Bereich daraus, dass die Zeit für die Ideen Ottos nicht reif genug war (vgl. Baumann V: 46ff.).

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gegründet. Ich bin ihm also direkt dankbar für diese Schwäche. Das aber hindert mich nicht, ihn, wenn er von Geldsachen spricht (…), wie ein großes Kind anzusehen. Am schließlichen Siege der Otto’schen Ideen zweifle ich nicht. Aber an einen sehr langsamen; und deshalb halte ich den totalen wirtschaftlichen Niederbruch Ottos, des Staatsbürgers, ja seinen Untergang durchaus nicht für unmöglich.“914

Diese grundsätzliche Situation scheint sich über die Jahre nicht geändert zu haben und stellt zusammen mit den aktuellen Engpässen den Kontext dar, in dem Emmy Friedländer von Frida Otto um weiteren finanziellen Spielraum gebeten wird. Zur Situation von Frida Otto in diesem Kontext schreibt Paul Baumann: „Für Frau Otto ging der Haushalt allem voran; er wurde gut bürgerlich geführt, weder verschwenderisch noch ärmlich; das kostete bei der Größe der Familie nun einmal Geld, vorallem auch durch die vielen notwendigen Gäste; nicht nur donnerstags, wo als Besucher Eltern der Schüler und Freunde der Pädagogik besonders zahlreich zur Aussprache kamen und von der Kaffeetafel bis nach dem Abendessen viel Kommen und Gehen war, auch an andern Tagen kamen angesehene Persönlichkeiten von außerhalb, Hospitanten die nach der Schule zur Aussprache ins Haus geladen werden mußten. All dies bestimmte den Stil einer Wirtschaftsführung, die sich – so entsprach es auch der Anschauung der damaligen Zeit – nicht den Anschein von Kleinlichkeit und Armut geben durfte.“915

Auch hier wird noch einmal deutlich, dass sich Frida Otto in einem nahezu unauflösbaren Spannungsfeld befindet: Auf der einen Seite war es ihr als bürgerliche Ehefrau die Pflicht, einen nach außen geöffneten, repräsentativen Haushalt zu führen, der auch, folgt man Paul Baumann, reichlich frequentiert wird. Gleichzeitig aber sind die Einkünfte aus Schule und Verlag dafür nicht ausreichend, dazu kommt der Neubau der Schule. Neben der Wirtschaftsführung des Haushaltes scheint Frida Otto mindestens auch die Verwaltung der Schulgelder zu obliegen,916 und sie verbirgt die wirtschaftlichen Probleme vor ihrem Mann.917 Emmy Friedländer reagiert auf die Bitte Frida Ottos. Am 11.4.1912 schreibt sie ihr: „Da die Kayssler’sche Stiftung zunächst wegfällt und Sie natürlich ohne eine bestimmte Einnahme nicht wirtschaften können, die anderen Eltern aber nicht geneigt 914 915 916

917

Emilie Sträter an Georg Kerner, zit. nach Baumann V: 49; dort keine weiteren Angaben zum Datum des Briefes. Baumann V: 54. Das geht aus einem Brief von ihr an die Eltern der Schule vom 29.6.1911 hervor. In diesem schreibt sie, dass sie im April 1911 die Geldgeschäfte (vermutlich von ihrem Mann) übernahm (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 588 Bl. 5). Paul Baumann beschreibt in Bezug auf das Jahr 1908: „Nun ist es aber soweit, daß Gelddinge an Berthold Otto nicht mehr herangetragen werden dürfen; jede Arbeitsmöglichkeit wäre ihm sonst genommen.“ (Baumann V: 43)

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scheinen, irgend etwas zu tun, werde ich die Firma Sass und Martini beauftragen, daß das Conto „Hauslehrerschule“ von jetzt ab die Rechnungen für Licht und Heizung sowie Ihre Steuern übernimmt und Ihnen außerdem monatlich 200 M. ausbezahlt, ob die Summe vorhanden ist oder nicht. Bis die Schule soviel abwirft, wird das Fehlende aus meinem Conto gedeckt, ohne daß dies als Darlehen gilt.“918

Damit investiert Emmy Friedländer erneut in die Schule, dieses Mal aber in einer für sie kontrollierbareren Form: Sie versucht, eine regelmäßige Unterstützung zu installieren, die sie aus ihrem eigenen Vermögen finanziert und die nicht als Darlehen zu verstehen ist. Diese Unterstützung ist direkt an die Einnahmen der Schule gekoppelt, das heißt, wenn diese sich stabilisieren, wird die Unterstützung hinfällig. Gleichzeitig kann diese Form als Schutz vor immer weiteren Kreditanfragen seitens der Ottos verstanden werden: Emmy Friedländer sorgt für eine gewisse Sicherheit, was den Unterhalt der Schule und den Lebensunterhalt der Familie betrifft. Am 1.7.1912 unterzeichnet Berthold Otto dann einen Schuldschein919 zugunsten von Emmy Friedländer über 10.000 Mark, verzinslich mit 5%. Diese Zinsen sollen direkt von den eingehenden Schulgeldern abgezogen werden. Die Rückzahlung soll entweder bar oder über den Eintrag der Summe als Hypothek auf das Grundstück zugunsten von Emmy Friedländer erfolgen. Am 12.7. schreibt Emmy Friedländer Berthold Otto dann einen Brief,920 in dem sie zum einen diesen weiteren Kredit in Höhe von 10.000 M bestätigt, Vorschläge macht, wie die finanzielle Situation besser zu organisieren wäre,921 und einige Gründe für ihr finanzielles Engagement darstellt. Aus diesem Brief ist zunächst zu erfahren, dass Emmy Friedländer dem „Konto Hauslehrerschule“ weitere 10.000 M zur Verfügung stellt, womit sich inklusive der bisher entstandenen Zinsen für dieses Konto eine Kreditsumme von 25.766 M ergibt, die Emmy Friedländer bis zu diesem Zeitpunkt gewährt hat. Das Konto ist zusätzlich mit weiteren Schulden bei Privatpersonen und auch bei der Bank belastet, Letztere hat eine Forderung von 5000 M, die Emmy Friedländer dringend abzubauen empfiehlt, da sie höher verzinst ist und für Liquiditätsprobleme sorgt:

918 919 920 921

Emmy Friedländer an Frida Otto, 11.4.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 19. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 20. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 12.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 22-23. Konkret macht sie Vorschläge, in welcher Reihenfolge die noch bestehenden Schulden am besten zu begleichen wären, um das Konto damit auch wieder in die Lage zu versetzen, aus den eingehenden Schulgeldern den Lebensunterhalt der Familie Otto mitzutragen.

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„So lange, bis das Konto wenigstens die Schuld an den Bankier von 5000 M. beglichen hat, kann das Konto außer mit Zahlung der Zinsen und Gehälter, Steuern, Licht u. Heizung mit keinen weiteren Auslagen belastet werden.“922

Weiterhin hofft sie, dass nach der Rückzahlung der 5000 M an den Bankier zumindest eine Tilgung von 1000 M jährlich – also bereits bedeutend weniger, als die zu Beginn des Kreditgeschäftes avisierten 500 M je Quartal – stattfinden könne. Auch kündigt sie an, dass sie an Frau Otto am nächsten Tag 1000 M überweisen lassen würde. Der zweite Teil des Briefes hat keine geschäftlichen Inhalte zum Gegenstand, sondern ist eine Antwort auf einen Brief Berthold Ottos. Dieser Brief liegt nicht vor, aber aus dem, was Emmy Friedländer antwortet, ist es möglich, Rückschlüsse auf seinen Inhalt zu ziehen. Gleichzeitig verweist er auf die Perspektive, mit der Emmy Friedländer Berthold Otto sieht. Sie schreibt: „Daß Sie in letzter Zeit so viele Aufregungen hatten, hörte ich mit Bedauerung. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, daß jeder Fortschritt dem, der ihn bringt, viel zusätzliches Leiden bringt. Schon als Träger einer besonderen Aufgabe steht er isoliert unter der Masse. (…) Ich kann es verstehen – und viele Märtyrer haben es bewiesen – daß immer schließlich die Sache wichtiger wird, als das eigene Leben.“923

Sie sieht in Berthold Otto einen Hoffnungsträger, der Fortschritt bringt und dafür viel Leiden in Kauf nehmen muss. Es ist möglich, dass sie eine ähnliche Situation auch mit ihrem ersten Mann erlebte, als dieser begann, seine Schriften über die „physiologische Freundschaft“ (s.o.) zu veröffentlichen. Indem sie Otto symbolisch in die Nähe von Märtyrern, die ihr Leben für die „Sache“ opferten, stellt, ruft sie eine religiöse Dimension auf, die ihre Sichtweise charakterisiert. Berthold Otto ist für sie nicht nur ein „geborener Pädagoge“,924 wie sie im weiteren Verlauf des Briefes schreibt, sondern Träger des Fortschritts und damit dem Unverständnis der Welt ausgeliefert, ja, von ihr isoliert. Sie versucht, Otto zu bestärken, sein Tun als Schriftsteller und Pädagoge weiterzuführen: „Da aber speziell ihre Tätigkeit außer der mittelbaren Wirkung durch die Schrift auch eine unmittelbare von Mensch zu Mensch hat, wird der Verlust unter allen Umständen desto größer sein, je früher sie aufhört.“925 Es ist anzunehmen, dass Otto ihr in dem Brief, auf den 922 923 924 925

Emmy Friedländer an Berthold thold Otto OT 398 Bl. 22. Emmy Friedländer an Berthold thold Otto OT 398 Bl. 22. Emmy Friedländer an Berthold thold Otto OT 398 Bl. 22. Emmy Friedländer an Berthold thold Otto OT 398 Bl. 22.

Otto, 12.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass BerOtto, 12.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass BerOtto, 12.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass BerOtto, 12.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Ber-

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sie sich bezieht, geschrieben hatte, dass er keine Möglichkeit mehr sieht, unter den gegebenen Umständen weiterhin seine Arbeit zu vollenden. Das wäre für Emmy Friedländern eine mehrfach schwierige Lage: Erstens würde sie großen materiellen Schaden erleiden – ihre hohe Investition wäre unter Umständen gefährdet. Zweitens ist ihr Anliegen, dass ihr Sohn eine für ihn passende Form der schulischen Umgebung bekommt. Diese ist für Eugen Friedländer eng mit Berthold Otto als Person verbunden. Würde er seine Schule schließen – oder an jemanden weitergeben –, wäre dies aus der Perspektive der Mutter ebenfalls problematisch. Drittens scheint Emmy Friedländer an die durch Otto vorgeschlagenen Veränderungen von Erziehung und Gesellschaftsstruktur zu glauben. Auch wenn Sie im vorliegenden Brief vor allem den Pädagogen Berthold Otto anspricht, steht für sie fest: „Wird’s mit der Erziehung besser, so wird alles besser.“926 Hier zeigt sich bereits in einem Brief deutlich, dass Emmy Friedländer aus einer Gemengelage unterschiedlicher Motive die Berthold-Otto-Schule unterstützt. Noch aber sind die geschäftlich-finanziellen Schwierigkeiten nicht überwunden. Eine Woche nach der Kreditzusage an Berthold Otto sendet Emmy Friedländer einen Brief927 an Frida Otto, in dem sie eindringlich darauf hinweist, dass das „Conto Hauslehrerschule“ weiterhin ein großes Minus aufweise und dass sie nicht dauerhaft die entstehenden Fehlbeträge decken könne. Sie berichtet von dem Kredit, den sie Berthold Otto gewährt hat, und macht deutlich, dass ab jetzt die Einnahmenseite des Kontos dringend gestärkt werden müsse, indem sich mehr Schüler für die Schule anmelden, bisher habe sie nur von Abmeldungen erfahren. Bedenkt man, dass wenige Monate später der Berthold-Otto-Verein gegründet wurde, dann könnte die scheinbar stagnierende Anzahl der Schülerinnen und Schüler ein weiterer Grund für die mit dem Verein beginnende Öffentlichkeitsarbeitsoffensive gewesen sein.928 Emmy Friedländer formuliert in diesem Brief ein klares Ziel ihrer eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit in Bezug auf das Schulkonto: „Ich will den Versuch machen, ob das Conto im nächsten Quartal außer den Zinsen für alle Hypotheken- und Kapitalschulden auch die Auslagen für Steuern, Licht und Heizung tragen kann.“929 Offensichtlich reichen die Einnahmen also immer noch nicht – zumal hier nicht mehr von den Gehältern, die über das Konto abgewickelt werden sollen, die Rede ist. 926 927 928 929

Emmy Friedländer an Berthold Otto, 12.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 23. Emmy Friedländer an Frida Otto, 17.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 24. Vgl. dazu Kapitel 3.2. Emmy Friedländer an Frida Otto, 17.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 24.

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Der Brief kommt, und damit steht er in einem deutlichen Kontrast zu dem vorherigen an Frida Otto, der ja thematisch den gleichen Anlass hatte, nahezu ohne etwas Persönliches aus. Lediglich an seinem Ende schreibt Emmy Friedländer: „Ihrer Helga geht es hoffentlich wieder so gut, daß Herr Otto nicht durch die Nachricht ihrer Erkrankung alarmiert werden mußte.“930 Die Sorge, die persönlichen Worte, gelten also ausschließlich Berthold Otto, dessen Arbeitsfähigkeit und nervliche Stabilität geschont werden müssen – Frida Otto als vermutlich ebenfalls besorgte Mutter findet keine Erwähnung. Für den Zeitraum zwischen Juli 1912 und Mai 1913 finden sich noch fünf weitere Briefe von Emmy Friedländer an Frida Otto im Nachlass. Danach scheint es eine Veränderung gegeben zu haben, und Emmy Friedländer regelt nun auch die geschäftlichen Angelegenheiten mit Berthold Otto selber. Gleichzeitig ändert sich auch die Anredeformel in den Briefen an ihn: In ihrem Brief vom 26.4.1913 schreibt Emmy Friedländer zum ersten Mal das informellere „Lieber Herr Otto“ und löst damit das bisher gültige „Sehr geehrter Herr Otto“ ab.931 In der genannten Zeitspanne kommt es zu einer weiteren Veränderung der Kontoführung. Emmy Friedländer schlägt Frida Otto vor, die Rechnungen aller laufenden Kosten direkt über das Bankinstitut Sass und Martini abzuwickeln,932 um die Abläufe des Geldverkehrs zu vereinfachen. Im Zusammenhang damit wird auch deutlich, dass es Emmy Friedländer ist, die die Hoheit über das „Konto Hauslehrerschule“ hat, was bedeutet, dass keine Zahlungen ohne ihre Einwilligung und damit ohne ihr Wissen geleistet werden können.933 Sie wirkt weiterhin darauf hin, dass die Zahlungen der Schulgelder möglichst vereinheitlicht, verstetigt und ebenfalls, inklusive der wohl öfter notwendigen Mahnverfahren, direkt durch die Bank erfolgen sollen.934 930 931

932 933

934

Emmy Friedländer an Frida Otto, 17.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 24 (Hervorhebung von mir, KK). Emmy Friedländer an Berthold Otto, 26.4.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 34. Allerdings beginnen die Briefe an Frida Otto seit jeher mit „Liebe Frau Otto“. Emmy Friedländer an Frida Otto, 5.8.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 26. Dieses Verfahren scheint sie auch beibehalten zu haben. Am 1.7.1916 schreibt sie an Berthold Otto: „Mit Ihren Vorstellungen betreffs der Verwendung für Schulzwecke der einen Hälfte des rechnungsmäßigen Überschusses auf Konto Hauslehrerschule bin ich einverstanden und habe dementsprechend den Bankier angewiesen.“ (Emmy Friedländer an Berthold Otto, 1.7.1916. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 63) Emmy Friedländer an Frida Otto, 21.1.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 29. Am 24.2.1913 schreibt Emmy Friedländer an Frida Otto, dass zum einen Schulgelder in einer Höhe von insgesamt 500 M ausstehen und dass auch

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Zusammenfassend kann zunächst festgestellt werden, dass Emmy Friedländer, nachdem sie zu einer realistischen Einschätzung über den Geldbedarf und die Organisation der Finanzen in der Familie Otto gekommen war, Ordnungsversuche initiiert. Sie übernimmt dabei für einen Teil dieser Finanzen, nämlich diejenigen, welche die Schule betreffen, nach und nach Funktionen einer Geschäftsführerin: Sie kümmert sich um die Zahlung der notwendigen Rechnungen und systematisiert und vereinfacht die dazu notwendigen Prozesse, auch indem sie die Bank mit deren Abwicklung beauftragt.935 Weiterhin entwickelt sie ein geordnetes Verfahren, das dafür Sorge tragen soll, dass die Schulgelder pünktlich und damit verlässlich gezahlt werden. Auch hier gibt sie die technischen Tätigkeiten an das Bankinstitut Sass und Martini ab, das unter Umständen auch mit einer anderen Autorität gegenüber den säumigen Eltern auftritt, als es Frida oder Berthold Otto gelungen war. Emmy Friedländer professionalisiert also diesen Teil des Unternehmens in dem Sinne, dass sie anstelle der bisher offensichtlich schwierigen Finanzplanung eine systematische und damit auch verlässliche Form des Geldverkehrs etabliert. Diese Verlässlichkeit führt nach einer Zeit auch dazu, dass das Konto nicht mehr defizitär arbeitet, sondern Teile des Lebensunterhaltes der Familie Otto decken kann. Gleichzeitig unterbreitet Emmy Friedländer Vorschläge zur Verbesserung der Situation, indem sie zum Beispiel präzisiert, dass die Schule eine höhere Auslastung mit Schülerinnen und Schülern benötigt, um wirtschaftlich zu sein. Sie organisiert also den finanziellen Aspekt der Schule mit einer ökonomischen Logik in dem Sinne, dass sie die Einnahmenseite zu stärken versucht, während sie in Bezug auf die Ausgabenseite erstaunlicherweise, nach dem was aus dem vorliegenden Material rekonstruiert werden kann, keine Veränderungsvorschläge macht. Dieses Vorgehen könnte sowohl damit zusammenhängen, dass die Ausgaben wenig Spielraum boten, aber auch damit, dass sie dies als Einschränkung der pädagogischen Arbeit verstanden hätte. Diese Sphäre aber überließ sie Berthold Otto selber und griff nicht in sie ein. Mit dieser Haltung unternimmt Emmy Friedländer den Versuch, die Position der Berthold-Otto-Schule auf dem pädagogischen Markt zu stärken, gleichzeitig versucht sie ihre Rolle als Geschäftsführerin für die Schule auch zu begrenzen. Mehrfach finden sich in der Korrespondenz zwischen ihr und Berthold Otto Kommunikationen, die darauf verweisen, dass er versucht, sie an bestimmten Entscheidungen zu beteiligen, was sie ablehnt. So schreibt sie Berthold Otto am 6.4.1913:

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die „Stundengelder“ an Herrn Pfarrer Le Seur, der an der Schule offenbar Unterricht erteilte, bisher nicht gezahlt wären (Emmy Friedländer an Frida Otto, 24.2.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl.31). Was vermutlich auch zu Kosten geführt haben dürfte.

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„Die Beantwortung beifolgender Anfrage möchte ich Ihrem Ermessen überlassen. Ich halte mich nicht für befugt, solche Fragen zu entscheiden. Meine Sache ist es nur, das Conto Hauslehrerschule betreffs Einnahmen und Ausgaben einigermaßen im Gleichgewicht zu halten.“936

Zwar ist unklar, um welche Anfrage es sich handelt und ob diese an Emmy Friedländer adressiert oder ihr von Berthold Otto weiteregeleitet wurde, deutlich wird aber, dass sie selber bestimmte Entscheidungen, die zumindest mit dem Konto in Zusammenhang zu stehen scheinen, nicht treffen möchte. Einen Monat später behandelt ihr Brief an Berthold Otto einen ähnlichen Sachverhalt, dieses Mal sind mehr Details zu erfahren: „Ihrem Wunsch entsprechend habe ich an Herrn Wehner geschrieben und das Schulgeld für den dritten Sohn auf die Hälfte festgesetzt. Übrigens möchte ich die Entscheidung solcher Fragen wirklich Ihnen überlassen, nicht nur, weil Sie in der Regel die Verhältnisse besser kennen, weil doch event. auch pädagogische und persönliche Gesichtspunkte in Betracht kommen. Meine Sache ist es nur, im geschäftl. Gang die Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Briefe von Frau Brandt sende ich mit zurück. Das ist nach meiner Ansicht schon ein Fall, den nur Sie entscheiden können, und ich bitte Sie, dabei nur Ihrer eigenen Überzeugung zu folgen und das Schulgeld nach Ihrem Belieben festzusetzen.“937

Emmy Friedländer scheint von Berthold Otto um Rat oder sogar eine Entscheidung gebeten worden zu sein, wie in bestimmten Fällen das Schulgeld gestaltet werden soll. Sie verweist abermals darauf, dass sie ihre Aufgabe nicht darin sieht, strategische Entscheidungen für die Schule zu treffen, sondern lediglich darin, Stabilität für die finanziellen Verhältnisse herzustellen. Sie macht deutlich, dass Sie davon ausgeht, dass Berthold Otto die Situation der einzelnen Schüler und Eltern besser einschätzen kann, überlässt ihm also die Sphäre des Pädagogischen. Allerdings scheint sie die Kommunikation über die Höhe des Schulgeldes zumindest mit einem Elternteil – Herrn Wehner – übernommen zu haben. Die in diesem Brief geschilderte Situation lässt mehrere Interpretationen zu, warum Berthold Otto Emmy Friedländer in die Entscheidungen mit einbeziehen will: Es kann sowohl sein, dass er versucht, ihr einen noch weitergehenden Entscheidungsspielraum zur Verfügung zu stellen, um sie noch stärker an die Schule zu binden – faktisch ist sie ja durch ihre hohen Kredite

936 937

Emmy Friedländer an Berthold Otto, 6.4.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 32. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 6.5.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 36. Die angesprochenen Briefe von Frau Brandt und Herrn Wehner sind nicht erhalten.

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Miteignerin der Schule. Es könnte sich aber auch um den Versuch der Delegation unternehmensorganisatorischer Tätigkeiten handeln. Im Laufe der Zeit bezieht Emmy Friedländer allerdings in einigen Fällen trotz der von ihr angestrebten Zurückhaltung deutlicher Stellung. Einer dieser Fälle ist die Auseinandersetzung um die Höhe des Schulgeldes mit einem Dr. Dumstrey,938 die in mehreren Briefen zwischen dem 1.11.1913 und 18.4.1914 von Emmy Friedländer thematisiert wird. Dr. Dumstrey hatte sich offensichtlich an Berthold Otto mit der Bitte gewandt, für seine Pensionäre, welche die Berthold-Otto-Schule besuchten, eine Ermäßigung auf das Schulgeld zu erhalten.939 Otto hat eine Ermäßigung auf 300 M je Schüler und Jahr angeboten, was für Emmy Friedländer „schon Entgegenkommen genug“940 beweist. Zwar solle Otto das nach eigenem Ermessen entscheiden, sie weist aber darauf hin, dass es ein solches Entgegenkommen an öffentlichen Schulen nicht geben würde. Nach einem Besuch von Dr. Dumstrey bei Emmy Friedländer, von dem sie in ihrem Brief vom 7.2.1914941 an Berthold Otto berichtet und bei dem es offensichtlich zu einer Meinungsverschiedenheit gekommen war, da Dr. Dumstrey die gewährte Reduktion des Schulgeldes nicht akzeptieren wollte und sowohl dem Berthold-Otto-Verein als auch Emmy Friedländer mangelhafte Arbeit vorgeworfen hatte, warnt sie Berthold Otto schriftlich am 12.2.1914 davor, einen Vertrag mit Dr. Dumstrey zu unterzeichnen: „Das Vergnügen, das Ihnen Dr. Dumstrey in Aussicht stellt, wird darin bestehen, daß er Ihnen einen fix u. fertig gemachten Vertrag vorlegen wird, den Sie bloß unterschreiben brauchen. Für alle jetzigen und künftigen Pensionäre wird er ein Schulgeld festsetzen, das bei keiner Privatschule möglich ist. Da nach seiner Ansicht sein Unternehmen glänzend gedeihen wird, wird die Hauslehrerschule bald zur Hälfte mit Dumstrey-Pfleglingen besetzt sein, von denen jeder weniger als die Hälfte des nötigen Schulgeldes bezahlt, obwohl – nach seiner eigenen Angabe – vielfach Millionäre darunter sind. Das ist dann wohl der Anfang zu dem glänzenden Aufschwung, den die Schule durch Herrn Dumstrey nehmen wird.“942

938 939

940 941 942

Nähere Angaben zur Person des Dr. Dumstrey sind nicht zu erfahren. Emmy Friedländer nimmt in ihrem Brief an Berthold Otto vom 1.11.1913 Bezug auf einen Brief des Dr. Dumstrey, den sie mit zurückschickt (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 43). Emmy Friedländer an Berthold Otto, 1.11.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 43. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 7.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 44. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 12.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 46.

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Berthold Otto hält dann auch an der bisherigen Vereinbarung – also 300 M je Schülerin bzw. Schüler – fest, allerdings scheint es, als ob diese Schulgelder nur schleppend bezahlt würden.943 In diesem Zusammenhang bietet Emmy Friedländer ihm auch eine weitere Entlastung an: „Jedenfalls ist es eine große Rücksichtslosigkeit, wenn Sie immer mit Dingen belästigt werden, die die Eltern als ihre selbstverständlichen Verpflichtungen erledigen müssten. Diese werden ihnen nirgendwo geschenkt, also brauchen sie auch hier nicht damit zu rechnen. Ich bitte Sie, alle solchen Störenfriede immer mir zu schicken. Da es mir um die Sache und nicht um den einzelnen Schüler geht, nehme ich es nicht schwer, die Rücksichtslosigkeiten entsprechend zu erwidern. Für mich sind es bloß geschäftliche Unannehmlichkeiten, mit denen ich immer rechnen muß, wenn ich mich behaupten will.“944

Emmy Friedländer übernimmt hier eine weitere Funktion, nämlich die Kommunikation mit den Eltern in Bezug auf finanzielle Angelegenheiten. Sie begründet dies damit, dass die „Rücksichtslosigkeiten“ für sie leichter zu ertragen wären als für Berthold Otto, der durch solche, fast möchte man sagen: profanen, Angelegenheiten nicht gestört werden soll. Ein weiteres Argument, das sie dabei ins Feld führt, ist, dass es ihr leichter falle, diese Aufgabe zu übernehmen, da sie nicht, wie Otto, im direkten Kontakt zu den Schülern stehe, also eine weniger persönliche und damit abstraktere Position einnehmen kann, von der aus es leichter ist, Unangenehmes wie Mahnungen oder bestimmte Formen von Anfragen, zu erwidern. Im März 1914 berichtet Emmy Friedländer von weiteren Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit Schulgeldzahlungen von Dr. Dumstrey. Sie schreibt am 21.3.1914: „Die säumigen Zahler wurden gemahnt und da stellte sich heraus, daß der Vater eines Schülers (…) das Schulgeld 2 Mal an Dr. Dumstrey gesandt hatte, ohne daß es dieser bis jetzt auf das Conto ‚Hauslehrerschule‘ eingezahlt hätte.“945

Die rückständigen Zahlungen wurden angemahnt, und in ihrem Brief vom 18.4.1914 berichtet Emmy Friedländer von einer „unangenehmen Auseinandersetzung“, die sie mit dem Bankier bezüglich des Dr. Dumstrey geführt hat: „Der Kern der Sache ist, daß er (= Dr. Dumstrey; KK) absolut nicht zahlen wollte, obwohl er zum X. Mal das Schulgeld von Dr. Krüger anstatt an den Bankier an seine Adresse senden ließ. Auf meinen sehr energischen Brief hin hat er sich dann bereit er943 944 945

Emmy Friedländer an Berthold Otto, 12.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 46. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 12.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 46. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 21.3.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 48.

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klärt, für alle (…) wie im letzten Quartal 150 M zu bezahlen. Ohne Klage ist von ihm nichts weiter zu erreichen, und auf einen Prozeß mit ihm verzichten wir – glaube ich – alle gern. Eingezahlt hat er aber das Geld bis jetzt noch nicht.“946

Die Situation hat sich also zugespitzt, trotz mehrfacher Verhandlungen, einem Entgegenkommen bei der Höhe des Schulgeldes und diverser Mahnungen scheint es nicht gelungen zu sein, den säumigen Zahler, der in Emmy Friedländers Perspektive auch Schulgelder unterschlagen hat, zur Zahlung zu bewegen. Es ist nicht klar, ob und wie diese Situation ein Ende gefunden hat, zum Äußersten, also einer Klage, scheint es Emmy Friedländer aber nicht kommen lassen zu wollen. Als Konsequenz aus dem Geschehenen schlägt sie vor, sich „prinzipiell auf keine Ausnahmen mehr einzulassen“, denn man würde doch nur „mißbraucht“ und müsse sich „Unverschämtheiten sagen lassen“. Sie empfiehlt Otto, die Briefe von Dumstrey nicht einmal mehr zu öffnen, da diese „sehr unlogisch und widersprüchlich“ seien, so dass man froh sein könne, „wenn man geschäftlich nichts mehr mit ihm zu tun“ habe.947 Gleichzeitig wird an diesem Beispiel besonders deutlich, in welchem Ausmaß die geschäftlichen Aspekte das eigentliche – pädagogische – Kerngeschäft der Berthold-Otto-Schule mit beeinflussen. Generell bleibt das Problem der „säumigen Zahler“ virulent. Im Oktober 1914 scheint Berthold Otto Emmy Friedländer den Vorschlag gemacht zu haben, dies mit anwaltlicher Unterstützung anzugehen. Emmy Friedländer schreibt ihm dazu am 19.10.1914: „Je mehr alles ganz korrekt geschäftlich eingeleitet wird, desto weniger Schererei wird man haben. Ich bin daher ganz damit einverstanden, daß man seinem Rechtsanwalt eine Generalvollmacht ausstellt, daß er gegen säumige Zahler selbständig vorgehen kann. Nur wird jetzt die Kriegszeit nicht der geeignete Zeitpunkt sein, um die Änderung zu treffen. Seinerzeit würde ich’s nicht versäumen, alles betr. der Hauslehrerschule konkret zu regeln.“948

Trotz aller Bemühungen, die Emmy Friedländer unternimmt, kommt es Anfang des Jahres 1915 zu einer kritischen Situation, die sich allerdings zumindest in der vorhandenen Korrespondenz im Vorfeld nicht ankündigt. Am 11.1.1915 schreibt Emmy Friedländer einen kurzen Brief, in dem sie Ber-

946 947 948

Emmy Friedländer an Berthold Otto, 18.4.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 49. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 18.4.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 49. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 19.10.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 58.

