Überbürdung - Subversion - Ermächtigung: Die Schule und die literarische Moderne 1880-1918 9783737000956, 9783847100959, 9783847000952

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Überbürdung - Subversion - Ermächtigung: Die Schule und die literarische Moderne 1880-1918
 9783737000956, 9783847100959, 9783847000952

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Literatur- und Mediengeschichte der Moderne

Band 2

Herausgegeben von Hermann Korte und Ingo Stöckmann

Gwendolyn Whittaker

Überbürdung – Subversion – Ermächtigung Die Schule und die literarische Moderne 1880 – 1918

Mit 2 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0095-9 ISBN 978-3-8470-0095-2 (E-Book) Gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz Kulturelle Grundlagen von Integration. Zugl.: Diss., Universität Konstanz 2012. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: »Schreibmaschine«, owik2/photocase Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Julian und Valentin

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. In der Schule der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Streit um die Schule als Streit um die ›Bildung‹ . . . . . . a. ›Bildung‹ (1): Die Offensive aus der Kulturkritik (Nietzsche) b. ›Bildung‹ (2): Das Ringen der Schulpolitik . . . . . . . . . . 2. Die Schulliteratur zwischen 1880 und 1918 . . . . . . . . . . . a. Das Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Anlage der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Überbürdungsgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anatomien der Überbürdeten: wissenschaftliche und literarische Untersuchungen von Sorgenkindern der Jahrhundertwende . . . . a. Die Vermessung der Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die unhintergehbare Rede: Überbürdung als Spracheffekt in Conrad Ferdinand Meyers ›Das Leiden eines Knaben‹ (1883) . . 2. Die Erziehung des Willens und ihre Verweigerung: Abgebrochene Lebensläufe, unvollendete Genealogien (M. v. Ebner-Eschenbach, Th. Mann, E. Strauß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Pädagogik der Aufmerksamkeit und der Willenserziehung . . . b. Diffuse Gedanken, unterbrochene Genealogien: Gescheiterte Erziehung bei Marie von Ebner-Eschenbach, Thomas Mann und Emil Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Leistungsparadigmen: Körperliche Verausgabung als ästhetische Artistik in Rilkes Erzählung ›Die Turnstunde‹ (1902) . . . . . . .

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8 III. Spiele mit der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwischen Groteske und Zirkuspädagogik: Wedekinds Körper-Lehren in ›Frühlings Erwachen‹ (1890) und ›Mine-Haha‹ (1901) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. ›Geistesgymnastik‹: Die Poetologie der Pubertät als heitere Groteske in ›Frühlings Erwachen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Über die ästhetische Erziehung der Mädchen: Körperartistik als Lebenskunst in ›Mine-Haha‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Am Rande der Institution: Selbsterziehungsprojekte und Genre-Reflektion bei Georg Kaiser und Robert Musil . . . . . . . a. Burleske Zersetzung des Kanons: Georg Kaisers Schuldramen . b. Ästhetische Transzendierung des Überbürdungsnarrativs: ›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹ (1906) . . . . . . . . . . . . 3. Programme der Stilbildung und ihre Subversion in Robert Walsers Schulprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Stilistisches »Irrlichtelieren«: ›Fritz Kochers Aufsätze‹ (1904) . . b. Intermezzo: ›Tagebuch eines Schülers‹ (1908) . . . . . . . . . . c. Die Zersetzung der Institution im Zeichenspiel: ›Jakob von Gunten‹ (1909) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Politische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gymnasiallehrer auf Abwegen: Die Figur des Lehrers im Schuldrama und ihre Radikalisierung in Heinrich Manns ›Professor Unrat‹ (1905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Wider den Philister : Bilder des Gymnasiallehrers um 1900 . . . b. Der Philister als Musteranarchist: Heinrich Manns ›Professor Unrat‹ (1905) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gescheiterte Gemeinschaften. Misslungene Reformprojekte und der Weg zu einer politischen Pädagogik bei Robert Saudek und Wilhelm Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Selbstmord als Opfer für die höhere Idee: Robert Saudeks ›Gymnasiastentragödie‹ (1907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Reformpädagogik als rhetorisches Unternehmen: Wilhelm Lehmanns Bearbeitungen der Konflikte um Gustav Wyneken in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf . . . . . . . . . . . . . . 3. Auf dem Weg in eine neue Gesellschaft: Die Überwindung der Schule bei Leonhard Frank und Arnolt Bronnen . . . . . . . . . . a. Das Plädoyer des Lehrermörders für eine gerechte ökonomische Ordnung: Leonhard Franks Erzählung ›Die Ursache‹ (1916) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

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Inhalt

b. Die Gründung des Jugendreichs auf der Sprengung der Form: Arnolt Bronnens ›Geburt der Jugend‹ (1914) . . . . . . . . . . .

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V. Jenseits der Schulliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schulliterarische Quellentexte . . . . . . a. Korpustexte . . . . . . . . . . . . . . . b. Weitere schulliterarische Quellentexte 2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

An erster Stelle möchte ich meinen akademischen Lehrern Prof. Dr. Albrecht Koschorke und Prof. Dr. Ingo Stöckmann für die produktiven Rahmenbedingungen und für ihre Betreuung dieser Arbeit sehr herzlich danken. Mein Dank gilt dem Konstanzer Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration für die Möglichkeit, im Rahmen dieses Forschungsverbundes zu promovieren und für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung der Arbeit, ebenso wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Finanzierung der Doktorandenstelle. Prof. Dr. Hermann Korte und Prof. Dr. Ingo Stöckmann sei herzlich für ihre Bereitschaft gedankt, die Studie in die Reihe Literatur- und Mediengeschichte der Moderne aufzunehmen. Simone Warta und Roland Tremmel gebührt ein großer Dank für ihre umsichtige Redaktion des Manuskriptes. Für die Gelegenheit, die Arbeit in ihren verschiedenen Stadien zur Diskussion zu stellen, danke ich Prof. Dr. Jürgen Osterhammel, PD Dr. Michael Kempe und den Mitgliedern des Doktorandenkollegs Zeitkulturen. Meiner Familie möchte ich von Herzen für ihren Rückhalt danken, an dem sie es nicht nur während der Promotionsphase nie hat mangeln lassen. Konstanz, im Dezember 2012

I. In der Schule der Jahrhundertwende

Der Schule der Jetztzeit ist etwas gelungen, das nach den Naturgesetzen unmöglich sein soll: die Vernichtung eines einmal vorhanden gewesenen Stoffes. Der Kenntnisdrang, die Selbsttätigkeit und die Beobachtungsgabe, die die Kinder dorthin mitbringen, sind nach Schluss der Schulzeit in der Regel verschwunden, ohne sich in Kenntnisse oder Interessen umgesetzt zu haben. Das ist das Resultat, wenn die Kinder ungefähr vom sechsten bis zum achtzehnten Jahr ihr Leben auf Schulbänken damit zugebracht haben, Stunde für Stunde, Monat für Monat, Semester für Semester Kenntnisse zuerst in Teelöffel-, dann in Dessertlöffel- und schließlich in Esslöffelportionen einzunehmen, Mixturen, die der Lehrer oft aus Darstellungen aus vierter oder fünfter Hand zusammengebraut hat. Und nach der Schule kommt oft eine weitere Studienzeit, in der der einzige Unterschied in der ›Methode‹ darin besteht, dass die Mixtur jetzt mit dem Schöpflöffel zugemessen wird. Wenn die Jugend diesem Regime entrinnt, ist die geistige Esslust und Verdauungsfähigkeit bei einigen so zerstört worden, dass ihnen für immer die Fähigkeit fehlt, wirkliche Nahrung aufzunehmen.1

Pünktlich zum Jahrhundertwechsel ruft die schwedische Schriftstellerin und Reformpädagogin Ellen Key mit ihrer gleichnamigen Programmschrift das »Jahrhundert des Kindes« aus. In ihrem Manifest geißelt Key, was sie als Verfehlungen zeitgenössischer Erziehung in Familie und Schule begreift. Demgegenüber beschwört sie in pathetischer Rhetorik eine neue gesellschaftliche Ordnung, die – ausgerichtet an den Bedürfnissen der Kinder – zu einer 1 Ellen Key : Das Jahrhundert des Kindes. Hg. mit einem Nachw. von Ulrich Herrmann; autoris. Übers. von Francis Marco. Berlin 1902. ND Weinheim / Basel 1992 (Pädagogische Bibliothek Beltz, Bd. 7), 144. – Nachweise aus der Primär- und der Forschungsliteratur werden bei der Erstnennung mit vollständigen bibliographischen Referenzen angegeben, bei wiederholter Zitation unter Nennung von Autorname, Kurztitel und Seitenzahl. Mit jedem neuen Kapitel (nicht Teilkapitel) wird der Titel wieder vollständig genannt. Texte aus dem Korpus der Schulliteratur werden nach einmaliger Nennung der bibliographischen Angaben als Siglen zitiert, die im Literaturverzeichnis unter der Rubrik »Korpustexte« aufgelöst werden. Wird ein Werk mehrfach fortlaufend hintereinander zitiert, erfolgt der Nachweis mit ›Ebd.‹ und unter Angabe der Seitenzahl. Eigene Hervorhebungen werden mit ›m. Hvbg.‹ markiert, Hervorhebungen im Original mit ›Hvbg. i. O.‹.

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In der Schule der Jahrhundertwende

›Selbsterlösung‹ der sich in den modernen Lebensverhältnissen entfremdeten Menschheit führen soll. So entwirft sie als diätetisches Gegenprogramm zu dem oben geschilderten Missstand im Kapitel Die Seelenmorde an den Schulen eine »Schule der Zukunft«: Die Schule wird dann ganz einfach das geistige Speisehaus, in dem die Eltern und Lehrer den für jedes Kind geeigneten Speisezettel entwerfen. Die Schule muß das Recht haben zu bestimmen, was sie in ihr Menu aufnehmen kann, aber die Eltern haben das Recht, für ihre Kinder unter den von der Schule aufgenommenen geistigen Nahrungsstoffen zu wählen.2

Keys Schrift zeichnet sich durch eine mythologisierende Erhöhung des Kindes und seiner Entwicklung aus und trägt deutlich utopische Züge. Es ist ihr nicht um wissenschaftliche Beweisführung zu tun. Die Anleihen etwa bei Charles Darwin, Francis Galton und vor allem Friedrich Nietzsche3 sind selektiv, ihr Ergebnis ist ein suggestives Amalgam eugenischer, soziologischer, pädagogischer und ästhetischer Wissensbestände. Dies ist – um in Keys Metapher zu bleiben – eine Rezeptur, die in ihrem Aussagegehalt wie in ihrem rhetorischen Gestus für die Reformpädagogik der Jahrhundertwende als repräsentativ gelten kann.4 Sie stößt insbesondere im Deutschen Reich auf fruchtbaren Boden: Im Jahr 1902 erscheint der Text in deutscher Sprache und erreicht bereits drei Jahre später die 12. Auflage, als einer ihrer prominentesten Leser kann der junge Rainer Maria Rilke gelten. Das Jahrhundert des Kindes ruft nicht ohne Grund insbesondere im Zweiten Kaiserreich eine solche Resonanz hervor. Die Wahrnehmung einer kulturellen Krise,5 welche die Moderne um 19006 und die Mentalitätslage der wilhelmini2 Ebd., 146. 3 Vgl. Ulrich Herrmann: »Die ›Majestät des Kindes‹ – Ellen Keys polemische Provokationen. Nachwort«, in: Key : Jahrhundert des Kindes, 253 – 64, hier 260. 4 Zur Rhetorik der Reformpädagogik vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 3., vollst. bearb. und erw. Aufl., Weinheim / München 1996. 5 Vgl. aus kultursoziologischer Perspektive Klaus Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende: zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Frankfurt am Main 1996, insbes. 13 – 76. Mit Blick auf Westeuropa vgl. jüngst Philipp Blom: The Vertigo Years. Change and Culture in the West, 1900 – 1914. London 2008. Dass und inwiefern diese Krise nicht zuletzt als eine Krise von Männlichkeitskonzepten zu verstehen ist, hat Albrecht Koschorke ausgeführt: Albrecht Koschorke: »Die Männer und die Moderne«, in: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam, Atlanta 2000 (Avantgarde Critical Studies, Bd. 14), 141 – 62. 6 Diese und die folgenden Verwendungen des Moderne-Begriffes orientieren sich an Hans Ulrich Gumbrechts Begriffsbestimmung, welche die Epoche um 1900 in Hinblick auf ihre Zeitstruktur sowie den daraus abgeleiteten programmatischen Anspruch wie folgt definiert: »Die Gegenwart war aber nicht allein in ihrer Dauer auf einen Punkt des zeitlichen Ablaufs reduziert, sondern auch als Vergangenheit der Zukunft, damit als Chance der Gestaltung

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schen Gesellschaft kennzeichnet, hat nicht zuletzt eine pädagogische Signatur: Einerseits verzeichnet die Sozialgeschichte eine Emanzipation der Heranwachsenden. Diese verschafft sich in Jugendbewegungen wie dem ›Wandervogel‹ Ausdruck,7 die als Teil lebensreformerischer Gegenentwürfe zur bürgerlichen Ordnung der wilhelminischen Gesellschaft zu begreifen sind. Dazu gehört selbstverständlich die reformpädagogische Bewegung.8 Ferner drückt sich das Emanzipationsbestreben der Jugend in dem für die Epoche charakteristischen Generationenkonflikt aus.9 Diese Phänomene eint die Skepsis gegenüber erzieherischen Ansprüchen – eine Skepsis, die nicht zuletzt ästhetizistische Autoren deutlich artikulieren. So heißt es etwa bei Karl Kraus in einem Aphorismus: »Jede Art von Erziehung hat es darauf abgesehen, das Leben reizlos zu machen, indem sie entweder sagt, wie es ist, oder dass es nichts ist. Man verwirrt uns in einem fortwährenden Wechsel, man klärt uns auf und ab.«10 Gegenüber solchen Diagnosen, die der Erziehung nicht nur ihre Zuständigkeit, sondern darüber hinaus jegliche Wirkung absprechen, ist andererseits eine massive Anstrengung zu beobachten, Erziehungshandlungen zu verstärken. Darauf deutet nicht nur

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dieser Zukunft erlebt worden. So wurde sie jetzt als nach vorne offener Raum der Handlungsplanung, die sich in Programmen formulieren ließ, verstanden.« Hans Ulrich Gumbrecht, »Modern, Modernität, Moderne«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 4, Stuttgart 1978. 93 – 131, hier 120. Entsprechend changiert der Modernebegriff in diesem Verständnis zwischen den Wortbedeutungen »neu« und »vorübergehend«, die Gumbrecht zu Beginn seines Artikels gegenüberstellt, vgl. ebd., 96 sowie 121. Vgl. noch immer Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend. Frankfurt am Main 1985. Zur Genese des ›Jugendlichen‹ vgl. Lutz Roth: Die Erfindung des Jugendlichen. München 1983; Peter Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890 – 1933. Opladen 1990, sowie Johann-Christoph von Bühler : Die gesellschaftliche Konstruktion des Jugendalters. Entstehung der Jugendforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Weinheim 1990. Zum Wandervogel vgl. Ulrich Herrmann (Hg.): ›Mit uns zieht die neue Zeit…‹: der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung. Weinheim / München 2006. Einen Überblick bietet Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 1987 (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit, Bd. 4514). Vgl. anstelle vieler York-Gothart Mix: »Generations- und Schulkonflikte in der Literatur des Fin de siÀcle und des Expressionismus«, in: Ders. (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 7: Naturalismus, Fin de siÀcle, Expressionismus, 1890 – 1918. München / Wien 2000. 314 – 22. Karl Kraus: »Aphorismen«, in: Die Fackel 290 (1909). 12 – 13, hier 12. Ähnlich schreibt Oscar Wilde: »Education is an admirable thing. But it is well to remember from time to time that nothing that is worth knowing can be taught.« Oscar Wilde: The Critic as Artist, in: Ders.: Complete Works. Hg. von J.B. Foreman. London / Glasgow 1973. 1009 – 59, hier 1016. Jürgen Oelkers hat das Verhältnis von pädagogischen und ästhetischen Moderne-Diskursen in einem aufschlussreichen Aufsatz untersucht: Jürgen Oelkers: »Pädagogik in der Krise der Moderne«, in: Klaus Harney, Heinz-Hermann Krüger (Hg.): Einführung in die Geschichte der Erziehungswissenschaft und der Erziehungswirklichkeit. 3., erw. u. akt. Aufl., Opladen / Bloomfield Hills 2006 (Einführungskurs Erziehungswissenschaft, Bd. 3), 71 – 115.

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eine neuartige Flut an Erziehungsratgebern hin,11 sondern auch der Ausbau und die Differenzierung des Schulsystems und die damit zusammenhängende Klage über eine zunehmende Überforderung der Schüler, mit der auch die vermeintlich steigende Selbstmordrate im Kindes- und Jugendalter in Verbindung gebracht wird. Die Jahrhundertwende, soviel kann also zunächst festgehalten werden, ist gleichermaßen geprägt von der Kritik an als überkommen wahrgenommenen Konzepten von Bildung und Erziehung wie von Anstrengungen ihrer institutionell-organisatorischen und rhetorischen Verbreitung.12 Zugleich wird zwischen den Jahren 1880 und 1918 eine auffällige Häufung solcher literarischer Texte erkennbar, welche die Institution der Schule zum Gegenstand haben. Ihnen gilt das Interesse dieser Arbeit. Diese schulliterarischen Texte und die außerliterarischen Diskussionen pädagogischer Fragen durchdringen einander wechselseitig. Wenn im Folgenden also den Ausführungen zur Schulliteratur zunächst eine problemorientierte Darstellung der bildungspolitischen Situation um 1900 vorangestellt wird, ist diese Rahmung nicht als ›Kontextualisierung‹ eines Textkorpus zu verstehen, das diesen Rahmen lediglich reflektieren oder spiegeln würde. Vielmehr muss diese Komplementarität stets mitgedacht werden – nicht selten sind, wie im Verlauf der Arbeit deutlich werden soll, auch außerliterarische Argumente häufig schon von literarischen angeleitet und bestimmt. Was diese gesellschaftspolitischen Diskussionen betrifft, hat man es mit einer Gleichzeitigkeit von Monita aus dem Lager der Reformpädagogik und Kulturkritik, von schulpolitischen Veränderungsversuchen und von einer nicht nur daraus resultierenden Veränderung des Bildungsbegriffs zu tun, die einander nicht chronologisch folgen, sondern sich ebenfalls ständig gegenseitig reflektieren. Diese drei Hauptstränge – Kulturkritik, Begriffsumbildung und (politischer) Reformwille – können als repräsentativ für die ›Großwetterlage‹ des pädagogischen Diskurses um 1900 gelten.

11 Vgl. Ulrich Herrmann: »Pädagogisches Denken und die Anfänge der Reformpädagogik«, in: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4. 1870 – 1918: von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991. 147 – 78, hier 156 – 59. 12 Eva Geulen hat diesen Befund prägnant gefasst: »Die Reaktion auf die Krise der Erziehung lautet: mehr Erziehung, ihre systematische Entgrenzung und Universalisierung.« Eva Geulen: »Erziehungsakte«, in: Jürgen Fohrmann (Hg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart / Weimar 2004. 628 – 52, hier 646.

Der Streit um die Schule als Streit um die ›Bildung‹

1.

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Der Streit um die Schule als Streit um die ›Bildung‹

Der Begriff der Bildung muss als Schlüsselbegriff im Schuldiskurs um 1900 verstanden werden. Dabei wird er selten trennscharf von dem der Erziehung abgegrenzt – gerade Nietzsche etwa trennt die Konzepte kaum eindeutig.13 Die Beispiele der Kulturkritik vor allem Nietzsches (1.a) und der Schulpolitik des Wilhelminischen Reiches (1.b) sollen verdeutlichen, in welchem Verhältnis der Schuldiskurs des frühen Wilhelminischen Reiches zu dem Begriff der Bildung steht, der zur gleichen Zeit einen signifikanten semantischen Wandel erfährt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Zeitraum zwischen 1870 und 1900, weil dieser den Kontext für den Beginn der Konjunktur schulliterarischer Texte darstellt.

a.

›Bildung‹ (1): Die Offensive aus der Kulturkritik (Nietzsche)

Friedrich Nietzsche ist zwar nicht der Erste, der Kritik an einer Bildung übt, die – institutionalisiert und auf ihre Relevanz für Karrierefragen reduziert – zum bloßen Besitz verkommen sei.14 Er formuliert seine Kritik jedoch auf unvergleichlich fulminante Weise, gemäß dem Motto, »einmal recht böse werden« zu müssen, »damit es besser wird.«15 Der erste überlieferte Ausdruck seiner Bildungskritik ist in seinen Basler Vorlesungen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (Anfang 1872 gehalten) aus dem Nachlass zu finden, in der er sich vor allem auf das deutsche Bildungssystem bezieht. Nietzsche stellt darin die 13 Vgl. auch den Eintrag »Pädagogik« im Nietzsche-Handbuch, das im Übrigen keine Ausführungen zu Nietzsches Verwendungen der Begriffe ›Bildung‹ und ›Erziehung‹ enthält: Christian Niemeyer : »Pädagogik«, in: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart / Weimar 2000. 486 – 89. Im Folgenden wird, wo dies erforderlich scheint, die je spezifische Konnotation am Textmaterial erläutert. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Schuldiskurs dieser Zeit (wenn nicht einer jeden Epoche) beide Begriffe umfasst beziehungsweise von der Institution Schule in beiden Hinsichten Leistungen erwartet. Für einen Überblick über die Geschichte des Bildungsbegriffs vgl. die Einträge in den einschlägigen Lexika: Ernst Lichtenstein, »Bildung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. 1, Basel / Stuttgart 1971. Sp. 921 – 37, Rudolf Vierhaus, »Bildung«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1, Stuttgart 1992. 508 – 51 sowie Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt am Main 1996, für die Jahrhundertwende insbes. 225 – 88. 14 Diese Kritik äußerten deutlich früher etwa Goethe, Hegel und Jakob Burckhardt, vgl. Lichtenstein: Bildung, 927 f. und Vierhaus: Bildung, 547 f. 15 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, München 1980. 316.

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In der Schule der Jahrhundertwende

Kultur der Antike als Bildungsideal der Art und Weise gegenüber, wie die moderne Schule diese Kultur instrumentalisiere. Die Vorträge sind dialogisch verfasst, wenn Nietzsche darin in Anlehnung an Platon sein Argument in Form eines Gespräches des vortragenden Ich mit einem Philosophen und dessen Begleiter entwickelt, wobei der rhetorisch eingeführte Gesprächspartner erkennbare Züge Schopenhauers trägt.16 Nietzsche stellt den Vorträgen mit einer ›Vorrede‹ eine Art Leseanweisung voran, die drei Forderungen an seinen idealen Leser formuliert: Er dürfe keine Tabellen erwarten; er möge während der Lektüre nicht »seine Bildung unausgesetzt dazwischen bringen«,17 und schließlich möge er sich für die Lektüre Zeit nehmen: Diese [die in diesem Sinn idealen Leser, G.W.] aber können sich nicht daran gewöhnen, den Werth jedes Dinges nach der Zeitersparniß oder Zeitvergeudung abzuschätzen, diese ›haben noch Zeit‹; ihnen ist es noch erlaubt, ohne vor sich selbst Vorwürfe zu empfinden, die guten Stunden des Tages und ihre fruchtbaren und kräftigen Momente auszuwählen und zusammenzusuchen, um über die Zukunft unserer Bildungsanstalten nachzudenken […]. Ein solcher Mensch hat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, […], ja er ist so verschwenderisch geartet, daß er gar noch über das Gelesene nachdenkt, vielleicht lange nachdem er das Buch aus den Händen gelegt hat.18

Diese Anweisung macht einen charakteristischen Grundzug von Nietzsches bildungskritischen Schriften kenntlich: Er inszeniert darin eine Gegenpädagogik, deren Verhaltensvorgaben – die Muße – und Sprachordnung – der Dialog – denen der staatlichen Schule diametral gegenüberstehen. Auf diese Weise funktionieren die Texte selbst didaktisch und führen performativ eine alternative Erziehungskultur vor. Ohne an dieser Stelle bereits einen ausdrücklichen Bezug zum Gegenstand der Vorträge herzustellen, markiert Nietzsche also mit der Ironisierung der Hast und der Unfähigkeit zur Versenkung bereits Aspekte, an denen sich sein kultur- und bildungskritischer Impuls entzündet. Denn nicht zuletzt kultiviere eben die Schule diese beiden Laster. Ihre beiden grundlegenden Probleme seien in der Popularisierung und der staatlichen Institutionalisierung der Bildung zu suchen: Zwei scheinbar entgegengesetzte, in ihrem Wirken gleich verderbliche in ihren Resultaten endlich zusammenfließende Strömungen rschen in der Gegenwart unsere ursprünglich auf ganz anderen Fundamenten gegründeten Bildungsanstalten: 16 Vgl. Giorgio Colli: »Nachwort«, in: Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, München 1980. 899 – 919, hier 915. 17 Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Schriften 1870 – 1873, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, München 1980. 511 – 897, hier 650. 18 Ebd., 649.

Der Streit um die Schule als Streit um die ›Bildung‹

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einmal der Trieb nach möglichster E r w e i t e r u n g d e r B i l d u n g , andererseits der Tr i e b n a c h Ve r m i n d e r u n g u n d A b s c hw ä c h u n g d e r s e l b e n . Dem ersten Triebe gemäß soll die Bildung in immer weitere Kreise getragen werden, im Sinne der anderen Tendenz wird der Bildung zugemuthet, ihre höchsten selbstherrlichen Ansprüche aufzugeben und sich dienend einer anderen Lebensform, nämlich der des Staates unterzuordnen.19

Diesen Tendenzen stellt Nietzsche zwei andere gegenüber, welche die Bildung wiederbeleben sollen: den »Triebe nach Ver e n g e r u n g [sic!] und Kon c e n t r a t i on der Bildung […] und de[n] Triebe nach S t ä r k u n g und S e l b s t g e nu g s a m ke i t [sic!] der Bildung […].«20 Diese Wiederbelebung könne allerdings nur durch »[e]ine wahre Erneuerung und Reinigung des Gymnasiums« zustande kommen, welche wiederum zuvor »einer tiefen und gewaltigen Erneuerung und Reinigung des deutschen Geistes«21 bedürfe. Dabei unterscheidet Nietzsches Philosoph zwei Bildungsbegriffe: Also, meine Freunde, verwechselt mir diese Bildung, diese zartfüßige, verwöhnte, aetherische Göttin nicht mit jener nutzbaren Magd, die sich mitunter auch ›die Bildung‹ nennt, aber nur die intellektuelle Dienerin und Beratherin der Lebensnot, des Erwerbs, der Bedürftigkeit ist. Jede Erziehung aber, welche an das Ende ihrer Laufbahn ein Amt oder einen Brodgewinn [sic!] in Aussicht stellt, ist keine Erziehung zur Bildung, wie wir sie verstehen, sondern nur eine Anweisung, auf welchem Wege man im Kampfe um das Dasein sein Subjekt rette und schütze.22

Die ›wahre‹ Bildung bestimmt der philosophische Gesprächspartner hier nur ex negativo, indem ihre zentrale Charakteristik die ist, nicht instrumentalisierbar zu sein in ihrem »erleuchtete[n] Aetherraum subjektfreie[r] Contemplation […].«23 Entsprechend unterscheidet er auch »A n s t a lt e n d e r B i l du n g und A n s t a l t e n d e r Le b e n s n o t h : zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich.«24 In der zweiten und dritten Unzeitgemäßen Betrachtung entwickelt Nietzsche diese aus der Bildungskritik gewonnene Alternativpädagogik weiter. Im Vorwort zum Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben begründet er den unzeitgemäßen Charakter der zweiten Abhandlung mit seiner Kritik an der historischen Bildung, »[…] weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu 19 Ebd., 647, Hvbg. i. O. Die Lösung der sozialen Frage durch das Bildungssystem schätzt Nietzsche entsprechend als Trugschluss ein, vgl. ebd., 668. 20 Ebd., 647, Hvbg. i. O. 21 Ebd., 691. 22 Ebd., 715. 23 Ebd., 714. 24 Ebd., 717, Hvbg. i. O.

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verstehen versuche […].«25 Er überträgt das Argument der Lebensferne, ja Lebensfeindlichkeit des Historismus26 auf das zeitgenössische Bildungswesen, insofern dieses ein historisches Wissen vermittle, das den Organismus gleichsam überfordere: »Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln […].«27 Um sich diesem nur vermeintlich ›zeitgemäßen‹ Bildungsanspruch zu widersetzen, bleibe der »jugendlichen Seele« ein »vorsätzliche[r] Stumpfsinn«28. Nietzsche konfrontiert diese historische Tendenz mit einem »memento vivere!«29 und ruft das Recht der Jugend aus, in der man den »Aberglauben« an die »Nothwendigkeit jener Erziehungsoperation«30 zerstören und an seine Stelle eine Auseinandersetzung mit dem Leben selbst setzen müsse: »Ja als ob das Leben selbst nicht ein Handwerk wäre, das aus dem Grunde und stätig [sic!] gelernt und ohne Schonung geübt werden muss, wenn es nicht Stümper und Schwätzer auskriechen lassen soll.«31 Dergestalt wird das emphatisch verstandene Leben zur Bedingung der Möglichkeit jeglicher Bildung und Kultur, wie Nietzsche am Ende der zweiten Betrachtung mit Bezug auf die griechische Kultur proklamiert: »Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen!«32 Die dritte Betrachtung mit dem Titel Schopenhauer als Erzieher schließlich entwickelt eine Reihe von Forderungen aus den Basler Vorlesungen und der zweiten Betrachtung weiter. Nietzsche fasst Erziehung erneut als Befreiung und begründet das Wesen der Bildung als ein Szenario der tabula rasa: »[…] Befreiung ist sie, Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms, das die zarten Keime der Pflanzen antasten will […].«33 Er macht dann in der Erziehung der Gegenwart zwei nur scheinbar widersprüchliche Maximen aus: einerseits die Unterstützung bei der Ausbildung einer bestimmten Veranlagung, andererseits die dem neuhumanistischen Bildungsideal verpflichtete harmonischganzheitliche Ausbildung aller Anlagen. Nietzsche plädiert für eine Verbindung beider Maximen:

25 Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, 246. 26 Vgl. ebd., 252. 27 Ebd., 272. Die diätetische Semantik, die Nietzsche hier wählt, wird von der Reformpädagogik – wie etwa im obigen Zitat bei Ellen Key – immer wieder übernommen werden. 28 Ebd., 299. 29 Ebd., 304. 30 Ebd., 326. 31 Ebd., 327. 32 Ebd., 329. Zur Lebensphilosophie der Jahrhundertwende vgl. Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831 – 1933. Frankfurt am Main 1983. 172 – 96. 33 Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, 335 – 427, hier 341.

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Jener erziehende Philosoph, den ich mir träumte, würde wohl nicht nur die Centralkraft entdecken, sondern auch zu verhüten wissen, dass sie gegen die andern Kräfte zerstörend wirke: vielmehr wäre die Aufgabe seiner Erziehung, […] den ganzen Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen.34

Die Orientierung an Schopenhauer eröffne die Möglichkeit einer solchen, eben gerade nicht zeitgemäßen, sondern einer Erziehung »g e g e n unsre Zeit«35, die Nietzsche als Zeit einer kulturellen Krise identifiziert.36 Die Anleitung durch solche »Ni c ht - Me h r- Ti e re , d i e P h i l o s op h e n , K ü n s t l e r u n d He i l i g e n «37, soll als Auftrag der »Ku lt u r « an den Einzelnen die »E r z e u g u n g d e s P h i l o s op h e n , d e s K ü n s t l e r s u n d d e s He i l i g e n i n u n s u n d au ß e r u n s […] f ö rd e r n […].«38 Die Aufgabe der Menschheit ist in diesem Sinne die, »einzelne grosse Menschen zu erzeugen«39, woran nicht zuletzt die Bildungseinrichtungen ihren Anteil haben. Ein letztes Mal unternimmt Nietzsche hier einen Angriff auf die als zeittypisch diagnostizierte Auffassung von Bildung als Kapital, wenn es heißt: […] möglichst viel Erkenntnis und Bildung, daher möglichst viel Bedürfniss, daher möglichst viel Produktion, daher möglichst viel Gewinn und Glück – so klingt die verführerische Formel. Bildung würde von den Anhängern derselben als die Einsicht definirt werden, mit der man […] durch und durch zeitgemäss wird, um so leicht wie möglich Geld zu gewinnen. Möglichst viele courante Menschen zu bilden, in der Art dessen, was man an einer Münze courant nennt, das wäre also das Ziel; und ein Volk wird, nach dieser Auffassung, um so glücklicher sein, je mehr es solche courante Menschen besitzt.40

Demgegenüber entwirft er die Fiktion einer alternativen Bildungsinstitution, die eben nicht am utilitaristischen Wohl der Vielen, sondern an der Ausbildung des Genius in sich beziehungsweise – wo das eigene Potential mangelt – am Dienst dieser Ausbildung in einem Anderen teilhaben: Dieser anderen kleineren Schaar würde eine Institution freilich einen ganz anderen Zweck zu erfüllen haben; sie selber will, an der Schutzwehr einer festen Institution, verhüten, daß sie durch jenen Schwarm [den der Anhänger der staatlich organisierten Bildung, G.W.] weggeschwemmt und auseinandergetrieben werden, daß ihre Einzelnen in allzufrüher Erschöpfung dahinschwinden oder gar von ihrer grossen Aufgabe abspänstig [sic!] gemacht werden. Diese Einzelnen sollen ihr Werk vollenden – das ist der 34 35 36 37 38 39 40

Ebd., 343. Ebd., 363, Hvbg. i. O. Vgl. ebd. 363 – 75. Ebd., 380, Hvbg. i. O. Ebd., 382, Hvbg. i. O. Vgl. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, 384. Ebd., 387 f.

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Sinn ihres Zusammenhaltens; und alle, die an der Institution theilnehmen, sollen bemüht sein, durch eine fortgesetzte Läuterung und gegenseitige Fürsorge, die Geburt des Genius und das Reifwerden seines Werkes in sich und um sich vorzubereiten. Nicht Wenige, auch aus der Reihe der zweiten und dritten Begabungen, sind zu diesem Mithelfen bestimmt und kommen nur in der Unterwerfung unter eine solche Bestimmung zu dem Gefühl, einer Pflicht zu leben und mit Ziel und Bedeutung zu leben.41

In diesen Texten äußert Nietzsche sich systematischer zu Fragen der Bildung und Erziehung als an anderen Stellen in seinem späteren Werk, wenngleich er auch in späteren Texten immer wieder darauf zurückkommen wird.42 Auch die einschlägigen kulturkritischen Texte etwa von Julius Langbehn43 und Paul de Lagarde44 üben Kritik an dem Ideal allgemeiner Bildung. Nietzsches Bildungskritik ist an dieser Stelle aber deshalb von so großer Bedeutung, weil sie – wie seine Philosophie insgesamt – im Schuldiskurs um 1900 als die wohl einschlägigste Referenz schulreformerisch orientierter Gruppierungen sämtlicher Couleur gelten kann und sich nicht zuletzt in schulliterarischen Texten sedimentiert hat. Es ist der lebensphilosophische und – an Schopenhauer entwickelte – voluntaristische Impuls dieser Bildungskritik, der immer wieder begegnen wird. Die kulturkritische Diskussion macht einen Wandel kenntlich, den der Bildungsbegriff um 1900 erfährt. Denn die Debatte steht nicht zuletzt im Kontext der Aufwertung der Naturwissenschaften und, damit zusammenhängend, im Kontext einer neuartigen Reflexion über das Verhältnis von naturwissenschaftlicher, sogenannter ›realistischer‹, und klassisch-humanistischer Bildung: »Der Kaiser, hohe Ministerialbeamte und Universitätsprofessoren betreiben, nicht ohne Widersprüche und Widerstände, eine Umschichtung innerhalb des Bildungssystems zugunsten des ›Realismus‹.«45 Diese Umschichtung zeitigt nicht zuletzt eine Reihe von schulpolitischen Konsequenzen, auf die gleich eingegangen wird. Worauf es hier zunächst ankommt, ist die Beobachtung, dass der Bildungsbegriff – changierend zwischen Naturwissenschaft und Technik einerseits, dem Geist des Humanismus andererseits, zwischen wie auch immer 41 Ebd., 402 f. 42 Vgl. die Übersicht bei Herrmann: Pädagogisches Denken, 149, sowie Eva Geulen: »Der Erziehungswahn und sein Sinn (Nietzsche)«, in: Dies., Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg / Berlin / Wien 2007. 221 – 37. 43 Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. 4. Aufl., Leipzig 1890. Der Text erschien anonym (versehen mit dem Hinweis »von einem Deutschen«), relevant sind hier besonders die Seiten 37, 45 und 286. 44 Lagarde etwa macht in seinen Deutschen Schriften den Schulen den Vorwurf: »Sie überziehen die Nation mit dem zähen Schleime der Bildungsbarbarei.« Paul de Lagarde: »Diagnose«, in: Ders.: Deutsche Schriften. 4. Aufl., Göttingen 1903. 88 – 98, hier 94. 45 Bollenbeck: Bildung und Kultur, 227.

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begriffener ›wahrer‹ Bildung und bloß instrumenteller Ausbildung – zu zerfasern beginnt und, wie es Georg Bollenbeck treffend formuliert hat, »eine neue gesellschaftliche Situation mit alten Begriffen«46 bearbeitet wird. Die semantische Lage wird unübersichtlich: Die diskursiven Turbulenzen verweisen auf »Versuche, die wachsende Diskrepanz zwischen neuen Verhältnissen und alten Begriffen im Medium der Begriffe und durch Reformulierungsversuche zu überwinden.«47 Das Bewusstsein eines derart gewandelten Bildungsbegriffs, verbunden mit einem Impuls zu seiner Reanimierung prägt in der einen oder anderen Weise jede schul- und bildungskritische Äußerung um 1900 – seien es die namhafter Reformpädagogen48 oder biographischer Zeugnisse49. Insbesondere gilt dieser Befund aber für die diversen reformpädagogischen Projekte.50 Die Skepsis gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung, insbesondere gegenüber der Entwicklung des Bildungssystems, zeitigt also die bereits erwähnte Reaktion: Auf die Kritik an der als verfehlt wahrgenommenen Bildung und Erziehung wird mit gesteigerter Bildungs- und Erziehungsanstrengung reagiert – die falsche Erziehung ruft mehr Erziehung auf den Plan. Das gilt einerseits rhetorisch im Sinne der permanenten Rede über sie, andererseits aber auch in Bezug auf Organisation und Institutionalisierung. 46 Ebd., 229. 47 Ebd., 231. So auch Vierhaus: Bildung, 550. 48 Vgl. etwa Ludwig Gurlitt: Der Deutsche und seine Schule. Erinnerungen, Beobachtungen und Wünsche eines Lehrers. Berlin 1905; Ders.: Die Schule. Frankfurt am Main 1907 (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, Bd. 16), hier insbes. 34 – 44; Friedrich Paulsen: »Schuljammer und Jugend von heute (Vossische Zeitung, 1. Juni 1906)«, in: Ders.: Gesammelte Pädagogische Abhandlungen. Hg. von Eduard Spranger. Stuttgart / Berlin 1912. 471 – 79, hier 474, sowie Jens Lauris Christensen: Der moderne Bildungsschwindel in Schule und Familie, sowie im täglichen Verkehr. Leipzig 1884. 49 Vgl. anstelle vieler Wilhelm Heinrich Riehl: »Idylle eines Gymnasiums«, in: Ders.: Kulturgeschichtliche Charakterköpfe. Stuttgart 1891. 1 – 56 und die lesenswerten Schulerinnerungen des Österreichers Stefan Zweig: »Die Schule im vorigen Jahrhundert«, in: Ders.: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Berlin / Frankfurt am Main 1965. 37 – 69. 50 Für einen Überblick vgl. Herrmann: Pädagogisches Denken, sowie Ullrich Amlung (Hg.): ›Die alte Schule überwinden‹. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1993 (Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung, Bd. 15). Für Quellentexte: Dietrich Benner, Herwart Kemper (Hg.): Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Bd. 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik. Hg. von dens.. Weinheim / Basel 2003. Ideologiekritisch: Oelkers: Reformpädagogik, sowie aus systemtheoretischer Perspektive: Niklas Luhmann, Karl-Eberhard Schorr : »Strukturelle Bedingungen von Reformpädagogik. Soziologische Analysen zur Pädagogik der Moderne«, in: Zeitschrift für Pädagogik 34 (1988), 463 – 80. Zum größeren Horizont der Lebensreform ist noch immer instruktiv: Hepp: Avantgarde. Auf konkrete reformpädagogische Projekte und die literarische Bearbeitung reformpädagogischer Ideen wird im Rahmen der Textanalysen zurückzukommen sein.

24 b.

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›Bildung‹ (2): Das Ringen der Schulpolitik

Im Gegensatz zu der konzeptionellen Diskussion in Philosophie und Kulturkritik ist die wilhelminische Schulpolitik mit einer wahren Flut sehr pragmatischer Probleme konfrontiert, von denen hier die wichtigsten diskutiert werden sollen.51 Die Schulpolitik der wilhelminischen Ära steht im Zeichen der Systembildung: »Bis in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts kann man nur mit großen Einschränkungen von dem ›Preußischen Gymnasium‹ oder dem ›Preußischen Bildungswesen‹ sprechen; erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand das ›Deutsche Gymnasium‹ und das ›Deutsche Bildungssystem‹.«52 Hinsichtlich organisatorischer Fragen der Differenzierung (1) des Bildungssystems sind insbesondere die ersten drei Jahrzehnte des Kaiserreichs von der Debatte um eine ›zeitgemäße‹ Reform des höheren Schulsystems geprägt.53 Vor allem zwei Motive können als Ursachen der ausgeprägten Differenzierung des Systems höherer Schulen gelten, die insbesondere zwischen den Jahren 1860 und 1900 vor sich geht: die Debatte um ein Curriculum, das dem neu vereinigten Reich gemäß sein soll, sowie, damit zusammenhängend, die Kontroversen um die Ausweitung der militärischen und zivilen Berechtigungen zumal für Schüler der Realanstalten.54 Die erste Debatte steht im Zusammenhang mit der Kritik vor allem von 51 Der folgende Überblick orientiert sich an der Schulpolitik Preußens, die als Richtlinie für die der anderen Staaten des Deutschen Reiches gelten kann, vgl. James C. Albisetti, Peter Lundgreen: »Höhere Knabenschulen«, in: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4: 1870 – 1918: Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991. 228 – 313, hier 251. Außerdem konzentriert sich die Zusammenfassung auf die Maßnahmen an den höheren Knabenschulen, denn es sind fast ohne Ausnahme diese Institutionen, die Gegenstand der Literatur werden. Zur institutionellen Struktur dieser Schulen zu Beginn des wilhelminischen Reichs vgl. ebd., 229. 52 Detlef K. Müller : »Methodische Voraussetzungen zur Analyse der Entwicklung des Bildungssystems im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Ders., Bernd Zymek (Hg.): Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems in den Staaten des Deutschen Reiches, 1800 – 1945. Göttingen 1987. (Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II: Höhere und mittlere Schulen, Teil 1), 11 – 20, hier 19. Müller macht den Begriff des »Bildungssystems« an dem »historischen Zeitpunkt« fest, »in dem die Vielzahl der verschiedenen Schulformen oder Bildungseinrichtungen einen inneren Zusammenhang erhielten, in dem die verschiedenen Teile aufeinander bezogen und in ihren spezifischen Funktionen miteinander verbunden waren […].« Ebd., 18. 53 Für einen Überblick vgl. Herrmann: Pädagogisches Denken, detaillierter Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil I: 1770 – 1918. Göttingen 1980 sowie Christoph Führ : »Bildungsgesamtplanung und Schulreform in Preußen. Zur Bilanz der Planungsstrategien für den Strukturwandel des höheren Bildungssystems 1890 – 1914«, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 3 (1995), 289 – 335. 54 Vgl. zum zweiten Aspekt Detlef K. Müller: »Rahmenbedingungen der Entwicklung des Bildungssystems im 19. Jahrhundert: Die Einjährigen-Freiwilligen-Berechtigung«, in: Ders., Bernd Zymek (Hg.): Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems, 21 – 34.

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Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, der traditionell an humanistischem Bildungswissen orientierte gymnasiale Lehrplan vernachlässige ohne angemessene Berücksichtigung der naturwissenschaftlich-technischen Ausbildung die Anforderungen der Gegenwart. Mit diesem Plädoyer für einen ergänzten Lehrplan einerseits und dem von Philologen und Politikern unterstützten Beharren auf Gegenständen der humanistischen Bildung andererseits verschärfte sich allerdings auch die Diskussion um die Überforderung der Schüler, die unter dem Schlagwort der ›Überbürdung‹ in die Bildungsgeschichte eingegangen ist und im Folgenden noch näher erläutert wird. Die zweite Kontroverse leitete sich aus einer Verfügung von 1870 her, mit der die preußische Unterrichtsverwaltung wegen Oberlehrermangels in naturwissenschaftlichen Fächern den Abiturienten der Realgymnasien die Studienberechtigung für diese Fächer gewährt hatte. Gut zehn Jahre später hatte dies einen großen Andrang auf Universitäten und eine breite Diskussion ihrer Überfüllung mit solchen Studenten zur Folge, die Konservative in der Zeit des Sozialistengesetzes als »akademisches Proletariat« bezeichneten.55 Der Lehrplan und das Problem der Überbürdung einerseits, das Berechtigungswesen und das Problem der Überfüllung andererseits waren die Hauptthemen vor allem der letzten beiden der drei großen Schulkonferenzen der Jahre 1873, 1890 und 1900. Besonders virulent waren die Fragen während der 1880er Jahre. Der preußische Kultusminister Gustav von Goßler berief auf Druck des Kaisers für das Jahr 1890 eine Schulkonferenz ein, in deren Rahmen nicht zuletzt durch die persönliche Anwesenheit Wilhelms II. und dessen konkreter schulpolitischer Vorgaben auch die politische Inanspruchnahme (2) des Bildungswesens zum Ausdruck kam. Dies verdeutlichen der Allerhöchster Erlass Wilhelms II. vom Oktober 1890, »betreffend die weitere Ausgestaltung des Schulwesens in Preußen«56 sowie die einführende Rede, die der Kaiser im Rahmen der Konferenz hielt. Im Erlass äußert der Kaiser die Absicht, »die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken.«57 Die Konsequenzen, die er daraus ableitet, konkretisiert er in der einführenden Rede auf der Konferenz. Dass seiner Ansprache politische Ambitionen zugrunde lägen, bestreitet er jedoch zu Beginn: Zunächst möchte Ich bemerken, dass es sich hier vor allen Dingen nicht um eine politische Schulfrage handelt, sondern lediglich um technische und pädagogische 55 Vgl. Albisetti, Lundgreen: Höhere Knabenschulen, 231. 56 Anonym: Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890. Berlin 1891, Inhaltsverzeichnis. 57 Anonym: Verhandlungen, 3.

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Maßnahmen, die wir zu ergreifen haben, um unsere heranwachsende Jugend den jetzigen Anforderungen, der Weltstellung unseres Vaterlandes und auch unseres Lebens entsprechend heranzubilden.58

Der Kaiser erweitert zunächst die ohnehin umfangreiche Agenda um eine Reihe von Gesichtspunkten, deren Lösung er sich von der Konferenz erwartet,59 um dann im Widerspruch zu seinen einführenden Worten die politische Absicht zu betonen, die in einer fehlgeleiteten Schulpraxis die Ursache der sozialdemokratischen Bewegung begründet sieht: Die Lehrerkollegien hätten […] die Sache fest ergreifen und die heranwachsende Generation so instruiren [sic!] müssen, daß diejenigen jungen Leute […] von etwa 30 Jahren, von selbst bereits das Material bilden würden, mit dem Ich im Staate arbeiten könnte, um der Bewegung schneller Herr zu werden.60

Mit anderen Worten: Vor allem dem Gymnasium mangele es »an nationaler Basis«.61 Als Konsequenz fordert Wilhelm II. eine stärkere Konzentration insbesondere auf die Fächer Deutsch62 und Geschichte für die politische Bildung der jungen Generation sowie eine deutliche Reduktion der Unterrichtsstunden: »Das sind doch immerhin Leistungen, die man jungen Leuten auf Dauer nicht aufbürden kann. […] man darf diesen Bogen nicht so weit spannen und nicht so gespannt lassen.«63 Nicht zuletzt beklagt auch der Kaiser das Problem der Überfüllung und dringt auf eine klare Trennung zwischen Anstalten mit humanistischer und solcher mit realistischer Bildung. Insbesondere verlangt er die Abschaffung der Realgymnasien: Sie »sind eine Halbheit, man erreicht mit ihnen nur Halbheit der Bildung, und das ganze gibt Halbheit für das Leben nachher.«64 Und er fordert abschließend: »Ich suche nach Soldaten, wir wollen eine kräftige Generation haben, die auch als geistige Führer und Beamte dem Vaterland dienen.«65 58 59 60 61 62

Ebd., 70. Vgl. im Einzelnen ebd., 71. Ebd. Ebd., 72. Dies auf Kosten der Altphilologie: »Wir sollen nationale junge Deutsche erziehen, und nicht junge Griechen und Römer.« Ebd., 73. 63 Ebd., 73 f. 64 Ebd., 74. Diese Forderung war ein Schock für das Militär, denn die Kadettenanstalten waren am Lehrplan der Realgymnasien ausgerichtet. Eine Mehrheit der Konferenz schloss sich der Forderung des Kaisers zwar an, allerdings ließ sie sich wegen zu großen Widerstands der Öffentlichkeit nicht durchsetzen. Vgl. Albisetti, Lundgreen: Höhere Knabenschulen, 236. 65 Anonym: Verhandlungen, 75. Dieser Punkt berührt den bildungspolitisch zentralen Aspekt der Militarisierung der höheren Schulen, der an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden kann. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass dem Kaiser die Überbürdung insbesondere vor diesem Hintergrund ein Dorn im Auge war, bedrohte sie doch die körperliche Tauglichkeit der Jugend als seiner potentiellen Soldaten. Vgl. Christa Berg: »Militär und Militarisierung«,

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Die Konferenz folgte nicht allen Forderungen des Kaisers, wohl aber denen nach der Lösung des Überbürdungsproblems und dem der nationalen Bildung: »[…] weniger Wochenstunden auf Kosten der Fremdsprachen an allen Schultypen, also auch Latein und Griechisch am Gymnasium; mehr Turnunterricht; mehr Aufmerksamkeit für deutsche Literatur und Geschichte.«66 Insbesondere der Stellenwert, den alle Beteiligten dem Problem der Überbürdung (3) zumessen, ist hier von Bedeutung, weil an diesem Beispiel neben strukturellorganisatorischen und politischen Problemlagen ein Phänomen zum Ausdruck kommt, welches das Feld der Schule überschreitet. Der Überbürdungsdiskurs, mit dem die Schulliteratur einsetzt und den sie mitprägt, kann als Ausdruck des gesellschaftlichen Nervositätsdiskurses um 1900 auf der Ebene der Jugend betrachtet werden.67 Dabei war die Klage nicht neu: Bereits 1836 war nach der Einführung der umstrittenen Schulreformen durch Johannes Schulze mit Ignaz Lorinsers Schrift Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen die vermutlich erste kritische Schrift eines Mediziners zur Überbürdungsfrage erschienen, die eine Reihe von schulpolitischen Maßnahmen nach sich zog.68 Mit dem Humanismus/Realismus-Streit des zweiten Kaiserreichs lebte die Kritik an der Überforderung der Schüler wieder auf, wobei wohl unklar bleiben muss, wie dramatisch die reale Entsprechung des diskursiven Affektes tatsächlich anzusehen ist und inwiefern die vermeintliche Sorge um die Schüler nicht auch als Strategie diente. Die Erziehungswissenschaftlerin Annette M. Stross etwa stellt in: Dies. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4. 1870 – 1918: von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991. 501 – 27. 66 Albisetti, Lundgreen: Höhere Knabenschulen, 236. 67 In seiner einschlägigen Studie zum Phänomen der Nervosität geht Joachim Radkau auch auf die Überbürdung an Schulen ein, vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München / Wien 1998. 315 – 21. Im engen Zusammenhang mit dem Überbürdungsdiskurs steht der mit Sorge beobachtete vermeintliche Anstieg der Schülerselbstmorde, der um 1900 verzeichnet wird. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Vgl. zur Übersicht Joachim Schiller : Schülerselbstmorde in Preußen: Spiegelungen des Schulsystems? Frankfurt am Main / Berlin u. a. 1992. (Europäische Hochschulschriften: Reihe 11, Pädagogik; Bd. 505) und Werner Helsper, Wilfried Breyvogel: »Selbstkrise, Suizidmotive und Schule. Zur Suizidproblematik und ihrem historischen Wandel in der Adoleszenz«, in: Zeitschrift für Pädagogik 35 (1989), 23 – 43 sowie als Auswahl von Quellentexten: Abraham Baer: Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine socialhygienische Studie. Leipzig 1901; Albert Eulenburg: Kinder- und Jugendselbstmorde. Halle a. d. S. 1914; Franz Pfemfert: »Im Zeichen der Schülerselbstmorde«, in: Die Aktion 9 (1911), o.S. 68 Vgl. Annette M. Stross: Pädagogik und Medizin. Ihre Beziehungen in ›Gesundheitserziehung‹ und wissenschaftlicher Pädagogik 1779 – 1933. Weinheim 2000 (Bibliothek für Bildungsforschung, Bd. 17), 109. Die Maßnahmen betrafen etwa die Räumlichkeiten, Klassengrößen und Architektur der Schulbänke, vgl. Jürgen Oelkers: »Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert«, in: Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1998. 245 – 85, hier 249.

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die These auf: »Realistische und humanistische Bildung wurden also […] unter dem Deckmantel der Sorge um die Gesundheit der Schüler gegeneinander auszuspielen versucht.«69 Der Referenzhorizont des Überbürdungsdiskurses ist im Phänomen der Thermodynamik zu suchen.70 Der zunächst physikalische Gegenstand entfaltete gesellschaftliche Breitenwirkung, nachdem der preußische Physiker Rudolf Clausius 1865 seine Abhandlung zur Verteilung von Wärme mit der Formulierung abgeschlossen hatte, die als zweiter Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) in die Wissenschaftsgeschichte eingehen sollte: »Die Entropie der Welt strebt einem Maximum zu.«71 Clausius stellt das Phänomen der Entropie als eine Gleichung dar, die das Verhalten und die Verteilungstendenz von Wärme auf molekularer Ebene beschreibt. Die Relevanz, die dieses physikalische Gesetz für die industrialisierte Gesellschaft entfaltet, besteht in seiner Übertragbarkeit auf Arbeitsprozesse: Für diese bedeutete es, dass »nur ein Teil der Wärme in mechanische Arbeit verwandelt w[i]rd[], ein anderer Teil aber durch Wärmeleitung und -strahlung verlorengeh[t]«72. Die Folge dieser Dissipation von Wärme sind 69 Annette M. Stross: »Überbürdung als Nebeneffekt der neuhumanistischen Bildungsreform. Zur Kontinuität von Schulkritik und zur reformpädagogischen Argumentation von Medizinern nach 1819«, in: Zeitschrift für pädagogische Historiographie (2002), 28 – 33, hier 32. Vgl. auch Stross: Pädagogik und Medizin, 115. Das Phänomen der Überbürdung ist mit Ausnahme von diesen Arbeiten und der Dissertation von Bernward Fröhlingsdorf (Bernward Fröhlingsdorf: Die Entwicklung der Diskussion um die Überbürdung der Kinder. Universität Freiburg 1973, maschin. Typoskript) noch nicht eingehender behandelt worden. 70 In seiner Einführung in die pädagogische Anthropologie entwickelt der Erziehungswissenschaftler Rudolf Lassahn die These, im Verlauf des 19. Jahrhunderts richte sich die pädagogische Theoriebildung nicht mehr am Weltbild der Dynamik aus, sondern zunehmend an dem der Thermodynamik: Rudolf Lassahn: Pädagogische Anthropologie. Eine historische Einführung. Heidelberg 1983. 145 f. Wenngleich Lassahn diese These nur anhand theoretischer Texte und nicht an alltäglichem Quellenmaterial wie Didaktiken oder Lehrplänen belegt, scheint die Beobachtung insbesondere in Hinblick auf den Überbürdungsdiskurs plausibel zu sein und für den Zeitraum der Jahrhundertwende noch verstärkt zu gelten. 71 Rudolf Clausius: »Ueber verschiedene für die Anwendung bequeme Formen der Hauptgleichungen der mechanischen Wärmetheorie«, in: Annalen der Physik und Chemie 75 (1865); zitiert nach: Elizabeth R. Neswald: Thermodynamik als kultureller Kampfplatz. Zur Faszinationsgeschichte der Entropie, 1850 – 1915. Freiburg / Berlin 2006 (Berliner Kulturwissenschaft, Bd. 2), 9. Verkürzt gesagt, bezeichnet die Entropie eine differentielle Größe, die nicht direkt messbar ist, sondern Änderungen innerhalb des Zustands eines Systems beschreibt. Auf das Phänomen der Wärme, und damit auch auf die ökonomische Nutzbarkeit der Transformation von Wärme- in mechanische Energie übertragen, bedeutet das, dass Wärme immer von heißeren zu kälteren Körpern fließt. Für die Analysen wird die Entropie weniger in ihrer exakten physikalischen Bedeutung relevant sein, als im metaphorischen Verständnis als einer Größe, die eine irreversible Energietransformation im Rahmen von Arbeitsprozessen beschreibt. 72 Maria Osietzki: »Körpermaschinen und Dampfmaschinen. Vom Wandel der Physiologie und des Körpers unter dem Einfluss von Industrialisierung und Thermodynamik«, in:

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Wirkungsgradverluste: »Spannkräfte ließen sich […] nur sehr unvollkommen in Arbeit überführen.«73 Im Gegensatz zu dem knapp zwanzig Jahre früher von Hermann von Helmholtz formulierten Energieerhaltungssatz, dessen optimistischer Logik zufolge Energie nicht verbraucht, sondern in Form eines perpetuum mobile stets neu transformiert werden konnte, bedeutete Clausius’ zweiter Hauptsatz eine negative Wendung. Elizabeth Neswald hat in ihrer Studie zur Faszinationsgeschichte der Entropie herausgearbeitet, wie die ursprünglich physikalische Entdeckung im ausgehenden 19. Jahrhundert so wirkmächtig werden konnte: Die Tatsache, dass heiße Gegenstände abkühlen, ist eine allgemeine menschliche Erfahrung und musste nicht eigens entdeckt werden. Ins Zentrum des Interesses rückte dieser Prozess erst in einer Gesellschaft, die auf der gezielten praktischen Manipulation dieses Phänomens beruhte. In der industriellen […] Gesellschaft wurde Wärme zu einem ökonomischen Faktor, der untrennbar mit der Frage des gesellschaftlichen Fortschritts verknüpft war. Da Produktionsprozesse wie die Ökonomie insgesamt zunehmend von der Effizienz der Arbeitsmaschinen abhingen, gewann das Problem der entweichenden Wärme eine Bedeutung, die es zum […] prestigeträchtigen Untersuchungsgegenstand machte.74

Auf der Ebene des individuellen – körperlich und geistig aktiven – Arbeiters äußert sich das Phänomen der Entropie in Form der Ermüdung: »Fatigue represented the corporal analogue of the second law of thermodynamics, diminishing the intensity of energy converted in the working body, tending toward decline and eventually, inertia.«75 Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bildete sich in der Folge dieser Erkenntnisse aus Physik und Physiologie die Arbeitswissenschaft heraus.76 Der italienische Physiologe und Reformpädagoge Angelo Mosso widmete sich der Erforschung der thermodynamischen Gesetze hinter dem Phänomen der Ermüdung und entwickelte mit dem Ergographen 1884 das erste effiziente und akkurate Messinstrument. Mossos Ziel war es, alle subjektiven Aspekte der Ermüdung zu eliminieren und »to find its discrete and

73 74 75 76

Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1998. 313 – 46, hier 337 f. Ebd., 338. Neswald: Thermodynamik, 11 f. Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, fatigue and the origins of modernity. Berkeley / Los Angeles 1992. 133. Diese hatte ihren Ursprung in Frankreich und war in Deutschland in Form der physiologischen (Fischer, Braune, Zuntz, Rubner) und der psychophysikalischen Schule (Kraepelin, Münsterberg) vertreten. Vgl. dazu Rabinbach: The Human Motor, insbes. Kapitel 7, 179 – 205, hier 189. Insbesondere Emil Kraepelin spielte in der Überbürdungsdiskussion eine maßgebliche Rolle.

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therefore unchanging laws of motion.«77 Nach intensiven Laborstudien konnte Mosso schließlich folgern: that each person fatigues differently, but that each person’s individual fatigue curve displays the same regularity, and the same pattern, regardless of the causes of fatigue, and independent of the kind of work performed. Even intellectual fatigue, Mosso asserted, displayed the same regularities as physical fatigue. Those who fatigue gradually in physical labor, fatigue gradually in mental work; those who fatigue rapidly in mental work, fall prey to its effects more quickly in physical labor. Ergographic tracings during arduous intellectual exertion showed that mental fatigue visibly diminished the efficacy of muscular contraction.78

Damit war die Grundlage für eine Vergleichbarkeit von mechanisch-physiologischen mit mentalen Ermüdungsprozessen gegeben. Und Mosso machte eine weitere Entdeckung: Ermüdung, so folgerte er aus den Experimenten, hat eine prophylaktische Dimension, denn sie steigert sich nicht proportional zu dem Maß der Arbeit, das geleistet wird. »Fatigue often begins to show its effects before the potential for work has ended.«79 Auf die Zusammenhänge zwischen diesen Entdeckungen und dem Phänomen der Überbürdung sowie seiner Darstellung in der Schulliteratur wird das zweite Kapitel dieser Arbeit noch genauer eingehen. Zunächst bleibt festzuhalten, dass die Entropie – wenn man sie als den »physikalische[n] Begriff für Entdifferenzierung«80 begreift – ein Beschreibungsparadigma nicht zuletzt für bildungspolitische Fragen bereitstellt. Es sei etwa an Nietzsches Diagnose der Verbreitung und resultierenden Schwächung der Bildung einerseits und seinen Appell an ihre »Koncentration« andererseits erinnert, das vor diesem Hintergrund in thermodynamische Kategorien übersetzbar wird. Insofern ist es wichtig, diese Überlegungen als Horizont des Überbürdungsdiskurses in Erinnerung zu behalten. Denn dieser integriert thermodynamisches und arbeitswissenschaftliches, schulpolitisches und medizinisches sowie – mit der Debatte um den Bildungsbegriff – philosophisch-ästhetisches Wissen, das im Namen der Gesundheit der Schulkinder entsprechend popularisiert, nicht selten wohl auch dramatisiert wird und auf diese Weise ein zunächst genuin schulisches Problem auf grundlegendere kulturelle Problemlagen hin erkennbar macht. An dieser Stelle und in diesem schulpolitischen Zusammenhang ist der Einsatz der Schulliteratur zu verorten.

77 Ebd., 135. 78 Ebd.. Mossos Abhandlung Die Ermüdung erschien 1891 im italienischen Original als La Fatica. Vgl. Angelo Mosso: Die Ermüdung. Übers. von J. Glinzer. Leipzig 1892. 79 Rabinbach: The Human Motor, 136, Hvbg. i. O. 80 Koschorke, Die Männer und die Moderne, 152.

Die Schulliteratur zwischen 1880 und 1918

2.

Die Schulliteratur zwischen 1880 und 1918

a.

Das Phänomen

31

Indem die deutschsprachige Schulliteratur um 1880 zusammen mit dem Überbürdungsdiskurs einsetzt, entwickelt sich das Genre im Rahmen einer bestimmten gesellschaftspolitischen Debatte und wird um 1918 auch wieder in eine solche münden. Der plötzliche Beginn des schulliterarischen Diskurses und seine Nähe zum Überbürdungsdiskurs ist so augenfällig, dass Texte dieses Korpus in schulpolitischen Zusammenhängen nicht selten als empirische Belegstellen zitiert werden. So heißt es etwa bei dem Reformpädagogen Ludwig Gurlitt unter Bezugnahme auf einen Roman von Emil Strauß: »Es ist eine bittere, aber manchmal die einzig wirksame Lehre, wenn solche Erzieher dann an den faulen Früchten ihrer Arbeit ihren groben Mißgriff büßen lernen. Das Lebensschicksal ›Freund Heins‹ ist hier fast typisch für unzählige deutsche Kinder.«81 Und ein Königsberger Oberlehrer befindet, Strauß’ Roman oder auch die Buddenbrooks regten »den Schulmann zu ernster Selbstprüfung an.«82 Dieser Reflex, der literarischen Geschichte unmittelbare lebensweltliche Relevanz zuzugestehen, findet sich noch in der gegenwärtigen pädagogischen und literaturwissenschaftlichen Forschungsliteratur.83 In jedem Fall ist es bemerkenswert, wie zügig die Zeitgenossen – nicht nur die Literaturwissenschaftler unter ihnen – die Konjunktur schulliterarischer Texte zur Kenntnis nehmen und kommentieren.84 Die Implikationen solcher Lektüren hat Rainer Kolk treffend analysiert: 81 Gurlitt: Der Deutsche und seine Schule, 133. 82 August Rosikat: Der Oberlehrer im Spiegel der Dichtung. Sonderabdruck aus: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 18 (1904), 687 – 703, hier 699. 83 Zur literaturwissenschaftlichen Forschung vgl. unten. Zur Pädagogik vgl. etwa Helsper, Breyvogel: Selbstkrise, Suizidmotive und Schule, hier 26, sowie eine Anthologie literarischer Schultexte, die bezeichnender Weise in der Reihe Klinkhardts Pädagogische Quellentexte erschienen ist: Karl Ernst Maier (Hg.): Die Schule in der Literatur. Bad Heilbrunn 1972 (Klinkhardts Pädagogische Quellentexte). Dieser Umgang mit literarischen Quellen wurde in der erziehungswissenschaftlichen Forschung zur Kenntnis genommen, vgl. Heinz-Elmar Tenorth: »Wem gehört der Text, was sagt die Literatur? Literatur als Argument in der historischen Bildungsforschung«, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte: Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000. 409 – 22, hier 413. 84 Vgl. neben Rosikat etwa Friedrich Wilhelm Kitzing: Das moderne deutsche Schul- und Erziehungsdrama mit besonderer Berücksichtigung der neueren literarischen Erscheinungen. Leipzig 1908 (Veröffentlichungen des Allgemeinen Deutschen Elternbundes für Schulreform) sowie Leo Ehlen: »Die Schule in der modernen Literatur«, in: Mitteilungen der literarhistorischen Gesellschaft Bonn 5 (1910), 229 – 53. Vgl. außerdem die Quellen bei Rainer Kolk: »Zucht und Hoffnung. Pädagogische Akzente bei George und Rilke«, in: Andreas Beyer, Dieter Burdorf (Hg.): Jugendstil und Kulturkritik: zur Literatur und Kunst um 1900. Heidelberg 1999. 139 – 56, hier Anm. 18, S. 144.

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In der Schule der Jahrhundertwende

Zum einen reklamieren sie Aufmerksamkeit für eigene Beobachtungen zu strukturellen Defiziten des Bildungssystems. Literarische Texte gelten als besonders präzise und überzeugende Darstellungen empirisch überprüfbarer Zustände auch in der Gegenwart. Pädagogische Intervention soll den notwendig allgemeinen Appell der Literatur in praktische Erziehungsarbeit umsetzen […]. Zum anderen lesen diese Kommentare literarische Texte in Hinsicht auf deren […] symbolisches Kapital. Der immer mitgedachte Dichter-Mythos legitimiert die eigenen pädagogischen Konzepte […].85

An Kolks Beobachtung anschließend, lässt sich ein erster Befund in Hinblick auf die Schulliteratur formulieren: Nahezu ohne Ausnahme legen die literarischen Quellen entweder selbst ihre Verbindung mit einem schulpolitischen Zusammenhang nahe oder werden durch öffentliche Interpretationen in einen solchen gestellt. Die Schulliteratur lässt sich ohne diesen Bezug kaum analysieren, er ist gleichsam Teil des Phänomens. Die Schulliteratur soll hier als Genre bestimmt werden, um die Ausschließlichkeiten des Gattungsbegriffs einerseits und des Begriffs der Textsorte andererseits zu vermeiden. Das Konzept des Genres, verstanden als »Gruppe von Texten mit ähnlichen Eigenschaften«86 gestattet es, die literarischen Quellen anhand solcher inhaltlicher wie struktureller Vorgaben zu bündeln, die das Sujet der Schule macht. In diesem Sinne umfasst das Korpus Dramen und Prosatexte deutscher, österreichischer und Schweizer AutorInnen, in deren Zentrum die Schule steht und die sich in nicht-humoristischer Weise mit ihr auseinandersetzen.87 Dieser Ausschluss deutet bereits bestimmte Exklusionsregeln an, welche die Auswahl des Korpus angeleitet haben und zu begründen sind: Der Ausschluss erstens komischer Behandlungen des Gegenstandes ist deshalb sinnvoll, weil diese sich primär für systematische Gesichtspunkte der Institution interessieren, für anthropologische Konstanten und figurale Stereotypen, die hier bevorzugt zum Ausdruck kommen.88 Demgegenüber eint die hier be85 Kolk: Zucht und Hoffnung, 144. 86 Dieter Burdorf, »Genre«, in: Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moenninghoff. 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart / Weimar 2007. 275. In diesem Sinne auch York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der Moderne. Stuttgart / Weimar 1995. 32. 87 Eine Abgrenzung von Entwicklungs-, Erziehungs- oder gar Bildungsromanen, wie sie mitunter vorgenommen wird, ist dann überflüssig, weil die Rahmung durch die Schule eine hinreichende Unterscheidung von der vergleichsweise offenen Anlage solcher Gattungen darstellt. In diesem Zusammenhang sei auf das Konzept des Institutionenromans hingewiesen, das Rüdiger Campe angeregt hat, vgl. Ders.: »Robert Walsers Institutionenroman ›Jakob von Gunten‹«, in: Rudolf Behrens, Jörn Steigerwald (Hg.): Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Würzburg 2005. Das Konzept ist für die Schulliteratur allerdings nur bedingt weiterführend (vgl. Kapitel III.2), weil die Handlung häufig nicht nur in der Institution verläuft. 88 Man denke etwa an Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel oder Ludwig Thoma: Lausbubengeschichten. Aus meiner Jugendzeit. München 1905. Georg Kaisers Komödie Der Fall des

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trachteten Texte zwischen 1880 und 1918 eine problematisierende Haltung gegenüber der Institution, die mit zeitgenössischen politischen, pädagogischen, medizinischen, philosophischen und ästhetischen Diskursen im Austausch steht. Ob in diesem Zeitraum eine vergleichbare Konjunktur solcher Literatur in anderen Philologien existiert, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht ermittelt werden. Die Tatsache, dass solche Texte nur sporadische Erwähnung finden,89 deutet allerdings darauf hin, dass man es bei der schulliterarischen Konjunktur um 1900 mit einem deutschsprachigen Phänomen zu tun hat. Dieser Umstand soll gleichwohl nicht den Blick darauf verstellen, dass es etwa mit dem Roman Gift des norwegischen Schriftstellers Alexander Lange Kielland einen prominenten Referenztext gibt.90 Diese Entscheidung schließt zweitens auch literarische Quellen aus, in denen die Schule nur eine periphere Rolle spielt oder in der drittens die Zugehörigkeit der Figuren zu der Schule evident, aber sehr nebensächlicher Art ist. Diese vom Material her geleitete Selektion hat zur Folge, dass die behandelten Texte mit wenigen Ausnahmen im bürgerlichen Milieu und entsprechend in Gymnasien oder Realgymnasien angesiedelt sind91 und ausschließlich die Bildungsgänge männlicher Schüler schildern.92 So kommt ein Korpus von 30 Texten zustande, die der Schulliteratur in diesem engeren Sinne zuzurechnen sind. Darüber hinaus haben mindestens 33 weitere Texte die Schule in einem weiteren Sinn zu ihrem Gegenstand. Alle Texte werden im Anhang nach dieser Unterscheidung aufgelistet.

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Schülers Vehgesack, die in der Arbeit analysiert wird, stellt insofern eine Ausnahme dar, als sie diese Stereotypie überschreitet. Vgl. Mix: Die Schulen der Nation, 23 f. Vgl. Alexander L. Kielland: Abraham Lovdahl. Die Romantrilogie: Gift – Fortuna – Johannisfest. Hg., bearb. und mit einer biographischen Skizze versehen von Rudolf Wolff. Übers. von Marie Leskien-Lie, Friedrich Leskien. Berlin 1986. (= Werke, Bd. 2). Der Text, den etwa Thomas Mann nachweislich gelesen hatte, schilderte bereits 1883 den Tod eines Schülers. Die Situierung in diesen Anstalten ist nicht immer explizit, lässt sich aber häufig aus dem Geschilderten ableiten. Eine Ausnahme von dieser Tendenz ist die Novelle Publius aus Hans Hoffmanns Novellenzyklus Das Gymnasium zu Stolpenburg. Dort soll der Sohn eines besessenen Philologen und Lehrers ebenfalls Philologe werden. Dieser scheitert auf dem Gymnasium aber am Lateinunterricht, wechselt daher zum Entsetzen des Vaters auf eine Realschule und stirbt schließlich als Soldat im deutsch-französischen Krieg. Vgl. Hans Hoffmann: Publius, in: Ders.: Das Gymnasium zu Stolpenburg. Berlin 1891. Die Untersuchung weiblicher Bildungsgänge um 1900 bleibt ein Desiderat. Dabei ist festzuhalten, dass diese Bildungsgänge selten vollständig in Schulen verlaufen, sondern diese eher eine kurze Station darstellen. Genauer zu untersuchen wären etwa Texte wie Lou Andreas-Salom¦: Ruth. Erzählung. Stuttgart 1897; Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne. Eine Lebensgeschichte. Hamburg 2009 [1903], sowie – später – Christa Winsloe: Mädchen in Uniform. Göttingen 1999 [1931].

34 b.

In der Schule der Jahrhundertwende

Zum Stand der Forschung

Die Konjunktur des Genres um 1900 wurde sehr zügig erkannt und reflektiert. Neben Friedrich Kitzings Studie, die als erste monographische Veröffentlichung zu diesem Gegenstand gelten kann,93 widmete sich mit Julius Bachs Dissertation im Jahr 1922 erstmals eine wissenschaftliche Qualifikationsschrift dem Thema.94 Retrospektiv ist der Schuldiskurs so prominent, dass mitunter Literaturgeschichten zur Jahrhundertwende mit dem Phänomen des Schülerselbstmords einsetzen.95 Im Folgenden sollen die einschlägigen Forschungsarbeiten zur Schulliteratur um 1900 diskutiert werden, um dann einige Tendenzen in der Forschung zu benennen, von denen sich der Ansatz dieser Arbeit unterscheidet. Als einschlägige und noch immer relevante Arbeit ist ein Essay Robert Minders von 1962 anzusehen, der zeitgenössische literarische Bearbeitungen und soziologische Analysen der Militärschulinstitution der Kadettenanstalt untersucht und dabei den interpretatorischen Kurzschluss zwischen Verfasserbiographie und Werk umgeht.96 Erst zu Beginn der 1990er Jahre lässt sich dann wieder eine intensivere Auseinandersetzung der Forschung mit dem Gegenstand verzeichnen.97 Hier ist insbesondere auf die Habilitationsschrift von York-Gothard Mix hinzuweisen, die schulliterarische Texte erstmals systematisch sozialgeschichtlich kontextualisiert und sie dabei auf einer sehr breiten Materialbasis mit nicht-literarischen Texten in Zusammenhang bringt.98 Mix’ Arbeit und

93 Kitzing: Das moderne deutsche Schul- und Erziehungsdrama. 94 Julius Bach: Der deutsche Schülerroman und seine Entwicklung. Münster 1922. Bach geht davon aus, dass das Genre nach Ende des Ersten Weltkriegs verkümmert sei und von ihm keine anspruchsvollen Texte mehr zu erwarten seien. Vgl. dazu auch Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1999 (Kleine Reihe Vandenhoeck und Ruprecht), 9. 95 Vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918: von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX, 2), 3 f. 96 Robert Minder: »Kadettenhaus, Gruppendynamik und Stilwandel von Wildenbruch bis Rilke und Musil«, in: Ders.: Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays. Frankfurt am Main 1962. 73 – 93. Zur Kadettenliteratur vgl. in der vorliegenden Arbeit Kapitel III.2. 97 In den dazwischenliegenden Jahren erscheinen drei Dissertationen, die der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollen. Sie konzentrieren sich jedoch eher auf einzelne kanonische Romane, anstatt das Phänomen der Schulliteratur in seiner ganzen Breite zu untersuchen. Vgl. Thomas Bertschinger: Das Bild der Schule in der deutschen Literatur zwischen 1870 und 1914. Zürich 1969 (Zürcher Beiträge zur Pädagogik, Bd. 9); Heidi Ries: Vor der Sezession. Untersuchungen zur Schul- und Kadettengeschichte um die Jahrhundertwende. Privatdruck 1970; Irene Schlör : Pubertät und Poesie. Das Problem der Erziehung in literarischen Beispielen von Wedekind, Musil und Siegfried Lenz. Konstanz 1992. 98 Vgl. Mix: Die Schulen der Nation.

Die Schulliteratur zwischen 1880 und 1918

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seine weiteren Veröffentlichungen zu diesem Gegenstand99 haben der schulliterarischen Forschung dadurch großen Vorschub geleistet. Gleichwohl sind sowohl seine Auswahl der Texte als auch sein methodisches Vorgehen problematisch. Wenn Mix das Verdienst zukommt, konsequent auch Texte von weniger kanonischen Autoren zu berücksichtigen, ist dies dennoch verbunden mit einer gewissen Geringschätzung von Autoren wie etwa Robert Saudek, die dadurch die Aussagekraft auch und gerade von Texten ›zweiter Reihe‹ unterschätzt und in dieser Hinsicht Interpretationschancen vergibt.100 Zweitens bleiben die Interpretationen der literarischen Texte im Zusammenhang mit dem nicht-literarischen Quellenmaterial häufig an der Textoberfläche. Dieses Vorgehen verstellt nicht zuletzt den Blick auf die wichtigen diachronen Veränderungen innerhalb des Korpus selbst. Drittens schließlich führt der Schluss von Mix’ Arbeit zu einer nachträglichen Trübung des Gegenstandes, wenn er Texte von Robert Musil, Johannes Becher, Arno Holz und Heinrich Mann mit antisemitischen Tendenzen in Verbindung bringt. Der Hinweis auf diese Tendenzen selbst ist für das Korpus wichtig. Die angedeutete Schlussfolgerung dagegen, Teile der Schulliteratur hätten den Nationalsozialismus antizipiert,101 lässt nicht nur die deutliche Konjunktur verschwimmen, deren Ende Mix ja selbst mit Recht auf das Jahr 1918 datiert. Sie behauptet darüber hinaus eine problematische Kontinuität, die den Blick auf ein weniger historisch als systematisch interessantes Verhältnis von Pädagogik und Politik verstellt, das die Texte um 1918 erkennen lassen und das die vorliegende Arbeit zum Ende hin verdeutlichen will. Auf Mix’ einschlägige Arbeit folgen eine Reihe von Dissertationen zu diesem Thema,102 von denen hier vor allem auf die literatursoziologische Arbeit von 99 Vgl. insbes. Mix: Generations- und Schulkonflikte, sowie ders.: »Selbstmord der Jugend. H. Falladas ›Der junge Goedeschal‹, J. R. Bechers ›Abschied‹, H. Hesses ›Unterm Rad‹ und der Erziehungsalltag im Kaiserreich«, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 4 (1994), 63 – 76; ders.: »Der Auftakt zur Fibel des Entsetzens. R.M. Rilkes Erzählung ›Die Turnstunde‹ und die pädagogische Reformbewegung der Jahrhundertwende«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 88 (1994), 437 – 47; ders.: »Männliche Sensibilität oder die Modernität der Empfindsamkeit: zu den ›Leiden des jungen Werther‹, ›Anton Reiser‹, ›Buddenbrooks‹ und den ›Verwirrungen des Zöglings Törleß‹«, in: Karl Eibl (Hg.): Empfindsamkeit. Hamburg 2001. 191 – 208. 100 Vgl. Mix: Die Schulen der Nation, 21 f. Zu den Einsichten, die Saudeks Text anbietet, vgl. das Kapitel IV.2 der vorliegenden Arbeit. 101 Vgl. das Schlusskapitel: Mix: Die Schulen der Nation, 244 – 55. 102 Vgl. im Einzelnen: Claudia Solzbacher : Literarische Schulkritik des frühen 20. Jahrhunderts und ihre Beziehung zur zeitgenössischen Philosophie und Pädagogik. Frankfurt am Main 1993 (Erziehungsphilosophie, Bd. 11); Joachim Noob: Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Heidelberg 1998. Die Studie bietet zwar einen hilfreichen Überblick über das Motiv des (Schüler-)Selbstmordes um 1900 (vgl. ebd., 58 – 76), zeichnet sich allerdings durch einen problematischen Umgang mit der Primärliteratur aus, indem sie die wechselseitige Abhängigkeit des literarischen und des außerliterarischen Schul- und Selbstmorddiskurses ignoriert und die Literatur als »Stellungnahme zur

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In der Schule der Jahrhundertwende

Karin Marquardt hingewiesen werden soll.103 Sie untersucht die Konjunktur schulliterarischer Texte am Beispiel von Thomas Mann, Heinrich Mann und Hermann Hesse mit Pierre Bourdieu unter dem Gesichtspunkt der Situierung von Autoren im literarischen Feld. Wenngleich die literarischen Analysen sich insofern eher für die dahinterstehenden Produktionsstrategien und weniger für die ästhetische Eigenart der Texte selbst interessieren und die Zuordnung der Autoren zu bestimmten literarischen Strömungen mindestens fragwürdig erscheint,104 ist Marquardts Untersuchung aufschlussreich, weil sie mit dem Distinktionsgedanken105 eine Antwort auf die Frage nach der Konjunktur schulliterarischer Texte um 1900 anzubieten vermag. Demnach eignet sich das Sujet der Schule um 1900 besonders gut, um sich vor dem Hintergrund des oben umrissenen Bildungsdiskurses im »intellektuellen Legitimationskampf«106 zwischen den kulturschaffenden Intellektuellen und den in der Schule repräsentierten kulturbewahrenden Vertretern des Staates zu positionieren. Ferner soll der Band Schule erzählt von Matthias Luserke erwähnt werden.107 Er untersucht darin Schultexte um 1900 und seit 1968 unter dem Gesichtspunkt der Darstellung von Machtverhältnissen und verbindet dies mit einer lesenswerten Skizze zu »Aspekte[n] einer Kulturgeschichte der Schule«108. Hinsichtlich der Aufsätze zur Schulliteratur um 1900 sei schließlich insbesondere auf die

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Schulproblematik« (ebd., 103) begreift. Zudem interpretiert Noob insbesondere Hesses Roman hinsichtlich der Biographie seines Autors und leitet aus den literarischen Analysen wiederholt lebensweltliche Kurzschlüsse und Handlungsempfehlungen ab (dazu insbes. ebd., 238 f.). Vgl. außerdem Klaus Johann: Der Einzelne im ›Haus der Regeln‹. Zur deutschsprachigen Internatsliteratur. Heidelberg 2003 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 201) und Jan Ehlenberger : Adoleszenz und Suizid in Schulromanen von Emil Strauss, Hermann Hesse, Bruno Wille und Friedrich Torberg. Frankfurt am Main u. a. 2006 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft, Bd. 28). Den Arbeiten ist eine Konzentration auf kanonische Autoren gemeinsam. Karin Marquardt: Zur sozialen Logik literarischer Produktion. Die Bildungskritik im Frühwerk von Thomas Mann, Heinrich Mann und Hermann Hesse als Kampf um symbolische Macht. Würzburg 1997 (Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften, Bd. 205). Sie ordnet Thomas Mann der l’art bourgeois, Heinrich Mann der l’art social und Hermann Hesse dem l’art pour l’art zu, vgl. ebd., 12. »Dagegen wird behauptet, daß literarische Werke ästhetische Stellungnahmen darstellen, denen es im literarischen Feld um die symbolische ›Benennungsmacht‹ von Kultur und Ästhetik geht.« Ebd., 10. Ebd., 10. Luserke: Schule erzählt. Vgl. außerdem seine Aufsätze zur Schulliteratur : Matthias LuserkeJacqui: »Literatur- und kulturgeschichtliche Aspekte einer Abwehr der Moderne am Beispiel von Heinrich Manns Roman Professor Unrat«, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 23 (2005), 65 – 77, sowie ders.: »›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹: Adolescent Sexuality, the Authoritarian Mindset and the Limits of Language«, in: Philip Payne (Hg.): A Companion to the Works of Robert Musil. Rochester 2007. 151 – 73. Luserke: Schule erzählt, 13 – 23.

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Arbeiten von Rainer Kolk und Darren Ilett hingewiesen.109 Ihnen ist gemeinsam, dass sie die jeweiligen schulliterarischen Texte detaillierten und präzisen close readings unterziehen und diese gewinnbringend mit philosophisch-ästhetischen, aber auch soziologischen und pädagogischen Diskursen in Zusammenhang bringen.110 Schließlich sind mehrere Anthologien erschienen, die sich zu einem großen Teil aus der Schulliteratur um 1900 speisen, aber immer auch Schultexte des gesamten 20. Jahrhunderts berücksichtigen.111 Für einige der hier diskutierten Arbeiten sind drei Reflexe charakteristisch. Erstens konzentrieren sich die Untersuchungen fast ausnahmslos auf die kanonischen Autoren des Genres – bevorzugt Thomas Mann, Robert Musil und Hermann Hesse – und vernachlässigen sowohl Autoren ›zweiter Reihe‹ als auch weniger prominente Texte der bekannteren Schriftsteller.112 Zweitens reproduzieren einige Interpretationen in ihrer Konzentration auf Aspekte der Machtasymmetrie zwischen Individuum und Institution mit einer empathischen Lektürehaltung den anklagenden Tenor der Primärliteratur.113 Und drittens fällt für die Forschung zu diesem Genre auf, dass sie zur Interpretation der Texte 109 Kolk: Zucht und Hoffnung, 139 – 56; Ders.: »Literatur, Wissenschaft, Erziehung. Austauschbeziehungen in Hermann Hesses ›Unterm Rad‹ und Robert Walsers ›Jakob von Gunten‹«, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte: Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000. 233 – 50; Ders.: »Kairos und Kabuff. Kommentare zur ›Jugend‹-Konzeption in Heinrich Manns ›Professor Unrat‹«, in: Eva Geulen, Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg / Berlin / Wien 2007 (Rombach Litterae, Bd. 139), 161 – 78 sowie Darren Ilett: »The Poetics of Deniable Plausibility in Rainer Maria Rilke’s ›Die Turnstunde‹«, in: Focus on German Studies 13 (2006), 69 – 85; Ders.: »The End of a Schoolyard Tyrant: Power, Homoeroticism and Language in Heinrich Mann’s ›Abdankung‹«, in: The German Quarterly 84 (2011), 177 – 97. 110 In dieser Hinsicht ist die kulturwissenschaftlich informierte Forschung zu literarischen Erziehungsdiskursen, der Kolk und Ilett zuzurechnen wären, für die Arbeit an dem vorliegenden Korpus aufschlussreich. Vgl. dazu den Sammelband von Eva Geulen und Nicolas Pethes: Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg / Berlin / Wien 2007 (Rombach Litterae, Bd. 139) sowie jüngst Heinrich Bosse, Ursula Renner : »Generationsdifferenz im Erziehungsdrama. J.M.R. Lenzens Hofmeister (1774) und Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891)«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011), 47 – 84. 111 Vgl. Martin Gregor-Dellin: Vor dem Leben. Schulgeschichten von Thomas Mann bis Heinrich Böll. München 1965; Manfred Kluge (Hg.): Schulgeschichten. München 1983; Udo Quak (Hg.): Schüler-Bilder. Literarische und historische Fundstücke. Berlin 2007, sowie Maier : Die Schule in der Literatur. 112 Als Ausnahme müssen hier die Arbeiten von Darret Illen und York-Gothard Mix hervorgehoben werden. 113 Vgl. etwa Bertschinger : Das Bild der Schule; Schlör : Pubertät und Poesie, sowie Dieter Arendt: »Kinder-Terror in der Schule oder Die Diktatur der letzten Bank«, in: Diskussion Deutsch 20 (1989), 481 – 502.

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überaus häufig die Biographien der entsprechenden Autoren und deren Aussagen zu ihrer eigenen Schulzeit bemühen.114 Vor allem das letzte Verfahren verkürzt die Aussagen der Texte, indem es die literaturwissenschaftliche Grundannahme ignoriert, dass literarische Texte einen ästhetischen Mehrwert besitzen und sich nicht durch suggerierte Parallelen – und seien sie von dem entsprechenden Autor selbst nahegelegt – zu den Biographien ihrer Verfasser erschöpfend verstehen lassen. Überdies verkennt eine solche Herangehensweise, dass auch biographische Aussagen ihrerseits konstruierte, weil notwendig selektive, sind. Dieser Gesichtspunkt wird am Beispiel von Rainer Maria Rilkes Erzählung Die Turnstunde genauer zu diskutieren sein.

c.

Anlage der Arbeit

Vor dem Hintergrund dieser Forschungssituation will die vorliegende Arbeit drei Desiderata begegnen. Erstens soll der gesamte Zeitraum der schulliterarischen Konjunktur von 1880 bis 1918 untersucht werden. Dabei werden auch Texte solcher Autoren behandelt, die in der Regel nicht zu den kanonischen gerechnet werden. Ein Großteil der hier besprochenen Literatur ist nach ihrem Erscheinen um und in den ersten Jahrzehnten nach 1900 nicht wieder aufgelegt worden. Um einen Überblick erstens über die Anzahl und Konjunkturen der Veröffentlichungen, dann aber auch über die einzelnen und bislang nur verstreut erwähnten schulliterarischen Titel zu geben, folgt am Ende der Arbeit eine Zusammenschau der berücksichtigten sowie peripher zum Genre gehörenden Texte.115 Die Arbeit wird auf der Grundlage der erweiterten Materialbasis zweitens versuchen, diese Konjunktur zu erklären. Warum kann die Schule um 1900 zu einem so bevorzugten Gegenstand der Literatur werden? Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass der schulische Alltag in Form etwa der Unterrichtssituation in den Texten häufig gar nicht von Belang ist, die Schule 114 Für beide Tendenzen vgl. anstelle vieler Noob: Der Schülerselbstmord, sowie in eingeschränktem Maße Schlör : Pubertät und Poesie. Weitere Studien zu einzelnen Texten werden im Verlauf der Arbeit diskutiert. 115 Für die zweite Sammlung kann an dieser Stelle kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, denn, um es mit Friedrich Kitzing, einem zeitgenössischen Rezensenten, zu sagen: »Ich konnte natürlich nicht darauf aus sein, alle möglichen Stücke, in denen die Schule erwähnt ist, in denen ein Lehrer als schüchterner Liebhaber oder sonst was auftritt, aufzuspüren; ich hätte fast jedes dritte Lustspiel heranziehen müssen.« Kitzing: Das moderne deutsche Schul- und Erziehungsdrama, 5. Dem Überblick liegt jedoch eine intensive Sichtung und Auswertung von Quellen- und Sekundärliteratur zugrunde, und er kann in diesem Sinne als repräsentativ gelten.

Die Schulliteratur zwischen 1880 und 1918

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mehr Kulisse als Gegenstand der Handlung zu sein scheint.116 Diese verdächtige Abwesenheit kann dabei bereits als ein erster Befund dessen gelten, was eine Analyse der Schulliteratur um 1900 sichtbar zu machen verspricht: Die Schule fungiert insofern als Symptom für etwas anderes. Die in den Analysen genauer auszuführende These ist, dass die Institution Schule um 1900 zum Relais für die Auseinandersetzung der Texte mit pädagogischen, ästhetischen, philosophischen, soziologischen und auch politischen Diskursen der Jahrhundertwende wird. Aus dieser Perspektive kann die Institution Schule als eine »Institution der Wissenskommunikation« in dem Sinn begriffen werden, wie sie der Historiker Lothar Gall definiert: Als einer von mehreren Orte[n] […], die eine Schlüsselstellung in der gesellschaftlichen Wissensproduktion einnehmen, die Wissen verwalten, bearbeiten, und zu Normen und Konventionen umgeformt weitergeben. Sie entscheiden zu einem wesentlichen Teil darüber, was erinnert, welche Wissensbestände aktualisiert und welche vergessen werden. Universitäten, Schulen, Forschungs- und Bildungseinrichtungen setzen Schwerpunkte, sie regulieren und kontrollieren den gesellschaftlichen Wissenstransfer.117

Die Schule bietet sich auf diese Weise als Medium an, das es gestattet, das Wissensinventar und dadurch auch verschiedene Mentalitätslagen der Epoche zu verhandeln. Die Konjunktur der Schulliteratur steht so in engem Zusammenhang mit bestimmten Entwicklungen in den oben genannten Gebieten, und aus dieser Perspektive werden sowohl ihr recht plötzlicher Beginn als auch ihr Ende zu erklären sein. Drittens schließlich will die vorliegende Arbeit in der Schulliteratur keine bloße Reaktion auf außerliterarische Diskurse zu Schule und Pädagogik sehen, sondern betrachtet die Literatur als Teil des breiten Diskurses zu Fragen der Bildung und Erziehung, der oben umrissen wurde und in den Analysen noch eingehender behandelt werden wird. Anders gesagt: Anstatt eine aus den Analysen nicht-literarischer Quellen gewonnene Vorstellung von ›Realität‹ zu unterstellen und das Verhältnis der Texte zu dieser zu untersuchen, geht es hier um die Markierung sich wechselseitig durchdringender Diskurse, die das Phänomen der Schule um 1900 auf diese Weise allererst hervorbringen.118 Der Mehr116 Dieser Befund gilt für die frühen Texte allerdings nur eingeschränkt. 117 Lothar Gall, Andreas Schulz: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2003 (Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Band 6). 7 – 13, hier 8. 118 Als methodisch instruktiv sei in diesem Zusammenhang auf Walter Erharts Habilitationsschrift hingewiesen: Walter Erhart: Familienmänner. Über den Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001, 18. Zum Verhältnis von Literatur und historischem Kontext vgl. in diesem Zusammenhang Wilhelm Voßkamp: »Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), 503 – 7.Die damit verbundene Integrationsleistung der Li-

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In der Schule der Jahrhundertwende

wert der Einbeziehung nicht-literarischer Texte ergibt sich dabei aus der Annahme, dass nicht-literarisches Wissen »strukturbildende[] Leistungen«119 für literarische Texte bergen kann. Ein Ertrag einer solchen Herangehensweise kann darin bestehen – und eben das ist das Ziel dieser Arbeit – »eine phantasmatische oder imaginative Dimension der Texte zu untersuchen und zu ermitteln, ob sich in ihnen Bedürfnisse artikulieren, die nicht zuletzt Bemühungen um referentielle Exaktheit durchkreuzen können.«120 Die Schule kann dann als Institution erkennbar werden, die wie keine zweite den Zugriff auf das Wissen und die Mentalität der Zeit zwischen 1880 und 1918 gestattet. Dass und wie sie das tut, sollen die folgenden Analysen demonstrieren, die sich in ihrer Argumentation in erster Linie vom literarischen Textmaterial leiten lassen. Dabei wird deutlich, dass diesem Material bei genauer Betrachtung selbst bereits ein bestimmter Verlaufssinn eigen ist, der es gestattet, die Geschichte der Schulliteratur zwischen 1880 und 1918 folgendermaßen darzustellen: Das erste Analysekapitel (Überbürdungsgeschichten, Kapitel II) verfolgt die Absicht, die Verbindung zwischen der frühen Schulliteratur (ca. 1880 bis 1905) und dem zeitgenössischen Überbürdungsdiskurs zu verdeutlichen und genauer zu untersuchen, die bislang zwar sporadisch zur Kenntnis genommen,121 aber nicht systematisch behandelt wurde. Die Textanalysen gehen verschiedenen Dimensionen dieser Verbindung nach – etwa der Frage nach dem Realitätsgehalt des Überbürdungsdiskurses (C. F. Meyer), der Verbindung von schulischem und genealogischem Diskurs in diesem Zusammenhang (M. von Ebner-Eschenbach, Th. Mann, E. Strauß) sowie dem Zusammenspiel von arbeitswissenschaftlichem und ästhetischem Wissen, das in einer kleinen Erzählung Rilkes zum Ausdruck kommt. Während die Texte dieses Kapitels noch sehr eng an die Institution der Schule gebunden sind, ist die Mehrzahl der Texte des folgenden Kapitels (Spiele mit der Norm, Kapitel III) dadurch gekennzeichnet, dass sie sich zunächst von ihr distanzieren. Für die Texte des Zeitraums von etwa 1905 bis 1910 (F. Wedekind, G. Kaiser, A. Holz / J. Schlaf, E. v. Wildenbruch, P. v. Szczepanski, R. Musil, R. teratur kann man in diesem Fall als interdiskursive auffassen. Vgl. in diesem Sinne Rainer Kolk: »Aus Jürgen Links Konzept der ›interdiskursiven‹ Leistung von Literatur ließen sich Spezifika der Texte gleichfalls herleiten. Sie würden dann als ›Integratoren‹ sich ausdifferenzierender Spezialdiskurse (Medizin, Psychologie […], Jurisdiktion, Kriminologie, Pädagogik) anzusehen sein.« Kolk: Zucht und Hoffnung, 144. 119 Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 – 1900. Berlin 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 52), 33. 120 Sebastian Susteck: Kinderlieben. Studien zum Wissen des 19. Jahrhunderts und zum deutschsprachigen Realismus von Stifter, Keller, Storm und anderen. Berlin / New York 2010. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 120), 3. 121 Vgl. etwa Mix: Die Schulen der Nation, 113 f., wenngleich er das Phänomen unter dem Schlagwort der Nervosität behandelt.

Die Schulliteratur zwischen 1880 und 1918

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Walser) ist außerdem erstens die Bezugnahme und das direkte oder indirekte Zitat von Elementen der Überbürdungsgeschichten charakteristisch – mithin ein bemerkenswert zügiger Rekurs auf die vorangegangene Genretradition. Zweitens zeichnet sie die Tendenz zu selbstbestimmten, dezidiert von der Institution abgekoppelten ›Bildungsgängen‹ aus, die damit bereits einen ersten Bedeutungsverlust der Schule in der Literatur andeuten. In diesem Zusammenhang wird zu zeigen sein, wie die Texte die Orientierung an ethischen Gesichtspunkten, die noch die frühe Schulliteratur kennzeichnet, durch die Orientierung an ästhetischen Kriterien überschreiben. Die Literatur profiliert, so wird zu zeigen sein, nicht nur ein Spiel mit den Normen des Genres, sondern auch mit denen der Institution. Dieser wird im dritten Analysekapitel (Politische Transformationen, Kapitel IV) und zum Ende der Konjunktur des Genres hin besonders evident. Das Anliegen dieses Kapitels ist es, am Beispiel der Texte von H. Mann, vor allem aber von R. Saudek, W. Lehmann, A. Bronnen und L. Frank auf eine Tendenz hinzuweisen, die bislang übersehen wurde: An diesen Texten wird ein Wechsel im Leitdiskurs erkennbar, indem sie Szenarien der Transformation pädagogischer Absichten in politische beschreiben. Dies geschieht erstens über die Darstellung anti-institutioneller Affekte, zweitens durch eine neuartige Beschwörung von Gemeinschaftskonzepten und drittens durch eine Neukonstitution des Individuums, das nun weniger Schüler als vielmehr ›Element sozialer Aggregation‹ genannt werden kann. In dem Maße, wie die Literatur derartige Aporien des Pädagogischen schildert und die Politik in dessen Zuständigkeitsbereich eintreten lässt, verliert die Schule als staatliche Institution an Bedeutung für die Literatur.

II. Überbürdungsgeschichten

1.

Anatomien der Überbürdeten: wissenschaftliche und literarische Untersuchungen von Sorgenkindern der Jahrhundertwende

a.

Die Vermessung der Schüler

Das Phänomen Um 1880 entwickelt der zunächst fachspezifische Diskurs um die Überbürdung der Schüler gesellschaftspolitische Sprengkraft. Nicht nur steigt die Zahl der Beiträge in medizinischen und pädagogischen Fachzeitschriften,122 das Thema wird auch in diversen Einzelpublikationen verhandelt und adressiert, meist in Form von Vorträgen, auch Laien.123 Ihre Brisanz erhält die Debatte aus der 122 Zur Zunahme der Publikationen zu den Themen Pädagogik und Gesundheit im Deutschen Reich vgl. Annette M. Stross: Pädagogik und Medizin. Ihre Beziehungen in ›Gesundheitserziehung‹ und wissenschaftlicher Pädagogik 1779 – 1933. Weinheim 2000 (Bibliothek für Bildungsforschung, Bd. 17), 272 – 306. 123 Mit Ausnahme der medizingeschichtlichen Dissertation von Bernward Fröhlingsdorf hat sich die wissenschaftsgeschichtliche Forschung der Debatte über die Überbürdung der Schüler im Deutschen Reich nicht näher angenommen. Dessen Arbeit hat die Fülle an wissenschaftlicher Expertise und populären Stellungnahmen systematisiert: Fröhlingsdorf: »Die Entwicklung der Diskussion um die Überbürdung der Kinder«. Freiburg 1973, maschin. Typoskript. Dennoch bleiben auch hier in Anbetracht der schieren Menge an Publikationen Lücken, die zu schließen ein Forschungsdesiderat darstellt. Für die Rolle der Überbürdungsdebatte im Kontext des Verhältnisses von Pädagogik und Medizin vgl. materialreich Stross: Pädagogik und Medizin. Für die Rolle der Überbürdung im Volksschulwesen Jürgen Bennack: Gesundheit und Schule. Zur Geschichte der Hygiene im preußischen Volksschulwesen. Köln/Wien 1990. Ob die schulische Belastung in anderen Ländern ähnlich brisant diskutiert wurde, konnte nicht ermittelt werden; mindestens in Schweden und der Schweiz war sie jedoch nachweislich Thema. Vgl. dazu Axel Key : Schulhygienische Untersuchungen. In dt. Bearbeitung hg. von Leo Burgerstein. Hamburg 1889, beziehungsweise Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München / Wien 1998.

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Überbürdungsgeschichten

Annahme, der Überbürdungsdiskurs sei auf der Ebene der jungen Generation als Entsprechung der Zivilisationskrankheit Nervosität aufzufassen.124 Diese Parallele expliziert Emil Kraepelin als einer der wohl einflussreichsten Psychiater der Zeit am Ende seines Vortrags Über geistige Arbeit, den er 1893 vor dem Heidelberger Frauenverein hält:125 Wenn nicht alle Zeichen trügen, so stehen wir in einer wichtigen Uebergangszeit auch auf dem Gebiete des Schulwesens. Wie die nervöse Leistungs- und Widerstandsfähigkeit des Kulturmenschen dem Einflusse unerhörter Aenderungen in der gesamten Lebensführung heute noch nicht gewachsen zu sein scheint, so ist auch die Schule hinter den Anforderungen zurückgeblieben, welche unser raschlebiges Zeitalter an sie stellt. Zu schnell haben sich die äusseren Umwälzungen vollzogen, als dass die stetigeren, geschichtlich gewordenen Einrichtungen ihnen überall hätten folgen können.126

Kraepelin, ein Schüler Wilhelm Wundts, ist zu dieser Zeit einer der prominentesten Vertreter der jungen Disziplin der Psychiatrie: Unter anderem besetzte er die Positionen des Ordinarius für Psychiatrie und Direktors der Psychiatrischen Universitätskliniken Heidelberg und München.127 Außerdem, und diese Funktion ist ähnlich schlecht dokumentiert wie seine Beschäftigung mit der Kinderund Jugendpsychiatrie, ist er einer der Protagonisten in der Überbürdungsdebatte, die ihn vor dem Hintergrund seiner Forschung zur Arbeitspsychologie interessiert.128 Im obigen Vortrag fasst Kraepelin seine Forschungsergebnisse zur Messbarkeit geistiger Arbeitsleistung zusammen. Er folgt dort dem Duktus 124 Zur Bedeutung der Kollektivkrankheit der Neurasthenie siehe nur Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Eine Kurzfassung findet sich in: Ders.: »Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, oder : Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte«, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft 20 (1994). Zur Relevanz des Neurasthenie-Diskurses für das Bildungsbürgertum vgl. Volker Roelcke: Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter. Frankfurt am Main 1999. Hier 122 – 137. 125 Dass das Interesse den ursprünglichen Adressatenkreis schnell übersteigt, ist auch daran ersichtlich, dass der Vortrag bis 1903 vier Neuauflagen erfährt. Die Bedeutung des Themas über fachwissenschaftliche Zirkel hinaus verdeutlicht zudem das Vorwort des Mediziners Hermann Griesbach zu seinem ursprünglich als Fachaufsatz publizierten Text. Vgl. Hermann Griesbach: Energetik und Hygiene des Nervensystems in der Schule. Schulhygienische Untersuchungen. München / Leipzig 1895. Vorwort. 126 Emil Kraepelin: Über geistige Arbeit. 4. Aufl., Jena 1903. 28. 127 Holger Steinberg: »Wilhelm Wundt, Emil Kraepelin und die Bedeutung des vorliegenden Briefwechsels«, in: Ders. (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Wundt und Emil Kraepelin: Zeugnis einer jahrzehntelangen Freundschaft. Bern u. a. 2002. 9 – 28, hier 21 f. 128 Unter anderem hat sich Kraepelin mit dem Verlauf von Arbeitskurven befasst. Vgl. dazu Emil Kraepelin: »Die Arbeitscurve«, in: Philosophische Studien 19 (1902), 459 – 507. Inwiefern der Begriff der Arbeitsleistung aus seinem zunächst physiologischen Verständnis überhaupt auf den kognitiv-geistigen Bereich übertragen und wie er dort gemessen werden kann, diskutiert Kraepelin in diesem und einem weiteren Vortrag. Vgl. dazu auch Kapitel II.3.

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der zeitgenössischen Kulturkritik, wenn die Lebensführung, das Zeitalter und äußere Umstände geradezu autonome Macht über den »Kulturmenschen« gewinnen, der sich dem Beschleunigungsprozess widerstandslos ausgeliefert sieht. »Mit Recht hat Erb«, fährt Kraepelin fort, vor kurzem die Nervosität unseres Geschlechts als eine Art Entwicklungskrankheit gekennzeichnet. Sie ist entstanden dadurch, dass ein gewisser Bruchteil der heutigen Menschheit nicht die genügende Anpassungsfähigkeit besitzt, um ohne Schaden die Steigerung und Erweiterung unserer Lebensarbeit zu ertragen. Der Untaugliche unterliegt, während die Kräfte des Tüchtigen sich erproben und bereichern, um einem neuen, leistungsfähigeren Geschlechte die Bahnen zu öffnen.129

Die Lebensarbeit der Schüler besteht im Wissenserwerb, und damit ist benannt, was der gesellschaftlichen Nervosität auf der Ebene der Schule entspricht: die Überforderung der Schüler durch die Explosion an Wissensstoff im Zuge der wilhelminischen Schulreformen,130 dessen schiere Menge – so das gängige Argument – die kognitiven Kapazitäten zunehmend übersteige und dazu führe, dass eine große Anzahl von Schülern vor den Anforderungen der Schule kapituliere. Kraepelin formuliert diesen Sachverhalt nicht zufällig mit Reminiszenz an Darwin, um auf die existentielle Dimension des Überbürdungsdiskurses nicht nur auf individueller Ebene hinzuweisen: Welche Aussichten bestehen für die Zukunft einer Gesellschaft, wenn deren junge Generation von der genannten »Entwicklungskrankheit« systematisch geschwächt wird? Der Prager Obersanitätsrat Theodor Altschul konstatiert: Wenn man die schier ins unendliche angeschwollene schulreformatorische Literatur durchstudiert, dann könnte man zu dem Schlusse gelangen, dass unser gegenwärtiges Schulsystem infolge geistiger Überbürdung nur lauter Psychopathen und Schwächlinge erziehen kann.131

Dabei ist das Phänomen der Überbürdung um 1900 keineswegs neu. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts werden erste Klagen laut, die sich im frühen 19. Jahrhundert im Rahmen der Institutionalisierung der Schulbildung in gesteigertem Maße an das höhere Schulwesen richten. Denn die Verstaatlichung der öffentlichen Bildung verhilft dem Thema schulischer Überlastung zu einem »einheitlichen und reaktionspflichtigen Adressaten.«132 Es ist der 1836 erschie129 Kraepelin: Über geistige Arbeit, 28. 130 Vgl. die Einleitung. 131 Theodor Altschul: »Die geistige Ermüdung der Schuljugend. Ermüdungs-Messungen und ihre historische Entwicklung«, in: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 69 (1911), 267 – 341, hier 267. 132 Jürgen Oelkers: »Physiologie, Pädagogik und Schulreform im 19. Jahrhundert«, in: Philipp Sarasin, Jakob Tanner (Hg.): Physiologie und industrielle Gesellschaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1998. 245 – 85, hier 246. Vgl. außerdem Stross: Pädagogik und Medizin, 103 – 120.

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Überbürdungsgeschichten

nene Aufsatz Zum Schutze der Gesundheit an den Schulen des Medizinalrates Carl Ignaz Lorinser, der dem Überbürdungsdiskurs politische Brisanz verleiht.133 Nach Erhalt eines persönlichen Exemplars veranlasst Friedrich Wilhelm III. Stellungnahmen sämtlicher preußischer Provinzial-Schulkollegien, die eine erhitzte Debatte über die Angemessenheit der von Lorinser formulierten Kritik an der schulisch verursachten Gesundheitsgefährdung entfachten. Diese Situation war nicht ohne Folgen für die pädagogische Theoriebildung. Wie Jürgen Oelkers nachgewiesen hat, bestand im Verlauf der Debatten, die während des 19. Jahrhunderts über schulhygienische und physiologische Fragen geführt wurden, durchaus die Möglichkeit, eine systematische physiologische Pädagogik zu entwickeln.134 Für eine an diesem Modell orientierte Schulreform standen Theorieansätze und Gedanken etwa eines Rudolf Virchow, Daniel Schreber oder Wilhelm Preyer zur Verfügung. Schulentwicklung war schließlich bereits im 19. Jahrhundert »staatlich organisierter Wettbewerb, der ohne Expertenunterstützung aus Medizin und Naturforschung (einschließlich Statistik) gar nicht hätte geführt werden können.«135 Bis zum Ende der Überbürdungsdebatte um das Jahr 1915136 hatte sich die Verbindung von Physiologie und Pädagogik jedoch als unattraktiv erwiesen, und der allgemeine reformpädagogische Diskurs entwickelte sich jenseits solcher Konzepte. Insbesondere für die frühe Schulliteratur ist dieser Referenzhorizont von physiologisch – zu ergänzen wäre: arbeitswissenschaftlich – orientierten theoretischen Ansätzen aber wichtig. Denn als 1883 der erste Schultext des vorliegenden Untersuchungszeitraums erscheint, ist die Diskussion um die Überbürdung der Schüler noch lange nicht beendet: »Die Agitation der 80er Jahre […] übertraf alles, was bisher an Überbürdungsklagen vorgebracht worden war.«137 Zudem nimmt der Diskurs eine arbeitswissenschaftlich geprägte Wende: »[…] exakte Leistungsmessung stand am Ende der Überbürdungsdebatte. Die letzte große Diskussion […] in den neunziger Jahren war arbeitsphysiologisch bestimmt.«138 Bei der Suche nach den Ursachen der schulischen Überbürdung lassen sich zwei ›Lager‹ unterscheiden: Eines geht ihnen in medizinisch-arbeitswissen133 Carl Ignaz Lorinser : Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen. Berlin 1861 [1836]. Die Diskussion kann dabei nicht getrennt von ihrer bildungspolitischen Instrumentalisierung betrachtet werden; vgl. dazu auch die Ausführungen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. 134 Vgl. Oelkers: Physiologie, Pädagogik und Schulreform. 135 Ebd., 254. 136 Zur Begründung vgl. ebd., 276. 137 James C. Albisetti, Peter Lundgreen: »Höhere Knabenschulen«, in: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4: 1870 – 1918: Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991. 228 – 313, hier 232. 138 Oelkers: Physiologie, Pädagogik und Schulreform, 270.

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schaftlichen Zusammenhängen nach, ein zweites in den modernen Lebensbedingungen. Hier interessiert zunächst die erste Richtung, die wissenschaftliche Untersuchung der Schüler. Wissenschaftliche Studien konzentrieren ihr Interesse darauf, das Phänomen der Überbürdung mit Hilfe neuer Methoden quantifizierbar und damit kontrollierbar zu machen, indem sie zahlreiche Experimente an Schülern durchführen. Dabei dominieren drei Methoden: Erstens sind als die prominentesten physiologischen Ansätze Angelo Mossos Ergograph und die von dem Mediziner Hermann Griesbach entwickelte Ästhesiometrie zu nennen.139 Zweitens ergehen sich psychologische Studien in skrupulösen Analysen der zeitlichen Belastung der Schüler. Sie messen die Auswirkungen etwa von Unterrichtsfächern, Pausen, Sportunterricht, Schlaf, Ernährung und Arbeitswechsel auf die geistige Leistungsfähigkeit der Schüler, indem sie diese zu verschiedenen Zeitpunkten des Schultags Rechen- oder Schreibaufgaben lösen lassen. Die zur Lösung benötigte Zeit und der Fehlerquotient gelten dabei als Indikatoren für das Maß der Ermüdung.140 Drittens schließlich werden biologisch-medizinische Methoden angewandt, wie die Feststellung des Hämoglobinund Sauerstoffgehaltes oder die Konzentration toxischer Stoffe im Blut.141 Deutlich wird an diesem Überblick der geradezu manisch anmutende Aufwand, der betrieben wird, um den unterstellten ›Funktionsmechanismus‹ des Schülers zu durchdringen und so mit den Methoden der Arbeitswissenschaft seine maximale Leistungsfähigkeit zu erzielen.142 139 Vgl. dazu Griesbach: Energetik und Hygiene des Nervensystems. Mossos Ergograph bestand aus einer Konstruktion, die die Hand einer Versuchsperson so fixiert, dass nur der Mittelfinger Bewegungsfreiheit hat. An diesen Finger wurde ein Gewicht gehängt, das die Versuchsperson heben musste, bis sich der Muskel erschöpfte. Dieser Prozess wurde aufgezeichnet und visualisierte als Ermüdungskurve des Muskels den Fortschritt der Erschöpfung. Griesbach entwickelte das Ästhesiometer, nachdem die ergographische Methode Mossos sich nicht durchsetzen wollte. Das Gerät bestand aus einer zirkelartigen Konstruktion mit zwei Spitzen, die auf der Hautfläche aufgesetzt und auseinander bewegt wurden. Die Hypothese der Anwendung war: Je größer die Ermüdung, in desto größeren Millimeter-Abständen werden die beiden Spitzen als eine empfunden. Eine Übersicht einschlägiger Studien, die diese Methode (und die des Ergographen) verwenden, bietet Altschul: Die geistige Ermüdung der Schuljugend, 286 – 325. 140 Für eine zusammenfassende Übersicht einschlägiger Studien, die den sogenannten »Pausenversuch« als Methode verwenden vgl. Emil Kraepelin: Zur Überbürdungsfrage. Jena 1897, sowie Kraepelin: Über geistige Arbeit, Vorwort zur vierten Auflage. Hier betont er jedoch auch das Desiderat, eine genauere Bestimmung des »qualitativen Arbeitswertes« und seiner (positiven) Manipulation zu ermöglichen: Vgl. ebd., 13. 141 Um schlechten Blutwerten entgegenzuwirken, wurde beispielsweise ein Spray entwickelt, das Antikenotoxin enthielt, während des Schultages im Raum versprüht wurde und den für die Ermüdung verantwortlich gemachten Giftstoffen im Blut entgegenwirken sollte. Vgl. Friedrich Lorentz: Über Resultate der modernen Ermüdungsforschung und ihre Anwendung in der Schulhygiene. Hamburg / Leipzig 1911. 142 Dass sich dabei die Analogie der Maschine aufdrängt, ist nicht zufällig. Auf dieser Analogie baut Anson Rabinbach seine Rekonstruktion der Anfänge der europäischen Arbeitswis-

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Überbürdungsgeschichten

Indes: Wann ist diese genau erreicht? Die Grenze zwischen maximaler Leistung und beginnender Überbürdung auszumachen, erweist sich als unmöglich. Die Übergänge zwischen Ermüdung, Erschöpfung und Überbürdung sind fließend; sie werden auch von den beteiligten Experten selten trennscharf voneinander abgegrenzt und höchstens in Handbüchern genauer definiert. So ordnet das einschlägige Handbuch von Leo Burgerstein und August Netolitzky die Ermüdung der »Hygiene des Unterrichts«, die Überbürdung dagegen den »Krankheiten und Kränklichkeitszuständen in ihrer Beziehung zur Schule« zu und definiert letztere als »[e]ine Arbeitsleistung, welche das Maß der körperlichen und geistigen Kräfte übersteigt und bestimmte krankhafte Erscheinungen zur Folge hat«.143 Generalisierte Angaben über den Krankheitsverlauf werden auch deshalb vermieden, weil die Ermüdbarkeit individuell stark variiere: Dies ist ein wichtiger Faktor in der Diskussion, weil er bedeutende schulpolitische Forderungen nach einer stärker individualisierten Pädagogik birgt. Nichtsdestotrotz versuchen einige Mediziner, die Grenzen zwischen unvermeidbarer Ermüdung und pathologischer Überbürdung möglichst genau auszumachen. Das Phänomen der geistigen Ermüdung wird mit der physiologischen Vorstellung erklärt, die der italienische Arzt und Reformpädagoge Angelo Mosso für die Muskelermüdung entwickelt hatte. Dabei ist nicht nur der Energieverbrauch während der Muskelermüdung der entscheidende Faktor, sondern vielmehr die Nebenprodukte des Verbrauchs: »Der Mangel an Energie in den Bewegungen eines ermüdeten Menschen rührt […] daher, dass der Muskel beim Arbeiten schädliche Substanzen hervorbringt, die ihn allmählich verhindern, sich zusammenzuziehen.«144 Diese Auffassung wird im Zusammenhang der Überbürdungsdebatte auf die geistige Tätigkeit übertragen. Die Zerfallsprodukte, die dabei entstehen, werden im gesunden Organismus im Stoffwechselprozess ausgeschieden. Kommt es jedoch zu einer Anhäufung dieser Abfallstoffe, können diese über den Blutkreislauf wechselseitig hemmend auf Gehirn oder senschaft im 19. Jahrhundert auf, vgl. Anson Rabinbach: The Human Motor. Energy, fatigue and the origins of modernity. Berkeley / Los Angeles 1992. Für Frankreich, England und Großbritannien hat der Soziologe Andr¦ Turmel gezeigt, mittels welch aufwendiger wissenschaftlicher und sozialer Technologien das Bild des »normalen« Kindes entstanden ist, an dem sich (westliche) Erziehung seit dem 20. Jahrhundert orientiert. Wenngleich Turmel keine deutschen Quellen berücksichtigt, fügen sich die hier beschriebenen Beobachtungen nicht zuletzt unter arbeitswissenschaftlichen Gesichtspunkten in die Ergebnisse seiner Studie. Vgl. Andr¦ Turmel: A Historical Sociology of Childhood. Developmental Thinking, Categorization and Graphic Visualization. Cambridge 2008. 143 Leo Burgerstein, August Netolitzky : Handbuch der Schulhygiene. 2. Aufl., Jena 1902. 880. 144 Angelo Mosso: Die Ermüdung. Übers. von J. Glinzer, Leipzig 1892. 106. Mit dieser Argumentation bewegt sich Mosso in deutlicher Analogie zu entropischen Denkmodellen, denn sowohl der zweite Hauptsatz der Thermodynamik als auch das Gesetz der Erschöpfung »beschrieben die abnehmende Fähigkeit eines Systems, Arbeit zu leisten, und seine Verlangsamung bis zum Stillstand und zur Erstarrung.« Ebd., 362. Zu den thermodynamischen Hintergrundannahmen des Diskurses vgl. die Einleitung.

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Muskeln einwirken. Körperliche Arbeit kann geistige also so wenig ausgleichen wie umgekehrt. Vielmehr wirkt sich physiologische Erschöpfung negativ auf die geistige Arbeit aus, und vice versa:145 »Der Strom dieser Flüssigkeit [des Blutes, G.W.] kann etwas Schädliches, was sich im Gehirn durch seine Thätigkeit erzeugt hat, in die Muskeln einführen.«146 Zwar ist in diesem Stadium noch Erholung möglich, jedoch nur auf kurze Dauer. Als unabdingbare Konsequenz wacher Existenz sind Ermüdungseffekte also zunächst natürlich und unvermeidlich – oder, wie Kraepelin es formuliert: »Wollten wir der Ermüdung entgehen, so müssten wir die Arbeit überhaupt, ja das Leben selbst vermeiden […]. Nur das Maass ist es, worauf alles ankommt.«147 Das Maß, oder vielmehr das Übermaß, ist es auch, welches den Unterschied zwischen Ermüdung und Erschöpfung markiert. »Der Erschöpfungszustand ist dann erreicht, wenn die Ruhepausen nicht mehr ausreichen, um dem Organismus die nötige Erholung zu geben […].«148 Der Mediziner Theodor Altschul versucht, erneut in Analogie zur Muskelphysiologie, aufzuzeigen, wie stark ein Kind geistig belastet werden kann, ohne überbürdet zu sein, wobei er Erschöpfung mit Überbürdung gleichsetzt.

Abb. 1: Altschul, Arbeitskurve Abb. 2: Altschul, Übungskurve149

Abbildung 1 stellt eine Arbeitskurve mit den Punkten Ruhe (R), Tätigkeit (T), Maximum der Leistungsfähigkeit (M), Ermüdung (E) und Lähmung (L) dar. Deutlich wird an Altschuls Skizze, »dass alle Phasen einer Arbeitskurve […], wenn eine Rückkehr zur Ruhe stattfindet, immer wieder aufs neue durchlaufen und zum Maximum der Leistungsfähigkeit emporgeführt werden können […]; 145 Dieser Hinweis ist wichtig, denn die Variation von körperlicher und geistiger Tätigkeit wird in der Mehrzahl der psychologischen Studien als Faktor genannt, der Überbürdung vorbeuge. 146 Mosso: Die Ermüdung, 282. 147 Kraepelin: Über geistige Arbeit, 16. 148 Fröhlingsdorf: Die Entwicklung der Diskussion um die Überbürdung der Kinder, 12. 149 Beide Abbildungen siehe Altschul: Die geistige Ermüdung der Schuljugend, 271. Auf die Figur der Arbeitskurve geht das Kapitel II.3 noch genauer ein.

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Überbürdungsgeschichten

nur von der Lähmung gibt es keine Rückkehr zur Tätigkeit mehr.«150 Abbildung 2 verdeutlicht den produktiven Effekt der Übung (Ü) auf den Ermüdungsprozess: Hier sind Tätigkeit, Maximum und die Ermüdung Summanden der Übung; erst Übermüdung (ÜB) und Erschöpfung (ER) sind nicht mehr positiv. Doch im Gegensatz zur Lähmung kann auch vom erschöpften Zustand aus der Ruhezustand wieder erreicht werden. Bemerkenswert ist an Altschuls Grafiken die Veranschaulichung des Umstandes, dass die maximale Leistung genau mit dem Beginn der Erschöpfung zusammenfällt. Mehr noch: »[D]ie Grenze, wo die maximale Leistungsfähigkeit in das Stadium der Ermüdung übergeht, lässt sich überhaupt nicht ziehen […].«151 Seine Forderung an die Schule lautet daher, »niemals das Maximum der Leistungsfähigkeit der Schüler erreichen zu wollen, sondern […] die Aufgaben beträchtlich unter dieses Maximum herabsetzen.«152 Dieses Ergebnis, das die Hoffnungen der Schulpolitik auf eine maschinenanaloge Optimierung schülerischer Leistung gedämpft haben dürfte, entspricht auch den Darstellungen anderer Autoren:153 Für das Phänomen der Überbürdung gibt es keine objektiven Beurteilungskriterien jenseits der Überforderung der Leistungsfähigkeit. Dass diese keine anthropologische Konstante darstellt, darauf weist unter anderem Kraepelin hin: Wiewohl von externen Faktoren wie Ernährung und Schlafdauer abhängig, stellt »[d]ie Ermüdbarkeit […] daher eine Grundeigenschaft der einzelnen Persönlichkeit dar […]«154. In einer detaillierten Studie unternimmt Kraepelin 1902 den Versuch, eine Arbeitskurve in einzelne Kurven zu zerlegen und den Einfluss der Faktoren Übung, Ermüdbarkeit, Anregung, Gewöhnung und Willenskraft auf den Gesamtverlauf zu analysieren. Eine Konsequenz, die er aus dieser Analyse zieht, ist die Forderung nach stärkerer Individualisierung des Schulunterrichts. Denn seiner Analyse zufolge gibt es keinen generalisierbaren Verlauf geistiger Arbeit: Unsere bisherigen Betrachtungen haben uns gezeigt, daß die Arbeitscurve eine recht verwickelte Zusammensetzung aufweist. Uebung und Ermüdung, Gewöhnung, Anregung und Antrieb in wechselnder Größe, dazu Uebungsverlust und Erholung wirken mit und gegeneinander, um alle die mannigfaltigen Gestaltungen der Arbeitscurve zu erzeugen, die uns bei der Untersuchung verschiedener Personen und unter verschiedenen Bedingungen begegnen.155 150 Altschul: Die geistige Ermüdung der Schuljugend, 271. 151 Theodor Altschul: »Die Frage der Ueberbürdung unserer Schuljugend vom ärztlichen Standpunkte«, in: Wiener medizinische Wochenschrift 3 (1894), 121 – 123, hier 122. 152 Ebd. 153 Vgl. Fröhlingsdorf: Die Entwicklung der Diskussion um die Überbürdung der Kinder, 13. 154 Kraepelin: Über geistige Arbeit, 12. 155 Kraepelin: Die Arbeitscurve, 489. Forderungen wie diese waren Wasser auf den Mühlen der zeitgenössischen Reformpädagogik, deren zentrales Anliegen eine der kindlichen Entwicklung gemäße Pädagogik war und die sich entsprechend an der Überbürdungskritik

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Gleichwohl ist umstritten, ob man nur die Schule als Brutstätte der Überbürdung verantwortlich machen sollte. Vielmehr ist die Verantwortung der Schule eine Größe, die immer neu verhandelt wird. Rudolf Virchow hatte bereits 1883 zusammen mit anderen Mitgliedern der Königlich Preußischen Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen ein Gutachten vorgelegt, das im Auftrag des Staatsministers Gustav von Goßler den Ursachen der »Überbürdung der Schüler in den höheren Lehranstalten« auf den Grund gehen sollte.156 Ohne dass die Verfasser den Einfluss der Schule auf die Überbürdung bestreiten, warnen sie doch dringlich vor voreiligen Schlüssen und verweisen erstens auf die mangelhafte Datenlage, zweitens auf die statistisch unsaubere Auswertung des vorhandenen Materials. »Nach dieser Darlegung dürfen wir wohl hoffen, nicht missverstanden zu werden, wenn wir erklären, dass uns für ein wissenschaftliches Gutachten über die Ausdehnung einer Ueberbürdung der Schüler der höheren Unterrichtsanstalten die Unterlagen fehlen«157, bremsen die Verfasser daher schon in der Einleitung die Hoffnung auf substantielle Ergebnisse. Aus einer genaueren Analyse des Datenmaterials zweier Studien folgern sie: »Die uns […] vorgelegten Akten […] enthalten nur Kasuistisches ohne jeden Anhalt für ein allgemeines Urtheil.«158 Wiewohl das Gutachten eine Reihe von schulhygienischen Umstrukturierungen empfiehlt, bleibt die Kritik an den staatlichen Bildungsinstitutionen eher verhalten: »[…] so lässt sich doch nicht bezweifeln, dass unter Mitwirkung von Aerzten […] nicht unwichtige Schlussfolgerungen auf die Bedeutung des Unterrichtes für das Befinden der Schüler abgeleitet werden können.«159 Dieser Befund – Mangel an statistisch signifikanten Korrelationen innerhalb des Datenmaterials bei gleichzeitigem Minimalkonsens, dass die Schule an der Überbürdung mindestens beteiligt ist – zieht sich als roter Faden durch nahezu jede Abhandlung zu diesem Thema. Die Kritikpunkte, die sich die Schule bei der Untersuchung möglicher Ursachen gefallen lassen muss, betreffen in der Hauptsache drei Aspekte: die übermäßige zeitliche Belastung der Schüler durch den Schultag und die Hausaufgaben, deren Erledigung sich häufig bis in die

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beteiligte. Vgl. auch Stross: Überbürdung als Nebeneffekt der neuhumanistischen Bildungsreform. Rudolf Virchow et. al.: »Gutachten der Königlich Preußischen Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen, betreffend die Ueberbürdung der Schüler in den höheren Lehranstalten, am 19. Dezember 1883 erstattet an Seine Excellenz den Königlichen Staatsminister und Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten Herrn Dr. von Goßler«, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen 26 (1883), 222 – 255. Ebd., 226. Ebd., 230. Die Studien untersuchten den Einfluss der Schule auf die große Zahl der zum Militärdienst untauglichen Schulabsolventen sowie den vermeintlichen Anstieg der Selbstmordrate unter Schülern. Ebd., 242.

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Nacht ausdehne; den methodisch-didaktisch unzweckmäßigen Unterricht inadäquat ausgebildeter Lehrer; und schließlich all diejenigen Monita, die im Bereich der Schulhygiene beklagt wurden und sich von den Lüftungs- und Beleuchtungsverhältnissen der Klassenräume über das Mobiliar bis hin zur »Hygiene des Unterrichts« (Kleidung, Unterrichtspläne, Leibesübungen, Strafen usw.) erstrecken.160 Jenseits des schulischen Einflusses messen die Studien der häuslichen Erziehung ebenfalls große Bedeutung bei. Schließlich treffen all diese Faktoren während der Pubertät auf eine besonders heikle Lebensphase. Die beginnende Geschlechtsreife stellt ein ganz eigenes Problemfeld dar, gilt sie doch als ein für pathologische Erscheinungen besonders anfälliger Entwicklungsabschnitt.161 Insgesamt ist bei der Frage nach den Einflüssen zu beachten, »dass alle ätiologischen Momente kumulativ wirken, die Schule also in Zeiten der erhöhten Beanspruchung des Kindes (besonders in der Pubertät) die geistigen Anforderungen herabsetzen muss, um das Kind vor gesundheitlichen Schäden zu bewahren.«162 Die Symptome der Überbürdung lassen sich in somatische und psychische unterscheiden, wobei auch hier die Trennlinie unscharf bleibt. Unter den somatischen Erscheinungen sind die Kurzsichtigkeit (Myopie) und der Kopfschmerz an erster Stelle zu nennen – letzterer tritt derart häufig auf, dass er unter dem Begriff »Schulkopfschmerz«163 firmiert. Hinzu kommen Erkrankungen der Wirbelsäule, der Verdauung und des Stoffwechsels sowie sexuelle ›Pathologien‹.164 So ordnet Baginsky das Phänomen der Onanie in seinem Handbuch der Schulhygiene bezeichnenderweise der Rubrik »Erkrankungen des Nervensystems« zu.165 Die Übergänge von somatischen zu psychischen Symptomen sind 160 Vgl. zum letzten Punkt nur Adolf Baginsky : Handbuch der Schulhygiene zum Gebrauche für Ärzte, Sanitätsbeamte, Lehrer, Schulvorstände und Techniker. 3. Aufl., 2 Bde. Stuttgart 1898. Hier Bd. 2. 161 Z. B. Martin Pappenheim, Carl Grosz: Die Neurosen und Psychosen des Pubertätsalters. Berlin 1914 (Zwanglose Abhandlungen aus den Grenzgebieten der Pädagogik und Medizin, Bd. 1); August Cramer: Pubertät und Schule. Leipzig / Berlin 1910 (Schriften des deutschen Ausschusses für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, Heft 4). Deutlich wird der prekäre Status dieses Lebenabschnittes auch an der Tatsache, dass er in einschlägigen Lexika unter dem Lemma »Pubertätsirresein« verhandelt wird. Vgl. Adolf Dannemann: »Pubertätsirresein«, in: Encyklopädisches Handbuch der Heilpädagogik. Hg. von dems. Halle 1911. Sp. 987. 162 Fröhlingsdorf: Die Entwicklung der Diskussion um die Überbürdung der Kinder, 54. 163 Vgl. Finkelnburg, Carl, Georg F. Märklin: Einfluss der heutigen Unterrichtsgrundsätze in den Schulen auf die Gesundheit des heranwachsenden Geschlechts. Braunschweig 1878 (Separatabdruck aus der ›Deutschen Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege‹, Band X, Heft 1), 13. 164 Vgl. Baginsky : Handbuch der Schulhygiene, Bd. 2. 165 Diese Klassifikation erklärt Baginsky durch den Teufelskreis zwischen der Schädigung des neuronalen Zentrums durch Onanie, die wiederum die Hemmschwelle zur Selbstbefriedigung senke. Vgl. ebd.355.

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also fließend. Gewöhnlich werden als psychische Folgen der schulischen Beanspruchung Geisteskrankheiten wie die Hysterie und die Neurasthenie genannt, außerdem Chorea, Veitstanz, Epilepsie und Sprachstörungen. Wie sind Symptome einer solchen Pathologie zu therapieren? Ausgangspunkt aller therapeutischen Maßnahmen war die Überzeugung, dass es sich bei den […] Erkrankungen nicht um Geisteskrankheiten handele, sondern um »geistige Abnormitäten«; d. h. diese Überbürdungspsychose ist ein Übergangsstadium zwischen psychisch gesunden und psychisch kranken Kindern […], das ohne Behandlung sehr leicht in eine echte Geisteskrankheit übergehen kann; andererseits aber lässt es sich auf ein gesundes Stadium zurückbringen, wenn nur das veranlassende psychische Moment wegfällt.166

Weil die Schule ein solch auslösender Faktor sein kann, fordern die Ärzte nahezu ohne Ausnahme die Unterbrechung des Schulbesuchs, verbunden mit »viel Aufenthalt in freier Luft, einfacher Kost und lauen Bädern.«167 Reichen diese diätetischen Maßnahmen oder Blutkuren168 nicht aus, wird bisweilen auch die Entfernung aus dem Elternhaus und die Einweisung in eine Anstalt nahe gelegt, nicht zuletzt, um das kranke Kind aus den für die Nervenhygiene ungünstigen Bedingungen zu entfernen. An der Tatsache, dass die Therapievorschläge über Jahrzehnte hinweg gleich bleiben, lässt sich allerdings eine gewisse Unsicherheit bezüglich der Behandlungsmöglichkeiten ablesen, weshalb sich diese meist auf prophylaktische Maßnahmen konzentrieren. Die Vorschläge beziehen sich in erster Linie auf schulhygienische Aspekte. Die Bedeutung des Stundenplanes ist hier kaum zu überschätzen: Diverse Studien fordern die Herabsetzung der Unterrichtsstunden und eine zeitliche Strukturierung des Schultages, die den Grundsätzen einer geistigen Hygiene entspricht.169 Eine weitere Forderung betrifft die Größe der Klassen. Virchow hatte bereits in seinem Gutachten betont: Aber gerade daraus [aus dem Wissen um Kinder, die für die Überbürdung prädisponiert sind, G.W.] folgern wir die Verpflichtung, dass die Lehrer in höherem Maße individualisieren müssen, als es anerkanntermaßen in der Regel geschieht. Sie müssen die Kräfte ihrer Schüler nicht nach gleichem Maße messen […], denn es gibt kein konstantes Maß, wonach die Grenze zwischen Überbürdung und zulässiger Belastung bestimmt gezogen werden kann.170 Fröhlingsdorf: Die Entwicklung der Diskussion um die Überbürdung der Kinder, 56. Ebd. Vgl. ebd., 57. Vgl. etwa Baumeister, o. V.: »Die neueren amtlichen Kundgebungen in der Schulhygiene«, in: Deutsche Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege 15 (1883); Ferdinand Kemsies: »Zur Frage der Überbürdung unserer Schuljugend«, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 22 (1896) sowie Kraepelin: Über geistige Arbeit. 170 Virchow et. al.: Gutachten, 243. Diese Forderung nach mehr Individualisierung begegnet 166 167 168 169

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Virchow und andere reagieren damit auf die Versuche, Schüler als quasi-wissenschaftliche Gegenstände generalisierbar und quantifizierbar zu machen, mit einem Plädoyer für Individualisierung. Wie in der Einleitung dargestellt,171 war die wilhelminische Bildungspolitik jedoch weit davon entfernt, auf solche Forderungen einzugehen. Die Überbürdungsfrage interessierte Wilhelm II. zumal in Hinblick auf den Einfluss, den sie auf die Schüler als seinem künftigen militärischen »Material«172 haben würde. Zur Abhilfe schlug der Kaiser eine deutliche Reduktion der Stunden und eine Neugestaltung des Abiturs vor, bei der die Grammatikprüfung externalisiert und vorgezogen werden sollte. Die arbeitswissenschaftliche, medizinische und pädagogische Überbürdungsdiskussion entwirft also ein Szenario, das den Selbstbeschreibungen der zeitgenössischen Jugendbewegung diametral entgegensteht: Nicht von Energie, Vitalität und Kraft ist die Rede, sondern von verkümmernden Jünglingen, die ihre Angst vor den Anforderungen der Schule nicht selten in den Selbstmord treibt. Primäre und sekundäre Sozialisation: Die Erzieherfiguren im Überbürdungsdiskurs Es gibt in Deutschland zurzeit für Bücher und Zeitschriften, für Romane und Dramen kein beliebteres Thema als die Unterdrückung und Misshandlung hochstrebender Söhne und Töchter durch eigensinnige, engherzige und unverständige Väter und Mütter, die Niederhaltung und Abmarterung hochbegabter, zur Selbständigkeit des Denkens emporstrebender Jünglinge durch verständnislose, pedantische, herrschsüchtige, blind am Alten hangende Schulmeister. Auf Versammlungen und allgemeinen Erziehungstagen werden die Schrecken dieses grausamen Regiments dargestellt, wie alle tüchtigsten und selbständigsten Geister bis zur Erschöpfung gehetzt und geplagt werden, bis sie endlich »unterm Rad« liegen oder als »Schülerleichen« aus dem Wasser gezogen werden. […] Seltsam, wer in der wirklichen Welt lebt, nicht in jener papiernen, dem werden diese Schilderungen und Anklagen etwas befremdlich vorkommen.173

In der Deutschen Rundschau spricht sich Friedrich Paulsen, zu dieser Zeit bereits namhafter Philosoph und Pädagoge, gegen eine Überbewertung der Rede über die überforderte Jugend aus. Paulsens Kritik zeigt zweierlei: Erstens legt sie Zeugnis von der Breitenwirkung ab, die insbesondere der literarische Diskurs auch an anderen Stellen, so zum Beispiel in folgendem Handbuch: Alfred Baur : Das kranke Schulkind. Anleitung zum physiologisch-psychologischen Beobachten in der Schule. Stuttgart 1904. 254 – 61. 171 Vgl. den Abschnitt ›Bildung (2) – Das Ringen der Schulpolitik‹ in der Einleitung. 172 Anonym: Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890. 71. 173 Friedrich Paulsen: »Väter und Söhne (Deutsche Rundschau, Mai 1907)«, in: Ders.: Gesammelte Pädagogische Abhandlungen. Hg. von Eduard Spranger. Stuttgart / Berlin 1912. 497 – 516, hier 497 f.

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über problematische Erziehungsverhältnisse erfährt. Paulsens typisierte Darstellung fügt den Erzieherfiguren der Literatur nur wenig hinzu: Tatsächlich werden Eltern und Lehrer auffällig undifferenziert dargestellt. Ein autoritärer Vater, eine tote oder mundtote Mutter, ein überforderter Sohn – das ist die personelle Minimalkonstellation nahezu aller Schultexte, bisweilen ergänzt um einen Freund oder eine Schwester, die den aus pädagogischer Perspektive unproblematischen Gegenpol zu dem schwierigen Protagonisten darstellt. Dieses Figureninventar scheint in den frühen Texten geradezu verpflichtende Normativität zu besitzen.174 Zweitens diagnostiziert Paulsen eine Diskrepanz zwischen dem diskursiven Sog dieser Erziehungskrisen und einer »wirklichen Welt«. Die Unterstellung eines publizistischen Zerrbilds teilt er auch mit anderen Kritikern. So wichtig dieser Vorbehalt ist, so wenig wird diese rekonstruierende Perspektive an dieser Stelle ein Urteil über einen vermeintlichen substantiellen Wahrheitsgehalt der Debatte fällen. Die folgenden Überlegungen sind vielmehr von der These geleitet, dass eben diese verunsicherte Deutungskompetenz in Anbetracht des vielstimmigen Diskurses über gelungene oder misslungene Erziehung die Ursache dafür ist, dass das omnipräsente Narrativ der Erziehungskrise um 1900 derart an Bedeutung gewinnen konnte. Wenn im Folgenden also die literarische Analyse noch einmal zurückgestellt wird, ist das Anliegen keine sozialgeschichtliche Rekonstruktion der Familien- und Generationskonflikte der Jahrhundertwende.175 Vielmehr interessiert die Frage, welche außerliterarischen Beschreibungsmuster der Erziehungsinstanzen Schule und Familie existieren, weshalb die Rolle der Familie in der Überbürdungsdebatte und zeitgenössische Konzeptionen primärer und sekundärer Sozialisation betrachtet werden sollen. Am eher populärwissenschaftlichen Pol der Überbürdungsdiskussion bewegen sich stärker kulturkritische Beiträge, die häufig als Vorträge von Wis174 Als Ausnahme können gelten: Arno Holz, Johannes Schlaf: Der erste Schultag. Berlin 1924; Rainer Maria Rilke: Pierre Dumont, in: Ders.: Sämtliche Werke in 12 Bänden. Besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 7: Frühe Erzählungen und Dramen, erste Hälfte. Frankfurt am Main / Leipzig 1992. 407 – 14, sowie Ders.: Die Turnstunde, in: Ders.: Sämtliche Werke in 12 Bänden. Besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 7: Frühe Erzählungen und Dramen, zweite Hälfte. Frankfurt am Main / Leipzig 1992. 601 – 9. 175 Dies wurde an anderer Stelle geleistet, für Überblicksdarstellungen vgl. Thomas Koebner : »›Der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz‹. Familiendrama und Generationskonflikt in der deutschen Literatur zwischen 1890 und 1920«, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend. Frankfurt am Main 1985. 500 – 18, sowie York-Gothart Mix: »Generations- und Schulkonflikte in der Literatur des Fin de siÀcle und des Expressionismus«, in: Ders.: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 7: Naturalismus, Fin de siÀcle, Expressionismus, 1890 – 1918. München / Wien 2000. 314 – 22. Unter besonderer Berücksichtigung von Konzepten der ›Männlichkeit‹ in literarischen Darstellungen vgl. Walter Erhart: Familienmänner. Über den Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001.

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senschaftlern an ein Expertenpublikum gerichtet sind. Sie nehmen nicht nur die Schule in den Blick, sondern machen insbesondere die häusliche Erziehung und das moderne Leben im Allgemeinen für die nervöse Verfasstheit der Schuljugend verantwortlich.176 Als repräsentativ kann der Vortrag von Hermann Oppenheim zum Thema Nervenleiden und Erziehung gelten, den dieser im Juli 1899 vor dem Psychologischen Verein zu Berlin hält.177 Oppenheim ist zu dieser Zeit bereits ein führender Vertreter der Berliner Neurologie. Der Vortrag geht von der Annahme aus, dass trotz vererbter Disposition zur Nervosität die Erziehung einen wichtigen Einfluss auf neurasthenische Erkrankungen habe. Oppenheim analysiert diverse Einflussfaktoren wie Ernährung, körperliche Abhärtung oder Affektkontrolle, von denen hier zwei besonders prominente Gesichtspunkte herausgegriffen werden sollen: die Ermahnung zu altersgerechter Erziehung und die Warnung vor übermäßigem elterlichen Ehrgeiz. Die Struktur des Vorbehaltes gegenüber einseitiger Erziehung durchzieht den ganzen Vortrag: Erziehungsakte seien auf eine gesunde Einschätzung des rechten Maßes angewiesen. Zwar sollen Kinder abgehärtet, aber nicht übertrieben strapaziert, oder, in Oppenheims Worten, »straff und konsequent, aber deshalb keineswegs lieblos und rigoros erzogen werden […].«178 Insbesondere der Frühreife gelte es mit erzieherischen Maßnahmen entgegenzuwirken: Es gehört zu den obersten Prinzipien der Erziehung, dass Re i z u n d G e n u ß z u r r e c h t e n Z e i t g e b o t e n u n d d e r E m p f ä n g l i c h ke i t d e s A l t e r s a n g e p a s s t werden. […] Nur so kann der heute so verbreiteten Blasiertheit […] entgegengewirkt werden. Aus demselben Grunde […] ist es zu widerraten, Kinder frühzeitig in Museen, Galerien und Theater zu führen. […] Das [verfrühte Ende der Kindheit, G.W.] muß sich strafen und nicht zum wenigsten straft es sich am Nervensystem […]. Um so mehr, als die Natur des neuropathischen Kindes an und für sich häufig zu einer vorzeitigen, überstürzten Entwicklung, zur Frühreife drängt.179

Das Argument der Unreife wird auch in der Literatur immer wieder bemüht, wenn eine vermeintliche Fehlentwicklung erzieherisch korrigiert werden soll. Dabei kann es sich sowohl auf sexuelle Fragen als auch auf künstlerische Ambitionen beziehen. Oppenheim behandelt beide Bereiche in seiner Abhandlung, verweist aber besonders auf den Problemfall musikalischer Begabung, der auch 176 Vgl. z. B. Theodor Benda: Nervenhygiene und Schule. Berlin 1900; Richard Landau: Nervöse Schulkinder. Vortrag gehalten in der Kommission für Schulgesundheitspflege zu Nürnberg. Hamburg / Leipzig 1902; Hermann Oppenheim: Nervenleiden und Erziehung. Berlin 1899. 177 Der Bezug zur Überbürdung ist hier insofern gegeben, als in der Debatte angenommen wird, eine nervöse Disposition fördere die Anfälligkeit für die Überbürdung. Der Vortrag wurde zusammen mit zwei weiteren Vorträgen (Nervenkrankheit und Lektüre, Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters) im gleichen Jahr veröffentlicht. 178 Oppenheim: Nervenleiden und Erziehung, 42. 179 Ebd., 48 – 49, Hvbg. i. O.

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in den literarischen Texten von Bedeutung ist: »In erster Linie möchte ich […] vor den vorzeitigen Mu s i k s t u d i e n warnen. Kinder musikalisch begabter Eltern erben nicht nur häufig diese Anlage, sondern auch die zur Nervosität.«180 Eine Hauptaufgabe der Erziehung bestehe also darin, das Kind keinen Einflüssen auszusetzen, die seinem Entwicklungsstand noch nicht gemäß seien. Überaus schädigend wirkt sich der elterliche Ehrgeiz in Schulfragen auf diesen Vorsatz aus. Oppenheim lastet den Eltern dabei eine bedeutende Mitschuld an der Überbürdung ihrer Kinder an: Es scheint mir nun aber, als ob in dieser Hinsicht von Seiten der Eltern mindestens soviel gesündigt würde als durch die Schule und ihre Leiter. Gerade in den neuropathischen Familien ist sehr oft ein krankhaft ausgearteter Ehrgeiz zu Hause, der sich auf die Kinder überträgt und sie zu einer ungesunden Anspannung ihrer Kräfte drängt. […] Auf die Zunahme der Schülerselbstmorde ist schon wiederholt hingewiesen worden. Oft bildete der zügellose Ehrgeiz die Ursache. […] Ist Begabung vorhanden – und nervöse Kinder sind meistens begabt – so kann die treibende Kraft des Ehrgeizes sicher entbehrt werden […]. Fehlt aber jede Begabung, so verzichte man darauf, die Kinder auf einen Beruf vorzubereiten, der unter dieser Bedingung nur durch gewaltsame Anspannung der Kräfte erreicht werden kann. Stolz, Eitelkeit und Standesvorurteile der Eltern haben […] schon viel Unheil angerichtet.181

Oppenheim kommt in diesem kurzen Absatz auf drei Themen zu sprechen, die einen großen Teil des diskursiven Sedimentes der Schulliteratur ausmachen. Mit dem unverhältnismäßigen elterlichen Ehrgeiz ist ein Problem adressiert, das sich auf die sozialdistinktive Dimension des Schulbildungsprozesses rückbeziehen lässt. Wie Georg Bollenbeck gezeigt hat, gerät das im 19. Jahrhundert weitgehend bürgerlich geprägte Bildungsideal im Laufe des Modernisierungsprozesses in eine Legitimationskrise. In der Verwendungsgeschichte des deutschen Bildungsideals erhöht diese Entwicklung den »Selbstzwang zur Leistung«.182 An dieser Entwicklung hat auch die Schulliteratur anteil: Sie spielt häufig auf die Herkunftsmilieus der überforderten Schüler im (Klein-)Bürgertum an, das seinen sozialen Status in der nachfolgenden Generation wenn nicht steigern, so wenigstens halten will.183 Das zweite Thema, die Schülerselbstmorde, wird immer wieder mit der Überbürdung in Zusammenhang gebracht184 – 180 Ebd., 38. Dass zwischen musikalischer und dekadent-nervöser Veranlagung ein Zusammenhang besteht, kann spätestens seit Nietzsches Abhandlung zum »Fall Wagner« als Topos gelten. 181 Oppenheim: Nervenleiden und Erziehung, 62 – 64. 182 Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt am Main 1996. 222. Vgl. auch die Einleitung der vorliegenden Arbeit. 183 Vgl. das folgende Kapitel. 184 Hier ist auf die 1927 erschienene Bibliographie des Selbstmords hinzuweisen, die zum »Selbstmord in der Pädagogik« folgendes vermerkt: »Was den Selbstmord der Schüler anlangt, so findet dieser in den meisten Fällen in einer seelischen Störung, in einem

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wenngleich sich der Zusammenhang statistisch nicht verifizieren lässt.185 Oppenheim geht so weit, die Selbstmorde in eine wenn auch implizite Nähe zu elterlichem Ehrgeiz zu rücken. Schließlich ist mit dem Thema der Begabung ein ebenso signifikanter wie problematischer Aspekt des schulischen Alltags thematisiert. Die Frage von vererbter Anlage oder Begabung, die sich insbesondere auf die Fächer Mathematik und Musik kapriziert, steht eng im Zusammenhang mit der Debatte um die Frage, wo die Grenze zwischen Genie und Pathologie zu ziehen sei – das ist in Oppenheims Einschub zur Korrelation von Nervosität und Begabung bereits angedeutet und hat entsprechende Parallelen im zeitgenössischen Genie-Diskurs.186 Entsprechend groß ist also die familiäre Verantwortung, den Ehrgeiz auf ein im Wortsinn gesundes Maß zu beschränken. Dabei erweist sich die Crux der Erziehung bei Oppenheim im Kern als eine hermeneutische:187 Stets kommt es auf das Vermögen der kompetenten Interpretation einer Situation an (das Affektleben beispielsweise muss »richtig erkannt und gedeutet werden«188), um mit dem angemessenen Erziehungsakt

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krankhaft gesteigerten Ehrgeize oder in heftigen Gemütsbewegungen seinen Grund. Soweit die Statistik überhaupt in der Lage ist, über die Beweggründe zum Selbstmord Licht zu verbreiten, so spielen Furcht vor Strafe, Angst vor der Wiederkehr in die Schule, Furcht vor dem Examen, das Nichtaufsteigendürfen in eine höhere Klasse, die Versetzung nach Klassenplätzen usw. eine erhebliche Rolle bei den Schülerselbstmorden. […] Ferner gibt die ›Examensneurasthenie‹, die nach ärztlichen Untersuchungen bei mehr als der Hälfte aller Schüler zu Abnahme an Körpergewicht führt, im Zusammenhalt mit psychopathischer Veranlagung einen Nährboden für Schülerselbstmorde ab. Ein Teil, vielleicht der größte Teil der Schülerselbstmorde ist aber weniger auf die Schule, auf Lernen und Lehrer zurückzuführen, sondern ist durch krankhafte Veranlagung, durch wirkliche Geisteskrankheiten […] veranlasst.« Hans Rost: Bibliographie des Selbstmords. Augsburg 1927. 85. Ferner bietet Emil Durkheims einschlägige Selbstmord-Studie von 1897 insbesondere mit der Kategorie des ›anomischen‹ Selbstmords eine Interpretation dieses Phänomens als Symptom der Integrationskraft beziehungsweise Störanfälligkeit sozialer Ordnungen an. Man könnte die Schülerselbstmorde vor diesem Hintergrund als Fälle anomischen Selbstmords verstehen. Vgl. Emile Durkheim: Der Selbstmord. Übers. von Sebastian und Hanne Herkommer, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1993, hier insbes. 273 – 318. Vgl. dazu das bereits zitierte Gutachten Virchows: »Irgendein greifbares Resultat für die Beurtheilung der Ueberbürdungsfrage lässt sich aus dieser Uebersicht nicht ableiten.« Virchow: Gutachten, 230. Virchows Analyse legt im Gegenteil nahe, dass im Verhältnis zum Anstieg der Schülerzahlen die Selbstmordquote sogar gesunken sei. Vgl. ebd., 229 sowie Schiller : Schülerselbstmorde in Preußen: Spiegelungen des Schulsystems? Frankfurt am Main / Berlin u. a. 1992 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 11, Pädagogik; Band 505), 31. Vgl. Cesare Lombroso: Entartung und Genie. Übers. von Hans Kurella. Leipzig 1894. Der Begriff wird hier in einem weiten Sinn verwendet, der über die Interpretation von Texten hinausgeht und dem Verständnis einer »Theorie des Auslegens und Verstehens überhaupt« (Rüdiger Ahrens: »Hermeneutik«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. 4. Aufl., Stuttgart / Weimar 2008. 281 – 84, hier 281) entsprechend auf die Interpretation etwa auch körperlicher Zeichen übertragen wird. Oppenheim: Nervenleiden und Erziehung, 39.