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thold Otto unter anderem zum Eisernen Kreuz, das Fritz Meyer erhalten hatte, gratuliert.949 Nur vier Tage später, am 15.1.1915, erhält sie von Berthold Otto die Nachricht, dass er, verursacht durch die wirtschaftliche Not und seinen schlechten gesundheitlichen Zustand950, ihr ab sofort die Schule übergeben möchte.951 Diesen Schritt begründet Berthold Otto so: „Gern hätte ich den Krieg hindurch durchgehalten, aber es geht nun nicht. Gewiß lässt sich mit viel weniger Geld auskommen, aber nicht, wenn auf meine Nervenkraft so viel Rücksicht genommen werden muß wie jetzt, wo Schule und Zeitschrift auf mir lasten. Wenn ich nur die Zeitschrift habe und wir uns an irgendeinem anderen Ort klein einrichten, dann können wir schon durchkommen. Hier geht es nicht.“952

Im weiteren Verlauf dieses Briefes beschreibt Berthold Otto einen genauen Plan, wie er sich den Ablauf der Schulübergabe vorstellt: Emmy Friedländer soll die beiden Gebäude und das Grundstück zum „Tagwert“ übernehmen, die Wohnung wolle er bis Ende März räumen und bittet lediglich darum, dass potentielle Mieter die Wohnung nicht in Anwesenheit seiner Angehörigen besichtigen möchten. Weiter schreibt er: „Die Schule möchte ich Ihnen hiermit übergeben. Ich selbst bin augenblicklich außer Stande, den Eltern und Lehrern die erforderlichen Mitteilungen zu machen. Den Lehrerinnen und Lehrern muß spätestens zum 15. Februar gekündigt sein. Die Mitteilung an die Eltern denke ich mir so: daß leider die Kriegsverhältnisse die Schule mittelfristig unmöglich machen‘.“953

Dass die Schule geschlossen werden muß, ist für Otto sicher, denn: „Die Schule wird sich ohne mich schwerlich halten lassen, das Wohlwollen der Lehrer gilt mir persönlich und ich glaube auch, das Zutrauen der Eltern wäre nicht so leicht

949 950

951

952 953

Emmy Friedländer an Berthold Otto, 11.1.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 60. Beides scheint er, das ist diesem Brief zu entnehmen, ihr bereits in einem anderen Brief geschildert zu haben: „Sie wissen aus meinem vorherigen Briefe, daß ich am Ende meiner Kräfte bin.“ (Berthold Otto an Emmy Friedländer, 15.1.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 61) Paul Baumann berichtet, dass diesem Brief ein Telefonat zwischen Emmy Friedländer und Berthold Otto vorausgegangen war: „Als im Januar 1915 Frau Friedländer auf Ottos telefonischen Anruf nicht ohne Einschränkung eine Bitte um einen dringenden Geldbetrag erfüllt, sich zwar bereit erklärt zu helfen, aber eine kurze Frist braucht, um zu überlegen, wie und in welcher Höhe, bricht Otto das Telefongespräch ab.“ (Baumann V: 107) Berthold Otto an Emmy Friedländer, 15.1.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 61. Berthold Otto an Emmy Friedländer, 15.1.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 61.

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zu übertragen. Immerhin ließe sich ja der Versuch machen, um einen Teil der Zinsen zu retten.“954

Worin der angesprochene Versuch besteht – also ob Otto damit einen Weiterbetrieb der Schule ohne ihn oder aber schlicht die Übergabe der Schule an Emmy Friedländer meint, bleibt offen. Bedeutsam ist hier das gesamte Szenario, das er entwirft. Berthold Otto beschreibt seine eigene angeschlagene Gesundheit und seine kaum noch vorhandene „Nervenkraft“ und damit einen Zustand, der durch die finanziellen Sorgen so sehr verschlimmert wird, dass es sich für ihn als unausweichlich darstellt, einen Teil seiner Arbeit aufzugeben. Von den beiden Tätigkeitsfeldern, die er benennt – Zeitschrift und Schule –, wählt er ohne weitere Angabe von Gründen die Schule. Die Logik dabei könnte sein, dass die Schule durch die vielen Schulden sehr belastet ist, die durch diesen Schritt zwar nicht komplett abgetragen, aber zumindest reduziert werden könnten. Gleichzeitig hat er immer wieder das Primat der Zeitschrift gegenüber der Schule betont.955 Allerdings weist Otto auch darauf hin, dass die Schule ohne ihn nicht in ihrer jetzigen Form weiterbestehen kann, da sie stark an seine Person gebunden sei.956 Es ist schwer zu sagen, ob Berthold Otto wirklich damit gerechnet hat, dass Emmy Friedländer dieses „Angebot“ annehmen würde – sie hat es jedenfalls nicht getan, was aus dem bisher dargestellten Verlauf der (finanziellen und persönlichen) Verbindung zwischen ihr und Berthold Otto auch nachvollziehbar erscheint. Emmy Friedländers Interesse lag nicht primär in der Geschäftsführung einer Schule, sondern darin, dass Berthold Otto, den sie als Schriftsteller, Lehrer und wichtige pädagogische Bezugsfigur für ihren Sohn Eugen sehr schätzt, seine schulische Arbeit möglichst störungsfrei tun kann. Vielleicht ist das auch der Grund, warum sie Berthold Otto in den Kriegsjahren mindestens zwei Mal zusätzliche finanzielle Mittel für einen Erholungsurlaub anbietet.957 954 955 956 957

Berthold Otto an Emmy Friedländer, 15.1.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 61. Vgl. Kapitel 3.1. Diese durchaus ambivalenten Elemente in Ottos Brief übersieht Paul Baumann in seiner Darstellung dieses Ereignisses (vgl. Baumann V: 107f.). „Wenn nicht die Aufregungen mit Eugen dazwischen gekommen wären, hätte ich Ihnen schon vor einigen Tagen geschrieben, was ich Ihnen jetzt mitteile. Es handelt sich um ihre Erholung. So viel ich weiß, haben Sie während der ganzen Kriegszeit noch nicht ausgespannt, Ihre Arbeit war aber immer eine ganz ungeheure, so daß ich mir denken kann, daß Sie eine Erholung dringend benötigen können. Damit Sie sich nun aus pekuniären Gründen nicht von einer Ferien-Reise abhalten lassen, werde ich Ihnen auf 1. Oktober 500 M extra überweisen lassen.“ (Emmy Friedländer an Berthold Otto, 26.9.1916. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 66). Am

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Für den folgenden Zeitraum, die Jahre 1915-1920, sind nur wenige weitere Informationen, welche die geschäftliche Verbindung zwischen Emmy Friedländer und Berthold Otto betreffen, in den Briefen zu finden. Genau so wenig geben diese Auskunft darüber, wie sich die geschäftliche Beziehung nach Emmy Friedländers Hochzeit mit Bruno Wille gestaltet hat. Paul Baumann gibt an, dass Berthold Otto nach der Hochzeit noch eine größere Summe als Barbetrag erhält,958 ob und wie allerdings die Rückzahlung der Hypotheken gestaltet wurde, ist nicht in Erfahrung zu bringen. Die geschäftliche Beziehung zwischen Berthold Otto und Emmy Friedländer verändert sich in ihrem Verlauf. Trat Emmy Friedländer zu Beginn lediglich als Kreditgeberin auf, übernimmt sie sukzessive unternehmenswichtige Funktionen, indem sie die auf die Schule bezogenen Geldströme kontrolliert und zu ordnen versucht. Um dies zu erreichen, richtet sie ein eigenes Konto für die Schule ein, über das Einnahmen und Ausgaben abgewickelt werden. Damit gewinnt sie auch einen weitergehenden Einblick in die finanzielle Situation der Schule und kann auf deren Grundlage Vorschläge zur Verbesserung der ökonomischen Gegebenheiten machen. Gleichzeitig versucht Berthold Otto ihr weitere Verantwortungsbereiche zu übertragen, vor allem in Bezug auf die Rabattierung von Schulgeldern. Diese Aufgabe möchte Emmy Friedländer zunächst nicht übernehmen, später allerdings kommt sie zumindest Ottos Bitten um Rat nach. Dadurch trägt sie zu einer besseren Positionierung der Berthold-Otto-Schule und damit des Unternehmens Berthold Otto auf dem pädagogischen Markt bei. Der Höhepunkt der versuchten Verantwortungsweitergabe durch Berthold Otto ist sein Ansinnen, sich selber aus dem schulischen Geschehen zurückzuziehen und ihr die Schule zu übertragen, was sie aber offenbar ablehnt. Damit wird deutlich, dass sie ihre Rolle für das Unternehmen Berthold Otto definiert und es versteht, sich von für sie zu weitreichenden Zuschreibungen abzugrenzen. Die Motivlage, die für das Engagement von Emmy Friedländer eruiert werden kann, ist eine Gemengelage aus unterschiedlichen Gründen: Neben ihrem zumindest zu vermutenden Interesse an lebensreformerischalternativen Lebensentwürfen ist Berthold Otto als Pädagoge für sie bedeutsam, weil sie ihren Sohn bei ihm gut aufgehoben weiß. Ein weiterer Grunddürfte sein, dass sie ihre eigene Investition in die Berthold-Otto-Schule zu schützen versucht. Aus der anfangs geplanten Summe von 20.000 Mark werden schnell 50.000, was vor allem dadurch geschieht, dass die Ausgaben der

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25.6.1917 schreibt Emmy Friedländer einen ähnlichen Brief, in dem sie Otto auch konkrete Vorschläge für Reiseziele, an denen die Versorgung noch gut genug sei, macht (Emmy Friedländer an Berthold Otto, 25.6.1917. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 68). Baumann VI: 14.

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Schule deren Einnahmen übersteigen und dass die notwendigen Gelder zum Lebensunterhalt in der Familie Otto nicht ausreichend zu sein scheinen. Dieser Situation, die einem nicht aufzuhaltenden Kreislauf gleicht, versucht Emmy Friedländer durch eine geordnete und auf eine Steigerung der Einnahmen hin orientierte Finanzorganisation entgegenzuwirken. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sie dies alles ohne eine Form von Bezahlung tut – eine andere denkbare Konstellation wäre ja, dass Berthold Otto einen Buchhalter beschäftigt, der genau diese Aufgaben, die Emmy Friedländer übernimmt, erledigt. Neben ihrer Rolle als Geldgeberin ist Emmy Friedländer auch Mutter eines Schülers und damit Kundin der Schule. Wie bereits dargestellt, ist ihr sehr daran gelegen, ihrem Sohn Eugen einen seinen Bedürfnissen entsprechenden pädagogischen Kontext bereit zu stellen, den sie in der Berthold-Otto-Schule sieht. Auch hier spielt sicher ihre grundsätzliche Einschätzung von Berthold Otto als Pädagoge und Schriftsteller eine zentrale Rolle.

3.4.3. Die nicht-geschäftliche Beziehung Wie im letzten Kapitel bereits gezeigt, spielen die Beziehung zwischen Berthold Otto und Emmy Friedländer und ihre Perspektive auf ihn als „geborenen Pädagogen“ und Hoffnungsträger eine wichtige Rolle, sowohl für ihre geschäftlichen Aktivitäten, als auch für ihre Entscheidung, Eugen in die pädagogische Obhut Ottos zu geben. Neben den geschäftlichen Angelegenheiten, die Emmy Friedländer ja zunächst mit Frida Otto regelt, finden sich im Verlauf des Briefwechsels zunehmend persönlichere Elemente, allerdings nur in den Briefen an Berthold Otto. Während die Kommunikation mit Frida Otto in einer sachlichen Weise gehalten ist,959 bringt Emmy Friedländer gegenüber Berthold Otto immer wieder zum Ausdruck, dass sie in ihm mehr sieht als einen Schulleiter, dem sie Geld geliehen hat. Dies geschieht in den vorhandenen Briefen zum ersten Mal am 12.7.1912 (s.o.), in dem sie Ottos Lebenssituation mit der eines Märtyrers vergleicht.

959

Was sich auch in dem letzten Brief an Frida Otto, der im Nachlass enthalten ist, zeigt, in dem Emmy Friedländer Frida Otto bittet, „die Hypothekensache“ zu erledigen, also dafür zu Sorge zu tragen, dass für Emmy Friedländer ein gültiger Hypotheken-Brief ausgestellt wird (Emmy Friedländer an Frida Otto, 30.9.1920. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 75).

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Etwa ein Jahr später schreibt sie Berthold Otto im Zusammenhang mit dem Besuch des Rein’schen Universitätsseminars und der darauf folgenden Kontroverse Folgendes: „Und ich bin erstaunt, daß diesen ‚Muster-Pädagogen‘ noch nicht einmal das Verständnis dafür aufgegangen ist, daß es auch ohne die herkömmliche Schule eine Menschenbildung geben könnte. Die kleinen Abänderungen, die sie gut finden, berühren nicht das System, und nur sofern sie dieses verwerfen, habe ich Hoffnung für die jungen Pädagogen. Es wird schon noch einige Zeit dauern, bis das Vorurteil für die Schule als solches erkannt wird. Da es aber da und dort anfängt zu dämmern, muß endlich auch der Tag kommen.“960

Hier positioniert sich Emmy Friedländer klar für die Seite Ottos in der entstandenen Kontroverse und macht deutlich, dass das „System“ verworfen werden muss, um eine bessere Pädagogik möglich zu machen. Sie hat die Hoffnung, dass die Anfänge einer Veränderung tatsächlich dazu führen werden, dass „der Tag kommen“ wird, sich also die Schule grundsätzlich zum Positiven hin verändert. Auch wenn solche Ereignisse wie diese kritische Kontroverse irritierten, so „ist’s gewiß immer bloß von dem Ansichtspunkt aus, daß die Entwicklung langsamer greift, als man hoffen zu können glaubte.“961 Für Emmy Friedländer scheint also festzustehen, dass die Umsetzung der Vorstellungen von Berthold Otto einen zentralen Beitrag zur Schulreform leisten würden – und dass das nicht nur der Pädagogik zugute kommen wird. Im Gegenteil: Für sie ist Berthold Ottos Arbeit eine, in der sie die Möglichkeit einer generellen positiven Entwicklung für die gesamte Menschheit sieht: „ich weiß“, schreibt sie im Oktober 1913 an Berthold Otto, „wie viel zunächst wir Eltern und des Weiteren das ganze Volk und die Menschheit Ihnen zu verdanken haben.“962 Dennoch gibt es auch Aspekte, in denen Emmy Friedländer Berthold Otto nicht zustimmt. In Bezug auf den Krieg formuliert sie in mehreren Briefen, dass sie den Krieg zwar als Notwendigkeit ansieht und sie kann auch die „Begeisterung unserer Truppen“ als etwas „Hinreißendes“ empfinden und sie stellt fest: „Vom allgemeinen Standpunkt aus betrachtet erleben wir eine

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Emmy Friedländer an Berthold Otto, 17.7.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 39. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 17.7.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 39. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 28.9.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 42.

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herrliche Zeit.“963 Gleichzeitig äußert sie aber auch, dass ihr das Kriegsgeschehen sehr nahe geht: „An die viele Not und das Leid im Einzelschicksal kann man aber nicht denken, ohne von Weh und Kummer umfasst zu werden. Sobald ich mir ein Schlachtfeld vorzustellen versuche, packt mich ein Grauen und ich empfinde es als etwas höchst Brutales und Unnatürliches, daß sich die Menschen gegenseitig so hinschlachten. Was der Krieg Großes wirkt und schafft, sehe ich wohl; aber trotzdem hege ich den starken Wunsch, daß eine Zeit kommen möge, da die Kulturvölker dieses grausige Mittel der Auseinandersetzung nicht mehr brauchen.“964

Für Emmy Friedländer liegt der Grund des Krieges in einer nicht ausreichend weit gediehenen zivilisatorischen Entwicklung der „Kulturvölker“, und ihre kritische Haltung entsteht aus einer Vorstellung über die Folgen der Kriegshandlungen für einzelne Menschen, die ihr Leben verlieren. Diese Haltung macht sie auch Ende Oktober in einem Schreiben an Berthold Otto noch einmal deutlich. Zwar könne sie „alles unterschreiben“, was er „über die guten Wirkungen des Krieges“ sage, und doch „sträubt sich all mein Fühlen gegen all‘ die Grausamkeiten u. Ungerechtigkeiten, welche sich als Kehrseite der Sache zeigen, u. ich meine, Katastrophen, die durch die egoistischen Motive der Menschen bedingt sind, müßten durch die Höher-Entwicklung der Menschheit auch unmöglich gemacht werden.“965

Emmy Friedländer nimmt hier eine evolutionär-optimistische Perspektive ein, die davon ausgeht, dass eine zunehmende Kultivierung und damit HöherEntwicklung der Menschheit eine Möglichkeit für die Vermeidung von Katastrophen, wie zum Beispiel des Krieges, bietet. Auch wenn sie an dieser Stelle nicht mit Berthold Ottos Einschätzung über die Notwendigkeit des Krieges übereinstimmt, ist diese grundsätzliche Haltung eine, die auch in seinem Denken verankert ist. Otto geht davon aus, dass bereits die Generationenfolge zu einer Weiter- und Höherentwicklung der Menschheit führt, was durch die richtige, in seiner Diktion: natürliche, Form der Erziehung noch unterstützt werden kann.966 963 964 965

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Emmy Friedländer an Berthold Otto, 14.9.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 55. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 14.9.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 55. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 29.10.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 59. Dort heißt es weiter: „Innerhalb seines Standes fällt man doch auch nicht über seinen Nachbarn her, weil er durch Fleiß und Streben weiter gekommen ist, als die anderen. Ich hatte mich der Illusion hingegeben, daß die Kultur schon tief gedrungen sei, daß man mit einem solch anständigen Verhalten auch über die Staaten-Grenzen hinaus wachsen könnte. Und aus diesen Gründen hat mich der Krieg so sehr überwältigt und erschüttert.“ Vgl. Kapitel 2.

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So scheint auch die kritische Haltung von Emmy Friedländer, die sie zum Krieg entwickelt und Berthold Otto kommuniziert, keine grundlegende inhaltliche Differenz darzustellen. Insgesamt sieht sie in Otto, wie bereits dargestellt, einen Wegbereiter einer neuen, besseren Zukunft, dessen Weg und Werk sie unterstützt. Sie glaubt an Ottos Pädagogik967 und ist von deren Gültigkeit und Wirksamkeit überzeugt. Sie ist mit seinem Werk inhaltlich vertraut und nimmt eine kritische Haltung auf bestimmte Situationen ein, die der seinen entspricht, wenn sie zum Beispiel den Konflikt, der aus dem Besuch des Rein’schen Universitätsseminares entstand, einordnet oder das pädagogische Handeln einer Lehrerin.968 Sie arbeitet sowohl im Berthold-OttoVerein969 als auch im „Bund für Inneren Frieden“ mit, engagiert sich also auch über die Aufgaben, die sie im Kontext ihrer Finanzierung der Schule übernommen hat, hinaus. 1919 schlägt sie Otto vor, den von Bruno Wille eben gegründeten „Volkskraftbund“970 mit dem „Bund für Inneren Frieden“ zusammenzu-

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So zitiert sie Paul Baumann auch in einem Brief an Georg Kerner: „Ich halte Herrn Ottos pädagogische Wirksamkeit für epochemachend.“ (Baumann V: 108 – Datum des Briefes ist nicht nachgewiesen) Es handelt sich dabei offenbar um einen Konflikt, von dem sie durch Briefe, die ihr Otto zum Lesen schickte, erfahren hat. Über die genaueren Umstände ist nichts zu erfahren, die Einordnung, die Emmy Friedländer vornimmt, zeigt, dass sie im Sinne Ottos und auf Grundlage seiner Schriften argumentiert. Sie schreibt ihm: „Als mehrjährige Leserin des Hauslehrers hätte sie (= die Lehrerin; KK) vor allem an einer politischen Auffassung keinen sittlichen Vorwurf machen dürfen. Gerade wenn sie die Sache anders anfängt als Sie, wäre es doch eine glänzende Gelegenheit gewesen, ihren Kindern zu beweisen, daß eine polit. Stellungnahme mit der sittlichen Bewertung einer Persönlichkeit nichts zu tun hat. Das ist doch die Auffassung, zu der der Hauslehrer die künftigen Staatsbürger erziehen möchte. Auch sonst scheint sie in Ihre pädagogischen Schriften nicht ganz eingedrungen zu sein.“ (Emmy Friedländer an Berthold Otto, 12.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 46) Im Berthold-Otto-Verein wurde sie in den Ehrenausschuss gewählt und hat eine zusätzliche Spende von 100 M geleistet (Baumann (HL 1913q): 459). Der Volkskraftbund wurde 1919 als Nachfolgeorganisation des „Monisten-Bundes“ von Bruno Wille gegründet und „erstrebt eine Verständigung auf sämtlichen Lebensgebieten zugunsten eines Gemeinwohls, das die schädlichen Gegensätze innerhalb eines Volkes sowie zwischen den Nationen zu überwinden sucht“ (Flugblatt „Was will der Volkskraftbund e.V.?“ zit. nach Hübinger (Hrsg.) (2002): 392) und zu einer „Versöhnung aller, die Menschenantlitz tragen“ (Wille (1920): Vorwort o.S.), führen. Dies sollte durch eine „echte Kulturarbeit“ des Volkes, angeleitet durch einen „deutschen Idealismus“ erreicht werden (Wille (1920): 140). Unter anderem führte der Volkskraftbund eine Umfrage unter „einigen hervorragenden nichtjüdischen Deutschen“ durch, die eine kritische Bestandsaufnahme des Antisemitismus in Deutschland darstellen sollte. Die Ergebnisse wurden von Bruno Wille

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schließen, da sie eine große Schnittmenge bei den Inhalten sieht und hofft, dass so der „Bund für Inneren Frieden“ eine höhere Popularität erlangen könne.971 Zu dieser Verbindung kommt es allerdings nicht. Berthold Otto wiederum knüpft an Emmy Friedländers Interesse an seinem Werk an und übersendet ihr mehrfach seine neuesten Publikationen: Im Juli 1914 erhält sie vor der eigentlichen Veröffentlichung ein Exemplar der „Zukunftsschule“,972 von dem sie dann auch weitere Exemplare beim Berthold-Otto-Verein bestellt, um sie weitergeben zu können. 1916 erhält sie ein Exemplar von „Kriegsrechenwirtschaft als wirtschaftliche und finanzielle Kriegsrüstung“973 und 1918 dann eine Ausgabe von „Mammonismus, Militarismus, Krieg und Frieden“.974 Zudem übermittelt Berthold Otto ihr auch immer wieder Unterrichtsprotokolle und verschiedene Berichte, beispielsweise von den Weimarer Tagungen.

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1920 unter dem Titel „Deutscher Geist und Judenhaß“ veröffentlicht (vgl. Hübinger (Hrsg.) (2002): 390ff. für weitere Details). Sie schreibt am 18.6.1919 an Berthold Otto: „Da ich Sie beide (= Bruno Wille und Berthold Otto; KK) kenne, weiß ich, daß Sie beide in den demselben Sinn und Geist am Wohle des Volkes arbeiten und ein gemeinsames Wirken von größtem Werte wäre. Der Volkskraftbund hat schon eine große Ausdehnung genommen, und ich glaube, daß der Bund für inneren Frieden durch Zusammenschluß mit demselben in Kürze ebenso populär wäre.“ (Emmy Friedländer an Berthold Otto, 18.6.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 74) Vermutlich handelt es sich dabei um einen Sonderdruck aus der gleichnamigen Zeitschrift Georg Kerners, der unter dem Titel „Eine Zukunftsschule im Gegenwartsstaat“ veröffentlicht wurde. Emmy Friedländer schreibt dazu „Besten Dank für die Zusendung der ‚Zukunftsschule‘ – Sie waren so liebenswürdig, mir schon das RevisionsExemplar zu senden, das ich natürlich gleich gelesen habe. Alles, was man von der Schule wissen muß, ist erschöpfend gesagt und man sollte denken, auch alle Fragen wären damit beantwortet, und den Leuten müßte nun endlich ein Licht aufgehen, um was es sich handelt.“ (Emmy Friedländer an Berthold Otto, 30.7.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 54) Dazu schreibt sie: „Und ich danke Ihnen herzlich für das Buch, das ich mir eben bestellen wollte. Daß es mich sehr interessiert, wissen Sie, nicht nur es eine so wichtige Frage behandelt, sondern vor allem, weil ich überzeugt bin, daß Sie die denkbar beste und zugleich natürlichste Lösung dieser Frage gefunden haben.“ Auch hier bestellt sie weitere Exemplare, die sie verteilen möchte (Emmy Friedländer an Berthold Otto, 12.9.1916. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 65; Hervorhebung im Original). Emmy Friedländer an Berthold Otto, 10.1.1918. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 70.

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3.4.4. Emmy Friedländer als wichtigste Unterstützerin des Unternehmens Berthold Otto Für immerhin knapp zehn Jahre ist Emmy Friedländer eine wichtige Größe für den Betrieb der Berthold-Otto-Schule. Erst durch ihre umfangreiche finanzielle Förderung wird es möglich, das neue Schulhaus zu errichten und die Schule zu betreiben. Ihr Engagement geht dabei weit über das einer Geldgeberin hinaus: Sie übernimmt – teilweise notgedrungen – finanziellorganisatorische Aufgaben, Teile der Kommunikation mit Eltern und wird Ratgeberin in bestimmten Fragen. Damit leistet sie auch einen wichtigen Beitrag für die Positionierung des Unternehmens Berthold Otto auf dem pädagogischen Markt. Weiterhin ist sie Kennerin von Ottos Gedankenwelt, regelmäßige Leserin des Hauslehrers und anderer Schriften und Mitglied in beiden Vereinen, die unterstützend für Ottos Hauslehrerbestrebungen tätig sind. Drei Motive für diesen zeit- und geldintensiven Einsatz konnten eruiert werden: eine Identifikation mit der Pädagogik und Gesellschaftsperspektive Ottos, die Sorge um die schulische Ausbildung ihres Sohnes und – begründet durch die Anfangsinvestition – ein materiell-monetäres, mit dem sie versucht, ihr eingesetztes Geld zu schützen. Diese Motive stehen dabei in einem Zusammenhang: Aus einer Perspektive, in der das monetäre Risiko als einzige Entscheidungsvariable eine Rolle spielen würde, wäre ein schneller Abbruch der Anfangsinvestition rational gewesen. Es dürfte Emmy Friedländer rasch klar geworden sein, dass ihr Kapital, das sie in die Berthold-Otto-Schule investierte, gefährdet war – sie bekam einen Überblick über die finanzielle Situation der Schule und zumindest teilweise auch der Familie und damit die Möglichkeit, die Situation zu bewerten. Dass sie dabei allerdings nicht, wie es zunächst sinnvoll erschienen wäre, ihre Investition zurückzieht, sondern sich um die Strukturierung der finanziellen Gegebenheiten kümmert, zeigt, dass der Nutzen,975 den sie aus der Investition zieht, nicht nur im Bereich des Monetären liegt, sondern darüber hinausgeht. Ihr ist daran gelegen, Berthold Otto zu unterstützen. Und das zum einen, weil sie ihren Sohn von ihm unterrichtet sehen möchte und weil sie generell an Ottos Vision und Arbeit glaubt. Damit wird ihre KostenNutzen-Rechnung um einige Variablen erweitert: Nicht nur die Abwägung möglicher finanzieller Erträge spielt eine Rolle, sondern auch eine konkrete Leistung – der in ihren Augen für ihren Sohn Eugen geeignete Schulplatz – und eine hohe Identifikation mit den Inhalten und Zielen von Ottos Werk. Beides scheint das hohe finanzielle Risiko zu einem großen Teil aufzuwiegen: Zwar unternimmt Emmy Friedländer Versuche, die Finanzen der Schule 975

Hier im ganz ökonomischen Sinn gemeint: Der (erwartete) Nutzen einer Investition wird in klassischer Perspektive durch ihren (erwarteten) Gewinn ausgedrückt. Die Höhe dieses Gewinnes entscheidet über die Wahl der Investition.

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zu systematisieren und zu ordnen, und macht dies auch zur Bedingungen für die Erhöhung ihres Kredites, diesen scheint sie aber nicht grundlegend in Frage zu stellen. Dass sie diese Tätigkeiten ohne eine finanzielle Gegenleistung übernimmt und sich zudem auch in den Unterstützungsvereinen für Berthold Otto engagiert, kann, genauso wie ihre gute Kenntnis seiner Werke, als Hinweis auf eine starke Identifikation mit ihm und seinen Vorstellungen verstanden werden. Diese Identifikation unterstützt Otto unter anderem dadurch, dass er sie immer mit seinen jüngsten Publikationen und anderen Informationen (Protokolle des Gesamtunterrichts, Berichte von Tagungen und dem Briefwechsel nach dem Besuch des Rein’schen Universitätsseminares) versorgt. Emmy Friedländers Beziehung zur Familie Otto verändert sich im Laufe der Zeit. Kommuniziert sie zu Beginn primär mit Frida Otto und hier nahezu ausschließlich über Geschäftlich-Organisatorisches, ist es später Berthold Otto,976 mit dem sie in Kontakt steht. Diese Beziehung, die vermutlich nicht nur brieflich stattfand, Emmy Friedländer war Mutter eines Schülers und wohnte nahe bei der Schule, ist nicht mehr eine rein geschäftliche, sondern beinhaltet auch persönliche Aspekte. Neben der Auseinandersetzung mit der Frage, aus welchen Gründen Emmy Friedländer sich in einem so hohen Maße engagiert, können aus der Rekonstruktion dieser Beziehung auch Hinweise auf die unternehmerischen Aktivitäten Ottos abgeleitet werden. Gerade hier zeigt sich deutlich, dass er ein pädagogischer Unternehmer ist, also einer, der auf dem pädagogischen Markt, dessen Währung aus pädagogischen und kulturellen Inhalten besteht, agiert. Sieht man von den ökonomischen Schwierigkeiten ab, ist er dort auch erfolgreich: Seine Schriften werden rezipiert, seine Schule ist bekannt, und seine zentralen Marken – der Gesamtunterricht und die Altersmundart – verbreiten sich schnell. Und in diesem Kontext ist er auch in der Lage, seine eigenen Bereiche zu schützen, wie an der Tatsache, dass er den Vorschlag Emmy Friedländers, den „Bund für inneren Frieden“ mit Willes „Volkskraftbund“ zu fusionieren, ablehnt, deutlich wird.977 Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass Berthold Otto wenig Talent und Gespür für ökonomisches Unternehmertum besaß, im Gegenteil, dieser 976

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Ob dieser „Wechsel“ zufällig oder intendiert ist, lässt sich aus dem zur Verfügung stehenden Material nicht eruieren – zumal davon auszugehen ist, dass nicht alle Briefe von Emmy Friedländer an die Familie Otto erhalten sind. Diese Ablehnung dürfte daher rühren, dass der Volkskraftbund eine wesentlich größere Organisation war – so lautete ja Emmy Friedländers Argument – und dass der Bund für inneren Frieden hier schnell sein Alleinstellungsmerkmal hätte verlieren können (vgl. auch Kapitel 3.6).