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reagieren zu können und das rechte Maß zwischen Strenge und Liebe zu halten. Insbesondere jene Verhaltensauffälligkeiten, die sich an der Grenze zum Pathologischen bewegen, bedürfen besonderer interpretatorischer Fähigkeiten: Die Verkennung der Psychosen, der durch krankhafte Seelenzustände verursachten Unruhe, Zerstreutheit und Unfähigkeit zur Apperzeption, des beginnenden Veitstanzes, der Tics und Zwangsvorstellungen etc. hat schon oft zu verfehlten und gefährlichen Maßnahmen geführt. Es ist sogar die Regel, dass der Veitstanz und die Tics zunächst als »schlechte Angewohnheiten und Ungezogenheiten« beurteilt und behandelt werden, bis das Strafen sich als nutzlos erwiesen hat und die krankhafte Natur in überzeugender Deutlichkeit zum Vorschein kommt.189

Den Unterschied zwischen schlechter Gewohnheit und Pathologie, zwischen oberflächlicher Erscheinung und tieferem Wesen, erfasst allenfalls das kundige Auge – wenn überhaupt. Oppenheim gibt hier einer Unsicherheit Ausdruck, die auf ähnliche Weise eine Reihe weiterer pädagogischer wie medizinischer Abhandlungen durchzieht und auch in Paulsens spöttischer Bemerkung zu Beginn dieses Abschnitts deutlich wurde: Es zeichnet sich eine massiv verunsicherte Deutungskompetenz von Erziehungsberechtigten, Lehrern, aber auch Medizinern ab, was die Einschätzung kindlichen Verhaltens und die Angemessenheit resultierender pädagogischer oder medizinischer Maßnahmen betrifft. Auf diese Konstellation wirkt die Institution Schule verschärfend ein, der als Instanz sekundärer Sozialisation eine besondere Bedeutung zukommt. Insbesondere die frühe Soziologie verhandelt ihre Rolle als liminale Phase zwischen Familienleben und dem Leben des mündigen Bürgers im Staat. Emil Durkheim, der in seiner Lehr- und Publikationstätigkeit der Pädagogik stets einen hohen Stellenwert beimaß190, bezeichnet in seiner Vorlesung zu Erziehung, Moral und Gesellschaft das Schulleben als »die Periode der zweiten Kindheit«191 und beschreibt die Vorteile der Schulerziehung gegenüber der Familie folgendermaßen: Sie [die Schuldisziplin, G.W.] ist die Moral der Klasse, wie die eigentliche Moral die Disziplin der Gesellschaft ist. Jede Sozialgruppe […] hat ihre Moral, die ihr Wesen ausdrückt. Nun aber ist die Klasse eine kleine Gesellschaft: […] Die Verpflichtungen […] sind die Pflichten des Schülers, genauso wie die bürgerlichen oder professionellen Verpflichtungen, die der Staat oder die Berufsverbände dem Erwachsenen abverlangen, deren Pflichten sind. Andrerseits ist die Schulgesellschaft der Gesellschaft der Erwachsenen viel näher, als es die der Familie war. Nicht nur, dass sie zahlreicher ist, die 189 Ebd. 190 Ein Großteil seiner pädagogischen Schriften ist allerdings unveröffentlicht, vgl. dazu das Vorwort von Paul Fauconnet in Emile Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesungen an der Sorbonne 1902 / 1903. Übers. von Ludwig Schmidts, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1999. 7 – 33, hier 7. 191 Ebd., 72.

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Individuen, Lehrer und Schüler, rücken einander nicht näher durch persönliche Gefühle und ausschließende Zusammengehörigkeit, sondern aus allgemeinen und abstrakten Gründen, durch die soziale Funktion der einen und die geistigen Bedingungen, in der sich die anderen wegen ihres Alters befinden. […] Die Schulpflicht ist schon kälter und unpersönlicher […]. […] Denn nur unter dieser Bedingung kann sie als Bindeglied zwischen der liebevollen Moral der Familie und der strengeren Moral des Zivillebens dienen.192

Die primäre Funktion der Schule besteht bei Durkheim also in der behutsamen Integration des Kindes in die Gesellschaft.193 Die schulische Organisation und deren Regeln stellen dabei ein Sozialisationsmodell zur Verfügung, das gerade durch den Mangel an biologisch-organischer Verbundenheit ein wertvolles Komplement zur Institution der Familie darstellt.194 Auch Georg Simmel versteht die Schule als »Spiel«195, als künstliche Vorbereitung auf das echte Leben, wenn er in seiner – bislang wenig beachteten – Vorlesung zur Schulpädagogik ihren fiktiven Charakter betont: »Der Schüler soll nur so arbeiten, als ob dies [die gesellschaftliche Relevanz der Aufgabe, G.W.] der Fall wäre, für den Lehrer soll die Qualität der Arbeit nur ein Mittel sein, Gelingen oder Verfehlen des pädagogischen Prozesses zu beurteilen.«196 Auch wenn weder Durkheim noch Simmel explizit auf Ferdinand Tönnies Bezug nehmen, bildet den Referenzhorizont der beiden »Schultheorien« dessen einschlägige Studie Gemeinschaft und Gesellschaft.197 Die Schule nimmt in allen Ansätzen eine Mittelstellung zwischen organisch-biologischer Herkunftsgemeinschaft und mechanisch-abstrakter Zielgesellschaft ein. Diese liminale Stellung der Schule ist am Ende des 19. Jahrhunderts ein bekanntes pädagogisches Problem: 192 Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft, 191, m. Hvbg. 193 Vgl. ebd., 128. Diese Funktion schreibt schon Hegel ihr zu; vgl. dazu und zur Entwicklung des Diskurses über das Verhältnis der Instanzen Schule und Familie im 19. Jahrhundert Ulrich G. Herrmann: »Elternhaus und Schule – Kooperation und Opposition. Zum Wechselverhältnis beider Sozialisationsinstanzen im 19. Jahrhundert«, in: Jutta Ecarius, Carola Groppe, Hans Malmede (Hg.): Familie und öffentliche Erziehung. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen. Wiesbaden 2009. 139 – 58, hier insbes. 148. 194 Ähnlich konzipiert der Pädagoge und Philosoph Paul Natorp die Eigenart schulischer Erziehung: »Wodurch ist unter allen Veranstaltungen zur Erziehung die Schule so auffallend bevorzugt? Sichtlich dadurch, daß sie in ausgeprägtester Weise O r g a n i s a t i o n und zwar ausschließlich dem Erziehungswerk dienende Organisation ist.« Paul Natorp: Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft. 4. Aufl., Stuttgart 1909. 227 f., Hvbg. i. O. Zu Natorps Sozialpädagogik s. auch Kapitel II.2. 195 Georg Simmel: Schulpädagogik, in: Ders.: Postume Veröffentlichungen. Ungedrucktes. Schulpädagogik. Hg. von Torge Karlsruhen und Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 2004. 313 – 472, hier 335. (= GA, Bd. 20) 196 Ebd., Hvbg. i. O. 197 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. ND nach der 8. Aufl. von 1935. Darmstadt 1979 [1887].

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Die rationale, erziehungswissenschaftlich fundierte Veranstaltung des Unterrichts im künstlichen Raum der Schule […] sieht sich […] mit den normativen Ansprüchen der lebensweltlich verfasst gedachten Familie konfrontiert. Konvergenzpunkt ist das Konzept der Gemeinschaft. Es erlaubt, zumal nach der Kodifizierung durch Tönnies, die naturrechtlichen Potenzen der Familie mit den rationalen Ansprüchen von Unterricht und Schule lebensweltlich zu vermitteln.198

Diese Vermittlung zwischen der – mit Durkheim – ›kälteren‹ und ›unpersönlicheren‹ Schulwelt und der lebenswärmeren Familie ist allerdings in der Praxis problematisch. Durch das ganze 19. Jahrhundert zieht sich eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Verhältnis der beiden Instanzen zu bewerten sei. Der Erziehungswissenschaftler Ulrich Hermann hat darin drei Argumentationslinien herausgearbeitet: das Usurpationstheorem (die Inbesitznahme der Familie durch die Schule), das Substitutionstheorem (die Forderung nach weitreichendem Einfluss der Schule gegenüber dem Elternhaus) und das Differenztheorem (die Arbeitsteilung zwischen Familie und Schule, die sich – mit Hegel – auf die Unterscheidung zwischen Erziehen und Unterrichten zurückführen lässt).199 Die Kompetenzen sind demnach alles andere als klar definiert: Gegen Ende des 19. Jh. finden sich im Genre der pädagogischen Handbücher und Enzyklopädien allerhand terminologische und argumentative Verrenkungen, um die Familie in ihrer erzieherischen Unersetzlichkeit zu auratisieren und die öffentliche Schule zugleich als eine Art Familienhilfswerk mit wissenschaftlich-professionellem Führungsanspruch gegen die Familie in Szene zu setzen.200

Mehr noch: Der zunehmend inflationäre Gebrauch des Familienbegriffs bietet sich der Reformpädagogik als anschlussfähiges und mit dem Gedanken der Gemeinschaft auch als konvergenzfähiges Konzept an: »Je plakativer sich Familienbegriff und Familienprinzip auf institutioneller Ebene in Szene setzten, umso ›schulnäher‹ […] gerieten die solchermaßen etikettierten Einrichtungen.«201 198 Jürgen Reyer, »Familie«, in: Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Hg. von Dietrich Benner und Jürgen Oelkers. Weinheim / Basel 2004. 383 – 92, hier 390. 199 Vgl. Herrmann: Elternhaus und Schule. 200 Ebd., 150 f. 201 Ebd., 156. Das anvisierte emphatische Gemeinschaftsideal wird häufig schon in der Semantik der jeweiligen Schulkonzeptionen deutlich, so etwa bei William Lottigs Lebensgemeinschaftsschulen, Paul Geheebs Odenwaldschule, die er als »Schule der Menschheit« gründete, oder der freien Schulgemeinde Wynekens. Vgl. dazu Dietrich Benner, Herwart Kemper (Hg.): Quellentexte zur Theorie und Geschichte der Reformpädagogik. Bd. 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik. Weinheim / Basel 2003, insbes. Kapitel 3, »Die Reformansätze der Pädagogischen Bewegung in Deutschland«. Vgl. zur literarischen Auseinandersetzung mit reformpädagogischen Strömungen außerdem Kapitel IV.2. Dass die Semantik des Privaten und Intimen, welche in den zeitgenössischen Konzeptionen von Gemeinschaft gerade positiv gegen die

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Solche Kompetenzkonflikte schildert auch die Literatur. Im Unterschied zu den sentimentalischen Tendenzen frühmoderner Familien- und Sozialromane, die gegen die Kälte der modernisierten Gesellschaft die organische Gemeinschaft der Familie ausspielen,202 beziehen die familiären Erzieherfiguren dort allerdings häufig die Partei der Lehrer, wenn es um die Beurteilung der Leistungen ihrer Sprösslinge geht. Die Protagonisten und ihre Freunde sind jedoch in erster Linie durch Verweigerung der Anpassung an die Ansprüche der Schule und damit – der soziologischen Logik folgend – der modernen Gesellschaft charakterisiert. Wiewohl die Väter und Lehrer bemüht sind, die männliche Jugend gesellschaftstauglich zu machen, wird dennoch deutlich, dass sie in ihrem erzieherischen Handeln verunsichert sind. In der folgenden Analyse und den weiteren Unterkapiteln zu den ›Überbürdungsgeschichten‹ soll gezeigt werden, dass und wie die frühe Schulliteratur solche Sozialisationsexperimente darstellt – die gerade in diesen frühen Texten gründlich misslingen.

b.

Die unhintergehbare Rede: Überbürdung als Spracheffekt in Conrad Ferdinand Meyers ›Das Leiden eines Knaben‹ (1883)

Am 19. Dezember 1883 kommentiert Conrad Ferdinand Meyer eine lobende Rezension seiner Novelle Julian Boufflers. Das Leiden eines Kindes, die diese als Jugendarbeit beurteilt, in einem Brief an den Verleger Julius Rodenberg folgendermaßen: Der Rezensent habe mit der Einschätzung »eigentlich nur zur Hälfte Unrecht: das Novellchen ist neu, aber, freilich mit Absicht, in meiner ersten Manier geschrieben. Es hat seine Fehler: […]. Doch hält er [gemeint ist ›der Knabe‹, G.W.] sich durch seine ›Tendenz‹, welche ich gar nicht beabsichtigte.«203 Zweierlei ist aufschlussreich an Meyers Reaktion. Erstens spielt sein Bekenntnis, bewusst einen dem Frühwerk gemäßen Stil gewählt zu haben, möglicherweise auf die Tatsache an, dass er sich mit dem Stoff schon früher beschäftigt hatte. Erste Erwähnungen des Motivs gehen auf das Jahr 1877 zurück. Aus der Annahme, dass der Autor den Stoff offenbar über einen längeren ›Kälte‹ der staatlich organisierten Institution angeführt wurde, fatal missverstanden beziehungsweise bewusst von Erziehern instrumentalisiert worden ist, war nicht nur ein zeitgenössisches Problem (vgl. den in Kapitel IV.2 diskutierten Skandal um Gustav Wyneken), sondern machen nicht zuletzt die seit dem Jahr 2010 wiederholt vorgebrachten Missbrauchsvorwürfe gegen kirchliche und Reformschulen deutlich. 202 Vgl. dazu Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 – 1900. Berlin 2009 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte, Bd. 52). Hier insbes. 258 – 85. 203 Brief Meyers an Julius Rodenberg, zitiert nach Alfred Zäch: »›Das Leiden eines Knaben‹. Entstehungsgeschichte«, in: Conrad Ferdinand Meyer. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 12. Bern 1961. 318.

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Zeitraum hinweg mit sich herumtrug, leitet die Meyer-Forschung in einer für die Rezeption der Schulliteratur charakteristischen Weise204 einen biographischen Gehalt der Novelle ab. Sein erster Biograph Adolf Frey überliefert: »Er erklärte später, viel mehr, als jemand denke, in den ›Leiden eines Knaben‹ Jugendstimmungen niedergelegt zu haben.«205 Überhaupt zeichnet Frey ein retrospektives Bild von Meyer, das Züge des verkannten Genies trägt und in manchen Zügen Julian, ja den Protagonisten der Schulliteratur insgesamt, ähnelt: Mit der Zeit trat er allmählich zurück und ließ anderen den Vorrang. Ein verträumtes, zerstreutes Wesen, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, griffen hemmend ein, vielleicht die erste Regung des schlummernden Talents, vielleicht körperliche […] Schwäche. Freunde des Hauses wunderten sich, dass der Sohn solcher Eltern anscheinend aus der Art schlage und nicht mehr zu werden versprach, und keiner der Lehrer […] witterte hinter dem freundlichen Knaben […] irgend eine besondere Begabung.206

Zweitens interessiert der Hinweis auf die unfreiwillige »Tendenz«, welcher der Text seinen Publikumserfolg verdanke. Meyer präzisiert diesen nicht weiter, und so bleibt es offen, ob damit die antijesuitische Polemik der Novelle oder ihr 204 Vgl. die Einleitung. 205 Adolf Frey : Conrad Ferdinand Meyer. Sein Leben und seine Werke. Stuttgart 1900. 36. Frey zufolge verarbeitete Meyer mit der Novelle ein Kindheitserlebnis: Von einem älteren Verwandten erhielt er einmal ohne weiteren Anlass heftige Prügel. Von da an, berichtete Meyers Schwester Betsy, hatte er lange etwas Gebrochenes an sich. »Zuweilen befiel ihn eine nervöse, ängstliche Hast, so dass er, völlig unbegreiflich für die Nächsten, in Tränen ausbrach, meistens ohne sich zu erklären, was ihn bedrücke.« Ebd. Hier fallen die biographische Interpretation innerhalb der Meyer-Forschung (vgl. auch Rosmarie Zeller : »Meyer im Kontext. Blicke auf die Forschung«, in: Dies. (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer im Kontext. Beiträge des Kilchberger Kolloquiums. Heidelberg 2000. 1 – 26, hier 3 – 11) und in der Schulliteratur zusammen. Grundsätzlich wird Das Leiden eines Knaben sowohl in der Meyer-Forschung als auch in der Forschung zum Realismus eher als Belegstelle erwähnt, als dass der Text als solcher zum eigenständigen Gegenstand einer Abhandlung würde. Als Ausnahme können hier gelten: Ulrich Eisenbeiß: »Überlegungen zur perspektivischen Erzählkunst des späten Conrad Ferdinand Meyer – am Beispiel der historischen Novelle Das Leiden eines Knaben«, in: Robert Leroy, Eckart Pastor (Hg.): Deutsche Dichtung um 1900. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Bern u. a. 1991. 273 – 88; Burghard Damerau: »Novellen gegen das Schicksal. C. F. Meyer und die Geschichte«, in: Colloquia Germanica 31 (1998). 325 – 37; Walter Schönau: »Das Drama des unbegabten Kindes. Zu Conrad Ferdinand Meyers ›Das Leiden eines Knaben‹«, in: Klaus-Michael Bogdal, Ortrud Gutjahr, Joachim Pfeiffer (Hg.): Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte. Festschrift für Carl Pietzcker. Würzburg 2001. 179 – 89. Letzterer stellt allerdings über weite Teile eine Paraphrase des Textes dar und interpretiert ihn autobiographisch. Gleiches gilt für John Osbornes Behandlung der Novelle, die die Originalität des Textes durch die Interpretation vor dem Hintergrund eines Kindheitstraumas Meyers verkennt. Vgl. John Osborne: Vom Nutzen der Geschichte. Studien zum Werk Conrad Ferdinand Meyers. Paderborn 1994 (Kasseler Studien zur deutschsprachigen Literaturgeschichte, Bd. 5). 102 – 119, hier 102. 206 Frey : Conrad Ferdinand Meyer, 33.

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erziehungskritischer Tenor gemeint ist. Die Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe halten das zweite für »wahrscheinlicher«207. Was auch der Grund gewesen sein mag: Aus der Editionsgeschichte jedenfalls geht hervor, dass die kleine Novelle einen Nerv getroffen haben muss. Sie erschien erstmals im September 1883 in fünf Nummern von Schorers Familienblatt, im November desselben Jahres publizierte Meyers Leipziger Verleger Hermann Haessel gleichzeitig mit der ersten Auflage der Buchausgabe eine zweite unter dem Titel Das Leiden eines Knaben. Im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Form impliziert der Titel durch die Anonymisierung des Knaben nun eine Universalisierung der Handlung.208 Meyers eigenen Angaben zufolge waren ihm einige Zeilen aus den M¦moires des französischen Höflings, Diplomaten und Schriftstellers SaintSimon Anregung für die Binnenhandlung der Novelle. Saint-Simon berichtet von einem Vorfall am Hof Ludwigs XIV.: Drei Jungen – die Söhne des Polizeiministers d’Argenson und Julien Boufflers, Sohn eines verdienten Marschalls – erlauben sich am Jesuitenkolleg einen Schulstreich, für den jedoch nur Boufflers gezüchtigt wird. Diesem setzt die Strafe derart zu, dass er innerhalb weniger Tage stirbt: Le petit Boufflers […] qui n’en avait pas plus fait que les deux d’Argenson, et avec eux, fut saisi d’un tel d¦sespoir, qu’il en tomba malade le jour mÞme. On le porta chez le mar¦chal, o¾ il fut impossible de le sauver. Le cœur ¦tait saisi, le sang g–t¦; le pourpre parut: en quatre jours cela fut fini.209

Entsprechend dieser Quelle sind Rahmen- und Binnenhandlung im absolutistischen Frankreich Ludwigs XIV. angesiedelt – einer Ära, die das 19. Jahrhundert als einen Höhepunkt politischer Macht sowie eine Blütezeit des höfischen Zeremoniells und der Umgangsformen betrachtet.210 Wie auch in Meyers übrigen historischen Novellen ist diese Verschiebung keineswegs beliebig. Die Rahmung der Erzählung am Hof des Louis XIV. ruft auf der zeitlichen Ebene vielmehr den Kontext einer Ära auf, die sich wie wenige andere durch die starke politische Reglementierung aller Lebensbereiche, auch und insbesondere der Sprache und dessen, was ›sagbar‹ ist, definiert. Auch die räumliche Dimension ist alles andere als kontingent. Sozialgeschichtlich spielt die Gegenüberstellung der rhetorisch207 Vgl. Zäch: Entstehungsgeschichte, 318. 208 Das ›Leiden‹ ruft überdies einen religiösen Referenzhorizont auf. Tamara S. Evans hat nachgewiesen, dass Julians Leidensweg als eine imitatio christi lesbar ist: Formen der Ironie in Conrad Ferdinand Meyers Novellen. Bern / München 1980. 153. Der Titel lässt sich zudem als Zitat der Leiden des jungen Werther auffassen; diese Lesart würde das Schicksal des sensiblen und empfindsamen Protagonisten in eine literaturgeschichtliche Tradition stellen. 209 Louis de Rouvroy de Saint-Simon: M¦moires. Texte ¦tabli et annot¦ par Gonzague Truc. 6 Bde. Paris 1947 – 58. Hier Bd. 3, 787 f. 210 Vgl. auch Andrea Jäger : Conrad Ferdinand Meyer zur Einführung. Hamburg 1998. 88.

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künstlichen, höfischen Alamode-Kultur Frankreichs einerseits und der ›deutschen Aufrichtigkeit‹ andererseits für den Prozess der Nationenbildung in der Frühen Neuzeit eine überaus wichtige Rolle.211 Der Absolutismus Ludwigs XIV. bildet so den Rahmen einer Erzählung, welche die Frage nach der Deutungshoheit über eine Geschichte und die (historische) Geschichte gleichermaßen problematisiert. Hier wie in anderen historischen Novellen Meyers fällt die kritische Auseinandersetzung mit dem historiographischen Material mit der Deutungsarbeit zusammen, die Meyer als der realistischen Ästhetik verpflichteter Autor leistet.212 Das Anliegen des realistischen Literaturprogramms, die einfache Abbildbarkeit einer vermeintlichen ›Realität‹ zu hinterfragen beziehungsweise auf deren immer schon nur zeichenhaft-abstrakte Zugänglichkeit hinzuweisen,213 wird am Gegenstand der Geschichte veranschaulicht, indem offizielle historiographische ›Meisternarrative‹ durch Kontrastierung mit dem Wahrheitsanspruch intimer und privater Gegennarrative in Frage gestellt werden. Wie zu zeigen sein wird, lässt sich Meyers Novelle auch hinsichtlich der Frage lesen, ob jenseits der Rede über die Überbürdung eine Überprüfung ihres Wahrheitsgehaltes möglich ist. Die Novelle verhandelt daher, so die These, das letztlich epistemologische Problem der Zugänglichkeit einer vermeintlichen ›Wahrheit‹ hinter der Rede auf drei Ebenen: der diskursiven Ebene der Überbürdungsdebatte, der wissenschaftlichen der Historiographie und schließlich der ästhetischen des realistischen Literaturprogramms. Das Sujet des Titels ist in der Rahmenhandlung zunächst zugunsten eines 211 Vgl. Ingo Stöckmann: »Die Gemeinschaft der Aufrichtigen. Die Sprache der Nation und der redliche Grund des Sozialen im 17. Jahrhundert«, in: Claudia Benthien, Steffen Martus (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006. 207 – 30, hier v. a. 209 – 22. 212 »In der Dichtung wie in der Wissenschaft geht es darum, die Oberfläche des rein Empirischen, der einzelnen ›Geschichten‹ zu transzendieren, um der darunter […] gelegenen ›Geschichte‹ habhaft zu werden. Letztere resultiert dergestalt als Konstrukt, als Produkt einer vorgängigen Deutungsarbeit und einer Sinnkonstruktion qua Kontingenzreduktion, wie sie im Übrigen auch in der Ästhetik des literarischen Realismus gefordert wird.« Wolfgang Lukas: »Meyers historische Novellen«, in: Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epochen – Autoren – Werke. Darmstadt 2007. 139 – 55, hier 148. Zu Meyers historischen Novellen in Auseinandersetzung mit dem geschichtsphilosophischen Diskurs des 19. Jahrhunderts außerdem Andrea Jäger : Die historischen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer: zur poetischen Auflösung des historischen Sinns im 19. Jahrhundert. Tübingen / Basel 1998; hier insbes. 21. Zu seiner Technik der Re-Konstruktion vergangener ›Realität‹ vgl. auch Friedrich Kittler : Der Traum und die Rede. Eine Analyse der Kommunikationssituation Conrad Ferdinand Meyers. Bern / München 1977, insbes. 223 f. 213 Vgl. die semiotisch orientierte Realismusforschung, jüngst Sabine Schneider, Barbara Hunfeld (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Festschrift für Helmut Pfotenhauer. Würzburg 2008, insbes. 11 – 14; Christian Begemann (Hg.): Realismus. Epochen – Autoren – Werke. Darmstadt 2007, sowie systemtheoretische Zugänge wie etwa Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur : ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995.

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anderen Handlungsstranges zurückgenommen. Sie setzt damit ein, dass Ludwig XIV. seiner Mätresse, Madame de Maintenon, von einem Zwischenfall berichtet. Sein Leibarzt Fagon hatte in die Ernennung des Jesuitenpaters Tellier zum Beichtvater Ludwigs interveniert und diesen gedemütigt. Fagon kommt hinzu und rechtfertigt sein Verhalten mit der Geschichte des Julian Boufflers, mit der die Binnenhandlung beginnt. Zwar attraktiv und sportlich, was das äußere Erscheinungsbild angeht, wird der Junge als intellektuell vollkommen unbegabt charakterisiert. Die kränkliche Mutter, die seine Lernschwierigkeiten kennt, überantwortet kurz vor ihrem Tod Fagon das Wohl ihres Sohnes und bittet ihn, darauf zu achten, dass er in seiner Erziehung »nicht zu harte Demütigungen erleide«214. Fagon entscheidet mit Julians Vater, ihn auf ein Jesuitenkolleg zu geben. Dank Fagons indirektem Hinweis, Julian sei der illegitime Sohn Ludwigs, wird der Schüler dort gut behandelt und fühlt sich trotz seiner Lernschwierigkeiten wohl. Das ändert sich, als sein Vater einen Betrug der Jesuiten aufdeckt und diese davon in Kenntnis setzt. Zwar macht er die Entdeckung nicht öffentlich, will aber die verräterischen Unterlagen nicht den Mönchen überlassen. Er begreift allerdings nicht, dass er die Jesuiter damit erpresst. So beendet er ahnungslos die Schonzeit seines Sohnes im Kolleg, zumal die Väter Recherchen über Julians Abstammung anstellen und sich der Verdacht auf blaues Blut als haltlos erweist. Das Kind litt. Täglich und stündlich fühlte es sich gedemütigt, nicht durch lauten Tadel […], sondern fein und sachlich, einfach dadurch, dass sie [die Jesuiten, G.W.] die Armut des Blondkopfes nicht länger freundlich unterstützten und die geistige Dürftigkeit nach verweigertem Almosen beschämt in ihrer Blöße dastehen ließen. Jetzt begann das Kind, von einem verzweifelten Ehrgeiz gestachelt, sein Wachen zu verlängern, seinen Schlummer gewalttätig abzukürzen, sein Gehirn zu martern, seine Gesundheit zu untergraben […]. (LK, 119)

Fagon unterbreitet Julian schließlich ein Angebot, um ihn von der Situation zu erlösen: Er soll zunächst in den Krieg ziehen, um anschließend ein kleines Amt am Hof zu übernehmen. Julian willigt ein, doch noch bevor der Marschall konsultiert werden kann, ereignet sich der fatale Zwischenfall. Victor, Sohn des Polizeiministers d’Argenson verwickelt Julian in einen Streich, dessen provokativen Gehalt dieser nicht versteht: Er überredet Julian, eine Biene an die Schultafel zu malen und diese mit dem Schriftzug »bÞte — miel«, Honigtierchen, zu versehen. Julian entgeht die Polysemie, denn der Ausdruck lässt sich ebenso als »bÞte Amiel«, dummer Amiel, lesen, und ist in dieser Lesart eine Beleidigung des Rhetoriklehrers PÀre Amiel (vgl. LK, 143 f.) PÀre Tellier ignoriert Victors 214 Conrad Ferdinand Meyer: Das Leiden eines Knaben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Alfred Zäch. Bd. 12: Novellen II. Bern 1961 [1883]. 99 – 157, hier 111. Im Folgenden Siglenangaben.

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Bekenntnis des Streiches und züchtigt Julian brutal (vgl. LK, 141). Sein Zustand verschlechtert sich derart rapide, dass Fagon schließlich den Vater über Julians Zustand unterrichtet: »Sein Gehirn ist erschöpft. Der Knabe hat sich überarbeitet.« (LK, 156) Er hält damit sein Versprechen Julian gegenüber ein, dem Vater die Information der Züchtigung vorzuenthalten. Wenig später stirbt Julian. Liest man Meyers Novelle im Kontext der frühen Schulromane und der Überbürdungsthematik, so fällt zunächst auf, dass der Tod des Protagonisten hier nicht allein durch schulische Überanstrengung zustande kommt, sondern das Resultat körperlicher Züchtigung ist. Diese Konstellation ist offensichtlich der Quelle geschuldet. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass Meyer diesen Aspekt der intellektuellen Überforderung ergänzt und den zeitlich und räumlich distanzierten Kontext dadurch aktualisiert. Inwieweit der Schweizer Meyer über die Überbürdungsdiskussion informiert war, darauf lassen die Quellen kaum Rückschlüsse zu. Fest steht, dass das Thema auch in der Schweiz verhandelt wurde.215 In Anbetracht der spärlichen biographischen Belege für eine Auseinandersetzung Meyers mit dem Überbürdungsdiskurs, vor allem aber hinsichtlich des Textes selbst soll die Analyse jedoch nicht auf eine bloße ›Diskursallegorie‹ hinauslaufen. Es geht Meyer offenkundig nicht oder nicht nur um die Schilderung eines bildungspolitischen Missstandes. Wenn Julian die Ausrede der Überlastung durch schulische Arbeit als die offizielle Version seines Todes bevorzugt, nimmt Meyer das Thema der Überbürdung vielmehr zum Anlass, die Funktionsweise eines solchen Diskurses literarisch zu untersuchen – und auf diese Weise wiederum selbst an ihm zu partizipieren und ihn zu prägen. Die Novelle entfaltet das Problem der Zugänglichkeit einer ›Wahrheit‹ anhand des Redesystems der alteuropäischen Rhetorik. Der pragmatischen Funktion von Sprache kommt in der höfischen Rhetorik, um die es hier im Speziellen geht, eine besondere Bedeutung zu. Wenn das aptum, die Angemessenheit an die Redesituation, am Hof die wichtigste Tugend ist, dann wird der Wahrheitsgehalt einer Sache sekundär.216 Die Frage nach der Unterscheidung von Lüge und Aufrichtigkeit zieht in diesem Kontext ein intrikates Spiel mit den Vorgaben 215 Vgl. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, 263. Im Jahr 1880 führte außerdem eine Deutschlandreise Meyer nach Nürnberg, Dresden und Leipzig, wo er womöglich mit der Debatte in Berührung kam. Eine andere Fährte führt nach Frankreich: George W. Reinhardt hat auf die Möglichkeit hingewiesen, dass die Novelle auf die zeitgenössische schulpolitische Situation in Frankreich anspielen könnte: Vgl. George W. Reinhardt: »Literary Refractions: MoliÀre, Montaigne, Pascal and Saint-Beuve in Conrad Ferdinand Meyer’s ›Das Leiden eines Knaben‹«, in: Michigan Germanic studies 2 (1988), 106 – 122, hier 119. 216 Vgl. auch Gert Ueding: »Denn eine Wahrheit, die nicht auch als eine solche erscheinen kann, etwa weil das äußere aptum […] gestört ist, ist nicht überzeugungskräftig und kann daher gerade für das Gegenteil ihrer selber genommen werden – was der Wahrheit einer Sache nicht dient.« Gert Ueding: Klassische Rhetorik. 3. Aufl., München 2000 (C.H. Beck Wissen), 109, hier außerdem 106 – 12.

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dessen nach sich, was für Aufrichtigkeit gehalten wird.217 Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Lutz Danneberg hat darauf hingewiesen, dass das Problem dabei weniger in ontologischen als vielmehr in epistemologischen Kategorien verhandelt wird: »Nun rühren die Probleme, die das 17. oder 18. Jahrhundert mit Intentionen hatte, weniger aus Bedenken ob ihres ontologischen Status, sondern aus der Frage ihrer Erkennbarkeit, also ihrer Zugänglichkeit.«218 Die Novelle bietet zu Beginn Hinweise auf den Stellenwert an, welcher der Rhetorik zukommt. Der erste besteht in einer intertextuellen Referenz auf MoliÀres Eingebildeten Kranken. Fagon leitet seine Erzählung mit dem Exkurs ein, bei einer Vorführung dieses Stücks die Mutter Julians kennengelernt zu haben.219 Er nimmt dabei auf die Figur des Diafoirus Bezug, der sich als Vater »auf sein Kind […] etwas einbilde[t], etwas eitel auf die Vorzüge und etwas blind für die Schwächen seines eigenen Fleisches und Blutes« (LK, 109) ist. Diese subjektive Voreingenommenheit wird auf der Bühne dem Spott der Zuschauer ausgesetzt, wenn Diafoirus – den Fagon wiedergibt – seinen Sohn über die Maßen lobt: »Es ist nicht darum […], weil ich der Vater bin, aber ich darf sagen, ich habe Grund, mit diesem meinem Sohne zufrieden zu sein, und alle, die ihn sehen, sprechen von ihm als von einem Jüngling ohne Falsch. Er hat nie eine sehr tätige Einbildungskraft, noch jenes Feuer besessen, welches man an einigen wahrnimmt. Als er klein war, ist er nie, was man so heißt, aufgeweckt und mutwillig gewesen. […] Man hatte schwere Mühe ihn lesen zu lehren und mit neun Jahren kannte er die Buchstaben noch nicht. Gut, sprach ich zu mir, die späten Bäume tragen die besten Früchte, es gräbt sich in den Marmor schwerer als in den Sand.« (ebd.)

Nicht nur bereitet diese Passage in einer mise en abyme auf Julian vor, was die Figur des Sohnes betrifft. Aufschlussreich ist auch der Umgang des Vaters mit dem durch Mangel charakterisierten Sprössling: Er flüchtet sich in Floskeln, durch die er den tatsächlichen Missstand schönredet. Der komische Effekt wird 217 Zu ›aufrichtiger‹ und verstellter Aufrichtigkeit vgl. Stöckmann: Die Gemeinschaft der Aufrichtigen, 211 f. 218 Lutz Danneberg: »Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert. dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale«, in: Claudia Benthien, Steffen Martus (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006. 45 – 92, hier 71. Einschlägig außerdem: Ursula Geitner : Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992, hier 107 – 23. 219 Bereits in seinem Interesse für diese Aufführung wird das Thema der Repräsentation von Wirklichkeit aufgerufen, wenn Fagon argumentiert: »[…] ich durfte doch nicht wegbleiben, da wo mein Stand verspottet und vielleicht, wer wusste, ich selbst und meine Krücke […] abbildlich zu sehen waren. […] Das ist die souveräne Komödie, welche freilich nicht nur das Verkehrte, sondern in grausamer Lust auch das Menschlichste in ein höhnisches Licht rückt, dass es zu grinsen beginnt.« LK, 108 f.

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durch die Häufung der Sinnsprüche noch verstärkt und äußert sich im »unwiderstehlichen Gelächter« (ebd.) der Zuschauer. Zugleich stellt die Komik des übertrieben wohlwollenden Vaters eine deutliche Kontrastfolie zu der Tragik des übermäßig ehrgeizigen dar, als der sich Julians Vater erweisen wird. Die zweite Leseanweisung lässt sich in der Wiederholung solcher Situationen ausmachen, in denen Fragen des Wahrheitsgehaltes von Erzählungen oder Berichten verhandelt werden. In dieser Hinsicht ist der Auslöser von Fagons Erzählung – die Wahl eines neuen Beichtvaters für Ludwig (LK, 103) – keineswegs beliebig, wenn man die Beichte als Ort aufrichtiger Bekenntnisse versteht. Für die Erzählsituation ist außerdem wichtig, dass Fagon im König einen grundsätzlich skeptischen Zuhörer hat und seine Erzählung so den Charakter des rhetorischen Redeteils der argumentatio erhält, also persuasiv wirken muss. Deutlich wird das vor allem zu Beginn, wenn zwei Varianten von Julians Geschichte anzitiert werden: »[…] Denn, Sire, dieser Bösewicht [Tellier, G.W.] hat einen edeln Knaben gemordet!« »Ich bitte dich, Fagon«, sagte der König, »welch ein Märchen!« »Sagen wir : er hat ihn unter den Boden gebracht«, milderte der Leibarzt höhnisch seine Anklage. »Welchen Knaben denn?«, fragte der König in seiner sachlichen Art, die kurze Wege liebte. […] »Julian Boufflers? Dieser starb, wenn mir recht ist, […] 17.. [sic!] im Jesuitencollegium an einer Gehirnentzündung, welche das arme Kind durch Überarbeitung sich mochte zugezogen haben, und da PÀre Tellier in jenen Jahren dort Studienpräfekt sein konnte, hat er allerdings, sehr figürlich gesprochen«, spottete der König, »den unbegabten, aber im Lernen hartnäckigen Knaben in das Grab gebracht. Der Knabe hat sich eben übernommen, wie es mir sein Vater […] selbst erzählt hat.« Ludwig zuckte die Achseln. Nichts weiter. Er hatte etwas Interessanteres erwartet. (LK, 105, m. Hvbg.)

Die Erzählung Fagons wird also durch den König, noch bevor sie ihren Anfang genommen hat, unter einen grundsätzlichen Fiktionsverdacht gestellt, den er später noch einmal bekräftigt.220 In emphatischer Weise werden so schon zu Beginn Fragen nach der Realität und ihrer semiotischen Abbildbarkeit verhandelt, ja schon hier die Unhintergehbarkeit einer Welt angedeutet, »die jenseits von Sprachordnungen nicht zu haben ist«221. Die damit zusammenhän220 »Ich frage mich, Fagon, wie viel Wirklichkeit alles dieses hat. Ich meine diese stille Verschwörung […] und dieser brütende Hass […]. Du siehst Gespenster, Fagon. Du bist hier Partei […].« (LK, 119, m. Hvbg.) Fagon entlarvt allerdings den König (ironisch: »König, du Kenner der Wirklichkeit«, LK 120) als denjenigen, dessen Verhältnis zur Realität gestört ist. Bei der Verneinung von Fagons Frage, ob er glaube, dass bei Protestantenbekehrungen Gewalt angewandt würde, verweist der König auf die vermeintlich performative Wirkung seiner Befehle: »[…], weil ich es ein für allemal ausdrücklich untersagt habe und weil meinen Befehlen nachgelebt wird.« (ebd.) 221 Schneider, Sabine: »Einleitung«, in: Dies., Barbara Hunfeld (Hg.): Die Dinge und die Zei-

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genden und in der Rahmenhandlung eingeführten Aspekte – die Diskrepanz zwischen Realität und ihrer rhetorischen Beschönigung am Beispiel MoliÀres und der Appell Ludwigs an die Aufrichtigkeit Fagons – kann man als ein hermeneutisches Angebot auffassen, diesen Antagonismus auch für die Binnenhandlung zu beachten. Tatsächlich lassen sich die Figuren in eine Oppositionsbeziehung bringen, die der Text anhand einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einer rhetorischen (und damit immer schon als künstlich im Sinne von verfälscht qualifizierten) und einer aufrichtigen Redeweise erstellt. Dieser Opposition entspricht eine implizite Bewertung der Figuren in ihrer jeweiligen Funktion als Erziehungsinstanzen. Zwar setzt sich der König in der Rahmenhandlung zunächst für eine möglichst aufrichtige Erzählung Fagons ein, profiliert sich dann aber wiederholt als eine Figur, die das decorum einer Aussage über deren Wahrheitsgehalt stellt. So rügt er Fagons Bericht vom Selbstmord seines Vaters mit den Worten: »Unselige Dinge verlangen einen Schleier« (LK, 121). Als Fagon gesteht, den Brüdern ein Verhältnis Ludwigs mit Julians Mutter angedeutet zu haben, fordert Ludwig gar, dieser hätte ihm »[…] wenigstens diesen Frevel verschweigen sollen, selbst wenn deine Geschichte dadurch unverständlicher geworden wäre.« (LK, 147) Dieser Position sind in der Binnenerzählung zunächst die Figuren der Mutter Julians, Moutons und Julian selbst gegenübergestellt, deren gemeinsames Attribut die Unfähigkeit zur Verstellung ist. So wird Julians Mutter von der Gräfin Maintenon eingeführt als »[…] ein Wunder der Unschuld und Herzenseinfalt, ohne Arg und Falsch, ja ohne den Begriff der List und Lüge.« (LK, 110) Sie selbst charakterisiert sich als »völlig unbegabt« (LK, 111) und gibt dies als Grund an, weshalb sie »[…] in der Gesellschaft schwieg oder meine Rede auf das Nächste beschränkte, um nichts Unwissendes oder Verfängliches zu sagen […].« (ebd.) Julians Defizit sei also seinem mütterlichen Erbe geschuldet. Der ehemalige Hauslehrer verwendet ähnliche Kategorien, wenn er Julian charakterisiert als einen »[…] Knabe[n] ohne Falsch, der alles auf Treu und Glauben nimmt, ohne Feuer und Einbildungskraft […].« (LK, 113). Fagon liest in den Schulheften Julians einen Beleg für eine[n] rührenden Fleiß und eine[] tapfere Ausdauer, aber zugleich […] eine[n] unglaublich mittelmäßigen Kopfe, eine[n] völligen Mangel an Kombination und Dialektik, eine[] absolute Geistlosigkeit. Was man im weitesten Sinne Witz nennt, jede leidenschaftliche – warme oder spottende – Beleuchtung der Rede, jede Überraschung des Scharfsinns, jedes Spiel der Einbildungskraft waren abwesend. Nur der einfachste Begriff und das ärmste Wort standen dem Knaben zu Gebote. (Ebd., m. Hvbg.)

chen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Festschrift für Helmut Pfotenhauer. Würzburg 2008. 11 – 24, hier 12.

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Wiewohl seine Mutter, der Hauslehrer und Fagon Julian wohlwollend gegenüberstehen, charakterisieren sie alle sein Defizit als eines, das in erster Linie an seiner rhetorischen Unbedarftheit evident wird;222 auf den ›Witz‹ wird noch genauer einzugehen sein. Diesen Mangel wiederum wertet der Maler Mouton gerade als Vorzug: »Wenn dir die Wissenschaften widerstehen, so beweist das deinen gesunden Verstand!« (LK, 126) Mouton, »Halbmensch[]« (ebd.), Analphabet und Alkoholiker, steht gänzlich außerhalb der rhetorisch versierten Gesellschaft und hat die Rolle ihres Karikaturisten (vgl. LK, 125).223 Gleichzeitig nimmt eine seiner Zeichnungen proleptisch in »genialer Dumpfheit« (LK, 136) Julians Ende vorweg (vgl. ebd.). Der Gegenspieler des ›Schafes‹ Mouton ist – was den semantischen Gehalt des Namens angeht – der ›Wolf‹ PÀre Tellier.224 Er wird von Fagon als Heuchler eingeführt: »Schon dieses nichtswürdige Reden von dem eigenen Vater, diese kriechende, heuchlerische, durch und durch unwahre Demut, diese gründliche Falschheit […]« (LK, 105). Als er in der Novelle selbst zu Wort kommt, rechtfertigt Tellier die körperliche Züchtigung Julians folgendermaßen: »[…] was Exzellenz nicht alles sagen! Kann eine einfache Sache so verdreht werden? Ich gehe durch die Korridore. Das ist meine Pflicht. Ich höre Lärm in der Rhetorik. […] Ich trete ein. Eine Sottise steht an der Tafel. Ich untersuche. Boufflers bekennt. Das Übrige verstand sich. Unbegabt? Beschränkt? Im Gegenteil, durchtrieben ist er, ein Duckmäuser. Stille Wasser sind tief. Was ihm mangelt, ist die Aufrichtigkeit, er ist ein Heuchler und Gleisner.« (LK, 148 f., m. Hvbg.)

Tellier demonstriert an dieser Stelle eine große rhetorische Versiertheit. Er suggeriert in seiner Rede eine Authentizität, die er Julian gerade abspricht. Eben dieser authentische Effekt ist aber wiederum rhetorisch konstruiert, indem Tellier einen auffällig parataktischen Stil wählt, der gerade in der Bemühtheit um diesen Effekt der – vom König so geschätzten (vgl. LK, 105) – brevitas und Glaubwürdigkeit in seiner Künstlichkeit evident wird und sich so gewissermaßen selbst entlarvt.225 222 Inkohärent ist die Figurenkonstruktion im Fall Julians allerdings insofern, als er, wenn Fagon ihn direkt zitiert, eine geradezu poetische Sprachkraft entfaltet. Vgl. etwa: »Bei keinem Spiele würde ich Sonne und Schatten ungerecht verteilen, und wie kann Gott bei dem irdischen Wettspiel einem einzelnen Bleigewichte anhängen und ihm dann zurufen: Dort ist das Ziel: lauf mit den andern! […]« (LK, 138) 223 Wie Friedrich Kittler gezeigt hat, unterläuft er auch insofern gesellschaftliche Normen, als er konsequent den Bereich des Animalischen höher setzt als den der Zivilisation. Die Tiermetaphorik, die schon aus seinem Namen spricht, läuft als Subtext durch die gesamte Novelle. Vgl. dazu Kittler : Der Traum und die Rede, 174. 224 Die Semantik des Wolfes und des Schafes findet sich auch in Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts, vgl. dazu Stöckmann: Die Gemeinschaft der Aufrichtigen, 211. 225 Ein Umstand, den Fagon auch etwas später kommentiert: »Ich war betroffen, ich gestehe es, über diese Macht und Gewalt: Tatsachen zu vernichten, Wahrheit in Lüge und Lüge in

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Doch greift die Binnenhandlung auch den komischen Effekt auf, den die Überstrapazierung rhetorischer Rede hervorruft und der im MoliÀre-Zitat vorgeführt wurde. Zwei Figuren werden dadurch geradezu zu Stereotypen. PÀre Amiel, der Rhetoriklehrer, wird dargestellt als weltfremder, in seinem klassischen Bildungsgut verfangener Jesuit, der dabei aber ein eminent humanes Wesen bewahrt hat. Er verteidigt Julian nach der Prügel: »Dem Julian […] ist ein Leid geschehen, und unschuldig ist er, wie der zerschmetterte kleine Astyanax. […] Wenn Ihr […] den seltsamen Blick gesehen hättet, welchen der Knabe gegen seinen Henker erhob, diesen Blick des Grauens und der Todesangst! […] Flöhe ich über Meer, mich verfolgte dieser Blick! Begrübe ich mich in einem finstern Turm, er dränge durch die Mauer! Verkröche ich mich –« (LK, 147)

Die Rhetorik karikiert Amiel, doch lässt sich hinter ihrer Fassade ein aufrichtiger, um Gerechtigkeit bemühter Charakter ausmachen. Die Deformierung, die eine strikt rhetorikorientierte Erziehung bei der Figur der Mirabelle – dem »Liebchen« (LK, 126) Julians – bewirkt hat, ist dagegen bedauerlicher und, wie noch zu zeigen sein wird, für Julian geradezu fatal. Ihre Erziehung hat sie gleichsam zu einem Rede-Automat werden lassen, der auf Anrede hin sinnentleerte Suaden von sich gibt (vgl. LK, 129). Ihre Tante, die Gräfin Mimeure, klagt Fagon ihr Leid über diesen Effekt einer misslungenen Erziehung: »Die Luft, die sie aushaucht, ist reiner als die, welche sie einatmet. Aber geht sie dann morgen mit mir in Gesellschaft und kommt neben ein großes Tier […] zu sitzen, wird sie von einer tödlichen Furcht befallen, für albern oder nichtig zu gelten, und behängt ihre blanke Natur aus reiner Angst mit dem Lumpen einer geflickten Phrase. So wird die Liebliche unter uns, die wir klar und kurz reden, gerade zu dem, was sie fürchtet, zu einer lächerlichen Figur.« (LK, 133)

Mirabelles verkünstelte Begrüßung Fagons korrigiert die Gräfin folgendermaßen: »So spricht man nicht. Dieser hier ist nicht der erste der Ärzte, sondern schlechthin Herr Fagon. Der botanische Garten ist kurzweg der botanische Garten […]. Paris ist Paris und nicht die Hauptstadt, und der König begnügt sich damit, der König zu sein.« (LK, 129 f.) Dem rhetorischen ›Spleen‹ ihrer Nichte begegnet sie mit einem sich bisweilen zur Tautologie steigernden Insistieren auf eine Sprache, die von jeglicher rhetorischer Ambiguität gereinigt und auf möglichst unmissverständliche Referenz reduziert ist. Mirabelles Beispiel Wahrheit zu verwandeln.« LK, 151. Claudia Benthien und Steffen Martus diskutieren dieses Problem der unaufrichtigen Aufrichtigkeit in der Einleitung ihres Sammelbandes: »Wie zeigt der Redner oder Schreiber […] seine Aufrichtigkeit, wenn alle Mittel bereits konventionalisiert sind?« Und weiter: »In der galanten Zeit ›um 1700‹ gehört das Spiel mit der aufrichtigen Unaufrichtigkeit und der unaufrichtigen Aufrichtigkeit zum Repertoire der kulturellen Neuorientierung.« Claudia Benthien, Steffen Martus: »Einleitung: Aufrichtigkeit – zum historischen Stellenwert einer Verhaltenskategorie«, in: Dies. (Hg.): Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Tübingen 2006. 1 – 16, hier 4, 10.

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veranschaulicht – hier sehr nah bei Jean-Jacques Rousseaus zeitgenössischer Erziehungskritik – in stereotyper Form die topische Differenz eines als authentisch und ursprünglich konzipierten Naturzustandes, dem die Rhetorik als dem menschlichen Wesen fremde Verstellungskunst gegenüber steht.226 Anhand der Figur Mirabelles stellt die Novelle insofern auch einen Zusammenhang zwischen Rhetorik und Erziehung her. Die Redeweise der Figuren ist jeweils mit einer bestimmten Erziehungshaltung verbunden.227 So stehen der autoritäre Erziehungsstil des rhetorisch versierten Tellier sowie des Königs – als Vater der Nation – komplementär zu dem der ›aufrichtigen‹ Figuren. Diese richten ihr erzieherisches Handeln am Subjekt aus: Die Mutter, Mouton, Mimeure228 und Fagon entwerfen Lebensmodelle für Julian, die von seinen Anlagen und nicht von den sozialen Anforderungen her gedacht sind. Fagon gelingt es in seiner Vision von Julians zukünftigem Leben sogar, beides zu verbinden: »Dann wirst du ein einfacher Diener des Königs und erfüllst deine Pflicht aufs strengste, wie es in Dir liegt. Du hast Ehre und Treue und deren bedarf die Majestät. […] Du bist zu einfach, um dich in eine Intrige zu mischen; dafür wird dich keine Intrige zugrunde richten.« (LK, 13)

Indem er von dessen Anlagen her denkt, findet Fagon auch für den als nicht integrierbar charakterisierten Julian einen Platz im sozialen Gefüge, der gerade seinen größten Mangel zu einer Stärke werden lässt: Gerade seine Unverstelltheit oder simplicitas ist bei Hof eine begehrte Qualität. Für diesen bislang allgemein als Fehlen rhetorischer Fähigkeiten gefassten Mangel bietet der Text allerdings eine Präzisierung an. Evident wird diese kurz vor der Katastrophe in der Rhetorikstunde. Dass der Unterricht ausgerechnet die Theorie der Rede zum Gegenstand hat, ist in diesem Zusammenhang alles andere als kontingent. So lohnt ein Blick auf die Unterhaltung, die der fatalen Tafelanschrift vorangeht. Victor d’Argenson berichtet anschließend von der Konzeption des Streiches: […] wir steckten die Köpfe zusammen, welche Possen wir dem Nasigen spielen würden. »Etwas Neues!«, rief man von allen Seiten, »etwas noch nicht Dagewesenes! Eine 226 Mimeure kündigt eine Art Gegenerziehungsprogramm zur rhetorischen Ver-ziehung ihrer Nichte an: »Ist das ein Jammer und werde ich Mühe haben, das Kind zurecht zu bringen!« (LK, 133). Rousseau ist einer der profiliertesten Gegner der Verstellung, vgl. dazu Alexander Kosenina: »Verstellung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. 11. Darmstadt 2001. Sp. 938 – 41, hier 940. 227 Als Erzieherfiguren werden – mit Ausnahme Mirabelles – sämtliche der bisher genannten Charaktere verstanden, insbesondere deshalb, weil diese Figuren teilweise explizit Erziehungsverantwortung für Julian einfordern bzw. Elternrollen für ihn beanspruchen (vgl. LK, 112, 134, 139). 228 Diese drei Namen kennzeichnet eine Homophonie, die jeweils in einer lautlichen Analogie zum deutschen »Mutter« (Mouton) beziehungsweise französischen »mÀre« (Mimeure) besteht.

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Erfindung!« Da fiel […] mir ein, Julian, der so hübsch zeichnet, zu bitten, uns etwas […] an die schwarze Tafel zu malen. […] »Zeichne uns etwas!«, schmeichelte ich. ›Ein Rhinoceros!‹ Er schüttelte den Kopf. »Ich merke«, sagte er, »ihr wollt damit nur den guten Pater ärgern und da tue ich nicht mit. Es ist eine Grausamkeit. Ich zeichne euch keine Nase!« »Aber einen Schnabel, eine Schleiereule, du machst die Eulen so komisch.« »Auch keinen Schnabel, Victor.« (LK, 144 f.)

Julian fehlt es offensichtlich nicht grundsätzlich an ›Witz‹ im Sinne der Fähigkeit, Analogien zu erkennen,229 denn auf bildsprachlicher Ebene ist ihm die Absicht der Mitschüler durchaus bewusst. An der Analogiebildung scheitert er erst, als Victor die Pointe auf die Ebene abstrakter Zeichen verlagert. Der Doppelsinn, der sich aus dem Lautbild seiner Tafelanschrift ergibt, entgeht Julian: Seine Schwäche besteht im Unvermögen, den Zeichencharakter der Sprache zu beherrschen. Woran er scheitert, ist hier die Übertragung der Zeichenform auf einen doppelten Sinn. Diese Kompetenz ist allerdings für die Beherrschung der Rhetorik als eines Redesystems nötig, das ein besonderes Gewicht auf eben diese konnotative Funktion der Sprache legt. Diese Lesart seines Mangels wird durch das Geschehen bekräftigt, das Julians Tod vorangeht. Der Marschall, sein Vater, nötigt den körperlich bereits völlig Geschwächten zur Teilnahme an einer Tischrunde, die über körperliche Bestrafung im Heer diskutiert. Man bittet die ebenfalls anwesende Mirabelle um ihre Meinung, die in ihren rhetorischen Automatismus verfällt: »›Körperliche Gewalttat erträgt kein Untertan des stolzesten der Könige: ein so Gebrandmarkter lebt nicht länger!‹« (LK, 155). Für Julian, dessen Delirium unmittelbar danach einsetzt, haben diese Worte geradezu performativen Charakter. Wiederum entgeht ihm die rhetorische und pragmatische Dimension der Rede Mirabelles, was zur Folge hat, dass er sie als eine Art Todesurteil aufnimmt. Zum tödlichen Verhängnis wird Julian sein Unvermögen, die Kommunikationsnormen seiner Umwelt zu begreifen. Doch eben diese Schwierigkeit, die pragmatische Dimension sprachlicher Aussagen angemessen aufzufassen, bringt ihm im Moment seines Todes eine Art Versöhnung mit dem Vater und eine Linderung der Situation – wenn auch wiederum um den Preis der Differenz von Realität und Fiktion. Bislang wurde die Figur des leiblichen Vaters, Marschall Boufflers, nicht be229 Vgl. in dieser Bedeutung auch LK, 113. Diese Bedeutungskomponente führt das Grimm’sche Wörterbuch folgendermaßen aus: »in seinem umfassenden sinne meint witz die fähigkeit, versteckte zusammenhänge vermöge einer besonders lebhaften und vielseitigen combinationsgabe aufzudecken und durch eine treffende und überraschende formulierung zum ausdruck zu bringen.« Jacob und Wilhelm Grimm: »Witz«, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14: Wilb – Ysop. Hg. von dens., bearb. von Ludwig Sütterlin. Fotomechan. ND nach der Erstausgabe 1899. Leipzig 1960. Sp. 861 – 88. Insofern ist auch der These von Burghard Damerau zu widersprechen, Julian mangele es grundsätzlich am Vermögen des Witzes. Vgl. dazu Damerau: Novellen gegen das Schicksal, 325 – 337, hier 335 f.

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handelt. Das ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass der Marschall aus dem skizzierten Figurenantagonismus insofern herausfällt, als er weniger durch seine Redeweise als durch die Ausrichtung seines Verhaltens auf einen diffusen Ehrbegriff charakterisiert ist. Es ist dieser Ehrbegriff, der Julian zu der Ausrede verleitet, sein Zustand sei nicht der – als schändlich begriffenen – körperlichen Züchtigung, sondern schulischer Überarbeitung zuzuschreiben. Julian gegenüber enthält der Marschall sich erzieherischer Forderungen aus der Überzeugung heraus, »ein Boufflers tue von selbst seine Pflicht.« (LK, 112). Er ignoriert Julian meist, obwohl der »an jedem seiner Blicke hängt« (ebd.). Der »Nimbus seiner Ehre« (LK, 118) wird Julian insofern zum Verhängnis, als der Marschall die Dokumente des Jesuiterbetrugs einbehält im Vertrauen darauf, sein Ehrenwort sei den Ordensbrüdern Vertrauensgrundlage genug. Friedrich Kittler entlarvt darin den Mangel an Einbildungskraft, der in erster Linie Julian zugeschrieben wurde, als »patrilineare Genealogie«: »Vater und Sohn sind beide blind für die Möglichkeit des Betrugs, der Sohn, indem er die Reden der Anderen ›auf Treu und Glauben‹ nimmt, der Vater, indem er seine Rede vermögend wähnt, Treue und Glauben zu verbürgen.«230 Damit bricht die Erzählung die matrilineare Vererbung des Mangels auf und macht die väterliche Seite ebenso verantwortlich. Es ist nun bezeichnend, dass der Marschall sich ausgerechnet im Augenblick von Julians Tod des blinden Fleckes seiner Erziehung, der mangelnden Einfühlung in dessen Fähigkeiten, bewusst wird und ihm »das Sterben erleichtern« (LK, 157) möchte – durch eine Erzählung: »Julian, du musst mir schon das Opfer bringen, deine Studien zu unterbrechen: Wir gehen miteinander zum Heere ab. Der König hat an der Grenze Verluste erlitten und auch der Jüngste muss jetzt seine Pflicht tun.« Die Rede verdoppelte die Reiselust eines Sterbenden … Einkauf von Rossen … Aufbruch … Ankunft im Lager … Eintritt in die Schlachtlinie … Das Auge leuchtete, aber die Brust begann zu röcheln. […] »Dort die englische Fahne! Nimm sie!« befahl der Vater. Der sterbende Knabe griff in die Luft. »Vive le roi!« schrie er und sank zurück wie von einer Kugel durchbohrt. (Ebd.)

Die Novelle endet danach überraschend abrupt. Die Marquise bedauert den Jungen, Fagon entgegnet jedoch »heiter«, er sei nicht zu bedauern, »da er hingegangen ist als ein Held« (ebd.). Dieses geradezu vergnügte Fazit irritiert zunächst. Es lässt sich aber auf eine Weise lesen, welche die Reichweite und die Auswirkungen von fiktionalen wie faktualen Geschichten reflektiert. Wie Friedrich Kittler gezeigt hat, »tilgt Julians letzter Sprechakt die Opposition von Realem und Imaginärem« und besiegelt so die Binnenhandlung gleichsam mit einem »Schweigepakt, der die unerhörte Begebenheit [die Prügel, G.W.] exkommuniziert.«231 Der Überzeugungskraft und dem ›Linderungspotential‹ der 230 Kittler : Der Traum und die Rede, 177. 231 Ebd., 224.

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Fiktion des Vaters in Julians Todesstunde entspricht in der Rahmenerzählung das Gegenteil, der völlige Mangel an Interesse und Verständnisbereitschaft, die der König Fagons Bericht von der ›wahren‹ Geschichte Julian Boufflers entgegenbringt. War Fagon von dieser Ignoranz zu Beginn der Rahmenhandlung noch entsetzt, so scheint er gegen Ende zu erkennen, dass den König die Wahrheit der Geschichte nicht interessiert. Mehr noch: Die Erzählung berührt diesen vor allem dahingehend, dass sie an der Festschreibung seiner Zentralstellung partizipiert: »Allein Fagon las in den Zügen des Allerchristlichsten nichts als ein natürliches Mitleid […] und das Behagen an einer Erzählung, deren Wege wie die eines Gartens in einen und denselben Mittelpunkt zusammenliefen: der König, immer wieder der König!« (LK, 153) Die Heiterkeit, mit der Fagon dem fiktional ›gemilderten‹, aber dennoch tragischen Tod Julians begegnet, hat insofern eine ästhetische Implikation, als sie an prominenter Stelle die Frage nach der Reichweite von Erzählungen in der Realität stellt. Es ist dieser Aspekt, der die Ausrede der schulischen Überarbeitung, welche Fagon auf Julians Wunsch dem Marschall als Todesursache zuträgt, bemerkenswert macht. Denn bis zum Schluss bleibt die Überbeanspruchung Julians durch die Erziehungsanstalt präsent, erreicht durch den Marschall auch den König und bildet so das offizielle Narrativ, das Julians Tod erklärt. Gleichsam darunter läuft allerdings die zweite und komplexere Erzählung. Die Novelle verhandelt das Narrativ der Überbürdung in dieser Hinsicht kritisch als eine Art ›Meistererzählung‹, die in einer monokausalen Erklärung den eigentlichen Sachverhalt – den Konflikt zwischen individuellen Anlagen und sozialen Fähigkeiten, wie ihn die Binnenerzählung am Kriterium der rhetorischen Kompetenz ausformuliert – verstellt. Anhand dieses Kriteriums lassen sich Rahmenund Binnenerzählung in ein Verhältnis mehrfacher Spiegelungen setzen: Gerade die rhetorischen Kommunikationsnormen, an denen Julian in der Binnenhandlung scheitert, vermögen in der Rahmenhandlung die ›verstellte‹ Version der Geschichte seines Todes zu perpetuieren. Dem Argument der Überbürdung kommt in der Rahmenhandlung insofern selbst ein rhetorischer Stellenwert zu, als sie dem Hof ermöglicht, das decorum zu wahren. Als Grundproblem sprachlicher Konstruktion von Geschichte(n) und ihrer literarischen Re-Konstruktion lässt sich dieses Verhältnis von Rahmen- und Binnenerzählung auch noch weiter übertragen, nämlich auf die Ebene des Verhältnisses des Verfassers zu seinem Stoff: Ist das Erzählte nun faktische historische Wahrheit oder nur ›Märchen‹ […], objektive Realität oder eigene dichterische Erfindung? Die Texte entwerfen hier eine Mise en abyme jener Konstellation, die den Dichter und seinen historischen Stoff gegenüber-

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stellt und seine prinzipielle ›Doppelrolle als Entdecker und Produzent‹ […] begründet.232

Meyer verneint auf diese Weise die epistemologische Frage nach der Möglichkeit, eine vermeintliche Wahrheit hinter einer sprachlichen Aussage zu ergründen, welche die Novelle auf drei Ebenen – diskursgeschichtlich, historiographisch und ästhetisch – stellt. Die Welt ist ohne – in guter oder schlechter Absicht vorgenommene – sprachliche Konstruktion auf der einen und ebensolcher interpretatorischer Re-Konstruktion auf der anderen Seite nicht zu haben.233 Die Novelle verbleibt allerdings nicht in dieser schlicht negierenden Diagnose. Indem sie den Sachverhalt auf discours-Ebene am Beispiel einer Erziehungsgeschichte schildert, kommt sie mit der Figur Fagons vielmehr zu einem optimistischen Schluss, der ästhetische wie pädagogische Deutungsansprüche gleichermaßen adressiert. Das diagnostisch geschulte Auge des Arztes Fagon betrachtet nicht nur die physiologische Ätiologie, sondern geht der Genese von Julians ›Krankheit‹ differenziert – mit einer als hermeneutisch zu bezeichnenden Herangehensweise – auf den Grund. Seine Fähigkeit zur differenzierten Interpretation von Zeichen ermöglicht es ihm, eine Diagnose zu stellen, die gängige Kausalitäten hinterfragt und dadurch übereilten Interpretationen vorbeugt. Zwar vermag die ›Wahrheit‹ seiner Geschichte den König nicht zu überzeugen; die Heterogenität der Perspektiven auf die Geschichte bleibt bestehen. Damit entgeht der Text aber auch der Versuchung, ein – wenn auch in seinem Anliegen noch so überlegenes – Deutungsmonopol zu beanspruchen und damit den hermeneutisch letztlich immer unabgeschlossenen Interpretationszirkel beenden zu wollen. Meyers Kunstgriff besteht darin, zwar auf den Überbürdungsdiskurs anzuspielen, ihn aber nicht schlicht auf eine bestimmte Ursache zurückzuführen. Vielmehr weist er auf ein ästhetisches, pädagogisches, medizinisches, ja schließlich anthropologisches Grundproblem hin: die Kunst des richtigen Verstehens, die – wenn sie auch unabgeschlossen bleibt – immer wieder aufrichtig unternommen werden muss.

232 Lukas: Meyers historische Novellen, 148. 233 Im Extremfall »limitiert und definiert« ein König »den Effekt des Erzählens«. Kittler : Der Traum und die Rede, 225.

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Überbürdungsgeschichten

2.

Die Erziehung des Willens und ihre Verweigerung: Abgebrochene Lebensläufe, unvollendete Genealogien (M. v. Ebner-Eschenbach, Th. Mann, E. Strauß)

a.

Pädagogik der Aufmerksamkeit und der Willenserziehung

Aufmerksamkeit und experimentelle Pädagogik Wie das vorherige Kapitel verdeutlicht hat, zeichnet sich die Zeit um 1900 durch das gesteigerte Interesse daran aus, kindliche Entwicklung quantifizierbar und kontrollierbar zu machen. Das gilt nicht nur für die Untersuchungen zur Überbürdungsproblematik, sondern ist ein grundsätzliches pädagogisches Erkenntnisinteresse.234 An dieser Entwicklung sind in erster Linie die naturwissenschaftlich orientierte Pädagogik und die Psychologie beteiligt, deren Zuständigkeiten selten trennscharf verlaufen. Um 1900 etabliert sich die Psychologie mit Wilhelm Wundt allmählich als eigene Disziplin mit der Subdisziplin der Kinderpsychologie, während sich die Pädagogik von ihrer traditionellen Situierung im theologisch-philosophischen Hoheitsgebiet emanzipiert und zunehmend empirisch und experimentell ausrichtet. Die Wissenschaft von der kindlichen Entwicklung ist insofern ein interdisziplinäres Unternehmen: Für manch einen Autor bildete die Psychologie als reine Wissenschaft die Basis der Pädagogik, deren Charakter der einer angewandten Wissenschaft sei […]. Eine deutliche Grenze zwischen den pädagogisch relevanten Formen der Psychologie […] und den diversen Formen der experimentellen Pädagogik war […] nicht immer […] einfach zu ziehen.235

Wenngleich die universitäre Etablierung so junger Teildisziplinen wie der experimentellen Pädagogik, der Jugendkunde und der pädagogischen Psychologie nur zögerlich voranging, stieß insbesondere die erste Richtung auf großes populäres Interesse. Ihre Begründer waren Ende des 19. Jahrhunderts Wilhelm August Lay und Ernst Meumann, wobei Lay als Initiator gilt, hier aber vor allem Meumann von Interesse ist.236 Er war Assistent Wilhelm Wundts und zwischen 234 Die klassische geisteswissenschaftliche Pädagogik bleibt aus diesem Überblick ausgeklammert, weil sie sich mit entwicklungspsychologischen Fragestellungen nicht befasste. 235 Marc Depaepe: Zum Wohl des Kindes?: Pädologie, pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik in Europa und USA, 1890 – 1940. Übers. von Heinz-Elmar Tenorth. Weinheim / Leuven 1993 (Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Bd. 14), 38. 236 Lays voluntaristische Theorie konzentrierte sich in erster Linie auf experimentelle Didaktik und damit auf die konkrete Unterrichtsgestaltung. Vgl. dazu seine Promotion: Wilhelm August Lay : Experimentelle Didaktik. Ihre Grundlegung mit besonderer Rücksicht auf Muskelsinn, Wille und Tat. Wiesbaden 1903.

Die Erziehung des Willens und ihre Verweigerung

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1897 und 1911 als Hochschullehrer für Philosophie und Pädagogik tätig. 1907 erschien sein Hauptwerk, die Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen. Neu ist an dieser Ausrichtung die Abgrenzung von der herkömmlichen geisteswissenschaftlichen Situierung der Pädagogik in den Disziplinen der Philosophie und Theologie und die Hinwendung zur empirisch-naturwissenschaftlich verfahrenden Psychologie Wundt’scher Prägung.237 Relevant ist hier vor allem der erste Teil der Vorlesungen, der entwicklungs- und begabungspsychologische sowie arbeitswissenschaftliche Fragen behandelt. Meumann betont in seiner Untersuchung der Phänomene kindlicher Entwicklung zunächst, »[…] daß der G a n g d e r E nt w i c k lu n g des Kindes kein gleichmäßiger, sondern ein p e r i o d i s c h s c hw a n ke n d e r ist.«238 Diese Entwicklungsschwankungen würden vor allem in der Phase des Schuleintritts und während der Pubertät virulent. Er relativiert insofern zwar einerseits gleich zu Beginn das Konzept einer normalisierten Entwicklung, markiert aber andererseits gleichzeitig einen nachgerade utopischen Anspruch, an dem sich die experimentelle Pädagogik messen lassen will – das Desiderat des transparenten Kindes: Wenn wir jeden Augenblick wüßten, warum ein Kind so und nicht anders lernt, aufsagt, rechnet, zeichnet, schreibt usf., weil die und die bestimmte Seite seiner elementaren Anlage es dazu zwingt, so zu lernen, wie es lernt, so würden wir damit das Kind in jedem Augenblick seiner Tätigkeit verstehen, und wir wüßten sicher zugleich, wo wir mit unserer Bekämpfung seiner Fehler und Schwächen einzugreifen und mit unserer positiven Vervollkommnung und Übung seiner Fähigkeiten nachzuhelfen haben.239

Hier kommt erneut deutlich der schon an früherer Stelle analysierte Wunsch zum Ausdruck, kindliches Verhalten vollständig durchdringen und verstehen zu können. Die von Meumann anvisierte pädagogische Nachhilfe soll durch den Mechanismus gesteuert werden, den er als »Technik und Ökonomie der geistigen Arbeit des Schulkindes«240 bezeichnet. Das Ziel – und an dieser Stelle wendet sich sein Ansatz vom empirischen zum normativ-präskriptiven – besteht darin, festzustellen, »wie das Kind mit dem kleinsten Aufwand an Zeit und Kraft das allgemeine Ziel der möglichst großen Vervollkommnung seiner Arbeit am besten erreichen kann.«241 An dieser teleologischen Ausrichtung wird in präg237 »Meumanns Beitrag […] könnte man, zusammenfassend, als eine ›psychologische Schülerkunde‹ in pädagogischer Absicht charakterisieren.« Depaepe: Zum Wohl des Kindes, 69. Insbesondere die arbeitswissenschaftliche Ausrichtung des Meumann’schen Ansatzes ist repräsentativ für die späte Phase der Überbürdungsdiskussion. 238 Ernst Meumann: Vorlesungen zur Einführung in die Experimentelle Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen. 2 Bde. Leipzig 1907. Bd.1, 53, Hvbg. i. O. 239 Ebd., 325, m. Hvbg. 240 Ebd., Bd. II. 3. 241 Ebd.

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nanter Weise die arbeitswissenschaftliche Ausrichtung der (experimentellen) Pädagogik der Jahrhundertwende deutlich. Wie schon die Ermüdungsmessungen zeigten, ist auch hier die Grenze zwischen geistiger und physiologischer Arbeit kaum mehr auszumachen: Genauer gesagt, dürfen wir eigentlich n i c h t von einem g e i s t i g e n K r ä f t e v e rb r a u c h sprechen, sondern nur von einem Verbrauch körperlicher Kräfte, der bei der geistigen Arbeit stattfindet, indem a l l e g e i s t i g e A r b e i t z u g l e i c h k ö r p e r l i c h e i s t ; a l l e A r b e i t i s t p s y c h op hy s i s c h e A r b e i t .242

Entsprechend behandeln die Kapitel Themen wie die »geistige Arbeit« oder die »Geisteshygiene der Schularbeit«: An der Entwicklung des Kindes interessiert die experimentelle Pädagogik vor allen Dingen das genaue Verständnis seiner geistigen Kapazitäten, um diese – analog zu den technischen Optimierungsverfahren körperlicher Arbeit – ökonomisch maximal nutzbar zu machen.243 Diese Logik entkommt allerdings nicht der Tatsache, dass sich die ›Maschine Kind‹ eben nicht als generalisierbarer Algorithmus begreifen, sondern nur je individuell untersuchen lässt. Die entwicklungspsychologischen Ansätze schwanken daher stets zwischen zugestandenen Unterschieden individueller Entwicklungsverläufe und postulierten Idealmodellen. Ein Beispiel für diese Ambivalenz liefert die 1890 verfasste und vielgelesene Pädagogische Pathologie oder : Die Lehre von den Fehlern der Kinder244 des Philosophen, Pädagogen und Schülers Johann Herbarts, Ludwig Strümpell. Wenngleich Strümpell normalisierten Entwicklungsmodellen eine Absage erteilt245 und betont, wie schwierig die »Grenzbestimmung zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit«246 sei, geht sein Ansatz doch von einem Modell kindlicher Entwicklung aus, das Abweichungen als Mangel qualifiziert:

242 Ebd., 80, Hvbg. i. O. 243 Meumanns Vorlesungen machen es sich zur Aufgabe, diese allgemeine Ökonomie auf die einzelnen Schulfächer anzuwenden, »um auch in diesen festzustellen, wie die einzelnen materialen Ziele der Arbeit mit dem kleinsten Kraftaufwand am besten erreicht werden können.« Ebd., Bd. II. 3. 244 Ludwig Strümpell: Die Pädagogische Pathologie, oder : Die Lehre von den Fehlern der Kinder. Hg. von Alfred Spitzner. 4., erw. und bed. verm. Aufl., Leipzig 1910. Es handelt sich hier um das letzte Werk Strümpells, dessen Schriften eine große Bandbreite an philosophischen, pädagogischen, didaktischen und psychologischen Fragestellungen umfassen. Vgl. dazu Alfred Spitzner : »Strümpell«, in: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. Hg. von Wilhelm Rein. Bd. 9. Langensalza 1909. 13 – 24. 245 Vgl. Strümpell: Die Pädagogische Pathologie, 63; außerdem Ludwig Strümpell: Die Psychologische Pädagogik, oder: Die Lehre von der geistigen Entwickelung des Kindes, bezogen auf die Zwecke und Ziele der Erziehung. Hg. von Alfred Spitzner. 2. Aufl., Leipzig 1909. 161. 246 Strümpell: Die Pädagogische Pathologie, 7.

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Die pädagogische Pathologie ist die Lehre von allen denjenigen Zuständen und Vorgängen, welche sich erfahrungsmäßig während der Entwickelung des geistigen Lebens im Kindheitsalter den Anforderungen der erstrebten Jugendbildung gegenüber als ungenügend, bedenklich oder schädlich, überhaupt als der Besserung bedürftig darstellen. Solche Tatsachen sind, kurz gesagt, Störungen der Bildsamkeit des Kindes. Wir nennen sie pädagogische Fehler.247

Erneut kommt also Verunsicherung zum Ausdruck, was den Geltungsbereich von Normen einerseits und ihre Abgrenzung von devianten Erscheinungen andererseits betrifft.248 Besondere Evidenz entfaltet die Diagnose von Fehlern und Abweichungen am Beispiel des Vermögens der Aufmerksamkeit. Die Häufigkeit, mit der sie in den Schriften erwähnt wird, lässt die Aufmerksamkeit zu der geistigen Fähigkeit schlechthin werden, die im Laufe der kindlichen Entwicklung trainiert werden muss. Insofern ist die Aufmerksamkeitspsychologie ein wichtiger Kristallisationspunkt nicht nur der Pädagogik und der Entwicklungspsychologie, sondern der Wissenschaftskultur der Jahrhundertwende überhaupt: »Im späten neunzehnten Jahrhundert wird in den Humanwissenschaften und insbesondere in der entstehenden wissenschaftlichen Psychologie das Problem der Aufmerksamkeit zu einem Grundanliegen.«249 Die theoretischen Entwürfe von Dieterich Tiedemann, Gustav Fechner oder Th¦odule Ribot stehen dabei in der Tradition der voluntaristischen Konzeption der Aufmerksamkeit.250 Als exemplarisch kann hier der französische Philosoph und Psychologe Ribot gelten. 1888 erschien in Frankreich seine Psychologie de l’attention, die zwanzig Jahre später auch in der deutschen Übersetzung verfügbar war.251 Ribot konzipiert, wie schon Hermann von Helmholtz, die Aufmerk247 Ebd., 26 f. 248 Jürgen Link hat am Beispiel Emil Durkheims darauf hingewiesen, dass sich in der Zeit um 1900 ein relationaler Begriff von Normalität ausbildet: An Durkheims Konzeption von Kriminalität als normal unter bestimmten historischen Bedingungen macht er »erstmals ansatzweise eine differenzierte Problematik von Normalität als spezifisch soziokultureller und insbesondere auch historisch spezifischer, d. h. moderner, Gegebenheiten« fest. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1997. 260. Dieser relationale Normalitätsbegriff scheint sich auch auf die zeitgenössische Pädagogik und Entwicklungspsychologie übertragen zu lassen. 249 Jonathan Crary : Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Übers. von Heinz Jatho. Frankfurt am Main 2002. 23. Crary zufolge häufen sich in den 1870er Jahren Forschungsarbeiten zu diesem Thema, mit Schauplätzen vor allem in Deutschland, Frankreich, England und den USA. Zur wissenschaftsgeschichtlich-philosophischen Entwicklung vgl. Odmar Neumann, »Aufmerksamkeit«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. 1. Darmstadt 1971. Sp. 635 – 45 und Michael Hagner: »Aufmerksamkeit als Ausnahmezustand«, in: Norbert Haas, Rainer Nägele, Hans-Jörg Rheinberger (Hg.): Aufmerksamkeit. Eggingen 1998 (Liechtensteiner Exkurse, Bd. 3), 273 – 94. 250 Vgl. Neumann, Aufmerksamkeit, 637 f. 251 Th¦odule Ribot: Die Psychologie der Aufmerksamkeit. Autoris. deutsche Ausgabe nach der 9. Aufl., Übers. von Dr. Dietze. Leipzig 1908.

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samkeit als einen Ausnahmezustand: »Es bedeutet, dass die Aufmerksamkeit ein nicht andauernder anormaler Zustand ist, der eine schnelle Erschöpfung des Organismus erzeugt; denn am Ende der Anstrengung tritt Ermüdung ein; am Ende dieser aber die functionelle Untätigkeit.«252 Der ›normale‹ mentale Zustand wird als einer der gedanklichen Diffusion aufgefasst. Um aufmerksam zu sein, ist nach zeitgenössischen Auffassung daher ein quasi-motorischer Mechanismus nötig, der im Bereich der Wahrnehmung Hemmungsleistungen erbringt, wie Ingo Stöckmann für die eng mit dem Aufmerksamkeitsdiskurs verbundene Willensschwäche dargelegt hat: Willensschwäche ist vornehmlich eine Schwäche von Inhibitionsfunktionen, d. h. von sensomotorischen und perzeptiven Unterdrückungsleistungen, die es gestatten, in einem ›offenen‹, sich zunächst diffus darbietenden Wahrnehmungsfeld einzelne perzeptive Gehalte hervorzuheben und andere der Aufmerksamkeit zu entziehen. […] Diese Verbindung von Aufmerksamkeitssteuerung, Inhibitionsleistung und Wille ruht auf einem Modell des menschlichen Bewusstseins, das […] der Struktur visueller Wahrnehmung nachgebildet ist. […] Wille und Aufmerksamkeit bilden daher Momente einer aktiven Organisation der wahrgenommenen Welt, die so lange diskontinuierlich bleibt, wie das Bewusstsein nicht über Mechanismen verfügt, die in die Vielzahl optischer und akustischer Attraktionen eingreifen und die Zahl ihrer Gehalte isolieren.253

Man hat es weniger mit einem Modell des Bewusstseins zu tun, »als mit einem ideo-motorischen Netzwerk von Kräften«254, wenn Ribot schreibt, Aufmerksamkeit wirke »stets auf Muskel und durch Muskel und zwar hauptsächlich in Form eines Stillstands. Man würde daher als Ueberschrift dieser Studie den Maudsleyschen Satz wählen können: ›Derjenige ist unfähig, seine Muskeln zu beherrschen, der keiner Aufmerksamkeit fähig ist.‹«255 Deutlich kommt hier die physiologische Konzeption kognitiver Leistungen zum Ausdruck. Der innere Mechanismus der Aufmerksamkeit funktioniert in Form eines (an Wundt geschulten) Konzepts der Nervenreizung, das sich aus Bewegung und Stillstand zusammensetzt.256 Damit besteht ein Großteil der Konzentrationsleistung »in der negativen Arbeitsleistung, durch welche die Leistungen aus dem Bewusst252 Ebd., 90, m. Hvbg. 253 Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 – 1900. Berlin 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 52), 357 f. 254 Crary : Aufmerksamkeit, 41, Hvbg. i. O. 255 Ribot: Die Psychologie der Aufmerksamkeit, 5. 256 »[…], dass die Aufmerksamkeit ein Stillstand ist, welcher nur erzeugt werden kann durch einen physiologischen Mechanismus, der die Abgabe von wirklichen Bewegungen in der sinnlichen Aufmerksamkeit, Bewegungen im Entstehungszustande in der Reflexion verhindert […].« Ebd., 76.

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sein vertrieben oder auf ihre geringste Stärke zurückgeführt werden.«257 Diese Konzeption der Aufmerksamkeit als Hemmung erklärt das Anstrengungsgefühl, das sich mit der Aufmerksamkeit einstellt. Ribot zitiert hier den – in Fragen der Aufmerksamkeit einschlägigen – deutschen Physiker Gustav Theodor Fechner, der sein subjektives Empfinden der Aufmerksamkeit folgendermaßen schildert: Ich verspüre eine Empfindung von sehr markanter Spannung und eine Zusammenziehung der Kopfhaut sowie einen Druck von aussen nach innen über den ganzen Schädel, der entschieden durch eine Muskelcontraction der Kopfhaut verursacht worden ist, was sich vollständig mit den Ausdrücken deckt: sich den Kopf zerbrechen, den Kopf zusammennehmen.258

Abschließend macht Ribot die Beanspruchung, die die Leistung der Aufmerksamkeit für den gesamten Organismus bedeutet, in einer arbeitswissenschaftlichen Analogie deutlich: Der normale Zustand des Bewusstseins setzt die Ausbreitung mit verstreuender Hirnarbeit voraus. Die A. aber setzt die Konzentration mit lokalisierter Gehirnarbeit voraus. Wenn das Gehirn vom normalen Zustande zum Zustande starker A. übergeht, so ist das ähnlich dem, was geschieht, wenn wir, anstatt eine Last auf unseren Schultern zu tragen, sie nur mit einem Finger halten sollen. Diese Arbeit […] kann nur von der schnellen Umwandlung zeitweiliger, möglicher Kraft oder dem Bestand an wirklicher Energie herrühren.259

Die Regulation der Aufmerksamkeit funktioniert also wesentlich über Mechanismen der Hemmung und impliziert insofern die Fähigkeit zur willentlichen Kontrolle des eigenen Geistes und Körpers. Nichts Geringeres ist auch das Anliegen von pädagogischen Schriften, die die Aufmerksamkeit als lernbares Vermögen behandeln.260 Meumann widmet einen längeren Abschnitt des Kapitels »Die Entwicklung der einzelnen geistigen Fähigkeiten beim Kinde« der Aufmerksamkeit, deren Regulierung er als eine wichtige Komponente der »inneren Bedingungen des Lernens«261 versteht. Die Menge der Energie, die in eine Lernaufgabe investiert wird, lässt sich allerdings im Sinne der experimentellen Pädagogik steuern. Dazu trägt unter anderem das Instrument der Übung bei, durch die der Prozess des Lernens 257 Ebd., 79. 258 Ebd., 84. Die Lokalisation von Anstrengungsgefühlen in der Kopfgegend ist auch insofern aufschlussreich, als, wie im Kapitel II.1 erwähnt, in der Überbürdungsdiskussion die Krankheitserscheinung des sogenannten »Schulkopfschmerzes« eine wichtige Rolle spielt. 259 Ebd., 151. 260 Zur Bedeutung der Aufmerksamkeit in der Pädagogik bereits vor 1900 vgl. Andreas von Prondczynsky : »›Zerstreutheit s. Aufmerksamkeit‹. Historische Rekonstruktion eines spannungsvollen Verhältnisses«, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 13 (2007), 115 – 35. 261 Meumann: Vorlesungen, Bd. II. 31.

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habitualisiert und nachhaltig wird.262 Vor einem wissenschaftlichen Horizont jedoch, der – wie bei Ribot – Aufmerksamkeitsdefizite zur Norm erhebt, sind Erfolg und Nachhaltigkeit des Einübens eines aufmerksamen Habitus alles andere als gewährleistet. In den erziehungswissenschaftlichen Schriften wird demgegenüber vielmehr das Schreckgespenst der Distraktion beschworen. Ludwig Strümpell etwa, um nur ein Beispiel anzuführen, nennt in seinem Inventarium pädagogischer ›Fehler‹ auffällig viele, die ihren Ursprung in einer pathologischen Störung der Aufmerksamkeit haben. Darunter fallen beispielsweise die Lemmata »unaufmerksam«263 oder »Zerstreutheit«264, und auch an anderer Stelle formuliert er Fehler häufig mit Rückbezug auf die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit.265 Diese Beobachtung steht in einem größeren Kontext: Die Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts beobachtet eine allgemeine Tendenz zur »Auflösung der perzeptiven Syntheseleistung«266, die sie insbesondere bei Intellektuellen – etwa »Studierenden und geistigen Arbeitern«267 – ausmacht. Es ist insofern naheliegend, diese Diagnose des von einer Masse an Schrifttum überwältigten Wahrnehmungsapparates auch und insbesondere auf den Schüler als ›geistigen Arbeiter‹ zu übertragen. Am Beispiel der kognitiven Bewältigung von Texten kommt zugleich eine semiotische Komponente der Debatte über die Zerstreuung zum Ausdruck, auf die Ingo Stöckmann am Beispiel eines einschlägigen Willensratgebers hingewiesen hat: Entscheidend aber ist die innere Verwandtschaft, die Payot zufolge zwischen den gewachsenen Textmassen, den Zirkulationen ihrer Zeichen und der zerstreuten Rezeption einerseits und dem mentalen Effekt – der »Zersplitterung« – andererseits besteht. Offenbar handelt es sich um Formen einer Kongruenz, die auf abstraktestem Niveau ›dezentrierende‹ Analogien zwischen Zeichen- und Assoziationsprozessen stiftet.268

Dieser Befund der semiotischen Dissoziation werden die literarischen Analysen im zweiten Teil dieses Kapitels noch genauer entwickeln. Davor soll jedoch die Verbindung des Aufmerksamkeits- mit dem Willensdiskurs genauer betrachtet werden.

262 263 264 265

Vgl. dazu ebd., 53 und die in Kapitel II.1 geschilderte Studie von Theodor Altschul. Strümpell: Die Pädagogische Pathologie, 192. Ebd., 212 f. »Zu rascher Ablauf der Vorstellungen und springende Übergänge desselben [sic!] aufeinander […] – […] Ausbleiben jeder Konzentration des Vorstellens […] – […] Unschlüssigkeit, Umherschwanken motivloser Vorstellungen schon während der Entstehung eines Wollens […].« Ebd., 133 f. 266 Stöckmann: Der Wille zum Willen, 360. 267 Jules Payot: Die Erziehung des Willens durch Selbstbemeisterung. Übers. von Titus Voelkel. 6. Aufl., revidiert nach der 41. Aufl.,der französischen Ausgabe. Leipzig 1907. 24. 268 Stöckmann: Der Wille zum Willen, 360.

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Erziehung des Willens in Paul Natorps Sozialpädagogik Wie angedeutet, konzipiert die zeitgenössische Assoziationspsychologie die Aufmerksamkeit als abhängig von Willensleistungen, die wiederum – als Formen der ›Arbeitsleistung‹ – anfällig für Ermüdung und Erschöpfung sind.269 Wenn Aufmerksamkeit und Wille also derart unter arbeitswissenschaftlichen Gesichtspunkten verhandelt werden, stehen damit immer auch Fragen der ökonomischen Kapazitäten der Gesellschaft zur Diskussion. Es überrascht daher nicht, dass die Maxime der Willenserziehung auf der Schulkonferenz von 1890 von höchster Instanz ausgerufen wird: Eines der Ziele Wilhelms II. ist es, den Schülern »durch eine auf dem Grunde des Christenthumes und des deutschen Volksgeistes beruhende Erziehung eine dauernde Richtung des Willens und des Charakters zu geben.«270 Eine Willenstheorie, die sich an der Schnittstelle von Pädagogik, Soziologie und Philosophie bewegt und damit auf die Verbindung zwischen dem pädagogischen System und seiner Umwelt verweist, ist die 1899 erschienene Sozialpädagogik des Marburger Philosophen und Pädagogen Paul Natorp mit dem Untertitel Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft.271 Der Begriff der Sozialpädagogik ist hier allerdings nicht im gegenwärtigen Sinn – als sozialstaatlich motivierte Erziehungsarbeit – zu verstehen. Natorp geht es, viel grundlegender, um eine sozialtheoretische Neudefinition von Erziehung, wenn er Kants Diktum von der Menschwerdung des Menschen durch Erziehung umdefiniert: »Der Mensch wird zum Menschen allein durch menschliche Gemeinschaft.« (SP, 84). Im Gegensatz zu anderen pädagogischen Schriften, die den Willen zwar häufig, aber eher en passant thematisieren, behandelt Natorps Theorie ihn systematisch und wird deshalb als exemplarische Theorie behandelt, weil sie verschiedene Ansätze synthetisiert. Seiner Schrift liegt der Gedanke der Interdependenz von Erziehung und Gemeinschaft zugrunde: Die vorliegende Schrift versucht auf eine der am meisten zentralen Fragen unsrer Zeit begründete Antwort zu geben, indem sie die We c h s e l b e z i e hu n g e n z w i s c h e n E r z i e hu n g u n d G e m e i n s c h a f t sich zum Problem macht. Sie betrachtet die Erziehung, deren Kern sie in der Erziehung des Willens sieht, als bedingt durch das Leben der Gemeinschaft und wiederum bedingend für dessen Gestaltung. Dadurch fällt eine 269 Zum Zusammenhang von Wille und Aufmerksamkeit und deren thermodynamischen Hintergrundannahmen vgl. ebd., 346 – 66. 270 Anonym: Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890. 9. 271 Paul Natorp: Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft. 4. Aufl., Stuttgart 1909. Im Folgenden Siglenangaben. Natorp gilt als einer der Begründer des Marburger Neukantianismus. Seine Erziehungs- und Gesellschaftstheorie baut maßgeblich auf Kant und Pestalozzi auf und grenzt sich von der (für das 19. Jahrhundert einschlägigen) Erziehungsphilosophie Johann Friedrich Herbarts ab.

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vielfach neue Beleuchtung gleichzeitig auf die Tatsachen der Erziehung im weitesten Sinne und auf die Tatsachen des sozialen Lebens, das unter diesem Gesichtspunkt als e i n großer Organismus zur Menschenbildung sich darstellt. (SP, Vorwort, V, Hvgb. i. O.)

Was an dieser Stelle interessiert, ist der zentrale Stellenwert, den Natorps Theorie dem Willen – als »erste[m] Grundbegriff der Pädagogik« (SP, 5) beimisst. Natorp konzipiert drei »Stufen der Aktivität« (SP, 54): den Trieb, den »Willen im engern Sinn« (SP, 67 f.) und den »Vernunftwillen« (SP, 74 f.). Die zweite Stufe unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass dem Willen eine eigene Energie zukommt. Diese stamme aus der ko n z e n t r a t i v e n T ä t i g ke i t , welche die ganze Eigenheit des Willens dem Triebe gegenüber ausmacht, und aus der allein das Unterscheidende des Willens: die S e t z u n g e i n e r R e g e l und Unterwerfung der jeweils vorhandenen Triebe unter diese, begreiflich wird. Physiologisch müsste sich dies repräsentieren lassen durch eine bestimmte Arbeitsleistung sehr zentralen Charakters, die eben kraft ihrer unmittelbaren Verbindung mit dem Herde der psychischen Prozesse begreiflich ein mächtiges Gewicht der einzelnen mehr peripherischen Strebung entgegenzuwerfen hat. (SP, 69, Hvbg. i. O.)

Hier kommt erneut die bekannte Semantik der Hemmung zum Ausdruck, welche Aufmerksamkeits- und Willensleistungen verbindet. Der Vernunftwille schließlich stellt insofern den Willen in Reinform dar, als Natorp ihn als eine selbstreferentielle Figur konzipiert: »Wie Wille ko n z e nt r i e r t e r Trieb, so ist Vernunftwille höchste Kon z e nt r at i o n des praktischen Vermögens überhaupt […]. Es ist die S e l b s t e r h a lt u n g d e s S t re b e n s , die darin […] uns bewußt wird.« (SP, 77, Hvbg. i. O.) Für die Erziehung stellt sich nun die Frage, wie der Vernunftwille zu erreichen sei. Denn, wie Natorp zu bedenken gibt: »Vergebens würde man vom Schwächling fordern, daß er ›sich konzentriere‹ oder […] ›sich zusammennehme‹. Genau das ist ja seine Schwäche, daß er das nicht kann.« (ebd.) Die Lösung besteht in der Konzeption einer Analogie zwischen der beschriebenen »Willenswelt« und der empirischen »Objektwelt« (SP, 77 f.). Trieb, Wille und Vernunftwille entsprechen dabei drei Stufen der Vorstellung, die sich erst »im Wechselverhältnis von Bewußtsein und Bewußtsein« (SP, 83), also in der Gemeinschaft, entwickeln. Dabei macht Natorp drei »soziale Organisationen der Willenserziehung« (SP, 217) aus: das Haus, die Schule und die freie Selbsterziehung. Während die Erziehung innerhalb der Familie noch als »organisch« (SP, 223) konzipiert wird – dies erinnert an die Ausführungen zum Verhältnis von Schule und Familie in der zeitgenössischen Soziologie –, charakterisiert die Schulerziehung, »daß sie in ausgeprägtester Weise O r g a n i s at i on und zwar ausschließlich dem Erziehungswerk dienende Organisation ist. So entspricht es

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der Natur der Erziehungsstufe, deren Zentrum in der Wi l l e n s r e g e lu n g als solcher liegt.« (SP, 227) Damit ist die eigentlich neuartige Verbindung markiert, die Natorp zieht, wenn er die Schule weniger als an Wissensinhalten orientierte Bildungsinstitution begreift, denn als Anstalt zur Schulung des Willens. Die curricularen Gegenstände werden so zum Instrument der Willensbildung. Diese bestehe insbesondere in der gedanklichen Konzentration, welche die Schule durch den Unterricht fördert: »Der Unterricht lehrt nicht bloß richtig denken, er lehrt richtig denken w o l l e n ; er lehrt es, indem er in der Kraft des logischen Bewußtseins selbst, der G e d a n ke n ko n z e nt r at i on , die Kraft zu wollen […] in Tätigkeit setzt und dadurch entwickelt.« (SP, 232, Hvbg. i. O.) Die freie Selbsterziehung schließlich entspricht der Form des Vernunftwillens, weil sie nicht mehr auf eine regulierende Institution angewiesen ist, sondern im »Gemeinleben der Erwachsenen« (SP, 288) stattfindet. Sozialpädagogik besteht demnach in der »Wirkung der Gemeinschaft […] auf den Willen. Man lernt Wollen, indem man die Erfahrung macht vom Wollen des Andern.« (SP, 92) Damit ist sie keineswegs Teil einer Erziehungslehre, sondern vielmehr die ko n k r e t e Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt und besonders der Pädagogik des Willens. […] Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grundsätzliche Anerkennung, daß ebenso die Erziehung des Individuums in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei, wie andrerseits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens fundamental bedingt ist durch eine ihm gemäße Erziehung der Individuen, die an ihm teilnehmen sollen. (SP, 94, Hvbg. i. O.)

Natorp formuliert anhand dieser Engführung von Sozialleben und Pädagogik so deutlich wie kein zweiter die gesellschaftliche Verbindlichkeit, an der sich die Pädagogik – die seiner Auffassung nach immer und allererst Pädagogik des Willens ist – messen lassen muss. Seine Theorie macht die Institution Schule zum Agens eines kollektiven Willenstrainings. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich gegenüber Appellen an die Ausbildung des Willens und Schulung der Aufmerksamkeit innerhalb der Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende, insbesondere in der Reformpädagogik, eine breite Gegenbewegung herausbildet. Weil eine detaillierte Untersuchung der unter diesem Sammelbegriff vereinten heterogenen Strömungen den Rahmen der Untersuchung sprengen würde, soll an dieser Stelle allein auf ein diesen Strömungen gemeinsames Argumentationsmuster hingewiesen werden. Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers macht für die Zeit um 1900 eine konzeptionelle Trennung von Erziehung und Entwicklung aus, die er auf den Verlust transzendenter Referenzkategorien zurückführt: »Die Pädagogik kann nicht länger die Natur des Kindes betrachten als entwickle sie sich nach

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Überbürdungsgeschichten

Maßgabe einer transparenten Teleologie, die der Erziehung sagt, was sie zu tun hat.«272 Reformpädagogische Entwicklungskonzepte umgehen dieses Problem insofern, als sie den Gedanken einer vermeintlich transparenten Entwicklung grundsätzlich verwerfen und dagegen Modelle profilieren, die sich einer ebenso vermeintlich empirischen Beobachtung entziehen: Im Kontext reformpädagogischer Aussagen wird »Entwicklung« auf die Natur des Kindes bezogen, die nicht radikal verzeitlicht werden kann oder soll. Wenn sich »das Kind« entwickelt, dann immer gemäß seinen Anlagen und Potentialen, die weit mehr mit dem kindlichen »Wesen« oder der psychischen Eigentümlichkeit als mit Effekten biologischer Selektion verbunden werden.273

Wenn allein die Kinder selbst verlässliche Interpreten ihrer Natur sein können, bleibt Erzieherfiguren nur noch die Intuition, das »kunstvolle Ahnen und Handeln« in Bezug auf »innere Kräfte des Kindes, die gelöst, gepflegt und entwickelt werden wollen«274. Dieses Modell lässt sich in einer Vielzahl reformpädagogischer Programme nachweisen. Einschlägig formuliert etwa Ellen Key in ihrer Programmschrift Das Jahrhundert des Kindes (1900) das Postulat der Pädagogik als Anti-Pädagogik: »Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur sehen, dass die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen, das ist Erziehung.«275 Auch Maria Montessoris Konzeption eines natürlichen Bauplans oder das Schlagwort der »natürliche[n] Erziehung«276 beinhalten die Vorstellung des gleichsam autopoietisch sich entfaltenden kindlichen Organismus. Damit stehen die reformpädagogischen Denkmodelle in deutlicher Diskrepanz zu denen der experimentellen Pädagogik und der Psychologie, welche mit dem Fokus auf die Vermögen der Aufmerksamkeit und des Willens individuelle und bestimmten Entwicklungsabschnitten zurechenbare Kompetenzen einfordern. 272 Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 3., vollst. bearb. und erw. Aufl., Weinheim 1996. 76. In einer früheren Auflage seines Buches führt Oelkers überzeugend aus, dass sich die Reformpädagogik der Jahrhundertwende trotz ihres programmatischen Innovationsanspruches auf Entwicklungsvorstellungen beruft, die sich kaum von denen der romantischen Naturphilosophie und vorempirischen Psychologie unterscheiden. Vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 2. Aufl., Weinheim / München 1992. 90. Sofern nicht anders markiert, beziehen sich die folgenden Angaben jedoch auf die 3. Auflage des Buches. 273 Oelkers: Reformpädagogik, 111, Hvbg. i. O. 274 Ebd., 104. 275 Ellen Key : Das Jahrhundert des Kindes. Hg. mit einem Nachw. von Ulrich Herrmann; autoris. Übers. von Francis Marco. Berlin 1902. ND Weinheim / Basel 1992 (Pädagogische Bibliothek Beltz, Bd. 7) 58. 276 Natürliche Entwicklung wird hier verstanden im Sinne einer »Formel, die […] weitgehend unabhängig von einer Anthropologie des Kindes als ›ganzheitliches Prinzip‹ einer neuen Pädagogik verwendet wurde.« Oelkers: Reformpädagogik, 211.

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b.

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Diffuse Gedanken, unterbrochene Genealogien: Gescheiterte Erziehung bei Marie von Ebner-Eschenbach, Thomas Mann und Emil Strauß

Es sind diese beiden zuletzt beschriebenen pädagogischen Haltungen, die in der frühen Schulprosa konfliktreich aufeinander treffen. Dabei soll im Folgenden jedoch nicht der in der Forschung zur Schulliteratur inzwischen topische Dualismus des schlechten, weil autoritären Erziehers einerseits und dem bedauernswerten Kind andererseits im Mittelpunkt stehen. Denn die Beobachtung und Rekonstruktion dieses Dualismus aus einer unterstellten Figurenpsyche heraus fügen den Texten selbst wenig hinzu, stellen sie doch diesen Kontrast selbst bereits überdeutlich aus. Im Gegensatz dazu sollen die Analysen vielmehr verdeutlichen, dass die Schüler weniger an der Menge des Lernstoffes scheitern, als vielmehr an der Ausbildung eines strapazierbaren Willens. Übersehen wurde dabei bislang erstens, dass diesem Scheitern der Prozess einer ›semiotischen Verdunkelung‹ entspricht: Die Texte beschreiben die misslingende Fähigkeit zur kognitiven Sammlung durch Szenarien zerstreuter Rezeption. Zweitens können die Schulerzählungen nicht getrennt von auf genealogische Aspekte bezogenen Erzählsträngen betrachtet werden. Es wird zu zeigen sein, dass und wie sich die Instanz des Vaters durch die Institution der Schule zu restituieren versucht. Ökonomien des Vermögens: Marie von Ebner-Eschenbachs ›Vorzugsschüler‹ (1893) Die Erzählung Der Vorzugsschüler der österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach entstand 1893, als sie bereits ihren Roman Das Gemeindekind veröffentlicht hatte. Den Vorzugsschüler hat die Forschung allerdings weitgehend ignoriert, ihm widmet sich jedenfalls keine eigenständige Publikation; vielmehr wird die Novelle bevorzugt als Belegstelle etwa schulliterarischer Untersuchungen zitiert.277 Der Text erzählt von den letzten Lebenswochen Georg Pfanners – einem ausgesprochen guten Schüler, der meist Bestnoten nach Hause bringt. Von seinem Vater, einem ehrgeizigen kleinen Beamten, wird er aber stets zu höheren Leistungen angehalten. Mit seiner Mutter hat Georg zwar eine Verbündete im Geiste, die sich gegen den autoritären Vater aber selbst kaum zu wehren vermag. Vom väterlichen Ehrgeiz und der schulischen Situation überfordert, ertränkt Georg sich schließlich. Die familiäre Konstellation ist zunächst durch verschiedene Substitutionsverhältnisse gekennzeichnet, die sich aus dem autoritären Erziehungsstil des Vaters ableiten. Erstens wird die Mutter bei Fehlverhalten ihres Sohnes auf 277 Vgl. etwa York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der Moderne. Stuttgart / Weimar 1995.

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dessen Position verschoben: »Wenn dem Vater schien, daß ›sein Bub‹ im Fleiß nachlasse, wurde sie zur Verantwortung gezogen.«278 Die schwache Position der Mutter in den frühen Schultexten ist topisch: Wenn sie nicht, wie hier, gleichsam zum zweiten Kind degradiert wird, ist sie kränklich (so in den Buddenbrooks) oder bereits verstorben (so in Hermann Hesses Unterm Rad). Die Degradierung der Mutter und das resultierende heimliche und nonverbale Bündnis gegen den Vater stellen in der vorliegenden Erzählung – das wäre das zweite Substitutionsverhältnis – ein latent ödipales Verhältnis zwischen ihr und dem Sohn her.279 Die Beziehung ist eine gleichsam organische, die zur Kommunikation nicht auf abstrakte Zeichen angewiesen ist: Für seine Mutter empfand er eine anbetende Liebe und war das ein und alles der freudlosen, vor der Zeit gealterten Frau. Die beiden gehörten zueinander, verstanden einander wortlos, sie hatten, ohne es sich selbst zu gestehen, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen einen Dritten geschlossen […]. (V, 515, m. Hvbg.)

Drittens schließlich hat Georg für den Vater die Funktion der Fortsetzung, ja Steigerung seiner eigenen Biographie: »Erst als ein Sohn ihm geboren wurde, gab es ein zweites Wesen, ihm ebenso wichtig wie er sich selbst. Eine Fortsetzung seines Ich, eine vervollkommnete Fortsetzung. Alles, was seinem Ehrgeiz versagt geblieben, […] sollte sein Sohn erringen.« (V, 527) Das Problem der schulischen Überforderung ist also schon in eine heikle Familiensituation eingeschrieben. In der Notwendigkeit schulischen Erfolgs manifestiert sich das Erziehungskonzept Vater Pfanners, das am Prinzip der Ökonomie, der Steigerung der materiellen Situation ausgerichtet ist: Als kleiner Beamter lebte er und würde er sterben. Aber der Sohn: das Gymnasium als Primus absolvieren, den Doktorhut summa cum laude erwerben, schon in den ersten Anfängen der Laufbahn von der Glorie reichster Verheißungen umstrahlt, steigen von Erfolg zu Erfolg, von Ehren zu Ehren – das sollte der Sohn. (Ebd.)

Am Beispiel dieser erträumten Erfolgsgeschichte gibt sich der Text auch als eine Manifestation in einer Reihe von Männlichkeitserzählungen zu erkennen, die Walter Erhart untersucht hat. Erharts Studie zufolge präsentiert sich Männlichkeit seit dem späten 19. Jahrhundert als »ein Text, der […] private Familiengeschichte und männliche Öffentlichkeit miteinander verbindet und damit genau jene Geschichte der Moderne erzählt, die oberflächlich besehen in zwei 278 Marie von Ebner-Eschenbach: Der Vorzugsschüler, in: Dies.: Das Gemeindekind. Novellen. Aphorismen. Hg. und mit einem Nachwort von Johannes Klein. München 1956. 514 – 54, hier 515. Im Folgenden Siglenangaben. 279 »Ich muß dich liebhaben und küssen, dein liebes Gesicht, deine lieben Hände.« (V, 531) – »Gepeinigt sah Georg zu ihr hinüber und warf ihr hinter dem Rücken des Vaters Küsse zu.« (V, 542)

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getrennte und unvereinbare Bereiche auseinanderfällt.«280 Diese narrative Struktur ist dabei in erster Linie durch eine »Form des Erzählens« charakterisiert, »die das vermeintlich statische Modell von Familie in eine Abfolge männlicher Transaktionen verwandelt.«281 Die Zuverlässigkeit eben dieser Transaktionen und damit die Stabilität der Kategorie der Männlichkeit wird aber, wie Erhart ausführt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts prekär. Das führen sozialgeschichtliche Untersuchungen nicht zuletzt auf die Tatsache zurück, dass »Staat und Gesellschaft schrittweise die Funktion der alten Familie […] übernehmen und das väterliche ›Oberhaupt‹ überflüssig werden lassen.«282 Vor diesem Hintergrund wird der Erziehungsplan Pfanners als der Versuch einer genealogischen Überbietung lesbar, die aber nicht vollständig seiner Kontrolle unterliegt: Die Instanz der Schule wird nachgerade zum Prüfstein des Gelingens seiner am ökonomischen Prinzip orientierten Erziehung. Diese beinhaltet den Verzicht auf Spielzeug und Vergnügungen sowie eine karge Ernährung. Die Vorsorge für die »Zukunft« (V, 516, 527, 531, 538) seines Sohnes lässt dessen Wohlbefinden in der Gegenwart zweitrangig erscheinen. Insbesondere das Geld – in der Familie des Beamten chronisch knapp – muss aufgespart werden; der Vater trägt Heller für Heller auf das Sparkassenbuch: »Sein Georg an der Spitze eines, wenn auch kleinen Vermögens – er liebte ihn mehr, wenn er daran dachte.« (V, 519) Dieser asketische Lebensstil führt dazu, dass der Vater nicht nur sozial isoliert, sondern auch überarbeitet ist (vgl. V, 516). Eben diesen Leistungswillen verlangt er seinem Sohn ab. Georg muss um jeden Preis Vorzugsschüler bleiben und mit seinem geistigen Vermögen beweisen, dass die Hoffnungen des Vaters auf eine Steigerung des materiellen Vermögens berechtigt sind. Eine metaphorische Lektüre des Vermögensbegriffs legt nicht nur der Text selbst nahe; auch die pädagogische Theoriebildung verwendet solche dem System der Ökonomie entlehnte Metaphern. Der Erziehungswissenschaftler Johannes Bellmann hat gezeigt, dass mit dem von Michel Foucault beobachteten Übergang von der vormodernen Disziplinar- zur modernen Biomacht in der 280 Erhart: Familienmänner. Über den Ursprung moderner Männlichkeit. München 2001. 53. 281 Ebd., 56 f. 282 Erhart: Familienmänner, 85. Vgl. dazu auch Herrmann: »Elternhaus und Schule – Kooperation und Opposition. Zum Wechselverhältnis beider Sozialisationsinstanzen im 19. Jahrhundert«, in: Jutta Ecarius, Carola Groppe, Hans Malmede (Hg.): Familie und öffentliche Erziehung. Theoretische Konzeptionen, historische und aktuelle Analysen. Wiesbaden 2009. 139 – 58, und Dieter Lenzen: Vaterschaft. Vom Patriarchat zur Alimentation. Reinbek bei Hamburg 1991, 153 f. Dass der Vater bereits im 18. Jahrhundert in Fragen des häuslichen Unterrichts entmächtigt wurde, darauf haben jüngst Heinrich Bosse und Ursula Renner hingewiesen: Heinrich Bosse, Ursula Renner : »Generationsdifferenz im Erziehungsdrama. J.M.R. Lenzens ›Hofmeister‹ (1774) und Frank Wedekinds ›Frühlings Erwachen‹ (1891)«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011), 47 – 84, hier 56 f.

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Pädagogik ein Wechsel von der Orientierung an einer Bedarfsdeckungs- zu der Orientierung an einer Überschussökonomie einhergeht: Moderne Pädagogik erzeugt gewissermaßen Überschüsse an Handlungsmöglichkeiten und damit eine Offenheit zur Erfüllung verschiedener, nicht antizipierbarer gesellschaftlicher Funktionen. […] in individuellen Bildungsprozessen soll nicht nur der Stand des in der älteren Generation schon Realisierten angeeignet, es sollen zugleich neue prospektive Möglichkeiten erarbeitet werden, durch die scheinbar unverrückbare Begrenzungen der Gegenwart immer wieder verschoben werden.283

Einen solchen ökonomischen Subtext unterlegt also auch Marie von EbnerEschenbach ihrer Schulerzählung. Bleibt die von Georg erwartete Leistung aus, unterstellt der Vater schlechte Gewohnheiten: »Einem Kind, das Talent hat, wird nichts schwer. Faul bist!« (V, 517) Georg dagegen kennt die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit: »›Ich lern den ganzen Tag‹, sagte Georg, ›Ich kann nicht mehr lernen, als ich lern, ich weiß nicht, was ich anfangen soll, damit du zufrieden bist.‹« (V, 545 f.) Es ist bezeichnend, dass das transitive Verb »lernen« hier intransitiv verwendet wird. Gleiches gilt für das Verb »wissen«, wenn Georg seinem Mitschüler Pepi Obernberger neidvoll gesteht: »Du weißt immer […]. Hast heute wieder sehr gut gewusst. Ich wäre froh, wenn ich immer so gut wüsste wie du.« (V, 528) Die syntaktische Struktur stellt den Akt des Lernens als einen tautologischen, rein formalen aus, dem jegliche inhaltliche Bedeutsamkeit fehlt. Geistiges Vermögen, so kann man diese Überlegung paraphrasieren, lässt sich im Gegensatz zum finanziellen nicht akkumulieren. Der Druck, den der Vater auf Georg ausübt, verschärft sich noch durch ein anderes Konkurrenzverhältnis. Nicht nur seinen Vater, auch den Mitschüler Pepi Obernberger soll Georg überbieten. Auch diese Konkurrenz erweist sich als eine stellvertretende: Pepis Vater, ein Kunstschlosser, hat sich einen Ruf erarbeitet, um den Pfanner ihn beneidet. Pfanners größte Sorge ist es, dass dessen Sohn erfolgreicher sein könnte als sein eigener. Während Georg sich jedoch für seinen schulischen Erfolg über die Maßen strapaziert, scheint Pepi alles in den Schoß zu fallen, und er legt ausgerechnet in dem Moment, als Georg eine letzte Kraftanstrengung unternimmt, eine »Anwandlung des Fleißes« (V, 539) an den Tag. Als Georg ihn nach dem Rezept seines mühelosen Fortschritts fragt, bekennt er leichthin: »Alles geht und wird, wie ich’s haben will – grad so! […] Das kannst Du nicht begreifen. […] Weil du nur ein Büffler bist, kannst Du’s nicht begreifen. Du möchtest nur; ich kann, was ich mag.« (V, 540) Georg wird die Differenz zum Gleichaltrigen schmerzlich bewusst:

283 Johannes Bellmann: Knappheit als Bildungsproblem. Die Konstruktion des Ökonomischen im Diskurs Allgemeiner Pädagogik. Weinheim 2001 (Bibliothek für Bildungsforschung, Bd. 20), 243 f.

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Ihm war, als ob der Boden sich aufrisse und zwischen ihm und dem gottbegnadeten Kameraden ein unüberbrückbarer Abgrund gähnte. Drüben, mitten in fruchtbaren Gefilden, in denen alles grünte und blühte, stand Pepi, und wohin sein Fuß trat, entsprang ein Quell, und was seine Hand berührte, wurde zur herrlichen Frucht. Und er hüben, auf kargem, steinigen Boden, der widerstrebend nur und ungern sich den schattigen Zweig, den nährenden Halm entringen ließ. (Ebd.)

Georg, von Pepi wiederholt mit animalischen Zuschreibungen versehen, wird ihm gegenüber als fruchtlos strebender Dilettant dargestellt – ein Argument, das sich am Beispiel der Musik wiederholt. Obgleich seine musikalischen Fähigkeiten durchaus als Talent verhandelt werden (vgl. V, 523, 524, 531), bestehen Georgs Darbietungen tatsächlich in erster Linie aus der Reproduktion von Nachtigallgesängen auf einem »höchst primitiven Instrumentchen« (V, 524). Auch die Musik steht ihm daher nur in rudimentärer, gleichsam die Natur imitierender Form zur Verfügung. Wenn Georg also bereits im Vergleich mit dem Klassenkameraden auf die Rolle des bloßen Nachahmers festgelegt wird, ist damit ein Hinweis darauf gegeben, dass die Überbietung der väterlichen Karriere unwahrscheinlich ist. Der katastrophale Ausgang verzögert sich jedoch, als Pfanner ohne die gewohnten Drohungen mit Georg spricht und ihm seine Zukunft als »Staatsmann« (V, 538) ausmalt: Daß sein Vater mit ihm redete wie mit einem Ebenbürtigen, machte ihn unendlich stolz. Der Glaube an sich selbst […] erwachte wieder. »Ein ordentlicher Mensch sein ist viel, und der mittelmäßig Begabte mag sich damit vergnügen«, hatte der Vater unter anderem gesagt, »ein außerordentlich Begabter ist es sich selbst und den andern schuldig, ein großer Mensch zu werden. Bei ihm kommt es nur auf den Willen an, auf den unerschütterlichen Entschluß.« (Ebd., m. Hvbg.)

Die Aufforderung zur Ausbildung des Willens führt dazu, dass Georg seinen ohnehin bereits verausgabten Kopf noch weiter strapaziert. Von Beginn der Erzählung an ist deutlich, dass sein schulischer Erfolg mit großer Mühsal und körperlichen Strapazen erarbeitet ist: Sein Kopf »brannte[]« und ist »gerötet« (V, 516), während der Arbeit ergreifen ihn »zerstreuend[e] und ablenkend[e]« (V, 518, 20) Gedanken, er ist »müd und blaß« und arbeitet »mit verträumten Augen« (V, 524). Die Mutter, der er seine Lernschwierigkeiten gesteht, sorgt sich um die Ernährung ihres Sohnes, die »fortwährende[] geistige[] Anspannung« (V, 536) erkennend, zumal die Nachbarn pikanterweise zu tuscheln beginnen. »Das Lernen zehrt«, zitiert die Nachbarin ihren Mann mit einer arbeitswissenschaftlichen Analogie, »und in einen kleinen Ofen muß man öfter nachlegen als in einen großen. […] Das viele Lernen schlagt [sic!] sich sonst den Kindern auf die Nerven.« (V, 526) Das Gespräch mit dem Vater motiviert Georg, sämtliche noch verfügbaren Energien in die Schule zu investieren:

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Es kamen Tage, an denen sein Fleiß an Raserei grenzte. Sie verflossen und ließen eine schauderhafte Erschöpfung zurück. […] Ich werd noch närrisch, dachte er. In meinem Kopf ist kein Blut und kein Hirn; in meinem Kopf ist es weiß und leer. Das Lernen hat alles aufgefressen und muss jetzt auch aufhören, weil es nichts mehr zu fressen findet. […] Wie im Halbschlaf saß er bei seinen Büchern […]. (V, 539, m. Hvbg.)

Zunächst wird die Überarbeitung als entropischer Energieverlust dargestellt, der die im ersten Teil dieses Kapitels geschilderte Diffusion von Gedanken und das Unvermögen zur Konzentration nach sich zieht. Im inneren Monolog formuliert Georg dann das Bild einer Archivlöschung: Der Lernprozess hat hier den Effekt einer Tilgung derjenigen organischen Strukturen, die für die Speicherung des Schulwissens vorgesehen sind. An deren Stelle tritt eine tabula rasa. Dem Versuch des Vaters, dem Sohn die Überbietung seiner Biographie gleichsam einzuschreiben, muss spätestens an dieser Stelle das Scheitern attestiert werden. Diese Tendenz der Zerstreuung verstärkt sich in der mündlichen Prüfung noch, die kurz vor seinem Selbstmord stattfindet: »In seinem Kopfe ging es sonderbar zu. Es summte und hämmerte darin […]. Die Worte […] flossen ineinander wie Wellen… […] Georg mußte mit aller Gewalt seine Denkkraft zusammennehmen.« (V, 548 f.) Der Prozess der semiotischen Verdunkelung, der mit dem Bild der Verflüssigung der Worte beschrieben wird, entspricht dem, was Nietzsche für das Konzept der d¦cadence festgehalten hat. Als ihr Merkmal nennt er 1888 im Fall Wagner, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der d¦cadence: jedes Mal Anarchie der Atome, Disgregation des Willens […].284

Diese Beobachtung gilt auch für weitere Texte: Die Protagonisten der frühen Schulliteratur sind nicht nur durch äußere Attribute oder Charakterzüge als dekadent qualifiziert, sondern darüber hinaus durch Prozesse verselbständigter Assoziation, der auf semiotischer Ebene eine Diffusion von Zeichen entspricht. Deren Folgen reichen bis hin zu solchen kognitiven ›Löschungen‹, wie sie oben beschrieben sind. In dieser Konstellation wirkt die Schule in Ebner-Eschenbachs Erzählung in untypischer Weise als Korrektiv. Dass Georg dort positiv eingeschätzt wird, ist erst während der fatalen mündlichen Prüfung erkennbar. Der Lehrer beurteilt 284 Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. 6. Berlin / New York 1980. 9 – 54, hier 27. Walter Erhart hat darauf aufmerksam gemacht, dass Nietzsche diese Erkenntnis – in nahezu identischer Formulierung – von Paul Bourget übernommen hat. Vgl. Erhart: Familienmänner, 256.

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seine Leistung als für ihn unterdurchschnittlich und ermutigt: »Sie bekommen ›Lobenswert‹. Ich möchte Ihnen aber gern ›Vorzüglich‹ geben können und stelle deshalb noch einige Fragen.« (V, 549) Diese werden Georg jedoch zum Verhängnis und kosten ihn die so begehrte Vorzugsnote. Damit wird das Wort des Vaters: »[…] komm mir nicht noch einmal mit einer schlechten Note nach Hause!« (V, 547) zum Urteilsspruch. Georg verlässt die Klasse und geht, »wohin schon mancher unglückliche Schüler gegangen ist: in die Donau.« (V, 550) Parallel zu seinem Tod, und das gibt dem Ende eine eminent tragische Dimension, bringt sein Vater beim Direktor die Stellung seines Sohnes an der Schule in Erfahrung. Der Direktor ist irritiert über dessen Einschätzung, Georg lasse im Fleiß nach: »Ich wäre froh, […] wenn ich allen Eltern so Gutes über ihre Söhne sagen könnte wie Ihnen über Georg. Er ist bei sämtlichen Lehrern vortrefflich angeschrieben, sehr brav und durchaus nicht unbegabt. […] Ich fürchte, dass Sie zuviel von ihm verlangen, ihm eine größere Leistungsfähigkeit zutrauen, als er besitzt. Wenn Sie ihn zwingen, seine Kräfte zu überspannen, ruinieren Sie ihn.« (Ebd.)

Seine tragische Komponente erhält der Text durch diese verspätete Erkenntnis des Vaters. Es ist hier ein Repräsentant der Schule, der seinen Zögling wesentlich besser einschätzen kann als der Vater selbst und Überforderung diagnostiziert. Nach der Beerdigung Georgs als dem »Liebling des Gymnasiums« (V, 553) endet der Text in einem tableauartigen Arrangement des Elternpaares. Vater Pfanner sitzt mit dem Sparkassenbuch seines Sohnes am Küchentisch: »Vor sich aufgeschlagen hatte Pfanner ein dünnes Büchlein – das Vermögen des Kindes, das guldenweise zusammengesparte.« (V, 553 f.) Die Erzählung verschränkt so noch einmal das Motiv des geistigen Arbeitsvermögens mit dem materiellen Vermögen. Im Gegensatz zu der vom Vater erhofften stetigen Akkumulation des finanziellen Besitzes beschreibt sie allerdings einen Auslöschungsprozess der geistigen Fähigkeiten. Die Entwicklung Georgs verläuft nicht progressiv, sondern ist im Gegenteil durch den entropischen Verlust mentaler Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Dabei muss allerdings festgehalten werden, dass es hier nicht eigentlich die Schule ist, die Georg mit Leistungen überfordert, sondern vielmehr der Ehrgeiz des Vaters, der seinem Sohn eine intellektuelle Überschussproduktion abverlangt. Wenn, wie Walter Erhart gezeigt hat, der Ort des Vaters in der Familie um 1900 ein prekärer wird, so lässt sich für EbnerEschenbachs Erzählung das Ermächtigungsbestreben eines Vaters durch sein Verhältnis zur Schule beobachten: Er versucht, seine Autorität durch die lückenlose Kontrolle der Schulerfolge zu restituieren. Dass damit aber weder seine Position wiederherzustellen und noch viel weniger die Überbietung seiner eigenen Biographie zu erreichen ist, zu diesem Befund kommt nicht nur Marie von Ebner-Eschenbachs Erzählung.

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Die »krebsgängige Imitation«: Hanno und das Schulkapitel aus Thomas Manns ›Buddenbrooks‹ (1901) »Das war eine krebsgängige Imitation, Johann. Du weißt noch nicht, was das ist … es ist die Nachahmung eines Themas von hinten nach vorn, von der letzten Note zur ersten … etwas ziemlich Schwieriges. Später wirst du erfahren, was die Nachahmung im strengen Satze bedeutet… Mit dem Krebsgang werde ich dich niemals quälen, dich nicht dazu zwingen. Man braucht ihn nicht zu können. Aber glaube nie denen, die dergleichen als Spielerei ohne musikalischen Wert bezeichnen. Du findest den Krebsgang bei den großen Komponisten aller Zeiten. Nur die Lauen und Mittelmäßigen verwerfen solche Übungen aus Hochmut. Demut ziemt sich; das merke dir, Johann.«285

Diese frühe musikalische Lektion lernt Hanno von seinem Klavierlehrer Pfühl. Im Folgenden soll die Entwicklung Hanno Buddenbrooks, auch und insbesondere was die Phase der schulischen Sozialisation betrifft, im Hinblick auf diese Figur untersucht, die »krebsgängige Imitation« mithin als Lektürehinweis begriffen werden. Wenn sich der Erzähler im zweiten Kapitel des elften Buches der Figur Hannos zuwendet, ist die Geschichte des Verfalls einer Kaufmannsfamilie über vier Generationen und vierzig Jahre hinweg schon fast an ihr Ende gelangt. Hanno ist bekanntlich der letzte männliche Sprössling der Familie, deren wirtschaftlicher Erfolg und Vitalität immer weiter abnimmt. Die Forschung zu dem Roman lässt sich in zwei Richtungen gliedern: Die eine interessiert sich vor allem für die sozialgeschichtlichen Bezüge des Textes – familiengeschichtliche Gesichtspunkte, das Motiv der Dekadenz286 oder pathologische Aspekte287 wie die Darstellung der Kulturkrankheit der Nervosität. Die zweite widmet sich strukturellen und philosophischen Gesichtspunkten wie etwa den Bezügen, die der Roman zur Philosophie Nietzsches und Schopenhauers herstellt.288 Schulliterarisch interessierte Analysen konzentrieren sich auf die Darstellung der Figur Hannos, zitieren sie aber in der Regel mehr als eine Belegstelle für eine institutionenkritische Lektüre, als dass sie ihr im Zusammenhang des Romans

285 Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: Ders. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 1. Frankfurt am Main 1981. 514. Im Folgenden Siglenangaben. 286 Vgl. etwa Wolfdietrich Rasch: Die literarische D¦cadence um 1900. München 1986; zu den Buddenbrooks 159 f. 287 Jüngst Katrin Max: Niedergangsdiagnostik. Zur Funktion von Krankheitsmotiven in ›Buddenbrooks‹. Frankfurt am Main 2008. 288 Für eine Rekapitulation der beiden Richtungen vgl. Erhart: Familienmänner, 284. Jochen Vogt hat diese beiden Ansatzpunkte verbunden und unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten Parallelen zwischen der Familiengeschichte im ersten Teil des Romans und der sozialgeschichtlichen Forschung zum Zerfall des ›Ganzen Hauses‹ ausgemacht. Vgl. Jochen Vogt: Thomas Mann: ›Buddenbrooks‹. München 1983 (Uni-Taschenbücher, Bd. 1074), hier 29 f.

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Rechnung zu tragen versuchten.289 Hier soll die Bedeutung der Schulepisode innerhalb der familiären Verfallserzählung genauer betrachtet werden. Das Schulkapitel steht nicht zuletzt deshalb an zentraler Stelle, weil darauf das Kapitel folgt, das Hannos Tod durch Typhus schildert, die männliche Linie der Buddenbrooks mithin endet. Vor diesem Hintergrund nimmt die folgende Lektüre auch die Bedeutung des Romans als medizinische Fallgeschichte ernst.290 Wenn man Thomas Mann Glauben schenken darf, war die »Knabennovelle« des Hanno Buddenbrook die Keimzelle des Romans.291 Die oben zitierte Figur des Krebsganges ist insofern für das Verständnis der Genealogie der Buddenbrooks im Allgemeinen und Hannos Position in der Familie im Besonderen aufschlussreich. Im musikalischen Verständnis meint der Krebsgang, wie Pfühl ausführt, die Spiegelung eines Musikstücks an der vertikalen Achse und impliziert damit eine Rückwärtsbewegung. Überträgt man sie auf Hannos familiäre Position, wird er als Figur einer negativen, invertierten Genealogie erkennbar. Demnach sollte die Figur Hannos einen Punkt der Umkehr markieren, konkret: der genealogischen Aufwärtsbewegung nach dem Abstieg, den der Roman bis zu diesem Punkt geschildert hat. Dieses Versprechen ist jedoch obsolet. Bereits vor seiner Geburt ist Hanno der Nachvollzug eines genealogischen Krebsganges vorherbestimmt, die »Nachahmung« der familiären Entwicklung »von der letzten Note zu ersten«. Auf Hannos Schultern lastet die Erwartung, den Verfall der Familie umzukehren. Das wird schon an seinem Namen deutlich, den er von dem erfolgreichen, lebenstüchtigen Urgroßvater erbt. »Jetzt, wo der kleine Johann da ist – es ist so schön, daß wir ihn wieder Johann genannt haben –, jetzt ist mir, als ob noch einmal eine ganz neue Zeit kommen muß!« (B, 410, m. Hvbg.), beschwört Hannos Tante Tony die Wende. Dass diese Hoffnung schon zu Beginn von Hannos kurzem Leben jenseits dessen liegt, was von dem Stammhalter erwartet werden kann, wird schnell 289 Vgl. etwa Mix: »Männliche Sensibilität oder die Modernität der Empfindsamkeit: zu den ›Leiden des jungen Werther‹, ›Anton Reiser‹, ›Buddenbrooks‹ und den ›Verwirrungen des Zöglings Törleß‹«, in: Karl Eibl (Hg.): Empfindsamkeit. Hamburg 2001. 191 – 208, sowie die Abhandlungen zu Hanno in Ders.: Die Schulen der Nation. Eine jüngere Publikation hat sich der Frage nach dem Verständnis von ›Gesetz‹ und ›Ordnung‹ im Schulkapitel gewidmet: Stefan Börnchen: »›Die Ordnung lässt zu wünschen übrig.‹ Chaos und Gesetz in der Schule der ›Buddenbrooks‹«, in: Ders. (Hg.): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die klassische Moderne. Paderborn 2008. 67 – 115. 290 Walter Erhart hat diese Lesart betont: »Statt diesem medizingeschichtlichen Hintergrund nur beiläufige und oberflächliche Aufmerksamkeit zu schenken, lässt sich an ihm der Zusammenhang und die Konstruktion dieses Familienromans aufzeigen […].« Erhart: Familienmänner, 286. Erhart interessiert sich in seiner Analyse für die geschlechtliche Codierung des Degenerationsdiskurses. 291 Vgl. den Hinweis von Hans Wysling: »Buddenbrooks«, in: Helmut Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. Aufl., Stuttgart 2001. 363 – 84, hier 363.

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deutlich. War schon seine Zeugung alles andere als wahrscheinlich,292 so verläuft die Geburt ebenso prekär : »Er lebt, und es könnte anders sein.« (B, 404) Bereits im Säuglingsalter wird Hanno in erster Linie ex negativo charakterisiert: »unscheinbar«, »unachtsam« und »unbestimmt« (B, 403, m. Hvbg.) ist Hanno schon bei seiner Taufe. Gleichzeitig scheint er seinem Alter voraus zu sein, wenn sein Blick »altklug[]« (ebd.) ist und sein Gesichtsausdruck ihm »etwas vorzeitig Charakteristisches« (ebd., m. Hvbg.) verleiht. Schon als Säugling zeigt er außerdem die Angewohnheit, die auch später charakteristisch sein wird, den Kopf »abgewandt« (B, 493) zu halten. Hannos gesundheitlicher Zustand ist Zeit seines Lebens gefährdet,293 und seine Entwicklung eine langsame. »Was das Gehen betraf, so war ihm jetzt, im Alter von fünf Vierteljahren noch kein selbstständiger Schritt gelungen, und es war um diese Zeit, dass die Damen Buddenbrook mit hoffnungslosem Kopfschütteln erklärten, dieses Kind werde stumm und lahm bleiben für sein ganzes Leben.« (B, 430) Auch der Schulbeginn lässt sich für Hanno nicht gut an. Er gehe nicht gern zur Schule, berichtet sein Kindermädchen: »Hätt’ lieber noch länger bei mir weiterlernen wollen. Und ich hätt’s auch gewünscht […], denn die Herren […] wissen es nicht so, wie man ihn nehmen muß beim Lernen… Das Aufmerken wird ihm oft schwer, und er wird rasch müde.« (B, 470) Darüber hinaus zeigt Hanno eine auffällige Sensibilität für einige Gedichte, die ihn zum Weinen bringen. »[…] ich halte es nicht für gut, daß ihm alles so nahe geht […]« (B, 473), konstatiert Tony. Auch Hannos Vater beobachtet seine langsame Entwicklung mit wachsendem Unmut, zumal sich bald das musikalische Talent äußert, das Hanno von mütterlicher Seite geerbt hat.294 Der Senator hat demgegenüber ein Bild vor Augen, »nach dem er seinen Sohn zu modeln sich sehnte: das Bild von Hannos Urgroßvater, wie er selbst ihn als Knabe gekannt – ein heller Kopf, jovial, einfach, humoristisch und stark. Konnte er so nicht werden? War das unmöglich? Und warum?« (B, 532) Gegen diese Entwicklung sprechen Hannos »träumerische Schwäche […], dieses Weinen, dieser vollständige Mangel an Frische und Energie« – die Kritikpunkte, die Senator Buddenbrook nennt, »wenn er gegen Hanno’s leidenschaftliche Beschäftigung mit der Musik Bedenken erhob.« (B, 521 f.) Die Befürchtungen bestätigen sich, als Hanno im Familienstammbuch einen Strich unter seinen eigenen Namen zieht – ein symbolischer Akt, der ihm selbst als solcher nicht bewusst ist: 292 »[…] und nun ist er da […], er, auf dem längst so viele Hoffnungen ruhen, von dem längst so viel gesprochen, der seit langen Jahren erwartet, ersehnt worden, den man von Gott erbeten und um den man Doktor Grabow gequält hatte […].« (B, 403) 293 Dies wird vor allem am Motiv der Zähne und Zahnwechsel deutlich. Vgl. dazu B, 431, 522. 294 Wie Jochen Vogt nachgewiesen hat, hat Hanno eine besondere Vorliebe für die Musik Richard Wagners, an deren Beispiel Nietzsche in seiner Schrift Der Fall Wagner seine Theorie der Dekadenz entwickelte. Vgl. Vogt: ›Buddenbrooks‹, 109 f.

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Er […] nahm mit nachlässigen Bewegungen Lineal und Feder zur Hand, legte das Lineal unter seinen Namen, ließ seine Augen noch einmal über das ganze genealogische Gewimmel hingleiten: und hierauf, mit stiller Miene und gedankenloser Sorgfalt, mechanisch und verträumt, zog er mit der Goldfeder einen schönen, sauberen Doppelstrich quer über das ganze Blatt hinüber […]. (B, 533)

Das Zitat verdeutlicht, dass Hanno jegliches Bewusstsein für die Bedeutung der Familienstruktur fehlt, wenn er das Ordnungsmodell des Stammbaums nur als ›Gewimmel‹ begreifen kann. Hier kommt eine ähnliche semiotische Irritation zum Ausdruck, wie sie schon im Vorzugsschüler beobachtet wurde, nur richtet sie sich nun auf die eigene Genealogie. Entsprechend versteht Hanno auch nicht das Entsetzen, das seinen Vater beim Anblick des ›Schlussstriches‹ erfasst, und er rechtfertigt seine Tat damit, dass er »glaubte… es käme nichts mehr …« (B, 534). Im Akt des Durchstreichens nimmt Hanno vorweg, was er im Verlauf des Romans performativ einlöst. Tatsächlich ›kommt nichts mehr‹. Mit Ausnahme seiner musikalischen Begabung verändert Hanno sich äußerlich kaum: die ihm zugeschriebenen körperlichen Attribute (lange, weiche Haare; blaue Schatten unter den Augen; Schlaksigkeit) bleiben gleich, ebenso sein Kränkeln. Nur beim Klavierspiel ist ein Entwicklungsprozess auszumachen, der ihn allerdings wiederum körperlich strapaziert, wenn er anschließend »ganz ermattet, und mit abwesenden Augen dasaß« (B, 517). Es ist diese schwächende, effeminierende Wirkung der Musik, die in Thomas Buddenbrook schließlich den Plan einer ›Gegenerziehung‹ weckt: Die Musik, das war keine Frage, war der Einfluß seiner Mutter, und kein Wunder, daß während der ersten Kinderjahre dieser Einfluß überwogen hatte. Aber die Zeit begann, da einem Vater Gelegenheit gegeben wird, auch seinerseits auf seinen Sohn zu wirken, ihn ein wenig auf seine Seite zu ziehen und mit männlichen Gegeneindrücken die bisherigen weiblichen Einflüsse zu neutralisieren. (B, 631 f.)

Der Vater formuliert an dieser Stelle ein mechanistisches Programm, das Erziehungsakte als Einschreibungen begreift. Es geht ihm um eine Erziehung zur Männlichkeit, die den als weiblich gewerteten Eigenschaften entgegenwirkt.295 295 Vor diesem Hintergrund lassen sich natürlich eine ganze Reihe der ›Symptome‹ der Protagonisten dieser Texte als solche einer Effeminisierung lesen, wogegen sich nicht zuletzt die Programme der Willenserziehung richten. Albrecht Koschorke hat die nicht nur dort ausgedrückte Männlichkeitsrhetorik in einem einschlägigen Aufsatz als Reaktion auf eine »Differenzierungskrise« um 1900 gewertet, die mit der Bekämpfung auf individueller wie auf kollektiv-nationaler Ebene als weiblich wahrgenommenen Eigenschaften im männlichen Charakter beantwortet wurde. Vgl. Albrecht Koschorke: »Die Männer und die Moderne«, in: Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam, Atlanta 2000. 141 – 62. Diese Auseinandersetzung mündet schließlich im Ersten Weltkrieg: »Dieser Feind ist niemand anderes als die Frau im Mann, das Weiblich-Hysterische im Volkskörper Europas,

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Insbesondere bekümmert ihn Hannos Scheu gegenüber Gleichaltrigen. Am Beispiel der Turnspiele wird bereits vor dem eigentlichen Schulkapitel deutlich, dass Hannos Sozialisation nicht gelingen will, er mithin nicht dem als normal konzipierten Entwicklungsstand entspricht. Auch an einem weiteren Sozialisationsversuch – einem Besuch im Kontor – scheitert Hanno. Die »unterrichtende Wirkung« (B, 639), die der Vater sich vom Einfluss des Milieus und seinem eigenen Vorbild verspricht, tritt nicht ein. Im Gegenteil: Hanno durchschaut die Anstrengung, die der Beruf seinen Vater kostet. Der kann ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass er das, was er von seinem Sohn verlangt, selbst nur unter großen Strapazen zu leisten imstande ist. Hanno sah […], wie furchtbar schwer sie [die soziale Gewandtheit des Vaters, G.W.] zu machen war, wie sein Vater nach jeder Visite wortkarger und bleicher, mit geschlossenen Augen […] in der Wagenecke lehnte, und mit Entsetzen erlebte er es, dass auf der Schwelle des nächsten Hauses eine Maske über ebendieses Gesicht glitt, immer aufs neue eine plötzliche Elastizität in die Bewegungen ebendieses ermüdeten Körpers kam. (Ebd., Hvbg. i. O.)

Der Exkurs zu Hannos Entwicklung ist deshalb angebracht, weil sie das einzige Kapitel, das sich nur auf seine Person beschränkt und als ›Schulkapitel‹ firmiert, in den Kontext eines entropischen Prozesses individuellen und familiären Verfalls stellt. Es ist an dieser Stelle bereits deutlich, dass Hannos Nachvollzug des genealogischen Krebsganges unwahrscheinlich ist. In der charakteristischen Koppelung von biologischem Verfall und geistiger Verfeinerung kommt in seiner Figur das Konzept der Dekadenz geradezu prototypisch zum Ausdruck. Thomas Mann aber ging es mindestens so sehr um eine positive Bewertung der dekadenten Charakterzüge Hannos (was die mehrheitlich negative Beurteilung der Figur unter dem Gesichtspunkt des biologischen Niedergangs nicht verhindern konnte). »Ich erinnere mich wohl«, schreibt Mann 1947 in einem Rückblick auf die Buddenbrooks, »daß, was mir ursprünglich am Herzen gelegen hatte, nur die Gestalt und die Erfahrungen des sensitiven Spätlings Hanno waren.« Das eigentliche Anliegen des Werks sei »die Psychologie des ermüdenden Lebens, die seelischen Verfeinerungen und ästhetischen Verklärungen […], welche den biologischen Niedergang begleiten.«296 Seine Ausführungen steigern sich zu einem emphatischen Lob der Schwäche: Ohne […] ihren leidenden Kritizismus, dem die Wirklichkeit, wie sie ist und wie sie dem Tüchtigen behagt, unerträglich ist, – kurz: ohne den D¦cadent, den kleinen Hanno, wären Menschheit und Gesellschaft seit diluvialen Zeiten um keinen Schritt der ein Blutbad nehmen muss, um sich zu regenerieren und dann ›wie ein Mann‹ […] aufzustehen.« Ebd., 148 f. 296 Thomas Mann: Zu einem Kapitel aus ›Buddenbrooks‹, in: Ders.: Gesammelte Werke in 12 Bänden. Bd. 11. Frankfurt am Main 1960. 552 – 56, hier 554.

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vorwärts gekommen. Es ist die Lebensuntauglichkeit, welche das Leben steigert, denn sie ist dem Geist verbunden.297

Diese ›Lebensuntauglichkeit‹ ist bei Hannos Vater, Thomas Buddenbrook, schon angelegt, wiewohl dieser jene Seite seines Wesens »im verzweifelten Kampf um die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Fassade«298 zu unterdrücken versucht. Was die Vitalität Thomas Buddenbrooks betrifft, ist eine Bemerkung aus Thomas Manns Notizbüchern aufschlussreich: Ursprünglich hatte er der Randfigur des Morten Schwarzkopf – des Medizinstudenten, für den Tony schwärmt, auf den sie dann aber zugunsten der unter Standesgesichtspunkten angemessenen Partie Bendix Grünlich verzichtet – eine prominentere Funktion im Roman zugedacht, nämlich die des medizinischen Begleiters der Familie Buddenbrook und ihres Verfallsprozesses. Darauf verzichtete Mann in der Endfassung, vermutlich, um einer monokausalen Erklärung dieses Prozesses vorzubeugen. In seinen Notizen findet sich jedoch der Hinweis auf die deutende Funktion der Figur Mortens, von der es heißt: »Morten hat zu sagen, daß, als der Senator scheinbar auf seinem Höhepunkt stand, er in Wirklichkeit schon darüber hinaus war.«299 Das dieser Aussage zugrunde liegende Kurvenmodell ruft die in Kapitel II.1 diskutierte, insbesondere in der Graphik von Theodor Altschul veranschaulichte Arbeitskurve in Erinnerung, anhand der das Argument der Gleichzeitigkeit von maximaler Leistungsfähigkeit und beginnender Erschöpfung veranschaulicht wurde. Subtil wird auf diese Weise der Lebenslauf Thomas Buddenbrooks in eine medizinische Fallgeschichte umgeschrieben, wenn der mit der zeitgenössischen Neuropathologie vertraute Morten ihm das Modell der physiologischen Arbeitskurve unterlegt. Für Hannos Lebenslauf jedoch lässt sich ein solches Kurvenmodell, das ja einen Leistungsanstieg voraussetzt, gar nicht mehr verzeichnen. Vielmehr ist er durch eine lineare Monotonie charakterisiert, deren Bestand seine prekäre Gesundheit, aber, wie zu zeigen sein wird, auch die Entwicklungen in der Schule immer wieder gefährden. Wenn auch nur indirekt, steht der lakonische letzte Satz des Kapitels – »Dies war ein Tag aus dem Leben des kleinen Johann.« (B, 766) – in Zusammenhang mit seinem Tod. Die syntagmatische Fügung von Schulerlebnis und Tod ist nicht zufällig. Vielmehr führt dieses Kapitel in verdichteter Form den entropischen Entwicklungsprozess Hannos am Beispiel der schulischen Verausgabung seinem konsequenten Ende zu. Das Kapitel folgt dem Stundenplan des Schultags und setzt mit dem Klingeln des Weckers – als verlängertem Arm der Institution – ein. Hannos Erschrecken 297 Mann: Zu einem Kapitel aus den ›Buddenbrooks‹, 556. 298 Vogt: ›Buddenbrooks‹, 99. 299 Thomas Mann: Notizbücher. Edition in zwei Bänden. Hg. von Hans Wysling. Bd. 1, 1 – 6. Frankfurt am Main 1991. 156.

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markiert eine für das ganze Kapitel symptomatische Differenz zwischen individuellem und institutionellem Zeitrhythmus, die seine misslungene Integration anhand der gescheiterten Synchronisation dieser beiden Zeitdimensionen verdeutlicht. Das Motiv der asynchronen Rhythmen zieht sich durch das ganze Kapitel300 und ist nicht zu trennen von der nervösen Konstitution Hannos. Dabei kombiniert das Kapitel zwei Erzählstränge: Der erste besteht in einer Art Anatomie der zeitgenössischen Schule, der zweite in der Wirkung dieser Institution auf Hanno. Zum ersten: Die Konzeption der Schule legt in verschiedener Hinsicht Analogien zur Institution des Theaters nahe. Das gilt insbesondere für die geradezu als Stereotypen konzipierten Lehrerfiguren. Wie ein Inventar von Komödiencharakteren wechseln sie einander ab. Unter den Mitschülern finden sich Pendants wie der Klassenstreber mit dem sprechenden Namen Alfred Todtenhaupt, der ›Dichter‹ Kai Graf Mölln sowie der Störenfried Heinricy. Die Forschung hat diese – und weitere – für den Stil des Romans untypischen, weil plakativ-satirischen Elemente bemerkt und kritisiert: Die Schulepisode drohe sich durch diesen stilistischen Bruch mit der ansonsten ironisch-subtil psychologisierenden Erzählweise zu verselbständigen. Als eine Ursache dessen wird nicht zuletzt Thomas Manns persönliche Betroffenheit und noch im Erwachsenenalter unverhohlen geäußerte Kritik an der preußischen Schule vermutet.301 Diese Darstellungsweise verstärkt den Kontrast zu der differenzierten Charakterskizze Hannos noch. Die Mitschüler treten in erster Linie im Plural auf, als ungestüme Masse, deren unbekümmerte, sorglose Jugend in krassem Unterschied zu Hannos Empfindlichkeit steht. Die Natürlichkeit des jugendlichen Verhaltens wird auf semantischer Ebene evident: So »flutete«, »strömte«, »ergoß« »es« (die Mitschüler, B, 726) sich ins Klassenzimmer. Deutlich wird die Leichtigkeit aber auch in der phonologischen Struktur, wenn die »Schlingel« »schlendern«, »schlenkern« und ihre Bibeln »[auf]schlugen« (ebd.). Hatte sein Vater sich von Hannos Besuch des Realgymnasiums Abhärtung für seinen Sohn versprochen (vgl. B, 632), so fühlt sich Hanno im Gegenteil nur noch fremder in Anbetracht des »wackere[n] und ein bisschen ungehobelte[n] Geschlecht[s]« (B, 734). Das Schulkapitel ist einer der wenigen schulliterarischen Texte, der auf zeitgenössische bildungspolitische Veränderungen Bezug nimmt:

300 Vgl. auch Hannos Beobachtung auf seinem Schulweg: »Die Glocken klangen durch den Nebel von allen Türmen, und diejenigen von Sankt Marien spielten zur Feier des Augenblicks sogar ›Nun danket alle Gott‹… Sie spielten es grundfalsch, wie Hanno rasend vor Verzweiflung konstatierte, sie hatten keine Ahnung von Rhythmus und waren höchst mangelhaft gestimmt…« (B, 720). 301 Vgl. dazu und zu Äußerungen Manns Vogt: ›Buddenbrooks‹, 106 f.