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Bereich schien für ihn primär eine Störung darzustellen, ein Übel, mit dem er sich zwangsweise beschäftigen musste, das er aber – im vorliegenden Fall an Emmy Friedländer und an seine Frau – versuchte zu delegieren. Fasst man diesen Befund in einer strukturell-religiösen Terminologie, so könnte man sagen, dass Otto als Künder einer besseren Welt wenig Interesse an der Auseinandersetzung mit profanen Gegebenheiten wie materiellen Dingen hatte, deren Existenz lediglich dadurch für ihn bedeutsam wurde, dass sie ihm fehlten.978

3.5. Deutsche Volksgeistbriefe. Zeugnisse der symbolisch vermittelten Gemeinschaft „Für vieles, unendlich vieles, bin ich Berthold Otto dankbar und mein Leben wäre ohne ihn sehr viel ärmer.“ So beginnt Wilhelm Frisch, Oberst a.D.,979 seinen Dankesbrief an Berthold Otto, der sich in dem Bändchen „Deutsche Volksgeistbriefe“, das Georg Kerner 1928 herausgegeben hat,980 befindet. Insgesamt 39 Zusendungen sind in dem Buch enthalten, das Berthold Otto eigentlich schon 1925 übergeben werden sollte981 – zum Anlass des 25. Geburtstags der Zeitschrift Der Hauslehrer. Diese gedruckte Zusammenstellung liefert Hinweise auf unterschiedliche Formen von Ressourcen, die Berthold Otto für sein Unternehmen zur Verfügung stehen: Auf den ersten Blick ist 978

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So findet sich in seinem Brief vom 15.1.1915, in dem er Emmy Friedländer die Übernahme der Schule anbietet, eine Selbsteinschätzung seiner Situation: „Und wenn ich es auch schon immer nicht rechtfertigen konnte, daß ich unentgeltlich arbeitete und das Geld zum Lebensunterhalt für meine Familie erborgte, so liegt jetzt aber für mich eine Unmöglichkeit vor.“ Hier – und der Kontext des Briefes verstärkt diese Einschätzung – beschreibt sich Otto als jemand, der für sich selber keine Wahlmöglichkeiten sieht. Denn es wäre natürlich denkbar gewesen, dass er das Angestelltenverhältnis, das er in Leipzig hatte, nicht verlässt sondern dort weiterarbeitet. Implizit macht dieser Satz also deutlich, dass Otto seine eigentliche Aufgabe – Schul- und Gesellschaftsreform – als so wichtig empfindet, dass er dafür sogar finanzielle Einbußen und Unsicherheiten in Kauf nimmt (Berthold Otto an Emmy Friedländer, 15.1.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 61). Wilhelm Frisch (1868-1952), Oberst a.D., als Kriegsversehrter nach dem Ersten Weltkrieg aus der Armee entlassen, dann Mitarbeiter am Landerziehungsheim Schloss Bischofstein (Lengenfeld unterm Stein, Eichsfeld). Frisch hatte dort schnell eine einflussreicher Stellung inne. Vertrauter, finanzieller und ideeller Unterstützer von Berthold Otto sowie später Mitglied im Bund für Inneren Frieden. Autor für verschiedene Zeitungen und für den Hauslehrer. Erschienen ist das Buch in Ottos „Verlag des Hauslehrers“. So zumindest die offizielle Außendarstellung. Die Tatsache, dass das Buch in Ottos eigenem Verlag erschienen ist, legt nahe, dass er zumindest von den Plänen gewusst hat.

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das Buch sowohl das Ergebnis von als auch ein Mittel zur Vernetzung. Auf den zweiten Blick ergibt sich aus der Interpretation der abgedruckten Zuschriften auch ein Blick darauf, was die Schreiberinnen und Schreiber der Briefe als Motive für ihre Verbundenheit zu Berthold Otto und zu seiner Zeitschrift angeben. Diese Darstellungen verweisen sowohl auf die symbolisch vermittelte Gemeinschaft als auch auf eine im weiteren Sinne religiöse Struktur.

3.5.1. Der Aufruf und das Vorwort Im Jahr 1925 veröffentlicht Georg Kerner einen Aufruf,982 der sich an die „Freunde von Hauslehrer und Volksgeist“ richtet. Zum Anlass nimmt er das nahe bevorstehende 25-jährige Jubiläum der Zeitschrift, er fordert die Leserinnen und Leser des Aufrufes (der vermutlich der Zeitschrift beigelegt wurde) auf, ihre Erfahrungen mit Berthold Otto und seinem Werk in Briefen niederzulegen, die dann als Buch veröffentlicht werden sollen. In diesem Aufruf bittet Kerner nicht nur um Briefe und Spenden für die Herstellung des Buches, er stellt das Jubiläum auch in einen höheren Zusammenhang: „Noch ist das große Ziel nicht erreicht, das deutsche Volk ist noch nicht zum volksorganischen Denken erwacht. Aber der Tag des Erwachens ist näher, als manche glauben. Da hat unser Kreis seine besondere Aufgabe und auf diese Aufgabe wollen wir uns auf unsere Weise vorbereiten durch vertiefte Besinnung. Dazu bietet gerade dies Jubiläumsjahr unserer Zeitschrift besonderen Anlass.“983

Als zu meisternde Aufgabe der von ihm Angesprochenen weist Georg Kerner aus, dass das Volk zum „volksorganischen Denken“ erwachen soll. Diese Formulierung intendiert einen als krisenhaft oder zumindest verbesserungsnotwendig wahrgenommenen Zustand des deutschen Volkes, der durch das volksorganische Denken – also die grundlegende Perspektive Berthold Ottos – zum Positiven hin verändert werden soll. Trägerinnen und Träger dieser Aufgabe beschreibt Kerner dabei als „unser Kreis“, eine Formulierung, die in diesem Kontext eine Vorstellung von Gemeinschaft nahelegt, die sich durch ein spezifisches geteiltes Wissen konstituiert: „Jeder von uns ist ja durch die gesamtorganische Weltanschauung, in die uns Berthold Otto eingeführt hat, irgendwie tiefer mit dem Entwicklungsstrom des deutschen Volkes in Zusammenhang gekommen.“984

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DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 573 Bl. 1. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 573 Bl. 1. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 573 Bl. 1.

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Diese Kombination aus einem besonderen Wissen, einer tieferen Erkenntnis oder Erfahrung, verbunden mit der Gewissheit, dass eine Veränderung notwendig ist und kommen wird – also der „Tag des Erwachens“ – scheint für Kerner die eigentliche Gemeinsamkeit der Personen auszumachen, an die er sich wendet. In einer mit religiösen Symbolen angereicherten Sprache richtet er sich nicht (ausschließlich) an die Leserinnen und Leser der Zeitschrift, sondern ruft die Vorstellung einer Gemeinschaft von in das volksorganische Denken Eingeweihten auf. Neben der Bekräftigung dieser Vorstellung soll das Buch zwei weitere wichtige Aufgaben erfüllen: Es soll Berthold Otto „neuen Schaffensmut geben“, und es soll ihm „als denkbar vornehmstes Werbemittel“985 dienen – gerade in einer Zeit, in der es für alle Beteiligten eine Pflicht wäre, mit allen Mitteln für „die Sache“ zu werben. In seinem inhaltlich an diesen Aufruf anschließenden Vorwort zu dem 1928 schließlich erschienenen Buch beschreibt Georg Kerner zunächst, wie er selbst die Zeitschrift kennengelernt hat: Im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Hauslehrer wurde er durch den Titel auf das Blatt aufmerksam, und er bestellte es, ohne jedoch zu ahnen, dass es sich nicht um eine Zeitschrift handelt, welche „die Interessen der Hauslehrer vertreten“986 würde. Dennoch fühlte er sich angesprochen, in seinen Ausführungen verdeutlicht er, wie umfangreich ihn die Auseinandersetzung mit Ottos Gedanken beeinflusst hat. Diesen Einfluss verortet er auf drei verschiedenen inhaltlichen Ebenen: Zum einen habe Otto ihm einen Zugang zur „Welt des Kindes“ ermöglicht, die er in einer Weise kennenlernte, „als ob ich ein neues an Wundern reiches Land entdeckt hätte.“987 Dieser Zugang führte ihn dann zweitens dazu, nicht nur Kinder anders als bisher zu sehen und zu verstehen, sondern auch generell seine Mitmenschen. Hier greift er eine der zentralen Aussagen Ottos auf – nämlich die Notwendigkeit des Selbstverstehens für das Verstehen von anderen.988

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DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 573 Bl. 1. Kerner (1928): 3. Kerner (1928): 3. Kerner schreibt: „Ich lernte meine Mitmenschen verstehen, indem ich sie nicht mehr nach irgendeinem noch so geistreichen oder noch so moralischen Lehrsystem beurteilte, lobte und tadelte, sondern indem ich, was ich vor Augen hatte, dadurch zu verstehen suchte, daß ich mich darauf besann, wie ich mich in gleicher oder möglichst ähnlicher Lage selbst benommen, was ich dabei empfunden, gedacht, geurteilt hatte, also auf meine Wirklichkeit, nicht auf meinen ethischen Urteilsmaßstab für andere. Da entdeckte ich meine Mitmenschen in mir und mich in meinen Mitmenschen.“ (Kerner (1928): 3)

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Die Auseinandersetzung mit der Idee des Verstehens des Anderen durch die Reflexion des eigenen Erlebens führt ihn dann zu einer dritten Ebene, die eine weitere zentrale Konstante im Denken Ottos ist: dem Volksorganismus. Kerner beschreibt das wie folgt: „Diese Kinder und Erwachsenen, Väter und Mütter, Brüder und Schwestern, Freunde und Feinde, die ich da in mir fand und mich in ihnen, mit ihnen bildete ich ja zusammen das deutsche Volk. Von seinem Leben waren wir ja nur Teile, von seiner Lebensgestalt die Glieder oder Gliederteilchen. Da lernte ich mich also als wenn noch so kleinen Wesensteil unsres Volkes kennen und als solchen erst mich mit meinem Lebenssinn begreifen.“989

Kerner interpretiert also die Idee Ottos – den interdependenten Zusammenhang von Einzelgeist und Volksgeist – in einer christlich gefärbten Sicht.990 Er versteht sich und die anderen Menschen als Teile des deutschen Volkes als Organismus, der sich in einer gefährdeten Situation befindet, die durch den „Mammonismus“, also die Vorstellung eines Primats des Geldes über alle anderen gesellschaftlichen Bereiche, hervorgerufen wird, und präzisiert damit die in dem Aufruf von 1925 eingenommene Perspektive. Diese Darstellung weist darauf hin, dass für Kerner die Auseinandersetzung mit den Inhalten Berthold Ottos zu einer zentralen Richtschnur des eigenen Verhaltens geworden ist. Berthold Ottos Gedankenwelt ermöglicht ihm, sowohl Kinder als auch generell seine Mitmenschen aus einer anderen Perspektive zu betrachten und seinen Umgang mit ihnen entsprechend zu gestalten. Diese Erkenntnis entspringt dabei nicht einem vorgegebenen System dogmatischer Verhaltensvorstellungen, sondern ist das Ergebnis von Selbstbefragung und selbst-reflexiver Erkenntnis, die von Ottos Vorstellung der Verbundenheit aller Menschen durch den Volksgeist ermöglicht und angeleitet wird.991 Damit stellt Kerner auch einen Zusammenhang zu der Vor-

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Kerner (1928): 4. Für Kerner bedeutet das Ergebnis seiner eigenen Entwicklung, die durch Ottos Gedankenwelt ausgelöst ist, die Bestätigung einer Aussage aus der Bergpredigt, Matthäus 7,12: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Lutherbibel 1912) – Kerner formuliert etwas anders: „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen, das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Kerner (1928): 4) Damit ist nicht ausgesagt, dass es in Ottos Denkgebäude keine Setzungen gibt, das Gegenteil ist der Fall. Seine Aufforderung, das kindliche Fragerecht zu respektieren, ist beispielsweise nicht verhandelbar. Interessant im Zusammenhang mit Georg Kerner ist, dass er sein aktuelles Verhalten als Ergebnis eines eigenständigen Auseinandersetzungsprozesses beschreibt, der auf den von Otto vertretenen Inhalten beruht, diese aber in Bezug auf die eigene Person modifiziert. Das zeigt sich prägnant an den christlichen Versatzstücken, mit denen Kerner die Otto’schen Gedanken amalgamiert.

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stellung einer „Lebensführung im Sinne Berthold Ottos“ her, die sich beispielsweise in der Satzung des Berthold-Otto-Vereins wiederfindet.992 Einer der zentralen Topoi im späteren Werk Ottos ist die Suche nach einer – seiner Meinung nach – adäquaten Organisation der Volkswirtschaft, die für ihn in einer Art planwirtschaftlichen Ordnung ohne Geld besteht und die er als Rechenwirtschaft bezeichnet.993 Diesen Themenkreis greift Georg Kerner zum Schluss seines Vorwortes mit auf: „Es ist Zeitenwende. Es handelt sich um Sieg oder Untergang des deutschen Volkes und damit der Menschheit. ‚Man kann nicht Gott dienen und dem Mammon‘. Berthold Otto zeigt uns den Weg, der aus der Mammonsherrschaft herausführt, und geht ihn mit unerschütterlichem Mut voran. Wir geloben, ihm in Treue zu folgen!“994

Es wird zweierlei deutlich: Zum einen scheint der theoretische Horizont, den Berthold Otto entwickelt hat, für Georg Kerner sowohl in Bezug auf pädagogisches Handeln als auch auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge ausreichend Identifikationsmöglichkeiten zu besitzen, die er für sich annimmt und sie dann mit eigenen – hier christlich-theologischen – Elementen anreichert und somit aneignet. Gleichzeitig entwickelt sich für ihn eine Idee von gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten, die Vorstellung einer Gruppe, die vor dem Hintergrund eines potentiellen Untergangsszenarios des deutschen Volkes den Weg, den Berthold Otto gewiesen hat, beschreiten soll und der er sich zugehörig fühlt. Diese Vorstellung findet sich auch in anderen Briefen, die in dem Buch publiziert sind, wieder.

3.5.2. Das Buch und die Briefe Warum das Buch erst 1928 und nicht 1925, wie der ursprüngliche Plan dies vorsah, erschien, begründet Kerner nicht weiter. Er weist im Vorwort nur darauf hin, dass zunächst „alles verloren schien“ und dass nur mit der Unter992 993

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Vgl. Kapitel 3.2. Ottos Vorstellung ist hier – kurz gesagt –, dass Freihandel und Zins- resp. Geldwirtschaft die Entwicklung der Volksgemeinschaft stören. Die auf Egoismus beruhende Wirtschaftsweise steht im Widerspruch zu der gemeinschaftsfördernden Wirtschaftsform, nämlich die der Familie. Die von Otto propagierte Rechenwirtschaft stellt also ein geldloses, auf Planwirtschaft und Arbeitsleistung beruhendes Gegenmodell zu den als destruktiv interpretierten Formen des Mammonismus dar (vgl. dazu Schnücker (1990): 274ff.). Kerner (1928): 4. Auch hier wird durch ein direktes Zitat aus der Bibel – es handelt sich um ein bekanntes Wort aus Matthäus 6,24 – deutlich, dass es für Georg Kerner eine Passung zwischen der Botschaft des Evangeliums und der Botschaft Berthold Ottos gibt.

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stützung „treuer Freunde“ die Veröffentlichung zustande kam. Auch einige Briefe seien verloren gegangen.995 Im Buch sind insgesamt 39 Briefe abgedruckt, dazu das Vorwort Georg Kerners und ein Text von Rudolf Paulsen.996 Elf Briefe stammen von Frauen. Auffällig ist der hohe Anteil an Lehrerinnen und Lehrern: Es sind mindestens neun der elf Frauen und 15 der 27 Männer, deren Briefe veröffentlicht wurden, die den Lehrerberuf ausübten oder ausüben, was einen Gesamtanteil von 67% ergibt, der sich daraus ergibt, dass Lehrerinnen und Lehrer neben den Eltern die Hauptzielgruppe des Hauslehrers darstellen.997 Um die Anknüpfungspunkte in den inhaltlich sehr heterogenen Briefen präzisieren zu können, werden zunächst die Briefe untersucht, in denen der „pädagogische“ Otto entweder ausschließlich oder im Zusammenhang mit dem „politischen“ Otto thematisiert wird. Dabei gibt es nur einen Brief, in dem nicht wenigstens einer dieser beiden Aspekte – also Pädagogik oder Politik – explizit zum Tragen kommt; er stammt von Paula Jolowicz.998 Agnes Barow,999 die fünf Jahre Lehrerin an der Berthold-Otto-Schule war, beschreibt in ihrem Beitrag, wie sie von einem ihr bekannten Lehrer in die Familie Otto eingeführt wurde, und zwar, als sie „kurz vor dem Zusammenbruch“ stand. Dieser war ausgelöst durch Schwierigkeiten, die sie als Berufsanfängerin im Lyzeum hatte. Dadurch, dass sie Berthold Otto kennenlernt, kann sie dem krisenhaften Erleben ihrer Tätigkeit positive Erfahrungen entgegensetzen: „Alles das, was ich mir erträumt hatte, durfte ich in die Wirklichkeit umsetzen, ich war nicht die einzige, sie sich gegen die herrschende Lehrweise auflehnte, und da wurde ich in meiner Lehrtätigkeit wirk995 996

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Kerner (1928): 3. Überschrieben ist dieser Text mit „Was ich von Berthold Otto lernte“. Während die Briefe nacheinander in alphabetischer Reihenfolge der Namen ihrer Verfasserinnen und Verfasser abgedruckt sind, erhält Paulsens Text nach diesen im Buch einen eigenen Platz, ist also aus der Systematik der übrigen Beiträge herausgehoben (Paulsen in Kerner (1928): 70-72). Auf der inhaltlichen Ebene ähnelt er allerdings den in anderen Artikeln dargestellten Erfahrungen, so dass hier keine besondere Interpretation erfolgt. Vgl. Kapitel 3.1. Paula Jolowicz (7.9.1872-21.10.1929), langjährige Lehrerin an der Berthold-OttoSchule, Mitbegründerin des Berthold-Otto-Vereins und Mitglied im Bund für Inneren Frieden. Der Brief besteht aus drei Sätzen und lautet: „Ich kenne den Hauslehrer fast von Beginn seines Erscheinens an. Durch ihn bin ich zu Berthold Otto gekommen. Er hat seitdem mein ganzes Leben stark beeinflusst und das war ein Segen“ (Jolowicz in Kerner (1928): 30). [Zitate aus „Deutsche Volksgeistbriefe“ werden wie folgt zitiert: Verfasserin bzw. Verfasser des Briefes in Kerner (1928): Seitenzahl. Die einzelnen Beiträge werden, da sie teilweise keine Überschriften besitzen und/oder sehr kurz sind, nicht gesondert im Literaturverzeichnis geführt.] Agnes Barow, geb. 14.7.1897, Lehrerinnenexamen 1918, arbeitete von 1920-25 an der Berthold-Otto-Schule, danach an verschiedenen Volksschulen in Berlin (u.a. Lichtenberg und Kaulsdorf).

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lich glücklich.“1000 Der Kontakt zu Otto bedeutet für sie eine Bestätigung – auch andere sehen Pädagogik und Lehrerberuf so wie sie selber – und eine Erleichterung, weil sie ihre pädagogischen Vorstellungen nun auch umsetzen kann. Otto stellt sie 1920 für fünf Jahre ein, diese Zeit beschreibt sie als „so unendlich reich.“1001 Der Zeitpunkt, zu dem sie ihren Brief verfasst, liegt nach dieser Zeit als Lehrerin an der Berthold-Otto-Schule. Nun ist der „Volksgeist“ ihre Verbindung zu Berthold Otto, so wie seine Bücher, die sie alle gelesen habe. Sie habe auch Kontakt zu vielen ehemaligen Schülern, die ebenfalls „eifrige Volksgeistleser“ seien. „So begleitet uns unser Lehrer, denn er war auch mein Lehrer, weiter durch das Leben, trotzdem wir von ihm getrennt sind; und ich bin überzeugt, daß seine Wirkung auf uns so tiefgehend war, daß sie niemals verloren gehen kann, und mögen wir noch so alt werden.“1002

Wie Georg Kerner auch, entwickelt Agnes Barow eine Sicht auf Berthold Otto als jemand, der sie in ihrem Denken und Erleben stark beeinflusst hat, den sie ihren Lehrer und an anderer Stelle auch ihren „Meister“1003 nennt. Dieser habe sie auch in das gemeinschaftliche Denken und Fühlen eingeführt, was dazu führte, dass sie jetzt Anteil an seinem Werk habe. Die Kontaktaufnahme findet ihren Grund in einer Situation, in der Agnes Barow sich in ihrem pädagogischen Tun als unzulänglich erlebt. Die Arbeit am Lyzeum will ihr nicht recht gelingen, es will sich kein „seelisches Band“ zwischen ihr und den Kindern einstellen, das Erleben von Misserfolg ist so mächtig, dass sie sich nahe an einem inneren Zusammenbruch wähnt. Durch das Kennenlernen Berthold Ottos und seiner Pädagogik findet sie Zugang zu einer anderen Art und Weise, ihrem Beruf nachzugehen. Auch andere Briefschreiberinnen und Briefschreiber markieren den Beginn ihrer Berufstätigkeit oder das Ende ihrer Ausbildung als den Moment, in dem sie auf den Hauslehrer beziehungsweise auf Berthold Otto aufmerksam ge1000 Barow 1001

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in Kerner (1928): 8. Barow in Kerner (1928): 8. Über ihre Wahrnehmung des Verhältnisses von Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern in der Berthold-Otto-Schule schreibt sie: „Wie wenig ich ‚Lehrerin‘ war, geht wohl daraus hervor, daß einige Freundschaften zwischen mir und den älteren Schülern geknüpft wurden, die wohl fürs Leben dauern. Früher kannte ich keine Freundschaften.“ (Barow in Kerner (1928): 7) – Eine ähnliche Figur findet sich auch in dem Brief von Margarete Galette, einer Hauslehrerin, die der Überzeugung ist, dass man, wenn man nach Otto arbeite, viele Rollen einnehme: Mutter, Schwester, Spielkamerad, Freundin und schließlich, bewusst als Letztes, Lehrerin. Barow in Kerner (1928): 8. Barow in Kerner (1928): 8. Diese Beschreibung findet sich in fünf Briefen (Barow, Galette, Spielhagen, Tschechne, K.M.).

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worden sind: Margarete Galette wurde im Lehrerinnenseminar in Eisenach durch ein Frl. Frisch1004 mit dem Hauslehrer bekannt gemacht. Ebenfalls während seiner Lehrerausbildung in Eisenach kommt K.M. aus H./M. in Berührung mit Ottos Gedanken, die ihn nachhaltig beeinflussen.1005 Marianne Geibel1006 beginnt den Hauslehrer mit Beginn ihrer Tätigkeit als Lehrerin zu lesen, A. Hochscheid aus Portland/Oregon entdeckt zu Beginn seiner Lehrerlaufbahn durch Otto den für ihn wichtigen Zusammenhang von Seelenkunde und Unterricht. Dora Scheffer1007 sieht sich selber als lebendiges Beispiel der Veränderung durch Ottos Perspektive auf Kinder: „Viele erkannten in mir: Mit Berthold Otto kommt für das Kind die neue Zeit.“1008 Für P. Schulz war Otto die Rettung davor, ein „Zwangs- und Prügelpädagoge“ zu werden. Anny Staudte1009 und Adolf Tschechne1010 berichten ebenfalls davon, wie der Kontakt mit der Pädagogik von Berthold Otto sie nachhaltig beeinflusst hat. Andere Lehrerinnen und Lehrer setzen sich erst im Laufe ihres Berufslebens mit Berthold Otto auseinander. Johannes Kretschmann1011 stellt fest,

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Vermutlich Käthe Frisch oder Helene Frisch (Letztere ist die Schwester von Wilhelm Frisch). „Und das Licht, das im Schatten der Wartburg zu leuchten anfing, wurde nimmer ausgelöscht“ notiert er in seinem Brief (K.M. in Kerner (1928): 34). Marianne Geibel, Eisenach, ist bekannt mit Wilhelm Frisch und Helene Frisch. Wie diese ist sie Mitglied im Bund für Inneren Frieden und engagiert sich sehr für Otto. Unter anderem schreibt sie dem Kaiser 1919 einen Brief, in dem sie ihn auf Ottos politisches Werk hinweist, und schickt dabei auch einige Exemplare des Volksgeists mit (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 412 Bl. 1-5). Zum Dank bekommt sie unter anderem ein Foto des Kaisers, auf dem er von Hand Ort und Datum der Aufnahme notiert hat. Dora Scheffer ist die Ehefrau von Theodor Scheffer. Scheffer in Kerner (1928): 48. Eigentlich Anna Staudte (geb. 23.6.1879), war von 1912 bis 1943 Lehrerin an der Berthold-Otto-Schule, unterbrochen von einem Aufenthalt in den USA in den Jahren 1922-1929. Adolf Tschechne, Seminaroberlehrer aus Schweidnitz, Herausgeber des „Jung-Volk. Organ für Sport, Jugendpflege und Jugendwandern“; zugleich Beilage zum „Mittelschlesischen Volksfreund“. Berthold Otto ist für ihn gleichzeitig „Meister“ und „pädagogischer Erzieher“. Er schreibt: „So bin ich durch Berthold Otto zur vollen Erkenntnis und zum vollen Glück meines Berufes als Lehrer, Erzieher und Vater gekommen.“ (Tschechne in Kerner (1928): 66) Johannes Kretschmann (1896-1944), Lehrer. 1920-1930 Volksschullehrer in Holbeck, Kreis Jüterbog, 1930-31 Rektor der ev. Volksschule in Müllrose am OderSpree-Kanal. Nach deren Schließung am 1.4.1932 als Dozent und Schulrat an den Pädagogischen Akademien Frankfurt/Oder und Elbing (ab 5/33). Führte in seinen Schulen analog zu Ottos Vorstellungen Gesamtunterricht durch, entwickelte die Idee weiter und publizierte darüber auch. Stand in brieflichem Kontakt mit Berthold Otto. Führendes Mitglied im Verein für Berthold-Otto-Pädagogik.

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dass „eine Welt (...) in Trümmer“1012 ging, nachdem er zum ersten Mal eine pädagogische Schrift Ottos gelesen hatte. Jede dieser Schriften seien Gärungserreger,1013 die zu eigenem Nachdenken führen würden. Johannes Herold1014 beschreibt den positiven Einfluss Ottos auf seine pädagogische Tätigkeit,1015 genauso wie Johannes Ruoff und Scheible. In weiteren Briefen wird die Bedeutung von Ottos Sicht auf das Kind besonders hervorgehoben: Heinrich Burhenne1016 beschreibt diese als wahre Religiosität.1017 Für ihn ist Otto der einzige ihm bekannte Pädagoge, der kein „Bedenken“ in seiner Sicht auf das Kind habe. Ruoff spricht vom Kinderfreund, der Otto sei, Scheible von einem „Paradies der Kinder“ das durch Ottos Pädagogik entstehe.1018 Martin Spielhagen1019 hospitierte regelmäßig an der Berthold-OttoSchule. Seine Erfahrungen beschreibt er so: „Und nach jedem Besuch emp1012 1013

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Kretschmann in Kerner (1928): 30. „Heute noch nach Jahren wirkt dieses Erlebnis mit unverminderter Stärke in mir fort; und meine Bekehrung zu Otto vollzog sich damals so stürmisch, daß z.B. viele seiner Aussprüche sich vom einmaligen Lesen wörtlich meinem Gedächtnis einprägten. Dieser ganze Gärungsprozess – jede Schrift von Otto ist ein Gärungserreger – kommt nicht eher zur Ruhe, bis man Otto ganz kennt.“ (Kretschmann in Kerner (1928): 31) Johannes Herold (19.8.1875-31.3.1946), Lehrerexamen 1898 in Brieg, 1923-1937 Konrektor und ztw. Schulleiter Evangelische Schule in der Siedlung Zimpel in Breslau. Verfasste, teilweise unter dem Pseudonym Herold von Günthersdorf, Artikel für Schwaners „Volkserzieher“ und andere Zeitschriften, einige Jahre Herausgeber von „Emil Postel’s deutscher Lehrerkalender“; Mitglied der DNVP und stand der Bekennenden Kirche nah. In Herolds Brief liegt der Akzent deutlich auf dem politischen Aspekt, also dem volksorganischen Denken. Dieses und Otto als Person scheinen ihn sehr beeindruckt zu haben, er schreibt: „Und schließlich ist es mein Stolz, daß ich ihm (= Berthold Otto; KK) persönlich nahetreten durfte. Sein Bild schmückt neben dem Kaiser Wilhelms, Friedrichs und Bismarcks meinen Schreibtisch.“ (Herold in Kerner (1928): 25) Heinrich Burhenne (1892-1945), Schriftsteller und Volksschullehrer in Niederdorf und dann in Walsum-Aldenrade. Schreibt auch für den Hauslehrer. „Ich kann auch heute noch nicht anders dazu sagen, als daß mir solche Haltung als eine außerordentliche starke Religiosität erschien. Eine Religiosität von einer großen Weite, die zugleich Tiefe ist. Das Kind wurde hier – wie ich aus dem Lesen ihrer Schriften erfuhr – ganz als ein Lebendiges geschaut, als ein sehr feiner, tiefer, verehrungswürdiger Organismus.“ (Burhenne in Kerner (1928): 10) „Das Kindesrecht findet in Otto seinen berufenen Anwalt; nur Helferdienste können Eltern und Erzieher dem Kind bei der Entfaltung seines Geisteslebens leisten.“ (Scheible in Kerner (1928): 51) Spielhagen in Kerner (1928): 54. Martin Spielhagen wurde 1927 Rektor der Volksschule in Bornim bei Potsdam, die er zu einer reformpädagogisch orientierten Schu-

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fand ich, wenn ich wieder bei meiner Schularbeit war, in der Art, wie ich die Kinder behandelte, wie ich dies oder das mit größerem Schwung anfaßte, daß ich unter dem Einfluß einer überragenden Persönlichkeit stehe“1020 Seine Erfahrung bezieht sich also nicht primär auf die literarische Auseinandersetzung mit Berthold Otto, sondern er sucht den persönlichen, von ihm als sehr bereichernd empfundenen Kontakt. Einige Briefschreiberinnen und Briefschreiber legen den Schwerpunkt ihrer Ausführungen auf die positive Wirkung, die aus der Auseinandersetzung mit Ottos Inhalten für ihr eigenes Leben resultiert. Nicht nur die bereits erwähnte Bezeichnung „Meister“, die für Berthold Otto gebraucht wird, weist darauf hin. Vor allem im Zusammenhang mit dem politischen Aspekt des Otto’schen Denkens findet sich bei Karl Schulz der Begriff „Heiland“.1021 In mehreren Briefen wird auf die positive Wirkung von Ottos Schriften auf das eigene Leben verwiesen. So schreibt Richard Sonka aus Wien: „Es ist eigenartig: Wenn schwere Ereignisse mich bedrücken, wenn ich in traurigster Stimmung zu jeder geistigen Arbeit, ja selbst zum Lesen des einfachsten Buches unfähig bin, – ich brauche nur Ihr Kaiserbuch oder das Volksorganische Denken zur Hand zu nehmen und kann trotz größtem persönlichen Leid eine ruhige, erhebende Stunde damit verleben. So sind Sie, verehrter Herr Otto, nicht nur mein Führer in den schönen Tagen, sondern auch mein stärkster Tröster in Stunden, wo eigener Schmerz mich niederdrücken möchte.“1022

Auch der Brief von Georg Friedrich Muth1023 ist in diesem Zusammenhang bedeutsam. Muth beschreibt, wie er am Kriegsende im Einsatz Trost in den Schriften Ottos gefunden hat.1024 Zwar war er bereits im Vorwege einmal mit

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le umstrukturierte. Bereits in den Jahren 1920-22 hospitierte er mehrfach an der Hauslehrerschule Berthold Ottos, ab 1927 gab es ebenfalls Kontakte zwischen Spielhagens Schule und der Berthold-Otto-Schule. Spielhagen in Kerner (1928): 62. Als solcher Heiland steht Berthold Otto in seinem Kampfe gegen die Geldwirtschaft, der ein Lebenskampf und ein Lebensopfer ist, vor mir.“ (Schulz in Kerner (1928): 58) Sonka in Kerner (1928): 60. Ähnliche Aussagen finden sich u.a. bei Martin Spielhagen, bei E. Hofmann, Johannes Herold, Dora Hartmann oder Marianne Geibel. Georg Friedrich Muth (geb. 18.7.1877), Studienrat aus Bensheim. Mitglied im Bund für Inneren Frieden. Diverse Briefwechsel mit Otto. Übernahm Anfang der 1930er Jahre provisorisch die Herausgabe des Volksgeistes. „Erst im Sommer 1918 wurde ich wieder auf ihn (= Berthold Otto, KK) hingewiesen: ein gütiges Geschick – manche sagen Zufall, aber an den glaube ich nicht – hatte mir den „Deutschen Volksgeist“ erneut an die Hand gegeben, weil ich ohne ihn nicht hätte weiterbestehen können. Das war damals, als unsere schwerste Not begann. Zuerst war noch die Zeit zwischen Hoffen und Bangen; wir standen an der Flandernfront, in der Nähe des Kemmelberges, bemerkten mit besorgter Freude die

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Ottos Schriften in Kontakt gekommen, aber erst die Erfahrung im Krieg hat für ihn einen Zugang zu diesen ermöglicht. Nach Kriegsende erlebt Muth sich in einer problematischen Situation, über die er nur mit Hilfe des „Volksgeistes“ hinweggekommen ist: „Ich kam krank nach Hause, konnte meinen Schuldienst, nach dem ich mich die ganzen Jahre so gesehnt hatte, nicht aufnehmen –, daß ich nicht zusammengebrochen bin, das verdanke ich einzig B. Otto und seinem Volksgeist (…) ich las morgens, mittags und abends, las sitzend, stehend, liegend – und wenn ich aufhören wollte, da war es wie oft, daß ich Berthold Ottos gütige Stimme – ich hatte sie freilich noch nie leibhaftig gehört, und doch klang sie mir – sagte: ‚Warte doch nochmal einen Augenblick, da ist noch etwas zum Nachdenken, das wird dir wohltun, das wird dir weiterhelfen‘. So kam Vertrauen, langsame Genesung und allmählich immer mehr Klarheit auf politischem und wirtschaftlichen Gebiet.“1025

Ähnlich wie Agnes Barow, benennt auch Georg Friedrich Muth einen als von ihm krisenhaft wahrgenommenen Lebensmoment. In diesem macht er die Erfahrung, dass er durch die Beschäftigung mit Berthold Ottos Schriften Halt in seinem Leben erfährt. Dabei beschreibt er auch seine Aneignungspraxis als eine intensive, zeitlich nahezu allumfassende Beschäftigung, die ihn auch zu einem imaginierten inneren Kontakt mit Berthold Otto selber führt. Diese Beschreibung weist Ähnlichkeiten zu Erweckungs- und Bekehrungserlebnissen auf. Sowohl der biografische Zeitpunkt, nämlich der einer Krise, aber auch die darauffolgende intensive Beschäftigung und das Gefühl der „Genesung“ durch den neuen „Glauben“ wirken wie eine religiöse Metapher. Aus dieser Perspektive können die vorgestellten Briefe als Zeugnisse verstanden werden, in denen Menschen von ihren Heilserfahrungen berichten.1026 Ein anderer Einsender stellt seine eigene konkrete Unterstützung dar: Heinrich Dolle1027 berichtet, wie er 700-800 Exemplare von Ottos Buch „Die Ab-

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Vorbereitungen für eine neue, vielleicht die letzte, entscheidende Offensive; da aber kam das Scheitern unseres Angriffs am 15. Juli und im Verlauf der sich daran anschließenden Kämpfe die Erkenntnis, daß die Vorhand im Kampfe auf die feindliche Seite übergegangen war – und die Sorge wuchs ins Ungemessene. Bei einem kurzen Heimaturlaub im September suchte ich Rat und Stütze bei Bekannten und Freunden; ich fand das Gegenteil (…) ich war froh, als ich wieder an der Front und dem vergifteten Phrasentum entronnen war: meine einzige Stütze blieb der Gedanke an die Übereinstimmung mit Berthold Otto.“ (Muth in Kerner (1928): 35) Muth in Kerner (1928): 35. Zeugnis zu geben ist vor allem in (neo-)pietistischen und evangelikalen Gruppen ein wichtiger Bestandteil religiöser Vergewisserungs- und Missionspraxis. Heinrich Dolle aus Kleinenberg/Westfalen sympathisierte mit Ideen des „Deutschen Werkbundes“ um Otto Dickel und des „Deutschvölkischen Bundes“, beides kapitalismuskritisch-völkische Organisationen mit antisemitischem Einschlag.