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Damals [kurz nach 1871, G.W.] war Doktor Wulicke […] berufen worden, und mit ihm war ein anderer, ein neuer Geist in die alte Schule eingezogen. Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, CarriÀre zu höchster Würde gelangt […]. Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, daß nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen … Bald nach dem Einzug des neuen Direktors war auch unter den vortrefflichsten hygienischen und ästhetischen Gesichtspunkten mit dem Umbau und der Neueinrichtung der Anstalt begonnen und Alles aufs Glücklichste fertig gestellt worden. Allein es blieb die Frage, ob nicht früher, als weniger Komfort der Neuzeit und ein bisschen mehr Gutmütigkeit, Gemüt, Heiterkeit, Wohlwollen und Behagen in diesen Räumen geherrscht hatte, die Schule ein sympathischeres und segenvolleres Institut gewesen war. (B, 736 f., m. Hvbg.)

Der Erzähler bezieht sich hier auf die zeitgenössisch breit diskutierte Diskrepanz zwischen humanistischer Bildung im Geiste Humboldts und der zunehmend auf Effizienz und staatliche Zertifikate angelegten institutionellen Realität. Mit dem Verweis auf die Schule als »Staat im Staate« betont er zudem ihre synekdochische Funktion. Die Qualifikation für das gesellschaftliche Leben hat dieser semiotischen Logik zufolge längst begonnen.302 Doch gerade diese Qualifikation gelingt Hanno nicht. Wie bereits angedeutet, wird dies schon auf zeitökonomischer Ebene deutlich: Er vermag sich dem institutionellen Rhythmus nicht anzupassen. Wenn seine gesamte Entwicklung als eine verspätete betrachtet werden kann, so gilt das auch auf mikrologischer Ebene, denn auch in die Schule kommt er zu spät. Das Schultor erreicht er kaum noch willentlich, sondern nur mehr durch Einsatz seiner Reflexe: Ohne über irgendwelche Kräfte zum Ausschreiten und Laufen mehr zu verfügen, ließ er seinen Oberkörper einfach nach vorne fallen, wobei die Beine wohl oder übel das Hinstürzen verhindern mußten, indem sie sich stolpernd und schlotternd ebenfalls vorwärts bewegten, und gelangte so vor die erste Pforte, als das Klingeln schon verstummt war. (B, 721)

Insgesamt ist die subjektive Wirkung des Schultags nach dem Modell der Systole und der Diastole organisiert, was insofern nicht nur metaphorisch zu verstehen ist, als Hanno tatsächlich während des Schultages mehrfach mit Herzrhythmusstörungen zu kämpfen hat (vgl. B, 724, 31, 36). Der Tag wird in einem fortwährenden Wechsel von Anspannung und Entspannung geschildert, dem ein dauerndes Auf und Ab der Temperatur entspricht.303 Wenn die Biographie 302 Vgl. auch die Argumentation bei Simmel und Durkheim, s. Kapitel II.1. 303 Vgl. nur die semantischen Diskrepanzen: »erschrak«, »angespannte[] Nerven« (B, 715), »warmen Dämmern«, »Glieder abspannte« (B, 731).

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seines Vaters noch als Kurve dargestellt wurde, so entspricht der Darstellung von Hannos Schultag das Modell des Kardiogramms. Hinsichtlich der erzählten Zeit steht der epischen Breite, mit der die Biographie seines Vaters geschildert wird, die knappe Konzentration auf einen einzigen Schultag in Hannos – kurzem – Leben gegenüber.304 In dieser Lesart korrespondiert mit Hannos beschleunigtem gesundheitlichem Verfall das Modell des arhythmisch beschleunigten Pulses. Verschiedentlich wird deutlich, dass Hanno der Lernstoff unverständlich und fremd ist. Erneut kommt hier eine Verselbstständigung der Zeichen zum Ausdruck, die für Hanno keinen Sinn mehr ergeben: »Nein, es gab keine Hoffnung, diese schwarzen Zeilen, die sich […] schnurgerade und zu fünfen aneinander reihten und ihn so hoffnungslos dunkel und unbekannt anstarrten, sich jetzt noch ein wenig vertraut zu machen. Er verstand kaum ihren Sinn […].« (B, 731) Dem Unvermögen zur Konzentration auf die sprachlichen Zeichen entspricht eine grundsätzliche Unfähigkeit, seinem Leben willentlich eine Richtung zu geben: Seit mein Vater tot ist, haben Herr Stephan Kistenmaker und Pastor Pringsheim es übernommen, mich tagtäglich zu fragen, was ich werden will. Ich weiß es nicht. Ich kann nichts antworten. Ich kann nichts werden. Ich fürchte mich vor dem Ganzen. […] Mit dir ist es so anders. Du hast mehr Mut. Du gehst hier herum und lachst über das Ganze und hast ihnen etwas entgegenzuhalten. […] Wir denken dasselbe, aber du schneidest eine Fratze und bist stolz … Ich kann das nicht. Ich werde so müde davon. Ich möchte schlafen und nichts mehr wissen. Ich möchte sterben, Kai! … Nein, es ist nichts mit mir. Ich kann nichts wollen. (B, 758, m. Hvbg.)

Wie bereits im Fall des Vorzugsschülers gewinnt die Figur des Protagonisten eine schärfere Identität durch eine Kontrastfigur, in diesem Fall durch die des Kai Graf Mölln, eines mittelmäßigen Schülers, der sich vor allem für Literatur interessiert und auch selbst dichtet. Kai – vielmehr Freund als Konkurrent Hannos – bedient nur die Minimalanforderungen, welche die Schule stellt, und entzieht sich ansonsten ihren Ansprüchen, etwa durch heimliche Poe-Lektüre während des Unterrichts (B, 731). Dieser Entzugstaktik steht Hannos Sensibilität für die subtilen und weniger subtilen Ungerechtigkeiten des Schulalltags gegenüber, die man mit dem – Tonio Kröger entlehnten – Begriff des ›Erkenntnisekels‹ zu fassen versucht hat: einem »Zustand, in dem es dem Menschen genügt, eine Sache zu durchschauen, um sich bereits zum Sterben angewidert zu fühlen.«305 Dieser Ekel an seiner Umwelt kommt in Hannos Verhältnis zum Schulbetrieb am 304 Wenngleich Hanno auch an früheren Stellen in Erscheinung tritt, ist das Schulkapitel das einzige, in dem er als Protagonist im Mittelpunkt der Handlung steht. 305 Thomas Mann: Tonio Kröger, in: Gesammelte Werke in 12 Bänden. Bd. 8. Frankfurt am Main 1960. 300 f. Vgl. auch Hellmut Haug: Erkenntnisekel. Zum frühen Werk Thomas Manns. Tübingen 1969 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 15).

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deutlichsten zum Ausdruck. Sein Eingeständnis, sich nicht entwickeln zu können, erfährt noch eine Steigerung durch die Feststellung, nicht wollen zu können. Ruft man sich die zeitgenössischen Konzeptionen in Erinnerung, die die Erziehung des Willens ins Zentrum pädagogischer und didaktischer Bemühungen stellen und die Schule als Institut der Willenserziehung konzipieren, so wird klar, dass die Unfähigkeit zu wollen das eigentliche Scheitern des institutionellen Erziehungsprozesses bedeutet. Die Schule vermag es nicht, Hanno seine Empfindlichkeit, Konzentrationsschwäche und Scheu gegenüber den Gleichaltrigen zu nehmen, sie stellt sie vielmehr auf Dauer. Die Semantik der Zerstreuung kulminiert am Ende des Kapitels, wenn Hanno nach Ende des Schultags am Klavier phantasiert und sich dabei vollkommen verausgabt. An der Musik Richard Wagners erschöpft er sich endgültig;306 anschließend ist er »blaß, in seinen Knieen [sic!] war gar keine Kraft mehr, und seine Augen brannten.« (B, 766) Dass sich an das Schulkapitel Hannos Tod durch Typhus – der in der zeitgenössischen Medizin auch als »Nervenfieber« firmiert – anschließt, ist in der entropischen Logik seiner Entwicklung nur konsequent. Es ist bezeichnenderweise – im Gegensatz zu den Selbstmorden der anderen Texte – ein passiver Tod. Auf dem Höhepunkt der Krankheit, deren Verlauf der Erzähler in klinisch-abstrakter Terminologie schildert, steht ein Moment der »Entscheidung« (B, 768): In die fernen Fieberträume, in die glühende Verlorenheit des Kranken wird das Leben hineinrufen mit unverkennbarer, ermunternder Stimme. Hart und frisch wird diese Stimme den Geist auf dem fremden, heißen Wege erreichen, […] der in den Schatten, die Kühle, den Frieden führt. Aufhorchend wird der Mensch diese helle, muntere, ein wenig höhnische Mahnung zur Umkehr und Rückkehr vernehmen […]. Aber zuckt er zusammen vor Furcht und Abneigung bei der Stimme des Lebens, […] bewirkt diese Erinnerung […], dass er den Kopf schüttelt […] und sich vorwärts flüchtet auf dem Wege, der sie ihm zum Entrinnen eröffnet hat … nein, es ist klar, dann wird er sterben. – (B, 769 f.)

Lediglich ein kaum noch als aktiv zu bezeichnendes, mehr symbolisch zu verstehendes Kopfschütteln führt den erlösenden Tod herbei. Wenn der Schultag das letzte Erlebnis vor diesem Tod ist, wird die Institution begreiflich als eine weitere, wenn auch die letzte und möglicherweise entscheidende Manifestation einer Umwelt, welche ihn mit Anforderungen überfordert, die er sich nicht zu erfüllen imstande sieht.

306 Vgl. Vogt: ›Buddenbrooks‹, 103, sowie zum Wagner-Subtext 110.

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Misslungene Duplikation: Emil Strauß’ ›Freund Hein‹ (1902) Die Geschichte Hanno Buddenbrooks lässt sich – insbesondere hinsichtlich seiner musikalischen Begabung – auch als die gescheiterte Entwicklung eines Künstlers erzählen und damit in die Nähe der Gattung Künstlerroman stellen. Umso mehr gilt diese Lesart für den Protagonisten Heinrich Lindner in Emil Strauß’ Roman Freund Hein mit dem Untertitel Eine Lebensgeschichte. Auch dieser Text beschreibt die Diskrepanz zwischen einem musisch talentierten Jungen und einer Lebenswirklichkeit, die der Entfaltung dieses Talentes keinen Spielraum einräumt. Der 1902 erschienene Roman gehört zum Frühwerk des 1866 geborenen Strauß, dessen literarische Anfänge im Umfeld des Naturalismus liegen. Zur Jahrhundertwende war er als neoromantischer Erzähler populär, wechselte später jedoch zur völkisch-nationalen Heimatliteratur.307 Doch schon vor Beginn des Dritten Reichs publizierte der Autor in einschlägigen literarischen Periodika sowie beim Fischer-Verlag und wurde von Verlegern, Lektoren, Kritikern und Kollegen gleichermaßen geschätzt.308 Arnold Zweig sagte von Freund Hein, er sei »für eine ganze gequälte Jugend einmal das erlösende Wort«309 gewesen. Tatsächlich geht der Roman bereits fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung in die fünfzehnte Auflage. Was aber für den Autor Emil Strauß im Allgemeinen gilt, trifft auf den vorliegenden Roman im Besonderen zu: Die literaturwissenschaftliche Forschung hat sich bislang nicht ausführlicher mit ihm beschäftigt.310 Strauß stellt seiner Schulgeschichte zwei Motti voran. Das erste stammt aus Petrarcas Schrift Secretum meum: »Quid tibi prodest dulciter aliis canere si te ipse non audis?« Diese Frage – »Was nützt es dir, für andere süß zu singen, wenn du dich selbst nicht hörst?«311 – stellt der fiktive Kirchenvater Augustinus seinem Dialogpartner Franciscus (Petrarca). Der Text steht in der Tradition frühneu307 Vgl. dazu Wolfgang Clauß: »Emil Strauß«, in: Kindlers Literaturlexikon. Hg. von HeinzLudwig Arnold. 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Bd. 15. Stuttgart 2009. 660 – 61, hier 660. 308 Vgl. Theodor Karst: »Nachwort«, in: Emil Strauß: Freund Hein. Stuttgart 1995. 201 – 15, hier 205. 309 Ebd. Karst gibt zu diesem Zitat keine Quelle an. 310 Ein Sammelband vereinigt Publikationen zu Leben und Werk des Dichters: Bärbel Rudin (Hg.): ›Wahr sein kann man‹. Zu Leben und Werk von Emil Strauß (1866 – 1900). Symposion der Stadt Pforzheim, 8.–10. Mai 1987. Pforzheim 1990, darin auch ein Aufsatz zu Freund Hein, der allerdings in der Analyse oberflächlich bleibt. Vgl. Martin Gregor-Dellin: »›Freund Hein‹ von Emil Strauß: Eine Schüler- und Künstlertragödie?«, in: Bärbel Rudin (Hg.): ›Wahr sein kann man‹, 56 – 62. Darüber hinaus findet vor allem Freund Hein in Abhandlungen zur Schulliteratur Beachtung. Strauß’ Arbeit im Dritten Reich hat jüngst Johanna Bohley untersucht: Dies.: »Erziehung zur Heimat? Die Heimat- und Identitätsmodelle bei Emil Strauß«, in: Christiane Caemmerer (Hg.): Dichtung im Dritten Reich? Opladen 1996. 231 – 44. 311 Francesco Petrarca: Secretum Meum / Mein Geheimnis. Lateinisch – Deutsch. Übers. von Gerhard Regn, Bernhard Huss. Mainz 2004. (excerpta classica, Bd. 11), 394 f.

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zeitlicher Selbstdarstellungen und ist als fiktiver dramatischer Dialog verfasst. Die Unterhaltung im ersten Buch kreist um die Ursachen einer Seelenkrise Petrarcas: »›Augustinus‹ […] diagnostiziert eine verwerfliche Willensschwäche des Zöglings; Franciscus dagegen erklärt seinen Zustand aus dem trotz aller guten Vorsätze gegebenen Unvermögen, das Leben in die richtige Bahn zu lenken.«312 Wenngleich der fiktive Dialog vor einem ganz anderen, zumal religiösen Hintergrund stattfindet, eröffnet Strauß einen Referenzhorizont, der den Konflikt seines Protagonisten, auch und insbesondere seine voluntaristische Dimension, in eine lange Tradition stellt. Allerdings ist Petrarcas Seelenkrise am Ende des dritten Dialoges gelöst, im Gegensatz zu dem fatalen Ende der vorliegenden Lebensgeschichte. Das zweite Motto ist Hölderlins Gedicht Stimme des Volks entnommen: »Denn selbstvergessen, allzubereit, den Wunsch / der Götter zu erfüllen, ergreift zu gern, / was sterblich ist und einmal offenen / Auges auf eigenem Pfade wandelt, / ins All zurück die kürzeste Bahn.« In einer Art paratextueller Prolepse nimmt Strauß damit nicht nur die Hölderlin-Begeisterung zweier Schüler, sondern insbesondere das Motiv des verkürzten Lebenswegs vorweg. Auf das Motiv des Todes referiert auch schon der Titel selbst – die Bezeichnung ›Freund Hein‹ ist eine Referenz auf den Kosenamen des Protagonisten Heinrich Lindner, gleichzeitig aber auch eine seit dem 17. Jahrhundert geläufige Umschreibung des Todes.313 Durch diese paratextuellen Rahmungen ist Strauß’ Roman bereits vor seinem eigentlichen Anfang symbolisch aufgeladen und in eine literarische Tradition gestellt, deren gemeinsame Referenz im Motiv der Seelenkrise auszumachen wäre. Auf Ebene der histoire verläuft der Text entsprechend dem mittlerweile bekannten Schema des musisch begabten, von der Schule überforderten Schülers, der, von seiner Umwelt mit Ausnahme des Freundes zunehmend unverstanden, in den Freitod geht. Ein auffallender Unterschied besteht allerdings in dem vergleichsweise liberalen und verständnisvollen Elternhaus, in dem Heinrich Lindner aufwächst. Das gilt auch und im Besonderen für den Vater.314 Zwar legt er von Beginn an einen gewissen Ehrgeiz für den Werdegang seines Sohnes an den Tag; so stellt er etwa bei dessen Geburt fest: »Der Bub blickt einen durch und durch: der muß mir Staatsanwalt werden!« (FH, 9). Dabei behandelt er ihn dennoch einfühlsam. Heiners Kindheit ist daher als idyllisch zu bezeichnen, 312 Gerhard Regn, Bernhard Huss: »Nachwort«, in: Francesco Petrarca, Secretum Meum, 497. 313 Vgl. Karst: Nachwort, 206. 314 Auf metaphorischer Ebene wird dessen Charakter von den vergleichsweise kälteren Vaterfiguren in anderen Texten schon durch die Tatsache abgegrenzt, dass er den neugeborenen Heinrich erst in die Arme nimmt, nachdem er sich zuvor die Hände »an den braunen Ofenkacheln gewärmt« hat. Emil Strauß: Freund Hein. Eine Lebensgeschichte. Stuttgart 1982. 9. Im Folgenden Siglenangaben.

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wenngleich der spätere Konflikt schon im ersten Kapitel in Form von Heiners akustischer Empfindlichkeit angedeutet wird. Denn »am liebsten« ist der Junge »allein« (FH, 11) und lauscht im Garten der Natur oder streunt in der Stadt an Orten herum, »wo Musik oder ähnliches zu hören sein könnte.« (FH, 12) Die Freude an der Musik ist mit einer großen Empfindlichkeit gegenüber unharmonischen, lauten Klängen verbunden. Den Eltern fällt dies zwar auf, doch sie beruhigen sich mit einem populären Präzedenzfall: Diese ungewöhnliche Empfindlichkeit des Gehörs machte die Eltern zwar aufmerksam, erschien ihnen aber […] weder bedeutsam noch bedenklich: »So etwas verwächst sich«, hieß es; »es ist halt ein zartes Kind, aber zarte Kinder werden oft uralt! Kaiser Wilhelm war auch so ein Sorgenkind.« (FH, 14)315

Stärker irritiert sie die Zerstreutheit, die den sonst folgsamen Heiner alles vergessen lässt, sobald Musik erklingt (vgl. ebd.). Seine Begeisterung für die Geige des Grundschullehrers und das Klavierspiel der Mutter betrachtet der Vater mit verhaltener Sorge. »Es liegt einmal im Blut und wäre fast wunderbar, wenn es sich nicht regte!« (FH, 20), konstatiert er. Er verweist damit auf den Aspekt der Vererbung des musikalischen Talents und überdenkt beim Anblick der ersten Klavierversuche des Sohnes »blitzschnell die Lebensbilder […], die sich ihm gleich vorhin beim ersten Hören aufgedrängt hatten.« (Ebd.) Musikalische Begabung impliziert hier auf eine deterministische Weise wenn nicht biographisches Scheitern, so mindestens eine eminente Sorge um den Lebenslauf. So vertröstet er den Sohn, Klavierunterricht erhalte er erst, wenn er eine Oktave greifen könne und verständigt die Mutter, »daß sie, ohne unmittelbar zu wehren, den Knaben doch möglichst von der Musik abhalten sollte, da er keinen verträumten Musikanten, sondern einen lebensklaren, tatkräftigen Mann aus ihm erziehen wollte.« (FH, 22) Die Hoffnung wird Lügen gestraft, als Heiner die Oktave greifen kann. Der Vater bietet ihm die Geige als Alternative an in der Hoffnung, die ungleich schwierigere, unerfreulichere und langweiligere Erlernung der Anfangsgründe des Geigenspiels würden den Eifer des Knaben […] eher ermüden und lähmen; dachte er doch auch gerne, dieser übermäßige Musikdrang sei vielleicht nur eine krankhafte Erscheinung […] und würde sich mit ihr im kräftigeren Knabenalter allmählich verlieren. (FH, 48)

Wie schon in den anderen Texten wird die Musik hier zum Indikator von Dekadenz, der die Erziehung entgegenwirken muss. Nach einer Ellipse wird evi315 Der junge Kaiser, den sein Erzieher Georg Hinzpeter 1888 porträtierte (Kaiser Wilhelm II. Eine Skizze nach der Natur gezeichnet), kann gleichsam als Paradigma des neurasthenischen und willensschwachen Kindes gelten. Vgl. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, 275 ff., sowie Stöckmann: Der Wille zum Willen, 92 – 94.

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dent, dass Heiner mit Beginn des Gymnasiums dort zunehmend Schwierigkeiten hat, insbesondere mit der griechischen Sprache und der Mathematik.316 Er verlängert die Arbeitszeit und wird überdies allmählich sozial isoliert, was der Erzähler nicht zuletzt auf seine Frühreife zurückführt: »[…] der Ernst seiner Natur und erst recht eine […] sich früh einstellende Reife des Charakters schloß ihn gegen seinen Willen von den übrigen in ungewöhnlicher Weise ab.« (FH, 62) Sein Vater beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Um seinen Sohn auf den rechten Weg zu bringen, setzt er auf die vorbildhafte Wirkung seiner eigenen Lebensgeschichte (vgl. FH, 68 – 71). Er erzählt Heiner von seiner eigenen musikalischen Passion während des Jurastudiums, die er in der inzwischen bekannten Zerstreutheitssemantik schildert, und deren Überwindung: »Aber ich hatte mich […] so sehr meiner Arbeitsübung, jeder Regel und jeden Zwanges entwöhnt, daß es mich unsägliche Mühe kostete, meine Gedanken auf Dinge zu sammeln, die mich einstweilen noch gar nicht reizten […].« (FH, 69) In einem Prozess verbissener Selbstdisziplinierung schafft er es schließlich, sich der Geige zu enthalten und blickt zurück auf die Studentenzeit als »die große Gefahr, aus der ich mich nur mit verzweifelter Kraft wie aus einem Sumpfe herausgearbeitet hatte.« (FH, 71) Er beschließt, im Interesse seiner Karriere den Geigenkasten unter das Bett zu verbannen und holt ihn erst zu besagtem Gespräch mit Heiner wieder heraus. Die handliche Moral der Geschichte lautet: »Die Geigenlust hat sich eben nicht biegen, sondern nur brechen lassen; und das Leben ist auch eine Fiedel: wenn man die erst ein wenig zu spielen versteht, geht ihre Musik über jede andere.« (ebd.) Wenn auch der väterliche Rat keinen expliziten Bezug zur Situation Heiners herstellt, ist dem Sohn die Analogie überdeutlich (vgl. FH, 71). So wird die Geschichte der väterlichen Selbstdisziplinierung zum Meisternarrativ, das der Sohn performativ zu kopieren hat. Doch dieser Duplikationsprozess scheitert. Die folgenden Kapitel schildern Heiners schulisches Scheitern trotz zunehmender Anstrengung, das mit gleichfalls wachsendem Unverständnis seines Vaters und vor allem des Mathematiklehrers einhergeht: »Wenn Sie nicht wollen, was sitzen Sie hier? […] Sagen Sie doch Ihrem Vater, Sie w o l lt e n nicht!« (FH, 96, Hvbg. i. O.) Wiederum wird der schulische Misserfolg im interpretatorischen Spannungsfeld von Unvermögen und Unwillen verhandelt: »Eine Bildung fahren zu lassen, weil sie Mühe macht«, beschließt der Vater, »wäre doch kindisch! […] 316 Der zeitgenössische Begabungsdiskurs betont die Bedeutung der Veranlagung von Talenten. Insbesondere im Fall von Mathematik und Musik – den beiden Gegenstandsbereichen, die auch in der Schulliteratur immer wieder gegenübergestellt werden – kommt der Erbanlage eine große Bedeutung zu. Eine einschlägige Studie des Neurologen Paul Julius Möbius stellt fest, dass die Veranlagung für Mathematik und Musik angeboren sei. Vgl. Paul Julius Möbius: »Über die Anlage zur Mathematik«, in: Neurologisches Centralblatt 8 (1899), 1049 – 57, hier 1050.

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Unser Kampf ums Dasein verlangt Härte vom Mann!« (FH, 102) Dem Schulversagen steht die wachsende Begeisterung für die Musik gegenüber : Heiner schreibt seine erste Komposition (FH, 113 f.) und entdeckt dabei seine Fähigkeit zur Beherrschung eines Gegenstandes, wie er sie aus der Schule nicht kennt: »[…] er fühlte wohl die Grenzen seiner Kraft, aber die vorhandene Kraft schwankte nun niemals wie sonst doch, ob es so oder so zu machen sei: unter einem Zwange schrieb er jede Note, und nur so konnte diese sein.« (FH, 114 f.) Der Unterschied zur Schularbeit besteht in einer ihm bislang unbekannten Fähigkeit zur Konzentration und entschlossenen Haltung. Als Heiner sich im wiederholten Schuljahr immer mehr von seinen Schulkameraden entfremdet hat,317 kommt mit Karl Notwang ein neuer Schüler in die Klasse. Notwang, von mehreren Schulen verwiesen, hat eine eigenwillige Bildungskarriere hinter sich (vgl. FH, 124 f.). Er ist literaturbegeistert und fällt durch gute Schulleistungen und Kameradschaftlichkeit bei gleichzeitig unverhohlenem Desinteresse für den schulischen Stoff auf. Seine Erziehungsphilosophie besteht aus einer Mischung von reformpädagogischem Individualismus318 und pragmatischem Darwinismus. So versucht er, Heiner dessen demütige Haltung gegenüber seinen Erziehern auszureden: Struggle for life! Darwin behauptet, die Tiere hätten im Laufe der Zeit durch Auslese und durch Anpassung an ihre Lebensbedingungen ihren Form- und Farbencharakter so entwickelt, daß sie ihren Feinden am ehesten entgehen und den Kampf ums Dasein bestehen können. […] Diese Schlauheit heißt man Mimikry. Es lebe die Mimikry! […] Mach’ dir die Blindheit deiner Verfolger zunutze! und [sic!] halte dich so zurück, daß keiner in Versuchung komme, dich anzufassen und zu untersuchen, wo du es nicht brauchen kannst. (FH, 133 f.)

Notwangs Schilderung seines taktischen Verhaltens gibt die für die frühe Schulliteratur nachgerade topische Freundesfigur als eine intertextuelle Figur zu erkennen.319 Wie auch etwa Kai Graf Mölln oder Hermann Heilner aus Hesses Unterm Rad teilen die Freundesfiguren Attribute mit den Protagonisten des Schelmenromans: etwa die »die Welt in Frage stellende Sicht der dargestellten Gesellschaft vom Blickwinkel des sozial Unterprivilegierten aus« oder die Neigung, »mit Hilfe von […] List und anderen unlauteren Machenschaften ›gerissen‹ durch das Leben«320 zu gehen. Spätere Texte werden diese Figur ins Zentrum

317 Die Beschreibung erinnert an Passagen aus den Buddenbrooks: »Sie waren gesundes, lautes Blut, und e r stieß sich an i h n e n , und ihre Gesundheit tat ihm weh, wie die Sonne den kranken Augen.« (FH, 118, Hvbg. i. O.) 318 »Er [der Lehrer, G.W.] […] muß die Leistungen immer multiplizieren mit dem Wesen des betreffenden Schülers oder dadurch dividieren, je nachdem!« (FH, 130) 319 Für diesen Hinweis danke ich Robert Suter. 320 Klaus Hübner: »Schelmenroman«, in: Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen.

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ihrer Handlung stellen und sich insbesondere für die ästhetische Dimension ihrer subversiven Haltung interessieren (vgl. Kapitel III). Heiner jedoch verweigert jeden Täuschungsversuch und hält Notwang entgegen, dass ihm die Subversion sozialer Regeln fremd sei (vgl. FH, 135). Daraufhin schließen die beiden Freunde Blutsbrüderschaft – Karls letzter Versuch, dem Freund gleichsam einen Teil seiner selbst zu geben: »Ich wollte, Heiner, du hättest mir meinen halben Trotz abgetrunken!« (FH, 136) Heiner dagegen steigert seinen Lerneifer erfolglos. Dass er sich außerdem weigert, öffentlich mit seinem musikalischen Talent zu glänzen und so die künstlerische Veranlagung für eine Karriere fruchtbar zu machen, vergrößert den Unmut des Vaters und bestärkt ihn in der Absicht, seinen Sohn zum gymnasialen Abschluss zu zwingen, »besonders auch, um den offenbar launenhaften, unberechenbaren künstlerischen Charakter des Jungen, solange noch Zeit war, zu ziehen, zu regeln, an Willenszwang zu gewöhnen.« (FH, 141) Der Erzähler verweist hierbei auf das grundlegende hermeneutische Problem von Erziehungsprozessen: Im letzten Grunde kann kein Mensch die Echtheit, Ehrlichkeit […] der Antriebe und Notwendigkeiten, denen sein Nächster, Vertrautester untersteht, gänzlich begreifen und wahrhaft würdigen, im besten Falle ist er immer noch auf viel guten Glauben angewiesen, im Zweifelsfalle aber wird er seiner eigenen Fühlung und Erfassung der Verhältnisse Vorrecht geben: und so nützte es dem jungen Menschen nichts, daß er darauf bestand, größere Anstrengungen im mathematischen Studium seien ihm unmöglich, ja er glaube sich überhaupt an der Grenze seiner Aufnahmefähigkeit angekommen […]. (FH, 141 f.)

Die Passage paraphrasiert das im vorigen Kapitel diskutierte Problem der Interpretation und Missverständnisse in der Erziehung und der resultierenden Verunsicherung der Erzieher. Der Vater erteilt Heiner ein Musikverbot in der Hoffnung, entsprechend seiner eigenen Biographie werde sich der Entzug heilsam auf die schulische Leistung auswirken. Das Gegenteil ist der Fall: Heiner umgeht das Verbot und zieht sich immer mehr zurück. Schließlich flüchtet er sich in dem Gefühl, unverstanden zu sein, nach einem letzten Gespräch mit dem Vater und dem zweiten nicht bestandenen Zeugnis in den Wald. Auch hier, wie schon im Vorzugsschüler, kommt die Selbsterkenntnis des Vaters (vgl. FH, 170) zu spät. Das vorletzte Kapitel, im Wald situiert, reiht klimaktisch mythische, literarische und biblische Verweise aneinander, so dass die Figur Heiners in Analogien zu Jesus (vgl. FH, 182 f., 186 f.), Hamlet (vgl. FH, 182) und Hölderlin (vgl. FH, 187) geradezu überdeterminiert erscheint. Während zuhause seine Familie und Karl Notwang auf seine Rückkehr warten, hält Notwang eine flammende Anklagerede an Heiners Vater, in der das reformpädagogische Ideal Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb. Aufl., Stuttgart 1990. 412 – 13, hier 412.

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der Pädagogik durch Anti-Pädagogik und das Hölderlin-Motto aufgerufen werden: Wenn nun einmal ein Kind kommt, dem sein Beruf aus allen Poren dringt, weil ihm Gott selbst ihn ganz unmittelbar mit seinem Blute gab, dann laßt in Dreiteufelsnamen die Finger davon und bedenkt, daß dieses Kind der Natur und den ewigen Gesetzen, kurz, dem Herrgott näher steht als ihr! Daß ihr es aus der Flugbahn, in die Gott es warf, nicht herausdrängen könnt, ja nicht einmal aufhalten könnt, ohne daß es zugrunde geht! – Sie können mich übrigens hinausschmeißen, sobald es Ihnen zuviel wird. (FH, 192)

Notwang verficht hier die für reformpädagogische Ansätze typische Mythisierung der kindlichen Natur, der Heiners Vater »Zucht und harte Gewohnheit« entgegenhält: »[…] wie soll ich mein Kind anders erziehen als nach meinen Erfahrungen und Grundsätzen, meinem Wissen und Glauben?« (FH, 193) Heiner verbringt währenddessen die Nacht im Wald. Am nächsten Morgen liest er noch in Karls Hölderlin-Gedichtband und schließt ein kurzes Musikspiel an. Diese Zeremonie kommt einer vorgezogenen Beerdigungsfeier gleich, denn direkt im Anschluss erschießt er sich. Noch seinen Tod plant er unter ästhetischen Gesichtspunkten, wenn er sich nach kurzem Zögern für einen Schuss ins Herz statt in den Kopf entscheidet, weil letzteres zu »scheußlich« (FH, 196) sei. Seine Leiche wird von Marktfrauen entdeckt und zu seiner Familie und Notwang gebracht. Die bisherigen Lektüren, Meyers Novelle eingeschlossen, könnten um weitere Texte wie Hermann Hesses Schulroman Unterm Rad (1905) oder Friedrich Huchs Roman Mao (1907) ergänzt werden, die einem vergleichbaren Erzählschema folgen. Obgleich die Texte, wie hier deutlich wurde, selbstverständlich je individuelle Akzente setzen, ist in ihrer Zusammenschau zunächst zweierlei aufschlussreich. Erstens erstaunt die geographische Omnipräsenz des Schemas der Schulgeschichte: In der Schweiz, Österreich, im Süden und im Norden des Deutschen Reiches sind die Erzählungen über gescheiterte (Schul-)Biographien gleichermaßen präsent. Dabei fällt zweitens auf, dass literarische Texte zum Sujet der Schule ein bestimmtes Stilregister ausbilden. Zusammen mit dem in seinen Grundzügen auffällig ähnlichen narrativen Schema der Geschichten stellen ihr melancholischer und institutionenkritischer Grundton sowie das implizite oder explizite Zitat literaturgeschichtlicher Traditionen offenbar die Form dar, die in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren bevorzugt bedient wird, wenn die Schule zum literarischen Gegenstand wird. Durch diese narrative Einförmigkeit erschöpfen sich aber gleichzeitig die Möglichkeiten, von schulischer und familiärer Erziehung zu erzählen. Was die Literatur daher auf der Handlungsebene beschreibt – Prozesse von Erschöpfung und Verausgabung – vollzieht sie auf der Ebene des Genres insofern selbst nach, als sie ihre eigene

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Tradition verschleißt. Wie in Kapitel III zu zeigen sein wird, nimmt die spätere Schulliteratur jedoch bewusst auf diese formale Auffälligkeit Bezug und benutzt sie als Medium eigener Form, macht das ›Leerlaufen‹ des Genres mithin produktiv. Es gibt einen dritten systematischen Gesichtspunkt, der mit Blick auf den Symbolhaushalt der Texte von besonderer Bedeutung ist. Im Hinblick auf die histoire der Texte wurde deutlich, dass den Protagonisten eben nicht in erster Linie das Pensum der Schulaufgaben zum Verhängnis wird – wie in zeitgenössischen Überbürdungsstudien und der literaturwissenschaftlichen Forschung häufig behauptet –, sondern viel grundsätzlicher das Programm einer Willenserziehung, wie sie um 1900 allgegenwärtig ist. Man kann diese Methode als ›Erziehung gegen die Dekadenz‹ bezeichnen. Walter Erhart hat anhand des in seinen Fontane-Lektüren beobachteten »Verlust[es] männlicher Subjekt-Positionen« durch solch dekadente Züge auf zwei Deutungsmöglichkeiten dieses Befundes hingewiesen. Interpretieren lässt er sich als ›Schwäche‹, die im Zeitalter einer ›effeminierten‹ Moderne nach einer Rekonstruktion ›wahrer‹ Männlichkeit verlangt, oder als Subversion männlicher Geschlechtscharaktere […]. Die erste […] ruft nach jenen kulturkritischen und maskulinen Ermächtigungsstrategien, wie sie die Theoretiker der ›Entartung‹ und der Männerbünde schon zu Fontanes Zeiten verfolgen und verkünden. Die zweite Lektüre nimmt ein Fin de SiÀcle vorweg, das die Abweichung von Männlichkeit auch ästhetisch auszeichnen kann: als contre-discours […] und als ästhetizistische Verweigerung in den landläufigen Ritualen des Dandy und des Bohemien.321

In den vorliegenden Texten hat man es offenkundig mit der ersten Option zu tun: dem Versuch der ›Virilisierung‹ des Kindes durch ein erzieherisches Willenstraining, das misslingt. Dieses Scheitern ist nicht zuletzt semiotisch indiziert, weisen die Texte doch wiederholt auf Prozesse kognitiver Diffusion hin. Es ist nun bemerkenswert, dass mindestens im Fall des Vorzugsschülers, der Buddenbrooks und in Unterm Rad die Schule nicht oder nicht allein als Agent des Leistungsdrucks in Szene gesetzt wird. Das gilt vielmehr für die Vaterfiguren, und dieser Aspekt verlangt nach einer Präzisierung der literarischen Darstellung beider Instanzen. Ihre – womöglich kontraintuitive – Engführung in der Literatur ruft Ulrich Herrmanns sozialgeschichtliche Darlegung in Erinnerung, nach der das Verhältnis von Schule und Elternhaus noch im ausgehenden 19. Jahrhundert alles andere als klar definiert war, ja die Sorge bestand, der Staat usurpiere familiäre Positionen.322 Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass die literarischen Texte nicht zuletzt väterliche Ermächtigungsversuche darstellen: Durch die Kontrolle der schulischen Leistungen versuchen sie, den Einfluss über 321 Erhart: Familienmänner, 199. 322 Vgl. Herrmann: Elternhaus und Schule, zur genaueren Ausführung vgl. S. 61.

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die Biographie ihrer Söhne zu behalten und ihre familiäre Position zu restituieren. Die Maßgabe der Reproduktion des väterlichen Lebenslaufes ist in allen drei Texten prominent,323 sie muss jedoch über den Umweg der Schule erreicht werden. Auf diese Weise zeugt der Ehrgeiz der Vaterfiguren von Versuchen, die Schule als Institution des Vaters zu refamiliarisieren und in den symbolischen Haushalt einer patriarchalen Ordnung zu reintegrieren. Die Texte demonstrieren jedoch in hinreichender Deutlichkeit, dass diese Integrationsanstrengung – im Gegensatz noch zu vergleichbaren Maßnahmen aus einem früheren Jahrhundert324 – zum Scheitern verurteilt sind. Denn in dieser wechselseitigen Verwobenheit beider Institutionen verbirgt sich hinter dem Gegenstand der Schule umgekehrt eine genealogische Diagnose: Mit dem Tod oder Selbstmord der Schüler enden nicht nur Biographien, sondern häufig auch Genealogien. Hanno Buddenbrook, Georg Pfanner oder Hans Giebenrath sind Einzelkinder, Heiner Lindner und Friedrich Huchs Protagonist Thomas haben eine Schwester. So sind Stammbäume entweder beendet oder setzen sich höchstens in der weiblichen Linie fort. Das Funktionieren traditioneller genealogischer Schemata, die biologische wie materielle Fortsetzung der Familie durch den männlichen Nachwuchs, ist nicht mehr sichergestellt.

3.

Leistungsparadigmen: Körperliche Verausgabung als ästhetische Artistik in Rilkes Erzählung ›Die Turnstunde‹ (1902)

Schulliterarische Texte der Zeit vor und um 1900, so lässt sich die bisherige Untersuchung zusammenfassen, haben in viel stärkerem Maße als bislang angenommen Anteil an dem Diskurs einer physiologisch orientierten Pädagogik. Wenn die Literatur Schulleistungen verhandelt, geht es nie nur um kognitive Vorgänge, sondern immer auch um die Strapazierung von Körpern; um Lernprozesse, die zur physiologischen Verausgabung führen. Am Beispiel der Buddenbrooks wurde in diesem Zusammenhang auf das Modell der Arbeitskurve hingewiesen, das mit Blick auf Mortens medizinisch informierten Kommentar als Leseanweisung für Thomas Buddenbrooks Biographie betrachtet werden kann und das sich in der Schilderung von Hannos Schultag in modifizierter 323 Und sie hat literaturgeschichtlich nicht zuletzt in Zolas Rougon-Marquart-Zyklus ein prominentes Vorbild; vgl. ebd., 118. 324 Vgl. Ingo Stöckmann: »Anthropologie und Zeichengemeinschaft: Schillers GrammontBerichte«, in: Jörn Steigerwald, Daniela Watzke (Hg.): Reiz, Imagination, Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680 – 1830). Würzburg 2003. 127 – 45.

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Form wiederfindet. Im Kontext der Arbeitswissenschaft bilden diese Kurven, so wurde im Kapitel II.1 ausgeführt, einen kontinuierlichen Energieverlust ab. Sie verzeichnen also – gemäß der zugrunde liegenden entropischen Logik – einen abfallenden Verlauf. Ruft man sich die bislang analysierten Texte in Erinnerung, so lässt sich der Entwicklungsprozess von Schülerfiguren wie Julian Boufflers, Heiner Lindner oder Hanno Buddenbrook als eine ebensolche Kurve reformulieren: mit starken Leistungs- oder Motivationsschwankungen, wobei der Gesamtverlauf der Kurve kontinuierlich abfällt. Die Texte machen eine bemerkenswerte strukturelle Parallele sichtbar, die zwischen dieser Form der Leistungsmessung und biographischen Verläufen besteht und die Georg Simmel vielleicht am treffendsten ausgedrückt hat, wenn er in seinen Vorlesungen zur Schulpädagogik anlässlich der Diskussion von Schulnoten schreibt: »So kann also der Schüler nicht als ganzer auf die Höhe seiner höchsten Leistung rangiert werden, andrerseits ist auch die Durchschnittsrechnung falsch, sondern das Auf und Nieder seiner Leistungen gibt ein besonderes, nur dem Leben eigenes Wertbild.«325 Damit erhält die Arbeitskurve den Charakter eines biographischen Deutungsmusters. In den bislang behandelten Texten entspricht ihr entropischer Verlauf dem tragischen Ende der Protagonisten. Im Gegensatz dazu steht Rainer Maria Rilkes frühe Erzählung Die Turnstunde (1899, überarbeitet 1901, veröffentlicht 1902). Die Figur der Kurve lässt sich in diesem Text als ein zentrales, den discours des Textes organisierendes Muster begreifen. Wenngleich auch hier der Tod eines Schülers Gegenstand der Handlung ist, gewinnt die Erzählung der abfallenden Kurve doch einen ästhetischen Mehrwert ab. Diese ästhetische Konnotation physiologischer Verausgabung markiert eine Veränderung innerhalb der Schulliteratur. Zusammen mit der kaum längeren Erzählung Pierre Dumont (1894)326 bildet der kurze Text das Fragment eines von Rilke anvisierten, aber nie verwirklichten Militärschulromans. Rilkes Erinnerung an seine eigene Schulzeit an den Militärrealschulen St. Pölten und Mährisch-Weißkirchen, die er trotz guter Leis-

325 Georg Simmel: Schulpädagogik, in: Ders.: Postume Veröffentlichungen. Ungedrucktes. Schulpädagogik. Hg. von Torge Karlsruhen und Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 2004. 313 – 472, hier 404. (= GA, Bd. 20) 326 Dieser Text wurde in der Forschung noch weniger beachtet als die Turnstunde. Er schildert die Bahnfahrt und die letzten Stunden vor dem Abschied eines Kadetten von seiner Mutter. Dabei ist das Gefühl zunehmender Beklemmung durch die Organisation des Textes entlang der Zeitachsen der Erinnerung sowie der immer schneller verrinnenden erzählten Zeit der Gegenwart dargestellt. Wie auch in der Turnstunde gelingt Rilke hier eine subtil psychologisierende Darstellung des Unbehagens, das die Militärerziehungsanstalt hervorruft, die auf explizite Sozialkritik verzichten kann. Vgl. Rainer Maria Rilke: Pierre Dumont, in: Ders.: Sämtliche Werke. Band 7: Frühe Erzählungen und Dramen. Erste Hälfte. Frankfurt am Main / Leipzig 1992. 407 – 14.

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tungen als traumatisch wahrnahm, ist gut dokumentiert.327 Die Kontroverse um die Deutung dieser autobiographischen Aussagen kann dabei als paradigmatisches Beispiel für die problematische biographische Lesart schulliterarischer Texte gelten. Denn die meisten Arbeiten zur Schulliteratur oder zur Thematik von Jugend und Adoleszenz lesen den Text in Hinblick auf Rilkes Biographie und handeln ihn inhaltlich vergleichsweise kurz ab.328 In der Forschung hat sich dabei eine erhitzte Diskussion über die Frage entzündet, ob Rilkes eigene Aussagen über seine Schulzeit lediglich die »Selbststilisierung« eines »Muttersöhnchens« darstellen, das durch die Inszenierung der eigenen Biographie nicht zuletzt die Rolle des »literarischen Grandseigneur« überzeugender zu spielen vermochte,329 oder ob die Schilderungen Authentizität beanspruchen können.330 Nicht nur übersehen beide Lager, dass keine Position sich der Aporie autobiographischer Analyse entziehen kann, der Tatsache nämlich, dass auch autobiographische Aussagen immer schon konstruierte und vermittelte sind und 327 Für einen Überblick vgl. nur Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. Frankfurt am Main 1990. 14 f. Eine ausführliche Selbstdarstellung Rilkes findet sich in dessen Brief an einen ehemaligen Lehrer, der ihm auf die Veröffentlichung der Turnstunde hin lobend geschrieben hatte. Vgl. Rainer Maria Rilke: Brief an General-Major von Sedlakowitz vom 9. Dezember 1920, in: Ders.: Briefe. Besorgt durch Karl Altheim. Bd. 2: 1914 – 1926. Wiesbaden 1950. 200 – 06. 328 Zwei Titel des in schulliterarischen Arbeiten ausgewiesenen York-Gothart Mix etwa suggerieren eine philologische Analyse des Textes, beschäftigen sich dann jedoch lediglich mit biographischen Gesichtspunkten aus Rilkes Schulzeit. Vgl. dazu Mix: »Der Auftakt zur Fibel des Entsetzens. R.M. Rilkes Erzählung ›Die Turnstunde‹ und die pädagogische Reformbewegung der Jahrhundertwende«, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 88 (1994), 437 – 47; Ders.: Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der Moderne. Stuttgart / Weimar 1995, 58 – 72. Für eine kurze Diskussion der Turnstunde vgl. Kolk: »Zucht und Hoffnung. Pädagogische Akzente bei George und Rilke«, in: Andreas Beyer, Dieter Burdorf: Jugendstil und Kulturkritik. Heidelberg 1999. 139 – 56. Arbeiten zu Rilkes Werk beziehungsweise Frühwerk übergehen die kurzen Erzählungen meist vollständig. Als Ausnahme können hier Judith Ryan und Friedrich Loock gelten, wobei letzterer die Erzählung mit deutlich biographischem Interesse liest: Judith Ryan: »Rilke’s Early Narratives«, in: Erika A. Metzger, Michael M. Metzger (Hg.): A Companion to the Works of Rainer Maria Rilke. Rochester, NY 2001. 67 – 89; Friedrich Loock: Adoleszenzkrise und Identitätsbildung: zur Krise der Dichtung in Rainer Maria Rilkes Werk. Frankfurt am Main / Bern / New York 1986. Einzelanalysen des Textes sind die Ausnahmen; unter ihnen muss die jüngste von Darren Ilett erwähnt werden, der eine differenzierte Interpretation vorgelegt hat: Ders.: »The Poetics of Deniable Plausibility in Rainer Maria Rilke’s ›Die Turnstunde‹«, in: Focus on German Studies 13 (2006), 69 – 85. Ilett interessiert sich insbesondere für die Aspekte der Homosexualität und des tabuisierten Wissens. 329 So der vom Lager der Rilke-Apologeten vielgescholtene Peter Demetz: Ren¦ Rilkes Prager Jahre. Düsseldorf 1953. 41, 34, 43. Dieser leitet seine Schlussfolgerung, Rilke habe seine schulischen Erlebnisse übertrieben dargestellt, methodisch tatsächlich zweifelhaft von dessen guten Zeugnisnoten ab. 330 Die letztere Haltung vertritt unter anderem Mix in den o.g. Veröffentlichungen. Vgl. außerdem Hans-Christoph Kayser : »Rainer Maria Rilke. ›Die Turnstunde‹. Zum Verhältnis von Dichter und Schule«, in: Modern Language Studies 2 (1972), 44 – 52.

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damit keine eindeutige Referenz beanspruchen können. Darüber hinaus gerät in Vergessenheit, dass die Verwendung fiktionaler Texte als autobiographische Belegstellen keiner genuin philologischen Methodik mehr folgt, sondern die Texte eben als autobiographisches Quellenmaterial behandelt. In Anbetracht dessen ist es bemerkenswert, dass selbst textorientierte Analysen der Turnstunde nicht ohne biographische Referenzen auskommen.331 Das scheint seinen Grund darin zu haben – und nur dies, nicht ein vermeintlicher biographischer Gehalt der Erzählung rechtfertigt die folgenden Überlegungen –, dass Rilke als einziger der hier behandelten Autoren das Problem biographischer Befangenheit als ein Problem der Textproduktion, anders gesagt, als ein poietisches Problem reflektiert hat. Bei der Arbeit an dem anvisierten Militärschulroman beschäftigte ihn offenbar in erster Linie das Problem der mangelnden Distanz zu dem Stoff, die er zum Prüfstein des ästhetischen Gelingens seines Textes machte: Seltsam, nachts wurde plötzlich der Militärschulroman so dringend, daß ich glaubte, ich würde, wenn nicht sofort, so doch wenigstens heute beginnen müssen, ihn zu schreiben. Das stellt sich natürlich im neuen Tag wesentlich anders dar ; was so notwendig erschien mitten in der Nacht, tritt jetzt als gleichberechtigt mit zwei, drei anderen Stoffen auf und nicht einmal als inniges Bedürfnis, sondern als literarische Absicht – und so bin ich gar nicht willens, etwas zur Erfüllung zu tun. Auch erscheint mir der Stoff, je mehr ich mich an ihn verliere, immer noch unmöglich und grob; noch fühle ich nicht die Geschicklichkeit, diese Gesellschaft von Knaben in ihrer ganzen Roheit [sic!] und Entartung, in dieser hoffnungslosen und traurigen Heiterkeit zu zeigen … diese ganze Masse beständig als solche wirken zu lassen, erscheint mir ebenso wichtig wie schwer. Denn der einzelne ist ja eben – auch der verdorbenste [sic!] – Kind, was aber aus der Gemeinschaft dieser Kinder sich ergibt, – das wäre der herrschende Eindruck –, eine schreckliche Gesamtheit, die wie ein fürchterliches Wesen wirkt, welches bald diesen und bald jenen Arm verlangend ausstreckt.332

Die Passage verhandelt implizit eine Bedingung literarischer Produktivität, die Souveränität über die Materie. Gleich mehrfach beschreibt Rilke hier Szenarien des Kontrollverlustes, wenn ihn das Romanprojekt in nächtlichen Situationen bedrängt, er sich in der Materie zu »verlieren« droht und ihn schließlich die geschilderte Gemeinschaft der Kinder, einer überdimensionierten Krake gleich, zu überwältigen droht. Dass der geplante Militärschulroman mit den beiden Erzählungen Fragment blieb, weist auf die Unlösbarkeit des Konflikts oder auf Rilkes literarischen Ehrgeiz hin, ein ästhetisches Projekt nicht durch biographische Voreingenommenheit gefährden zu wollen. Denn nicht zuletzt beschäftigte er sich um 1900 intensiv mit reformpädagogischem Gedankengut. In 331 Vgl. etwa Dirk Dethlefsen: »›Die Turnstunde‹. Rilkes Beitrag zu einer neuen Schule des Sehens«, in: Seminar 18 (1982). 235 – 60. 332 Rainer Maria Rilke: Tagebücher aus der Frühzeit. Hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Leipzig 1942. 161.

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der begeisterten Rezension von Ellen Keys Programmschrift Das Jahrhundert des Kindes (1902 in deutscher Sprache erschienen) formuliert Rilke das vielzitierte Diktum: »Man lese die Lebensgeschichte aller großen Menschen; sie sind, was sie geworden sind, immer trotz der Schule geworden, nicht durch sie.«333 Mit Ellen Key verbindet ihn in der folgenden Zeit ein freundschaftlicher Briefwechsel. 1905 veröffentlicht er – in Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft, in der auch die Turnstunde erscheinen sollte – den Essay Samskola, in dem er seinen achtwöchigen Aufenthalt an der 1901 gegründeten Göteborger Versuchsschule schildert. Eine Zeit lang trug er sich offenbar mit dem Gedanken, ein ähnliches Schulprojekt in Norddeutschland zu initiieren.334 Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass die Turnstunde nicht nur als einzige der frühen Erzählungen mit Rilkes Einverständnis in die Gesammelten Werke von 1927 aufgenommen wurde.335 Mehr noch: Er bewertete die knappe Erzählung rückblickend gar als eines seiner besten Frühwerke.336 Diese Einschätzungen sprechen dafür, dass Rilke selbst den Text als ästhetisch gelungen bewertet, mithin den Mangel an Distanz gegenüber dem Stoff überwunden zu haben glaubt. Rilke verfasste die Erzählung 1899, sie folgt im Tagebuch direkt im Anschluss der oben zitierten Passage. Für die Publikation in der Zeitschrift Zukunft im Jahr 1902 modifizierte Rilke den Text geringfügig.337 Den Rahmen der Handlung bildet die schulische Turnstunde.338 Einer der üblicherweise schlechtesten Turner aus der vierten Riege, Karl Gruber, ringt sich während dieser Stunde eine sportliche Höchstleistung ab, indem er an der Stange bis an die Decke klettert. Die Klasse verfolgt diesen Akt wie gebannt, die Offiziere sind davon irritiert. Anschließend ist Karl kaum ansprechbar und in einem tranceartigen Zustand. Der Mitschüler Jerome kümmert sich um ihn und ermutigt ihn, den Befehlen des Offiziers nachzukommen, der ihn zu einer erneuten Kletterrunde aufruft. Karl 333 Rainer Maria Rilke: Das Jahrhundert des Kindes, in: Ders.: Sämtliche Werke. Besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 5. Frankfurt am Main 1965. 584 – 92, hier 588. 334 Dazu und zu Rilkes reformpädagogischem Engagement detaillierter Mix: Die Schulen der Nation, 66 f. 335 Vgl. Schnack: Rainer Maria Rilke, 136. 336 Der Sechsundvierzigjährige befand, er lasse die Turnstunde »viel eher gelten als die übrige Klein-Prosa jener Jahre«. Ernst Zinn: Anmerkungen, in: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 4. Frankfurt am Main 1961. 1023. 337 Der Analyse liegt die endgültige Fassung aus der Werkausgabe des Inselverlags zugrunde: Rainer Maria Rilke: Die Turnstunde, in: Ders.: Sämtliche Werke in 12 Bänden. Bd. 8: Frühe Erzählungen und Dramen, zweite Hälfte. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt am Main 1975. 601 – 09. Im Folgenden Siglenangaben. Der Unterschied besteht vor allem in einer noch stärkeren Objektivierung der Erzählperspektive in der zweiten Fassung. 338 An dieser Stelle sei auf einen weiteren Text hingewiesen, der den Schulsport und sein demütigendes Potential für ungelenke Schüler behandelt: Ernst von Wildenbruch: Das Orakel, in: Ders.: Tiefe Wasser. Fünf Erzählungen. Berlin 1898. 313 – 28.

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sinkt daraufhin ohnmächtig von der Bank und wird aus der Sporthalle gebracht. Der Unterricht geht weiter, Schüler wie Lehrer sind allerdings unkonzentriert. Zum Ende der Stunde wird lapidar der Tod des Schülers durch Herzschlag bekannt gegeben. Der Text endet ähnlich abrupt, wie er einsetzt: Der Schüler Krix, der die Untersuchung Grubers durch das Schlüsselloch beobachtet hat, berichtet einem Kameraden kichernd von seinem Blick auf die Leiche. Der Kletterakt hat Ausnahmecharakter, es wird offensichtlich eine ›unerhörte Begebenheit‹ geschildert. Deutlich wird das an Formulierungen der Exzeptionalität: Karl Gruber ist »der sonst Allerletzte«, klettert »mit ungewöhnlicher Kraft« mit einer Technik, die »er sonst niemals begreifen konnte« und »ist diesmal sogar ungehorsam« (T, 602, m. Hvbg.). Das Klettern durchbricht in seiner Einmaligkeit die Monotonie der institutionellen Ordnung. Unter formalen Gesichtspunkten charakterisiert den Text zunächst der unvermittelte Beginn in einer knappen und abgehackten Diktion, welche den militärischen Ton imitiert: »In der Militärschule zu Sankt Severin. Turnsaal.« (T, 601) Entsprechend diesem pseudo-objektiven Stil geht der Bericht des Erzählers auch an keiner Stelle über die sinnlich wahrnehmbaren Ereignisse hinaus,339 wenngleich die Fokalisierung beständig wechselt: »[A]lthough the first paragraph seems to be observing the lesson from the outside, the perspective moves to that of the class as a whole, and at the crisis of the action, to that of one of the boys.«340 Dieser Fokalisierung entspricht die konsequente Abwesenheit einer deutenden Erzählinstanz,341 ja der Text stellt Spekulation, Ambiguität und Mehrdeutigkeit durch die Häufung relativierender Formulierungen geradezu ostentativ aus: »wie es scheint« (T, 602), »als ob«, »als hätte er« (T, 603), »vielleicht« (T, 604) sind nur einige Beispiele solcher Ambivalenzmarkierungen. Der zu Beginn aufgerufene Eindruck der Knappheit und Klarheit wird dadurch zunehmend zugunsten einer Vieldeutigkeit unterlaufen, auf die noch zurückzukommen ist. Die Erzählung lässt sich zunächst in zwei Teile gliedern: den Akt des Kletterns und den Rest der in ihrem Ablauf dadurch außerordentlich irritierten Turnstunde. Obgleich das Klettern der vierten Riege – den schlechtesten Turnern – explizit vorgegeben ist, wird der Übereifer, mit dem Gruber dem Befehl nachkommt, als Ungehorsam ausgelegt. Der verantwortliche Unteroffizier ruft ihn zunächst zurück und stellt ihn, als er darauf nicht reagiert, vor die Alternative: »Also, entweder Sie kommen herunter oder Sie klettern hinauf, Gruber!« (T, ebd.) 339 Vgl. dazu auch Ilett: The Poetics of Deniable Plausability, 69. 340 Ryan: Rilke’s Early Narratives, 72. 341 Nicht zuletzt durch diese erzähltechnische Entscheidung beugt Rilke der Gefahr einer kritischen, zur identifikatorischen Lektüre einladenden Erzählerfigur vor. Er entgeht so einer nach dem Prinzip der »humanen Stellvertretung« gestalteten Erzählinstanz, wie sie eine Reihe anderer schulliterarischer Texte zur Empathielenkung einsetzen. Vgl. zu dieser Beobachtung Dethlefsen: Rilkes Beitrag zu einer neuen Schule des Sehens, 253.

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Daraufhin beginnt der Schüler zu klettern – zunächst hektisch, um sich dann zu verlangsamen. Er scheint von dem Geschehen am Boden losgelöst in seiner Aktion, die einem Fluchtversuch gleichkommt: »Er beachtet nicht die Aufregung des ohnehin gereizten Unteroffiziers, klettert und klettert, die Blicke immerfort aufwärts gerichtet, als hätte er einen Ausweg in der Decke des Saales entdeckt und strebte danach, ihn zu erreichen.« (T, 603) Inzwischen verfolgt nahezu die ganze Klasse seine Bewegungen. Was folgt, schildert der Erzähler in einer zeitlich gedehnten Sequenz: – aber gerade in diesem Augenblick, da alle Blicke an der Gestalt Grubers hängen, macht er hoch oben unter der Decke eine Bewegung, als wollte er sie abschütteln; und da ihm Das [sic!] offenbar nicht gelingt, bindet er alle diese Blicke oben an den nackten eisernen Haken und saust die glatte Stange herunter, so daß alle immer noch hinaufsehen, als er schon längst, schwindelnd und heiß, unten steht und mit seltsam glanzlosen Augen in seine glühenden Handflächen schaut. (T, ebd.)

Es lohnt sich, diese Schlüsselpassage eingehender zu betrachten. Auf den ersten Blick schildert der Text zunächst die ungewöhnliche Leistung eines sportlich sonst schwachen Schülers. Wo die bislang behandelten Texte noch die kognitiven Leistungen und damit verbundene Schulschwierigkeiten ihrer Protagonisten ins Zentrum der Handlung stellten, konzentriert sich Rilkes Erzählung ausdrücklich auf die physiologische Dimension. Und während diese Texte den sensiblen D¦cadent nicht zuletzt durch die Kontrastierung mit der Masse einer virilen Jugend charakterisieren, trifft die vorliegende Erzählung diese Unterscheidung, wenn überhaupt, nur sehr subtil, wenn Karl Gruber der vierten Riege zugeordnet wird. Indem sich der Text auf diese Weise insbesondere für den sportlichen Akt zu interessieren scheint, lässt sich Grubers Kletterakt zunächst als eine physiologische Ausnahmeleistung betrachten, die sich formal mit dem oben diskutierten Modell der Arbeitskurve umschreiben lässt. Der Kletterakt bildet diese Figur des Aufstiegs und Falles, insbesondere in der Dimension der körperlichen Leistung, paradigmatisch ab. Dem kraftvollen Klettern entspricht nach dem Fall die Erschöpfung, auf welche die Adjektive »schwindelnd«, »heiß« und »glanzlos« hindeuten. Soweit zur Oberfläche der Handlung. Schon früh deutet sich jedoch an, dass die bemerkenswerte Leistung Grubers institutionell negativ sanktioniert ist. Das zeigt sich bereits daran, dass der Unteroffizier Gruber zunächst zurückruft; den Übereifer, mit dem dieser dem Befehl zum Klettern nachkommt, mithin als Ungehorsam interpretiert. Allein die Tatsache, dass Gruber – der »sonst Allerletzte« – sich außerhalb der Grenzen dessen bewegt, was ihm zugetraut und von ihm erwartet wird, macht sein Verhalten verdächtig und für den gewohnten Ablauf der Stunde potentiell problematisch, weil es der institutionellen Routine widerspricht. Die Beschreibung des Kletteraktes bestätigt diesen Verdacht, denn

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der Text beschreibt den körperlichen Akt als ästhetisch überdeterminiert. Dass die sportliche Leistung ein ästhetisches Potential birgt, kommt insbesondere durch die wiederholten Beschreibungen von Hand-Auge-Koordinationen zum Ausdruck. Diese Überlegung lässt sich durch den Stellenwert kunsttheoretischer Überlegungen bei Rilke erhärten. Wenngleich seine C¦zanne-Lektüren etwas später einsetzten und Rilke die Kunst des Sehens programmatisch erst in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge entfaltete,342 lässt sich in der Turnstunde eine Vorstufe des poetologischen Prinzips ausmachen, das Ralph Köhnen folgendermaßen beschreibt: »Gegen die Zerstreuung habe Rilke die Koordination von Hand und Auge als einer persönlichen Faktur im Kunstprodukt gesetzt, die ihrerseits Aufmerksamkeit bei Produzent und Rezipient erfordere.«343 Es ist eben diese ästhetische Koordination von Hand und Auge, die Gruber leistet, wenn er die Blicke suggestiv an der Decke »bindet« und so das Klettern als Kunststück markiert. Dieser ersten Verbindung von Hand und Auge auf dem Höhepunkt des Kletteraktes entspricht eine zweite direkt nach dem schnellen Abrutschen von der Stange: Grubers Betrachten seiner »glühenden Handflächen«. Der Text kommt wenig später auf diese Konstellation zurück und verstärkt sie noch, wenn Gruber nun »seine Hände betrachtet, ganz darüber gebückt wie einer, der bei wenig Licht einen Brief entziffern will.« (T, 430) Der Blick auf die geschundenen Hände – sie legen nicht zuletzt eine Analogie zu den Stigmata Christi nahe344 – gleicht dem Versuch einer Sinnstiftung, als könne Gruber sich das Geschehene selbst nicht erklären. Das Kunststück endet jedoch nicht an der Spitze der Kletterstange. Erst das schnelle Abrutschen vervollständigt den Akt, und es ist bemerkenswert, dass dieser Rückweg, der rasche Fall von der maximalen Höhe der Kletterstange, den Zuschauern durch Karls suggestive Blickbindung entgeht. Sie schauen noch nach oben, als dieser »längst« schon wieder unten steht. Dabei dürfte gerade das Fallen bei zeitgenössischen Lesern eine gewichtige Referenz aufgerufen haben, erinnert es doch an Nietzsches Konzeption des Lebens als Akrobatik, die er in der Seiltänzer-Episode aus der Vorrede des Zarathustra entfaltet. Der in die Menschenmenge abgestürzte, sterbende Seiltänzer beschreibt sich selbst mit dem Bild eines dressierten Tieres: »Ich bin nicht viel mehr als ein Tier, das man

342 Vgl. dazu auch die These Judith Ryans, die Prominenz des Malte versperre die Wahrnehmung auf die »ways in which his previous stories functioned as early exercises in some of the techniques that were to be employed in Malte Laurids Brigge.« Ryan: Rilke’s Early Narratives, 67. 343 Ralph Köhnen: »Das physiologische Wissen Rilkes und seine C¦zanne-Rezeption«, in: Helmut Pfotenhauer, Wolfgang Riedel, Sabine Schneider (Hg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900. Würzburg 2005. 141 – 62, hier 159 f. 344 Vgl. Ryan: Rilke’s Early Narratives, 75.

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Tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen.«345 Woraufhin Zarathustra erwidert: »Nicht doch […]; du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zugrunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.«346 Unterlegt man der Turnstunde diesen Ausschnitt, so wird Karl Gruber erkennbar als ein derart – hier : in der Militärerziehungsanstalt – gedrilltes Wesen, das aus dieser pädagogischen Dressur ausbricht. An dieser Ausnahmeleistung wird er zwar, wie der Seiltänzer, zugrunde gehen, wie dieser hat er dadurch jedoch am riskanten und im Sinne Nietzsches dadurch einzig gültigen Leben teilgenommen, das hier – ebenfalls mit Nietzsche – als das Leben eines Künstlers erkennbar wird. Folgt man seiner in der Geburt der Tragödie ausgeführten ›Artistenmetaphysik‹, der Absage an die Vorstellung einer transzendenten Ordnung und der Überzeugung, »dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint […]«347, so kann man Grubers Klettern als ästhetischen Akt begreifen, der wie Zarathustras Seiltänzer ohne Netz und doppelten Boden die Welt als künstlerisches Spiel auffasst.348 Die in der Forschung diskutierte Frage, wie der Akt des Kletterns einzuordnen sei – ob als Ungehorsam, als ungewöhnliche physische Leistung oder als Ausdruck der Verzweiflung349 – wäre vor dem Hintergrund dieser Überlegungen vor allem in Hinblick auf diese ästhetischen und vitalistischen Subtexte zu be345 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. 4. 2. Aufl., Berlin / New York 1988. 22. Auf die Affinität Rilkes zu Nietzsches Philosophie, die auch und insbesondere in seinem Frühwerk zum Ausdruck kommt, hat zuerst Erich Heller hingewiesen: »Rilke ist der Dichter einer Welt, deren Philosoph Nietzsche ist.« Vgl. Erich Heller : »Rilke und Nietzsche. Mit einem Exkurs über Denken, Glauben und Dichten«, in: Ders.: Enterbter Geist. Essays über modernes Dichten und Denken. Frankfurt am Main 1954. 175 – 244, hier 237. 346 Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 22. 347 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Bd. 1. München 1980. 11 – 156, hier 152. Vgl. außerdem Zarathustras Bemerkung: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schauen und Stehenbleiben.« Nietzsche: Also sprach Zarathustra, 16. Zarathustra beruhigt den sterbenden Seiltänzer mit dem Hinweis, es gebe »keinen Teufel und keine Hölle.« Ebd., 22. 348 Eine ähnliche Lesart des Falls und Sturzes findet sich auch in Rilkes lyrischem Werk, wie Bernhard Blume gezeigt hat. Das Fallen steht hier für die vitalistische Konfrontation eigener Ängste: »Fallen und sich fallen lassen wird zum Symbol einer Haltung, die sich nicht absondert, die nicht im Sein beharrt, sondern die sich dem Leben überlässt und ausliefert. […] So ist denn ›Fallen das Tüchtigste‹, wie es in dem späten Gedicht an Hölderlin heißt […].« Bernhard Blume: »Das Motiv des Fallens bei Rilke (1945)«, in: Rüdiger Görner (Hg.): Rainer Maria Rilke. Darmstadt 1987. 40 – 46, hier 43. 349 Vgl. Kayser : Zum Verhältnis von Dichter und Schule, 45.

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antworten. Anstrengung und Verausgabung, Sturz und Abstieg – was die bislang behandelten Texte in Hinblick auf arbeitsphysiologische und dekadenztheoretische Gesichtspunkte nur unter negativen Vorzeichen verhandelten, wendet Rilke positiv. Den körperlich zehrenden Kletterakt machen die wiederholten Hand-Auge-Koordinationen als ein die Aufmerksamkeit des Publikums bannendes Kunststück kenntlich. Der plötzliche Fall wird zum Signum eines sich einmalig aufbäumenden Lebenswillens, der zwar mit dem Tod bezahlt werden wird, durch den der Schüler aber – entsprechend Nietzsches Seiltänzer – an dem riskanten Leben, das der Eintönigkeit der Institution diametral entgegen steht, zumindest teilgehabt hat und damit zum Künstler geworden ist. Vor der Bekanntgabe von Grubers Tod schildert der Text jedoch den weiteren Verlauf der Turnstunde. Mit dem Klettern geht eine Irritation im Saal einher (vgl. T, 603). Anschließend drängen die Mitschüler zwar kurz auf eine Erklärung (»Willst wohl in die erste Riege kommen?«, T, ebd.). Gruber reagiert jedoch nicht, ja er wird dem Treiben in der Turnhalle gegenüber immer gleichgültiger. Als er später doch noch »was sagen« möchte, hat er die Aufmerksamkeit der Gruppe schon wieder verloren, »achtete niemand mehr seiner« (T, 604). Nur der Mitschüler Jerome, ebenfalls in der vierten Riege, kümmert sich um ihn und bewirkt mit seiner Nachfrage, ob dieser sich weh getan habe, die einzige Äußerung Karls im ganzen Text – bezeichnenderweise eine Frage: »›Was?‹, machte er mit seiner gewöhnlichen, in Speichel watenden Stimme.« (T, ebd.) Auf sein Angebot, ihn zu verarzten, reagiert Gruber nicht, ebenso wenig wie auf die Aufforderung des Unteroffiziers, erneut zu klettern. So fokussiert seine Aufmerksamkeit im Moment des Kletterns war, so schnell hat sie sich anschließend wieder verloren. Karl schaut abwesend in den Saal, »als sähe er etwas Unbestimmtes, vielleicht nicht im Saal, draußen vielleicht […].« (T, ebd.) Schließlich sinkt er ohnmächtig von der Turnbank: Aber statt aufzustehen, schließt er plötzlich die Augen und gleitet unter den Worten Jeromes durch, als ob eine Welle ihn trüge, fort, gleitet langsam und lautlos tiefer, tiefer, gleitet vom Sitz, und Jerome weiß erst, was geschieht, als er hört, wie der Kopf Grubers hart an das Holz des Sitzes prallt und dann vornüberfällt… (T, 605)

Mit dem Abtransport des ohnmächtigen Jungen endet der erste Teil der Erzählung und damit auch die Kurvenbewegung, die Karl mit dem Aufwärtsklettern, dem Fall und dem endgültigen Absacken auf den Boden der Halle vollzieht. Grubers Ohnmacht und Tod entspricht im zweiten Teil eine Art kollektive Lähmung der restlichen Gruppe. Als die Umstehenden seine Ohnmacht bemerken, sorgt der anwesende Oberlieutenant für Ruhe, nach und nach ebben die Turnbewegungen ab: »Man sieht nur da und dort noch Bewegungen, ein Ausschwingen am Gerät, einen leisen Absprung, ein verspätetes Lachen von einem, der nicht weiß, um was es sich handelt.« (T, 605) Auf eine kurze Phase der

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Irritation während Karls Abtransport folgt der Befehl, das Turnen möge weitergehen. Doch der Eindruck einer Hemmung legt sich über die Szene: »Aber doch sind alle Bewegungen anders als vorher ; als hätte ein Horchen sich über sie gelegt.« (T, 606) Im Turnsaal herrscht plötzlich eine angespannte Atmosphäre. Das Geheimnis um den Zustand von Karl Gruber lähmt die übrigen Aktivitäten, und Gerüchte kursieren: Der kleine schlaue Krix horcht inzwischen an der Kammertür. Der Unteroffizier der zweiten Riege jagt ihn davon, indem er zu einem Schlage auf seinen Hintern ausholt. Krix springt zurück, katzenhaft, mit hinterlistig blitzenden Augen. Er weiß schon genug. Und nach einer Weile, als ihn niemand mehr betrachtet, giebt er dem Pawlowitsch weiter : »Der Regimentsarzt ist gekommen.« Nun, man kennt ja den Pawlowitsch; mit seiner ganzen Frechheit geht er, als hätte ihm irgendwer einen Befehl gegeben, quer durch den Saal von Riege zu Riege und sagt ziemlich laut: »Der Regimentsarzt ist drin.« Und es scheint, auch die Unteroffiziere interessieren sich für diese Nachricht. (T, 606 f.)

Je länger dieser Zustand andauert, desto mehr konzentrieren sich die Blicke auf die Kammer, in der Gruber untersucht wird. Die Übungen verlangsamen sich: »Etwas Lähmendes scheint in der Luft zu liegen.« (T, 607) Allein die Sportler der ersten Riege betätigen sich noch: […] machen zwar noch einige Anstrengungen, gehen dagegen an, kreisen mit den Beinen; und Pombert, der kräftige Tiroler, biegt seinen Arm und betrachtet seine Muskeln […]. Ja, der kleine, gelenkige Baum schlägt sogar noch einige Armwellen, – und plötzlich ist diese heftige Bewegung die einzige im ganzen Saal, ein großer flimmernder Kreis, der etwas Unheimliches hat inmitten der allgemeinen Ruhe. (T, 607)

Im Vergleich mit dem Kletterakt Grubers kann das Kreisen der ersten Riege jedoch keine vergleichbare Aufmerksamkeit beanspruchen, und eine weitere Verbindung von Blick und Körper bleibt in der Gegenüberstellung mit den Koordinationen von Hand und Auge eigenartig asemantisch, wenn der Tiroler anscheinend interesselos seine Muskeln »betrachtet«. Nachdem auch der letzte Turner zur Ruhe gekommen ist, sind nur noch die Dinge zu hören – die Gasflammen, die Wanduhr, schließlich die Schulglocke, deren Ton aber an diesem Tag nicht mehr wiederzuerkennen ist: »Fremd und eigentümlich ist heute ihr Ton; sie hört auch ganz unvermittelt auf, unterbricht sich mitten im Wort.« (T, 608) Nicht nur die Sprache der Dinge versagt, auch die verbale Sprache scheint mit einem Mal unverständlich zu werden. Deutlich wird das daran, dass niemand auf den Befehl des Feldwebels reagiert: »Kein Mensch hört ihn. Keiner kann sich erinnern, welchen Sinn dieses Wort besaß, – vorher. Wann vorher?« (T, ebd.) Der Vorfall scheint die institutionelle Zeitordnung außer Kraft gesetzt zu haben. Erst als der Oberlieutenant aus der Kammer kommt, rührt sich alles sofort. In knappen Worten gibt dieser den Tod Grubers bekannt: »Euer Kamerad

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Gruber ist soeben gestorben. Herzschlag. Abmarsch!« (T, 608) Die Erzählung endet mit dem Marsch des Jahrgangs aus dem Turnsaal, konzentriert sich jedoch auf die Schüler Krix und Jerome. Krix berichtet aufgeregt davon, dass er einen Blick auf den Leichnam Karls werfen konnte: Jerome fühlt sich plötzlich am Arm gefaßt, so angesprungen. Krix hängt daran. Seine Augen glänzen und seine Zähne schimmern, als ob er beißen wollte. »Ich hab ihn gesehen«, flüstert er atemlos und preßt Jeromes Arm und ein Lachen ist innen in ihm und rüttelt ihn hin und her. Er kann kaum weiter : »Ganz nackt ist er und eingefallen und ganz lang. Und an den Fußsohlen ist er versiegelt…« Und dann kichert er, spitz und kitzlich, kichert und beißt sich in den Ärmel Jeromes hinein. (T, 609)

So endet der Text auf eine verstörende Weise. Die Dominanz des Vokals ›i‹ in dieser Passage – das Lachen »innen in ihm«, das »spitz[e] und kitzlich[e]« Kichern – haben eine schrille, alarmierende Wirkung, welche die beunruhigende Stimmung des Textes insofern zum Schluss keinesfalls harmonisierend kaschiert, sondern vielmehr überdeutlich ausstellt. Krix’ Bericht von seinem Blick durchs Schlüsselloch gibt einen letzten Eindruck von Karls Leichnam. Das militärische Personal hat die institutionelle Ordnung in ihrer emotionalen Kühle – der kräftige Tiroler etwa macht beim Weggang »einen gemeinen Witz in Bezug auf den Gestank« (T, 608) – nahezu wiederhergestellt. Mit Krix’ merkwürdigem Verhalten am Ende bleibt jedoch das verstörende Element bestehen, das sich durch die ganze Erzählung zieht. Der enigmatische Schluss greift auf diese Weise das ubiquitäre Motiv der problematischen Kommunikation auf. Im ersten Teil des Textes werden Befehle missachtet und ignoriert, Fragen nicht verstanden oder übergangen; im zweiten Teil wird gehorcht, gespäht, werden im Flüsterton Beobachtungen verbreitet.350 Besonders evident wird dies am Beispiel der Reaktionen auf Befehle. Wenngleich Gruber dem Befehl zum Klettern nachkommt, legt der Unteroffizier das exzessive Befolgen der Anweisung als Ungehorsam aus. Im Verlauf der Handlung verlieren die Befehle der Offiziere an Durchsetzungskraft, als hätte Grubers Verhalten die militärische Logik zeitweilig außer Kraft gesetzt, unverständlich gemacht. Noch evidenter werden die Kommunikationsschwierigkeiten nach Grubers Fall. Er zensiert sich geradezu selbst, wenn er »scheint, etwas antworten zu wollen, aber er überlegt es sich und senkt schnell die Augen.« (T, 603 f.) Erst nach seinem Abtransport wird allerdings die Atmosphäre gelähmter Kommunikation vollends evident. Fragen dominieren die wörtliche Rede (vgl. T, 605, 606), es herrscht Ungewissheit über das Schicksal Karls (vgl. T, 606). Die Stimmen verkommen zu einem einzigen Summen (vgl. ebd.), in das sich Geräusche mischen, 350 »Miscommunication, uncertainties, secrets, revelations, and anomalous, enigmatic behaviour abound in the narrative.« Ilett: The Poetics of Deniable Plausibility, 71.

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Überbürdungsgeschichten

deren Bedeutung kaum noch erkannt wird, bis die Nachricht von Grubers Tod die Gruppe aus ihrem Trancezustand reißt. Der Akt des Kletterns irritiert auf diese Weise nicht nur die institutionelle, sondern auch die kommunikativ-semiotische Ordnung. Das System militärischen Gehorsams wird dysfunktional, sowohl Befehle als auch nonverbale Instrumente wie die Glocke verlieren ihre konventionalisierte Bedeutung. Insofern eignet Rilkes Erzählung ein selbstreferentielles Moment, wenn das ästhetische Ereignis die institutionelle Ordnung ver-, ja zerstört. In dieser Lesart ist dann auch der irritierende Schluss der Prosaskizze konsequent. Krix’ Bericht von dem Blick auf den Toten perpetuiert den enigmatischen Vorfall, und der Biss in Jeromes Ärmel unterläuft den scheinbar ordnungsgemäßen Abmarsch der Turngruppe und bewahrt das Moment der Verstörung, das Karls Klettern ausgelöst hat. Rilkes Bedenken hinsichtlich der mangelnden Distanz zu seinem Gegenstand können im Fall der Turnstunde insofern als unberechtigt gelten. Er wendet das Klischee der schulischen – insbesondere der militärschulischen – Überstrapazierung, wenn er am Beispiel der Turnstunde zum einen die physiologische Dimension der Verausgabung darstellt und diese zugleich auf eine an Nietzsche geschulte, ästhetisch-vitalistische Figur hin lesbar macht. Karl Grubers Klettern wird so zu einem akrobatischen Kunststück, das ihn zwar einerseits das Leben kostet, ihn gleichzeitig aber andererseits so intensiv, weil riskant, leben lässt, wie es die übrigen Schüler nicht vermögen. So geht Rilkes Darstellung eines überstrapazierten Schülers wesentlich über andere Darstellungen hinaus, weil er dem Akt der Überanstrengung eine den Tod überdauernde, ästhetische Bedeutung einschreibt.

III. Spiele mit der Norm

1.

Zwischen Groteske und Zirkuspädagogik: Wedekinds Körper-Lehren in ›Frühlings Erwachen‹ (1890) und ›Mine-Haha‹ (1901)

In Wedekinds Werk finden sich zwei Texte, die der Schulliteratur zuzuordnen sind: das Drama Frühlings Erwachen (1890, UA 1906) und das Prosafragment Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen (1901). Letzteres lässt die Mehrzahl der Forschungsarbeiten außer Acht. Demgegenüber ist das Drama in den literaturwissenschaftlichen Studien zur Schulliteratur omnipräsent und scheint auch für Wedekinds Zeitgenossen ein einschlägiges Argument in der Diskussion bildungs- oder sexualpolitischer Themen gewesen zu sein. Wenngleich Frühlings Erwachen einige strukturelle und inhaltliche Gesichtspunkte mit den Überbürdungsgeschichten teilt, soll das Drama hier zusammen mit dem Prosafragment in anderer Hinsicht untersucht werden. Denn beide Texte rücken auf auffällige Weise Fragen der jugendlichen Sexualität ins Zentrum. Dieser Umstand ist wohl zunächst aus dem Werkzusammenhang zu erklären: Wedekind ist als Skandalautor in die Literaturgeschichte eingegangen, der sich inhaltlich – durch Sujets wie etwa Prostitution, Hetärismus und Lustmord – wie formal – durch poetologische Orientierung und persönliche Teilnahme an Kunstformen wie dem Variet¦ oder dem Kabarett – an der äußersten Peripherie bürgerlicher Kunstvorstellungen bewegte. Daneben sind in der Verbindung von Pädagogik und Körperkult eine Reihe mentalitätsgeschichtlicher Aspekte enthalten. In Form von Leibeserziehung spielt die körperliche Komponente von Bildung um 1900 eine wichtige Rolle, weil sie nicht zuletzt militärisch-politischen Zwecken dient. Jenseits seiner Funktion als gestählter Kampfmaschine ist der Körper in der Schule allerdings mit Tabus belegt – seine reproduktive Funktion und Fragen sexueller Aufklärung sind von der institutionellen Kommunikation ausgeschlossen. Nichtsdestotrotz nimmt das Thema der sexuellen Erziehung in pädagogisch-medizinischen Schriften großen

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Raum ein: Dort sind Fragen der kindlichen Sexualität, vor allem der Onanie, allgegenwärtig – gilt letztere doch als eine der Ursache für die Überbürdung. Hauptproblem ist dabei die Frage, wie ein Wissen von Sexualität ohne ihre Lustkomponente zu vermitteln sei.351 Für die diskursive Regulierung der Rede über die Sexualität gilt dabei, was Foucault in seiner einschlägigen Untersuchung zu Sexualität und Wahrheit betont hat, wenn er gegenüber der Repressionshypothese die Wirkmächtigkeit eines Dispositivs nachweist, das die ständige Äußerung über Sexualität förmlich erzwingt.352 Und nicht zuletzt kommt Fragen der körperlichen Ausbildung in der Reformpädagogik ein hoher Stellenwert zu. Hier geht es allerdings nicht um körperlichen Drill, sondern um eine als Komplement der geistigen Ausbildung angestrebte ganzheitliche Körpererziehung, die nicht zuletzt an ästhetischen Gesichtspunkten ausgerichtet ist.353 Wedekinds Schultexte setzen sich mit diesen Aspekten – als anormal bewerteten Sexualpraktiken, dem Redetabu sowie der ästhetischen Dimension des Körperkultes – auseinander. Auf unterschiedliche Weise entwirft der Autor in Frühlings Erwachen und Mine-Haha Erziehungslehren des Körpers – pädagogische Programme, die auf eine lustbetonte Beherrschung des eigenen Körpers abzielen und ihren gemeinsamen Nenner in einer vitalistischen Ausrichtung haben, welche auf geistige und körperliche Elastizität abzielt. So stellt Wedekind dem in der Schulliteratur bislang dominanten Paradigma der intellektuellen (Aus-)Bildung die körperliche gegenüber.

a.

›Geistesgymnastik‹: Die Poetologie der Pubertät als heitere Groteske in ›Frühlings Erwachen‹

Kaum ein Text im Korpus der Schulliteratur der Moderne hat sein Publikum so gespalten und so polemisiert wie Wedekinds Kindertragödie, wie das Drama im 351 So schreibt beispielsweise Hermann Oppenheim: »Vor der Masturbation und der sexuellen Infection ist nur der Wissende, der Eingeweihte sicher zu bewahren. […] Vielleicht lässt sich auch ein Modus der Aufklärung finden, der für den Unschuldigen ein Wissen ohne Anreiz und Verlockung bietet.« Hermann Oppenheim: Nervenleiden und Erziehung. Berlin 1899. 51 f. Mit der Frage nach dem angemessenen Modus der Aufklärung befassen sich auch Oskar Rosenthal, Wilhelm Witte und Ferdinand Kemsies: Die sexuelle Aufklärung der Jugend. Der Standpunkt des Arztes, der Standpunkt des Seelsorgers, der Standpunkt des Pädagogen. Berlin 1906. 8 f. 352 »Zensur des Sexes? Eher hat man einen Apparat zur Produktion von Diskursen über den Sex installiert, zur Produktion von immer mehr Diskursen, denen es gelang, zu funktionierenden und wirksamen Momenten seiner Ökonomie zu werden.« Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main 1983. 29. 353 Zur Ästhetik reformpädagogischer Programme vgl. das Kapitel »Ästhetische Signaturen« in Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 3., vollst. bearb. und erw. Aufl., München 1996. 304 f.

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Untertitel heißt. Es zählt zu seinem Frühwerk und kann als der Text gelten, mit dem Wedekind nach einigen lyrischen Versuchen und größtenteils Fragment gebliebenen Dramen354 erstmals die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums erlangte – dies allerdings erst nach der Uraufführung des Stückes durch Max Reinhart im Jahr 1906. Wedekind hatte das Stück fünfzehn Jahre zuvor verfasst und veröffentlicht, doch trotz mehrfacher Neuauflagen zwischen 1891 und 1906 war kein Theater an einer Aufführung interessiert. Schon die Erstpublikation war heikel: Hatte Wedekind zunächst den Münchner Verleger Eugen Albert für die Veröffentlichung gewinnen können, scheiterte das Geschäftsverhältnis bald, weil Albert wegen des kontroversen Inhalts juristische Bedenken kamen. Wedekind konnte das Drama daraufhin zwar bei dem Zürcher Verleger Jean Groß veröffentlichen, musste allerdings die gesamten Herstellungskosten selbst tragen. Bis zum Jahr 1906 war das Drama nur einem kleinen Kreis bekannt. Nach der Berliner Uraufführung und ihren kontroversen Rezensionen355 stiegen die Auflagezahlen rapide an. Für die Aufführung hatte Wedekind allerdings in Hinblick auf die Zensurbehörden ein überarbeitetes Typoskript erstellen müssen.356 Unter den positiven Reaktionen, unter anderem von Otto Bierbaum, Richard Dehmel und Oskar Panizza, fällt das große Interesse der Psychologen an Wedekinds Stück auf. Im Februar 1907 diskutiert die Wiener Psychoanalytische Vereinigung das Stück, »bei der Sigmund Freud persönlich Wedekinds Buch ›als verdienstvolle Schrift‹ würdigte und hinzufügte, ›als Kunstwerk sei es nicht hoch zu schätzen, aber als kulturhistorisches Dokument habe es bleibenden Wert‹.«357 Auch der Medizinalrat Albert Eulenburg – seines Zeichens Bearbeiter der preußischen Schülerselbstmordstatistik – behandelt die Protagonisten des Dramas eher als reale Patienten denn als fiktive Figuren: »[D]ie in unstillbarem erotischem Drang vergehenden Hänschen Rielows, Melchior Gabors und Moritz Stiefel« könnten nur als »aus ungünstigen Anlagen und traurigen Erziehungs354 Die drei vollständigen Dramen, die vor Frühlings Erwachen entstanden, sind Das Gastmahl bei Sokrates (1882), Der Schnellmaler (1886) sowie Kinder und Narren (1889/91), später umbenannt in Die junge Welt (1895). 355 Vgl. dazu den Kommentar der Darmstädter Ausgabe: Rolf Kieser : »Über den Umgang mit Stoffen und Stilen in Wedekinds frühen Dramen«, in: Frank Wedekind. Werke. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. von Mathias Baum und Rolf Kieser. Bd. 2. Darmstadt 2000. 763 – 995, hier insbes. 857 f. 356 Der folgenden Analyse liegt daher die ursprüngliche Fassung von 1891 zugrunde. 357 Kieser : Über den Umgang mit Stoffen und Stilen, 1278. Tatsächlich lassen sich auffällige Parallelen zwischen den Darstellungen der Geschlechter und Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis (1886) ausmachen. Vgl. dazu Sybille Schönborn: »›Die Königin ohne Kopf‹. Literarische Initiation und Geschlechtsidentität um die Jahrhundertwende in Frank Wedekinds Kindertragödie ›Frühlings Erwachen‹«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 118 (1999), 555 – 71, hier 558 f. Das Drama geht aber nicht vollständig im psychologischen Diskurs auf, sondern unterläuft ihn auch. Vgl. ebd.

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verhältnissen hervorgegangene Abnormitäten beurteilt werden.«358 Die Grenze zwischen Fakt und Fiktion wird in den wiederholten Beanspruchungen des Dramas als Belegstelle für genuin außerliterarische Argumente immer wieder verwischt. Frühlings Erwachen schildert die zunehmend konfliktreiche Entwicklung der Beziehungen zwischen heranwachsenden Mädchen und Jungen zu ihren Eltern und Lehrern. Die Jugendlichen interessieren sich in erster Linie für Fragen der sexuellen Aufklärung, ihre Gespräche drehen sich bevorzugt um den Gegenstand der Sexualität und die Quellen des Wissens über diese – Themen, die von Seiten der Erziehungsinstitutionen Familie und Schule mit strikten Tabus belegt sind. Zwischen den Protagonisten Wendla und Melchior entwickelt sich dabei ein Verhältnis, das deutliche Parallelen zur Gretchenepisode des Faust erkennen lässt: Nach dem Geschlechtsverkehr wird die in sexuellen Fragen ahnungslose Wendla schwanger und stirbt beim Abtreibungsversuch. Sie ist die zweite Tote des Stücks: Vorher hat sich Moritz Stiefel erschossen. Die Ursache für seinen Selbstmord bleibt zwischen Angst vor schulischem Versagen und – wie von den Lehrern unterstellt – Verwirrung durch eine Aufklärungsschrift Melchiors ambivalent. Melchior wird in eine Korrektionsanstalt überwiesen, kann jedoch fliehen. Das Stück endet auf dem Friedhof, wo der Wiedergänger Moritz Melchior zum Selbstmord überreden will. Ein vermummter Herr unterbricht die beiden jedoch, bevor Melchior zustimmen kann, und verlässt mit ihm den Friedhof. Die Handlung des Stückes wurzelt Wedekinds Darstellung zufolge in seiner eigenen Schulzeit, in deren Verlauf sich drei Schüler das Leben nahmen. In seinem Kommentar Was ich mir dabei dachte von 1911/12 schreibt er : Der Plan […] setzte sich aus persönlichen Erlebnissen oder Erlebnissen meiner Schulkameraden zusammen. Fast jede Szene entspricht einem wirklichen Vorgang. Sogar die Worte: »Der Junge war nicht von mir«, die man mir als krasse Übertreibung vorgeworfen, fielen in die Wirklichkeit.359

Dabei darf nicht unterschlagen werden, dass Wedekind – womöglich in Abwehr der schon zeitgenössisch beliebten sozialkritischen Interpretationen seines Stückes – nachträglich eine Reihe widersprüchlicher, ja gar »falsche[r]«360 358 Zitiert nach Ulrich Linse: »›Geschlechtsnot der Jugend‹. Über Jugendbewegung und Sexualität«, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend. Frankfurt am Main 1985. 245 – 309, hier 255. Ohne Quellenangabe. 359 Frank Wedekind: Was ich mir dabei dachte, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9. München 1921. 419 – 53, hier 424. 360 So die Einschätzung von Heinrich Bosse und Ursula Renner-Heer in der jüngsten Publikation zu dem Drama: »Generationsdifferenz im Erziehungsdrama. J.M.R. Lenzens ›Hofmeister‹ (1774) und Frank Wedekinds ›Frühlings Erwachen‹ (1891)«, in: Deutsche Vier-

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Spuren legt – womöglich, um einer monokausalen Auslegung des Dramas vorzubeugen. Zu dieser Vielfalt an Interpretationsangeboten zählt auch der Hinweis auf den heiteren Subtext der ›Tragödie‹: Während der Arbeit bildete ich mir etwas darauf ein, in keiner Szene, sei sie noch so ernst, den Humor zu verlieren. Bis zur Aufführung durch Reinhardt galt das Stück als reine Pornographie. Jetzt hat man sich dazu aufgerafft, es als trockenste Schulmeisterei anzuerkennen. Humor will noch immer niemand darin sehen.361

Während die Forschung Wedekinds Aussagen zum biographischen Gehalt des Stückes immer wieder aufgegriffen hat, ist dieser Hinweis übergangen worden; hier wird noch darauf zurückzukommen sein. Entgegen der von Wedekind selbst angebotenen Referenzen jedenfalls hielt ein zeitgenössischer Rezensent, der Berliner Literaturwissenschaftler Robert R. Meyer, im Jahr 1913 fest: Das Argumentative in Frühlingserwachen ist ganz zufällig, und zudem so allgemein human, daß man von einer didaktischen Tendenz, von einer auf das Erziehungsproblem gerichteten Absicht nur sehr nebensächlich sprechen kann. Dieses Stück beweist sich nur selber – das ist seine Stärke – und als Nebensache vielleicht noch sonst was in der Welt.362

Meyers Anregung, die inhaltliche »Absicht« des Dramas nicht zu hoch zu werten und stattdessen das Stück zunächst in seiner literarischen Eigenständigkeit zu betrachten, soll hier ernst genommen werden. Sofern die Forschung Frühlings Erwachen nicht unter dem Gesichtspunkt schulliterarischer Fragestellungen betrachtet,363 wird das Drama in erster Linie hinsichtlich solch inhaltlicher Aspekte analysiert, die für Wedekinds Gesamtwerk einschlägig sind, wie etwa Fragen der Körper- und Geschlechterkonzepte, der Scham, der Sexualität und der Prostitution.364 So aufschlussreich diese Abhandlungen für diskursive Verbindungen mit der Sexualwissenschaft und frühen Psychoanalyse sind, reichen sie dabei selten über die thematische Dimension hinaus oder verharren in allgemein bleibenden stilistischen Befunden des Montageverfahrens der Wedekind’schen Dramaturgie, die allerdings nicht ge-

361 362 363 364

teljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011), 47 – 84, hier 74. Zu diesem Ergebnis kommt auch Johannes G. Pankau: Sexualität und Modernität. Studien zum deutschen Drama des Fin de SiÀcle. Würzburg 2005 (Wedekind-Lektüren, Bd. 4), hier 126. Wedekind: Was ich mir dabei dachte, 424. Richard M. Meyer: Die Weltliteratur im 20. Jahrhundert. Stuttgart / Berlin 1913. 143 f. Vgl. dazu den Forschungsüberblick in der Einleitung, S. 34 f. Repräsentativ für diese Darstellung sind ein Großteil der Aufsätze in zwei jüngeren Sammelbänden: Ortrud Gutjahr (Hg.): Frank Wedekind. Würzburg 2001 (Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 20); Sigrid Dreiseitel, Hartmut VinÅon (Hg.): Kontinuität – Diskontinuität. Diskurse zu Frank Wedekinds literarischer Produktion (1903 – 1918). Würzburg 2001 (Wedekind-Lektüren, Bd. 2) Vgl. außerdem das Wedekind-Kapitel in Pankau: Sexualität und Modernität.

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nauer an einzelnen Textmomenten nachvollzogen werden. Einige wenige Ansätze beziehen auf ergiebige Weise Wedekinds dramaturgische Technik in ihre Interpretationen ein.365 Daran will die folgende Analyse anschließen und erstens den Interdependenzen zwischen dem thematischen Gehalt des Dramas – der Entwicklung jugendlicher Sexualität – und der dramatischen Form nachgehen, mithin die poetologischen Konsequenzen für die literarische Darstellung der Pubertät untersuchen. Dabei wird zweitens zu zeigen sein, dass die Auseinandersetzung mit der Sexualität nicht nur tragisch verläuft, wie in den Fällen von Wendla und Moritz. Entgegen der bislang üblichen Konzentration auf den repressiven Aspekt soll hier argumentiert werden, dass Wedekinds Drama eine alternative literarische Behandlung von Sexualität anbietet, in der auch Elemente des von ihm selbst thematisierten Humors zum Ausdruck kommen. Wedekind hat das Problem sexueller Aufklärung stets als ein Kommunikationsproblem angesehen. In seiner kurzen Abhandlung Aufklärungen von 1910 heißt es: »Die Eltern vermeiden solche Gespräche nicht etwa, wie sie sich einredeten, aus Furcht, ihren Kindern damit zu schaden, sondern weil sie selber unter sich über erotische Fragen nicht sprechen konnten, weil sie ernst darüber zu sprechen nicht gelernt hatten.«366 Demgegenüber regt er an anderer Stelle an, den Gegenstand ganz bewusst und unbefangen als Instrument der intellektuellen Übung einzusetzen: Wie aber sind nun bei solchen Gesprächen die Streitigkeiten, die daraus entstehen, zu vermeiden? – Einfach durch Ueberlegung, durch Umsicht, durch Klugheit, kurz durch gesteigerte Geistestätigkeit. – So kann die Erörterung der Sexualität, statt wie bisher ein Tummelplatz menschlicher Roheit [sic!] zu sein, geradezu zu einer geis-

365 Dies gilt insbesondere für die Arbeit Paul Böckmanns, die Wedekinds Dramaturgie systematisch analysiert: Paul Böckmann: »Die komödiantischen Grotesken Frank Wedekinds«, in: Ders.: Dichterische Wege der Subjektivierung. Studien zur deutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Tübingen 1999. 230 – 51. Für die Berücksichtigung formalstilistischer Aspekte in Frühlings Erwachen vgl. außerdem Ortrud Gutjahr : »Erziehung zur Schamlosigkeit. Frank Wedekinds ›Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen‹ und der intertextuelle Bezug zu ›Frühlings Erwachen‹«, in: Dies. (Hg.): Frank Wedekind. Würzburg 2001 (Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Band 20); Peter Jelavich: »Wedekind’s ›Spring Awakening‹: The Path to Expressionist Drama«, in: Stephen Eric Bronner, Douglas Kellner (Hg.): Passion and Rebellion. The Expressionist Heritage. South Hadley 1983; Paul Gerhard Klussmann: »Das dramaturgische Prinzip der Schamverletzung in Wedekinds Drama ›Frühlings Erwachen‹«, in: Robert Leroy (Hg.): Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Bern 1991; Schönborn: ›Die Königin ohne Kopf‹, sowie Ruth Floracks Arbeiten zu Frank Wedekind. 366 Frank Wedekind: Aufklärungen, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9. München 1921. 384 – 90, hier 386.

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tigen Schulung, zu einer Geistesgymnastik werden, wie es für unsere Jugend die lateinische Grammatik ist.367

Die provokative Gleichsetzung des altsprachlichen Unterrichts mit der Unterweisung in Fragen der Sexualität unterstützt die Überlegung, dass es Wedekind in seinen schulliterarischen Texten um eine Akzentverschiebung von der Konzentration auf die geistige Ausbildung hin zu Fragen der ›Körperlehren‹ zu tun ist – mindestens jedenfalls um eine Angleichung dieser beiden Gebiete, die vielleicht der Begriff der »Geistesgymnastik« am deutlichsten ausdrückt. Die erste Szene des ersten Aktes ruft nahezu alle konfliktrelevanten Themen und Motive des Dramas im kurzen Dialog zwischen Wendla Bergmann und ihrer Mutter auf. Sie beginnt mit einer Frage der Tochter, die die Wissbegierde der jugendlichen Figuren antizipiert, welche das ganze Stück durchzieht: »Warum hast Du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?«368 In der Antwort der Mutter : »Du wirst vierzehn Jahr heute!« (FE, 261) sind implizit zwei Leitmotive des Dramas enthalten. Erstens thematisiert sie die kindliche Entwicklung und damit die Zeit: »Was willst du denn! Kann ich dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist.« (ebd.) Dem im Titel angedeuteten, gemächlichen Zyklus der Jahreszeiten steht damit die Beschleunigung individueller Entwicklungsschritte gegenüber. Frau Bergmann, so lässt sich diese Aussage deuten, kann mit der Entwicklung ihrer Tochter kaum Schritt halten. Sie flickschustert gegen deren Wachstum an: »Ich werde Dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.« (FE, 262) Wendla wiederum interessiert sich weniger für das Argument des Alters als für das des äußeren Eindrucks und spielt die Bedeutung der eigenen Entwicklung herunter : »Laß’ mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch recht sein. – Heben wir’s auf bis zu meinem nächsten Geburtstag […].« (FE, 261) Sie insistiert auf die Irrelevanz ihres Alters und bestreitet die Beschleunigung ihrer Entwicklung. Die Zeit des bevorstehenden Sommers wird damit als eine liminale Phase des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen dargestellt, für die sich Wendla ein letztes Mal Kinderkleidung ausbittet. Die Diskrepanz unterstreicht das nicht explizit angesprochene Grundproblem einer dritten Altersstufe – der Jugend oder Pubertät – zwischen dem Kind und dem Erwachsenen, für die es nicht nur keine adäquate Kleidung gibt, sondern die sich auch in anderen Hinsichten in keine Ordnung fügen will. Indem sie derart auf die wörtliche Rede ihrer Mutter reagiert, vermeidet 367 Zitiert nach Pankau: Sexualität und Modernität, 118. 368 Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891), in: Ders.: Werke. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Bd. 2. Hg. von Mathias Baum und Rolf Kieser. Darmstadt 2000. 259 – 322, hier 261. Im Folgenden Siglenangaben im Fließtext.

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Wendla es, auf das einzugehen, was ungesagt bleibt. Denn, und das wäre der zweite Gesichtspunkt, zwischen der Altersangabe und Wendlas Frage nach der Länge des Kleides existiert keine direkte Verbindung. Nur durch rhetorische Implikation lässt sich die Antwort erklären: Ein vierzehnjähriges Mädchen sollte sich nicht in kurze und dadurch aufreizende Mode kleiden. Dahinter verbirgt sich die Sorge um das Sexualleben und die Jungfräulichkeit ihrer Tochter, die – und damit wäre der zentrale Konflikt des Dramas benannt – nicht explizit angesprochen werden kann, weil Wendla in einem naiven Zustand belassen werden soll. Daraus ergibt sich eine für das ganze Drama charakteristische Chiffrierung der Sprache und ein generelles Unvermögen zur Rede, das nicht nur Frau Bergmann betrifft: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« (ebd.) Dies stellt die dramatische Kommunikation, den Dialog, zur Disposition. Ein drittes Motiv – das des Todes – adressiert Wendla ebenfalls proleptisch, wenn sie auf das Gedankenspiel, das ihre Mutter zu ihrer weiteren Entwicklung anstellt, antwortet: »Wer weiß – vielleicht werde ich n i c ht mehr sein.« (Ebd., Hvbg. i. O.) Unwissentlich nimmt sie damit ihren tatsächlichen Tod durch die Abtreibung vorweg. Ihre Mutter willigt daraufhin ein, sie möge das lange Kleid in den Schrank hängen. Sie sorgt sich nun allerdings um die Gesundheit ihrer Tochter : »Wenn du nur nicht zu kalt hast!« (FE, 262). Wendla setzt dagegen: »Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter?« (Ebd.) Sie spielt damit auf eine – in zeitgenössischen Schriften zu Neurasthenie und Pubertät gleichermaßen verbreitete – Überzeugung an, derzufolge körperliche Erhitzung mit erhöhter sexueller Aktivität einhergehe. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Kinderfiguren nicht so naiv sind, wie sie scheinen, sondern den semiotischen Code der uneigentlichen Rede verinnerlicht haben. Der Sommer erfährt hier zudem eine Bedeutungserweiterung: Wurde er eingangs bereits als eine liminale Phase markiert, so stellen die bevorstehende Hitze, die Notwendigkeit von Abkühlung und Wendlas Andeutung des Auskleidens (vgl. ebd.) seine heikle Dimension noch deutlicher aus. Hier lässt sich eine Verschiebung der metaphorischen Konnotation des Titels – Frühlings Erwachen ruft das paradigmatische Feld von Blühen und Entwicklung auf – auf eine metonymische Ebene – die syntagmatische Folge der Jahreszeiten mit dem zeitlichen Index der Vergänglichkeit – ausmachen. Mit der Differenz von Hitze und Kälte ist außerdem eine das gesamte Drama strukturierende Opposition der Temperaturen angesprochen. Die Protagonisten, insbesondere Moritz Stiefel, sind unfähig, ihren eigenen Aggregatzustand konstant zu halten und schwanken ständig zwischen Hitze- und Kältezuständen. Das Unvermögen, die Körpertemperatur zu regulieren, steht stellvertretend für die in der Pubertät insgesamt charakteristische Unfähigkeit zur selbständigen Homöostase. Auf den Handlungsverlauf übertragen, wird dies als eine ironisch gebrochene Form des dramatischen Schicksalskonzepts erkennbar : Nicht aus der Motivation einer höheren Macht,

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aus einem deus ex machina-Prinzip oder einer im engen Sinn tragischen Handlungsverkettung heraus entwickelt sich der Konflikt, sondern aus dem Unvermögen der Protagonisten, ihren Körper souverän zu kontrollieren. Schließlich kündigt Wendla an: »Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin … Nicht schelten, Mütterchen. Es sieht’s ja dann niemand mehr.« (Ebd.) Wendla demonstriert damit nicht nur ein Wissen um die – semiotische – Differenz von Oberflächen- und Tiefenerscheinung, das wiederum auf ein Wissen um die Struktur der uneigentlichen Rede der Erwachsenenwelt hindeutet. Sie stellt auch ihre Kenntnis der performativen Dimension ihres Körpers unter Beweis. Wenn sie über das Sehen und GesehenWerden reflektiert, ist damit nicht nur das drameninterne Personal als potentieller Beobachter angesprochen. Wendlas Referenz lässt sich ebenso – metadramatisch – auf das reale Publikum beziehen, dem damit ein voyeuristisches Vergnügen am Bühnengeschehen unterstellt wird. Nimmt man den Begriff des Stoffes ernst, der sich in der ausführlichen Besprechung der Kleidung aufdrängt, so lässt sich Wendlas doppelte Kostümierung auf die Ebene des dramatischen Stoffes übertragen, der am Beispiel der im Bußgewand verkörperten Prüderie und der erotischen Zurschaustellung des Körpers in Form des Elfengewandes zwei disparate Elemente kombiniert. Während Frau Bergmann allerdings zum Zweck der Verhüllung weitere Stoffstücke annäht, so geht es Wedekind bei seiner Montage heterogener Szenen vielmehr um die Enthüllung eines Konflikts. Der Konflikt entfaltet sich entlang der Dichotomien des Alters und – wohl am deutlichsten – der des Geschlechts. Das zeigt sich bereits daran, dass der gesamte erste Akt – mit Ausnahme der letzten Szene – streng nach Geschlechtern getrennt ist. Wenngleich die Bühnenpräsenz der jungen Frauen in Wedekinds Drama natürlich auch handlungsfunktional motiviert ist, fällt doch auf, dass dies der erste der hier behandelten Texte ist, der Schülerinnen auftreten lässt. Die Gespräche in diesem Akt drehen sich um die Sexualität; die Eloquenz im Umgang mit dem Thema, oder – mit Wedekinds eigenen Worten – die ›geistesgymnastische‹ Versiertheit fällt jedoch sehr unterschiedlich aus. Die Mädchen und Frauen sind durch die Attribute der Mündlichkeit, der Unaufgeklärtheit und der Passivität charakterisiert. Dies wird schon in der ersten Szene deutlich und verstärkt sich noch in den weiteren ›Frauen‹-Szenen, von denen hier zwei exemplarisch angeführt werden. In der dritten Szene des ersten Aktes veranschaulicht das Beispiel Marthas die rigorosen Erziehungsnormen, denen die Mädchen unterworfen sind. Die dreifache Wiederholung des Ausdrucks »darf ich nicht« (FE, 268) deutet nur an, was Martha dann genauer ausführt: Die Erziehungsmethoden ihres Vaters sind nicht nur streng, sondern grenzen an sexuelle Misshandlung (vgl. FE, 269). Die Mädchen entwickeln daraufhin eigene Erziehungsutopien, die Wendla auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit hin befragt: »Wißt ihr denn, ob ihr welche [Kinder, G.W.] be-

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kommt?« (Ebd.), woraufhin das Unwissen der Mädchen in Sexualfragen deutlich zum Ausdruck kommt: »Martha: Tante Euphemia hat auch keine. – Thea: Gänschen! – weil sie nicht ve r h e i r at h e t ist. – Wendla: Tante Bauer war drei Mal verheirathet und hat nicht ein einziges.« (FE, 270, Hvbg. i. O.) Das Wissen der Mädchen speist sich aus falschen Erklärungen. In der zweiten Szene des zweiten Aktes kommt dieser Befund noch prägnanter zum Ausdruck, wenn Frau Bergmann Wendla von der Geburt ihres dritten Neffen berichtet.369 Wendla bittet ihre Mutter daraufhin, sie aufzuklären. Der folgende Dialog lässt sich allerdings kaum noch als ein solcher bezeichnen: Er ist durchdrungen von Ellipsen und Selbstunterbrechungen der Mutter, die keinen Satz mehr vervollständigen kann. Wendla ringt ihr dennoch eine Erklärung ab, die allerdings höchst enigmatisch bleibt: Um ein Kind zu bekommen – muß man den Mann – mit dem man verheirathet ist … l i e b e n – l i e b e n sag’ ich dir – wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr v o n g a n z e m H e r z e n lieben, wie – wie sich’s nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst … Jetzt weißt du’s. (FE, 285, gesperrte Hvbg. i. O.)

Mit ihrer ›Erklärung‹ flüchtet sich Frau Bergmann zurück in die Unsagbarkeit und suggeriert Wendla, sie könne noch keine Kinder bekommen. Wiederum wird hier die an die dramatische Form gerichtete Erwartung frustriert, weil kein Dialog stattfindet. Aus diesen Episoden wird deutlich, dass die Mädchen in einem bewussten Un- oder Halbwissen gehalten werden, was Fragen der Sexualität und Fortpflanzung betrifft. Sofern sie überhaupt thematisiert werden, geschieht dies mündlich; schriftliche Information steht ihnen nicht zur Verfügung. Damit bleiben sie in einem Zustand der Unmündigkeit. Das Unwissen in sexuellen Fragen ist bei den Jungen – dem Trio der Mädchen entspricht das Duo Melchior und Moritz – schwächer ausgeprägt. Zwar ist auch ihnen der Tabucharakter der Sexualität bewusst, allerdings kommunizieren sie untereinander offener über ihr Wissen und nutzen schriftliche Quellen, um Wissenslücken zu schließen. Melchior und Moritz beginnen in der zweiten Szene des ersten Aktes eine Unterhaltung über den Ursprung menschlichen Schamgefühls. Johannes Pankau hat darauf hingewiesen, dass die Unterhaltung »formal an den Bildungsdiskurs gebunden« ist, weil sie entsprechend der rhetorischen Regeln verläuft, »wie sie aus den Themenstellungen des gymnasialen Aufsatzes bekannt waren.«370 Die Jungen praktizieren damit eben die ›Geistesgymnastik‹, die Wedekind als Lösung der Aufklärungsproblematik vorgeschlagen hatte. Moritz 369 Die ausdrückliche Gegenüberstellung der Dauer der Ehe und der Anzahl der Kinder lässt darauf schließen, dass schon Ina Bergmann ein uneheliches Kind gezeugt hat. 370 Pankau: Sexualität und Modernität, 130.

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schlägt eine Erziehungsutopie vor, die die Ausbildung des Schamgefühls verhindern soll: Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse sie Morgens und Abends beim An- und Auskleiden einander behülflich sein und in der heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts anderes als eine kurze, mit Lederriemen gegürtete Tunica aus weißem Wollstoff tragen. – Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es in der Regel sind. (FE, 264)371

Moritz demonstriert ein profundes Wissen der Sexualhygiene, wie sie in zeitgenössischen Ratgebern propagiert wird: »Selbstverständlich müßten meine Kinder […] reiten, turnen, klettern und vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir.« (FE, 265) Obwohl es ihn Überwindung kostet und er nicht einmal die Umschreibung der Onanie auszusprechen imstande ist,372 fragt er seinen Freund nach dessen Erfahrungen. Moritz schildert daraufhin die Krise, die auf seine erste Onanieerfahrung folgte: »Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren Schaden.« (Ebd.) Moritz’ wiederholte Selbstcharakterisierung als unruhig und nervös lässt typische Züge des (Sexual-) Neurasthenikers erkennen. Darüber hinaus ruft er Aspekte des Überbürdungsdiskurses in Erinnerung. Er hat Versetzungsängste (vgl. I, 4), überarbeitet sich bis zur Verausgabung (vgl. II, 1) und ist durch die auffällige Kopf-Metaphorik gekennzeichnet, die noch in seinem Tod durch Erschießen zum Ausdruck kommt, bei dem sein Kopf förmlich explodiert (vgl. III, 2).373 Melchior erfragt nach und nach die Unwissenheit seines Freundes in Sachen Sexualität. Der rechtfertigt sich: Wie sollt’ ich es wissen? – Ich sehe, wie die Hühner Eier legen, und höre, dass Mama mich unter dem Herzen getragen haben will. Aber genügt denn das? […] Ich habe den Kleinen Meyer von A bis Z durchgenommen. Worte – nichts als Worte und Worte! Nicht eine einzige schlichte Erklärung. […] – Was soll mir ein Conversationslexikon, das auf die nächstliegende Lebensfrage nicht antwortet. (FE, 266 f.)

371 Diese Utopie weist auf Mine-Haha voraus, ebenso wie die Darstellung der Mädchenerziehung in der Szene des Trios Wendla, Thea und Martha. 372 Vgl. FE, 265; es ist Melchior, der den Begriff »männliche Regungen« verwendet. 373 Diese am Motiv des Kopfes besonders deutlich ausgedrückte Diskrepanz zwischen rationalem und irrationalem Zugang zu Wissen veranschaulicht schließlich das Märchen von der Königin ohne Kopf, welches Moritz von seiner Großmutter gehört hat und in der ersten Szene des zweiten Aktes erzählt. Die Allegorie der kopflosen Frau und des doppelköpfigen Mannes spiegelt in grotesker Verzerrung nicht nur die zeitgenössisch als anatomisch ›defizitär‹ konzipierte Sexualität der Frau, sondern auch ihren Mangel an Rationalität, der allein durch den Ersatz eines der männlichen Köpfe kompensiert werden kann (vgl. Akt II, Szene 1).

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Mit der Referenz auf das Lexikon ist nicht nur eine Entsprechung zur Situation der Mädchen angedeutet, denen in einer wortreichen Leere die Antworten ebenfalls vorenthalten werden, sondern erneut auf den das Drama strukturierenden Verlust der Kommunikation verwiesen. Melchior dagegen hat sein Wissen systematisch erworben und verbreitet: Ich sage dir alles. – Ich habe es theils aus Büchern, theils aus Illustrationen, theils aus Beobachtungen in der Natur. […] Ich habe es auch Georg Zirschnitz gesagt! Georg Zirschnitz wollte es Hänschen Rilow sagen, aber Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante erfahren. (Ebd.)

Den Jungen steht also nicht nur ein größerer Wissensfundus zur Verfügung, auch die Initiation in den Gegenstand verläuft offener. Moritz dagegen hat Schwierigkeiten, sich in dieses Kommunikationssystem zu fügen, und er verweigert Melchiors Erklärungsangebot: »Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn du mir einen Gefallen thun willst, dann gieb [sic!] mir deine Unterweisungen schriftlich.« (FE, 267) War Moritz’ Sprache bis zu diesem Moment ähnlich gehemmt wie die von Frau Bergmann – das verdeutlichen Ellipsen und Auslassungszeichen –, so läuft der dramatische Dialog hier endgültig leer : Die Verschriftlichung des sexuellen Wissens nimmt der Szene ihre Dramatik und dem Zuschauer das voyeuristische Vergnügen an der Rede über die Lust, denn nur für die dargestellte Welt gilt es ja, wenn Melchior ermutigt: »Hier hört und sieht uns ja niemand.« (FE, 264) Die Grenzen zwischen den Geschlechtern verlaufen im Drama allerdings nicht eindeutig. Moritz gehört zu den Figuren, die die Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Eigenschaften systematisch unterlaufen (vgl. FE, 267, 279, 281 f.). Gleiches gilt für das homosexuelle Paar Hänschen und Ernst (vgl. III, 6), und auf weiblicher Seite für die Figur der Ilse, die aus der kleinbürgerlichen Idylle in die BohÀme-Existenz flüchtet (vgl. II, 7). Es sind diese Momente der Normsubversion, die dem Stück sein eigentlich dramatisches Potential verleihen. Die Pubertät und die Sprach- und Verhaltensrestriktionen, die mit ihr im Zusammenhang stehen, generieren Gegenräume der Subversion, aus denen das Drama seine Spannung gewinnt und die in krassem Gegensatz zu den kleinbürgerlichen Szenarien der Familien- und Schulepisoden stehen. Diese syntagmatische Fügung disparater Räume und Szenarien kommt einer Form der Wedekind’schen Dramaturgie nahe, die Ruth Florack als »Grotesk-Montage« bezeichnet hat: Zitat und Kontrafaktur kultureller Codes zu bieten, ein ›gespanntes Gleichgewicht‹ von ›Zerstörung und Erhaltung des Erwartungshorizontes‹, so dass der immanente Widerspruch bestehen bleibt: eben dies ist das Prinzip des Grotesken. In den Stücken des Sexual Circus [der Titel einer Monographie von Elizabeth Boa, die unter anderem Frühlings Erwachen behandelt, G.W.] entwickelt Wedekind nun eine Technik doppelter

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Verfremdung, die sich als eine Radikalisierung des Grotesken beschreiben lässt: als Verfremdung auf der Ebene einzelner Elemente (Figuren, Sprache, Handlung) und als Verfremdung auf der übergeordneten Ebene einer heterogenen Komposition. Solche Grotesk-Montage ist ein dekonstruktives Verfahren […]. Durch Überzeichnung und Kombination mit Unpassendem, Entgegengesetztem wird […] der herrschende Diskurs selbst aufgebrochen und in Frage gestellt. Es ist eine demonstrativ anti-illusionistische Technik, die Erkenntnis provoziert ohne jedes didaktische Lösungsangebot. Darin – und nicht so sehr in den längst modisch gewordenen ›Tabu‹-Themen liegt das eigentlich und immer noch Verstörende von Wedekinds Schock-Dramaturgie begründet.374

Mit Floracks Referenz auf den »herrschenden Diskurs« lässt sich die Ausgangsthese präzisieren: Es ist das Spiel mit den diskursiven Regeln des Gegenstandes der pubertären Sexualität, das die Form der Darstellung anleitet. Nimmt man das Verfahren der Groteske dabei ernst, so wird deutlich, dass in struktureller Hinsicht Parallelen zwischen der zeitgenössischen Konzeption der Pubertät und dem Darstellungsverfahren der Groteske bestehen. Über die Groteske schreibt Wolfgang Kayser : Das Groteske ist eine Struktur. Wir können ihr Wesen mit einer Wendung bezeichnen, die sich uns oft genug aufgedrängt hat: das Groteske ist die entfremdete Welt. […] Dazu gehört, daß, was uns vertraut und heimisch war, sich plötzlich als fremd und unheimlich enthüllt. Es ist unsere Welt, die sich verwandelt hat. Die Plötzlichkeit, die Überraschung, gehört wesentlich zum Grotesken. […] Zur Struktur des Grotesken gehört, daß die Kategorien unserer Weltorientierung versagen.375

Kaysers Darstellung des Grotesken als eines veränderten Wahrnehmungsmodus entspricht der Weise, wie die Pubertät in zeitgenössischen Studien begriffen wird, nämlich als eine Phase eines Generalumbaus neurologischer Strukturen und entsprechender Orientierungslosigkeit des Pubertierenden.376 Das Skandalon des Dramas besteht dann darin, so wäre Floracks Analyse weiterzuentwickeln, dass Wedekind mit dem Verfahren der Grotesk-Montage eine irritierend neue Form der Darstellung wählt. Die Wissenstabus und Sprachreglements, der esoterische Diskurs, den die Erwachsenen auferlegen, bedingen die Genese dieses Verfahrens. Zum Ausdruck kommt es nicht nur am Beispiel der Figuren, 374 Ruth Florack: »Sexualdiskurs und Grotesk-Montage in ›Tod und Teufel‹ und ›Schloss Wetterstein‹«, in: Dreiseitel / VinÅon (Hg.): Kontinuität – Diskontinuität. 57 – 74, hier 65 f. 375 Wolfgang Kayser : »Versuch einer Wesensbestimmung des Grotesken«, in: Otto F. Best (Hg.): Das Groteske in der Dichtung. Darmstadt 1980. 40 – 49, hier 44 f., Hvbg. i. O. 376 Vgl. dazu nur Cramer: Pubertät und Schule. Leipzig / Berlin 1904 (Schriften des Ausschusses für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, H. 4); Martin Pappenheim, Carl Grosz: Die Neurosen und Psychosen des Pubertätsalters. Berlin 1914 (Zwanglose Abhandlungen aus den Grenzgebieten der Pädagogik und der Medizin); Julius Ziehen: »Pubertätsirresein«, in: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. Hg. von Wilhelm Rein. Bd. 7. Langensalza 1908. 134 – 35.

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welche die Genderzuschreibungen transzendieren. Noch deutlicher wird es, wenn man die Funktion betrachtet, die Literatur und Kunst im Zusammenhang mit sexuellen Erfahrungen zukommt. Der Drang danach, das vorenthaltene Wissen zu erlangen, führt wie dargestellt zu seiner subversiven Aneignung. Fündig werden die Kinder dabei weniger in der Gebrauchsliteratur – es sei an Moritz’ Scheitern am Konversationslexikon erinnert – als in der Kunst. Es ist in erster Linie Goethes Faust, der dabei geradezu als literarisches Aufklärungswerk fungiert. Melchior und Moritz lesen ihn gemeinsam und sind »gerade in der Walpurgisnacht« (FE, 280), als Frau Gabor, Melchiors Mutter, die Jungen unterbricht und sie darauf hinweist, »daß auch das Beste nachtheilig wirken kann, wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen.« (ebd.) Die Jungen tun ihre Sorge um die Wirkung der Gretchenszene ab, hätten sie sich doch »kaltblütig darüber hinweggesetzt« (FE, 281). Melchior hält fest: Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht in dieser Schändlichkeit! – Faust könnte dem Mädchen die Heirath versprochen, könnte es daraufhin verlassen haben, er wäre in meinen Augen um kein Haar weniger strafbar. Gretchen könnte ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. – Sieht man wie Jeder [sic!] darauf immer gleich krampfhaft die Blicke richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe sich um P… und K…! (Ebd.)

Der Faust-Intertext antizipiert tatsächlich den Geschlechtsverkehr zwischen Wendla und Melchior und die resultierende uneheliche Schwangerschaft Wendlas. Obgleich Melchior später von Gewissensbissen geplagt wird, fungiert die Literatur für den Akt selbst doch als eine Art Handlungsanweisung, als eine Form literarischer Initiation, auch und gerade, was die »Kaltblütigkeit« der unehelichen Zeugung betrifft. Das Drama verbindet hier ein im bürgerlichen Verständnis lasterhaftes Geschehen – den ›frühreifen‹ und außerehelichen Geschlechtsverkehr – mit kanonischem Bildungsgut. Die syntagmatische Fügung des literarischen Klassikers mit einem Geschehen, dem höchstens die Sensationspresse angemessen wäre, ist eine Manifestation des beobachteten grotesken Verfahrens. Wedekind belässt es allerdings nicht bei der Fügung gegensätzlichen Materials, sondern potenziert mit Melchiors Wiederholung des Faust-Szenarios die groteske Wechselwirkung noch.377 Erkennbar wird das Verfahren der Grotesk-Montage auch in der Szene, in welcher der Mitschüler Hänschen Rilow auf der Toilette onaniert und sich zur Steigerung seiner Erregung bildungsbürgerlicher Kunst bedient (II, 3). Wie aus seinem Monolog deutlich wird, vollzieht er ein Ritual, wenn er zunächst zu Reproduktionen berühmter Frauenakte ona377 Der Verknüpfung kommt auch eine pragmatische Dimension zu: Mit der Referenz auf den Faust reiht Wedekind sein eigenes, höchst umstrittenes Werk in eine bildungsbürgerlich sanktionierte Tradition ein.

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niert, um sie dann die Toilette hinunterzuspülen. Auch hier lässt sich von einer Form von männlicher Initiation sprechen: »[…] diese Ada, die ich Papa aus einem Geheimfach seines Sekretärs entführen mußte […]; eine zitternde, zuckende Leda von Ma k a r t , die ich zufällig unter den Collegienheften meines Bruders fand […].« (Ebd., Hvbg. i. O.) Die Szene ist nicht nur hinsichtlich der grotesken Poetologie signifikant, sondern auch in ihrem ikonoklastischen Gestus. Die Kunstwerke, die klassisches mythologisches Bildungsgut zitieren, werden hier gleichsam zerschmettert. Hänschen entsublimiert die Bilder, wenn er sie zunächst zur sexuellen Befriedigung verwendet und dann, körperlichem Exkrement gleich, die Toilette hinunterspült und so auf den Bereich basaler Triebe reduziert Schließlich sind auch die auffälligen und rekurrenten Märchenmotive in das groteske Verfahren einzuordnen: Frau Bergmann etwa speist Wendlas Neugierde mit dem Rekurs auf das Storchenmärchen ab, und leitmotivisch taucht im Drama immer wieder die kopflose Königin aus dem Märchen von Moritz’ Großmutter auf. Das Drama rekurriert jedoch auch formal auf Topoi des Märchens, was insbesondere für die Zusammentreffen Melchiors und Wendlas gilt. Ihre erste Begegnung findet im Wald statt und ist von einem für das Märchen charakteristischen Verlust von zeitlicher und räumlicher Orientierung gekennzeichnet (vgl. FE, 274). Melchior gibt an, sie für eine Dryade gehalten zu haben, Wendla berichtet von ihren Träumen und dem Verlust des Zeitgefühls (ebd.). Sexuelle Kontakte – Wendla bittet Melchior, sie auf die Beine zu schlagen378 – finden fast ausnahmslos in solch raumzeitlicher Abgrenzung statt.379 Wenn Sexualität in Frühlings Erwachen verhandelt oder praktiziert wird, so lässt sich also stets eine Art ästhetischer Überschuss ausmachen. Dieser besteht entweder in intertextuellen beziehungsweise intermedialen Zitaten, die die Kunst gewissermaßen zur Handlangerin der Sexualität werden lassen – im Übrigen ein Phänomen, das auch nicht-literarische Sexualitätsdiskurse beobachten380 – oder in ästhetischen Verfahrensweisen wie in der wiederholten Verwendung von Märchentopoi.

378 Die Schläge auf die Beine sind ein rekurrentes Motiv in Wedekinds Werk (man denke an Mine-Haha oder Lulu). 379 Vgl. für dieses Argument auch die Szene des Geschlechtsverkehrs auf dem Heuboden (II, 4) und die homosexuelle Szene im Weinberg (III, 6). 380 Ein Breslauer Medizinprofessor empfiehlt nicht nur, Bibeln aus den Klassenzimmern zu verbannen, weil Schüler »die auf geschlechtliche Verhältnisse Bezug nehmenden Stellen« zur Onanie verwendeten. Auch rät er von sämtlichen bildungsbürgerlichen Aktivitäten ab: »Aus dem Munde stark onanirender [sic!] Schüler weiß ich, daß sie in dem Alter der beginnenden Pubertät besonders erregt wurden durch den Besuch von Bildergalerieen [sic!], von Statuenmuseen, von Balletten, selbst von Kinderbällen, und daß nach dem Besuche derselben trotz der besten Vorsätze der Trieb zur Onanie immer wieder mit un-

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Die Verbindung von scheinbar Entgegengesetztem – hier von ›ordinärer‹ Sexualität und hoher Kunst –, die als Gestaltungsverfahren der Groteske bezeichnet wurde, irritiert geläufige Modi der Wahrnehmung und Interpretation. Die pubertäre Beschäftigung mit der Sexualität wird auf diese Weise verfahrensförmig als die groteske Montage heterogener Elemente übersetzt. Dieses Verfahren wiederum hat Konsequenzen für den Umgang mit Kunstwerken, wie das Drama ihn darstellt. Der Faust wird zur Handlungsanweisung, Hänschen Rilow wird zum Ikonoklasten stilisiert: Wenn er die Kunstwerke die Toilette hinunterspült, kommt dieser Handlung ein anarchisches, ja direkt humorvolles Element zu, das im Gegensatz zu der bislang betont betroffenen Lesart steht, mit der man dem Stück begegnet ist. Entsprechend dieses optimistischen Gestus darf auch der zweite Teil nicht nur im Hinblick auf die tragischen Ereignisse – den Tod von Wendla und Moritz – gelesen werden. Wedekind lässt die »Kindertragödie« vielmehr mit Betonung ihrer vitalistischen Dimension enden. Moritz’ Tod und dessen Vorgeschichte nehmen noch einmal auf die Überbürdungsgeschichten Bezug. Moritz erschießt sich, nachdem die geplante Flucht nach Amerika scheitert. Die Motive des Selbstmords werden bewusst ambivalent gehalten, wenn auch die Verzweiflung über schulisches Versagen naheliegt. In der Szene vor dem Selbstmord reagiert Frau Gabor auf einen Brief von Moritz, in dem er sie unter der Androhung, andernfalls Selbstmord zu begehen, um die Finanzierung einer Überfahrt nach Amerika bittet. »[B]efremdet« (FE, 289) diagnostiziert Frau Gabor Überbürdungserscheinungen und ermuntert ihn, sein Glück nicht von Schulnoten abhängig zu machen. Auffällig ist hier die rekurrente Kopf-Metaphorik: Sie rät ihm, nicht »den Kopf zu verlieren« (FE, 288) und ermuntert: »Und somit Kopf hoch, Herr Stiefel!« (FE, 289) Erneut wird Moritz als unmännlich dargestellt, wenn er zur angemessenen Verwendung des im Text paradigmatisch maskulin, weil rational markierten Organs, auf weibliche Instruktion angewiesen ist. Es ist bezeichnend, dass Moritz Selbstmord durch einen Kopfschuss begeht: »Sein Hirn hing in den Weiden umher.« (FE, 304) Wenn Männlichkeit in Wedekinds Drama in deutlicher Weise mit dem Kopf in Verbindung gebracht wird, so lässt sich Moritz’ Selbstmord gleichzeitig als symbolische Kastration deuten. Das Lehrerkollegium, alarmiert von diesem Vorfall, ahndet als Ursache des Selbstmordes Melchiors Schrift über den Geschlechtsverkehr. Die Szene im Konferenzzimmer ist wohl mit die zynischste des Stückes. Sie stellt die Lehrer – mit den sprechenden Namen Affenschmalz, Knüppeldick oder Knochenbruch – als weltfremde, oberflächliche und ignorante Vertreter der Paragraphenordnung dar, deren missgebildete und autoritäre Sprache jede Möglichkeit zur Komwiderstehlicher Kraft ausbrach.« Hermann Cohn: Was kann die Schule gegen die Masturbation der Kinder thun? Berlin 1894. 27.

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munikation im Keim erstickt. Dass sich die Unterhaltung bald um die mangelhafte Belüftung des Zimmers dreht und in Streitereien mündet, unterstreicht noch den Mangel persönlicher Betroffenheit in Anbetracht des Selbstmordes. Wenngleich die Institution der Schule in Frühlings Erwachen vergleichsweise wenig Raum einnimmt, so wird am Beispiel der Konferenz der geschilderte Konflikt noch einmal in aller Deutlichkeit betont. Melchior wird vorgeladen, und der Rektor berichtet von dem Fund […] eines Schriftstückes, welches, ohne noch die verabscheuungswürdige Unthat an sich verständlich zu machen, für die dabei maßgebend gewesene moralische Zerrüttung des Unthäters eine leider nur allzu ausreichende Erklärung liefert. Es handelt sich um eine in Gesprächsform abgefaßte, ›D e r B e i s c h l a f ‹ betitelte, mit lebensgroßen Abbildungen versehene, von den schamlosesten Unfläthereien strotzende, zwanzig Seiten lange Abhandlung, die den geschraubtesten Anforderungen, die ein verworfener Lüstling an eine unzüchtige Lektüre zu stellen vermöchte, entsprechen dürfte. – (FE, 299. Hvbg. i. O.)

Worauf es hier ankommt, ist weniger die schulmännische Suade als vielmehr die Charakterisierung der Schrift als Schundliteratur. Moritz wird damit zu einem Opfer obszöner Literatur stilisiert, die – ganz im Duktus der Lesesuchtkritik – die geistige Grundlage für die lasterhafte Tat zu liefern scheint. Die Lektüre wird zur eigentlichen Ursache der befürchteten »Selbstmord-Epidemie« (FE, 297), wie Sybille Schönborn gezeigt hat: Darum macht auch die Professorenkonferenz dem jungen Autor den Prozess, weil sie an die Wirkung von Literatur […] glaubt, indem sie Melchior und damit seinen Autor, auf die Selbstmordepidemie als ein neues Wertherfieber in den Schulen anspielend, zum kleinen Goethe erhebt.381

Wie im Fall des Faust und der bildenden Kunst fürchten die Lehrer die handlungsfunktionale Rolle von Literatur und Kunst.382 Die Passage kennzeichnet Melchior aber auch als die schriftstellerische Freundesfigur, die in den Überbürdungsgeschichten nur am Rande auftaucht. Die Schlussszene stellt die beiden Freundesfiguren und die mit ihnen verbundenen ›biographischen Optionen‹ Leben und Tod noch einmal ins Zentrum der Handlung. Melchior wird, nachdem seine Eltern nicht nur von der Aufklärungsschrift in Kenntnis gesetzt wurden, sondern überdies von Wendlas Schwangerschaft er381 Schönborn: Die Königin ohne Kopf, 565. 382 In dieser Lesart lässt sich die Passage auch als metadramatische Vorwegnahme von Wedekinds Schicksal mit Frühlings Erwachen begreifen: Ein Autor wird von der Staatsgewalt für ein vermeintlich unzüchtiges Werk zur Verantwortung gezogen. Dazu passt auch Melchiors Selbstverteidigung: »Ich habe nicht mehr und nicht weniger geschrieben, als was eine Ihnen sehr wohl bekannte Thatsache ist!« (FE, 301) Die Passage potenziert die Frage nach der Wirkung von Literatur, indem sie sie nicht nur textintern verhandelt, sondern darüber hinaus die Wirkung des Stückes im Literaturmarkt thematisiert.

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fahren, in eine Korrektionsanstalt gebracht, aus der er allerdings schnell wieder flüchtet. Die nicht unriskante Flucht kommt einem artistischen Kunststück gleich, wenn Melchior betont: »Brech ich den Hals, ist es gut! Komme ich davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen.« (FE, 309) Bereits diese Haltung markiert Melchior – es sei an Grubers Kletterakt in Rilkes Erzählung erinnert – als Figur, die das Leben im Sinne Nietzsches zwar riskiert, aber gerade dadurch auch bejaht. Wendla ist in der Zwischenzeit an den Folgen eines Abtreibungsversuchs der Mutter Schmidtin gestorben. Der tote Moritz erscheint Melchior nach dessen Flucht auf dem Friedhof und versucht, ihn zum Selbstmord zu überreden (III, 7). Bevor Melchior allerdings auf das Angebot eingehen kann, tritt der vermummte Herr auf, der ihn vor dem personifizierten Tod rettet und zum Leben verführt: »Ich gebe dir Gelegenheit, deinen Horizont in der fabelhaftesten Weise zu erweitern. Ich mache dich ausnahmslos mit allem bekannt, was die Welt Interessantes bietet.« (FE, 320) Über das Wesen des vermummten Herrn hat nicht nur Melchior spekuliert; die Forschung tendiert dazu, ihn als die Verkörperung des vitalistischen Prinzips zu verstehen. Dafür spricht nicht zuletzt die Argumentation, mit welcher der vermummte Herr Melchiors Sinnkrise auf Fragen des Stoffwechsels reduziert – wiederum in einer grotesk zu nennenden Fügung disparater Elemente: »Deine momentane Fassungslosigkeit entspringt deiner miserablen Lage. Mit einem warmen Abendessen im Bauch spottest du ihrer.« (FE, 319) Neben der Funktion des vermummten Herrn für die Rettung Melchiors und das insofern nur begrenzt tragische Ende des Dramas scheint der Figur außerdem eine poetologische Bedeutung zuzukommen. Auf Melchiors Frage nach dessen Moralbegriff antwortet der vermummte Herr : »Unter Moral verstehe ich das reelle Produkt zweier imaginärer Größen. Die imaginären Größen sind S o l l e n und Wo l l e n . Das Product heißt Moral und läßt sich in seiner Realität nicht leugnen.« (FE, 321, Hvbg. i. O.) Es ist auffällig, dass hier die aus den vorherigen Schultexten bekannte Größe des Voluntarismus wieder auftaucht – allerdings bezeichnender Weise nicht mit Referenz auf Willensschwäche, sondern in einer neuartigen Diskrepanz, die dem Willen eine äußere Norm, das »Sollen«, entgegensetzt. Das Drama lässt sich vor diesem Hintergrund als die literarische Ausgestaltung dieses Konflikts verstehen. Durch die Normierung der Sprache und des Wissens entstehen einerseits Sprach- und Kommunikationsbarrieren, die die dramatische Form in Frage stellen. Andererseits bleibt der Text nicht in dieser Negation verhaftet, sondern generieren die Tabus eine Poetik der Subversion, die sich in Form der Groteske manifestiert. Am Beispiel der Verwendung bürgerlichen Bildungsguts zur Onanie und der Parallelisierung der Faust-Handlung mit der Beziehung zwischen Wendla und Melchior wurde dies bereits verdeutlicht. Es ließen sich weitere Elemente des Grotesken finden, an-

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gefangen beim Titel383 und endend bei Moritz’ lächelnder Leiche.384 Mit dieser Verbindung von Sprachnormierung einerseits, ihrer grotesken Subversion andererseits nimmt Wedekind bereits vor der Jahrhundertwende Elemente des Expressionismus vorweg, wie unter anderem Peter Jelavich beobachtet hat.385 Das Sollen generiert ästhetisch produktive Umwege: Ebenso wie sich die Protagonisten den Normen verweigern, provoziert Wedekind die Normen des bürgerlichen Publikums des fin de siÀcle, indem er neue Formen des Ausdrucks für bislang Unsagbares findet. Frühlings Erwachen zeigt also einen neuen Modus, das Sujet der Schul- und Erziehungskrise zu bearbeiten. Dem Gegenstand der sexuellen Entwicklung in der Pubertät entspricht dabei als neuartiges poetologisches Verfahren die Groteske. Das Drama steht insofern in deutlichem Kontrast zu den Überbürdungsgeschichten, so gern es auch als Teil dieses Korpus gelesen wird. Es muss demgegenüber, viel stärker als bislang angenommen, in seiner heiteren Dimension betrachtet werden, die das Prinzip der ›Grotesk-Montage‹ auf formaler, aber auch auf inhaltlicher Ebene geradezu zelebriert: Aus dieser Perspektive dominiert nicht der anklagende Ton – der bei der Darstellung einiger Figuren, insbesondere Wendlas und Moritz’, nicht ignoriert werden kann –, sondern vielmehr die subversive Haltung solcher Figuren wie Hänschen, Ilse oder Melchior. Diese Lesart unterstreicht nicht zuletzt der Schluss des Dramas, in dem der vermummte Herr Melchior zum Abendessen und damit zum Leben verführt. Er stellt so dem bis dahin üblichen tragischen Ende der Schultexte eine Perspektive entgegen, die nicht nur optimistisch ist, sondern in der die Sinnkrise auf den Stoffwechsel reduzierenden Komik noch einmal deutlich den Anspruch des Autors ausstellt, den Humor in keiner Szene des Stückes zu verlieren.

383 Frühlings Erwachen war auch der Titel eines im ausgehenden 19. Jahrhundert populären Klavierstücks von Carl Philipp Emanuel Bach (1714 – 1788), »das in seiner harmonischen Gefälligkeit zu einem der beliebtesten Salonstücke zählte«. Mathias Baum, Rolf Kieser : Kommentar zu ›Frühlings Erwachen‹, in: Frank Wedekind. Werke. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. von Mathias Baum und Rolf Kieser. Bd. 2. Darmstadt 2000. 763 – 995, hier 823. 384 Der Schlusssatz des Dramas verbindet noch einmal auf groteske Weise Tod und Heiterkeit, wenn Moritz sagt: »So kehre ich denn zu meinem Plätzchen zurück, richte mein Kreuz auf, […] und wenn alles in Ordnung, leg ich mich wieder auf den Rücken, wärme mich an der Verwesung und lächle…« (FE, 322) 385 Vgl. Jelavich: Wedekind’s ›Spring Awakening‹, 136. Vgl. zu dieser Argumentation auch Paul Böckmann, der Wedekind als Wegbereiter des Expressionismus versteht: Böckmann: Die komödiantischen Grotesken, 238. Zu den schulliterarischen Texten des Expressionismus vgl. Kapitel IV.

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Über die ästhetische Erziehung der Mädchen: Körperartistik als Lebenskunst in ›Mine-Haha‹

Zwischen seinem frühen Drama und Mine-Haha, einem der wenigen Prosatexte seines Œuvres, hat Wedekind selbst explizite Verbindungen hergestellt. Die thematischen Parallelen sind offensichtlich: In beiden Texten geht es um Fragen der körperlichen Entwicklung, der Sexualität und der Auseinandersetzung damit im Rahmen eines Erziehungskonzepts. Andererseits verhandelt der Text, der erstmals im Jahr 1901 in der Zeitschrift Insel veröffentlicht wurde, diese Fragen im Vergleich mit dem Drama auf eine weitaus radikalere Weise und unter weitgehendem Verzicht auf die Möglichkeit einer schlichten sozialgeschichtlichen Bezugnahme. Der Erzähltext setzt sich aus Rahmen- und Binnenhandlung zusammen. In der Rahmenhandlung berichtet der fingierte Herausgeber der Binnenhandlung, der dort durch einen Verweis auf Frühlings Erwachen mit dem Autor identisch zu sein vorgibt, von dem Selbstmord einer Nachbarin. Diese habe ihm zuvor ein Manuskript übergeben, das er im Folgenden veröffentlicht. Es beinhaltet den Bericht über ihre Kindheit und frühe Jugend bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr, die sie in einer nicht näher bezeichneten Anstalt verbringt. Gegenstand der Erziehung ist allein die körperliche Ausbildung, die sich in mehreren Stadien vollzieht und die perfekte Ausführung von Geh-, Lauf- und Springbewegungen anstrebt. Ziel der Erziehung zur körperlichen Vollkommenheit ist das Mitwirken in den erotischen Theateraufführungen der Parkanstalt, durch die sich diese finanziert. Zu diesem Zweck erziehen die älteren Schülerinnen die jüngeren – im Alter von sieben Jahren erfolgt die Geschlechtertrennung, der Text verfolgt dann nur die weibliche Erziehung –, bis diese selbst im Theater auftreten dürfen. Mit Eintritt der Menstruation ist den jungen Frauen der Auftritt untersagt, und sie müssen den Park verlassen. Das Fragment endet abrupt mit dem Austritt der Frauen aus dem Park in die ›reale‹ Welt, in der sie mit Männern zusammengeführt werden. Die Unterschiede zu den bislang behandelten Texten sind augenscheinlich. Erstens ist dies der erste Text, der eine – wenn auch dystopische – rein weibliche Erziehungskonstellation schildert. Zweitens findet diese Erziehung ausschließlich innerhalb der jugendlichen Gemeinschaft statt, Erwachsene kommen – mit wenigen Ausnahmen – nicht vor. Früh müssen die Kinder selbst Erziehungsverantwortung übernehmen, im Alter von fünf Jahren werden ihnen Säuglinge zur Pflege anvertraut, und sie bleiben bis zu ihrem Austritt aus dem Park gleichzeitig in der Rolle der Erzieherin und des Zöglings. Drittens schildert der Text eine Situation, die zu der regulären Form schulischer Ausbildung in krassem Gegensatz steht: In geradezu parodistisch zu nennender Distanz zu dem Narrativ der intellektuellen Überbürdung beschreibt der vorliegende Text ein

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Szenario der perfektionistischen Abrichtung des Körpers. Die Ausbildung des Verstandes verkümmert demgegenüber, wie die Erzählerin selbst mehrfach betont. Viertens und daran anschließend scheint der Bezug zu einer ›realweltlichen‹ Erziehungspraxis vollkommen zu fehlen. Den werkgeschichtlichen Hintergrund von Mine-Haha bildet das Projekt der Großen Liebe. Mit diesem Fragment gebliebenen Roman beschäftigte sich Wedekind etwa 24 Jahre lang. Neben Mine-Haha stehen auch weitere Werke im Zusammenhang mit der nie realisierten erotischen Mythologie. Für den vorliegenden Text ist dieser Hintergrund von großer Bedeutung, weil er den pädagogischen Entwurf Mine-Haha in den Kontext einer neuen Gesellschaftsordnung stellt und damit Elemente einer politischen Pädagogik vorwegnimmt, wie sie eigentlich erst spätere Texte entwickeln.386 Artur Kutscher hat Wedekinds Beschäftigung mit diesem Projekt als erster aus dessen Notizbüchern zu rekonstruieren versucht. Er entnimmt ihnen eine disparate Sammlung heterogener Quellen, in erster Linie aus der griechischen Philosophie und Mythologie, aus den Kulten »orientalischer, klassischer und germanischer Völker«387. Das pädagogische Szenario in Mine-Haha wird auf diese Weise erkennbar als die Grundlage einer neuen, totalitären, auf eugenischer Auslese basierenden und an ästhetischen Gesichtspunkten ausgerichteten Staatsordnung, die nicht zuletzt von der »Unzulänglichkeit der Demokratie«388 ausgeht. Über die Organisation dieser Staatsordnung lassen die Notizbücher389 und weitere Fragmente – etwa der Entwurf einer »neuen Gesellschaftsordnung, basirend [sic!] auf der freien Liebe«, den Wedekind im Prosastück Eden (1890/92) formuliert – stichwortartige Rückschlüsse zu. Das Eden-Fragment schildert eine auf Sexualriten und -opfern beruhende Staatsordnung. Sie gründet sich auf kultische Feiern der Fortpflanzung und ist in zyklischem Rhythmus auf Menschenopfer angewiesen, die nach Erschöpfung durch tagelange öffentliche Vergewaltigung Selbstmord

386 Vgl. Kapitel IV.3 und den Schluss dieser Arbeit. Insofern überrascht nicht die positive Besprechung, die Leo Trockij zu Mine-Haha verfasst hat. Er ignorierte die utopischen Markierungen des Textes und beurteilte das Dargestellte demgegenüber als Entwurf moderner Erziehung, in der er »sozialistische[] Erziehungsgrundsätze« verkündet sah. Leo Trockij: »Frank Wedekind«, in: Ders.: Literatur und Revolution. Nach d. russ. EA übersetzt von Eugen Schaefer. Berlin 1968. 376 – 87, hier 379. 387 Artur Kutscher : Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke. New York 1970. 144. Eine Auflistung der Quellen, die Wedekind für dieses Projekt gesichtet hatte, findet sich ebd., 144 f. Systematisch hat später Thomas Medicus das Projekt der Großen Liebe rekonstruiert: Thomas Medicus: Die große Liebe. Ökonomie und Konstruktion der Körper im Werk von Frank Wedekind. Marburg / Lahn 1982. 388 Kutscher : Frank Wedekind, 148. 389 In den Notizbüchern listet Wedekind verschiedene Stadien auf, welche die Protagonistin von Mine-Haha durchläuft. Sie machen die Staatsordnung kenntlich als eine, die auf kultischen Ritualen gründet. Vgl. ebd., 132 f.