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schaffung des Geldes“ „unters Volk gebracht“ und auch auf mindestens 50 Volksversammlungen für die Rechenwirtschaft im Sinne Ottos gesprochen habe.1028 Viele andere hoffen zumindest darauf, dass die „Sache“ Ottos oder auch die „gemeinsame Sache“ mehr Leuten bekannt gemacht werden könne und siegen werde, und wollen daran mitarbeiten. Briefe, die ausschließlich politische Inhalte1029 haben, kommen von Helmut Alberts, Wilhelm Frisch, Otto Petras,1030 Walther Vogt, Walter Schönert,1031 Wilhelm Pfaff,1032 Georg Friedrich Muth, Askan Schmitt und Bruno Jöckel.1033

3.5.3. Netzwerk und Ressourcen Ob das von Georg Kerner in seinem Aufruf avisierte Ziel – also dass das Buch gleichzeitig eine motivationale Unterstützung für Otto und ein Werbemittel sein soll – erreicht wurde, ist aus der heutigen Perspektive nicht rekonstruierbar. Aus den Briefen ist in jedem Fall zu entnehmen, dass mehrere Autorinnen und Autoren über die Zeitschrift in Kontakt mit dem Denkgebäude Ottos gekommen sind, es für sich umsetzen konnten und die Ideen auch weitertrugen. In mehreren Fällen strahlte das pädagogische Konzept auch programmatisch in andere Schulen aus, das ist bei Martin Spielhagen und Johannes Kretschmann der Fall. In anderen Fällen – beispielsweise Karl Schulz und Wilhelm Frisch – orientiert sich die eigene Pädagogik an Ottos Vorstellungen, ohne 1028 1029

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Dolle in Kerner (1928): 11. Die politischen Aussagen aller Briefe fokussieren unterschiedliche Variationen der Themen Kaisertreue, Rechen- oder Gemeinwirtschaft als Rettung des deutschen Volkes und volksorganisches Denken. Otto Petras (1886-1945/46). Pfarrer. Ständiger Autor bei der Zeitschrift „Widerstand. Zeitschrift für nationalrevolutionäre Politik“, in der auch Otto Nickel publizierte. Später Anhänger Ludendorffs. Teilnehmer an Volksorganischen Tagungen in Weimar. Mit der Familie bekannt, später auch Ratgeber für Irmgard Meyer-Otto. Walter Schönert (geb. 4.1.1892), Lehrer. 1918-1920 Lehrer in Kinderlandheim Hildburghausen. 1920-1930 Berthold-Otto-Schule, ab 1.5.1930 Ev. Volksschule Zehrensdorf. Dr. med. Wilhelm Pfaff, Stuttgart. Mitglied im Bund für Inneren Frieden und aktiv engagiert im Bund für deutsche Erneuerung. Dr. med. Bruno Jöckel. Zahnarzt, Lichterfelde. Ist 1923 federführend bei der Gruppe von Eltern, die sich Gedanken um die Finanzierung der Schule machen (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 588 Bl. 11). Hält 1919 Vortrag/Vorträge im Rahmen des Bundes für Inneren Frieden zusammen mit Helene Frisch und Richard Hanewald (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 643 Bl. 14). Seine Kinder Reinhard und Lieselotte sind Schüler der Berthold-OttoSchule.

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dass eine dezidiert veränderte Schule daraus entsteht. Margarete Galette organisiert ich ihre Tätigkeit als Hauslehrerin ebenfalls nach den Prinzipien Ottos, Anny Staudte beschreibt eigene Versuche in ihrem Umfeld in den USA, und Scheible versucht, eine Kombination aus Arbeitschulidee und Gesamtunterricht umzusetzen. Oft gibt es eine Entwicklung in der Art, dass aus der pädagogischen auch eine politische Auseinandersetzung folgt, was sicherlich auch mit der programmatischen Umstellung der Zeitschrift und des gleichzeitigen Weiterbestehens eines pädagogischen Teils zu tun haben dürfte. Ob dieser Weg auch andersherum beschritten wurde, ist aus diesen Briefen nicht zu ersehen. Auch wenn die vorliegende Untersuchung primär auf Ressourcen auf dem pädagogischen Markt fokussiert, ist das Politische – neben der von Otto selbst inhaltlich vorgenommenen und von Kerner in seinem Aufruf auch benannten1034 Zusammengehörigkeit beider Aspekte – auch für den pädagogischen Bereich des Unternehmens Berthold Otto wichtig. Der Verlag, der neben der Schule die zweite wesentliche Säule dieser Unternehmung ist, ist ein Selbstverlag; die Herausgabe der Zeitschrift kann nur über den Vertrieb der Bücher finanziert werden.1035 Schwieriger einzuschätzen ist aus heutiger Perspektive die Frage danach, welche Aspekte der Zeitschrift für die Rezipientinnen und Rezipienten genau anschlussfähig gewesen sein mögen. Auf der Ebene des Pädagogischen waren dies sicherlich der Titel und die thematische Ausrichtung der Inhalte. In einigen Briefen wird zudem die leicht verständliche Sprache erwähnt, die beispielsweise für Elise Richter auch einen für sie möglichen Zugang zu Politik bedeutet.1036 Für Wilhelm Frisch erhält Berthold Ottos Sprache gar die 1034

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Die Briefe sollen beschreiben, „was uns die Zeitschrift für unsere innere oder äußere Entwicklung bedeutet hat und bedeutet, sei es auf allgemein seelenkundlichem Gebiet, sei es in Unterricht oder Erziehung in Familie oder Schule, für bestimmte einzelne Kinder oder ganze Gruppen, sei es im Verständnis für Politik, sei es in der Schulung für die Mitarbeit an den großen wirtschaftlichen Aufgaben unserer Zeit, sei es in tieferem Verständnis für das deutsche Volkstum und seine Werdenot, sei es für die große Menschheitsaufgabe, die gerade unser Volk zu erfüllen hat, betreffe es den Faust oder die preußische Geschichte, Wilhelm II. oder die Bergpredigt.“ (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 573 Bl. 1) So zumindest Berthold Otto an Theodor Scheffer, 6.5.1927: „Nach den sorgfältigen Berechnungen meiner Tochter liegt die Sache so, dass bei den Kalkulationen niemals ein Pfennig Honorar für mich abgefallen ist und dass das ständige Defizit des Volksgeistes nur mühsam aus dem Bücherverkauf gedeckt wird.“ (Berthold Otto an Theodor Scheffer, 6.5.1927. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 495 Bl. 67) Die wirklichen finanziellen Details sind schwer rekonstruierbar. „Der Volksgeist ist mir all die Jahre eine sehr belehrende Zeitschrift gewesen. Als ich sie noch nicht kannte, war mir jede politische Unterhaltung unangenehm. Es fehlte mir das richtige Verständnis dafür. Durch den Volksgeist habe ich jedoch

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Funktion eines Erziehers.1037 Deutlich wird, dass die Zeitschrift eine zentrale Rolle für das Unternehmen Berthold Otto gespielt hat. Die in Kerners Band veröffentlichten Briefe lassen darauf schließen, dass der Hauslehrer ein starkes Identifikationsangebot darstellt, das auf verschiedenen Ebenen Anschlüsse ermöglicht: Diese können pädagogisch-inhaltlicher, sprachlicher oder gesellschaftspolitischer Art sein. Besonders auffällig sind die Verweise auf Veränderungen der eigenen Lebenssituation oder Lebensführung, die dem Kontakt zu Berthold Otto – sei es persönlich oder literarisch – zugeschrieben werden. Gerade diese beiden Sphären verweisen auf die gemeinschaftskonstituierende Wirkung, an der auch die religiöse Struktur deutlich wird. In der Zeitschrift ruft Berthold Otto diese durch bestimmte Formulierungen und Wendungen immer wieder auf, gleichzeitig wird sie durch das eigene Tun der Einzelnen immer wieder aufs Neue hergestellt und damit Bestandteil der eigenen Lebensführung. Dieses Zusammenspiel zeigt die beiden Ebenen der Gemeinschaftskonstitution: Sie ist sowohl symbolisch vermittelt, und zwar durch Berthold Otto, als auch individuell hergestellt – durch die je einzelnen Personen in ihrem Lebensumfeld.

3.6. Abwehr fremder Einflüsse. Der Schutz der eigenen Konzeption Berthold Otto hat im Laufe der Zeit viele Ressourcen durch Dritte erhalten, sei es in Form von Geld oder der Bereitstellung von wenig oder gar nicht bezahlter Arbeit. Ohne diese Subventionen wären der Erhalt der Schule und der Zeitschrift sowie seine schriftstellerische Tätigkeit kaum denkbar. Gleichzeitig wäre es Berthold Otto in einigen Situationen möglich gewesen, mehr oder leichter Unterstützung zu erhalten, wenn er bestimmte inhaltliche oder konzeptionelle Kompromisse eingegangen wäre. Die Auseinandersetzung mit diesen Situationen macht klar, dass sein primäres Ziel gerade

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großes Interesse an der Politik bekommen. Die Artikel sind mir viel klarer und verständlicher geschrieben als in den Tageszeitungen.“ (Richter in Kerner (1928): 45) „Wie Berthold Otto zu den Kindern spricht, so spricht er zu den Erwachsenen. Zwar passt sich seine Ausdrucksweise den reiferen Lesern an, denen er sich gegenüberstehend fühlt, aber auch hier dieselbe Klarheit, dieselbe Unbestechlichkeit, die innere Unmöglichkeit, an Stelle eines bis zu Ende gedachten Gedankens eine Redensart zu setzen. Ohne Rest versteht man was man liest, und doch sind es nicht sehr leichte, leicht verständliche Dinge, die er uns bringt, im Gegenteil, oft sind es die schwierigsten. Aber nie gibt Berthold Ottosche Sprechweise unbegründete Behauptungen, immer Beweise, die uns zum Nachdenken, zur Nachprüfung vorgelegt werden. Und endlich kann man es nicht lassen; man wird gezwungen, selbst zu denken, den Dingen auf den Grund zu gehen. – Berthold Ottos Sprache als Erzieher!“ (Frisch in Kerner (1928): 14)

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nicht in der Maximierung ökonomischer Erträge bestand, sondern sie ermöglichen es, ihn als einen Bewahrer der eigenen Lehre zu sehen. Im Folgenden werden drei verschiedene Fälle skizziert, die diese Struktur exemplarisch zeigen: Es handelt sich dabei zum einen um ein Angebot, aus der Schule ein Internat zu machen, dann um den Brief eines Schülervaters, der unter bestimmten Bedingungen Geld zur Verfügung stellen würde das Otto ausschlägt, sowie um die Frage nach der Prüfungsberechtigung.1038

3.6.1. Alternative I: Landerziehungsheim1039 Ende 1907 entsteht für die Hauslehrerschule eine bedrohliche Konstellation: Berthold Otto hat die mehrfache Aufforderung durch das Kultusministerium, über seine Schule Bericht zu erstatten, ignoriert, so dass zum 1.10.1907 deren Schließung verfügt wird.1040 Dass diese Schließung abgewendet wird, ist einer Initiative von Eltern und der Fürsprache einiger Gönnerinnen und Gönner1041 zu verdanken. Das Engagement der Eltern wird von einem Verlagsbuchhändler Franke aus Zehlendorf, dem Direktor der Bibliothek des Kgl. 1038 1039

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Diese Beispiele weisen z.T. über den der Arbeit zugrundeliegenden Zeitrahmen hinaus, um die Kontinuität dieser Handlungsstruktur sichtbar machen zu können. Mit dem Begriff „Landerziehungsheim“ ist nicht automatisch eine Schule im Sinne Lietz‘ gemeint, es gab diverse weitere Anstalten, die sich so nannten. Lietz versuchte, seine Schulen unter der Marke „Deutsche Landerziehungsheime“ (D.L.HE.) zu etablieren (vgl. bspw. Dudek (2013), der sich mit zwei Landerziehungsheimen im hessischen Hochwaldhausen befasst, der Dürerschule (1912-1920) und der Bergschule (1921-1927), die auch als Landerziehungsheime firmierten, aber nicht zu den D.L.E.H gehörten). Wothge (1955): 26f. Bei dem Bericht, der hier angefordert wurde, handelte es sich um eine Routineangelegenheit, was Hermann Rassow Berthold Otto in einem Brief vom 30.8.1907 schreibt: „Übrigens liegt nicht eine besondere Aktion gegen ihre Schule vor, sondern die Kgl. Regierung in P. ist 1906 aufgefordert worden, (vom Ministerium) über die Familienschulen in den Vororten zu berichten, und hat diesen Bericht, was Ihre Schule angeht, zum 1. Oktober zugesagt. Sie müssten also um Frist bitten, wenn die Sache nicht schnell erledigt wird, um nämlich alle Instanzen bis zum Ministerium rechtzeitig zu durchlaufen. Und das macht natürlich oben keinen guten Eindruck, wenn die Frist nicht eingehalten wird. So erklärt sich einiges doch etwas harmloser, als man annehmen musste, oder konnte.“ (Hermann Rassow an Berthold Otto, 30.8.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 480 Bl. 114) Unter anderem ist es Hermann Rassow, der seine Kontakte ins Ministerium nutzt, um Berthold Otto zu schützen. Er hat sich über einen anderen Ministerialbeamten an Schmidt-Ott gewandt und positive Rückmeldung erhalten, wie er Berthold Otto in seinem Brief vom 30.8.1907 schildert. (Hermann Rassow an Berthold Otto, 30.8.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 480 Bl. 114)

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Kunstgewerbemuseums Dr. Jessen, einem Justizrat Scheff und einem Verlagsbuchhändler Troschel initiiert. Dr. Jessen ist bereits im Vorfeld für Otto aktiv geworden, er scheint gute Verbindungen zu Ministerialrat Friedrich Schmidt-Ott1042 gehabt zu haben und sorgt über diesen Ende 1908 für eine schnelle Lösung eines der vielen finanziellen Engpässe im Hause Otto.1043 Er unterzeichnet mit den genannten und weiteren Eltern der Berthold-Otto-Schule einen von Franke geschriebenen Brief, der an die „Königliche Regierung Abteilung für Kirchen und Schulwesen, Potsdam“ gerichtet ist.1044 Das Schreiben ruft dabei mehrere Argumentationslinien auf, die belegen sollen, warum es in keinem Fall zu einer Schließung der Schule kommen darf. Zunächst werden die besondere Zusammensetzung der Schüler_innenschaft der Berthold-Otto-Schule und der positive pädagogische Umgang durch Berthold Otto herausgestellt: „Die Mehrzahl der Kinder, die wir Herrn Otto anvertraut haben, ist infolge von Krankheiten oder Schwächezuständen den Anstrengungen der öffentlichen Schulen nicht gewachsen gewesen und ist deshalb auf Privatunterricht angewiesen. Jeder einzelne von uns hat es als einen besonderen Glücksfall angesehen, für diesen notwendigen Individual-Unterricht einen Erzieher und Pädagogen von dem weitbekannten Rufe des Otto bereit zu finden. Wir haben an unseren Kindern, zum Teil anderthalb Jahr lang, beobachten können, wie heilsam und segensreich die Lehrweise des Herrn Otto auf alle, ganz besonders auch auf die schwächlich veranlagten, gewirkt hat.“1045

Die Notwendigkeit der Erhaltung der Otto’schen Schule wird von den besonderen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler abgleitet. Diese sind konstitutionell nicht in der Lage, eine öffentliche Schule zu besuchen. Berthold 1042

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Friedrich Schmidt-Ott (4.6.1860-28.4.1956) war ab 1888 Mitarbeiter von Friedrich Althoff im Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten. 1907 wurde er sein Nachfolger als Leiter der Unterrichtsabteilung im Rang eines Ministerialdirektors. Vom 6.8.1917 bis November 1918 war er Kultusminister in Preußen. Er gründete u.a. 1909 die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (die nach dem 2. Weltkrieg in die Max-Planck-Gesellschaft überging) und war Mitbegründer der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, deren erster Präsident er wurde. Zwischen ihm und Hermann Rassow bestand eine enge Verbindung (zum „System Althoff“ vgl. vom Brocke (1980) und (1991)). Wothge (1955): 25. Dr. Jessens Intervention führte dazu, dass Otto seine staatliche Beihilfe im Vorhinein erhalten hat. Von diesem Brief sind zwei Versionen – eine kürzere und eine längere – im Nachlass enthalten. Der kürzere Brief ist auf den 31.8.1907 datiert (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 206 Bl. 2-3), der längere trägt das Datum 30.8.1907 (DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 206 Bl. 4-6). Beide Briefe enthalten in weiten Teilen gleiche und sich ähnelnde Textteile. In der folgenden Darstellung unterscheide ich die beiden Versionen nicht, sondern zitiere die jeweils prägnanten Passagen. Franke u.a. Eltern an Königliche Regierung Abteilung für Kirchen und Schulwesen, Potsdam, 31.8.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 206 Bl. 2.

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Otto wird als „Glücksfall“ für diese Kinder gesehen, und die positive Erfahrung mit seiner Pädagogik ist – weil sie zu funktionieren scheint – hier ein zentrales Argument. Eine zweite angeführte Besonderheit, die Ottos Schule in den Augen der Eltern einer den öffentlichen Schulen überlegenen macht, ist ihre Organisationsstruktur. Durch die kleinen Klassen ist ein inhaltlich mindestens genauso gutes, wenn nicht besseres Bildungsangebot wie das der öffentlichen Schulen möglich, und die Schülerinnen und Schüler gehen freiwillig und sogar gern in die von Berthold Otto geleitete Schule: „Während es eine kaum geleugnete Tatsache ist, dass der weitaus grösste Teil der Schüler öffentlicher Lehranstalten die Schule nur als notwendiges Übel betrachtet und sich nur mit Widerwillen dorthin begibt, hängen sämtliche Schüler des Herrn Otto mit Leidenschaft an ihrem Lehrer und nehmen auf eigenen Wunsch auch an solchen Unterrichtsgegenständen teil, die nicht zu dem obligatorischen Mindestmaß gehören. So nehmen z.B. Mädchen, die früher beim Besuche öffentlicher Lehranstalten sich uninteressiert und lässig gezeigt haben, auf eigenen Wunsch auch am Unterricht im Lateinischen, Griechischen und der Mathematik teil, was weder Eltern noch Lehrer von ihnen verlangt haben. Also auch in geistiger Beziehung, soweit es sich um die Vermittlung von Kenntnissen handelt, steht die Otto’sche Schule hinter öffentlichen höheren nicht nur zurück, sondern übertrifft sie sogar. Dass auch der sittliche Einfluss der Schule ein weit besserer ist, als der einer öffentlichen Schule, in der der einzelne Schüler unter der großen Zahl sittlich kaum erzogen werden kann, ist von den Eltern der Otto’schen Schüler mit Freude und Genugtuung festgestellt worden.“1046

Hier werden zwei wesentliche Argumente dargestellt. Zum einen gehen die Kinder gern in die Schule, was offensichtlich als Zeichen für eine gute Pädagogik oder generell eine gute Schule gesehen wird. Neben den organisatorischen und inhaltlichen Aspekten hängt das auch mit Berthold Otto selber zusammen, von dem die Eltern wahrnehmen, dass die Kinder sehr an ihm hängen. Als zweites wesentliches Argument wird die sittliche Wirkung der Schule aufgerufen, deren Qualität durch die kleinen Klassen bzw. Gruppen wesentlich höher, ist als das in der öffentlichen Schule überhaupt möglich wäre. Sowohl durch die Person Berthold Otto als auch durch die pädagogischen und organisatorischen Besonderheiten wird die Schule zu einer besonders erhaltenswerten.

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Franke u.a. Eltern an Königliche Regierung, Abteilung für Kirchen und Schulwesen, Potsdam, 30.8.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 206 Bl. 5. Es scheint erwähnenswert, dass sich auch die Mädchen für Fächer wie Mathematik und alte Sprachen interessieren, vermutlich ist das der Tatsache geschuldet, dass sie es bei Berthold Otto einfach auch durften.

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Der Einsatz der Eltern ist letztlich erfolgreich: Die Schule wird nicht nur nicht geschlossen, sondern ab jetzt direkt dem Ministerium für geistliche und Unterrichtsangelegenheiten unterstellt.1047 Der bereits hier in Erscheinung tretende Verlagsbuchhändler Franke ist es dann auch, der Berthold Otto Anfang 1908 den Vorschlag macht, die Berthold-Otto-Schule im Stil eines Landerziehungsheimes zu führen. Berthold Otto berichtet Hermann Rassow davon in einem Brief: „Dann möchte ich gleich noch eine andere Angelegenheit mitteilen, die mir seit einigen Wochen stark im Kopf herum geht. Der Verlagsbuchhändler Franke, in Firma Fischer und Franke, der zwei Töchter bei mir hat und der auch die erste Eingabe an die Potsdamer Regierung entworfen hatte, machte mir den Vorschlag meine Anstalt in ein Internat zu verwandeln und nach einem Dorf ein wenig weiter hinaus, eine Station hinter Zossen, nach Wünzdorf zu verlegen. Er hat dort ein Grundstück zwischen Wald und See gekauft, von dem er 13 Morgen etwa für eine solche Anstalt verwenden wollte. (…) Ich sollte die Leitung der ganzen Sache in Händen behalten, freie Wohnung, 5000 Mark Gehalt und etwa ebenso viel Tantiemen erhalten und brauchte selber keine Pensionäre zu nehmen.“1048

Das Angebot, das Franke Berthold Otto macht, scheint verlockend. Wünsdorf, das ist der Ort um den es geht, liegt etwa 50 Kilometer von Lichterfelde entfernt. Hier könnte Berthold Otto bei einem garantierten Gehalt und zusätzlicher Gewinnbeteiligung ein Internat nach seinen Vorstellungen führen. Er hätte also ein berechenbares Einkommen und müsste nicht als selbständiger Unternehmer agieren. Otto hat das Gelände bereits in Augenschein genommen, und es gefällt ihm. Allerdings stehen für ihn seine Inhalte und die Vorstellung darüber, wie er diese weiterentwickeln möchte, im Widerspruch zu dem Vorschlag Frankes. Ottos Pädagogik baut zentral auf der familiären Erziehung auf, diese kann und soll in der Schule nur fortgesetzt werden. Dahinter stehen zwei Begründungen:1049 Zum einen die pädagogische Exzellenz der Mütter, zum anderen die Bedeutung des Lebensumfeldes, in das ein Kind sich hineinentwickelt und das ihm die Möglichkeit zur Entwicklung seiner „Weltanschauung“ gibt. Diese pädagogischen Bedenken hängen auch eng mit denen zusammen, die Otto im weiteren Verlauf des Briefes an Rassow formuliert. Wenn aus der Schule ein Internat würde, könnte Otto seinen Tätigkeiten als Publizist nicht mehr (oder zumindest nicht mehr in der bisherigen Form) nachgehen: 1047 1048 1049

Das entsprechende Schreiben findet sich im Nachlass: DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 206 Bl. 1. Berthold Otto an Hermann Rassow, 18.2.1908. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 480 Bl. 148. Für eine ausführliche Darstellung siehe Kapitel 2.

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„Ich betrachte meine Anstalt als Versuchsstation für alles, was auf diesem Gebiete zu leisten ist. Und grade darin liegt für mich der Hauptwert meiner Anstalt, garnicht in dem, was im Einzelfalle schon geleistet ist. (…) Und dann hoffe ich, wenn es mir gelingt, diese Anstalt in Lichterfelde zu halten und auszugestalten, dass dann Studenten im älteren Semester und Lehrerinnen, wie es ja schon wiederholt geschehen ist, eine Weile zu mir kommen, um diese Art des Unterrichtens durch eigene Betätigungen kennen zu lernen. Alles das würden wir verloren sehen, wenn ich mich auf die Übersiedelung nach Wünzdorf einliesse.“1050

Otto argumentiert hier damit, dass seine Schule ihm als Ort der Erhebung erfahrungswissenschaftlicher Tatsachen dient und dass sie deshalb in ihrer bestehenden Struktur nicht geändert werden dürfe. Er sieht in ihr einen Raum des Experimentes und einen Ort der Vermittlung seiner Erkenntnisse an potentielle Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Hier deuten sich auch schon einige inhaltliche Grundzüge dessen an, was er später in den „Einrichtungen der Zukunftsschule“ entwerfen wird. Ein weiterer Faktor ist, dass zu dieser Zeit seine eigenen Kinder bereits so groß sind, dass er mit ihnen keinen oder zumindest wenig unterrichtlichen Umgang hat, er also auf alternative Formen der Materialbeschaffung für den Hauslehrer angewiesen ist.1051 Der Hauslehrer aber ist, als Motor der Schulreform, für Berthold Otto im Verständnis seiner eigenen Arbeit die eigentliche zentrale Aufgabe: „Meine Hoffnung war ja immer, in absehbarer Zeit den Hauslehrer so hoch zu bringen, dass ich meine Tätigkeit der Schule unentgeltlich zur Verfügung stellen könnte. Das wäre die eigentlich sinngemässe Organisation: Der Hauslehrer als Organ der Bestrebungen, doch auch die unmittelbare Anschauung davon, wie es gemacht werden kann, wie es wenigstens im Familienkreise gemacht werden kann, überall hinträgt, so weit die deutsche Zunge klingt und dann die wirkliche, auch schulmässige Ausführung im Einzelnen, aber im engen Anschluss an den Hauslehrer.“1052

Die Schule, die Otto als „Versuchsstation“ und damit als Experimentalraum klassifiziert, dient der Erprobung und Weiterentwicklung seiner pädagogischen Theorie in der Praxis und damit auch dem Nachweis ihrer Richtigkeit. Beide Bereiche sind eng miteinander verzahnt: Sie fallen gewissermaßen in Berthold Otto als Person zusammen. Er stellt die Theorie auf, erprobt die Praxis, wertet diese aus und modifiziert die Theorie.1053 Für ihn wiegt die 1050 1051 1052 1053

Berthold Otto an Hermann Rassow, 18.2.1908. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 480 Bl. 149. Irmgard ist zu dieser Zeit 15 Jahre alt, die jüngste Tochter Helga just geboren. Berthold Otto an Hermann Rassow, 18.2.1908. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 480 Bl. 149. Dieses Verhältnis von Theorie und Praxis entspricht auch seinem Selbstverständnis. In einem programmatischen Artikel mit dem Titel „Zehn Jahre Hauslehrerbestrebungen“, der 1908 im Hauslehrer erscheint, schreibt Otto dazu: „Bei mir gibt es

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Option, seine eigenen Gedanken publizistisch zu verbreiten (und zwar überall dahin, „so weit die deutsche Zunge klingt“) mehr, als einen Kompromiss in Bezug auf die Schulform einzugehen, selbst wenn dieser mit einer wesentlich risikoärmeren Finanzstruktur einherginge. Er wäre in dieser Unternehmenskonstellation zwar „frei in der Ausübung“, aber eben nicht „Herr“ seiner Schule, sondern ein angestellter pädagogischer Leiter. Seine Einsprüche gegen diese Konstruktion verweisen darauf, dass sein Selbstverständnis eher das eines „Handwerksmeisters“ denn das eines kapitalistischen Unternehmers ist. Der individuelle Nutzen liegt nicht in der maximalen Abschöpfung monetärer Gewinne, sondern in der Verbesserung des Pädagogischen und der möglichst umfangreichen Popularität seiner Ideen.1054 Otto geht davon aus, dass er eines Tages durch den Hauslehrer so viele Einnahmen generieren kann, dass die Schule dann keinen finanziellen Beitrag mehr zum Familienbudget erwirtschaften muss.1055 Diese Hoffnung hat sich nie erfüllt.