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begehen oder ermordet werden.390 Hier listet Wedekind auch die Institutionen der Gebäranstalt, der Anstalt für kleine Kinder, der Erziehungsanstalt für Knaben, der Mädchenerziehungsheime sowie des Tempels auf. Tatsächlich hat er nur die Mädchenerziehungsanstalt ausführlich ausgearbeitet. Warum das Werk nicht vollendet wurde, darüber kann nur spekuliert werden. Fest steht, dass Wedekind mit großem Ernst und akribischer Systematik daran arbeitete391 und dass ihn das Thema der Körperästhetik auch privat, nicht zuletzt in seiner Rolle als Vater und Erzieher interessierte. Kutscher weiß zu berichten, dass Wedekind selbst »Nacktkultur und Gymnastik«392 betrieb und etwa in seinem Arbeitszimmer »bis zuletzt eine hölzerne Kugel von 12 m Durchmesser sowie eine breite Trommel« zu finden waren, »mit denen er und Frau und Kinder Gleichgewichtsund Laufübungen vornahmen.«393 Dass die Beschäftigung mit der Körpererziehung bisweilen obsessive Ausmaße annahm, zeigen die Tagebücher-Einträge, in denen Wedekind bereits vor den Geburten seiner beiden Töchter Phantasmen der Tochtererziehung entwickelte, in denen er sich als sexueller Lehrmeister imaginierte.394 Dieser Kontext gibt einen Eindruck von der fragmentarischen Entstehungsgeschichte des Textes, deren Rahmenhandlung der Verfasser erst Jahre später hinzufügte.395 Das heterogene Bild steigert sich noch, wenn man die diversen intertextuellen Bezüge zu seinen anderen Werken berücksichtigt. Der Name, den die Verfasserin der Binnenhandlung in der Erziehungsanstalt trägt – Hidalla396 – taucht wiederum im Titel des späteren Dramas Hidalla oder Karl Hetman, der Zwergriese auf, das eugenische Züchtungsphantasien behandelt. Wenngleich die Referenz des Titels »Mine-Haha« im Text selber nicht weiter ausgeführt wird, findet sich in dem Drama Sonnenspektrum eine Figur mit eben diesem Namen.397 Und schließlich stellt die Herausgeberfiktion einen ausdrücklichen 390 Vgl. die Rekonstruktion des bislang unpublizierten Fragments in Hartmut VinÅon: »Inszenierung der Sexualität. Zur Verwissenschaftlichung des Sexualdiskurses im 19. Jahrhundert am Beispiel von Frank Wedekinds ›Eden‹-Konzept«, in: Matthias Luserke-Jacqui (Hg.): ›Alle Welt ist medial geworden‹. Literatur, Technik, Naturwissenschaft in der Klassischen Moderne. Tübingen 2005. 260 – 92. 391 Vgl. Kutscher : Frank Wedekind, 121 f. 392 Ebd., 130. 393 Ebd., 131. 394 Vgl. nur Johannes G. Pankau: »Prostitution, Tochtererziehung und männlicher Blick«, in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Frank Wedekind. Würzburg 2001 (Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 20), 19 – 54, hier 39 ff. 395 Vgl. Sigrid Dreiseitel / Hartmut VinÅon: »Vorwort«, in: Dies. (Hg.): Kontinuität – Diskontinuität, 9 – 21, hier 14. 396 Der Name ist wiederum einer männlichen Figur aus dem Ossian entnommen, was die Androgynität der Hauptfigur zum Ausdruck bringt. 397 Wie Ortrud Gutjahr ermittelt hat, entstammt der Name einem indianischen Versepos, das die Geschichte des historisch verbürgten Indianerhäuptlings Hiawatha und seiner Ge-

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Bezug zu Frühlings Erwachen her, wenn der Herausgeber von der verstorbenen Verfasserin berichtet: »Sie sagte, sie habe kürzlich ein Buch von mir ›Frühlings Erwachen‹ gelesen; ob ich ihr erlauben wolle, mir etwas Ähnliches, das sie selber einmal vor langen Jahren niedergeschrieben, zur Einsicht zu geben.«398 Der Text legt dadurch selbst eine Verwandtschaft zu Wedekinds früherem Drama nahe. Auffällig ist darüber hinaus, dass die Texte sich nicht nur paradigmatisch aufeinander beziehen, sondern auch in eine syntagmatische Relation bringen lassen. Frühlings Erwachen schreibt Mine-Haha einerseits insofern fort, als das Drama mit dem 14. Geburtstag Wendlas beginnt – das Alter, in dem der Bericht der Erzählerin in Mine-Haha abbricht. Die Forschung hat sich von Anfang an schwer getan mit dem enigmatischen Text. »Wie das Werk dasteht, macht es einen höchst schrullenhaften und ziemlich nichtigen Eindruck«399, konstatiert Kutscher. Auch in späteren Kritiken überwiegt die Unsicherheit darüber, wie das Werk gattungstypologisch und thematisch einzuordnen sei.400 Arbeiten zur Schulliteratur übergehen Wedekinds Romanfragment meist. Über die Ursachen kann nur spekuliert werden – eine mag darin liegen, dass sich der Text einer Lektüre hinsichtlich biographischer oder bildungshistorischer Zusammenhänge sperrt. Das macht ihn jedoch für die Frage nach fiktionalen Konzeptionen von Erziehungsinstitutionen um 1900 keinesfalls weniger interessant – im Gegenteil. Die These der folgenden Überlegungen ist, dass Wedekind hier nicht nur die von den Kindern in Frühlings Erwachen formulierten Erziehungsutopien umsetzt.401 Darüber hinaus entwirft er in Mine-Haha eine Pädagogik des ästhetischen Körpers. Seine Be-

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liebten Minnehaha erzählt, die ihren Namen – »lachendes Wasser« – in Anlehnung an den Klang des Wasserfalls Minnehaha erhalten hat. Darüber hinaus trat Wedekind im Winter 1895/96 in der Schweiz unter dem Namen Cornelius Mine-Haha auf. Vgl. Ortrud Gutjahr : »Mit den Hüften denken lernen? Körperrituale und Kulturordnung in Frank Wedekinds ›Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen‹«, in: Dreiseitel / VinÅon (Hg.): Kontinuität – Diskontinuität. 33 – 56, hier 53. Frank Wedekind: Mine-Haha, oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1. München / Leipzig 1912. 319 – 81, hier 319 f. Die Erzählung Mine-Haha ist in dem noch nicht erschienenen fünften Band der Darmstädter Kritischen Studienausgabe enthalten, weshalb hier auf die Fassung der Ausgabe letzter Hand von 1912 f. zurückgegriffen wird. Im Folgenden Siglenangaben. Kutscher : Frank Wedekind, 130. Vgl. Gutjahr : Mit den Hüften denken lernen, 34 f. Gutjahr macht mindestens sechs verschiedene Gattungsformen aus, auf die Mine-Haha anspielt, die der Text aber gleichzeitig auch unterläuft. Vgl. ebd., 36 f. Für einen aktuellen Überblick über die Forschung zu MineHaha vgl. Katrin Hafemann: Schamlose Tänze. Bewegungs-Szenen in Frank Wedekinds Lulu-Doppeltragödie und Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen, Würzburg 2010 (Epistemata, Bd. 676). 63 – 66. Dies gilt insbesondere für Moritz’ Programm der Erziehung zur Schamlosigkeit, wie Ortrud Gutjahr gezeigt hat. Mine-Haha setzt ein Erziehungsmodell in Szene, das die Geschlechter so gleich behandelt und in Unwissenheit hält, dass Fragen der körperlichen Scham irrelevant werden. Vgl. dazu Gutjahr: Erziehung zur Schamlosigkeit, 101.

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geisterung für die elastische Körperlichkeit, die hier zur Perfektion getrieben wird, entwickelt er erstmals in dem Zeitungsartikel Zirkusgedanken, einem der beiden Aufsätze, in denen Wedekind sich mit dem Zirkus befasst.402 Dort erhebt er körperliche Elastizität zum Lebensprinzip: Und das ist eben die Eigenart, das Charakteristische, das geistig bildende Element des Zirkus. […] das maßgebende Prinzip der Manege ist die Elastizität, die plastischallegorische Darstellung einer Lebensweisheit, deren gerade wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts, […] am meisten bedürfen. Kühner, rasch entschlossener Anlauf im günstigsten Moment der Erregung; leichter, lachender Sprung; und wenn der Fuß die Erde berührt, eine gefällige Kniebeuge, dass man nicht auf die Nase fällt; fabelhafte Virtuosität im kleinen, um alle Welt in Staunen setzende Effekte zu erzielen – sollten das nicht zeitgemäße Devisen sein? Jeder von uns stürzt einmal zur Tiefe nieder. Wem aber dann die Elastizität im Fußgelenk fehlt, dem wird jene Ferse zur Archillesferse [sic!]; sie zerreißt, er bleibt liegen, und die wilde Jagd geht johlend und kläffend achtlos über ihn hinweg.403

Offenkundig ist dieser Text nicht nur von Wedekinds Zirkusbesuchen, sondern auch von seiner Zarathustra-Lektüre beeinflusst und an Nietzsche geschult.404 Das kommt in den auf diese Passage folgenden Überlegungen noch deutlicher zum Ausdruck. Wedekind vergleicht dort das körperliche Gleichgewicht einer Trapezkünstlerin mit dem der Seiltänzerin: Daraus ergibt sich nun bei jener die Innehaltung des Gleichgewichts als etwas Selbstverständliches, während diese, die Seiltänzerin, sich dasselbe jeden Augenblick von neuem erkämpfen muß. Sie werden nun selber begreifen, daß bei der Trapezkünstlerin der Aufenthalt hoch in der Luft Nebensache […], demnach nicht ein Teil ihrer Kunstleistung ist […]; wogegen die Dame auf dem Stahlband in ihrem gemessenen Tanz und dem anmutigen Spiel der Arme durchaus nur ornamentales Beiwerk zu ihrem überaus geschickten Balancieren liefert. Während die Trapezkünstlerin das Gleichgewicht nur dann verliert, wenn die Stricke reißen, stürzt die Seiltänzerin mit unerbittlicher Notwendigkeit in der ersten Sekunde, in der sie sich selbst vergißt.405 402 Die Zirkusaufsätze Zirkusgedanken, Im Zirkus sowie Im Zirkus II erschienen im Sommer 1887 in der Neuen Zürcher Zeitung und stehen im Zusammenhang mit den Aufführungen des Circus Herzog, die Wedekind besucht hatte. Vgl. dazu Hafemann: Schamlose Tänze, 27. Obwohl der Titel von Elizabeth Boas Monographie Sexual Circus eine Auseinandersetzung mit diesem Motiv nahelegt, versäumt sie es, diese Verbindung zu behandeln. 403 Frank Wedekind: Zirkusgedanken, in: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. von Erhart Weidl. Bd. 1. Düsseldorf / Zürich 1996. 352 – 69, hier 355 f. 404 Die sehr früh einsetzende Beschäftigung Wedekinds mit Nietzsches Philosophie, die ihm insbesondere Olga Plümacher nahebrachte, ist inzwischen mehrfach nachgewiesen. Vgl. nur Rolf Kieser : Benjamin Franklin Wedekind. Biographie einer Jugend. Zürich 1990. 251 f.; Ders.: »The opening of Pandora’s box: Frank Wedekind, Nietzsche, Freud and others«, in: Frank Wedekind Yearbook 40 (1991), 1 – 15, hier 5 f. Außerdem Stephan Riedlinger : Aneignungen. Frank Wedekinds Nietzsche-Rezeption. Marburg 2005. Zur Zarathustra-Lektüre vgl. auch Hafemann: Schamlose Tänze, 23 f. 405 Wedekind: Zirkusgedanken, 357 f.

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Wedekind überträgt diese Darstellung des körperlichen Gleichgewichts dann auf Fragen ethischer Lebensführung, auf die Differenz »[a]bstrakt-erhabener und real-praktischer«406 Ideale, und gibt in beiden Bereichen dem labilen Gleichgewicht und der resultierenden körperlichen Grazie der Balance den Vorzug, welche die Seiltänzerin vorführt. Auf Wedekinds Bemerkungen zum Zirkus wird noch zurückzukommen sein. In jedem Fall sollen die anschließenden Überlegungen verdeutlichen, dass es keineswegs sein Anliegen war, mit Mine-Haha auf bildungspolitische Missstände anzuspielen; den Text so zu lesen hieße, ihn grundsätzlich misszuverstehen.407 Vielmehr muss man ihn vor dem Hintergrund von Nietzsches Konzept der Kunst als Lebenskunst begreifen, die dieser im Zarathustra und in Menschliches, Allzumenschliches formuliert. Nietzsche definiert dort – im 174. Aphorismus, der mit »Gegen die Kunst der Kunstwerke« überschrieben ist – die ›Lebenskunst‹ als Reinigung von allen unschönen Zügen der menschlichen Natur : »Sodann soll die Kunst alles Hässliche verbergen oder umdeuten, jenes Peinliche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder, gemäß der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird […].«408 Diese Vorstellung überträgt sich bei Wedekind in eine von allen Defiziten bereinigte Konzeption des Körpers, die in Mine-Haha mit der vollkommenen elastischen Körperbeherrschung erreicht ist. Der Konzentration auf den schönen Körper entspricht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Rede. Ihren ambivalenten und fluktuierenden Charakter stellt schon die Rahmenhandlung durch das Problem der Zuschreibung von Autorschaft deutlich aus. Der fingierte Herausgeber wird durch die Referenz auf Frühlings Erwachen mit dem realen Autor gleichgesetzt; das ihm anvertraute Manuskript hat er insofern ergänzt, als er dem unverständlichen Titel MineHaha zur besseren Verständlichkeit den Untertitel beigefügt habe. An diesem Punkt wird die Autorschaft bereits fragwürdig; den Eindruck verstärkt der Namenswechsel der angeblichen Verfasserin. Hieß sie früher Hidalla, nennt sie sich in ihrem späteren Leben Helene Engel, ein Name, der mit der Symbiose der überirdisch schönen mythologischen Figur der Helena und der ebenfalls jenseitigen, androgynen Gestalt des Engels fiktionale Charaktere aufruft und das 406 Ebd., 363. 407 Auf dieses Missverständnis weist schon Kutscher hin: »Wedekind wollte hier keineswegs eine Satire auf den üblichen Erziehungsgang geben, wie Fechter in Unkenntnis der Gesamtanlage meint […], sondern diese Punkte erscheinen nur besonders roh in ihrer Isolierung, sie waren durchaus orgiastisch gemeint […].« Kutscher : Frank Wedekind, 131. 408 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. Bd. 1. 8. Aufl., München 1977. 804. Ob und wie intensiv Wedekind diesen Text rezipiert hat, ist weniger gut dokumentiert als seine Zarathustra-Lektüre; dass er durch seine intensive Nietzsche-Rezeption mit den Grundzügen dieser Argumentation zumindest vertraut war, kann aber vorausgesetzt werden.

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Zuschreibungsproblem verstärkt.409 Die Zurechnungsfähigkeit der Verfasserin wird auch dadurch infrage gestellt, dass der Herausgeber zu Beginn von »Anfällen von Angst, Verworrenheit und Exaltation« (MH, 319) berichtet, die ihrem Selbstmord voraus gegangen seien. Auch gesteht die Erzählerin die bewusste Manipulation des Stoffes ein: »Manchmal habe ich der Erinnerung ein wenig Zwang angetan, indem ich der Vollständigkeit wegen Dinge eingefügt, derer ich mich in der Tat erst aus der späteren Zeit entsinne.« (MH, 353) Die Rahmenhandlung unterläuft also mehrfach die Illusion einer kohärenten Erzählung. Sie enthält zudem ein Gespräch zwischen dem Herausgeber und Helene Engel, das Aufschluss über ihre bewegte Biographie gibt.410 Selbige nennt sie dann auch in den einleitenden Worten ihres Manuskripts als Motivation für die Niederschrift und in ausdrücklicher Abgrenzung von intellektuellen Frauen: Wenn ich mich dazu entschließe, in diesen Zeilen meine Lebensgeschichte niederzulegen, so geschieht es nicht, weil ich irgendwie den Beruf einer Schriftstellerin in mir fühle. Ich darf wohl sagen, daß mir nichts auf der Welt so verhaßt ist wie ein Blaustrumpf. […] Nur der Umstand, daß mein ganzes Leben so vollkommen verschieden war von demjenigen aller übrigen Frauen, kann mich dazu bewegen, das zu Papier zu bringen […]. (MH, 322)

Einmal mehr erscheint die Erzählerin hier als inkohärente Figur : Im Akt des Schreibens beharrt sie auf ihre Geringschätzung desselben. Bezeichnend ist dabei, dass diese Verachtung des Schreibens an ihr Geschlecht gekoppelt ist.411 Sie weist damit den Geschlechtern zwei semiotische Codes zu: Männern den abstrakt-verbalen, Frauen den körperlichen. Nichtsdestotrotz insistiert sie, indem sie ihr eigenes von dem Leben anderer Frauen abgrenzt, auf eine eigene Biographie, die der Aufzeichnung und Lektüre würdig ist. Damit stellt sie sich wiederum in die – maskuline – Tradition von Autobiographien und Bekenntnisliteratur. Obwohl ihr Lebensbericht Fragment bleibt, kann die Aussage der ›vollkommenen Verschiedenheit‹ insbesondere für die Phase ihrer Kindheit und frühen Jugend Gültigkeit beanspruchen. Der Leser wird ohne weitere Erklärungen in die Welt des Parks und die Praxis der ästhetischen Erziehung eingeführt. Die 409 Alfons Höger vermutet im Namen Helene Engel eine Anspielung auf die Frauenrechtlerin Helene Lange, die sich dafür einsetzte, dass Mädchen von Lehrerinnen erzogen wurden. Vgl. dazu Alfons Höger : Hetärismus und bürgerliche Gesellschaft im Frühwerk Frank Wedekinds. Kopenhagen / München 1981. 181. 410 Als Kind reicher Eltern geboren, verbrachte sie ihre Jugend in besagter Anstalt, heiratete mit siebzehn einen Offizier und bekam drei Kinder. Nachdem ihr Mann alkoholabhängig wurde, ging sie nach Amerika, arbeitete dort in verschiedenen Berufen und lebte im BohÀme-Milieu, bevor sie in Brasilien »Indianerkinder unterrichtete« (MH, 321) und dann, über den Tod ihres ersten Mannes im Krieg unterrichtet, nach Europa zurückkehrte. 411 Später wiederholt sich diese Stereotypie, wenn sie angibt, ihre Lebensgeschichte »für einen verständigen Leser oder eine hübsche Leserin zu schreiben […].« (MH, 322)

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Erinnerung der Erzählerin wird von dem Tag an zusammenhängend, da sie Schuhe trägt. An diesem Tag setzt auch der Unterricht ein. Die erzählte Identität steht also in enger Verbindung mit dem körperlichen Erziehungsprozess: Erst mit dessen Beginn findet narrative Sinnstiftung in Form einer sukzessiven Erzählung statt. Der Bericht des Gehen-Lernens im Alter von vier Jahren veranschaulicht die ästhetische Dressur besonders deutlich. Die einzelnen Abläufe des Gehens werden minutiös eingeübt (vgl. MH, 325), Unaufmerksamkeit oder Nachlässigkeit werden mit der Rute sanktioniert. Die Erzieherin Gertrud selbst geht vorbildlich und wird von der Erzählerin deswegen verehrt: »Sie selber war in dieser Beziehung ein wahres Muster. […] Man sah nur Formen. Und auch die Formen vergaß man beinahe über die Schönheit der Bewegung.« (MH, 327) Gertrud ist es also bereits gelungen, ihren Körper zum Kunstwerk umzugestalten. Ruft man sich Wedekinds Überlegungen zur Zirkuskunst in Erinnerung, so wird hier deutlich, dass es die perfekte Beherrschung ihrer anmutigen Körperbewegungen ist, die Gertrud als ein solches ausweist. Sie ist das Vorbild, das es nachzuahmen gilt. Bezeichnenderweise fühlt sich die Erzählerin später beim Anblick eines Pferdes an Gertrud erinnert: »Und doch […] war es das Hinterteil, was mich am meisten an Gertrud erinnerte. Sie hatte die nämliche einfache, ruhige Bewegung in den Hüften, diese ruhige sichere Kraft […]. Unwillkürlich dachte ich mir Gertruds Oberkörper über der mächtigen Croupe […].« (MH, 349) Der Vergleich mit dem Tier ruft Wedekinds Zirkusbemerkungen in Erinnerung. Dort treten Pferde in auffällig prominenter Weise in Erscheinung, ja sie werden gleichsam zum ästhetischen Leitbild stilisiert. In seinem zweiten Zirkusaufsatz, Im Zirkus, bringt Wedekind menschliche Erziehungsprozesse mit der Dressur eines Pferdes in Verbindung: Erst nach der Erziehung, auf dieser fußend, erfolgt die Dressur, die Abrichtung zum Spezialberufe, wie ja auch in höheren Verhältnissen so der Fall zu sein pflegt. Solange sich das Pferd in den Flegeljahren befindet, heißt es roh. Seine Erziehung ist gegründet auf Ausdauer und Konsequenz und wird unterstützt von Tadel und Strafen einerseits, von Lob und Belohnung andererseits.412

Wedekind vergleicht daraufhin die Erziehung und Kräftigung des Pferdekörpers mit der geistigen Entwicklung eines Jünglings.413 Entscheidend ist dabei die ästhetische Komponente bei der Ausprägung der Anatomie des Tieres: 412 Frank Wedekind: Im Zirkus. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. von Erhart Weidl. Bd. 1. Düsseldorf / Zürich 2000. 370 – 77, hier 372. 413 In diesem Zusammenhang ist die Etymologie des Begriffs der Schule aufschlussreich, die ursprünglich auch die Dressur von Pferden meinte: »auch sonst wird das wort auf abrichtung eines pferdes übertragen: ein pferd alle schulen machen lassen, es durch alle schulen führen, alle arten der abrichtung, reitarten.« Jacob und Wilhelm Grimm: »Schule«, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 9: Schiefeln – Seele. Hg. von dens.. München 1999. Fotomechan. ND nach der Erstausgabe 1899. Sp. 1927 – 37.

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Wie die Erziehung des Jünglings sowohl auf Kräftigung wie auf harmonische Ausbildung seines Geistes ausgeht, so bezweckt diejenige des jungen Pferdes die Entwicklung sämtlicher Körperkräfte und damit ein effektvolles, gleichmäßiges Hervortreten der einzelnen Formen, eine Veredlung der Erscheinung. Indem die Gliedmaßen entbunden, die Gelenke frei gemacht werden, beginnt ein dauernder Rhythmus, ein gewisses erhebendes Pathos das Tier zu durchdringen. […]. [Diese] Vervollkommnung […] bietet dem Ästhetiker einen Genuß, wie er ihm großartiger nur in der Region himmelanstrebender Berge, wie er ihm feiner nur in den Linien des menschlichen Körpers entgegentritt.414

Wedekind kritisiert aber im Folgenden in kulturkritischer Absicht die Unmöglichkeit, in ähnlich bewundernder Weise über den menschlichen Körper sprechen und schreiben zu dürfen: »Gegenüber der Schönheit eines Menschenkindes aber haben wir unsere Feder diskret und rücksichtsvoll hinters Ohr zu stecken […].«415 Man kann Mine-Haha vor der Folie von Wedekinds Reflexionen über den Zirkus als Versuch verstehen, eine solche Studie des ästhetischartistischen Menschenkörpers zu zeichnen, die gleichsam als seine Zelebrierung gemeint ist. Die Erziehung der Körper im Park wird auf diese Weise aber auch als eine Form der Dressur, anders gesagt: der Zirkuspädagogik, sichtbar. Denn die Konzentration auf den Körper geht so weit, dass die Erzählerin feststellt: »Und wenn einige von uns Mädchen so sehr breite Hüften bekamen, so bin ich fest überzeugt, daß das nur daher rührt, daß wir gewissermaßen mit den Hüften denken lernten.« (Ebd.) Die Erziehungsinstitution entwickelt auf diese Weise eine neue Zeichensprache aus den Körpern heraus, welche sich über die Medien der Bewegung – zum Gehen kommen Laufen und Springen sowie das Auf-den-Händen-Gehen hinzu –, der Musik und des Tanzes sowie über ein altersbezogenes System der uniformen und zweckmäßigen Einkleidung ausdrückt. Die Erziehung kommt dabei beinahe ohne verbale Sprache aus: »So ging es während all der sieben Jahre, die ich im Park verlebte, ohne daß ein einziges Mal eine Unterhaltung stattgehabt hätte.« (MH, 341) Identitätsunterschiede werden allein anhand körperlicher Merkmale ausgemacht: Infolge der gänzlichen Unwissenheit, in der wir lebten, war unser Verkehr auf die einfachsten Elemente beschränkt. So erinnere ich mich auch nicht, daß mir all die Mädchen im Park jemals als geistig voneinander verschieden erschienen wären. Eine dachte und fühlte wie die andere, und wenn eine den Mund auftat, wußten immer alle übrigen schon, was sie sagen wollte. So kam es, daß wir sehr wenig sprachen. […] Nur an den körperlichen Unterschieden kannte man sich gegenseitig auseinander. Wenn eine »Ich« sagte, meinte sie sich immer ganz damit, vom Scheitel bis zur Fußspitze. Wir fühlten unser Selbst in den Beinen und Füßen beinahe noch mehr als in den Augen und

414 Wedekind: Im Zirkus, 372 f. 415 Ebd., 373.

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Fingern. Von keinem der Mädchen ist mir im Gedächtnis geblieben, wie sie sprach. Ich weiß von jeder nur noch, wie sie ging. (MH, 353 f.)

»Zeige mir, wie du gehst, und ich sage dir, wer du bist. Gleichgewicht und Elastizität sind die Hauptfaktoren einer starken Seele«416, hat Wedekind an anderer Stelle festgehalten. Hier wird ganz deutlich: Das Kommunikationssystem im Park funktioniert bis in die Identitätsbildung hinein über körperliche Codes, welche wiederum an ästhetischen Kriterien ausgerichtet sind. Die Fragmente zu Nietzsches geplantem Werk Wille zur Macht kann Wedekind kaum gekannt haben, wurden diese doch erst im Nachlass entdeckt. Trotzdem bestehen erstaunliche Parallelen zwischen der Konzeption der Körpererziehung in Mine-Haha und einem mit »Physiologie der Kunst« überschriebenen geplanten Kapitel aus Nietzsches Arbeit am Willen zur Macht. Darin nimmt Nietzsche unter anderem eine Umwertung von Dekadenz-Motiven vor, zu denen die positive Bewertung der »extremen Kommunikabilität« zählt, zu welcher das »hypersensible Subjekt« fähig sei. Es sei von einem Mitteilungsdrang besessen, »der sich buchstäblich als ›Sprache des Körpers‹ artikuliert: in Mimik und Gestik; so als wolle jeder Punkt der Körperoberfläche die Kraft, die er birgt, ausdrücken und mitteilen.«417 Dies hat Konsequenzen für das Kunstverständnis: Kunst ist dann »Mitteilung als Kommunikation extrem sensibilisierter Körper und ihrer ›Zeichensprachen‹, die erst nachträglich […] in Sinneffekte übersetzt werden.«418 Nietzsche selbst formuliert diese Überzeugung folgendermaßen: Alle Kunst wirkt als Suggestion auf die Muskeln und Sinne, welche ursprünglich beim naiven künstlerischen Menschen tätig sind; sie redet immer nur zu Künstlern – sie redet zu dieser Art von feiner Beweglichkeit des Leibes. […] Der ästhetische Zustand hat einen Überreichtum von Mitteilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mitteilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen, – er ist die Quelle der Sprachen. Die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die Tonsprachen so gut als die Gebärdenund Blicksprachen. […] Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln. […] Man teilt sich nie Gedanken mit: man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurückgelesen werden.419

416 Aus dem Notizbuch 15, zitiert nach: Artur Kutscher : Wedekind. Leben und Werk. Zum 100. Geburtstag des Dichters bearb. und neu hg. von Karl Ude. München 1964. 201. 417 So Gerhard Plumpes Reformulierung in Ders.: Ästhetische Kommunikation der Moderne. Bd. 2: Von Nietzsche bis zur Gegenwart. Opladen 1993. 85. 418 Ebd. 419 Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. Bd. 3. 8. Aufl., München 1977. 753 f. Hvbg. i. O.

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Nietzsche beschreibt hier eine weitestgehende Entsublimierung oder Entgeistigung der Kunst, deren Ursprung er in den Körper verlegt. Wedekind überbietet diese Überlegungen gewissermaßen noch, indem er in Mine-Haha die mitteilsamen Körper selbst zum Kunstwerk werden lässt. Doch durch die oberflächliche ästhetische Makellosigkeit des Parks ziehen sich Risse. Ein Störfaktor sind die hässlichen Frauen, die dort beheimatet sind: Kairula, die Musiklehrerin, wird in ihrer Hässlichkeit nur noch übertroffen von den beiden alten Frauen, die nicht nur aufgrund ihres ausnehmend abstoßenden Äußeren separat wohnen. Ihre Geschichte erzählt Hidallas Freundin Wera in einem der wenigen Dialoge des Textes: Die ist zu einem andern Mädchen gegangen, als sie als Kind hier war. Deshalb ist sie noch hier. […] Soviel ist gewiß, daß weder Irma noch Margarethe jemals in ihrem Leben aus dem Park hinausgekommen sind und daß sie auch niemals hinauskommen werden. Das ist auch der Grund, warum sie so häßlich sind. (MH, 345 f.)

Die auf körperliche Schönheit, Grazie und Harmonie bedachte Ordnung des Parks grenzt mit den alten, hässlichen, ja bei den Mädchen Ekel erregenden vetulae420 aus, was dieses ästhetische Programm gefährdet. Weras Bericht verdeutlicht, dass es hier insbesondere die Abweichung von der sexuellen Norm ist, welche die Frauen als unschön markiert. Ihre libidinösen Delikte haben sich gleichsam in ihre Körper eingeschrieben, und auf diese Weise koppelt der Text ästhetischen Ausdruck an sexuelle Normalität. Die Institution des Parks wird dadurch nicht zuletzt lesbar als eine eugenische Erziehungsinstitution, deren Zweck die Züchtung schöner Körper ist. Doch die ästhetische Erziehung der Mädchen ist kein Selbstzweck. Die Ausbildung ist ökonomischen Prinzipien unterworfen: Sie dient dem Auftritt im Theater, welches wiederum über seine Einnahmen den Erhalt der Anstalt finanziert. Dieser Kreislauf wirft ein neues Licht auf die Schule der Körperbeherrschung. Die Körperkunstwerke, die die Anstalt hervorbringt, dienen einem ökonomischen Zweck, der – und das ist entscheidend – nicht etwa nur in der ästhetischen Aufführung besteht. Es ist die erotische Komponente der Darbietungen, die für einen vollen Zuschauerraum und damit für die solide Finanzierung der Anstalt verantwortlich ist. Unwissentlich werden die Mädchen für eine Form der Prostitution auf der Bühne ausgebildet. Der erste Gang ins Theater hat daher auch den Charakter einer Initiation, 420 Winfried Menninghaus nennt seine einschlägige Studie zum Ekel »[…] zugleich ein ganzes Buch über die (männliche) Imagination der vetula, der ekelhaften alten Frau. Kants vetula, Nietzsches vetula, Freuds vetula, Batailles vetula, Kristevas abjekte Mutter – diese Serie abominabler Frauen eröffnet Einblicke in den verworfenen Untergrund dessen, was Freud ›die ästhetische Kultur‹ genannt hat.« Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 1999. 16.

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wenn Hidalla von einem älteren Mädchen durch Schlamm und Schmutz begleitet und im Theater neu eingekleidet wird. Erklärungen erhält sie nicht, sie soll sich für ihre Rolle einfach an den anderen Mädchen orientieren. Gegeben wird der Mückenprinz, eine erotische Pantomime der Art, wie sie in der Zeit um 1900 populär war.421 Die Handlung die nur Frauen darstellen, umfasst mehrere Sexualakte, die unter einer Decke gemimt werden; die wechselnden Paarkonstellationen werden dabei in Käfige gesperrt und von Mückenmännchen gestochen, woraufhin ihnen der Bauch anschwillt. Höhepunkt der von Begeisterungsstürmen des Publikums unterbrochenen Darbietung ist die Szene, in der alle Darstellerinnen auf den Händen gehen, so dass die rockartigen Kostüme den unbekleideten Unterleib freigeben. Die Begeisterung des Publikums indes können sich die Darstellerinnen nicht erklären: »Franziska hatte ebenso wenig eine Ahnung von dem, was sie spielte, wie ich. Alles was wir wußten war, daß das Zubettgehen zu Zweien verboten war. Das erklärte uns das Hallo im Publikum.« (MH, 367) Die Konstellation ist nicht nur durch ein deutliches Gefälle im Wissen um die Konnotationen des Dargestellten reguliert, sondern darüber hinaus auch durch eine klar strukturierte Hierarchie der Blicke: Die Bühne ist grell beleuchtet, während die Darstellerinnen selbst »nie auch nur eine einzige Physiognomie aus dem Publikum erkennen« können (MH, 362). Im Bewusstsein der Darstellerinnen führen diese akrobatische Übungen vor ; für die Zuschauer dagegen steht das Vorgeführte im Kontext eines kulturellen Codes, »bei dem jede Bewegung eine symbolische Qualität besitzt und auf einen Handlungs- und Sinnzusammenhang verweist […].«422 Nicht nur in der Theaterepisode, wenn auch dort in besonderem Maße, wird der Rezipient des Prosafragments insofern zum Voyeuristen, weil er den enigmatischen Inhalt, die den Mädchen unbewussten Konnotationen der Handlungen, mit Sinn füllen muss. So wird er aber zum Komplizen der erotischen Interpretation des Textes, den dieser selbst in einem Zustand der Latenz hält, und teilt den semiotischen Code der Sexualität, der eben mehr über körperliche Zeichen als über verbale vermittelt wird. Gutjahr versteht im Anschluss daran Mine-Haha als einen Versuch Wedekinds, die Möglichkeiten dessen zu entfalten, was den Sexualdiskurs zum Gegenstand der Kunst machen könne.423 In diesem Zusammenhang konterka421 Wedekind betrachtete den Mückenprinz als eine selbständige Pantomime, die er selbst auch vortrug. Bis heute ist sie jedoch unaufgeführt geblieben. Niedergeschrieben wurde sie vermutlich erstmals im Rahmen der Arbeit an Mine-Haha im Jahr 1895. Vgl. dazu Hartmut VinÅon: »Kommentar zu ›Der Mückenprinz‹«, in: Frank Wedekind. Werke. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Bd. 3, II. Hg. von Hartmut VinÅon. Darmstadt 1996. 769 – 76, hier 769. Zu den erotischen Pantomimen der Jahrhundertwende vgl. Gabriele Brandstetter : Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt am Main 1995, insbesondere die Ausführungen zum Bienentanz, 209 – 24. 422 Gutjahr : Mit den Hüften denken lernen, 49. 423 Im Gegensatz zu Schnitzler entwickle Wedekind dabei eine Theatervariante, »bei der sich

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riert die Erzählung aber nicht nur die »Bühne des Bildungsbürgertums als moralische Anstalt.«424 Sie karikiert darüber hinaus auch den Ort des Theaters in der traditionellen Erzählung männlicher Bildungsgänge, im Bildungsroman. Findet dort noch ästhetische Erziehung und individuelle Entwicklung in dem und durch das Theater statt, so ist mit dem erotischen Theater in Mine-Haha die weibliche Körpererziehung ihrem konsequenten Ende zugeführt, wenn einziger Zweck der Aufführung als libidinös besetztes Kunstwerk die Befriedigung fremder Lust ist. Am Ende des vorläufigen, weil fragmentarisch gebliebenen Ausbildungsprozesses steht insofern auch kein souveränes Individuum. In ihrem letzten Jahr im Park muss Hidalla ein jüngeres Mädchen erziehen und unterweisen. Wie von ihren eigenen Erzieherinnen vorhergesagt, wird sie zunehmend mit sich selbst und den körperlichen Veränderungen der beginnenden Pubertät unzufrieden. Ihr Äußeres wird in ihren Augen abstoßend: »Ich war auf einmal so dick geworden […]. Ich war mir zum Abscheu. Überall war ich mir im Wege. […] Beim Auskleiden betastete ich mich voll Ingrimm und konnte den Gedanken nicht fassen, daß i c h das alles sein solle.« (MH, 375, Hvgb. i. O.) Als sich die Menstruation ankündigt, darf sie nicht mehr tanzen und wird auf den Austritt aus dem Park vorbereitet. Dem Beginn der Geschlechtsreife entspricht der Verfall des schönen Körpers. Die plötzliche Exklusion schilderte die Erzählerin als Trauma. Die Lehrerin Simba bringt die jungen Frauen über einen unterirdischen Weg aus dem Park und führt sie in einer Halle vor einer großen Menschenmenge mit jungen Männern zusammen; mit diesen gehen sie gemeinsam in das nicht weiter beschriebene Kapitol. Ihre Orientierungslosigkeit wird daran ersichtlich, dass die ihr bekannte Semiotik versagt. Nicht nur hat sie Schwierigkeiten, ihren männlichen Begleiter zu verstehen: »[M]ir schien es ganz so, als spräche er eine andere Sprache als wir.« (MH, 380) Außerdem hat sie während des Gangs zum Kapitol ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle: »Da es in der Frühe stark geregnet hatte, war das Holzpflaster noch glitschig; jedenfalls wäre ich mehrmals gefallen, wenn mich mein Begleiter nicht rasch gestützt hätte.« (Ebd.) Wenn sich im Park Identität durch harmonische Körperbewegung konstituierte, so wird anhand des Gangs zum Kapitol die buchstäbliche Erschütterung dieser Identität im Akt des Stolperns deutlich ausgestellt. Im Zusammenhang mit diesem Bericht holt die Erzählerin abschließend zu einem für ihren bislang nüchternen Erzählstil überraschend kritischen Generalangriff aus: Keine von uns Frauen wird […] heute noch etwas Absonderliches in der Art und Weise finden, wie man uns durch die gewaltigsten Prüfungen hindurch in eine völlig unbeSexualität über die Diskrepanz zwischen einem Körperspiel der Bedeutungslosigkeit und seiner Einbindung in die Choreographie kultureller Bedeutung artikuliert.« Ebd., 52. 424 Ebd.

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kannte Welt hinaus gelangen läßt, wie man uns in des Wortes grausamster Bedeutung hilflos aussetzt. Aber darin liegt eben für mich der Hauptgrund, diese Erinnerungen niederzuschreiben. Ich möchte den Mitlebenden die bangen Schauer ins Gedächtnis rufen, die wir zur Belustigung einer besinnungslosen, wollusttrunkenen, rohen Menschenwelt alle einmal durchgekostet […]. Vielleicht tut die menschliche Gesellschaft nicht unrecht daran, wenn sie durch ihre Erziehung die praktische Betätigung aller Kräfte in uns zurückhält, um uns dann durch ein tobendes Volksfest in wenigen Tagen zu völlig anderen Geschöpfen umzugestalten; vielleicht begehe ich ein Verbrechen, wenn ich ein Wort zugunsten der uns allen von Natur aus angeborenen zarten Empfindungen einzulegen wage. Aber je älter und ruhiger ich werde, um so weniger kann ich mich dem Glauben verschließen, dass die Welt in der Tat weniger brutal eingerichtet sein könnte […]. (MH, 377 f.)

Diese unvermittelte Anklage als bildungskritischen Kommentar zu lesen, wie es getan wurde, unterstellt eine sozialgeschichtliche Referenz, die der Text nicht nahelegt. Wie dargestellt, steht das Fragment im Zusammenhang des Staatsromanprojekts, und die diversen Andeutungen dieser Passage, beispielsweise das Volksfest und das Kapitol, scheinen auf Strukturelemente dieser erzählten Welt zu verweisen, zu denen keine weiteren Quellen vorhanden sind. Insofern ist wohl mit Thomas Medicus anzunehmen, dass sich diese Passage auf eine geplante, aber nicht realisierte Weiterentwicklung der Handlung bezieht, über die nur spekuliert werden kann.425 Der fingierte Herausgeber, der sich abschließend noch einmal zu Wort meldet, adressiert dieses Problem eines späteren Interpreten, wenn er bedauert: »Trotz eifrigen Suchens war in ihrem schriftlichen Nachlaß […] keine Zeile zu finden, die auf vorerzählte Dinge Bezug gehabt hätte.« (MH, 381) Die Erziehung ästhetischer Körper in Mine-Haha ist die Vorstufe eines nach ästhetischen Gesichtspunkten organisierten Staates, dessen Fortbestand sich auf orgiastische Opferrituale stützt – soviel ist den spärlichen Dokumenten zu Wedekinds Romanprojekt zu entnehmen. Wie gezeigt wurde, ist in der Erziehungsutopie ein nietzscheanischer Subtext auszumachen, der sich im Hinblick auf die Staatsutopie noch erweitern lässt. Denn in den Fragmenten zum Willen zur Macht entwirft Nietzsche ein politisches Modell, »in dem eine politische Kaste die Masse der Arbeitenden in Schach halten und einer Kulturelite damit die schöne Stilisierung der Existenz jenseits von Politik und Wirtschaft möglich machen würde.«426 Es soll hier nicht um einen detaillierten Vergleich der bei Wedekind wie bei Nietzsche nur fragmentarisch angedeuteten Staatsmodelle und ihrer Organisation gehen. Vielmehr interessiert die Operation, die beide vornehmen, wenn sie im Rahmen ihrer Utopien moralische Fragen durch Fragen 425 Medicus selbst vermutet, und das scheint mir plausibel, dass der Zusammenführung mit den Jungen ein erster Sexualritus folgt. Vgl. dazu Medicus: Die Große Liebe, 173 f. 426 Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne, 87.

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des Stils ersetzen. Man braucht in der Beurteilung dessen nicht so weit zu gehen, Wedekind oder Nietzsche als Vorreiter des nationalsozialistischen Totalitarismus zu betrachten.427 Deutlich wird aber, dass weder den einen noch den anderen die moralische Dimension einer Erziehung interessiert, die sich – wie bei Wedekind nicht zuletzt an den Überlegungen zur Ästhetik des Zirkus zum Ausdruck kommt – sehr nah an Paradigmen der Züchtung bewegt.428 Eva Geulen hat darauf hingewiesen, dass um 1900 »das alte begriffsgeschichtliche Kontinuum« zerfalle, »auf dem jahrhundertelang sowohl Erziehung als auch Züchtung im Rahmen des übergreifenden Begriffs Zucht Platz fanden.«429 Indem Wedekind in Mine-Haha derart den Formaspekt der Körpererziehung betont, durch den der Körper gleichsam zum lebendigen Kunstwerk wird, nimmt er diesen etymologischen Zusammenhang wieder auf. Auf diese Weise markiert vor allem sein zweiter Schultext einen ganz deutlichen Bruch mit den Überbürdungsgeschichten: weniger, weil es dem Text an bildungspolitisch brisanten Referenzen mangelt, als vielmehr wegen seiner grundsätzlichen Weigerung, sich für die pädagogische Unterscheidung moralischen oder unmoralischen Erziehungsverhaltens zu interessieren. Wie gezeigt wurde, setzt er dieser Unterscheidung die von »schön« oder »hässlich« entgegen und bewertet das Gelingen von Erziehungsprozessen unter Gesichtspunkten einer Ästhetik der körperlichen Harmonie. Es ist dieser Paradigmenwechsel, der Mine-Haha so radikal von anderen Schultexten unterscheidet, der einen deutlichen Bruch zu dem Duktus der Überbürdungsgeschichten einerseits markiert und andererseits ein Erziehungsprojekt mit einem politischen Programm verbindet. Avant la lettre deutet Wedekind damit eine Tendenz an, die erst spätere schulliterarische Texte ausführlich darstellen werden.

427 Davor warnt für Nietzsche Plumpe ebd. 87, für Wedekind deutet eine solche Interpretation an: Hartmut Riemenschneider : »Bewegungs- und Körperkultur als Erziehungsutopie. Frank Wedekinds Beitrag ›wider Willen‹ zum Frauenideal des Nationalsozialismus«, in: Aussiger Beiträge 1 (2007), 149 – 60. 428 Nietzsche verwendete die Begriffe Zucht, Züchtung, Erziehung und Zähmung häufig synonym. Vgl. Eva Geulen: »Der Erziehungswahn und sein Sinn (Nietzsche)«, in: Dies., Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg / Berlin / Wien 2007 (Rombach Litterae, Bd. 139). 221 – 37, hier 228. 429 Ebd., 227.

Am Rande der Institution: Selbsterziehungsprojekte und Genre-Reflektion

2.

Am Rande der Institution: Selbsterziehungsprojekte und Genre-Reflektion bei Georg Kaiser und Robert Musil

a.

Burleske Zersetzung des Kanons: Georg Kaisers Schuldramen

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Wie bei einer Reihe anderer Autoren fällt auch bei Georg Kaiser die Beschäftigung mit der Schule in die frühe Phase seines Schaffens – eine Phase, die die Forschung bislang weniger beachtet hat als Kaisers im eigentlichen Sinn expressionistische Arbeiten.430 Gilt für sein Werk insgesamt, dass die Abgrenzung einzelner Werkphasen problematisch ist, so trifft dieser Befund insbesondere für die frühen Arbeiten zu, dort […] noch gesteigert durch den oft mehrjährigen Abstand zwischen Entstehungszeit und Veröffentlichung und die Eingriffe späterer Umarbeiten. Für den Versuch einer philologischen Rekonstruktion erweisen sich zudem die widersprüchlichen und bisweilen wohl bewusst falschen Angaben des Autors zur Entstehungszeit als wenig hilfreich.431

Dies gilt auch für seine beiden ersten Dramen: Der Fall des Schülers Vehgesack, versehen mit der Gattungsbezeichnung Szenen einer kleinen deutschen Komödie, und Rektor Kleist, von Kaiser in der überarbeiteten Fassung von 1918 als Tragikomödie in vier Akten bezeichnet. Beide entstanden 1905, wurden allerdings erst 1915 beziehungsweise 1918 uraufgeführt und dafür teilweise überarbeitet. Der Beginn von Kaisers literarischer Anerkennung wird auf das Jahr 1911 datiert,432 die beiden frühen Stücke kennzeichnet noch keine programmatische Poetologie. Inhaltlich verbindet sie aber zumindest die Tendenz ihres Gegenstandes. Die Texte stellen zunächst das deutsche Kleinbürgertum als ein abgestumpftes, kränkelndes, geradezu zum Fossil erstarrtes Milieu aus, um dem in deutlicher Anlehnung an Nietzsche in Form viriler Antagonisten oder einer programmatisch vitalistischen Weltanschauung einen lebensbejahenden Pol entgegenzusetzen. Das gilt nicht nur für die beiden Schuldramen, sondern auch für das Drama Der Geist der Antike. Es schildert die Konversion eines Archäo430 Für einen konzisen Überblick über Kaisers Werk vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918: von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004. 546 – 54. Der jüngste Sammelband zu Kaisers Werk vereinigt Abhandlungen zu allerdings höchst disparaten Themen und Motiven seines Œuvres, siehe dazu Frank Krause (Hg.): Georg Kaiser and Modernity. Göttingen 2005. Zur Rezeption des Autors vgl. die sehr detaillierte, zweibändige Aufarbeitung von Peter K. Tyson: The Reception of Georg Kaiser (1915 – 45). Texts and Analysis. 2 Bde. Berlin / Bern / Frankfurt am Main 1984. 431 Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918, 549. 432 Das Jahr der Veröffentlichung seines Dramas Die Jüdische Witwe, vgl. Ernst Schürer : Georg Kaiser. New York 1971. 72.

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logieprofessors, der nach einem skurrilen Epiphanie-Erlebnis (während einer Ausgrabung in Griechenland verzehren Mäuse sein Frühstück) seine geistige Arbeit als wertlos erkennt und seine Kinder nötigt, als Matrose beziehungsweise Tennisspielerin ebenfalls ihren intellektuellen Interessen abzuschwören. Auch die Komödie Der Zentaur (später in Konstantin Strobel beziehungsweise Margarine umbenannt) handelt von der »hemmungslose[n] Unterordnung vitaler Werte (Liebe, Nachkommenschaft) unter materielle Gesichtspunkte.«433 Neben der Manifestation von Kaisers Nietzsche-Lektüren macht sich im Frühwerk – und das gilt insbesondere für die Schuldramen – der Einfluss Wedekinds bemerkbar. Parallelen zu dessen Drama Frühlings Erwachen lassen sich sowohl in der Wahl der Themen als auch in der satirischen Darstellung des Bildungssystems ausmachen. Allerdings weicht Kaiser inhaltlich von Wedekind ab, indem er nicht mehr die Schüler, sondern die Lehrerfiguren als Opfer darstellt. Das gilt in besonderem Maße für Rektor Kleist. Der Protagonist des Stückes ist Rektor eines Gymnasiums und in erster Linie durch ein nur andeutungsweise bestimmtes Leiden charakterisiert, das als Hämorrhoiden zu interpretieren nahegelegt wird. Er versucht erfolglos, diese Schwäche gegenüber den Schülern zu verheimlichen. Gegenspieler dieses kränklich-intellektuellen Philisters,434 dessen Wunsch nach einem adoptierten Kind überdies Impotenz andeutet, ist der jung-dynamische Sportlehrer Kornmüller, welcher die Vitalität verkörpert, die Kleist verzweifelt zu simulieren versucht. Der Konflikt entsteht, als Kornmüller beschließt, die Anstalt neu und modern zu gestalten und dafür beginnt, Regale in den Klassenzimmern aufzuräumen. Dabei entdeckt er Karikaturen seiner Person in der Mappe des Schülers von Strauß, dem Pendant Kornmüllers in der Schülerschaft. Während er sie verzweifelt betrachtet, kehren überraschend die Schüler zurück, so dass er sich im Schrank verstecken und Zeuge des Lästerns über seine Person werden muss. Von Strauß fertigt währenddessen eine weitere Karikatur an, die er an die Wand hängt, bevor die Klasse zum Sportunterricht verschwindet. Wutentbrannt wirft Kleist daraufhin ein Tintenfass gegen das Machwerk, ohne allerdings zu bemerken, dass der vom Sport suspendierte Schüler Fehse – in seiner Schwächlichkeit Kleists eigenes Pendant – ihn dabei beobachtet. Als der Täter ermittelt werden soll, vermag Kleist die Tat nicht zu gestehen und will Fehse zum Schuldbekenntnis nötigen. Obwohl Kleist dann Kornmüller seine Täterschaft gesteht, will dieser sie nicht anerkennen, so dass schließlich auf einer Konferenz von Strauß als Täter verurteilt wird. Fehse bekennt sich – in der Fassung von 1918 – schriftlich zur Tat und erhängt sich daraufhin. Das Drama endet mit der plötzlichen Anagnorisis der beiden Lehrer. 433 Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918, 550. 434 Der Begriff ist hier und im Folgenden in dem abwertenden Sinn zu verstehen, in dem auch Nietzsche ihn verwendet.

Am Rande der Institution: Selbsterziehungsprojekte und Genre-Reflektion

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Die Kritik hat früh erkannt, dass Kaiser sich mit Rektor Kleist auf eine Tradition bezieht: »(Gedanken aus Traumulus, Flachsmann, Frühlingserwachen, Hidalla, auch das Zerbrochene Krug-Thema vom schuldigen Richter spielen hinein)«435, notierte der Rezensent Hans Wyneken. An anderer Stelle listet er minutiös die Schwächen des Dramas auf und stößt sich insbesondere an dem Tintenklecks, der ihm als »handlungstragendes Hauptmotiv […] doch gar zu schwächlich«436 scheint. So berechtigt die Kritik an handwerklichen Mängeln des Dramas sein mag: Es kann dennoch nicht als das Epigonentum abgetan werden, das Wyneken nahezulegen versucht. Denn Kaiser nimmt einige auffällige Veränderungen an der bisherigen Form des Schulnarrativs vor. Die bedeutendste mag die veränderte Rolle der Lehrer sein. Das gegensätzliche Paar Kornmüller und Kleist stellt zunächst die Dichotomie von Körper und Geist dar. Diese Gegenüberstellung düpiert allerdings nicht nur einseitig den Philister, sondern reduziert den Sportlehrer ebenfalls zur albernen Karikatur, wenn etwa die Regieanweisung ihn als »hereinturnend« charakterisiert und er mit den Worten: »Hopp – Schlußsprung auf der Stelle!«437 zum Stehen kommt. Kann man für die Figuren der Lehrer also bereits von einer deutlichen Infragestellung ihrer Autorität sprechen, so gilt das umso mehr für die Anstalt selbst. Es ist Kornmüller, der wiederholt solche eigentlich erst für spätere expressionistische Texte charakteristische tabula-rasa-Szenarien imaginiert: Zu »lebensfeindlichen« Zwecken sei das ehemalige Kloster gebaut worden, er wolle nun »[d]en ganzen vorsintflutlichen Kasten »runterreißen und eine Anstalt in modernem Sinne aufführen.« (RK, 23) Beim Sortieren der Regale exerziert Kornmüller eine geradezu grundlegende Eliminierung des klassischen Bildungskanons: »Was ist das? Nibelungenlied. Schwungvoll, Wedemann, dem Inhalt angemessen. (Er schleudert Wedemann das Buch zu.)« (RK, 31) Mit Kornmüller ist es ein Vertreter der Anstalt selbst, der ihre Inhalte in Frage stellt. Doch auch die Schüler sind um programmatische Phrasen nicht verlegen, wenn von Strauß exklamiert: »Stahl werde Schwert und raßle wider die Philister!« (RK, 38) In diesem Zusammenhang ist das Tintenfass als Leitmotiv auch alles andere als beliebig: Es unterstreicht vielmehr systematisch die Ohnmacht des Philisters, wenn ihm die Tinte – als metonymische Reminiszenz an die verlorene Macht des Wortes zu verstehen – nicht mehr als Schreibmedium, sondern nur mehr als Wurfgerät zu Verfügung steht. Mit dieser allerdings eher lächerlichen als beeindruckenden Tat versucht Kleist eine Autorität wiederzuerlangen, deren Unmöglichkeit diese Tat nur noch unterstreicht. 435 Hans Wyneken: Ohne Titel, in: Literarisches Echo 20 (1917/18), 717. 436 Hans Wyneken im Februar 1918 im Berliner Tageblatt, zitiert nach Tyson: The Reception of Georg Kaiser, 168. 437 Georg Kaiser : Rektor Kleist. Tragikomödie in vier Akten. Berlin 1918, 33. Hvbg. i. O. Im Folgenden Siglenangaben.

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Die strukturelle Nähe des Dramas und die Parallelen seines Motivs zu der Handlung von Kleists Lustspiel Der zerbrochene Krug (1811) verweisen – auch anhand des zerbrochenen Tintenfasses und der Referenz auf Heinrich von Kleist im Namen des Rektors – auf eben den klassischen Kanon, den sie in Form dieses verzerrten Zitats unterlaufen. Entlarvt wird die Feigheit des Rektors im Unterschied zu der klassischen Vorlage allerdings nicht durch einen Zeugen. Vielmehr provoziert der Schüler Fehse das Schuldgeständnis durch den Selbstmord, der hier – und das ist im Unterschied zur früheren Funktion der Schülerselbstmorde bemerkenswert – nicht als Figur der Kapitulation, sondern als eine des Opfers zu lesen ist.438 Mit dieser quasi-christologischen Figur des stellvertretenden Todes für die Sünden anderer nimmt Kaiser ein Stilelement vorweg, das eigentlich erst für seine späte Schaffensphase charakteristisch ist.439 Dieser Vorgriff ist ein Charakteristikum von Kaisers Schuldramen, auf das noch zurückzukommen ist. Erst dieser Opfertod jedenfalls lässt beide Lehrer ihre Versäumnisse erkennen. Das Drama endet mit einem Schuldbekenntnis, das einer Selbstverfluchung gleichkommt. Kleist beschwört eine Lawine, die seine Schuld unter sich begraben möge, während Kornmüller in eine geradezu animalische Ekstase verfällt: Kleist (mit Fingern in die Luft zeichnend): Dieser Witz – diese Zeichnung – da an der Wand – ich bin’s – diese Kreatur – in Schiefheit – auf die Schulter getürmt – Berge – Klumpen – mächtige Steine – Klötze – glatte Kiesel – Geröll – Staub – Wolken – nieder auf mich – nieder auf mich – nieder auf mich – – –!! […] Kornmüller (schleudert den Kopf zurück. Mit beiden Fäusten sich die Brust trommelnd): Auf mein Haupt – auf mein Haupt – auf mein Haupt – ohne Gnade – ohne Gnade – alle Schuld – alle Schuld – ! (RK, 77)

Indem sich die Lehrer am Ende des Dramas selbst richten, ist die Bühne im Wortsinn frei, um das Projekt der von Kornmüller anvisierten »Anstalt in modernem Sinne«, wie er sicherlich nicht ganz zufällig formuliert: »aufzuführen« (RK, 23, s. o.). Kaisers frühes Drama setzt sich insofern auf eine radikal neue Weise nicht nur mit dem Stoff der Schulliteratur auseinander, sondern setzt diesen in Beziehung zum klassischen Bildungskanon und reflektiert darüber hinaus metadramatisch dessen eigene Rolle darin. Indem es diesen Kanon durch die Nähe zu Kleists Zerbrochenem Krug ironisiert und die Lehrer als dessen Vertreter und Anwälte parodiert, setzt es sich gleichzeitig – und das ist gegenüber den früheren Texten neu – an den Beginn einer noch zu schreibenden, 438 Des Opfers, das Kleist, und das verstärkt den zynischen Ausgang noch, sich selbst zuzuschreiben versucht, wenn er sein Handeln vor seiner Frau zu rechtfertigen versucht. Indem er seine Tat nicht bekenne, irritiere er das heile Weltbild der Schüler nicht: »Ist es nicht besser so? Was wäre nicht alles zusammengestürzt in den jungen Seelen? – Bringe ich nicht ein Opfer dar?« (RK, 74) 439 Vgl. dazu Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918, 551.

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neuen Tradition, die durch die Löschung der alten allererst gestiftet werden kann. Damit kann Rektor Kleist als einer der ersten Texte gelten, die avant la lettre expressionistische und bildungsreformatorische Programmatik verbinden.440 Dies wird evident, wenn man Kaisers Bemerkungen zu seiner Poetologie und literarischen Programmatik einbezieht, die er erst deutlich später formuliert. In seinem Aufsatz Der kommende Mensch Oder Dichtung und Energie aus dem Jahr 1922 entwickelt er eine Skizze, die sich sowohl als geschichtsphilosophischer wie auch als poetologischer und literaturgeschichtlicher Kommentar verstehen lässt. Programmatisch kündigt er in diesem Aufsatz an, die Menschheit stehe auf der Schwelle zu einer kommenden, die sich in erster Linie durch die Überwindung des Spezialistentums – das Kaiser nicht nur in Rektor Kleist durch die Dichotomie von Körper und Geist verdeutlicht – auszeichne. Dieser »mögliche Mensch«441 sei vielseitig orientiert, und nur diesem gilt seine Feststellung: »Die kräftigste Form der Darstellung von Energie ist der Mensch.«442 Ziel dieser Gesellschaftsutopie ist »[…] die Zusammenfassung aller Kräfte zu einer ungeheuren Leistung.«443 Die Quelle des Wissens über diese Anthropologie des möglichen Menschen ist die Dichtung: Denn ich bin der Ansicht, daß jene zusammenfassende Kraft, die des Menschen besondere Eigentümlichkeit ist, im Vorgang der Dichtung heute den vorläufig beweiskräftigsten Ausdruck hat. […] Dichtung umfaßt den Bezirk aller Fähigkeiten und stellt sie unter das Gesetz einer Auswirkung. Aus den Zufälligkeiten der Erscheinung – des Stoffs tut sich triumphierend die Idee auf: die Idee, die ein All ist – ein zeitlos Gegenwärtiges – ein gegenwärtig Unendliches: begriffen vom Menschen – nur greifbar für Menschen.444

Das Zitat nimmt mit der Andeutung, die Grenze zwischen Kunst und Leben überwinden zu wollen, avantgardistisches Gedankengut vorweg. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Ausgang des Rektor Kleist auch präziser fassen als Inszenierung der Überwindung der alten Gesellschaftsordnung – paradigmatisch verkörpert durch die Schule – zugunsten einer neuen, die sich auf die Paradigmen von Kraft, Vitalität und Energie gründet. Der schwächliche Schüler, der »nicht einmal die Nähe einer besonderen Tat erträgt« (RK, 72), beseitigt sich selbst, die Lehrer sprechen ihr eigenes Urteil und räumen das Feld für eine – noch unausgeführte – neue Ordnung. 440 Wie gezeigt wurde, gilt dies begrenzt auch schon für Wedekind, vgl. Kapitel III.1. 441 Georg Kaiser : Der kommende Mensch oder Dichtung und Energie, in: Ders.: Werke. Hg. von Walther Huder. Bd. 4: Filme – Romane – Erzählungen – Aufsätze – Gedichte. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1971. 567 – 71, hier 568. 442 Ebd., 567. 443 Ebd., 568. 444 Ebd., Hvbg. i. O.

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Wesentlich ist dabei die Rolle, die Kaiser der Dichtung und ihrem Schöpfer zuschreibt. »Form von Energie ist Dichtung. […] Wir urteilen nur noch nach Stärke und Schwäche der verausgabten Energie des Schöpfers von Dichtwerk [sic!].«445 An anderer Stelle führt er weiter aus: »Was ist Drama? Eine Möglichkeit zu Stauung und Auswurf von Energie. […] Was ist Dramadichter? Bestimmt heute die kräftigste Art Mensch. […] Dramadichter – der verdichtendste Träger von Energie, die zur Entladung drängt.«446 Im Fall des Schülers Vehgesack, so die These, lassen sich Spuren dieser ex post Poetologie ausmachen, denn das Drama hat einen solchen ›Dramadichter‹ zum Protagonisten. Auch im Falle dieses Dramas hat die Kritik Kaisers dramatische Versuche als bloße Gehversuche abgetan, wie eine Rezension der Uraufführung im Februar des Jahres 1915 an der Neuen Bühne in Wien zeigt: »›Szenen einer kleinen deutschen Komödie‹«, spöttelt Alfred Polgar über den Untertitel, [d]as schmeckt nach einer Bitte um Entschuldigung. Warum dann nicht eindringlicher gebeten? Etwa: ›Bescheidener Rohentwurf einer losen Reihe von unausgeführten Szenen eines ohne jede Prätention als übermütig gedachten Spiels nach verschiedenen Mustern.‹ […] Schlüpfrig auf deutsche Art; na, guten Appetit. Eine Schulkomödie. Überflüssig zu erwähnen, dass die Lehrer ein Rudel burlesker Trottel, der Pedell ein langsamer Denker und die Schüler eine fröhlich renitente Bande. Hierzu gesellt sich diesmal noch ein Kranz von Lehrersgattinnen. Sie sind abgeschmackt, zudringlich, geil. […] Das Ganze ist unerfreulich, weil es roh, schwerfällig und von dröhnender Witzigkeit ist.447

Auch Polgar erkennt offensichtlich das Zitat einer Tradition der satirischen schulliterarischen Darstellung. Tatsächlich sind Figurenkonstellation und Handlungsstruktur des Dramas stereotyp angelegt und steuern auf Pointen zu, die in ihrer offensichtlichen Konstruiertheit eher an das Stegreiftheater denn an eine sorgfältige Komposition erinnern. Auch spätere Beurteilungen des frühen Dramas fallen abschätzig aus: Nachdem er durch seine expressionistischen Dramen ein berühmter Autor geworden war, holte er, weil trotz beträchtlicher Tantiemen permanent in pekuniären Nöten, anspruchslose Lustspielchen aus vorexpressionistischer Zeit aus der Schreibtischschublade, um sie in klingende Münze zu verwandeln.448

Kaiser selbst scheint an der Verdrängung seiner frühen Komödien beteiligt gewesen zu sein, wenn er 1919 in einem Brief fordert: »Für das Werkverzeichnis: 445 Ebd., 570. 446 Georg Kaiser : Formung von Drama, in: Ders.: Werke. Hg. von Walther Huder. Bd. 4: Filme – Romane – Erzählungen – Aufsätze – Gedichte. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1971. 572 – 74, hier 573. 447 Alfred Polgar : »Wiener Theater«, in: Die Schaubühne 11 (1915), 181. 448 Hans-Jörg Knobloch: »Zur Datierung der Komödien Georg Kaisers«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990), 217 – 38, hier 219.

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der Fall des Schülers Vehgesack und Grossbürger Möller existieren nicht; erst später sollen beide Stücke neu durchgesehen auftauchen – solange soll jede Erwähnung unterbleiben.«449 Die folgende Lektüre wird den Fall des Schülers Vehgesack nicht nur auf die schulliterarische Problematik hin untersuchen, sondern auch eine Rehabilitierung des Textes anregen, der mehr beinhaltet, als ihm Kritiker, Rezensenten und sein Verfasser selbst zugestehen mochten. Das Stück besteht, wie schon der Untertitel ankündigt, aus der Abfolge sieben lose verbundener Szenen. Den Auftakt macht eine Lehrerkonferenz, in deren Rahmen der Lehrer Hornemann von einer Affäre seiner Frau mit dem Schüler Vehgesack berichtet. Dieser habe seine Frau geschwängert, er verlangt nun dessen Bestrafung. Dem stimmt die Konferenz zunächst auch zu. Als allerdings der Rektor Scharfenort vom Besuch des Fürsten anlässlich des Schiller-Jubiläums berichtet, beschließt die Konferenz, zur Verhinderung eines Eklats Vehgesack wegen eines anderen, weniger brisanten Delikts der Schule zu verweisen.450 Die Handlung wechselt dann zu Vehgesack und seinen Begegnungen mit mehreren Lehrergattinnen beim Badehaus. Er inszeniert sich in diesen Gesprächen als Dichter, und bald wird deutlich, dass er sein Erlebnis mit Frau Hornemann literarisch verarbeitet hat. Als der Rektor ihn zu sich zitiert, taucht der Verleger Sochaczewer auf, der inzwischen von einer Lehrersfrau Vehgesacks Manuskript erhalten hat und ihn verlegen will. Ein überzeichnetes Such- und Versteckspiel beginnt, weil der Rektor das Manuskript vernichten will, dabei allerdings versehentlich vom Schuldiener im Schrank eingeschlossen wird. Das Stück endet mit dem Besuch des Fürsten bei der Aufführung zum Schiller-Jubiläum. Er besitzt bereits ein Exemplar des Werkes, das der Verleger vorausschauend kopiert hatte, und ist begeistert. Der Rektor ändert daraufhin schnell seine Haltung, der gute Ruf der Schule ist gerettet, und nur Lehrer Hornemann zieht, wie sein Name schon andeutet, als Gehörnter den Kürzeren. Dem Drama ist als Motto ein Zitat aus Shakespeares Heinrich IV. vorangestellt: »Sollen wir uns lustig machen? – So lustig wie Heimchen, mein Junge. – Ich bin jetzt zu allen Humoren aufgelegt, die sich seit den Tagen des Biedermanns Adam bis zu dem unmündigen Alter der gegenwärtigen Mitternacht als Humor gezeigt haben.« (FSV, 39) Der Paratext nimmt insofern die komische Absicht des Textes vorweg, gleiches gilt für den Untertitel des Dramas: Szenen eine kleinen deutschen Komödie. Auffällig ist hier erstens die Charakterisierung 449 Georg Kaiser: Briefe. Hg. von Gesa M. Falk. Frankfurt am Main 1980. 183. 450 Der Rektor und Vehgesack einigen sich später bezeichnenderweise auf das Delikt der »eigenmächtige[n] schriftstellerische[n] Tätigkeit«, vgl. Georg Kaiser : Der Fall des Schülers Vehgesack. Szenen einer kleinen deutschen Komödie, in: Ders.: Werke. Hg. von Walther Huder. Bd. 1: Stücke 1895 – 1917. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1971. 39 – 115, hier 80. Im Folgenden Siglenangaben.

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der Gattung als »deutsch«. Wenn der Untertitel damit auf eine bestimmte nationale Eigenheit des Stoffes anspielt, kann die Handlung dieser Lesart zufolge in der vorliegenden Form einzig im Bildungssystem des zweiten deutschen Kaiserreichs spielen. Zweitens fällt die Fragmentarisierung des Dramas in lose »Szenen« auf, die die Leseerwartung einer linearen Handlungsentwicklung und eines homogenen Kompositionsprinzips unterläuft. Im weiteren Verlauf wird die Gattungszuschreibung auch insofern irritiert, als das von Vehgesack verfasste ›Binnendrama‹ – dessen Gegenstand gewissermaßen die Vorgeschichte des eigentlichen Dramas darstellt – von ihm selbst als »Tragödie« (FSV, 65), vom Rektor als »Komödie« beziehungsweise »Tragikomödie« (FSV, 109) bezeichnet wird. Wie schon in Rektor Kleist, inszeniert auch dieses Drama die Schwächung der Lehrerautorität. Dies geschieht hier nicht nur durch die vergleichsweise traditionelle Karikatur ihrer Sprachstörungen, sondern vor allem durch die Auflösung der Grenze zwischen öffentlichen und privaten Rollen. Das wird bereits in der ersten Szene deutlich, wenn das Sexualleben Hornemanns Gegenstand der Lehrerkonferenz wird. Die sexuellen Eskapaden seiner Gattin führt er dort auf sein Askesegebot zurück, das er zugunsten seiner klassischen Bildung verhängt hat: Nach der Geburt seines ersten Kindes stellte Hornemann fest, daß ein zweites Vorkommnis dieser Art mich erheblicher belasten würde, als ich ohne Einschränkung meiner Liebhabereien, die Reisen an Stätten klassischer Geschichte gelten – […]. Ich verschob – […] – die Zeugung eines zweiten Sprößlings bis nach der Gehaltsaufbesserung! (FSV, 44 f.)

Deutlicher lässt sich das von vitalistischen Positionen monierte Ungleichgewicht zwischen Geist und Körper zugunsten des Ersteren kaum ausdrücken. Kommunikationsunfähigkeit, sexuelle Enthaltsamkeit und ökonomische Zwänge – die Skizze dieses prototypischen Geschichtslehrers weist bereits auf die Figur des Professor Unrat voraus. Der Konflikt zwischen öffentlichen und privaten Rollen wird am Beispiel des Szenarios der von einem Schüler geschwängerten Lehrergattin noch deutlicher, mit dem Kaiser die Normverstöße der Wedekind’schen Vorlagen noch überschreitet. Eine besonders pikante Note erhält die Affäre durch den Bericht, das Verhältnis sei dadurch zustande gekommen, dass Hornemann Vehgesack das Amt »des Beschützers […] meiner Frau auf ihren Radtouren« (FSV, 43) anvertraut hatte. Das Radfahren, das sich um 1900 allererst als Mittel alltäglicher Fortbewegung durchsetzte und häufig erst im Erwachsenenalter erlernt wurde, stand unter dem Generalverdacht sexueller Stimulation.451 451 Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München / Wien 1998. 202 ff.

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Auch die Ehefrauen der Lehrer treten auf, denn an die Konferenz der Männer schließt sich das »Konferenzkränzchen« (FSV, 54) der Frauen an. Diese sind ebenso stereotyp überzeichnet wie ihre Männer. Insbesondere gilt das für Frau Exter, die mit »Reformhänger[n], Schneckenfrisur« (ebd.) als Sympathisantin der Frauenbewegung porträtiert wird und versucht, Vehgesack zu verführen. Diese wiederholten Schwellenverletzungen verdeutlichen ebenso wie die Verhandlung der eigentlich privaten Affäre vor der Schulkonferenz die Kollision der Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Rollen, auf die Scharfenort Hornemann dann auch hinweist: »Wird nicht Ihnen […] daran liegen, im eigenen Ansehen vor der Schuljugend, wenn ein dichterer Schleier über einen Vorgang fällt, der in seinem Wesen rein häuslicher Natur ist und am besten dort bewahrt wird.« (FSV, 51) In der Figurendarstellung der ersten Szene wird also bereits ein klarer Bruch mit der bisherigen Konstellation des Lehrer-Schüler-Verhältnisses deutlich. Keine Spur mehr von unterdrückten Schülern, hier sind vielmehr die Lehrer die Gehörnten. Gesteigert wird diese Tendenz noch durch die dramatische Zeitgestaltung, die durch die Häufung ungünstiger Zufälle – wie dem Zusammenfall der Affäre Vehgesack mit dem Fürstenbesuch – und der daraus resultierenden Countdownstruktur entsteht (Scharfenort kündigt theatralisch an: »Am Schillertag ist die Anstalt rein!«, FSV, 51). Die veränderten Rollen kommen schließlich besonders klar in der Bemerkung zum Ausdruck, mit welcher der Lehrer Exter Hornemanns Selbstmordversuch kommentiert: »Endlich einmal ein Lehrerselbstmord, das wird beschwichtigend wirken!« (FSV, 112). So sehr Kaisers Drama eine Satire der wilhelminischen Schule ist, die sich bis in architektonische Details erstreckt,452 fallen gleichzeitig – und das ist neu – auch die Schülerfiguren dieser Satire zum Opfer. Die Forschung hat dies bislang nicht nur übersehen, sondern gar die gängige Lesart des geknechteten Schülers auf die Figur Vehgesacks übertragen.453 Karikiert wird aber vielmehr die Figur, die in den Überbürdungsgeschichten als Freund des Protagonisten auftritt und deren Biographie hier gleichsam weitergeschrieben wird. Die dritte Szene spielt im Damenbad und zeigt Vehgesack bei der Fertigstellung eines Manuskripts. Emphatisch liest er die letzten Zeilen seines Werkes vor: »Frei bin ich – frei – ich 452 Vgl. etwa die übertriebene Darstellung der Räumlichkeiten in den Regieanweisungen: »Der verliesartige Raum hat links zwei hochgelegene kleine Fenster – unerreichbar vom Fußboden. Vor der rechten Wand das Katheder, steil wie ein Zwingturm, der fast unter die Decke stößt. Dahinter das schwarze Grauen der Wandtafel; an einem Nagel ein Schlüssel mit einigen Kilo Eisenschiene. Rechts hinten die niedrige Tür. In vier enge Bänke gepfercht die Klassenschüler.« (FSV, 60) 453 Vgl. die Einschätzung Günter Rinkes: »Die Schüler sind persönlichen Schwächen oder fixen Ideen des Lehrers nahezu wehrlos ausgeliefert.« Günther Rinke: »Expressionistischer Bildungsbegriff. Schule und Bildung im Werk Georg Kaisers«, in: Wirkendes Wort 58 (2008), 243 – 57, hier 247.

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bin’s – ich bin entlassen, um zu sein – neu – schön – größer? Hinaus das Ruder – die Bahn ist glatt – zum neuen Ufer – zu meiner neuen Tat!« (FSV, 64) Wenngleich an diesem Punkt noch nicht explizit erwähnt wurde, dass das Werk die literarische Verarbeitung seiner Affäre beinhaltet, so ist das letzte Wort des Manuskriptes, »Tat«, hier doppeldeutig zu verstehen. Die neue Tat ist nicht nur ein neues Schriftstück, sondern impliziert auch ein weiteres erotisches Erlebnis. Diese Lesart unterstützt der anschließende Auftritt Lottes, der Nichte des Rektors. Vehgesack – der jedes noch so prosaische Erlebnis zu einem poetischen verklärt454 – stilisiert diese zu seiner Muse: »Ich brauche Ihre Hilfe – oder mir fehlt der Mut zu einem neuen Werk!« (FSV, 65) Die Muse ist allerdings ohne weiteres austauschbar. Kaum ist Lotte verschwunden, erscheint Frau Exter und bietet sich Vehgesack unverhohlen an. Mit ihr entwickelt sich ein schulkritisches Gespräch, wobei die übliche Funktion der Anklage vom Schüler auf die Lehrergattin verschoben wird, die die Institution mit den bekannten Phrasen kritisiert: »Sie werden abgerichtet – Sie apportieren die Kenntnisse […]. Das ist eine Vergeudung Ihrer Kräfte, die Sie lange danach schädigt. […] Können Sie irgend etwas brauchen, das Sie hier mitbekommen? […] Wo bleibt da das Recht der Jugend, das sich seine Schleusen sucht?« (FSV, 67) Vehgesack erklärt dagegen: Ich behaupte – nur der Vogel, der im Bauer eingeschlossen ist und von Stange zu Stange hüpft, singt. Jede Gefangenschaft – die ist doch im Grunde nur die Ablenkung von äußeren Zerstreuungen – führt uns zur Beschäftigung mit uns selbst – mit dem, was wir können. Wir entdecken unsere Gaben – wir heben den Schatz in Ruhe und Abgeschiedenheit – nichts stört – und ich bin mit einem Male, der ich bin. (FSV, 68)

Damit formuliert er nicht nur ausdrücklich eine ästhetische Subversion curricularer Programme: Die institutionelle Isolation scheint den Selbstbildungsprozess dieser Logik zufolge geradezu zu provozieren. Freilich stellen die elliptische und dadurch affektiert anmutende Darstellung seines Selbstfindungsprozesses diese Ausführungen als altklug aus. Vehgesacks Beschreibung kulminiert in den pathetischen Schlussworten: »Ich bin – zum Dichter geworden!« (Ebd.) In der individuellen, von der Institution losgelösten Entwicklung zum Schriftsteller – der ästhetischen Autodidaktik, wenn man so will – werden hier Strukturelemente des Bildungsromans zwar zitiert, gleichzeitig aber auch parodiert. Anstelle eines langsamen Entwicklungsprozesses wird Vehgesack gleichsam über Nacht zum Dichter, anstelle langfristig erworbener Bindungen macht er sexuelle Erfahrungen mit einer Lehrersgattin, und die Theatertradition wird sowohl intra- als auch metatextuell ins Hypertrophe übersteigert.455 Denn 454 Vgl. sein Kommentar zu Lottes Erscheinen: »Sie sind aus einer mächtigen Baumkrone herabgestiegen – auf diese Erde, wo ich am Fuße dieser Linde auf Sie warte.« (FSV, 64) 455 Von einer Parodie ist auch insofern zu sprechen, als es offenkundig nicht nur die Isolation in

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für den komischen und parodistischen Effekt dieses Selbstbildungsprozesses zum Schriftsteller sorgt auch und insbesondere die Potenzierung des dramatischen Plots innerhalb des Dramas selbst. Diese Figur der mise en abyme deutet bereits der Rektor in der Konferenz an, wenn er die Affäre der Hornemanns mit den Worten beurteilt: »Ich hob also hervor, daß das Missgeschick – das Drama, wie ich es im echt sophokleischen Sinne nennen möchte […] im Hornemannschen Hause bei uns Furcht und Mitleid erweckt hat. So fordert es der Dichter – vor dem Dichter neigen auch wir uns hier.« (FSV, 46) Die Stilisierung der Konsequenzen von Hornemanns absurder Familienplanung zum Format der griechischen Tragödie hat einmal mehr einen parodistischen Effekt. Bemerkenswert ist allerdings, dass Scharfenort hier den Charakter der mise en abyme betont, des Dramas im Drama, das Vehgesack später auch insofern realisiert, als er das Geschehen tatsächlich zum Drama verarbeitet. Explizit wird dies allerdings erst gegen Ende, wenn der Verleger Sochaczewer die Handlung des Dramas für Scharfenort zusammenfasst: Den Stoff kann ich Ihnen mit trockenen Worten erzählen. Das ist der dürre Baum, an dem die Blüten sitzen. […] ein Jüngling – ein Knabe – ein Kind fast – und die erfahrene Frau! – Wir sind ja unter uns Männern. – Also aus dem einfachen Verhältnis mit einer Lehrerfrau, die ihn verführt – reift er – entwickelt er sich – wird zum Gott. Richtig ’n Gott wird er, der alles umkrempelt und neu arrangiert! (FSV, 84)

Während für Scharfenort allerdings allein der Stoff von Bedeutung ist, insistiert Sochaczewer auf das eigentliche Novum der Form: […] die Form ist darin gesprengt – alles ist gesprengt – das ist Geist über den Wassern – das ist neu wie die Schöpfungsgeschichte – und mächtig wie die Illusion. Da schießt alles aus der Phantasie auf – das sprudelt aus Quellen, die man nicht sieht – das ist aus den Fingern gesogen – und sehen Sie, das ist Kunst – das ist Dichtung – das ist eine Dichtung! (Ebd.)