3.6.2. Alternative II: Annäherung an das öffentliche Schulsystem 1921 ist die finanzielle Situation der Schule weiterhin angespannt. In einer ähnlichen Konstellation wie der bereits für 1907/1908 dargestellten erhält Berthold Otto einen Brief von Prof. Louis Jacobsohn-Lask,1056 dessen vier Kinder die Berthold-Otto-Schule besuchen und der zu dieser Zeit auch Vorsitzender einer Elternversammlung ist.1057 Hier ist der Situationskontext schwieriger zu erhellen, es gab aber auch hier im Vorfeld Interventionen sei-

1054

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überall keinen Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Ich habe niemals ein pädagogisches Theorem eher endgültig formuliert, als bis ich es in der Praxis erprobt hatte.“ (Otto (HL 1908a): 14) Das entspricht im Übrigen auch Ottos ökonomischer Vorstellung, die eine Mischung aus Arbeitsgesellschaft und Planwirtschaft darstellt und über den Begriff des „Volksorganismus“ zusammengehalten wird. Diese Vorstellungen finden sich auch in der „Denkschrift über die Hauslehrerbestrebungen“ wieder (vgl. dazu das Kapitel 3.1.). Nicht umsonst tragen die „Bestrebungen“ den Namen der Zeitschrift. Louis Jacobsohn-Lask (2.3.1863-17.5.1940) war ein deutscher Neurologe und Neuroanatom. 1901 heiratete er die Schriftstellerin Berta Lask (17.11.1878-28.3.1967). Die vier Kinder waren Schüler der Berthold-Otto-Schule, der Sohn Ludwig Lask (1903-1973) war 1919/1920 Oberrichter des Schülergerichts. Berta Lask schrieb auch Geschichten für die „Beilage in Altersmundart“ des Hauslehrers (bspw. die Beilagen zu den Nummern 7-10 des 11. Jahrgangs). Ob es sich dabei um ein formales Gremium an der Schule oder um einen Zusammenschluss interessierter/engagierter Eltern handelt, ist nicht zu eruieren; anzunehmen ist Letzteres.

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tens einiger Eltern beim Ministerium für die Berthold-Otto-Schule. Der ausführliche Brief, der auf den 12.9.1921 datiert ist, dokumentiert die Schwierigkeiten, die Louis Jacobsohn-Lask als engagierter Vater und damit als „Insider“, welcher der Schule dennoch zugetan ist, sieht.

Abbildung 10: Prof. L. Jacobsohn mit seinen Söhnen Ludwig (Lutz), Hermann und Ernst, 1058

1916.

Er stellt zunächst zwei große Themenkomplexe ins Zentrum seiner Ausführungen: Die unstete Personalsituation an der Berthold-Otto-Schule und die zu wenig curricular fixierten Inhalte; beides führe zu einer „gewissen Oberflächlichkeit und Lückenhaftigkeit der Ausbildung der Schüler.“1059 Er schreibt: „Ihre Schule würde die Idealschule sein, wenn sie viele solche Lehrkräfte hätte wie Sie selbst eine sind und wenn das Leben uns Menschen nicht so ausserordentliche An1058 1059

DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT FOTO 1084. Louis Jacobsohn-Lask an Berthold Otto, 12.9.1921. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 578 Bl. 45.

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forderungen und zwar schon recht frühzeitig stellte. Diese Lehrkräfte hat sie aber nicht einmal aus inneren Gründen, weil solche Menschenkräfte nur dünn gesät sind, und zweitens aus äusseren Gründen, weil eben die Geldmittel fehlen, um sie anzustellen und dauernd festzuhalten. Auf den anderen Schulen sind diese Lehrkräfte auch sehr spärlich, aber diejenigen, die dort sind, sind einigermassen ständig, so dass die Fortbildung, so viele Mängel sie auch in ihrer Art hat, doch auch eine kontinuierlich fortlaufende ist. Auf Ihrer Schule aber ist ein Teil der Lehrkräfte nicht nur ganz unzureichend, sondern, was vielleicht noch schwerwiegender ist, fortdauernd wechselnd. Es sind meist ganz jugendliche Menschen, die sowohl pädagogisch als auch fachwissenschaftlich ungenügend befähigt oder ausgebildet sind, und die in der unbeschränkten Freiheit, die ihnen gelassen wird, darauf los unterrichten. Das Resultat, das sie erzielen, ist dann auch dementsprechend mehr als dürftig. (…) Bei der Vorzüglichkeit des Lehrsystems, das ich bewundere, ist dieser Mangel doch von ausserordentlichem Schwergewicht. Die Ausbildung der Schüler bleibt dadurch nicht nur lückenhaft, sondern sie wird auch über Gebühr hinaus verzögert.“1060

Das Problem, das Louis Jacobsohn-Lask beschreibt, ist, dass die Lehrerinnen und Lehrer an der Schule zum einen zu jung und meist nicht gut ausgebildet sind und zum anderen zu häufige Wechsel stattfinden. Geschuldet ist dies sowohl der Tatsache, dass es generell nicht besonders viele für den Beruf der Lehrerin oder des Lehrers begabte Menschen gibt, als auch dem Umstand, dass es die finanziellen Mittel nicht erlauben, gutes Lehrpersonal „dauernd festzuhalten“. Da es auch keine curricularen Vorgaben gibt, wird einfach „darauf los“ unterrichtet, was zusammengenommen zu einer unzureichenden Ausbildungssituation führt. Damit weist er auf ein Problem hin, das viele Reformschulen, die nicht öffentlich finanziert waren, hatten: Die Gehälter, die dort gezahlt wurden, lagen meist weit unter denen, die in einer öffentlichen Anstellung zu verdienen waren, die Differenz sollte wohl, das ist zu vermuten, mit pädagogischem Idealismus verrechnet werden.1061 So heißt es in einem Aufruf des Berthold-Otto-Vereins, der zusammen mit unterstützenden Eltern in den 1920er Jahren an das Ministerium gesandt wurde, dass die dürftigen finanziellen Mittel „die Anstellung von nur wenigen Lehrkräften zu[lassen], die trotz kärglichen Gehalts aus heiliger Liebe zur Sache sich aufopferungsvoll dem schweren Berufe hingeben.“1062 1060 1061

1062

Louis Jacobsohn-Lask an Berthold Otto, 12.9.1921. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 578 Bl. 47. Ein Beispiel für eine solche Situation ist die von Fritz Meyer, der noch als Student für ein Stipendium in Höhe von 130 M/Monat in der Berthold-Otto-Schule nach wenigen Wochen praktischer Tätigkeit bereits einen Lehrer, der gekündigt hatte, ersetzt (vgl. Kapitel 3.3.). Für Beispiele aus den Landerziehungsheimen vgl. Oelkers (2011): 160f. und 168f. Aufruf des Berthold-Otto-Vereins, 1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 47.

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Zu dieser eigentlich schon sehr umfangreichen Kritik fügt Jacobsohn-Lask nun noch einen zweiten Aspekt hinzu, der für ihn den eigentlichen Erfolg der Berthold-Otto-Schule erheblich verringert. Dieser trifft nun den Kern der Otto-Pädagogik, nämlich die Annahme, dass der kindliche Geist frei wachsen muss, um sich positiv zu entwickeln. Genau diese Freiheit scheint dem Vater aber problematisch: „Die Menschen können im Durchschnitt unbeschränkte Freiheit gar nicht vertragen und je jugendlicher ein Mensch ist, um so weniger kann er es. Man muss einen recht grossen Schatz von Erfahrung, von Wissen und Werten in sich haben, um, wenn einem nicht Aufgaben von anderen zur Ausführung gegeben sind, sich selbst ständig Aufgaben zu stellen und ausführen zu können. Der Jugendliche ist sicher dazu nicht imstande. Er braucht dazu einen oder mehrere Führer. Ist alles seiner Wahl, seiner Entscheidung, seiner Willkür überlassen, so schwankt er hin und her, weiss zu oft nicht, was er beginnen soll, wird launisch und missmutig, ohne sich über den Grund seiner Launenhaftigkeit klar zu werden. Er erträgt besser eine Aufgabe, die ihm nicht liegt, zu deren Bewältigung ein gewisser äusserer Zwang erforderlich ist, als gar keine Aufgabe, weil er selbst oft genug nicht seine Zeit so auszufüllen versteht, dass er befriedigt ist und dass er das Gefühl hat, eine nützliche Leistung vollbracht zu haben. Wird dem nicht im Elternhause entgegengewirkt, so tritt ein Zustand von kindlicher Verlodderung und Nervosität ein, die ihre Ursache in der falschen Einschätzung einer Selbständigkeit hat, die der Jugendliche nicht besitzt. Ebenso wie im Elternhause eine solche Verloddderung erzeugt werden kann, so auch in der Schule, wenn es dem Schüler ganz überlassen bleibt, ob er an Aufgaben sich beteiligen oder nicht beteiligen will, ob er sie ganz oder teilweise ausführt, ob er sich zuhause damit weiter beschäftigt oder nicht. Es tritt eine dauernde spielende Beschäftigung mit den Ausbildungsfächern ein und ein fester und einigermassen stetiger Fortschritt im Erwerben des Wissens ist sehr erschwert.“1063

Diese Kritik ist durchaus erstaunlich, wenn sie von einem Vater mit immerhin vier Kindern in der Berthold-Otto-Schule geäußert wird, da die Freiheit der Entwicklung ja gerade eine der zentralen Prämissen Ottos im Umgang mit Kindern darstellt. Für Jacobsohn-Lask scheint sie allemal eine Überforderung der Jugendlichen darzustellen, die zu der bereits genannten „Lückenhaftigkeit“ der Ausbildung beiträgt, die deshalb problematisch ist, weil das Leben nach der Schule an die Jugendlichen Anforderungen stellt, für die sie bei Otto nicht (genügend) vorbereitet werden. Und er schreibt weiter: „Die raue Wirklichkeit lässt es nicht zu, dass man die Dinge so lange ruhig gehen lässt, dass man abwartet, auch wenn es noch so lange dauert. Die Mehrzahl der Menschen muss nach dem 14-15ten Lebensjahr in einen Beruf. Dann sollen sie aber schon vorgebildet dazu sein; das würden aber die wenigsten sein, wenn man sie auf den anderen Schule auch so gehen liesse wie auf der Ottoschule. Wenn also unser Wirt1063

Louis Jacobsohn-Lask an Berthold Otto, 12.9.1921. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 578 Bl. 45.

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schaftsleben nicht eine wesentliche Änderung erfährt, dann wird auch die alte Schule nur Verbesserungen im Sinne von Berthold Otto erfahren können und annehmen, wird aber auf Ausübung eines gewissen Zwanges, auf systematische Einteilung des Wissensstoffes nicht verzichten.“1064

Das in seinen Augen zentrale Argument ist also: Bei gegebenen Verhältnissen kann es zwar zu einer Veränderung und durchaus auch einer Verbesserung der bestehenden „alten“ Schule kommen, aber sie wird sich der Notwendigkeit eines systematischen, verpflichtenden Curriculums nicht entziehen können. Eine völlige Umgestaltung des bisherigen Schulwesens ist nicht möglich, lediglich eine Veränderung, und zwar, weil die „alte“ Schule auch auf die Anforderungen des „Wirtschaftslebens“ eingestellt sein muss. Ottos Pädagogik stellt in der Tat auf eine andere gesellschaftliche Ordnung als die bisherige ab. Für ihn sind Pädagogik und Gesellschaftsorganisation nur Aspekte eines gleichen Grundmodells, dessen Einführung oder Etablierung zu besseren Lebensbedingungen führt. Dieses Grundmodell, also das volksorganische Denken, sieht Otto in seiner Schule umgesetzt, und er geht davon aus, dass ausgehend von der Schule eine Diffusion seiner Ideen und die entsprechenden Umgestaltungen der Gesellschaft möglich werden. Diese formulierte Kritik kann, und das legt der Schluss des Briefes auch nahe, als ein Versuch zur Hilfestellung verstanden werden: „Sie haben einen Brief meiner Schwägerin Helene Lask wohl erhalten, in welchem sie der Schule 10000 M zur Aufbesserung der Lehrergehälter überweist. Ich bin gern bereit, schon aus Dankbarkeit für alles das, was meine Kinder von der Schule hatten, den gleichen Betrag der Schule zuzuführen, aber nur dann, wenn eine ansehnliche jährliche staatliche Unterstützung gesichert ist. Denn ich glaube, dass es sonst nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, der unnütz vertan wird. Die ständige ausgiebige staatliche Unterstützung wird aber nur zu erzielen sein, wenn die Schule sich bis zu einen gewissen Grade in das allgemeine Schulsystem einpassen lässt. Jetzt, verehrter Herr Otto, so lange Sie noch leben und wirken, lässt sich vielleicht, wenn man nicht radikal auf seinen Forderungen bestehen bleibt, etwas erreichen, was als dauernder Erwerb für die Schule zu gewinnen ist, bleibt dieser Augenblick ungenutzt, dann werden später vielleicht nur ein paar winzige Splitter gerettet.“1065

Anders als seine Schwägerin Helene Lask1066, ist Louis Jacobsohn-Lask nur unter der Bedingung, dass die Schule eine staatliche Unterstützung nachwei1064 1065 1066

Louis Jacobsohn-Lask an Berthold Otto, 12.9.1921. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 578 Bl. 46. Louis Jacobsohn-Lask an Berthold Otto, 12.9.1921. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 78 Bl. 47. Helene Lask (1877-1942) war die ältere Schwester von Berta Lask und leitete, obwohl sie eigentlich Lehrerin war, zusammen mit ihrem Cousin Erhard Cohr die im

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sen kann, bereit, ihr Geld zur Verfügung zu stellen. Das begründet er damit, dass er das Geld nachhaltig investiert sehen will, und da er um die finanziellen Verhältnisse weiß, sieht er diese Nachhaltigkeit erst in dem Moment gegeben, in dem die Schule so verändert wird, dass sie direkte staatliche Fördergelder bekommt. Gleichzeitig appelliert er an Berthold Otto, sich diesem Problem jetzt zu stellen und damit das Gute der Schule zu sichern, auch wenn dafür Kompromisse gemacht werden müssen. Die entsprechende dauerhafte staatliche Förderung ist niemals zustande gekommen. Eine Annäherung an die „alte“ Schule kann bereits aus publizistischen, aber auch aus inhaltlichen Gründen, nicht das Interesse Berthold Ottos sein, denn gerade diese dient ihm als Kontrastfolie, von der er sich absetzt. Das zeigt sich besonders gut bei seiner Auseinandersetzung nach der Frage der Prüfungsberechtigung, die seine Schule zu seinen Lebzeiten nie bekommen hat.

3.6.3. Die Prüfungsproblematik Das folgende Beispiel besitzt eine andere Struktur als die beiden vorherigen, in denen konkrete Unterstützungsangebote durch Eltern im Vordergrund stehen. Berthold Otto versucht immer wieder, für seine Schule die Erlaubnis zu erhalten, offiziell anerkannte Abschlussprüfungen abnehmen zu dürfen, was ihm Zeit seines Lebens nicht gelingen wird. Dies liegt darin begründet, dass Berthold Otto sich ausdrücklich gegen die bestehende Form von Prüfungen wendet und diesen ein eigenes Prüfungsmodell entgegensetzt, das auf zwei zentralen Begründungsfiguren beruht. Erstens: Das herkömmliche Modell geht von falschen anthropologischen Grundannahmen aus, was unweigerlich zu falschen pädagogischen Annahmen und Handlungsweisen führt – also eine anthropologisch fundierte Argumentation. Zweitens ergeben sich durch die herkömmliche Prüfungspraxis Strukturen, die es für Schülerinnen und Schüler attraktiv machen können, zu betrügen – hierbei handelt es sich also um ein ethisches Problem. Um aber Schülerinnen und Schülern möglichst lange den Besuch der Berthold-Otto-Schule zu ermöglichen, werden Vorbereitungskurse angeboten. Dazu heißt es im Schulprospekt von 1908: „Da die Berthold-Otto-Schule bisher nicht die Berechtigung hat, ein Reifezeugnis zu erteilen, da sie die bisher allein übliche Form der Prüfungen grundsätzlich ablehnt und nur die von ihr vorgeschlagene ‚Beobachtungsprüfung‘ anerkennt, werden für die Schüler, die das Abiturexamen machen wollen, Vorbereitungskurse eingerichtet, die auf den Lehrplan der öffentlichen Anstalten Rücksicht nehmen. Die beabsichtigte Familienbesitz befindliche Rohpappe-Fabrik; sie galten als soziale Arbeitgeber (Eisenberg (2005): 41). Sie starb vermutlich 1942 in einem KZ in Riga (ebd.: 291).

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Umschulung ist im Interesse der betreffenden Schüler mindestens zwei Jahre vorher anzukündigen. Eine Sondervorbereitung erfolgt grundsätzlich nur für die Oberstufe.“1067

Über diese Beobachtungsprüfung schreibt Berthold Otto: „Diese Beobachtungsprüfung bestände einfach darin, daß der Direktor und etwa zwei Lehrer von Hauptfächern bekunden, daß der Schüler die Reife für das Universitätsstudium habe, und diese Bekundung mehr oder weniger begründen.“1068

Berthold Otto kritisiert grundsätzlich die Idee, dass man Schülern etwas beibringen könne.1069 Entsprechend kann auch keine Prüfung existieren, mit der Beigebrachtes geprüft werden kann. Die bisherige Form der Prüfungen ist für Berthold Otto ein ethisches Problem, das in seiner Diktion der „Psychologie der Beibringschulen“ geschuldet ist. Das grundsätzliche Dilemma dieser Beibringschulen ist, dass sie Kultur als etwas verstehen, das dem Menschen äußerlich ist und sich in „Büchern, Handschriften und Kunstwerke(n)“1070 findet. „In den Büchern“, schreibt Otto weiter, „sind alle richtigen Meinungen aufgestapelt, ohne Einblick in die Bücher zu denken, ist eine Unverschämtheit, die am Schüler unter keinen Umständen geduldet werden darf. Erst hat er zu lernen, was im Buche steht. Erst wenn er eine ganz gehörige Menge davon auswendig gelernt hat, darf er vielleicht wagen, hier und da selbst etwas zu denken.“1071

Aus dieser Rekonstruktion der schulischen Praxis seiner Zeit entwickelt Berthold Otto seine Kritik am üblichen Examenswesen: Die Beibringschule, deren unterrichtliche Praxis im Auswendiglernen besteht, schafft für Schülerinnen und Schüler in Prüfungssituationen, in denen dieses auswendiggelernte Wissen überprüft wird, einen Anreiz zum Betrügen. „Jede Schulbetrügerei (… ) entspricht genau der strafrechtlichen Definition des Betrugs. Der erstrebte ‚Vermögensvorteil‘ ist Schulgeld und Unterhalt für ein Lebensjahr.“1072 Dieser Anreiz kann dabei nicht den Einzelpersonen zugeschrieben werden, sondern ist ein systemisches Problem: „Ich meine doch, jede Schulklasse, in der regelmäßig Schulbetrügereien vorkommen, ist sittlich stark gefährdet. Beteiligt sich mehr als die Hälfte der Schüler daran, dann darf man doch wohl von Verseuchung reden, und das kommt unzweifelhaft auf Rech1067 1068 1069

1070 1071 1072

Otto (1908/2008): 143. Otto (1929/2008): 127. Zwar ist es unter Zwang möglich, dass Kinder etwas auswendig lernen, für Otto ist damit aber keine Entwicklung, wie er sie sich in seinem Bildungskonzept denkt, verbunden. Aufgezwungenes bleibt der Schülerin oder dem Schüler notwendigerweise äußerlich und ist somit hinderlich und nicht förderlich. Otto (1929/2008): 126. Otto (1929/2008): 126f. Otto (1929/2008): 127.

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nung des Beibringungszwangs, dem die Lehrer in der Beibringschule widerstandslos unterworfen sind.“1073 Diese Argumentation ist eine, die von anreizkompatiblem Verhalten des einzelnen Akteurs ausgeht, das in der Logik dieser Form der Examina und den dahinter liegenden Prämissen des Kulturerwerbs begründet ist. Damit ist nicht ausgesagt, dass alle Schülerinnen und Schüler betrügen, sondern lediglich, dass es hohe Anreize dafür gibt.1074 Otto schreibt nicht den Prüflingen (oder den Lehrerinnen und Lehrern), sondern der Konstellation, die durch den „Beibringungszwang“ gegeben ist, das Problem zu. Diese Rekonstruktion1075 nun bildet den Ausgangspunkt für Ottos eigene Prüfungsvorstellung. In der hier geschilderten Konstellation gibt es dazu, etwas vereinfacht ausgedrückt, zwei mögliche Strategien: Entweder, es wird im gegebenen System etwas geändert – zum Beispiel wird der Anreiz für das Betrügen durch hohe Sanktionen unattraktiver gemacht –, oder die Anreizkonstellation wird so geändert, dass es keine positiven Anreize für Betrug gibt. Diesen zweiten Weg wählt Berthold Otto in einem zweischrittigen Vorgehen: Zunächst ändert er die zugrundeliegende Prämisse für (schul-)pädagogische Praxis, indem er Kultur als etwas versteht, das dem Menschen eben gerade nicht äußerlich ist, sondern „in das der Mensch hineingeboren wird“1076 und das er sich durch seinen Entwicklungsgang zu1073 1074

1075

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Otto (1929/2008): 127 (Hervorhebungen von mir, KK). Der springende Punkt dabei ist, dass die Schülerinnen und Schüler sich natürlich gegen Prüfungsbetrug entscheiden können. Entsteht allerdings eine Situation, in der Prüfungsbetrug begangen wird, setzt sich eine klassische Abwärtsspirale in Gang, in der sich die Schülerinnen und Schüler, die nicht betrügen, schlechter stellen. Dieses Denkmodell ist eine modifizierte Variante einer aus der Ökonomik stammenden Argumentationsfigur, wie sie unter anderem von Ingo Pies vertreten wird (vgl. beispielsweise: Beckmann/Pies (2006)). „Ist Goethe, ist Kant durch Lektüre allein der Mann geworden, der jeder von ihnen gewesen ist? Halten wirs nicht für wahrscheinlicher, daß in ihnen von Geburt, ja von der Zeugung an irgendetwas gesteckt hat, was sie zu außerordentlichen Leistungen befähigte? Ist also damit nicht bewiesen, daß gerade die bedeutendsten Leistungen unserer Überzeugung nach aus angeborenen Eigenschaften hervorgehen können? Wenn wir aber diese Gedanken für einige Fälle nicht ablehnen können, wie können wir dann nach den jetzt allgemein herrschenden biologischen Vorstellungen leugnen, daß es bei Zeugung und Geburt überall mehr oder minder so zugehen muss? Liegt dann nicht der Gedanke sehr nahe, daß aller Kulturfortschritt in dieser Weise erfolgt? Daß die Eltern ererbte und von ihnen weiter entwickelte Eigenschaften schon in dieser weiteren Entwicklung auf die Kinder weiter vererben, so daß deren Entwicklung schon auf einer etwas höheren Stufe beginnt? Gewiß ist die Meinung paradox; die meisten halten den neugeborenen Geist für ein unbeschriebenes Blatt, auf dem dann die ganze Kultur einzutragen ist. Dem stellen wir die Überzeugung gegenüber, daß in der neugeborenen Generation die nächste Kulturstufe mitgeboren ist und daß alles, was von Zeugnissen früherer Kultur vorhanden ist, nur als Hilfs-

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sätzlich aneignet. Diese Vorstellung buchstabiert Otto an unterschiedlichen Stellen seines Werkes aus, zusammengefasst bedeutet sie in der pädagogischen Konsequenz, dass Kinder sich im Laufe ihrer Entwicklung die sie umgebende Welt und damit auch die Kultur zu eigen machen, wenn sie dabei nicht von pädagogisch falscher Einflussnahme gestört werden. Die einzige pädagogische Aufgabe, die Berthold Ottos Pädagogik kennt, ist, die Kinder in ihrer Entwicklung zu befördern, und das bedeutet: Die Inhalte, mit denen sich Kinder zu einer gegebenen Zeit auseinandersetzen, sind Anlass und inhaltliche Maxime pädagogischer Intervention. Ein Begriff, der aus einem Buch auswendig gelernt werden muss, wird zum Scheinbegriff, der das Denken und die Entwicklung stört und nicht befördert,1077 weil er dem Menschen in Ottos Vorstellung „äußerlich“ bleiben muss. Indem Otto also einen dem „herkömmlichen“ diametral entgegenstehenden Kulturbegriff entwickelt, kann er auch die bisherige Form schulischen Lernens und Prüfens umfassend substantiell kritisieren. In Ottos Vorstellung ist das Kind Teil der „Kulturwelt“ und wächst gleichsam in diese hinein, indem es sich mit ihr auseinandersetzt und sich so einen inneren Begriffsapparat und eine eigene Weltanschauung dieser Kulturwelt herstellt. Diese Vorstellung ist auf den ersten Blick eine vollkommen individualistische, was Otto auch oft Zuordnungen zu pädagogischen Strömungen wie der „Individualpädagogik“ oder „Persönlichkeitspädagogik“ eingebracht hat. Wer das tut, vergisst, dass hinter dieser Vorstellung ein komplex gedachtes Verhältnis des „Einzelgeistes“ und des „Volksgeistes“ steht, das zu einer Art Aufhebung des Einzelnen im Gesamten führt, ohne aber die jeweiligen Eigenheiten zu negieren.1078 Diese Entwicklungsvorstellung führt dazu, dass es keinen Lehrplan und keinen curricularen Kanon geben kann, und entsprechend kann es auch keine Examen geben, die ein spezifisches Wissen mehrerer Schülerinnen und Schüler in einen Vergleich setzen, da dies die Vorstellung der jeweiligen Eigenentwicklung konterkarieren würde. So, wie Otto der gängigen Schulpraxis also die Verantwortung für (potentielles) Betrügen als Strukturproblem zurechnet, so kann er seine eigenen Vorstellungen von Examina an seine pädagogische Praxis, die auf der dargestellten Neufassung des Kulturbegriffes beruht, zurückbinden: „Meine Schule beweist, daß an jeder Beobachtungsschule der Betrug, den der Schüler sich dem Lehrer gegenüber zuschulden kommen ließe, überhaupt nicht vorkommt, einfach aus dem Grunde, weil keine Gelegenheit dazu ist.“1079 Anders formuliert bedeutet das, dass Otto

1077 1078 1079

mittel dient, dessen sich die neugeborene Generation zur Erfüllung ihrer Aufgabe bedient.“ (Otto (1929/2008):199; vgl. auch Otto (1929/2008): 126) Vgl. dazu die ausführliche Darstellung im Kapitel 2. Vgl. dazu ausführlich Schnücker (1990): 62ff. Otto (1929/2008): 127.

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eine andere entwicklungstheoretische Vorstellung entwirft, die zu einer schulischen Praxis führt, in der es für die Schülerinnen und Schüler eben gerade nicht anreizkompatibel ist, zu betrügen, weil es durch die Unmöglichkeit vergleichender Prüfungsmodi keine Gelegenheiten dazu gibt. Die Neugestaltung der Prüfungspraxis wird damit zu einem zentralen Bestandteil der Pädagogik Berthold Ottos, und das wiederum könnte ein Teil einer Erklärung sein, warum er sich weigert, in diesem Punkt Kompromisse zu schließen, die ihm unter Umständen eine Prüfungsberechtigung und damit eine höhere Attraktivität auf dem Markt, auf dem er seine finanziellen Ressourcen generiert, eingebracht hätte. Entsprechend gibt es immer wieder Aktivitäten, mit denen versucht wird, eine Prüfungsberechtigung für die Schule zu erhalten. Beispiele sind ein Aufruf des Berthold-Otto-Vereins aus dem Jahr 1919, mit dem Unterschriften zu genau diesem Zweck gesammelt werden sollten, und ein Brief von Berthold Otto vom 27.5.1919 an den preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung,1080 in dem er ausführlich für die Notwendigkeit der Erteilung der Prüfungsberechtigung für seine Schule und auch eine finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand argumentiert. Der Vereinsaufruf beinhaltet zwei wesentliche Ziele, für die Unterschriften gesammelt werden sollen: zum einen eine verlässliche und solide staatliche Unterstützung der Schule, zum anderen die Prüfungserlaubnis. Dieser Aufruf ist insofern bemerkenswert, als er von vorneherein die Berthold-Otto-Schule als bereits existierendes Beispiel für die aktuellen schulpolitischen Pläne einordnet: „Alles, was die gegenwärtige Regierung an Schulreformen für alle Schulen einführen will, und noch weit mehr, besteht an dieser Schule schon seit dem Tage ihrer Gründung.“1081 Damit hätte die Schule eigentlich den Charakter als Musterschule, was sie aber bisher nicht sein kann, da sie keine eigenen Abschlussprüfungen abnehmen darf. Das und die bisher zu geringe Unterstützung durch die öffentliche Hand hätten also dazu geführt, dass ein, in der Darstellung der Autorinnen und Autoren des Textes, äußerst erfolgversprechender und progressiver Schulversuch nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit (und nicht genug zahlende Schülerinnen und Schüler) erhält. Dass die Schule die Berechtigung erhalten soll, Abschlusszeugnisse zu erteilen, wird in dem Aufruf zum einen mit dem Wohl der Schülerinnen und

1080 1081

Zu dieser Zeit war Konrad Haenisch (13.3.1876-28.4.1925), SPD, preußischer Wissenschaftsminister. Aufruf des Berthold-Otto-Vereins, 1919. DIPF/BBF/Archiv Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 47.

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Schüler, zum anderen mit der notwendigen Verbesserung der Stellung der Schule begründet: „Die Schüler der Schule litten nun bisher darunter, dass sie nicht bis zu ihrer vollkommenen Ausbildung auf ihr bleiben konnten, weil die Schule weder das Privileg hatte, Zeugnisse für den Einjährig-freiwilligen Militärdienst, noch zum regulären Studium an der Universität zu erteilen. Viele Eltern in Besorgnis über das weitere Fortkommen ihrer Kinder nach beiden Richtungen hin, nahmen ihre Kinder gewöhnlich in einem ganz unfertigen Bildungszustande von der Berthold-Otto-Schule fort, um sie nach verschieden langer Vorbereitung in die anderen Schulen einzuführen.“1082

Das erste Problem besteht also darin, dass Schülerinnen und Schüler nicht ihre gesamte Schulzeit in der Berthold-Otto-Schule verbringen können, sondern, um einen anerkannten Abschluss erreichen zu können, vorzeitig die Schule verlassen müssen,1083 um dann eine andere Schule zu besuchen. Da keine andere Schule in der gleichen Weise wie die von Otto arbeitet, bedeutet das mindestens einen Bruch, wenn nicht sogar etwas Negatives, da sich die Schülerinnen und Schüler an eine andere Schule gewöhnen müssen und sie in einem „unfertigen Bildungszustande“ verbleiben.1084 Das zweite aufgerufene Problem ist, dass die Schule durch die Unmöglichkeit, Prüfungen abzunehmen, nicht zu ihrer vollen (gesellschaftsnützlichen) Leistungsfähigkeit gelangen konnte: „Dadurch konnte die Berthold-Otto-Schule sich nicht so entfalten, wie es zum Nutzen der Allgemeinheit wünschenswert gewesen wäre. Denn sie hätte eine Musteranstalt sein können, die schon frühzeitig und ausgiebig einen nachhaltigen Einfluss auf die anderen Schulen ausgeübt hätte. So aber musste sie ein kümmerliches verborgenes Dasein führen, das nur Einzelnen bekannt war.“1085

Hier wird deutlich, dass der Berthold-Otto-Verein die Zielsetzungen, die Berthold Otto selber angegeben hat, teilt: Die notwendige Schulreform muss befördert werden und das probate Mittel dazu ist, die Berthold-Otto-Schule zu dem werden zu lassen, was sie ist, nämlich die „Musteranstalt“, die positiv auf andere Schulen wirkt. Damit werden also zwei zentrale Argumentationsfiguren zusammengebunden: Sowohl das individuelle Wohlergehen von Schülerinnen und Schülern als auch die gesellschaftlichen und politischen 1082 1083 1084

1085

Aufruf des Berthold-Otto-Vereins, 1919. DIPF/BBF/Archiv Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 48. Ob die Möglichkeit einer Vorbereitung auf die Prüfung in der Schule noch angeboten wird, ist nicht klar. In der Tat kann davon ausgegangen werden, dass, nach den Beschreibungen über den pädagogischen Umgang miteinander in der Berthold-Otto-Schule, ein Wechsel in ein anderes Schulsystem Schwierigkeiten mit sich brachte. Aufruf des Berthold-Otto-Vereins, 1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 48.

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Bestrebungen zur Schulreform könnten, so sehen es die Autorinnen und Autoren des Aufrufs, der im Übrigen auch an sich als Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit verstanden werden kann, verbessert werden. Die dazu notwendigen Maßnahmen – in dem Aufruf wird auch eine bessere finanzielle Ausstattung der Schule gefordert – müssen durch die Schuladministration getroffen werden. Ganz ähnlich argumentiert Berthold Otto auch in dem erwähnten Brief, den er am 27.5.1919 an das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung schreibt, der vermutlich mit den gesammelten Unterschriften eingesandt wird. Der Brief nimmt die in dem Aufruf dargestellten Argumente wieder auf, unterfüttert sie theoretisch und präzisiert eine weitere Möglichkeit der Unterstützung der Schule, die auf deren Verankerung in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer hinausläuft. Was die Erteilung der Prüfungsberechtigung angeht, schreibt Berthold Otto, dass er davon ausgeht, dass „analoge Berechtigungen auch den übrigen Reformern wie Wyneken, Lietz und Geheeb und andern erteilt würden“,1086 und er weist darauf hin, dass seine grundsätzliche Forderung darin bestünde, seine Prüfungsform sofort fakultativ an allen weiterführenden Schulen einzuführen, so dass ihm aus der Prüfungsberechtigung keine Vorteile zuungunsten anderer Schulen erwachsen würden. Dass es sich hier um ein strategisches Argument handelt, liegt auf der Hand: Ottos Prüfungskonzeption ist direkt mit seiner gesamten Schulpädagogik verbunden, so dass sie an öffentlichen Schulen kaum ohne eine Veränderung der dortigen pädagogischen Praxis umzusetzen wäre. Es geht ihm vielmehr darum, den Eindruck zu vermeiden, dass er sich einen Vorteil gegenüber anderen Schulen erwirtschaften wolle. Darin dürfte auch der Grund dafür liegen, dass seine Schule eben keine Berechtigung für Abgangsprüfungen erhält: Diese müssen der Logik nach vergleichbar sein,1087 um ihren Sinn als „Bildungspatente“ zu erfüllen. Auch wenn diese Vergleichbarkeit nur sehr begrenzt herzustellen ist, kann zumindest die gleiche Form der Prüfung für alle Schülerinnen und Schüler ein As1086 1087

Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.5.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 84. Diese Schwierigkeit gibt es bis heute durch die föderalistisch organisierte Schullandschaft in Deutschland. Der Vergleich des Abiturs aus verschiedenen Bundesländern ist, geschuldet den unterschiedlichen Abiturformen (z.B. zentral versus dezentral), bereits auf der formalen Ebene schwierig. Ottos Prüfungsvorstellung geht zudem davon aus, dass die „Reife“ einer Schülerin oder eines Schülers schlicht durch die Beobachtung von mehreren Lehrerinnen und Lehrern festgestellt wird, ohne dass diese zwingend eine genauere Begründung angeben müssen. Damit würden entsprechende Aussagen auf Grundlage individueller und nicht objektivierbarer Kriterien getroffen, womit keinerlei Vergleichsparameter mehr vorhanden wären.

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pekt sein, der die Vergleichbarkeit erleichtert. Würde nun eine Schulbehörde jeder Schule, die in ihrer Selbstdarstellung angibt, diese Vorgabe zu erfüllen, eine Berechtigung erteilen, könnte sich eine Art „Prüfungstourismus“ entwickeln. Ottos grundlegende Argumentation, die er in dem Brief darstellt, ist folgende: Er geht von einer Notwendigkeit der Unterstützung durch den Staat aus, da die Schülerinnen und Schüler seiner Schule in besonderem Maße in die „Zusammenhänge des Gemeinschaftslebens“ hineinwachsen. Daran anschließend schreibt er: „Leider wird nun meine und meiner Helfer Arbeit zum grössten Teil dadurch zerstört, dass die Eltern genötigt sind, auf Berechtigungsprüfungen Rücksicht zu nehmen. Dadurch werden uns nicht nur viele der besten Schüler vorzeitig entrissen, sondern es wird geradezu in den Unterrichtsplan eingegriffen und die Beobachtung der geistigen Entwicklung dadurch verfälscht, dass die Kinder nicht den Unterricht fordern, den sie ihrer Natur nach wünschen, sondern den die Eltern verlangen, damit das Kind nachher besser in der Schule mitkommt.“1088

Neben der Schwierigkeit, dass die Kinder nicht den für sie entsprechenden Unterricht erhalten können, weil sie durch die Orientierung auf die Berechtigungsprüfung in ihrer Entwicklung beeinflusst werden, sieht Berthold Otto zwei weitere: Zum einen sind die Eltern durch die gesellschaftliche Anforderung der entsprechenden Zeugnisse „genötigt“, ihre Kinder vorfristig von der Schule zu nehmen. Dadurch wiederum kann Berthold Otto seiner Aufgabe – nämlich die geistige Entwicklung der Kinder zu beobachten – nicht in dem erforderlichen Ausmaß nachkommen. Das ist sowohl ein Problem auf der Ebene der Schule, weil dadurch weniger kindgerecht gearbeitet werden kann, genauso ist ein Zusammenhang mit Ottos Vorstellung, die Schulreform zu initiieren, denkbar: Sind die dafür notwendigen Beobachtungen verfälscht, wird es schwieriger, valide Ergebnisse für die Fundierung dieser Schulreform und der für sie notwendigen Herstellung „wissenschaftlicher Grundlagen einer Theorie der Bildung“1089 zu erhalten. Damit wird dem Problemkomplex „Berechtigungsprüfung“ eine sehr umfassende Rolle sowohl für den Kontext Berthold-Otto-Schule als auch für den der allgemeinen Reform beigemessen. Würde diese Berechtigung nun erteilt werden, „so wäre die Schule vor den überaus störenden elterlichen Eingriffen geschützt.“1090 1088 1089 1090

Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.5.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 83. Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.5.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 83. Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.5.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 84.

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Berthold Otto argumentiert hier aus der Sicht eines Pädagogen und Reformators, der sich der Bedeutung seiner Sache sicher ist. Dass sich seine Ideen nicht in dem gewünschten Ausmaß verbreiten, hat weniger damit zu tun, dass sie nicht im gedachten Ausmaß anschlussfähig sind, sondern mit den schwierigen Rahmenbedingungen, in denen er arbeiten muss. Das wird auch am Ende des Schreibens deutlich; hier nimmt Otto nun Bezug auf die Notwendigkeit einer besseren personellen Ausstattung. Er geht davon aus, dass vor allem der bei ihm erteilte Gesamtunterricht nahezu den Charakter einer Ultima Ratio für die schulpädagogischen Probleme seiner Zeit darstellt: „Auch da glaube ich einen Vorschlag zu machen, der nicht nur meiner Schule, sondern der Allgemeinheit nützt. Gesamtunterricht und überhaupt Lehrweise in Gesamtunterrichtsart kann man am besten an meiner Schule lernen, wo sich dafür in der Schülerschaft eine nun schon 13jährige Überlieferung gebildet hat. Dass diese Lehrweise von grösstem Nutzen ist, wird in immer weiteren Kreisen erkannt und anerkannt. Wenn nun regelmäßig mehrere Oberlehrer, natürlich nur solche, die selbst danach Verlangen tragen, auf etwa zwei Jahre an meine Schule geschickt würden, um sich unter meiner Leitung die Lehrweise anzueignen, so würden damit für etliche Schulen sehr schätzenswerte Lehrkräfte gewonnen werden. Und meinen Schülern könnte dann mehr von dem Unterricht geboten werden, den sie ersehnen. Für Anstalten, die solche Lehrweise einzuführen wünschen, könnte es sich lohnen, einen Oberlehrer für diese Zwecke auf zwei Jahre mit Gehalt zu beurlauben.“1091

Würde dieser Vorschlag akzeptiert, hätte Berthold Otto gleich zwei Probleme auf einmal gelöst: Die personelle Ausstattung seiner Schule würde sich für ihn kostenneutral erheblich verbessern – quantitativ wie qualitativ –, und er hätte einen weiteren Kanal der Diffusion seiner eigenen Ideen in das öffentliche Schulwesen gewonnen. Dass ihm an der Verbreitung seiner Ideen sehr gelegen ist, darauf macht er auch am Ende des Briefes noch einmal aufmerksam: „Im übrigen glaube ich aber, dass es im Staatsinteresse wäre, meine Schule durch Staatsmittel zu einer Versuchsanstalt freiheitlichsten Unterrichts im großen Stile auszudehnen. Jetzt vergeht vieles von unserer Arbeit nutzlos. Von allen wichtigen Stunden sind stenographische Protokolle hergestellt, die auszuarbeiten oder gar drucken zu lassen, wo sie hier nützlich wirken können, fehlen die Mittel. Sie geben z.B. eine vorzügliche Unterlage für die Begründung eines pädagogischen Seminars, innerhalb dessen die an der Schule tätigen Oberlehrer ihre eigene Arbeit vertiefen und zugleich zur Ausbildung von Studenten benutzen könnten. So würde durch diese Staatsunterstützung eine pädagogische Auswärtsbewegung hergestellt werden, die sich an Bedeutung

1091

Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.5.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 84.

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und segensreicher Wirksamkeit vor keiner früheren zu schämen hätte. Die dafür aufgewendeten Mittel würden sich sehr reichlich bezahlt machen.“1092

Berthold Otto versucht hier zu zeigen, dass seine Interessen mit denen des Staates übereinstimmen, dass sich also durch die staatliche Unterstützung seiner Schule eine – modern gesprochen – win-win-Situation für alle Beteiligten ergeben würde. Nicht nur, dass die Schule durch freigestellte Lehrerinnen und Lehrer besser ausgestattet würde, gleichzeitig könnte eine Implementierung der pädagogischen Ideen Ottos in die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern deren Bedeutsamkeit unterstreichen und ihnen eine andere Autorität verleihen. Seine Haltung unterscheidet sich dabei grundsätzlich von der des Louis Jacobsohn-Lask. Dieser hatte als möglichen Weg einer Verbesserung eine Veränderung der Berthold-Otto-Schule in Richtung der öffentlichen Schule vorgeschlagen. Für Otto wiederum ist die Annäherung nur aus der anderen Richtung denkbar: Eine Verbesserung für alle Beteiligten kann sich nur ergeben, wenn sich die pädagogischen und organisatorischen Verhältnisse in den öffentlichen Schulen seiner Vorstellung und seiner Praxis angleichen. Damit untermauert er zum einen das für sein Selbstverständnis und seine Öffentlichkeitsarbeit wichtige Gegensatzpaar von „alter“ und „neuer“ Schule. Würde er, wie von Jacobsohn-Lask vorgeschlagen, sich dem gegebenen Schulsystem stärker anpassen, verlöre er seine Einzigartigkeit und würde zu einem Schulanbieter unter vielen, dessen Profil weniger gut erkennbar wäre. Gleichzeitig wäre seine wichtige Vision, die Schulreform, erheblich gefährdet, da, zumindest in seinem Selbstverständnis, nahezu jede Veränderung seines pädagogischen Konzeptes mit Abstrichen an der Kindzentrierung und damit auch an Beobachtungsmöglichkeiten einhergehen muss. Umso erstaunlicher ist es, dass Berthold Otto zwei Jahre später, wiederum in einem Brief an das Ministerium für Volksbildung, einen Kompromissvorschlag hinsichtlich der Prüfungsorganisation anbietet. Auch hier argumentiert Otto mit dem Charakter seiner Schule als „Reformversuchsschule“, deren Arbeit, so sie in dem notwendigen Umfang geschehen kann, zu Erkenntnissen führen muss, die einen „Segen für die ganze Menschheit“1093 darstellen.

1092 1093

Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.5.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 84. Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Dezember 1920. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 106. Der Brief ist im Nachlass in Form eines Durchschlages mit handschriftlichen Veränderungen von Berthold Otto enthalten. Daraus werden nur Passagen zitiert, die nicht gestrichen wurden. Ob und in welchem Wortlaut der Brief letztlich verschickt wurde, ist nicht zu eruieren, da keine weitere Fassung im Nachlass enthalten ist.

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Otto stellt in dem Brief zwei verschiedene Prüfungsvarianten vor: zum einen den bereits bekannten Vorschlag, die Prüfungen selber abnehmen zu können. Dabei schlägt er vor, dass die nach seiner Vorstellung geprüften Schülerinnen und Schüler als Kohorte mit denen aus staatlichen Schulen in Bezug auf die Studierfähigkeit verglichen werden könnten, um einen empirischen Nachweis für die jeweilige Güte der beiden Verfahren zu führen.1094 Für den Fall einer Nicht-Annahme dieses Vorgehens macht Berthold Otto einen erstaunlichen Vorschlag: „Sollte aber das Ministerium sich zu dieser vollständigsten Forderung des Versuches nicht entschliessen können, so wäre für die Schule schon viel gewonnen, wenn die Schüler die Reifeprüfung unter ihren eigenen Lehrern vor einem staatlichen Prüfungskommissar ablegen dürften (…) Dieses Verfahren würden dem Charakter einer Versuchsschule am besten entsprechen.“1095

Otto gibt keine Hinweise darauf, welche Form der Prüfung er hier intendiert – es ist aber anzunehmen, dass es nicht das eigentlich von ihm vorgeschlagene ist, da dieses ja eine Beobachtung über einen längeren Zeitraum voraussetzt. Der hier vorgeschlagene Kompromiss ist also relativ weitreichend: Er entfernt sich von der Grundidee des Prüfungsverfahrens der Berthold-OttoSchule, lediglich die prüfenden Lehrkräfte sollen aus ihr kommen, mit der Berthold Otto-Pädagogik also vertraut und den Prüflingen bekannt sein. Auch wenn anzunehmen ist, dass die Ausgestaltung der Prüfung immer noch anders aussehen würde, als die an einer öffentlichen Schule, wäre dies aus der Sicht Ottos ein hoher Preis, den er zu zahlen hätte. Mögliche Beweggründe lassen sich nicht feststellen, aber vermuten: Die Prüfungserlaubnis würde, dieses Motiv kehrt immer wieder, die Schule attraktiver für Schülerinnen und Schüler resp. deren Eltern machen. Es würden unter Umständen mehr Kinder die Schule besuchen, und sie würden vor allem länger, optimalerweise bis an das Ende ihrer schulischen Ausbildung, dort verbleiben. Damit verbinden sich ein finanzieller Aspekt, nämlich mehr und längerfristig absehbare Einnahmen durch Schulgelder, und ein Aspekt, der die Po1094

1095

„Es müsste daher, wenn der Versuch für die pädagogische Wissenschaft unbedingt beweiskräftig werden sollte, dem Leiter der Versuchsschule und seinen Hilfskräften überlassen werden, die Reife festzustellen und zu bezeugen. Der Versuch wäre dann als misslungen, die Forderung der ganz freiheitlichen Geistesbildung widerlegt zu betrachten, wenn die von der Versuchsschule als reif entlassenen Schüler einen grösseren Prozentsatz von unbrauchbaren Studierenden aufwiesen als die bisher bestehenden Schulen.“ (Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Dezember 1920. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 106. Kursiv gesetzt sind handschriftliche Ergänzungen Ottos) Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Dezember 1920. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 107.

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pularität der Ideen Ottos berührt: Je vollständiger er seine Erziehungsvorstellungen in seiner Versuchsschule umsetzen und deren Wirkung beobachten kann, desto besser kann es ihm gelingen, deren Funktionalität erfahrungswissenschaftlich zu belegen. Dazu gehört auch, dass Schülerinnen und Schüler seiner Schule möglichst bruchlos an die Universitäten gehen können, was wiederum die Legitimation der von Otto praktizierten Pädagogik erhöhen könnte. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Berthold Otto wenig kompromissbereit in Bezug auf seine eigene Pädagogik war. Diese zunächst kontraintuitiv wirkende Haltung, kostete sie doch unter Umständen finanzielle Ressourcen oder gar staatliche Unterstützung und erscheint damit nicht kompatibel zu einer unternehmerischen Haltung, kann durch die Struktur des Unternehmens Berthold Otto verständlich gemacht werden. Berthold Ottos Ziel ist es nicht primär, die Schule als Schule zu betreiben, sondern sie dient ihm als Mittel zu einem höheren Zweck. Dieser Zweck besteht in der Konzeptionierung, empirischen Überprüfung und anschließenden Umsetzung seiner Vorstellungen zur Schulreform. Die Schule bekommt dabei den Charakter eines Experimentalraums. Die dort erzielten Ergebnisse sollen populär gemacht und – das ist Ottos Vorstellung – zu einer Verbesserung des Gemeinwesens bzw. der Menschheit nutzbar gemacht werden. Daher ist es für ihn in vielen Punkten nicht möglich, Kompromisse zu schließen, in seiner Vorstellung müsste sich das bisherige Schulsystem seinen Vorstellungen angleichen und nicht andersherum – Letzteres wäre unter Umständen eine Möglichkeit für eine bessere staatliche Förderung gewesen. In Bezug auf die herrschenden Prüfungsvorstellungen und -praxen entwickelt Berthold Otto eine Argumentation, die deren negative Konsequenzen für Schülerinnen und Schüler der grundsätzlichen Struktur des Schulwesens als „Beibringschule“ zurechnet. Seine eigene Konzeption von Prüfung hingegen stellt auf seine anthropologische Entwicklungsvorstellung ab, aus der er auch die Begründungen für seine Pädagogik bezieht. Umso erstaunlicher scheint es, dass er in diesem Punkt zu einem Kompromiss bereit scheint, dessen Umsetzung allerdings durchaus auch Ergebnisse in seinem Sinne hätte ergeben können.

IV.

Resümee und Ergebnisse

In der Forschung zu Berthold Otto findet sich ein wiederkehrendes Motiv: Er konnte sich unterschiedlicher Formen von Unterstützung durch Dritte, ob nun finanzieller oder administrativ-politischer Natur, sicher sein. Besonders Paul Baumann, der diese Perspektive in seiner Biografie zu Berthold Otto stark macht, führt diese Unterstützungsleistungen auf die Attraktivität dessen, was Otto vermittelt, zurück und versteht ihn so als pädagogischen und gesellschaftspolitischen Genius. Dieser Befund wird – unterschiedlich stark – auch von anderen Autoren reformpädagogischer Forschung zu Berthold Otto geteilt. In der vorliegenden Studie wird diese Perspektive aufgenommen, allerdings richtet sich das Erkenntnisinteresse auf die Frage, wie es Berthold Otto gelingt, Ressourcen zu akquirieren und sich der Unterstützung durch Dritte zu versichern, um seine pädagogischen Ideen umsetzen zu können. Es wird also nach den nicht-pädagogischen Voraussetzungen und Restriktionen pädagogischen Handelns gefragt und damit in Rechnung gestellt, dass neben dem Vorhandensein eines als innovativ und attraktiv wahrgenommenen pädagogischen Konzeptes noch weitere Bedingungen für den Erfolg eines – in diesem Fall reformpädagogischen – Projektes eine Rolle spielen. Um diese Bedingungen systematisch analysieren zu können, wird Berthold Otto im Kontext dieser Studie nicht nur als Pädagoge und Schriftsteller gesehen, sondern zuallererst als pädagogischer Unternehmer, der auf dem pädagogischen Markt seiner Zeit aktiv agiert. Diese Sichtweise impliziert, dass Berthold Otto auf diesem pädagogischen Markt um Ressourcen für sein Unternehmen konkurriert, die sich nicht ausschließlich als Einnahmen durch die Vermarktung von Schulplätzen beschreiben lassen. Indem eine ökonomisch orientierte Perspektive eingenommen wird, ist es möglich, sowohl die Kontexte als auch die Funktionsnotwendigkeiten des Unternehmens Berthold Otto zu erfassen und sie im Hinblick auf ihren Beitrag zum Gelingen dieses Unternehmens zu rekonstruieren. Die Ergebnisse dieser Analyse weisen dabei über Berthold Otto und sein Unternehmen hinaus und erlauben auch die Formulierung möglicher Forschungsdesiderate für die reformpädagogische Historiographie.

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4.1. Ergebnisse Die Rekonstruktion unternehmensstrategischer Aktivitäten wurde für sechs unterschiedliche Felder vorgenommen und zeigt im Ergebnis die Vielfalt der Strategien, die Berthold Otto für sein Unternehmen nutzt. Mit seiner eigenen Zeitschrift, dem Hauslehrer, der ab 1901 erscheint, baut Berthold Otto das publizistische Rückgrat seiner Bewegung auf. Diese Zeitschrift übernimmt unterschiedliche Funktionen: Zunächst vermittelt sie Teile von Ottos pädagogischen Vorstellungen. Seiner Forderung, mit Kindern in ihrer eigenen Sprache über die Themen, die sie interessieren, zu sprechen, kommt er mit einer Vielzahl von Artikeln in Altersmundart nach. Die Sujets dieser Artikel entstammen dabei zunächst dem Umgang Berthold Ottos mit seinen eigenen Kindern, später werden sie dem schulischen Kontext entnommen. Neben der pädagogischen Funktion, die diese Beiträge haben, besitzen sie auch demonstrativen Charakter. Sie erlauben den Leserinnen und Lesern einen Einblick in die Funktionsweise, in die Praxis der Pädagogik Berthold Ottos. Diese Funktion wird im Lauf der Zeit durch weitere Artikelsorten aufgenommen und ausgebaut. Neben detaillierten Schilderungen des schulischen Alltags gehören vor allem die Protokolle von Gesamtunterrichtsstunden in diese Gruppe, die durch die beständige Darstellung funktionierender Pädagogik diese gleichsam legitimieren soll. Die Zeitschrift besitzt unterschiedliche Elemente, die als Kundenbindungsinstrumente verstanden werden können. Berthold Otto richtet sich auch direkt an seine erwachsenen Leserinnen und Leser und fordert sie zur gemeinsamen Arbeit an der Schul- und Gesellschaftsreform auf. Diese gemeinsame Arbeit besteht sowohl darin, die Expansion der Hauslehrerbestrebungen durch die Werbung neuer Leserinnen und Leser, als auch durch die Übernahme von Ottos pädagogischen Ideen in die eigene Erziehungspraxis voranzutreiben. Otto verkoppelt in einer quasi-religiösen Struktur das Heilsversprechen einer besseren Gesellschaft, die durch die Schul- und Gesellschaftsreform erreichbar sei, mit Vorschlägen, wie jede und jeder Einzelne daran mitarbeiten kann. So schafft er die Möglichkeit, sich einer symbolisch vermittelten Gemeinschaft, die durch geeinte Arbeit für ein höheres Ziel immer wieder neu hergestellt wird, zugehörig zu fühlen. Dieses Zugehörigkeitsgefühl, das seine Stärke unter anderem aus dieser quasi-religiösen Struktur bezieht, zeigt sich später in Kerners „Deutschen Volksgeistbriefen“1096 besonders deutlich. Hier beschreiben Anhängerinnen und Anhänger Ottos, wie die Begegnung mit ihm und/oder seinen Ideen und Forderungen eine positiv verändernde Wirkung in ihrem Leben bewirkt hat.

1096

Kerner (1928).

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Es finden sich zudem eher als „klassisch“ zu bezeichnende Werbestrategien im Hauslehrer, die, wie das Beispiel des Lesebuches von Anton Ettmayr gezeigt hat, in einer geschickten Verzahnung von redaktioneller Präsenz und geschalteten Anzeigen besteht. Ebenfalls bedeutsam sind die Autorisierungen durch Dritte, also die Meinungen anderer Kundinnen und Kunden, zu denen Berthold Otto seine Leserinnen und Leser auffordert und die er dann im Blatt abdruckt, sowie die Produktdiversifikation durch eine eigene Beilage für Kinder oder die Herausgabe einer Zeitschrift, die sich an ein anderes Publikum als der Hauslehrer selber richtet. Ein weiteres Mittel der Absatzsteigerung besteht in der Praxis, Bücher oder Teile von ihnen als Artikelserien im Hauslehrer zu veröffentlichen. Dies scheint ein besonders wirksames Mittel gewesen zu sein, da Berthold Otto es sogar während des Ersten Weltkrieges, als die Zeitschrift thematisch vollkommen auf diesen ausgerichtet wird, nutzt. Auch Fritz Meyer, dessen Weg vom jungen Studenten hin zum designierten Nachfolger und Erben Berthold Ottos herausgearbeitet wird, ist von den Ideen Berthold Ottos, die für ihn das Potential zur Weltveränderung in sich tragen, fasziniert. Sie besitzen für ihn eine so hohe Attraktivität, dass er dafür seinen Studienort von Leipzig nach Berlin verlegt und sich der Familie und dem Unternehmen Stück für Stück annähert. Berthold Otto befördert diese Integration auf unterschiedlichen Ebenen. In der Zeit, in der Fritz Meyer als Stipendiat an der Schule unterrichtet, wird er immer häufiger von Berthold Otto (und Frida Otto) zum Essen eingeladen. Gleichzeitig überträgt Otto seinem zukünftigen Schwiegersohn verschiedene Aufgaben im Unternehmen: Fritz Meyer verfasst Gesamtunterrichtsprotokolle und eigene Artikel für den Hauslehrer, vertritt Otto bei verschiedenen Vortragsveranstaltungen zum Thema Schulreform, und er leitet, zusammen mit seiner späteren Frau Irmgard, den Verlag des Hauslehrers. Dabei optimiert er verlagsinterne Prozesse und entwickelt Strategien zur Absatzsteigerung, unter anderem die Idee einer Lesergesellschaft, die eine gewisse Einnahmenhöhe dauerhaft ermöglichen soll. Aus einer Modifizierung dieser Idee entsteht dann Ende 1912 der Berthold-Otto-Verein, der sich als Förderverein für die Hauslehrerbestrebungen versteht und zwei wesentliche Funktionsbereiche des Unternehmens unterstützt: Zum einen bietet er Expertise bei Schulgründungen an, hat also eine beratende Rolle, die durch die erfahrene Praktikerin Paula Jolowicz ausgefüllt wird. Zum anderen, und das ist der Hauptzweck des Vereins, übernimmt er wesentliche Aufgaben im Bereich des, modern gesprochen, Marketings und trägt damit sowohl zur Expansion als auch zur Absatzsteigerung der Schriften Ottos und damit zur Stärkung des Verlags sowie zur Verbesserung der Unternehmensbilanz bei. Die Expansion erfolgt vor allem durch die

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Resümee und Ergebnisse

Gründung von Ortsgruppen, von denen es weniger als ein Dutzend gibt und unter denen die Magdeburger Ortsgruppe die aktivste ist. Weitere strategische Maßnahmen, die sowohl den Absatz steigern, als auch Berthold Otto bekannter machen sollen, bestehen in der kostenlosen Bereitstellung von Literatur an strategisch wichtige Institutionen wie Schulen und Bibliotheken, in der Präsenz auf einschlägigen Ausstellungen und in der Veranstaltung von Diskussionsabenden zu unterschiedlichen Themen aus dem pädagogischen und politischen Werk Ottos. Dass der Verein Ende 1912 gegründet wird, kann im Zusammenhang mit dem Bezug des Schulneubaus im Dezember 1910 gesehen werden. Das neue Schulhaus, das Berthold Otto vollständig selber geplant hat, wird von Emmy Friedländer, deren Sohn Eugen Schüler der Berthold-Otto-Schule ist, finanziert. Sie tritt damit in einer doppelten Rolle auf: Sie ist Darlehensgeberin und gleichzeitig Kundin der Schule. Im Verlauf ihrer geschäftlichen Beziehung zur Familie Otto entwickelt sie unterschiedliche Vorgehensweisen, um die desolate finanzielle Situation der Schule zu stabilisieren, und übernimmt einige geschäftsführende Aufgaben. Sie drängt darauf, die Einnahmen und Ausgaben der Schule in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen, was in ihren Augen nur durch die Steigerung der Zahl der Schülerinnen und Schüler geschehen kann. Diese Notwendigkeit der Expansion kann als starkes ökonomisches Motiv für die Gründung des Berthold-Otto-Vereins gesehen werden. Aus der Rekonstruktion der geschäftlichen Kommunikation zwischen Emmy Friedländer und Berthold Otto wird auch deutlich, dass Berthold Otto trotz der finanziell schwierigen Situation seines Unternehmens immer wieder Nachlässe auf das Schulgeld gewährt. Dieses Vorgehen weist darauf hin, dass, der Nutzen, den er zu maximieren sucht, nicht ausschließlich in finanziellen Größen abbildbar ist. Dieser Befund bestätigt sich auch in anderen Zusammenhängen, in denen Berthold Otto mögliche finanzielle Verbesserungen für sein Unternehmen ablehnt, da er sie mit für ihn nicht denkbaren Kompromissen in der Ausgestaltung seiner eigenen Lehre bezahlen müsste: Berthold Otto ist weder bereit, aus seiner Halbtagsschule ein Landerziehungsheim zu machen, noch sich dem öffentlichen Schulwesen anzunähern, obwohl beides für ihn ein höheres Maß an finanzieller Sicherheit bedeutet hätte. Lediglich in Hinsicht auf die Abnahme von Abschlussprüfungen zeigt er eine gewisse Kompromissbereitschaft.

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4.1.1. Die Zeitschrift als primäre Präferenz Für Berthold Otto ist die Zeitschrift das Zentrum seiner Arbeit, und sie besitzt die höchste Wichtigkeit. Sie ist auch das zentrale Medium, mit dem er seine Ideen auf dem pädagogischen Markt platziert. Bisher wurde davon ausgegangen, dass Ottos Zeitschrift „Der Hauslehrer“ seinen schulischen Aktivitäten untergeordnet ist. Für Jürgen Oelkers ist das Blatt der Ort, an dem die Schule „über sich selber berichtet“1097, bei Dieter Benner und Herwart Kemper wird sie als „reformpraktische Werbebroschüre“1098 interpretiert. Diese Einordnungen reduzieren die Zeitschrift darauf, primär Aufgaben im Zusammenhang mit der Berthold-Otto-Schule zu übernehmen, und verkennen damit, dass sie für Berthold Otto das eigentliche Zentrum seiner Aktivitäten darstellt und dass sie vor allem als Medium der Umsetzung der Schulreform konzipiert ist. Damit werden Eltern – unabhängig davon, ob ihre Kinder Schülerinnen und Schüler der Berthold-OttoSchule sind – zu der von Otto anvisierten Zielgruppe des Hauslehrers, da sie in seinen Augen die Trägerschicht der Schulreform darstellen. Die Zeitschrift besitzt von Anfang an interaktive Elemente, die als besonders effektive Mittel der Kundenbindung analysiert wurden. Sie ermöglichen es Berthold Otto, seine Inhalte passgenauer auf die Bedürfnisse seiner Leserinnen und Leser zuzuschneiden und damit die Zeitschrift zielgruppengerechter zu gestalten. Später werden diese interaktiven Elemente durch die Diskussionsabende des Berthold-Otto-Vereins und die mit dem „Abend der Hauslehrerfreunde“ 1912 begonnene Entwicklung einer eigenständigen Tagung ergänzt. Diese stellen Räume für Austausch und direkte Kommunikation unter den Anhängerinnen und Anhängern Berthold Ottos dar. Gleichzeitig gibt Otto in der Zeitschrift Anknüpfungspunkte dafür, wie jede und jeder Einzelne an seinem übergeordneten Ziel mitarbeiten kann. Hier handelt es sich um Prozesse, die Otto als Selbsterziehung beschreibt und die das pädagogische Verhältnis von Erwachsenen zu Kindern betreffen. Diese pädagogischen Praxen stellt er in den Kontext einer höheren Entwicklung und wertet sie dadurch auf. Alle können (und sollen) sich durch Veränderungen in ihrem eigenen Leben an der Verbesserung der Gesellschaft, die mit der Umsetzung der Schulreform erreicht werden kann, beteiligen. Damit bedient Otto auch lebensreformerische Diskurse und kann auch dem von Meike Baader vorgestellten „Heiligen Kosmos der Reformpädagogik“1099 zugerechnet werden, wenngleich die Orientierung an einer höheren Instanz durch die an einer höheren Aufgabe ersetzt wird. Diese quasi-religiöse Struk1097 1098 1099

Oelkers (2005): 176 FN 5. Benner/Kemper (2003): 177. Baader (2005): 283.

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tur, die durch unterschiedliche Vorgehensweisen immer wieder hergestellt wird und die Anhängerinnen und Anhänger Ottos zusammenhält, stellt ein hohes Identifikationspotential bereit und ist damit eine wesentliche Ressource für das Unternehmen. Dazu trägt auch Ottos Selbst-Inszenierung als Märtyrer und Prophet bei, wie sie sich explizit in der Denkschrift der Hauslehrerbewegungen von 1906 darstellt. Aber auch in seiner Zeitschrift verweist Otto beständig auf seine konstitutionelle Schwäche und seine Überarbeitung und untermauert damit das Bild des an der ihm auferlegten Aufgabe leidenden Märtyrers. Seine Anhängerinnen und Anhänger wiederum sehen in ihm einen „Messias“ und einen „Meister“. Daran lässt sich zeigen, dass die mit religiösen Elementen angereicherte Selbstdarstellung Ottos anschlussfähig war und dass er diese durch immer wiederkehrende Beschreibungen und (Selbst-)Darstellungen aktiv hergestellt hat.

4.1.2. Delegation unternehmenswichtiger Aufgaben Berthold Otto gelingt es, verschiedene unternehmerische Aufgaben an andere Personen zu delegieren. Emmy Friedländer, die als Kundin der Schule und als Kreditgeberin in Erscheinung tritt, beginnt im Laufe der geschäftlichen Beziehung zu Otto, die Finanzen der Schule in einen geordneten Ablauf zu überführen. Dafür konnten zwei Motive ausgemacht werden: Zum einen ist ihr der Schulplatz für ihren Sohn Eugen, zu dem Berthold Otto eine besonders gute Beziehung gehabt zu haben scheint, bedeutsam. Zum anderen will sie auch ihre finanzielle Investition in die Schule schützen. Auch Fritz Meyer beginnt schnell, sehr unterschiedliche Aktivitäten zu entfalten, die Berthold Otto entlasten sollen. Unter anderem strukturiert er den Verlag um und führt eine eigene Buchführung ein. Außerdem entwickelt er unterschiedliche Vorschläge, wie der Verlag höhere Einnahmen generieren könnte. Sowohl im Zusammenhang mit Emmy Friedländer als auch mit Fritz Meyer ist bemerkenswert, dass sie ihre Aktivitäten nicht auf Wunsch oder Aufforderung Berthold Ottos beginnen, sondern eine Notwendigkeit erkennen und daraufhin handeln. Berthold Otto delegiert hier also nicht aktiv, sondern es sind die anderen, die erkennen (müssen), welche Unterstützung er für seine Arbeit benötigt.

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4.2. Thesen Fasst man das bisher Gesagte unter der Frage zusammen, welche Strategien Berthold Otto nutzt, um sich auf dem pädagogischen Markt erfolgreich zu behaupten, können folgende Aspekte thesenartig formuliert werden: (a) Die zentrale Aktivität besteht in der hochfrequenten Publizistik, die Berthold Otto sowohl durch seine Zeitschriften als auch durch seine Bücher betreibt. Die Zeitschrift erfüllt dabei unterschiedliche Funktionen: Sie bewirbt Berthold Ottos Pädagogik, sie stellt eine Plattform zur Absatzsteigerung weiterer Produkte aus dem Verlag des Hauslehrers dar und (b) sie bietet die Möglichkeit zur Identifikation mit Berthold Otto. Dies geschieht vor allem durch immer wiederkehrende Aufforderungen zur „gemeinsamen Arbeit“ an der Schulreform durch Übernahme der pädagogischen Haltung in den eigenen Alltag. Durch die Vorstellung eines höheren Zieles und der Möglichkeit, daran mitzuarbeiten, entsteht das Angebot der Teilhabe an einer symbolisch vermittelten Gemeinschaft. Der Hauslehrer ist für Berthold Otto das wesentlichste Element seines Unternehmens, die anderen Aktivitäten sind ihm nachgeordnet. (c) Von Ende 1910 an kommt es zu einer massiven Ausweitung der Aktivitäten auf dem pädagogischen Markt, die mit dem Schulneubau und den entsprechenden finanziellen Belastungen zusammenhängen. In dieser Zeit entstehen sowohl der Berthold-Otto-Verein (1912) als auch die Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ (1913). Besonders prägnant sind die konzertierten Maßnahmen ab Mitte 1913, mit denen Ottos jüngste Publikation „Volksorganische Einrichtungen der Zukunftsschule“1100 auf allen zur Verfügung stehenden Kanälen beworben wird. Mit der auch durch den Schulneubau manifest gewordenen Etablierung der Schule geht die Notwendigkeit von Expansion und Differenzierung des Unternehmens einher. (d) Die dazu notwendigen Professionalisierungsaktivitäten kommen nicht von Berthold Otto selber, sondern werden durch andere Personen getragen. Beispielhaft wurde dies für Emmy Friedländer und Fritz Meyer gezeigt. Auch der Berthold-Otto-Verein ist hier anzusiedeln. In ihm sind auch viele Lehrerinnen und Lehrer der Schule aktiv, die zudem in dieser Phase verstärkt als Autorinnen und Autoren für den Hauslehrer in Erscheinung treten.

1100

Otto (1914). Zwar erscheint das Buch erst 1914, die Subskription beginnt aber 1913.

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(e) Ende 1917 kommt es zu einer thematischen Verschiebung hin zum politischen Aspekt im Werk Ottos, die symbolisch durch die Umbenennung der Zeitschrift markiert wird. Es ist davon auszugehen, dass Berthold Otto zu dieser Zeit auf dem pädagogischen Markt fest etabliert ist und er deshalb den Fokus auf den gesellschaftspolitischen Teil seiner Inhalte legen kann. (f) Berthold Otto ist von der Richtigkeit seiner Ideen überzeugt und vertritt diese auch, wenn er dabei riskiert, (finanzielle) Einbußen zu erleiden. Daran wird deutlich, dass er nicht primär auf die Maximierung seines monetären Gewinns orientiert ist, sondern dass vor allem seine Vision einer besseren Gesellschaft im Zentrum seiner Aktivitäten steht. Ausblickend lassen sich Desiderate für die weitere Forschung formulieren: (g) Die vorliegende Analyse hat ergeben, dass ein zentrales Erfolgsmoment des Unternehmens Berthold Otto darin lag, dass es ihm gelungen ist, Menschen eng an sich und seine Inhalte zu binden. Dies geht weit über die Vorstellung einer charismatischen Figur oder eines pädagogischen Genius hinaus, da in deren Betrachtung das aktive Moment in den Hintergrund gerät. Um den Erfolg anderer reformpädagogischer Experimente zu untersuchen, wäre also eine Auseinandersetzung mit der Frage nach Bindungsstrukturen und -strategien bedeutsam. (h) In der vorliegenden Arbeit wurde das unternehmerische Umfeld Ottos sowohl personell als auch institutionell in Ausschnitten bearbeitet. Für weitere Forschungen kann eine Analyse des personalen Netzwerkes von Berthold Otto anhand seiner Korrespondenz als fruchtbar angenommen werden, da sie weitere für den Unternehmenserfolg wichtige Personen sichtbar machen könnte. Dies steht in einer systematisierten Form noch aus. (i) Ebenfalls ausstehend ist eine systematisch-komparatistische Darstellung (reform-)pädagogischer Zeitschriften für den Zeitraum 1880-1933. Diese könnte Aufschlüsse darüber geben, ob auch andere (Reform-)Pädagoginnen und (Reform-)Pädagogen Zeitschriften in einer ähnlichen Form wie Berthold Otto nutzten. Zudem könnten auch hier weitere relevante Netzwerke rekonstruiert werden.

V.

Anhang

5.1. Zeitachse zu Leben und Werk von Berthold Otto 1859 6.8.: Geburt in Bienowitz, Niederschlesien 1867 Eintritt Gymnasium Rendsburg 1873 Eintritt Gymnasium Domschule Schleswig 1878 Abitur Herbst: Immatrikulation Universität Kiel (Philologie, Philosophie, Kollegs in Hebräisch und Arabisch) 1879 Immatrikulation Universität Berlin (Philosophie, Arabisch, Syrisch, klassische Philologie, Nationalökonomie, Finanzwissenschaft) 1883 verlässt Universität ohne Abschluss ab Frühjahr: Hauslehrerstelle bei Gräff (Generaldirektor der Bergwerkgesellschaft „Hibernia und Schamrock“) in Herne/Westfalen 1884 Sommer: Privatlehrer in Berlin 1887 bis 1890 Nachtredakteur beim Hamburger Korrespondenten 15.06.: Heirat mit Friederike (Frida) Mann 14.12.: Geburt der Tochter Helene (Lene)

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308 1888 14.12.: Geburt der Tochter Franziska (Fränze) 1890 25.04.: Geburt des Sohnes Richard bis 1902: Redakteur beim Brockhausverlag 1892 18.01.: Geburt der Tochter Felicitas (Lice) 1893 27.03.: Geburt der Tochter Irmgard (Schulleiterin ab 1930)

„Die sozialdemokratische Gesellschaft. Was sie kann und was sie nicht kann“ (Handelsdruckerei und Verlagsanstalt M. Pößl, München, 60 S.) 1896 „Der Umsturz. Briefe und Gespräche“ (Albert Warnecke, Leipzig; 220 S.) 1897 3.12.: Vortrag „Die Schulreform im 20. Jahrhundert“ beim Landesverband Sachsen-Thüringen des Deutschen Schriftstellerverbandes 1898 Schriftleiter von „Die Deutsche Schulreform – Wochenschrift für psychologische Politik und Pädagogik“ mit der Beilage „Lehrgang der Zukunftsschule“; 1899 von Arthur Schulz übernommen „Agrarier, Arbeiter, Armee als innerer Dreibund der Begehrlichen“ (B. Elischer Nachf. Leipzig; 74S. – 2. Aufl. 1901 Th. Scheffer Leipzig; 74 S.) „Fünf Horaz-Oden für den Quartaner lesbar gemacht. Nebst den Prolegomena für einen psychologischen Unterricht und dem Lerngerüst der lateinischen Formenlehre“ (Th. Scheffer, Leipzig; 44 S.) „Fürst Bismarcks Lebenswerk. Den Kindern und dem Volke erzählt.“ (Jentzsch’s Verlagsanstalt, Leipzig; 70 S. – 2. Auflage 1901, 3. Auflage 1903; 94 S. alle bei Th. Scheffer, Leipzig – 6.-8. Aufl. Th. Scheffer BLN-Steglitz; 94 S.) „Die Schulreform im 20. Jahrhundert. Vortrag gehalten vor dem Landesverband Sachsen-Thüringen im deutschen Schriftstellerverband am 03.12.1897. (Reinhold Jentzsch, Leipzig; 30 S. – 2. Aufl. 1901; 36 S.)

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1899 „Das Recht auf Arbeit und die Arbeiterinteressen. Sozialpolitische Skizzen“ (Sellmann und Henne, Leipzig; 64 S. – 2. Aufl. 1902 Th. Scheffer Leipzig; 60 S.) 1901 24.2.: Erste Nummer von „Der Hauslehrer – Wochenschrift für den geistigen Verkehr mit Kindern“ erscheint im Verlag Th. Scheffer, Leipzig „Der Lehrgang der Zukunftsschule. Nach psychologischen Experimenten für Eltern, Erzieher und Lehrer dargestellt. 1. Teil: Der Lehrgang der Zukunftsschule“ (Th. Scheffer, Leipzig; 219 S. – 3. Aufl. Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde) „Der Leipziger Bankenkrach als Erscheinung unseres Wirtschaftslebens gemeinverständlich dargestellt“ (Th. Scheffer, Leipzig; 96 S.; Hauslehrerschriften 1) 1902 Frühjahr: Berufung durch das Preußische Kultusministerium nach Berlin „Polen und Deutsche. Ein Mahnwort an die deutsche Jugend. (Th. Scheffer, Leipzig; 63 S.; Hauslehrerschriften 2) „Die Sage vom Doktor Heinrich Faust. Der Jugend und dem Volke erzählt.“ (Th. Scheffer, Leipzig; 259 S. – 2. Aufl. 1909; 300 S. – 3. Aufl. (1909) Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 300 S.) 1903 „Beiträge zur Psychologie des Unterrichts“ (Th. Scheffer, Leipzig; 342 S.) „Ein innerer Feind“ (Th. Scheffer, Leipzig; 85 S.; Hauslehrerschriften 3) „Mütterfibel. Eine Anleitung für Mütter, ihre Kinder selbst lesen zu lesen“ (Th. Scheffer, Leipzig; 128 S.) Tirocinium Caesarianum. Liber primus. (Th. Scheffer, Leipzig; 63 S. – 1906: Liber altus. Liber tertius. Begründet von Berthold Otto. fortgesetzt von Hermann Hillner. Th. Scheffer, Leipzig; 87 S. – 2. Auflage 1929 Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde) „Vorlesebuch. Was das Kind der Mutter vorliest“ (Th. Scheffer, Leipzig; 139 S.; 2. Auflage 1931 Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde)

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310 1904

Zeitschrift wird in den Hauslehrerverlag übernommen (Eigenverlag Ottos) „Kind und Politik“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 23 S.) „Unser Besuch im Kieler Kriegshafen. Sonderdruck aus dem ‚Hauslehrer‘, veranstaltet auf Veranlassung des deutschen Flottenvereins“ (Th. Scheffer, Leipzig; 110 S.; Hauslehrerschriften 4) 1905 „Griechischer Selbstunterricht des Hauslehrers“ (Verlag des Hauslehrers, Großlichterfelde; o.J.) „Hauslehrerbestrebungen. Altersmundart und ihre Gegner. Eine Streitschrift“ (Th. Scheffer, Leipzig; 62 S.) „Warum feiern wir Schillers Todestag?“ (Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses. Halle/S.; 46 S.) 1906 „Lateinischer Selbstunterricht“ (Th. Scheffer, Leipzig; 264 S.) „Leselerntafeln. Ergänzungen zur Mütterfibel. 1. Teil: Buchstaben-, Silben- und Wortbilder.“ (Th. Scheffer, Leipzig; 56 S.) „Vom königlichen Amt der Eltern“ (R. Voigtländer, Leipzig; 130 S.) Unterrichtszirkel wird eröffnet 1907 Private Hauslehrerschule in Groß-Lichterfelde, Dürerstraße wird genehmigt. Otto ist dort Leiter und Lehrer „Deutsche Erziehung und Hauslehrerbestrebungen. Ein Reformprogramm“ (Verlag des Hauslehrers, Großlichterfelde; 50 S.) „Geistiger Verkehr mit Schülern im Gesamtunterricht. Unterrichtsprotokolle.“ (Verlag des Hauslehrers, Großlichterfelde; 112 S.) 1908 17.1.: Geburt der Tochter Helga „Kindesmundart“ (Modern-pädagogisch und psychologischer Verlag, Berlin; 139 S.; Führer ins Leben, Bd. 1)

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„Ratschläge für den häuslichen Unterricht. Aus der Praxis dargeboten.“ (Th. Scheffer, Leipzig; 125 S. – 3. Aufl. Verlag des Hauslehrers, BLNLichterfelde – Hauslehrerschriften) „Wie ich meinen Kindern von der Bodenreform erzähle.“ (Buchhandlung „Bodenreform“ G.m.b.H., Berlin; 31 S.; Soziale Zeitfragen, Heft 35) 1909 „Lateinbriefe. 25 Briefe zur Einführung in den Bau der lateinischen Sprache und in die römische Literatur“ (Verlag des Hauslehrers, BLNLichterfelde; 400 S.; 2. Aufl. – bis 1913) 1910 „Von der Helga. Ein Buch für junge Eheleute und für Kinderfreunde“ (Verlag des Hauslehrers, Großlichterfelde; 175 S.) „Der Zukunftsstaat als sozialistische Monarchie“ (Puttkammer und Mühlbrecht, Berlin; 483 S.) 1911 9.1.: Bezug des Neubaus in der Hohlbeinstraße „Vom Deutschen Reich und seinen Einrichtungen. Ein staatsbürgerliches Lesebuch für Jung und Alt.“ (Th. Scheffer, Leipzig; 140 S.) 1912 „Familienreform. Zum Heil der Eltern, der Kinder und des Volkes.“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 184 S.) „Die Reformation der Schule“ (Verlag des Hauslehrers, BLNLichterfelde; 165 S.) 1913 „Tirocinium Livianum“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde) „Tirocinium Ovidianum“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde) „Tirocinium Vergilianum“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde) „Vortrag über die Reformation der Schule, gehalten auf dem 10. Allgemeinen Tag für deutsche Erziehung in Weimar, Pfingsten 1913 (Stenographischer Bericht)“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde)

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312 1914 Richard fällt im Ersten Weltkrieg

„Eine Zukunftsschule im Gegenwartsstaat. Sonderdruck aus der Monatsschrift ‚Die Zukunftsschule‘, hrsg. von Georg Kerner“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 32 S.) „Volksorganische Einrichtungen der Zukunftsschule. 2. Teil: Einrichtungen der Zukunftsschule“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 238 S.) 1915 „Schützengrabenbücher“ (Karl Sigismund, Berlin; je 48 S.) 1916 „Kriegsrechenwirtschaft als wirtschaftliche und finanzielle Kriegsrüstung“ (Martin Warneck, Berlin; 169 S.) 1917 Hauslehrer wird zu „Deutscher Volksgeist – Wochenschrift zur Verständigung zwischen allen Schichten des Volkes“. HL kann als Beilage dazu bezogen werden 1918 „Mammonismus, Militarismus, Krieg und Frieden“ (Die Wende, Berlin; 391 S.) 1919 „Die Rettung der deutschen Volkswirtschaft“ (Wendt und Klauwell, Bad Langensalza; 18 S.) 1920 „Der freie Handel und die deutsche Zukunft“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 30 S.) 1921 27.02.: Tod von Friederike Otto 1924 „Abschaffung des Geldes, Arbeitswährung, Rechenwirtschaft. Aufgaben und Einrichtungen der volksorganischen Gemeinwirtschaft. Denkschrift an die Denker im deutschen Volk. (Im Auftrag des Bundes für Inneren Frieden)“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 136 S.)

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„Volksorganisches Denken. Vorübungen zur Neubegründung der Geisteswissenschaften“ (insgesamt vier Bände) (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde) 1925 „Wilhelm II. und wir! Die Kaiserartikel des ‚Deutschen Volksgeistes‘ aus den Jahren 1919-1925“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 191 S.) 1928 „Von der Rentenmark zur Arbeitsmark. Aufklärungsschrift des Bundes für inneren Frieden.“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 120 S.) „Weltwirtschaftsleere und Weltwirtschaft“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 48 S.) 1929 Kerschensteiner-Medaille vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht 1931 „Moral und Wirtschaft.“ (Verlag des Hauslehrers, BLN-Lichterfelde; 189 S.) 1933 29.6.: Tod Ottos in Lichterfelde

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5.2. Biographisches Glossar Übersicht der in den Fußnoten angeführten biografischen Informationen (zum Teil leicht gekürzt). Bei nicht vorhandenen Lebensdaten sind diese nicht (zweifelsfrei) zu ermitteln gewesen. Leni Ausfeld. Teilnehmerin an den privaten „Lesekränzchen“ bei Prof. Edmund Sträter. Lehrerin an der Augustaschule Magdeburg. Bruder Walter Ausfeld. Sie hat Richard Hanewald (den späteren Mann von Klara Sträter und Leiter einer der Berthold-Otto-Schule in Magdeburg) in das Lesekränzchen eingeführt. Agnes Barow (geb. 14.7.1897). Lehrerinnenexamen 1918, arbeitete von 1920-25 an der Berthold-Otto-Schule, danach an verschiedenen Volksschulen in Berlin (u.a. Lichtenberg und Kaulsdorf). Paul Baumann (8.3.1887-14.11.1971). Lehrer. Baumann ist zunächst Lehrer im DLEH Ilsenburg, wechselt dann 1912 an die Berthold-Otto-Schule. Baumann ist zentrales Mitglied im Berthold-Otto-Verein. Autor für diverse Lehrerzeitungen, den „Vortrupp“ und die Vossische Zeitung. Bereits während des Krieges gründet er seinen eigenen Verlag „Die Wende“, 1918 zieht er nach München, wo er als Verleger und Privatgelehrter arbeitet. Seine Biografie zu Berthold Otto besteht aus sechs Bänden, von denen die letzten beiden posthum von seiner Frau veröffentlicht wurden. Erich Bockemühl (1885-1967). Lehrer und Schriftsteller. Unter anderem veröffentlicht er verschiedene Artikel in Ottos Hauslehrer. Außerdem besorgt er die Auswahl einer Gedichtsammlung Otto zur Lindes im Jahr 1952. Er ist Autor zahlreicher Kinderbücher und gibt ab 1948 als Nachfolger Lichtenbergers die Reihe „Marholds Jugendbücher“ heraus, in der auch Titel von Franz Lichtenberger und Heinrich Burhenne erscheinen. Heinrich Burhenne (1892-1945). Schriftsteller und Volksschullehrer in Niederdorf und dann in Walsum-Aldenrade. Schreibt auch für den Hauslehrer. Heinrich Dolle. Stammt aus Kleinenberg/Westfalen und sympathisiert mit Ideen des „Deutschen Werkbunds“ um Otto Dickel und des „Deutschvölkischen Bunds“, beides kapitalismuskritisch-völkische Organisationen mit antisemitischem Einschlag.

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Benedict Friedländer (1866-1908). Geboren als Sohn von Carl Jacob Friedländer, einem a.o. Professor für Nationalökonomie und dessen Ehefrau, einer Tochter des Industriellen Adolf Nuglisch, in Berlin. Neben seinen zoologischen Forschungen setzt er sich auch mit den Werken von Schopenhauer, Haeckel, Darwin, Henry George und Eugen Dühring auseinander. Benedict Friedländer nimmt gegen Ende 1902 Kontakte zum Wissenschaftlich Humanitären Komitee (WHK) auf, unterstützt dieses finanziell und publizierte in dessen Zeitschrift „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“. Nach einer nicht beizulegenden inhaltlichen Kontroverse mit Magnus Hirschfeld und Max Spohr gründete er 1906 eine Splittergruppe des WHK, die er „Sezession des WHK“ nannte. Er kämpfte für „Emanzipation der Männerliebe und die Abschaffung des § 175“ (Keilson-Lauritz (2005): 311). Sein 1904 erschienenes Hauptwerk „Die Renaissance des Eros Uranios“ ist die Darstellung einer an griechischen Vorbildern orientierten utopischen Gesellschaftsform, die von zwei „Grundübeln“ befreit sei, nämlich des „Pfaffentrugs“ und der „Weiberherrschaft“. Benedict Friedländer hatte enge Kontakte zu Hans Blüher, dessen Männerbund-Theorien stark von Friedländers Werk beeinflusst wurde, und zu Bruno Wille, dem späteren Mann von Emmy Friedländer. Er nahm sich, im Angesicht einer unheilbaren Krankheit, am 20.6.1908 das Leben. Eine kurze Beschreibung der Beerdigung findet sich bei Hans Blüher: „Wir haben ihn zu Grabe getragen unter den Klängen von Beethovens Eroika. Bruno Wille hielt die Grabrede“ (Blüher (1953): 235) Wilhelm Frisch (1868-1952). Oberst a.D., als Kriegsversehrter nach dem Ersten Weltkrieg aus der Armee entlassen, dann Mitarbeiter am Landerziehungsheim Schloss Bischofstein (Lengenfeld unterm Stein, Eichsfeld). Frisch arbeitete und hatte dort schnell eine einflussreiche Stellung inne. Vertrauter, finanzieller und ideeller Unterstützer von Berthold Otto sowie später Mitglied im Bund für Inneren Frieden. Autor für verschiedene Zeitungen, auch für den Hauslehrer. Marianne Geibel. Stammt aus Eisenach, ist bekannt mit Wilhelm Frisch und Helene Frisch. Wie diese ist sie Mitglied im Bund für Inneren Frieden und engagiert sich sehr für Otto. Unter anderem schreibt sie dem Kaiser 1919 einen Brief, in dem sie ihn auf Ottos politisches Werk hinweist, und schickt dabei auch einige Exemplare des Volksgeists mit. Ludwig Gurlitt (31.5.1855-12.7.1931) war Lehrer und Schulkritiker. Er vertrat eine „natürliche Erziehung“, die künstlerische und körperliche Aspekte besonders betonte. Gurlitt war politisch stark von den Schriften Langbehns und de Lagardes geprägt. Er unterstützte die Wandervogelbewegung, die sich zur Zeit seiner Lehrtätigkeit an einem Steglitzer Gymnasium bildete. Unter

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anderem war er Mitglied in der von Arthur Schulz gegründeten Gesellschaft für Deutsche Erziehung. Johannes Herold (19.8.1875-31.3.1946). Lehrerexamen 1898 in Brieg, 1923-1937 Konrektor und ztw. Schulleiter Evangelische Schule in der Siedlung Zimpel in Breslau. Verfasste, teilweise unter dem Pseudonym Herold von Günthersdorf, Artikel für Wilhelm Schwaners „Volkserzieher“ und andere Zeitschriften, einige Jahre Herausgeber von „Emil Postel’s deutscher Lehrerkalender“; Mitglied der DNVP und stand der Bekennenden Kirche nah. Dr. med. Bruno Jöckel. Zahnarzt, Lichterfelde. Ist 1923 federführend bei der Gruppe von Eltern, die sich Gedanken um die Finanzierung der Schule machen. Hält 1919 Vorträge im Rahmen des Bundes für Inneren Frieden zusammen mit Helene Frisch und Richard Hanewald. Seine Kinder Reinhard und Lieselotte sind Schüler der Berthold-Otto-Schule. Paula Jolowicz (7.9.1872-21.10.1929). Langjährige Lehrerin an der Berthold-Otto-Schule, Mitbegründerin des Berthold-Otto-Vereins und Mitglied im Bund für Inneren Frieden. Georg Kerner (14.1.1874-23.4.1959) war Theologe und Pfarrer in Zanzhausen/Pommern, Kreis Landsberg. Enger Vertrauter der Familie Otto. Er publizierte im Hauslehrer, gab die Zeitschrift „Die Zukunftsschule“ heraus und war für Berthold Otto und seine Familie der vermutlich wichtigste Gesprächspartner, worauf mehrere Tausend Briefe von und an Kerner, die im Nachlass enthalten sind, hindeuten. Johannes Kretschmann (1859-1944). Ab 1921 Lehrer einer einklassigen Dorfschule in Holbeck bei Luckenwalde. 1930-31 Rektor der ev. Volksschule in Müllrose am Oder-Spree-Kanal. Nach deren Schließung am 1.4.32 als Dozent und Schulrat an den Pädagogischen Akademien Frankfurt/Oder und Elbing (ab 05/33). Er ist Teilnehmer und auch Beitragender auf den Weimarer Pfingsttagungen und publiziert im Deutschen Volksgeist. Methodisch geht er über Ottos Arbeit hinaus, als er den Unterricht in seiner Schule in weiten Teilen als Gesamtunterricht durchführt. Zu Ottos Lebzeiten publiziert er einen Erfahrungsbericht über den „Freien Gesamtunterricht in der Dorfschule“ (Kretschmann 1925) in einem Band mit „zentralen Aussagen“ des Otto’schen Denkens (Kretschmann 1929), der 1959 von Herbert Frommberger neu herausgegeben wird. Nach 1945 folgen weitere (vor allem auf Grund- bzw. Volksschule bezogene) pädagogische Publikationen, posthum u.a. von Otto Haas herausgegeben.

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Otto zur Linde (26.4.1873-16.2.1938). In Essen geborener freier Schriftsteller, Sohn eines Volksschullehrers und späteren Kaufmanns. Er promoviert 1898 mit einer Arbeit über „Heinrich Heine und die deutsche Romantik“ und lebt bis 1902 als freier Schriftsteller und Literaturkritiker in London, wo er zeitweilig auch am Britischen Museum beschäftigt ist. Nach seinem Umzug nach Berlin gründet er zusammen mit Rudolf Pannwitz und Rudolf Paulsen 1904 den Charon-Kreis und lebt als Schriftsteller. Georg Friedrich Muth (geb. 18.7.1877). Studienrat aus Bensheim. Mitglied im Bund für Inneren Frieden. Diverse Briefwechsel mit Otto. Übernimmt Anfang der 1930er Jahre provisorisch die Herausgabe des Volkgeistes. Rudolf Paulsen (18.3.1883-30.3.1966). Sohn des Pädagogikprofessors Friedrich Paulsen, heiratet 1910 Berthold Ottos Tochter Franziska Otto (1888-1971), ihr gemeinsamer Sohn Edzard Paulsen (21.11.1919-14.8.2008) leitet die Berthold-Otto-Schule von 1966-1991. Rudolf Paulsen arbeitet als freier Schriftsteller, seine Werke stehen in einem engen Kontext mit denen von Otto zur Linde. Er veröffentlicht unter anderem auch in dem von Carl Rössger herausgegebenen „Heiligen Garten“ Artikel, die sich positiv mit Berthold Otto befassen. Rudolf Pannwitz (27.5.1881-23.3.1969). Ein Schul- und Jugendfreund Rudolf Paulsens, studiert Geisteswissenschaften in Marburg und Berlin. Er ist kurzzeitig Lehrer im Haus von Georg Simmel sowie Reinhold Lepsius, später ist er auch einige Zeit in Wynekens Freier Schulgemeinde Wickersdorf beschäftigt; zeitweise publizierte er auch im Hauslehrer. Ab 1911 arbeitet er als freier Schriftsteller und Philosoph. 1906 heiratet er Berthold Ottos Tochter Helene (14.12.1887-24.4.1966), die Ehe wird 1922 geschieden. Zwischen ihm und seinem Schwiegervater kommt es bereits früh zum Bruch. Dr. med. Wilhelm Pfaff, Stuttgart. Mitglied im Bund für Inneren Frieden und aktiv engagiert im Bund für deutsche Erneuerung. Karl Röttger (23.12.1877-1.9.1942). Absolviert seine zweite Lehrerprüfung 1900 in Petershagen und arbeitet zwischen 1898 und 1941 als Lehrer, mit einer Unterbrechung zwischen 1909 und 1914. In dieser Zeit gibt er zusammen mit Franz Lichtenberger (31.8.1881-7.11.1942) die Zeitschrift „Die Brücke“ (erscheint 1911-1914) heraus. Röttger wurde 1909 Mitherausgeber des „Charon“ und engster Mitarbeiter von Otto zur Linde; außerdem ist er an der Zeitschrift „Der Heilige Garten“ beteiligt, die von Franz Lichtenberger begründet wurde. Er veröffentlicht mehrere Gedichtbände im Charonverlag, unter anderem „Wenn deine Seele einfach wird“ (Röttger (1909)) sowie

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„Lieder von Gott und dem Tod“ (Röttger (1912)); insgesamt zählt sein literarisches Werk über 50 Titel, darunter Prosa, Lyrik, Sachbücher und Theaterstücke. Martin Spielhagen (geb. 23.6.1889). Wird 1927 Rektor der Volksschule in Bornim bei Potsdam, die er zu einer reformpädagogisch orientierten Schule umstrukturiert. Bereits in den Jahren 1920-22 hospitiert er mehrfach an der Hauslehrerschule Berthold Ottos, ab 1927 gibt es ebenfalls Kontakte zwischen Spielhagens Schule und der Berthold-Otto-Schule. Walter Schönert (geb. 4.1.1892). Lehrer. 1918-1920 Lehrer in Kinderlandheim Hildburghausen. 1920-1930 Berthold-Otto-Schule, ab 1.5.1930 Ev. Volksschule Zehrensdorf. Askan Schmitt (12.7.1867-1945). Sohn eines Hauptmanns aus Spandau, wächst in Kassel auf. Studium der Chemie und Volkswirtschaft. Macht in seiner Leipziger Zeit Bekanntschaft mit Berthold Otto, der ihn stark beeinflusst. Er publiziert neben diversen Büchern die Zeitschriften „Der Knote. Ein unmodernes Überwitzblatt“, die „Weimarer Botenfrau“ sowie „Knorke. Blätter für deutsche Kultur“. Nach seinem Studium zog er nach Weimar, dort tritt er als politischer Redner und später auch als Stadtführer hervor. 1932 veröffentlicht er mit „Weimar A-Z“ (Schmitt (1932)) ein kombiniertes Auskunfts- und Wörterbuch, das als Vorläufer stadtgeschichtlicher Lexika gilt. Er ist zeit seines Lebens eng mit Berthold Otto verbunden, nimmt an den Weimarer Tagungen teil und hält auch Vorträge über Berthold Otto. Arthur Schulz (7.3.1864-20.10.1930). Lehrer. Schulz veranstaltet bis 1914 die „Deutschen Erziehungstage“ in Weimar, an denen Berthold Otto teilnimmt und die er nach dem Ersten Weltkrieg als „Volksorganische Tagungen“ fortführt. Er vertritt unter anderem eine Theorie des Unterrichts im Freien, leitet die „Gesellschaft für Deutsche Erziehung“ und war langjähriger Weggefährte Berthold Ottos. Karl Siegismund (1861-1932). Preußischer Kommerzienrat sowie Sächsischer Geheimer Hofrat und von 1910-1916 erster Vorsteher des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und eine zentrale Figur bei der Gründung der Deutschen Bücherei. Er hat auch engen Umgang mit Friedrich Althoff. Adolf Tschechne. Seminaroberlehrer aus Schweidnitz, Herausgeber des „Jung-Volk. Organ für Sport, Jugendpflege und Jugendwandern“; zugleich Beilage zum „Mittelschlesischen Volksfreund“.

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Bruno Wille (1860-1928). Ist zur gleichen Zeit wie Benedict Friedländer Lehrer an der Arbeiterbildungsschule Liebknechts, wo sie sich 1891 kennenlernten (Wille (1930): 36). Er gründet unter anderem die „Freie Volksbühne“ und später mit Rudolf Steiner zusammen den Giordano-Bruno-Bund. Neben Verbandstätigkeiten vor allem im Umfeld von freireligiösen Vereinen betätigt Wille sich als Schriftsteller freiheitsphilosophischer und später auch pantheistisch-mystischer Werke. Er war Mitglied im Friedrichshagener Künstlerkreis, aus dem später die Gartenstadtbewegung hervorgehen wird und zu dem unter anderem auch der junge Moeller van den Bruck gehört. Bruno Wille unterzeichnet, wie auch Rainer Maria Rilke und Ferdinand Avenarius, die von Magnus Hirschfeld 1897 initiierte Petition für die Abschaffung des § 175. (Hirschfeld (1914/2001): 977). Weiterhin ist er Gründungs- und Direktoriumsmitglied der 1902 in Berlin gegründeten Freien Hochschule.

VI.

Literaturverzeichnis

6.1. Quellen 6.1.1. Ungedruckte Quellen 6.1.1.1. Briefe A. Knoblauch an Otto Lademann, 10.12.1906. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 14-15. A. Knoblauch an Otto Lademann, 5.12.1906. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 13. A. Knoblauch an Otto Lademann, 24.4.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 27-28. Berthold Otto an Emmy Friedländer, 15.1.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 61. Berthold Otto an Fritz Meyer, 12.2.1914. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 685 Bl. 15-16. Berthold Otto an Georg Kerner, 14.11.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto, OT 451 Bl. 22. Berthold Otto an Georg Kerner, 25.2.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 65-68 Berthold Otto an Georg Kerner, 27.2.1915. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 451 Bl. 69-71. Berthold Otto an Hermann Rassow, 18.2.1908. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 480 Bl. 148. Berthold Otto an Karl Schulz, 2.5.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 642 Bl. 20. Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 27.5.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 82-84. Berthold Otto an Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Dezember 1920. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 576 Bl. 106-108. Berthold Otto an Otto Lademann, 21.8.1908. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 84-85. Berthold Otto an Otto Lademann, 28.2.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 59. Berthold Otto an Otto Lademann, 7.7.1917. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 56. Berthold Otto an Otto Nuschke, 26.9.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 466 Bl. 109.

322

Literatur

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Literatur

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Emmy Friedländer an Berthold Otto, 12.9.1916. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 65. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 26.9.1916. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 66. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 25.6.1917. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 68. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 10.1.1918. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 70. Emmy Friedländer an Berthold Otto, 18.6.1919. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 74. Emmy Friedländer an Frida Otto, 9.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 3. Emmy Friedländer an Frida Otto, 31.8.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 4. Emmy Friedländer an Frida Otto, 14.12.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 11. Emmy Friedländer an Frida Otto, 13.2.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 14. Emmy Friedländer an Frida Otto, 11.4.1912. DIPF/BBF/Archiv Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 19. Emmy Friedländer an Frida Otto, 17.7.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 24. Emmy Friedländer an Frida Otto, 5.8.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 26. Emmy Friedländer an Frida Otto, 21.1.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 29. Emmy Friedländer an Frida Otto, 24.2.1913. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 31. Emmy Friedländer an Frida Otto, 30.9.1920. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 75. Emmy Friedländer an Frida Otto, ohne Datum. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 1. Franke u.a. Eltern an Königliche Regierung Abteilung für Kirchen und Schulwesen, Potsdam, 31.8.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 206 Bl. 2-3. Franke u.a. Eltern an Königliche Regierung Abteilung für Kirchen und Schulwesen, Potsdam, 30.8.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 206 Bl. 4-6. Frida Otto an die Eltern der Schüler der Berthold-Otto-Schule, 29.7.1911. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 588 Bl. 5. Frida Otto an Emmy Friedländer, 21.3.1912. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 398 Bl. 16-17. Frida Otto an Otto Lademann, 1.3.1907. DIPF/BBF/Archiv, Nachlass Berthold Otto OT 454 Bl. 50.

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Literatur

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Literatur

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Kerner, Georg (Kerner HL 1914a): Vortragsbericht. HL Jg. 14/1914, H 2, 11.1.1914: 20. Kerner, Georg (Kerner HL 1914b): Annonce. Der Hauslehrer Jg. 14/1914, H1 9, 10.5.1914: 224. Ludwig, Helene (Ludwig HL 1908a): Aus dem Anfängerkurs. HL Jg. 8/1908, H 4, 2.2.1908: 38-39. Ludwig, Helene (Ludwig HL 1908b): Aus dem Anfängerkurs. HL Jg. 8/1908, H 8, 1.3.1908: 86-87. Ludwig, Helene (Ludwig HL 1908c): Aus dem Anfängerkurs. HL Jg. 8/1908: H 12/13, 29.3.1908: 128-129. Meyer, Fritz (Meyer HL 1911a): Protokoll vom Gesamtunterricht in der Hauslehrerschule. HL Jg. 11/1911, H 37, 10.9.1911: 435-436. Meyer, Fritz (Meyer HL 1911b): Protokoll vom Gesamtunterricht in der Hauslehrerschule. HL Jg. 11/1911, H 42, 15.10.1911: 492-495. Meyer, Fritz (Meyer HL 1911c): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 11/1911, H 49, 3.12.1911: 573-574. Meyer, Fritz (Meyer HL 1911d): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 11/1911, H 50, 10.12.1911: 588-590. Meyer, Fritz (Meyer HL 1911e): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 11/1911, H 51, 17.12.1911: 600-602. Meyer, Fritz (Meyer HL 1911f): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 11/1911, H 52, 24.12.1911: 611-612. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912a): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 2, 14.1.1912: 17-19. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912b): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 4, 28.1.1912: 39-42. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912c): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 6, 11.2.1912: 66-67. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912d): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 7, 18.2.1911: 78-79. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912e): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 13, 31.3.1912: 148-150. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912f): Vortragsbericht. HL Jg. 12/1912, H 18, 5.5.1912: 210-211. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912g): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 25, 25.6.1912: 293-295. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912h): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 28, 14.7.1912: 327-331. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912i): Diskussion mit Hospitanten. HL Jg. 12/1912, H 29, 21.7.1912: 338-341. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912j): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 32, 11.8.1912: 377-379. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912k): Der Foucaultsche Pendelversuch. HL Jg. 12/1912, H 34, 25.8.1912: 400-403.

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Literatur

Meyer, Fritz (Meyer HL 1912l): Der Foucaultsche Pendelversuch. HL Jg. 12/1912, H 37, 15.9.1912: 433-436. Meyer, Fritz (Meyer HL 1912m): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 12/1912, H 40, 6.10.1912: 468-472. Meyer Fritz (Meyer HL 1912n): Bericht vom Abend der Hauslehrerfreunde. HL Jg. 12/1912, H 41, 13.10.1912: 479-486. Meyer Fritz (Meyer HL 1912o): Bericht vom Abend der Hauslehrerfreunde. HL Jg. 12/1912, H 42, 20.10.1912: 496-500. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913a): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 13/1913, H 6, 9.2.1913: 66-69. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913b): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 13/1913, H 7, 16.2.1913: 79-82. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913c): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 13/1913, H 8, 23.2.1913: 92-94. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913d): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 13/1913, H 12, 23.3.1912: 140-142. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913e): Aus der Hauslehrerschule. HL Jg. 13/1913, H 13, 30.3.1913: 150-153. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913f): Vortragsbericht. HL Jg. 13/1913, H 14, 6.4.1913: 167. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913g): Vortragsbericht. HL Jg. 13/1913, H 16, 20.4.1913: 188-189. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913h): Trigonometrie. HL Jg. 13/1913, H 35, 31.8.1913: 408-410. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913i): Eine Donnerstagsstunde im Oberkurs. HL Jg. 13/1913, H 36, 7.9.1913: 416-422. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913j): Eine Donnerstagsstunde im Oberkurs. HL Jg. 13/1913, H 37, 14.9.1913: 432-435. Meyer, Fritz (Meyer, HL 1913k): Besprechung. HL Jg. 13/1913, H 38, 21.9.1913: 446-447. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913l): Aus der Berthold-Otto-Schule. HL Jg. 13/1913, H 39, 28.9.1913: 450-456. Meyer, Fritz (Meyer HL 1913m): Trigonometrie. HL Jg. 13/1913, H 42, 19.10.1913: 494-495. Meyer-Otto, Irmgard (Meyer-Otto HL 1919a): Berthold Ottos 60. Geburtstag in der Berthold-Otto-Schule. HL Jg. 19/1919, H 41, 12.10.1919: 157-160. Meyer-Otto, Irmgard (Meyer-Otto HL 1919b): Berthold Ottos 60. Geburtstag in der Berthold-Otto-Schule. HL Jg. 19/1919, H 42: 19.10.1919: 161-162. Muth, Georg-Friedrich (Muth HL 1919): Hildegund. HL Jg. 19/1919, H 49, 7.12.1919: 189-192. Otto, Berthold (Otto HL 1901a): Anrede an Eltern, Lehrer und Erzieher. HL Jg. 1/1901, Probenummer Ende März 1901: 1-4. Otto Berthold (Otto HL 1901b): Tischgespräch. HL Jg. 1/1901, H 2, 11.3.1901: 27-28.

Literatur

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Otto, Berthold (Otto HL 1901c): Briefkasten. HL Jg. 1/1901, H 4, 22.3.1901: 55. Otto, Berthold (Otto HL 1901d): Ostergruß. HL Jg. 1/1901, H 6, 7.4.1901: 73-79. Otto, Berthold (Otto HL 1901e): Briefkasten. HL Jg. 1/1901, H 7, 14.4.1901: 127. Otto, Berthold (Otto HL 1901f): Briefkasten. HL Jg. 1/1901, H 10, 5.5.1901: 142. Otto, Berthold (Otto HL 1901g): Briefkasten. HL Jg. 1/1901, H 16, 16.6.1901: 207-208. Otto, Berthold (Otto HL 1901h): Briefkasten. HL Jg. 1/1901, H 23, 4.8.1901: 319-320. Otto, Berthold (Otto HL 1901i): Ratschläge für den häuslichen Unterricht. HL Jg. 1/1901, H 31, 20.9.1901: 438-439. Otto, Berthold (Otto HL 1902a): An unsere Leser. HL Jg. 2/1902, H 2, 12.1.1902: 19-20. Otto, Berthold (Otto HL 1902b): Ratschläge für den häuslichen Unterricht. HL Jg. 2/1902: H 20, 1.6.1902: 229f. Otto, Berthold (Otto HL 1902c): Ratschläge für den häuslichen Unterricht. HL Jg. 2/1902: H 21/22, 8.6.1902: 247-251. Otto, Berthold (Otto HL 1902d): Ratschläge für den häuslichen Unterricht. HL Jg. 2/1902: H 23, 15.6.1902: 261-265. Otto, Berthold (Otto HL 1902e): Ratschläge für den häuslichen Unterricht. HL Jg. 2/1902: H 24/25, 22./29.6.1902: 276-279. Otto, Berthold (Otto HL 1902f): Ratschläge für den häuslichen Unterricht. HL Jg. 2/1902: H 26, 29.6.1902: 297-299. Otto, Berthold (Otto HL 1908a): Zehn Jahre Hauslehrerbestrebungen. HL Jg. 8/1908, H 2, 19.1.1908: 13-20. Otto, Berthold (Otto HL 1908b): Sommergruß an alle Freunde des Hauslehrers. HL Jg. 8/1908, H 27, 5.7.1910: 293-297. Otto, Berthold (Otto HL 1910a): Neujahrsgruß an Eltern, Lehrer und Erzieher. HL Jg. 10/1910, H 1, 9.1.1910: 1-5. Otto, Berthold (Otto HL 1910b): Was der Hauslehrer will. HL Jg. 10/1910, H 5, 30.1.1910: 41-43. Otto, Berthold (Otto HL 1910c): Ostergruß an Eltern, Lehrer und Erzieher. HL Jg. 10/1910, H 13, 27.3.1910: 125-130. Otto, Berthold (Otto HL 1910d): Siebenter allgemeiner Tag für deutsche Erziehung zu Weimar. HL Jg. 10/1910, H 20, 15.5.1910: 209. Otto, Berthold (Otto HL 1910e): Die Weimarer Tagung. HL Jg. 10/1910, H 22, 5.6.1910: 242. Otto, Berthold (Otto HL 1910f): Wozu der Hauslehrer da ist und was er bringt und leistet. HL Jg. 10/1910, H 25, 19.6.1910: 253-255. Otto, Berthold (Otto HL 1910g): Urteile über den Hauslehrer. HL Jg. 10/1910, H 25, 19.6.1910: 256-259. Otto, Berthold (Otto HL 1910h): Arbeit oder Spiel. HL Jg. 10/1910, H 25, 19.6.1910: 263-264.

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Literatur

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Literatur

335

6.1.2.3. Sonstige gedruckte Quellen Albert, Wilhelm: Grundlegung des Gesamtunterrichts. Leipzig: 1928 Babo, Malwine von: Die Zukunftsschule. Ein praktischer Vorschlag für eine völlige Neugestaltung unseres Schulwesens. Stuttgart: 1914. Blüher, Hans: Werke und Tage. Geschichte eines Denkers. München: 1953. Burhenne, Heinrich: Erich Bockemühl. Ein deutscher Dichter und Erzieher. Querfurt: 1935. Eitze, Franz: Die Gesamtunterrichtsbewegung. Ein Querschnitt durch Lösungsversuche im In- und Ausland. Breslau: 1933. Ferber, Gudrun: Berthold Ottos pädagogisches Wollen und Wirken. Bad Langensalza: 1925. Gläser, Johannes: Sprache und Anschauung (1906). In: Ders. (Hrsg.) Vom Kinde aus. Arbeiten des Pädagogischen Ausschusses der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburg. Hamburg/Braunschweig: 1920: 45-69. Hanewald, Richard: Gesamtunterricht, das Kernstück einer Schulreform. In: Hanewald, Richard und Hedicke, Franz (Hrsg.): Wachstum und Unterricht. Beiträge zu einer Pädagogik von innen. 2. Folge 1931: Gesamtunterricht im Sinne Berthold Ottos. Berlin-Lichterfelde: 1931: 116-124. Hirschfeld, Magnus: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes. Berlin: 1914/2001. Kerner, Georg (Hrsg.): Deutsche Volksgeistbriefe. Zum 25jährigen Bestehen der Ztschr. Hauslehrer u. Dt. Volksgeist. Berlin-Lichterfelde: 1928. Kreitmair, Karl: Berthold Otto. Ausgewählte pädagogische Schriften. Paderborn: 1963. Kretschmann, Johannes: Freier Gesamtunterricht in der Dorfschule. Berlin: 1925. Kretschmann, Johannes: Natürlicher Unterricht. Ein methodisches Handbuch der deutschen Volksschule. Breslau: 1933. Kretschmann, Johannes: Was sagt Berthold Otto? Berlin: 1929. Kretschmann, Johannes: Was sagt Berthold Otto? Neu herausgegeben von Herbert Frommberger. Dortmund: 1959. Merseburger, Georg: Urkunden der deutschen Erhebungen. Leipzig: 1913. Metscher, Gustav: Was ist Gesamtunterricht? Ein Beitrag zu seiner Wesensbestimmung. Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin, Heft 1267. Langensalza: 1929. Neuendorff, Edmund: Der Gesamtunterricht. In: Ders. (Hrsg.): Die Schulgemeinde. Gedanken über ihr Wesen und Anregungen zu ihrem Aufbau. Leipzig: 1921: 208-210. Offizieller Ausstellungskatalog „Das Kind“, Berlin: 1913. Otto, Berthold: Die sozialdemokratische Gesellschaft. Was sie kann und was sie nicht kann. Von einem früheren deutschen Studenten. München: 1893. Otto, Berthold: Lehrgang der Zukunftsschule. Leipzig: 1901a

336

Literatur

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Literatur

337

Otto, Berthold: Was ich erstrebe. (1931). hier zitiert nach: Roedl, Alfred: Berthold Otto. Leben und Werk. München: 1959: 9-13. Otto, Irmgard: Aus der Geschichte unseres Schülergerichts. In: Alberts, Helmut: Aus dem Leben der Berthold-Otto-Schule. Berlin: 1925: 127-136. Pannwitz, Rudolf: Kultur, Kraft, Kunst: Charon-Briefe an Berthold Otto. GroßLichterfelde: 1906. Röttger, Karl: Lieder von Gott und dem Tod. Groß-Lichterfelde: 1912. Röttger, Karl: Wenn deine Seele einfach wird. Groß-Lichterfelde: 1909. Rude, Adolf: Die neue Schule. 2./3. verb. und verm. Auflage. Osterwieck/Harz: 1930. Salzer, Anselm: Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Band 5: Vom neuen „Sturm und Drang“ bis zur Gegenwart. 2. neu bearbeitete Auflage. Leipzig: 1926. Schmitt, Askan: Weimar A-Z. Weimar: 1932. Spielhagen, Martin: Gesamtunterricht in der Arbeitsgemeinschaft einer einklassigen Landschule. (Dritter bis achter Jahrgang). Breslau: 1926. Veeh, L.: Die freie Schulgemeinde Wickersdorf als Zukunftsschule. Kirchheim f. Teck: 1913. Wille, Bruno: Deutscher Geist und Judenhaß. Ein Werk d. Volkskraft-Bundes. Berlin: 1920. Wille, Bruno: Philosophie der Liebe. Aus dem Nachlass herausgegeben von Emmy Wille, 1930. Gesammelte Werke Band 3. Pfullingen: 1930.

6.2. Forschungsliteratur Altendorf, Hermann: Berthold Otto. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik. Lüneburg: 1988. Andresen, Sabine: Reformpädagogik und Klassiker. In: Dollinger, Bernd (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft. 3. Auflage. Wiesbaden: 1996: 199-220. Baader, Meike Sophia: Erziehung als Erlösung. Transformation des Religiösen in der Reformpädagogik. Weinheim und München: 2005. Bach, Maurizio und Breuer, Stefan: Faschismus als Bewegung und Regime. Italien und Deutschland im Vergleich. Wiesbaden: 2010. Ballauf, Theodor und Schaller, Klaus: Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Band III. 19./20. Jahrhundert. Freiburg/München: 1973. Barth, Gernot und Henseler, Joachim (Hrsg.): Berthold Otto: pädagogische, psychologische und politische Schriften. Baltmannsweiler: 2008. Baumann, Paul: Berthold Otto. Der Mann – die Zeit – das Werk – das Vermächtnis. Sechs Bände (I, II: 1958; III, IV: 1959; V, VI: 1962). München. Becker, Gary S.: Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens. Tübingen: 1993.

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Literatur

Beckmann, Markus und Pies, Ingo: Ordnungsverantwortung – Konzeptionelle Überlegungen zugunsten einer semantischen Innovation. Diskussionspapiere des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik der MLU Halle-Wittenberg 10/2006. Halle: 2006. Benner, Dietrich und Brüggen, Friedhelm: Geschichte der Pädagogik. Von Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart. Stuttgart 2011. Benner, Dietrich und Kemper, Herwart: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik. Weinheim, Basel: 2003. Benner, Dietrich: Die Permanenz der Reformpädagogik. In: Rülcker, Tobias und Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Politische Reformpädagogik Bern u.a.: 1998: 16-36. Berg, Christa (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4. 18701918: von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München: 1991. Bergner, Reinhard: Die Berthold-Otto-Schulen in Magdeburg. Ein vergessenes Kapitel reformpädagogischer Schulgeschichte von 1920 bis 1950. Frankfurt am Main u.a.: 1999. Bergner, Reinhard: Magdeburger Schulversuche mit Berthold Ottos Schulkonzept zur Zeit der Weimarer Republik. In: Amlung, Ulrich et al (Hrsg.): ‚Die alte Schule überwinden‘. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: 1993: 158-184. Blankertz, Herwig. Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar: 1982. Blättner, Fritz: Geschichte der Pädagogik (15. unveränderte Auflage). Heidelberg: 1980. Bockemühl, Erich: Otto zur Linde und der Charon. In: Weimarer Blätter. Zeitschrift des deutschen Nationaltheaters in Weimar. 3. Jahrgang, Heft 11/1921: 575-579. Böhm, Winfried: Maria Montessori : Hintergrund und Prinzipien ihres pädagogischen Denkens. Bad Heilbrunn: 1969. Depaepe, Marc: Sammelrezension zu: Dietrich Benner/Herwart Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik Teil 1 und 2. In: ZfPäd, 49. Jahrgang, Heft 2/2003: 314-320. Dollinger, Bernd (Hrsg.) Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft. 3. Auflage. Wiesbaden: 1996. Dorn, Burkhard: Die Zukunftsschule Berthold Ottos und ihr Verhältnis zur deutschen Bildungsreform der Gegenwart. Dissertation. Universität Münster: 1974. Dudek, Peter: „Liebevolle Züchtigung“. Ein Mißbrauch der Autorität im Namen der Reformpädagogik. Bad Heilbrunn: 2012. Dudek, Peter: „Versuchsacker für eine neue Jugend“. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906-1945. Bad Heilbrunn: 2009.

Literatur

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Dudek, Peter: „Wir wollen Krieger sein im Heere des Lichts“. Reformpädagogische Landerziehungsheime im hessischen Hochwaldhausen 1912-1927. Bad Heilbrunn: 2013. Dühlmeier, Bernd: Und die Schule bewegte sich doch. Unbekannte Reformpädagogen und ihre Projekte in der Nachkriegszeit. Bad Heilbrunn: 2004. Eggert, Helene: Pioniere der Reformpädagogik. Die Bender’schen Anstalten für Knaben in Weinheim an der Bergstraße 1829-1918. Frankfurt am Main: 2006. Eichler, Wolfgang: „Meine Liebe ist mir doch die größte Freude. Klara Sträter und Berthold Otto. Baltmannsweiler: 2009. Eisenberg, Ulrike: Vom „Nervenplexus“ zur „Seelenkraft“: Werk und Schicksal des Berliner Neurologen Louis Jacobsohn-Lask (1863–1940). Frankfurt/Main: 2005. Elzer, Hans-Michael: Begriffe und Personen aus der Geschichte der Pädagogik. Herausgegeben von Franz-Joachim Eckert und Klaus Lotz. Frankfurt am Main u.a.: 1985. Erath, Peter: Sozialarbeitswissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: 2006. Flitner, Wilhelm und Kudritzki, Gerhard: Die deutsche Reformpädagogik. Die Pioniere der pädagogischen Bewegung. 5. Auflage. Stuttgart: 1995. Flitner, Wilhelm und Kudritzki, Gerhard: Die deutsche Reformpädagogik. Ausbau und Selbstkritik. Düsseldorf: 1962. Fricke, Dieter: Der Deutschbund. In Puschner, Uwe et al (Hrsg.): Handbuch der völkischen Bewegung 1871-1918. München: 1999: 328-340. Friedman, David: Der ökonomische Code: wie wirtschaftliches Denken unser Handeln bestimmt. München, Zürich: 2001. Geißler, Georg: Das Problem der Unterrichtsmethode. Bearbeitet von Georg Geißler. Weinheim/B.: 1967. Gruner, Wolfgang: ‚Ein Schicksal, das ich mit sehr vielen anderen geteilt habe‘. Alfred Kantorowicz. Sein Leben und seine Zeit 1899-1935. Kassel: 2006. Günther, Karl Heinz et al (Red.): Geschichte der Erziehung. Berlin: 1982. Häußler, G.: Das höhere Schulwesen der Stadt Berlin. In: Stein, Erwin (Hrsg.): Monographien deutscher Städte. Berlin. Oldenburg i.Gr.: 1914: 105-114. Hergemöller, Bernd-Ulrich: Friedländer, Benedict. In: Ders. (Hrsg.): Mann für Mann. Biografisches Lexikon. Zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, neubearbeitete und ergänzte Auflage. Berlin: 2010: 351-353. Hennecke, Hans: Einführung. In: zur Linde, Otto: Charon. Auswahl aus seinen Gedichten. München: 1952: 7-38. Henningsen, Jürgen: Berthold Otto (1859-1933). In: Scheuerl, Hans: Klassiker der Pädagogik. Zweiter Band. Von Karl Marx bis Jean Piaget. München: 1979: 127-139. Holtfrerich, Carl-Ludwig: Die deutsche Inflation 1914-1923. Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive. Berlin: 1980.

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Literatur

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Literatur

Schonig, Bruno: Irrationalismus als pädagogische Tradition. Die Darstellung der Reformpädagogik in der pädagogischen Geschichtsschreibung. Weinheim, Basel: 1973. Schonig, Bruno: Reformpädagogik. In: Kerbs, Diethart und Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen. Wuppertal: 1998: 319330. Schuster, Marina: Fidus – ein Gesinnungskünstler der völkischen Kulturbewegung. In: Puschner, Uwe et al (Hrsg.): Handbuch zur ‚Völkischen Bewegung‘ 1871-1918. München: 1999: 634-650. Schwarz, Susanne. Altersgemischtes Lernen im Religionsunterricht.. Konzeptionelle Annäherungen. Bad Heilbrunn: 2013. Skiera, Ehrenhard: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine kritische Einführung. 2. durchgesehene und korrigierte Auflage. München: 2010. Steinhaus, Hubert. Das Bild des erziehenden Lehrers in der deutschen pädagogischen Bewegung. Dargestellt am pädagogischen Selbstverständnis Rudolf Hildebrands, Ernst Lindes, Heinrich Scharrelmanns, der Hamburger Schulreformer, Berthold Ottos und Hermann Lietz’s. Dissertation. Westfälische Wilhelms-Universität zu Münster: 1965. Suchanek, Andreas: Normative Umweltökonomik. Zur Herleitung von Prinzipien rationaler Umweltpolitik. Tübingen 2000. Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. 4. erweiterte Auflage: Weinheim, München: 2008. Tenorth, Heinz-Elmar: Klassiker der Pädagogik. 2 Bd. München: 2003. Troeltsch, Ernst: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918-1923). Hrsg. von Gangolf Hübinger. In Zusammenarbeit mit Johannes Mikuteit. Kritische Gesamtausgabe; Bd. 15. Berlin: 2002. Ullrich, Heiner: Das Kind als schöpferischer Ursprung. Studien zur Genese des romantischen Kindebildes und zu seiner Wirkung. Bad Heilbrunn: 1999. Ullrich, Heiner: Die Reformpädagogik. Modernisierung oder Weg aus der Moderne? In: Zeitschrift für Pädagogik. 36. Jahrgang, 1990, Heft 6: 893-918. Umbricht-Seidemann, Barbara: Individualpsychologie und Reformpädagogik. Der individualpsychologische Ansatz von Lernen und Erziehen in den Wiener Schulen der Zwanzigerjahre im Vergleich mit den reformpädagogischen Konzepten Berthold Ottos, der Hamburger Gemeinschaftsschulen und Peter Petersens. Zürich: 1995. Vilsmeier, Franz: Der Gesamtunterricht. Bearb. von Franz Vilsmeier. Weinheim/B.: 1967. vom Brocke, Bernhard (Hrsg.): Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftspolitik im Industriezeitalter. Das „System Althoff“ in historischer Perspektive. Hildesheim: 1991. vom Brocke, Bernhard: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Kaiserreich 1882-1907. Das „System Althoff“. In: Peter Baumgart (Hrsg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Stuttgart 1980: 9–118. Wehle, Gerhard: Vorwort. In: Scheibe (1969a).

Literatur

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Weimer, Hermann: Geschichte der Pädagogik. 19. völlig neu bearbeitete Auflage von Juliane Jacobi. Berlin, New York: 1992. Weiß, Edgar: Pädagogische Neuerungen im Kontext politischer Reaktion. Berthold Otto und seine „kindzentrierte“ Hauslehrerpädagogik. Kiel: 1994. Werner, Hans-Joachim. Geschichte der Freiwirtschaftsbewegung. 100 Jahre Kampf für eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Münster/New York: 1990. Wöhe, Günter: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 20. neubearbeitete Auflage. München: 2000. Wothge, Rosemarie: Die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen, psychologischen und pädagogischen Anschauungen Berthold Ottos. Ein Beitrag zur Pädagogik des deutschen Imperialismus. Habilitationsschrift der Pädagogischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle: 1955.

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