Nicht nur werden hier zwei Lektüremodalitäten gegeneinander ausgespielt – die gewissermaßen naive, die allein den Stoff (und dessen lebensweltliche Referenzen) beachtet, und die professionelle Beurteilung der Form. Indem der Verleger das Kriterium der neuen Form ins Zentrum seines ökonomischen Interesses am Urheber des Dramas setzt, das er »auf 273 Theatern zugleich »raus [bringen]« und »bis nach den Fidschiinseln« plakatieren will (FSV, 85), ruft er außerdem Kaisers oben ausgeführte Poetologie ins Gedächtnis. Sochaczewers der Schule war, die ihn zu dem Werk inspirierte, sondern auch das lebensweltliche »Erlebnis«: »Das [Schriftstellertum, G.W.] rührt allerdings natürlich nicht vom bloßen Aufenthalt hier – das Erlebnis muß hinzukommen.« (FSV, 68) Dass mit diesem Erlebnis die Affäre mit Frau Hornemann gemeint sein muss, wird klar, wenn Vehgesack dann seine Bereitschaft für ein neues Erlebnis Frau Exter gegenüber andeutet: »Ich muß mich nun von meinem ersten größeren Werk ausruhen. Aber dann ist ein neues Erlebnis wieder dringend notwendig.« (Ebd.)

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Begeisterung richtet sich auf die ›gesprengte Form‹ und die Energie, die das Werk ausdrückt (vgl. die Verben »sprengen«, »schießen«, »sprudeln«). Der Fall des Schülers Vehgesack verleiht mithin einer Form von Kaisers Poetologie Ausdruck, die durchaus als ein früher Entwurf der 1922 detaillierter formulierten Ausführungen begriffen werden kann. Nicht zuletzt nimmt die Einsetzung des Schülers als Gottesfigur, die eine neue Ordnung stiftet, eine Figur vorweg, die etwa in Arnolt Bronnens Geburt der Jugend an prominenter Stelle stehen wird (vgl. dazu Kapitel IV.3). Der weitere Verlauf des Dramas setzt die übertriebene Anhäufung komischparodierender Elemente fort, wenn der Rektor versehentlich im Schrank eingeschlossen wird (ein Schicksal, das Kaiser Rektoren offenbar bevorzugt widerfahren lässt) und mit anhören muss, wie seine Nichte, seine Frau und eine weitere Lehrergattin um Vehgesacks Gunst buhlen. Das Ende mit der kolportageartig eingesetzten deus-ex-machina-Figur des Fürsten überbietet das Vorhergehende noch und ruft erneut klassisch-neuhumanistisches Bildungsgut auf, das es zugleich parodiert. Für den Besuch des Fürsten anlässlich der Schillerfeier haben die Schüler, die Lehrer und die Ehefrauen eine Schiller-Inszenierung einstudiert, die aus Auszügen kanonischer Dramen wie Maria Stuart, Wallenstein oder Wilhelm Tell besteht. Durch die beliebige und exzerpthafte Häufung der Stücke entsteht allerdings der Eindruck einer Schiller-Hypertrophie. Dass der Klassiker ohne Sinn und Verstand interpretiert wird, zeigt sich auch an der »mit übertriebenem Dilletantismus« (FSV, 102) vorgenommenen Kostümierung der Darsteller ; an dem Missgeschick, dass der Schuldiener versehentlich den Apfel des Wilhelm Tell verspeist und daran, dass die schwangere Frau Hornemann »in offenem Haar, Panzer, kurzem Röckchen« (FSV, 116) die Jeanne d’Arc gibt – wenige Minuten, nachdem ihr Mann sich umzubringen versucht hat. Das Drama endet mit einem skurrilen Schiller-Potpourri und unterstreicht ein letztes Mal die Subversion der literarischen Tradition. Beide Dramen Kaisers sind folglich mehr als die schulliterarische Spielerei, als welche die Kritiken sie abgetan haben. Vielmehr entwickelt Kaiser darin erste Grundzüge seiner späteren Poetologie und versieht die Handlung – avant la lettre – mit für das Genre neuartigen expressionistischen Zügen, etwa wenn er den Autoritätsverlust der Lehrer darstellt oder am Beispiel des Umgangs mit kanonischem Bildungsgut tabula-rasa-Szenarien imaginiert. Indem er zur Karikatur der durch die Schule repräsentierten alten Ordnung die komischen Elemente übertrieben ostentativ anhäuft, setzt Kaiser insofern ein Verfahren ein, das Komik durch Steigerung, Anhäufung und Hypertrophie parodistischer Momente hervorbringt und das hier als Burleske bezeichnet werden soll.456 456 Zur verfahrensförmigen Definition des Konzepts vgl. die erste Bedeutung des Begriffs im Metzler Lexikon Literatur : »ein Verfahren derbkomischer Verspottung von Personen,

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Dieses Verfahren steht damit in direktem Gegensatz zum Ernst seiner späteren Poetologie. Wenn er also etwa am Beispiel Vehgesacks die Figur des energetischen Dichters, der mit seinem Werk die alte Ordnung irritiert und eine neue stiftet, zunächst in komisch überzeichneter Weise darstellt, um später eben diese Figur zum Inbegriff seines expressionistischen Programms zu adeln, lässt sich innerhalb der Entwicklung seines Werkes eine Entwicklung von der Burleske zum Pathos verzeichnen. Dass diese Entwicklung bislang übersehen wurde, mag nicht zuletzt an Kaisers eigenem Bestreben liegen, diese Vorgeschichte durch editorische Rafinesse im Dunklen zu lassen.

b.

Ästhetische Transzendierung des Überbürdungsnarrativs: ›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹ (1906)

Robert Musils erster Roman, den er während seiner Volontärszeit an der Technischen Hochschule Stuttgart verfasste, ist innerhalb des schulliterarischen Korpus nicht nur wegen seines innovativen Stils und des Tabucharakters seiner Thematik, sondern auch insofern ein Novum, als die erzählte Welt vollständig in einer Institution angesiedelt ist: Der Roman endet mit dem Austritt des Törleß aus dem Internat. Umso bemerkenswerter ist die Tatsache, dass der institutionelle Alltag im Konvikt kaum Gegenstand der Handlung ist. Bereits die Ebene der histoire markiert damit das subversive Potential eines Romans, der die institutionelle Form zwar als Strukturvorgabe nutzt, gleichsam subkutan allerdings eine Geschichte erzählt, die sich institutionellen Normen und Regeln widersetzt. Die folgenden Überlegungen gehen der These nach, dass Musils Roman nicht nur – synchron – eine Reihe epochenspezifischer Diskurse reflektiert und in Form einer neuen Erzähltechnik mit dem Sujet der Schule in Verbindung bringt, sondern darüber hinaus in diachroner Perspektive auf vorgängige Texttraditionen reagiert und diese in modifizierter Weise fortschreibt. Im Gegensatz zu einer Reihe bereits untersuchter Schultexte können Die Verwirrungen des Zöglings Törleß kanonischen Status in der deutschen Literaturgeschichte beanspruchen. Musil beendete den Roman 1905 nach zweijähriger Arbeit am Text, hatte jedoch anfänglich Schwierigkeiten, einen Verleger zu finden: Mehrere Verlage lehnten das Manuskript, wohl des brisanten Inhalts wegen, ab.457 Erst nach einem von Musil auf eigene Initiative etablierten Kontakt zu dem populären Kritiker Alfred Kerr konnte 1906 die Erstauflage im Wiener Charaktertypen, Ideen, Institutionen und Sitten.« Peter Köhler : »Burleske«, in: Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moenninghoff. 3., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart 2007. 110. 457 Adolf Fris¦: »Anmerkungen«, in: Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Fris¦. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg 1978. 1737.

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Verlag erscheinen, später übernahm den Roman unter anderem der FischerVerlag, der ihn noch im Dezember 1924 »als eines seiner ›Bücher für den Weihnachtstisch‹ annoncierte.«458 Die enthusiastische Besprechung durch Alfred Kerr im gleichen Jahr konnte allerdings wenig an der Tatsache ändern, dass dem Törleß erst ein größeres Publikum beschieden war, als Musil sich bereits als erfolgreicher Schriftsteller etabliert hatte. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Annonce des Wiener Verlags, der mit der Suggestion autobiographischer Referenzen das Interesse an dem Text des damals 26-jährigen Autors zu steigern versuchte: »Es ist ein durchaus künstlerisches Werk, ein in seiner Wahrheit und originellen Anschaulichkeit packendes Seelengemälde, dessen realer Hintergrund das Interesse an den geschilderten Zuständen noch erhöht.«459 Dass die Konzentration auf den thematischen Gehalt und die Unterstellung autobiographischer Parallelen kein Einzelfall war, belegt ein retrospektiver Kommentar Musils: […] als D.[ie] V.[erwirrungen] d.[es] Z.[öglings] T.[örleß] im Jahre … erschienen, bekam ich Zuschriften von reformatorischen Pädagogen aus aller Welt, denn es begannen sich damals die neuen Auffassungen in der Behandlung der Jugend durchzusetzen, die heute wieder von den veralteten älteren, die sich inzwischen ein wenig verändert haben, verdrängt werden. Weil mein Buch Geschehnisse in einem Jünglingsu. Knabeninternat erzählte, die haarsträubend sein mußten für einen, der sich die üblichen Vorstellungen über die Quellreinheit der Jugend macht, glaubten die schärfer blickenden Reformatoren der Erziehung in mir einen Bundesgenossen zu erblicken u. fragten mich in ihren Briefen nach Wie, Wo u. wirklichen Einzelheiten. Ich war sehr erstaunt deshalb u. unfreundlich, ja ich fühlte mich beinahe beleidigt.460

Bezüge zu Musils eigener Schulzeit in der Kadettenanstalt Mährisch-Weißkirchen – die auch Rilke besuchte und die Musil rückblickend als »das A-Loch des Teufels«461 bezeichnete – sind indes nicht ganz von der Hand zu weisen. Musil war auch kaum bemüht, die Verbindung zwischen den Namen seiner Protagonisten Beineberg, Reiting und Basini mit denen seiner ehemaligen Klassenkameraden Jarto Reising von Reisinger, Richard Freiherr von Boineburg-Lengsfeld 458 Ebd. 459 Zitiert nach Karl Corino: »Törleß ignotus. Zu den biographischen Hintergründen von Robert Musils Roman ›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹«, in: Text & Kritik 21/22 (1972), 61 – 72, hier 61. Corino gibt zu dieser Quelle den Hinweis auf die Katalognummer VI, 1, 20 im Nachlass an. Er rekonstruiert zudem ausführlich mögliche biographische Anhaltspunkte, aus denen Musil während der Arbeit an seinem Roman geschöpft haben könnte. 460 Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek bei Hamburg 2003. 1536 f. Der Auszug stammt aus dem Entwurf zu einer Autobiographie, den Adolf Fris¦ auf etwa 1930 datiert. Vgl. ebd. 461 Robert Musil: Tagebücher in 2 Bänden. Hg. von Adolf Fris¦. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg 1983. 953.

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sowie Franz Fabini zu kaschieren.462 Wie an anderer Stelle ausgeführt, interessieren biographische Referenzen in diesem Zusammenhang allerdings in erster Linie als Diskurseffekt, den die Gattung der Schulliteratur im Literaturbetrieb reflexartig aufzurufen scheint, denn als Schlüssel zu einer biographischen Lektüre des Werkes. Insofern ist der Autor hier auch in anderer Hinsicht eher als Funktion einer Diskursverknappung interessant,463 wenn man nämlich den Blick auf die verschiedenen philosophischen Einflüsse lenkt, die den Roman prägen. Darin schlägt sich nicht nur Musils berufliche Beschäftigung mit mathematisch-technischen Fragen nieder, sondern auch seine autodidaktische Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie, insbesondere der Phänomenologie (David Hume, Edmund Husserl) und den Schriften von Philosophen und Schriftstellern wie Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Wittgenstein und Maurice Maeterlinck. Neben seiner intensiven Nietzsche-Rezeption beschäftigte Musil sich also insbesondere mit Autoren, die sich dem semiotischen Problem der Arbitrarität zwischen Form und Inhalt sprachlicher Zeichen, der Unmöglichkeit der sprachlichen Vermittlung von Erfahrungen widmeten, wie sie in Hofmannsthals Chandos-Brief und Wittgensteins Tractatus wohl am deutlichsten zum Ausdruck kommt, und in der Literaturgeschichte unter dem Schlagwort der ›Sprachkrise‹ geläufig ist. Diese Spuren sind inzwischen sorgfältig aufgearbeitet.464 In der Forschung lassen sich zwei komplementäre Tendenzen ausmachen: Eine stärker inhaltlich orientierte Richtung stellt den Roman in die Tradition der Schul- und Kadettenliteratur, während Vertreter der anderen Lesart den Törleß in erster Linie als philosophischen Roman betrachten, dessen Inhalt nur als das letztlich beliebige Mittel zur Verhandlung abstrakterer Fragen zu begreifen wäre.465 Eine Versöhnung beider Lesarten wurde bislang 462 Vgl. Corino: Robert Musil, 108 f. 463 Vgl. Albert Kümmel: »Die Person R. M. verschwindet dabei völlig hinter der durchaus zeittypischen Figur des Wissens, das ihren Namen trägt.« Albert Kümmel: Das MoE-Programm. Eine Studie über geistige Organisation. München 2001 (Musil-Studien 29), 26. 464 An erster Stelle ist hier die Monographie von Roland Kroemer zu nennen: Roland Kroemer : Ein endloser Knoten? Robert Musils ›Verwirrungen des Zöglings Törleß‹ im Spiegel soziologischer, psychoanalytischer und philosophischer Diskurse. München 2004 (MusilStudien 33). Jüngere Studien interessieren sich insbesondere für die Verbindung von literarischem und naturwissenschaftlich-physikalischem Wissen im Werk Musils, wobei der Schwerpunkt dabei auf dem Mann ohne Eigenschaften liegt. Vgl. dazu Kümmel: Das MoEProgramm; Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ im Diskurs der modernen Physik. München 1999 (Musil-Studien 28). Vgl. für einen Überblick über die Forschungsansätze Kroemer : Ein endloser Knoten, 10 f. 465 Musil selbst legt diese letzte Lesart nahe: »Aber die Darstellung eines Unfertigen, Versuchenden und Versuchten ist natürlich nicht selbst das Problem, sondern bloß Mittel, um das zu gestalten oder anzudeuten, was in diesem Unfertigen unfertig ist.« Robert Musil: Über Robert Musil’s Bücher, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Fris¦. Bd. 8. Reinbek bei Hamburg 1978. 995 – 1001, hier 996 f., Hvbg. i. O.

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selten unternommen.466 Der Schwerpunkt der inhaltlich orientierten Analysen liegt in den meisten Arbeiten auf Fragen der Machtasymmetrie und institutioneller Repression, häufig unter Bezugnahme auf den sozialgeschichtlichen Kontext der Kadettenhäuser.467 Wenngleich diese Aspekte von nicht zu unterschätzender Bedeutung zur Erschließung des Romans sind, bleiben die Analysen in ihrer Konzentration auf diese Gesichtspunkte einseitig und ignorieren die spezifisch literarische Gestalt des Werkes. Die folgende Betrachtung des Textes will daher Musils Erstling genauer in den Kontext der deutschen Schulliteratur einordnen.

Schulliterarische Mikrosoziologie: Gewaltsame Bildungsprozesse in der Kadettengeschichte Unter thematischen Gesichtspunkten greift der Text auf Erzählmaterial zurück, das den zeitgenössischen Rezipienten von früheren Texten her vertraut gewesen sein dürfte. Auch wenn die Vermutung berechtigt ist, dass »Musil’s first novel attempted to push back the limits of what could be written about«468, dass Musils Roman als Tabubruch wahrgenommen wurde, so ist doch die Thematik der Gewalt in Erziehungsinstitutionen an sich keine neue (für die vergleichsweise drastische Darstellung jugendlicher Homosexualität gilt dieser Befund jedoch nicht). Betrachtet man das Verhältnis von Lehrer- und Schülerfiguren in der Literatur, so ist die strukturelle Gewalt, die diesen asymmetrischen Beziehungen inhärent ist, immer schon evident. Ein mindestens so prominenter Stellenwert kommt in den literarischen Texten aber der Gewalt zwischen Schülern zu, die wesentlich manifester ausfällt. Eine frühe naturalistische Erzählung von Arno Holz und Johannes Schlaf – Der erste Schultag – schildert in drei im naturalis466 Eine Ausnahme stellen die Monographie Roland Kroemers und Rüdiger Campes Interpretation des Romans unter gattungstheoretischen Gesichtspunkten dar: »Unter der Perspektive des Institutionenromans ist hier eine Lektüre vorgeschlagen, in der für ein Mal der Kommentar zu zeitgenössischen Debatten (über Pädagogik und Institution) zusammengeht mit der Kritik der Form […].« Rüdiger Campe: »Das Bild und die Folter. Robert Musils ›Törleß‹ und die Form des Romans«, in: Ulrike Bergermann, Elisabeth Strowick (Hg.): Weiterlesen. Literatur und Wissen. Bielefeld 2007. 121 – 47, hier 123. 467 Für einen Überblick über die sogenannte »Kadettenliteratur« immer noch einschlägig: Robert Minder: »Kadettenhaus, Gruppendynamik und Stilwandel von Wildenbruch bis Rilke und Musil«, in: Ders.: Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays. Frankfurt am Main 1962. 73 – 93. Den Zusammenhang von institutioneller Ordnung und Macht(missbrauch) analysieren auf erhellende Weise Matthias Luserke-Jacqui: »›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹: Adolescent Sexuality, the Authoritarian Mindset and the Limits of Language«, in: Philip Payne (Hg.): A Companion to the Works of Robert Musil. Rochester 2007. 151 – 73; sowie Todd Kontje: »Organized Violence / Violating Order : Robert Musil’s ›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹«, in: Seminar 24 (1988), 239 – 54. 468 Luserke-Jacqui: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 14.

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tischen Stil verfassten Szenen den traumatischen Schulanfang eines Erstklässlers, der zunächst miterleben muss, wie ein jüdischer Mitschüler vom Klassenlehrer beinahe zu Tode geprügelt wird und nach Schulschluss von einem älteren Schüler erpresst wird. Die Geschichte erschien erstmals 1889 in Papa Hamlet, wurde aber in der Forschung kaum beachtet. Gleiches gilt für zwei weitere Texte, welche das Thema ritueller Gewalt zwischen Schülern behandeln. Ernst von Wildenbruchs kurze Novelle Das edle Blut469 (1892) gibt eine militärisch verklärte Darstellung des Sujets. Die Figuren der Rahmenhandlung beobachten zwei sich prügelnde Jungen. Einer der Gäste, ein ehemaliger Offizier, berichtet daraufhin eine Anekdote von einem Brüderpaar aus seiner Schulzeit, dem großen und dem kleinen L. Der Kleinere – gutaussehend, sportlich und beliebt – verteidigt seinen unbeliebten, unfreundlichen Bruder wie ein Löwe gegen die Zudringlichkeiten der Klassenkameraden. Als sich dieser einen Diebstahl leistet, stimmt jedoch auch er der gemeinschaftlichen Züchtigung durch Prügel zu, die dann auch vollzogen wird. Das Vergehen ist damit vermeintlich gesühnt, doch genügen zwei kleine Animositäten, um den Konflikt wieder aufleben zu lassen. Seinen Bruder verteidigend, stürzt sich der kleine L schließlich auf einen der Peiniger und verausgabt sich dabei derart, dass er am nächsten Morgen »besinnungslos im schweren Nervenfieber«470 liegt und wenig später stirbt. Ein ähnlicher Handlungsverlauf kennzeichnet den Briefroman Spartanerjünglinge. Eine Kadettengeschichte in Briefen aus dem Jahr 1898, den die Literaturgeschichte ebenso hartnäckig ignoriert hat wie seinen Verfasser Paul von Szczepanski. Über den werkgeschichtlichen und biographischen Hintergrund ist nichts bekannt. In der innovativen und im Korpus der Schulliteratur einzigartigen Form des Briefromans schildert der Kadett Gerhard von Gottwein seiner Mutter den Alltag im Institut zwischen dem 20. August und dem 16. Dezember 1867; der letzte Brief bleibt wegen des Todes des Kadetten unabgeschlossen. Die Briefe weihen die Mutter in den Alltag der Institution ein, wobei Erlebnisse während der unterrichtsfreien Zeit im Mittelpunkt stehen. Gottwein berichtet minutiös Details des sprachlichen Codes und der Initiationsrituale der Kadetten. Diese Kommunikationsstruktur wäre eine eingehende Untersuchung wert, schließlich gibt Gottwein auf naive Weise sensible Details einer Gemeinschaft weiter, die sich gerade durch den Ausschluss erwachsener Mitwisser kennzeichnet. Dass die Mutter im Gegensatz zum Sohn diese Institution in der Institution nicht anerkennen will, zeigt sich bereits im zweiten Brief, wenn Gottwein sie belehrt: »Aber Du darfst nicht sagen, daß ich zum 469 Luserke weist darauf hin, dass der Titel eine Anspielung auf Conrad Ferdinand Meyers Das Leiden eines Knaben darstellen könnte, wird deren Protagonist doch als »das edelste Blut Frankreichs« bezeichnet. Vgl. ebd., 39. 470 Ernst von Wildenbruch: Das edle Blut, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6: Romane und Novellen. Berlin 1913. 79 – 105, hier 104.

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Herrn Hauptmann von Wecker gehen soll und es ihm anzeigen, wenn die Tertianer mich schinden. Das nennen wir ›petzen‹, und petzen darf ein Kadett nicht. Und es macht stark, sagen die Tertianer, wenn man geschunden wird.«471 Die Hierarchie der Schüler ist allerdings nicht ohne ihre Abgründe, und neben eher harmlosen Streichen fällt schließlich Gottwein selbst einem Mitschüler zum Opfer, der ihn im Winter bei einem nächtlichen Gang auf die Toilette dort einsperrt. Er verkühlt sich dabei derart, dass er schließlich an den Folgen einer Lungenentzündung stirbt, ohne jedoch den Täter ›verpetzt‹ zu haben. Der Hauptmann informiert eine Bekannte der Familie schriftlich über den Tod, damit diese es der Mutter schonend berichte. Aufschlussreich ist sein Bekenntnis, wenn er die Lungenentzündung erklärt als […] die Folge eines Bubenstreiches […], der mit der härtesten Strafe, die unsere Anstaltsgesetze zulassen, mit der Ausschließung des Schuldigen aus dem Kadettenkorps, geahndet werden wird. Aber dieser letzte Brief des Dahingeschiedenen legt auch auf meine Seele eine drückende Schuld, die ich nicht ganz von mir weisen kann. Ich habe dem Kranken unrecht gethan, und ich hätte, da ich selbst Kadett gewesen bin und weiß, wie wunderliche Ehrbegriffe sich in den Knabenjahren herausbilden, wissen müssen, daß Kadett von Gottwein mir nicht die Wahrheit sagte, als er behauptete, dort, wo er halb erstarrt aufgefunden wurde, eingeschlafen zu sein.472

Bemerkenswert ist das Eingeständnis, genau über die Organisation der ›Kadettengesellschaft‹ und deren Rituale Bescheid zu wissen. So fällt auch auf, dass die beiden zuletzt erwähnten Texte keine schulkritischen Texte im eigentlichen Sinn sind. Die Lehrer sind vergleichsweise so milde wie der Unterrichtsalltag gemächlich – gleiches gilt im Übrigen für den Törleß. Schulkritik ließe sich höchstens in einer impliziten Form ausmachen, auf die der Hauptmann anspielt, wenn die Lehrerschaft die ins Sadistische gehenden Rituale der Schüler wissentlich billigt, ja geradezu als zum Erhalt der institutionellen Ordnung notwendig begreift. Sozialgeschichtliche Studien und soziologische Analysen haben diesen Gesichtspunkt in der sozialen Logik von Kadettenanstalten immer wieder betont.473 Für alle genannten ›Vorläufer‹ des Törleß lässt sich insofern wohl sagen, dass sie eine bestimmte Form literarischer Mikrosoziologie betreiben, 471 Paul von Szczepanski: Spartanerjünglinge. Eine Kadettengeschichte in Briefen. Leipzig 1898. 11. 472 Ebd., 82. 473 Vgl. dazu immer noch Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt am Main 1978, hier insbes. Bd. 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des Weißen Terrors, 167 – 78 und 352 – 56; sowie Ian Weinberg: »The Boys and the Total Institution«, in: Edward O. Laumann, Paul M. Siegel, Robert W. Hodge (Hg.): The Logic of Social Hierarchies. Chicago 1970. 395 – 406. Die Quellen für diese Studien sind in erster Linie autobiographische Berichte wie die Folgenden: Ernst von Salomon: Die Kadetten. Berlin 1933; Hans Joachim von Reitzenstein: Vergitterte Jugend: Geschichten aus dem Kadettenkorps. Berlin 1920; Leopold von Wiese: Kadettenjahre. 2. Aufl., Ebenhausen 1981.

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wenn sie die gesellschaftlichen Strukturen auf der Ebene der Schülergemeinschaft untersuchen. Dieses Konzept wird nicht nur im Törleß explizit gemacht, wenn es heißt: »[…] denn jede Klasse ist in einem solchen Institute ein kleiner Staat für sich […].«474 Besonders prägnant hat dies einer der ersten Soziologen, Leopold von Wiese, in seinen 1924 erschienenen autobiographischen Erinnerungen an die Kadettenzeit formuliert: Meine Lehrzeit in der Soziologie ist meine Kindheit in Wahlstatt gewesen. Was ich an Theorien heute zu geben in der Lage bin, ist in erster Linie dem Leben in jener seltsam abgeschlossenen Kadettengemeinschaft entnommen, in der die gesellschaftsbildenden und -zerstörenden Kräfte, das Verbinden und Meiden, der Kollektivgeist und die Einzelseele fast wie im Experiment zu beobachten waren.475

Der Begriff des Experiments wird auch in Bezug auf den Törleß und innerhalb des Romans selbst wiederholt verwendet. Deutlich wird also, dass Musils Roman einen soziologisch interessierten Perspektivenwechsel vornimmt, wenn im Zentrum der erzählten Welt die Schülergemeinschaft selbst steht. Der Text verknüpft zwei Handlungsstränge: Erstens schildert er Törleß’ Verwirrungen, die im Folgenden als epistemologische Krise bezeichnet werden sollen und in seinem Unvermögen bestehen, Erfahrungen zu versprachlichen und so eine Verbindung zwischen seinen bisweilen abgründigen sinnlichen Erfahrungen und der Ordnung des bürgerlichen Alltags zu stiften. Zweitens, und damit zusammenhängend, beschreibt er die Folter Basinis in einer Dachbodenkammer, die maßgeblich von den Mitschülern Reiting und Beineberg angeleitet wird, und von der sich Törleß die Lösung dieser epistemologischen Krise erhofft. Wenn man so will, lässt sich die Handlung insofern auch als Selbstbildungsprozess begreifen, der vor Sadismen nicht halt macht. Dabei lässt sich der Bildungsbegriff mit Joseph Vogl als ein formales Konzept fassen, das durch die Überschreitung einer Grenze bestimmt wird: »Das Subjekt bestimmt sich über Extremwerte, an denen es sich zu ›bilden‹ versucht und dabei in Randzonen vorstößt, in denen über Rettung und Gefährdung noch nicht entschieden ist.«476 Dieses Konzept eines Bildungsgangs, der durch die Konfrontation mit Extremsituationen charakterisiert ist und in Form der Folter Basinis Gestalt annimmt, kennzeichnet Törleß, Beineberg und Reiting gleichermaßen, wenn auch die 474 Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Fris¦. Bd. 1: Prosa und Stücke. Reinbek bei Hamburg 1978. 7 – 140, hier 41. Im Folgenden Siglenangaben. 475 von Wiese: Kadettenjahre, 56. 476 Joseph Vogl: »Grenze und Übertretung. Der anthropologische Faktor in Robert Musils ›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹«, in: Joseph Strutz (Hg.): Robert Musils Kakanie: Subjekt und Geschichte. Festschrift für Karl Dinklage zum 80. Geburtstag. München 1987. 60 – 76, hier 60.

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Protagonisten ein je unterschiedliches Erkenntnisinteresse verfolgen.477 Beineberg interessiert sich für mystische Literatur : Wenn er las, wollte er nicht über Meinungen und Streitfragen nachdenken, sondern schon beim Aufschlagen der Bücher wie durch eine heimliche Pforte in die Mitte auserlesener Erkenntnisse treten. […] Und solches fand er nur in den Büchern der indischen Philosophie, die für ihn eben nicht bloß Bücher zu sein schienen, sondern Offenbarungen, Wirkliches, – Schlüsselwerke wie die alchimistischen und Zauberbücher des Mittelalters. (ZT, 19)

Seiner mystischen Philosophie getreu möchte er Basini quälen, um das Gefühl des Mitleids zu überwinden, das ihn auf dem Weg zu seinem Dasein als »kosmische[r] Mensch[]« (ZT, 59) hinderlich wäre. Es ist dabei vielsagend, dass Beineberg sein Interesse an der Folter in einem Vokabular ausdrückt, das der schulischen Semantik entlehnt ist. Er wirft Törleß Desinteresse am ›Fall Basini‹ vor und hält dagegen: »Damit bist du fertig, weil du kein Talent oder kein Interesse hast, dich selbst an einem solchen Fall zu schulen. Ich aber habe dieses Interesse. […] Deswegen will ich mir Basini erhalten, um an ihm zu lernen.« (ZT, 58, m. Hvbg.) Hier kommt deutlich der subversive Charakter der ›Dachbodeninstitution‹478 zum Ausdruck: In der Institution selbst etablieren die Schüler eigene Regeln, die denen der eigentlichen Institution – so scheint es jedenfalls zunächst – entgegengesetzt sind. Auch für Reiting, den »Tyrann[en]« (ZT, 40), der Napoleon verehrt, hat Basini als Folter-Objekt insofern einen besonderen Stellenwert, als er an ihm seine theoretischen Gedanken über Macht und Manipulation empirisch verifizieren kann: »Denn Reiting kannte kein größeres Vergnügen«, weiß der Erzähler, »als Menschen gegeneinander zu hetzen, den einen mit Hilfe des anderen unterzukriegen und sich an abgezwungenen Gefälligkeiten und Schmeicheleien zu weiden, hinter deren Hülle er noch das Widerstreben des Hasses fühlen konnte.« (Ebd.) Beineberg, der vorgibt, bei der Folter Basinis moralische Skrupel überwinden zu müssen, schildert Reiting im Gegensatz zu sich selbst als kaltherzigen Strategen: »Reiting würde Basini opfern und nichts als Interesse dabei empfinden. Er würde ihn moralisch zerschneiden, um zu erfahren, worauf man sich bei solchen Unternehmungen gefaßt zu machen hat.« (ZT, 59) Törleß selbst ist 477 Mit der Beobachtung dieses Bildungsprozesses soll nicht nahe gelegt werden, der Text spiele auf die Gattung des Bildungsromans an, wie an anderer Stelle argumentiert wird (vgl. Campe: Das Bild und die Folter). Dafür sind die Vergleichsgesichtspunkte zu schwach ausgeprägt. Zur ausführlichen Diskussion dieser Bezugnahme, die insbesondere bei Walsers Jakob von Gunten auffällig häufig vorgenommen wird, vgl. das Kapitel III.3. 478 Tatsächlich haben die rituellen Praktiken der drei Schulkameraden auf dem Dachboden den Charakter einer eigenen Institution. Die Gruppe vereint die Instanzen der Judikative, Legislative und Exekutive im Rahmen der Folter Basinis. Vgl. dazu nur die feierliche Zeremonie der Kuratel (ZT, 50).

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zwar Mittäter, bezüglich Fragen strategischer Manipulation jedoch unambitioniert. Er erkennt in der Misshandlung Basinis eine strukturelle Parallele zu jenem Konflikt, der ihn im Institut beschäftigt und für den ihm der reguläre Schulbetrieb keine Lösung anbietet. Hatten ihn zuvor schon seine Empfindungen gegenüber den als animalisch beschriebenen Bauersleuten im Dorf und der alternden Dorfprostituierten Bozena beschäftigt, begreift er nach Reitings Bericht von Basinis Diebstahl Folgendes: Dann war es auch möglich […], [d]aß zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsichtigen und festen Bau von Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie bewegt und anderen, Herabgestoßenen, Blutigen […] nicht nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden Augenblick überschreitbar aneinanderstoßen… (ZT, 46 f.)

An dieser Stelle kommt Törleß’ Schwierigkeit besonders deutlich zum Ausdruck: So wenig, wie er einen Ausdruck für seine Empfindungen finden kann, so wenig kann er die beiden Sphären einer bürgerlichen und einer triebhaftsinnlichen Welt in Einklang bringen. Seinen Vorschlag, Basini wegen des Deliktes anzuzeigen und seine Entfernung aus dem Institut zu bewirken – ein Vorgehen entsprechend institutioneller Regeln also, das den Bereich triebhafter Delikte aus dem der bürgerlichen Ordnung verbannt hätte – lehnen die anderen beiden ab. Sie wollen Basini für ihre eigenen Interessen verwenden. Als Törleß dies begreift, verstärkt sich seine Verwirrung: Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen drohte. (ZT, 64)

Auf das Unvermögen, Empfindungen zu benennen, bezieht sich bereits das Maeterlinck-Zitat zu Beginn des Textes.479 Eben für diese Schwierigkeit des Törleß, die ›andere‹ Welt der Folter mit der bürgerlichen Welt des Instituts und seiner Eltern zu vereinbaren und dies zu versprachlichen, scheint Basini die Lösung darzustellen. Der gemeinsame Nenner beider Phänomene – der Folter und der epistemologischen Krise – besteht in der Figur der Grenzüberschreitung, die im letzteren Fall für Törleß undenkbar und daher auch nicht zu versprachlichen ist. Im Vergleich zu seinen Kameraden ist nun auffällig, dass Törleß diese 479 »Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.« (ZT, 7)

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grundlegende Irritation der schematisch-alltäglichen Ordnung nicht handelnd zu begreifen versucht. Der Roman schildert über weite Strecken schlicht Szenarien der Introspektion, in denen die Handlung der erzählten Welt still gestellt wird. Die Entwicklung, die Törleß durchläuft, ist also keine, die sich in der direkten Auseinandersetzung mit der Welt vollzieht, sondern in erster Linie durch deren mentale Reflexion. Wie Albert Kümmel gezeigt hat, sprach Sigmund Freud im Zusammenhang mit arbeitswissenschaftlichen Forschungen von Denken als Probehandeln – eine Beobachtung, die sich für die Figur des Törleß als weiterführend erweist: […] Handeln in mikroskopischer Verkleinerung sozusagen. Das meint er wörtlich – die messbaren minimalen Muskelbewegungen vertreten nichtausgeführte [sic!] Handlungen. Der Vorteil besteht in einem wesentlich geringeren Energieverbrauch. Ein Minimum an Energie verbraucht also, wer gar nicht handelt, sondern es beim Probehandeln beläßt […].480

Obgleich Törleß bei den Zusammenkünften auf dem Dachboden in der Rolle des Beobachtenden bleibt, lässt sich mitnichten ein solch geringerer Energieverbrauch ausmachen. Im Gegenteil: Je weiter sein Verwirrungsprozess fortschreitet, desto deutlicher wird, dass auch dieser Roman eine – modifizierte – Überbürdungsgeschichte erzählt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Zunächst sollen anhand dreier Beispiele die verschiedenen Stadien verdeutlicht werden, die Törleß zur Überwindung seiner Krise durchläuft. Denn obwohl die Handlungen in der roten Kammer des Dachbodens wegen ihres Tabucharakters im Roman wesentlich prominenter erscheinen als andere Episoden, ist doch mit Rüdiger Campe festzuhalten: »In Wahrheit sind die Verfahren, von denen in den weißen Räumen der Institution gesprochen wird, nicht weniger wichtig und strukturell sogar ausschlaggebend.«481 So erkennt Törleß beispielsweise in den im Mathematikunterricht behandelten imaginären Zahlen eine strukturelle Parallele zu dem Problem, das ihn beschäftigt: »In solch einer Rechnung«, erklärt er Beineberg, sind am Anfang ganz solide Zahlen, die Meter oder Gewichte oder irgend etwas anderes Greifbares darstellen können und wenigstens wirkliche Zahlen sind. Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber diese beiden hängen miteinander durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt. (ZT, 74)

In der Hoffnung auf Aufklärung vereinbart er ein Gespräch mit dem Mathematiklehrer, denn schließlich müsse die Schule, »wenn sie wirklich die Vorbereitung für das Leben sein soll« (ZT, 73), über diesen Umweg eine Antwort auf 480 Kümmel: Das MoE-Programm, 107. Kümmel gibt zu diesen Überlegungen Freuds keine Primärquelle an. 481 Campe: Das Bild und die Folter, 138.

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seine Fragen liefern können. Doch der Lehrer enttäuscht ihn. Wie der Erzähler andeutet, interessiert Törleß neben der Fachfrage auch das Arbeitszimmer des Lehrers, dessen Leben »im tägliche[n] Konkubinat mit der Mathematik« (ZT, 75) ihm ein diffuses Gefühl der Auserwähltheit einflößt. Entgegen seiner Erwartungen wirkt das Zimmer jedoch billig, das »Gewöhnliche« der menschlichen Makel des Mathematiklehrers lässt ihn misstrauisch werden, und so steht noch vor Beginn des Dialogs »die Atmosphäre eines Mißverständnisses« (ZT, 76) im Raum. Törleß fehlen die Worte, um seine Schwierigkeit zu formulieren. Der Lehrer begreift sein Problem zwar, vertröstet ihn aber mit dem Hinweis, es handele sich um eine mathematische Denknotwendigkeit: »Lieber Freund, du mußt einfach glauben; wenn du einmal zehnmal soviel Mathematik können wirst als jetzt, so wirst du verstehen, aber einstweilen: glauben.« (ZT, 77) »Wenn dies wirklich die Vorbereitung für das Leben sein soll, wie sie sagen, so muß sich doch auch etwas von dem angedeutet finden, was ich suche« (ZT, 73), hatte Törleß zuvor gehofft. Er wähnt sich um eben diese Einsicht betrogen. Doch wie noch auszuführen sein wird, bleibt der Lehrer in der Logik des institutionellen Systems, wenn er die Operationalität des mathematischen Symbolismus beschreibt. Ein zweiter Ordnungsversuch ist Törleß’ Schreiben. Nachdem er seine ersten poetischen Versuche verbrannt hat und wenig später an der Kant’schen Philosophie gescheitert ist, beginnt er einen anthropologischen Aufsatz mit dem Titel De natura hominum: »Wenn das alles geordnet, Faktum für Faktum aufgezeichnet sein werde, hoffte er, werde sich auch die richtige, verstandesgesetzmäßige Fassung von selbst ergeben.« (ZT, 88) Während des Schreibens und der Beobachtung Basinis, der im gleichen Raum sitzt, gewinnt Törleß eine erste Erkenntnis, die der Erzähler als gleichsam epiphanisches Erlebnis darstellt: Ein Gedanke preßte Törleß am ganzen Körper zusammen: Sind auch die Erwachsenen so? Ist die Welt so? Ist es ein allgemeines Gesetz, daß etwas in uns ist, das stärker, größer, schöner, leidenschaftlicher, dunkler ist als wir? […] … Und in jedem Nerv seines Körpers bebte ein ungeduldiges Ja als Antwort. Törleß sah mit glänzenden Augen um sich. Noch immer waren die Lampen, die Wärme, das Licht, die emsigen Menschen da. Aber er kam sich unter all dem wie ein Auserwählter vor. […] Hastig, mit der Geschwindigkeit der Angst, griff er nach der Feder und notierte sich einige Zeilen über seine Entdeckung: noch einmal schien es in seinem Innern weithin wie ein Licht zu sprühen – – – – – dann brach ein aschgrauer Regen über seine Augen, und der bunte Glanz in seinem Geiste erlosch. – – – – (ZT, 92)

Erstens stellt das Schreiben den ersten Schritt zur Lösung des Konflikts dar, der, wie der Erzähler später ausführt, in einer intellektuell-distanzierten Haltung dem Leben gegenüber bestehen wird. Es ist deshalb bezeichnend, dass diese erste Annäherung an die Erkenntnis, »auch die Erwachsenen« erlebten eine Diskrepanz zwischen der erfahrenen Welt und der ihrer sprachlichen Reflexion,

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sich im Medium der Schrift vollzieht. Zweitens ist hier ein formaler Aspekt erwähnenswert, der auch an anderen Stellen zum Ausdruck kommt: Um Törleß’ Bewusstsein darzustellen, entwickelt der Roman eine Form sprachlicher Entropie, in der die referentielle Rede versagt und in Markierungen des Schweigens mündet: Die Sprache verliert sich an Satzzeichen und nähert sich so einer performativen Darstellung an, die ihrem Gegenstand Ausdruck zu geben sucht, ohne ihn im Sinn Maeterlincks zu entstellen: »Referenzlose Bilder, abgetrennte Wörter, fragmentarische Sätze stehen für eine Sprachform, die ihren signifikativen Charakter einbüßt, ihren Gegenstand nicht repräsentiert, sondern seinem Schwinden Ausdruck verleiht.«482 Gleichsam als Steigerung dieser Erfahrung der Grenzüberschreitung entwickelt Törleß ein gesteigertes Begehren nach Basini. Zunächst geht er allein mit ihm auf den Dachboden und versucht dort, im Gespräch mit ihm dessen Gefühle bei der Folter zu begreifen. Ein weiteres Mal erfährt er dabei ein Moment epiphanischer Erkenntnis, wenn er feststellt, dass die scheinbar fremden und großen Erfahrungen in der Dimension des individuellen Lebens klein und nichtig erscheinen (vgl. ZT, 106). Im Anschluss daran – und die syntagmatische Fügung der beiden Ereignisse ist nicht beliebig – gibt er sich schließlich Basinis Drängen hin, als dieser eines Nachts nackt unter seine Bettdecke schlüpft. Für einen Moment gibt er das Bestreben auf, sinnliche Erfahrung sprachlich zu bannen: Da suchte Törleß kein Wort mehr. Die Sinnlichkeit […] war jetzt zu ihrer vollen Größe erwacht. […] Nur in dem Augenblick, als es ihn fortriß, wachte er sekundenlang auf und klammerte sich verzweifelt an den einen Gedanken: Das bin nicht ich! … nicht ich! … Morgen erst werde ich es wieder sein! … (ZT, 108)

Nach dieser endgültigen Grenzüberschreitung – dem dritten Stadium in Törleß’ Entwicklungsprozess – beruhigt sich sein erregtes Gemüt nach und nach, was nicht zuletzt in einer Zurücknahme der als ›sprachlichen Entropie‹ bezeichneten Ausdrucksform deutlich wird. Er verhält sich distanzierter gegenüber den zunehmend sadistischen Plänen seiner beiden Mitschüler. Bevor es zur Eskalation kommt, fügt der Erzähler eine proleptische Bezugnahme auf Törleß’ weitere Entwicklung ein: Törleß wurde später, nachdem er die Ereignisse seiner Jugend überwunden hatte, ein junger Mann von sehr feinem und empfindsamem Geiste. Er zählte dann zu jenen ästhetisch-intellektuellen Naturen, welchen die Beachtung der Gesetze und wohl auch teilweise der öffentlichen Moral eine Beruhigung gewährt, weil sie dadurch enthoben sind, über etwas Grobes, von dem feineren seelischen Geschehen Weitabliegendes

482 Vogl: Grenze und Übertretung, 69.

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nachdenken zu müssen, die aber eine gelangweilte Unempfindlichkeit mit dieser großen äußeren, ein wenig ironischen Korrektheit verbinden […]. (ZT, 111)

Was der Erzähler hier vorwegnimmt, ist nicht nur die aufschlussreiche Information über die Entwicklung des Törleß zu einer »ästhetischen Natur«, sondern auch ihre genauere Qualifizierung als eines Geisteszustandes, der sich des Nachdenkens »über etwas Grobes« enthoben wähnt. Törleß’ epistemologischer ›Knoten‹ ist mithin als ein solcher erkannt und zugunsten einer ästhetischen Perspektive gelöst worden, die sich für ethische Fragen nicht oder jedenfalls nur sekundär interessiert: »Diesen Menschen sind also die Gegenstände, welche ihre moralische Korrektheit herausfordern, höchst gleichgültig. Törleß bereute daher auch nie in seinem späteren Leben das damals Geschehene.« (ZT, 112) Einen ähnlichen Fall wie den seinen hätte er einzig aus dem Grund für tadelnswert befunden, dass es ihm an ästhetischem Potential mangle: »Er hätte einen solchen Menschen gewissermaßen nicht deswegen verachtet, weil er ein Wüstling, sondern weil er nichts Besseres ist; […] immer also nur wegen des traurigen, beraubten, entkräfteten Anblicks, den er bietet.« (Ebd.) Wenngleich es sich hier um eine sublimierte Form der Ästhetik handelt, ist diese Umstellung von der moralischen Unterscheidung von gut/böse auf eine ästhetische von schön/hässlich bereits von Wedekinds Mine-Haha her bekannt. Obwohl im Anschluss an diesen Exkurs der Missbrauch Basinis eskaliert – nachdem Reiting und Beineberg die Kameraden gegen ihn aufgehetzt haben, wird er der Klasse schließlich gleichsam als Opfer dargebracht und entkommt nur dank Törleß’ Vorwarnung – verhält Törleß sich den Ereignissen gegenüber zunehmend gleichgültig. Als der Skandal aufgeklärt wird, verstehen Reiting und Beineberg es geschickt, Basini als Schuldigen darzustellen, der schließlich der Schule verwiesen wird. Törleß flüchtet aus dem Institut, wird aber aufgegriffen und – von Reiting und Beineberg entlastet – dem Lehrerkollegium vorgeführt. Das Gespräch vor den Lehrern ließe sich seiner Position im Roman nach auch als inoffizielle Reifeprüfung lesen. Die Lehrer wollen zunächst nur wissen, »was Sie bewog, das Vergehen des Basini zu verheimlichen.« (ZT, 133) Törleß versucht daraufhin, sein Interesse am Diebstahl Basinis und der damit verbundenen Grenzüberschreitung genauer zu erläutern, stößt jedoch auf zunehmendes Unverständnis: »Aber um Himmels willen. Törleß, wohin verirren Sie sich?« (ZT, 134) Törleß’ philosophische Reflexionen liegen außerhalb der Diskursregeln der institutionellen Rede. So wie nicht die Täter Reiting und Beineberg, sondern das Opfer Basini gestraft wird, weil die Logik der Institution Diebstahl im Gegensatz zu Sexualfolter vorsieht, so kann das Kollegium nur mit Unverständnis auf Törleß’ Rede reagieren. In einer letzten Anstrengung versucht er, seine Empfindungen plausibel zu machen:

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Ich fürchte nichts mehr. Ich weiß: die Dinge sind die Dinge und werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie immer bald so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen …. Und ich werde nicht mehr versuchen, dies miteinander zu vergleichen…. (ZT, 138)

Er verlässt daraufhin den Raum und lässt die Lehrer zurück, welche aus ihrem Zögling nicht klug werden. Törleß’ Verhalten schreiben sie insofern einen Sinn zu, als sie es pathologisieren: »Erregung« und das »Verwirren ganz einfacher Dinge« konstatiert der Direktor und diagnostiziert Törleß eine »hochgradige Überreizung«, die ihn für Privatunterricht qualifiziere (ebd.) – ein pragmatischer Rekurs auf die Kulturkrankheit der Überbürdung, die für das institutionelle Personal eine handliche Lösung der Probleme bietet. Gleichzeitig mit einem Schreiben des Direktors bittet Törleß seine Eltern um die Entlassung aus dem Institut. Der Roman schließt mit Törleß’ Abreise in Begleitung seiner Mutter. Mit dem Törleß rekurriert Musil auf Erzählmaterial, das, wie oben geschildert, Geschichten ›subinstitutioneller‹ Institutionen präformiert – Geschichten mithin, die innerhalb der Gemeinschaft der Schülerschaft ihren Ort haben. Wo die anderen Texte bei der Darstellung mikrosoziologischer Strukturen innerhalb der ›totalen‹ Institution483 verbleiben und diese häufig mit dem Skandalon des Schülertodes enden lassen, der die dramatische Klimax und den ›Ernst des Spiels‹ dieser Gesellschaft in der Gesellschaft zum Ausdruck bringt, überbietet der Törleß diese Variante. Er gibt der Kadettengeschichte ein anderes Telos, indem er den Gewaltexzess auf sein Potential für epistemologische Fragestellungen hin transparent macht. Mehr noch als die Schilderung der Sadismen Reitings und Beinebergs scheint dieser Aspekt das eigentlich Neue und, wenn man so möchte, Skandalöse an Musils Roman zu sein. Die Grausamkeit des Erziehungs- und Unterrichtsregiments wird an dieser Stelle nicht mehr nach außen auf andere Figuren – Lehrer und stumpfsinnige Pädagogen – projiziert, wie es noch in den früheren Texten der Fall ist. Vielmehr wird hier die Gewalt verdeutlicht, die dem selbstgeleiteten Bildungsprozess der Komplizen Reiting, Beineberg und Törleß zugrunde liegt, wenn sie ihre Erkenntnisinteressen mit Hilfe eines Menschenopfers zu befriedigen versuchen. Insofern bleibt es auch schlüssig, dass Törleß’ eigene Einschätzung seiner Entwicklung im Rahmen des proleptischen Exkurses folgendermaßen ausfällt: »beschämend« sei die Erinnerung daran nicht. »Aber etwas von ihr [der Erniedrigung, G.W.] blieb für immer zurück: jene kleine Menge Giftes, die nötig ist, um der Seele die allzu sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere, zugeschärfte, verstehende zu geben.« (ZT, 112) Diesen Bildungsprozess von einem 483 Zu dem Begriff vgl. Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 9. Aufl., Frankfurt am Main 1993.

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naiven hin zu einem reflektierten Geisteszustand, der um den Preis eines Menschenopfers zustande kam, toleriert die Institution. Die Tatsache, dass sie das tut, gestattet Törleß Rückschlüsse auf einen gesellschaftlichen Funktionsmechanismus, den Todd Kontje genauer beschrieben hat: His [Törleß’, G.W.] goal is no longer to establish an autonomous self that assumes a productive role in society, as one would expect in a classical Bildungsroman, but rather to create a fictional character that enables him to function within the society, while maintaining the awareness that its forms are merely empty, arbitrary rules without intrinsic meaning, and which therefore cannot hope to establish an effective bridge between themselves and any deeper reality. In short, he becomes an aesthete.484

Als er aus dem Institut austritt, hat Törleß die Arbitrarität begriffen, die der Setzung institutioneller Regeln zugrunde liegt. Nach den ›Verwirrungen‹: Einsicht in die Kontingenz institutioneller Ordnungen An verschiedenen Stellen wurde oben bereits darauf hingewiesen, dass der Törleß auf Strukturelemente der Überbürdungsgeschichte rekurriert. Die epistemologische Krise schildert der Text häufig in Kategorien der Überbürdung, und dies zunächst auf semantischer Ebene.485 Der zunehmenden Verwirrung des Törleß entspricht eine geradezu inflationär zu nennende Häufung einer Begrifflichkeit der Nervosität, Verausgabung und Erschöpfung. »Die Aufregungen hatten Törleß ermüdet, seine Gedanken ketteten sich nur mehr lose aneinander« (ZT, 61) – in einer für die Überbürdungsgeschichte charakteristischen Weise ist auch hier die Ermüdungserscheinung mit einem Verlust der Konzentrationsfähigkeit verknüpft.486 Im Verlauf des Romans verdichtet sich die Semantik der wechselseitigen Erhitzung und Aufregung beziehungsweise Erschöpfung und Verausgabung. Musil schreibt die Überbürdungsgeschichte jedoch nicht nur in dieser stilistisch-semantischen Dimension fort, er verwendet auch deren Figu484 Kontje: Organized Violence / Violating Order, 247. 485 Die Frage, inwieweit Musil dieser Umstand bewusst war oder er dies gar beabsichtigt hat, ist hier nebensächlich; es geht vielmehr um die Beobachtung von Texteffekten, die als solche auch ohne Annahme einer Autorintention plausibel gemacht werden können. 486 Die Verknüpfung der im Roman sehr prominenten Problematik des Blicks und des Sehens mit dem zeitgenössischen Aufmerksamkeitsdiskurs wäre eine eigene Untersuchung wert, die an dieser Stelle nur angedeutet werden kann. Vgl. dazu zum Beispiel: »[…] er erhaschte nie die Erinnerungsbilder beider Gefühle zugleich, sondern jedesmal ging wie ein leiser Knacks zwischendurch ein Gefühl, wie es im Körperlichen etwa den kaum merkbaren Muskelempfindungen entspricht, die das Einstellen des Blicks begleiten. Und jedesmal beanspruchte dies gerade im entscheidenden Momente die Aufmerksamkeit für sich, die Tätigkeit des Vergleichens drängte sich vor den Gegenstand des Vergleiches, es gab einen kaum fühlbaren Ruck, – und alles stand still.« (ZT, 106)

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reninventar.487 In formaler Hinsicht verstärkt diese Betonung der Überreiztheit die oben geschilderte Technik der Interpunktion, die den Verlust der Ausdrucksfähigkeit deutlich macht und die semantische Diffusion der Energie in eine semiotische Diffusion der Zeichen übersetzt. Diese stilistische Eigentümlichkeit wurde oben als sprachliche Entropie bezeichnet. Sie steigert sich mit der zunehmenden Verwirrung des Törleß und kulminiert, als er sich das erste Mal schreibend der Lösung seiner Schwierigkeiten nähert: Die an früherer Stelle zitierte Passage, in der die flüchtige Lösung seiner Krise mit der Analogie einer Lichtfontäne beschrieben wird, ist bezeichnend, weil in ihr das Verlöschen zum Ausdruck, die vollständige Tilgung sprachlicher Rede, wie sie die Interpunktion ausdrückt und wie sie wohl auch im Namen des Törleß angelegt ist.488 In der narrativen Gestaltung unterscheidet sich der Text jedoch von dem Erzählschema der Überbürdungsgeschichten. Der Erzähler berichtet hier grundsätzlich aus der Nullfokalisierung und aus einer heterodiegetischen Position. Er verfügt also über umfassende Kompetenzen der Introspektion, insbesondere in Bezug auf die Figur des Törleß. Kennzeichnend für die Fokalisierung ist ihr bevormundender Ton. Er resultiert aus der Überblendung der Erzählerstimme, die Törleß geradezu auslegt und dadurch gleichsam ›hinter dessen Rücken‹ mit dem Leser kommuniziert,489 und den temporären Wechseln in den inneren Monolog des Protagonisten. Im Gegensatz zu den Überbürdungsgeschichten, die weitgehend die Sicht des nullfokalisierenden Erzählers wählen und damit eine parteiisch empathielenkende Erzählinstanz der »humanen Stellvertretung«490 wählen, werden hier also subjektive Innenschau und objektiver Kommentar amalgamiert. Die Identität des Erzählers bleibt damit intransparent: Es könnte der aus der Retrospektive berichtende Törleß sein, der

487 Dabei ließe sich diskutieren, ob der Törleß die Entwicklung der in den Überbürdungsgeschichten angelegten Figur des schriftstellernden Freundes darstellt, oder ob die Biographie des überbürdeten Schülers in der Figur des Törleß gewissermaßen positiv gewendet wird, da sie nicht im Tod endet, sondern die gesellschaftliche Distanzierung – weniger radikal – in der kritischen Haltung einer ästhetischen Existenz auflöst. 488 Dass der Name des Protagonisten auf das semantische Feld des Begriffs der »Tür« oder des »Tores« anspiele, wurde häufig bemerkt. Karl Corino weist darüber hinaus nach, dass der Name im Ungarischen törl¦s ausgesprochen werde und dort »das Ausstreichen, die Löschung, die Ausradierung, die Tilgung, die Amortisation« bedeute. Corino: Robert Musil, 250. 489 So auch Clinton Shaffer : »In loco parentis: Narrating Control and Rebellion in Robert Musil’s ›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹«, in: Modern Austrian Literature 35 (2002), 33. Vgl. etwa den korrigierenden Eingriff des Erzählers an folgender Stelle: »Er hielt es für Heimweh […]. In Wirklichkeit war es aber etwas viel Unbestimmteres und Zusammengesetzteres.« (ZT, 9, m. Hvbg.) 490 Dirk Dethlefsen: »›Die Turnstunde‹. Rilkes Beitrag zu einer neuen Schule des Sehens«, in: Seminar (1982), 235 – 60, hier 253.

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seine eigene Entwicklung erzählt oder aber ein distanzierter Beobachter.491 Interessant ist aber weniger die Auflösung dieser erzähltechnischen Konstruktion als der Befund einer Diskrepanz, die zu einem nicht still zu stellendem Oszillieren zwischen der Törleß-Exegese des Erzählers und dem dazwischen geschalteten Monolog des Törleß selbst führt. Diese Konfrontation eines auktorialen Erzählstils mit dem der subjektiven Innenschau vollzieht formal Törleß’ Emanzipationsprozess nach. Tatsächlich nehmen die Bemerkungen des Erzählers zum Ende des Textes hin zugunsten einer verstärkten internen Fokalisierung des Törleß ab. Schließlich fällt an dem Erzählschema des Romans vor allem sein episodischer Charakter auf. Einen Hinweis darauf gibt das zu Beginn der Handlung geschilderte Szenario des Bahnhofs, das eine Deutung der einzelnen Episoden in Törleß’ institutioneller Biographie als Stationen oder Etappen seines Entwicklungsgangs nahelegt. Die episodische Reihung kommt durch den dezidiert experimentellen Charakter von Törleß’ eigenen Versuchsanordnungen zustande, die er zur Lösung seiner epistemologischen Krise arrangiert. So beschließt Törleß, nachdem die Schreibversuche und die Lektüre philosophischer Schriften unergiebig geblieben sind, einen ›Methodenwechsel‹, nämlich »immer und immer wieder die Situationen zu suchen, welche jenen für ihn so eigentümlichen Gehalt in sich trugen […].« (ZT, 93) Dieses Verfahren wird explizit als Experiment bezeichnet, das allerdings durch die Sinnlichkeit Basinis bedroht wird: »Sobald dieses unklare Gefühl sich geltend machte, verlor seine Aufmerksamkeit das Behagliche, mit dem man der Entwicklung eines wissenschaftlichen Experimentes zusieht.« (Ebd.) Die Handlung erhält durch diese Sequenzierung tatsächlich den Protokollcharakter eines trial-and-error-Verfahrens. Besonders deutlich wird dies, nachdem eine weitere Versuchskonstellation – die Lektüre Kants bei der gleichzeitigen Beobachtung Basinis – gescheitert ist: »Aber es ging nicht. Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig vorher ausdachte. Es war zu wenig unvermittelt und die Stimmung erlahmte rasch […].« (ZT, 95) Diese episodische Struktur ist insofern charakteristisch für Robert Musils Frühwerk, als sie an die Verbindung zwischen Ästhetik und Physiologie erinnert, die in seiner frühen, von Nietzsche geborgten persona des Monsieur le Vivisecteur zum Ausdruck kommt, wie Musil sie als Verfasser des Nachtbuches verwendet.492 An das Diktum Nietzsches angelehnt, nach dem Ästhetik »nichts als eine angewandte Physiologie«493 sei, lässt sich die episodische Fügung der Handlung hier 491 Diese Doppelung wird besonders an der Stelle deutlich, an dem der Erzähler das Wort ›ich‹ verwendet: »Ich meine diese gewisse plastische, nicht bloß gedächtnismäßige, sondern körperliche Erinnerung […].« (ZT, 9) 492 Constanze Breuer: »Das Nervenmotiv in den frühen Heften Robert Musils«, in: MusilForum 28 (2003/4), 6 – 25. 493 Zitiert nach ebd., 13.

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auch als erzählerisches Sezieren eines verwirrten Geisteszustands lesen, der Charakteristika der Überbürdung aufweist, schließlich aber als einem ästhetischen Entwicklungsprozess unterworfener erkennbar wird. Strukturelemente der Überbürdungsgeschichte sind im Törleß insofern zwar noch als Sediment vorhanden, werden allerdings durch ihre Kopplung an die epistemologische Krise und ihre Überwindung produktiv gewendet: Die ›Verwirrungen‹ führen nicht zur Kapitulation vor der Institution, sondern zur Einsicht in ihren Funktionsmechanismus. Im Zusammenhang mit diesem veränderten Erzählschema muss an die Rahmung der Handlung durch die Institution erinnert werden. Indem sie den Erzählzusammenhang präformiert, lässt sich der Roman als eine Manifestation eines neuen Gattungstypus betrachten, der im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert entsteht. Rüdiger Campe hat vorgeschlagen, dass in dieser Zeit das Modell des Institutionenromans wieder aufgegriffen wird. Seine Skizze der Genese des modernen Institutionenromans beschreibt folgende Entwicklung: Der Roman des 18. Jahrhunderts hat bekanntlich mit langanhaltender Wirkung umgestellt auf das Analogon der Biographie. Damit folgte er zuerst dem Modell der Conversio, dann dem der Entwicklung und der Bildung. Das biographische Schema aber ist offenbar eine Variante des Romans, der seine Form nach dem Vorbild der Geschichtserzählung ausbildet. Der hier vorzustellende Vorschlag ist es nun, […] eine Gruppe von Romanen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Wiederkehr des Romans der Institution aufzufassen. Sie wären dann nicht so sehr Kritik, Negation oder Ironisierung des Biographieromans – obwohl sie dies sicherlich auch sind –, sondern sie realisierten einen anderen komplementären Formtypus. Sie sprächen von einer anderen Stelle her, und sie gingen auf eine andersartige Konstellation aus Fiktion (›discours‹) und Geschichte (›histoire‹) zurück. […] Vielleicht ließen sich auch Romane von Musil […] für eine solche Gruppierung in Betracht ziehen. Und ganz im Sinne dieser Typologie kann man hinzufügen, dass innerhalb von biographisch modellierten Romanen Institutionenromane oftmals eingelegt sind. […] Was man in ihnen findet, sind Fiktionen von Geschichten, die ihren Formzusammenhang nicht am Leben der Protagonisten, sondern am Fortbestehen und Zerfall, am Dasein von subund prästaatlichen Institutionen haben. Von Institutionen freilich, die im Gegenzug das Leben von Menschen einrichten.494

494 Rüdiger Campe: »Robert Walsers Institutionenroman ›Jakob von Gunten‹«, in: Rudolf Behrens, Jörn Steigerwald (Hg.): Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Würzburg 2005. 235 – 50, hier 238 f. Problematisch an Campes Gattungskonzept ist, dass sein Institutionenbegriff in den verschiedenen Arbeiten heterogen bleibt und mal als Erzählschema, mal als soziologisches Konzept verwendet wird. Nichtsdestotrotz ist der Grundgedanke einer formalen Veränderung von Erzählstrukturen durch den Rahmen der Institution plausibel und zumindest für die Schulliteratur anschlussfähig.

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Für den Törleß selbst konstatiert Campe an anderer Stelle die einzigartige Verschränkung des Bildungs- und des Institutionenromans und erklärt zum »Formkalkül« des Romans die Beobachtung, dass sich »Institutionenroman und Biographieroman […] wechselseitig kontingent, das heißt als voneinander abhängig«495 setzten. Er macht dies unter anderem an Törleß’ retrospektivem Resümee fest: »Reuelos ästhetisierend entwirft das biographische Leben die Urszene seiner Begründung im Institut.«496 Während Campe für seine weitere Analyse auf die Erzählerfigur und das Motiv der Bilder fokussiert, soll an dieser Stelle der Institutionenbegriff hinsichtlich einer anderen Perspektive ausgeführt und auf seine Brauchbarkeit zur Analyse der Gattungsfrage im Törleß überprüft werden. Eine prominente Position in der anthropologischen Institutionentheorie ist Arnold Gehlens Konzeption der Institution als Spiel. Spiele wie Institutionen lassen sich Gehlen zufolge charakterisieren als ein System aufeinander bezogener, an einer bestimmten Aufgabe orientierter Handlungen, wobei jede derselben sich auf die vorweggenommenen Antworten definierter Anderer schon einstellt. Dieses geordnete System möglicher Reaktionen von Partnern und Gegnern wird in Form der ›Spielregeln‹ abgehoben. Sie sind es, die das Netz der Möglichkeiten von Verhalten organisieren […].497

Gehlens Begriff der Spielregel verdeutlicht Campes Beobachtung des formal neuen Telos der Institution, an dem sich die Fiktionen der Geschichten ausrichten. Die Institution stiftet Regeln, schafft einen Rahmen, an dem der Protagonist sein Verhalten strategisch ausrichten muss. Im Gegensatz etwa zum Bildungsroman, in dem Institutionen zwar auch präsent sind, deren Steuerungsfunktion – wie im Fall des Wilhelm Meister – aber erst im Nachhinein ersichtlich wird beziehungsweise weniger zentral ist, organisieren diese Spielregeln tatsächlich die Handlung des Romans, sofern diese im Törleß zwischen Ein- und Austritt in die Institution angesiedelt sind. Dadurch wird Törleß’ epistemologische Krise begreifbar als eine Suche nach den Spielregeln, nach denen das Leben im Institut – als gesellschaftlichem Mikrokosmos – funktioniert. Die Versuchsanordnungen, die Törleß wie beschrieben im trial-and-errorVerfahren absolviert und die der Handlung ihren episodischen, stationenhaften Charakter verleihen, wären dann als Spielkonstellationen en miniature zu lesen, in denen Törleß die Regeln des Spiels nachzuvollziehen sucht. Und darin besteht 495 Campe: Das Bild und die Folter, 128. Campe führt allerdings auch sein Verständnis des Bildungsromans nicht weiter aus. Das Erzählschema des klassischen Bildungsromans kann im Törleß jedoch nicht vorausgesetzt werden. 496 Ebd., 128. 497 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. 6. Aufl., Frankfurt am Main 2004. 41.

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wohl das eigentliche Skandalon der Handlung, so man sie unter moralischen Gesichtspunkten betrachten möchte, dass es Törleß weniger um die ethische Dimension gesellschaftlichen Verhaltens als vielmehr für die formalen Bedingungen seiner Möglichkeit zu tun ist. Damit begreift er aber schließlich das Wesen der Institution, die »der Grundlosigkeit der Geltung von Codes und Normen Halt gibt.«498 Die Institution hat – als metonymische Repräsentation der Gesellschaft – nur dann Bestand, wenn sie die ihr eigene ›Gewalt‹, also das rechtsphilosophische Paradox der beliebigen Setzung eines Anfangs,499 ignoriert. Eben dadurch wird nicht nur der mathematische Formalismus mit seinen beliebigen Denknotwendigkeiten verständlich. Diese Regellosigkeit am Anfang der Institution macht auch begreiflich, warum Basini bestraft wird, Reiting und Beineberg hingegen davonkommen – das Opfer wird für die funktionierende Ordnung billigend in Kauf genommen. Törleß’ ›Reifeprüfung‹ im Lehrerzimmer lässt sich mithin nicht nur als Einsicht in die Inkommensurabilität von Erfahrung und Sprache lesen, sondern auch als Einsicht in die Doppelbödigkeit institutioneller Spielregeln und die Kontingenz ihrer Setzung. Insofern kann im Fall des Törleß von Normsubversion eigentlich nicht mehr gesprochen werden, weil am Ende des Romans vielmehr die Erkenntnis der Beliebigkeit institutioneller Regeln steht, das Konzept der Subversion als solches mithin obsolet wird.

3.

Programme der Stilbildung und ihre Subversion in Robert Walsers Schulprosa

Aus dem Korpus der Schulliteratur ragen die rätselhaften Schultexte von Robert Walser derart eigenartig heraus, dass die bislang erschienenen Monographien500 zu diesem Thema sie schlicht ignorieren. Die Ursache für dieses ›Umschiffen‹ der Walser’schen Prosa mag in erster Linie in der konsequenten Abwesenheit einer im weitesten Sinne bildungskritischen Referenz der Texte liegen. Da sich Arbeiten zur Schulliteratur bevorzugt auf Wechselwirkungen zwischen literarischem und außerliterarischem Bildungsdiskurs konzentriert haben, liegt es womöglich nahe, Texte zu vernachlässigen, die »an Fragen einer praktischen Pädagogik interessierte Leser […] kaum beeindruckt haben«501 dürften. Das 498 Campe: Das Bild und die Folter, 138. 499 Dieses Problem analysiert unter anderem Jacques Derrida: Gesetzeskraft: der »mystische« Grund der Autorität. Übers. von Alexander Garc†a Düttmann. Frankfurt am Main 1991. 500 Vgl. den Forschungsüberblick in der Einleitung, S. 34 f. Eine Ausnahme stellt der Band von Matthias Luserke dar. 501 Rainer Kolk: »Literatur, Wissenschaft, Erziehung. Austauschbeziehungen in Hermann Hesses ›Unterm Rad‹ und Robert Walsers ›Jakob von Gunten‹«, in: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte: Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen

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Anliegen des folgenden Kapitels ist es, diese Texte dennoch in das Korpus einzubinden. Mögen die bildungsreformerischen Bestrebungen seiner Zeit Walser auch fremd gewesen sein, so gibt es doch Hinweise darauf, dass ihm die junge deutschsprachige Tradition der Schulgeschichte nicht unbekannt war. Darauf lässt zumindest die Bemerkung in einem Brief an Flora Ackeret schließen: »Ich werde bald viel schreiben, dass die Hesse u. Companie sich fürchten sollen.«502 Walsers drei Schultexte sind in den Beginn seines literarischen Schaffens einzuordnen. Fritz Kochers Aufsätze erscheinen erstmals 1904 in der gleichnamigen Prosasammlung, die außerdem Walsers erste monographische Veröffentlichung darstellt.503 1908 folgt das in der Forschung fast vollkommen vergessene Tagebuch eines Schülers. 1909 schließt der Tagebuchroman Jakob von Gunten, der bekannteste unter den drei vollendeten Romanen Walsers, die Trias ab. Er verfasste die Schulprosa also zu einem Zeitpunkt, an dem er sich noch nicht programmatisch den Studien zugewandt hatte, die als Mikrogramme sein Spätwerk kennzeichnen. Wie zu zeigen sein wird, nehmen aber bereits die schulliterarischen Texte Elemente eben jenes »Verzicht[s] auf Größe«504 vorweg, der inzwischen zur Signatur des Walser’schen Œuvres geworden ist.505 Im Folgenden soll Walsers Prosa auf bislang übersehene schulliterarische Motive hin betrachtet werden. Dafür werden die Texte zunächst in der chronologischen Reihenfolge ihres Entstehens untersucht, um dann am Beispiel von und zusammen mit Jakob von Gunten zwei Thesen zu dieser Einbettung in den Zusammenhang der Schulliteratur zu entwickeln. Erstens soll, einen Ansatz Rainer Kolks erweiternd, gezeigt werden, dass Walser insbesondere in Jakob von Gunten die bisherige Entwicklung der Schulliteratur reflektiert und auf sie reagiert. Zweitens wird darzulegen sein, dass und wie die Texte Subversionen institutioneller Vorgaben beschreiben.

502 503 504 505

Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000. 233 – 50, hier 249. Vgl. zu diesem Befund auch Georg Stanitzek: »Regenschirmforschung. Robert Walsers Bildungskritik im Zusammenhang der moralistischen Tradition«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), 574 – 600, hier 577. Die aufschlussreichen Überlegungen von Rainer Kolk zum Stellenwert von Jakob von Gunten in der deutschen Schulliteratur sind in diesem Befund eine Ausnahme, auf die noch eingegangen wird. Robert Walser : Briefe. Hg. von Jörg Schäfer. Zürich 1979. 40. Für eine detaillierte werkgeschichtliche Studie vgl. Andreas Georg Müller : Mit Fritz Kocher in der Schule der Moderne. Studien zu Robert Walsers Frühwerk. Tübingen / Basel 2007 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur, Bd. 88). 31 ff. Hans-Ulrich Treichel: Auslöschungsverfahren. Exemplarische Untersuchungen zur Literatur und Poetik der Moderne. München 1995. 19. Vgl. jüngst Kirsten Scheffler : Mikropoetik. Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in einem ›Bleistiftgebiet‹ avant la lettre. Bielefeld 2010.

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Stilistisches »Irrlichtelieren«: ›Fritz Kochers Aufsätze‹ (1904)

Es ist bemerkenswert, dass Walser als einziger Autor von der Möglichkeit Gebrauch macht, sich dem Sujet der Schule in dem genuin schulischen Genre des Aufsatzes zu nähern.506 Das legt es nahe, die Aufsätze im Kontext deutschsprachiger Aufsatzstilistiken der Jahrhundertwende zu betrachten.507 Die Minimaldefinition aus einer der einschlägigen zeitgenössischen Stillehren zum Aufsatz, 1900 in Bern erschienen, lautet: »Der Aufsatz ist eine in sich abgeschlossene Reihe von Gedanken über einen bestimmten Gegenstand, in zusammenhängenden Sätzen schriftlich dargestellt.«508 Die Stilistik orientiert sich formal am System der alteuropäischen Rhetorik, verbindet dies aber mit einer programmatischen Berücksichtigung des Konzentrationsvermögens, das gleichsam als Nebenprodukt der Stilbildung geschult werden soll. So heißt es zum Stichpunkt des »Sammeln[s]«: Das H a u p t m i t t e l z u r H e r b e i s c h a f f u n g d e s G e d a n ke n s t o f f s s i n d d a s N a c h d e n k e n (die Meditation), das Na c h l e s e n und in einzelnen Fällen auch das B e s p r e c h e n des Gegenstands mit Sachverständigen. […] Das Nachdenken […] besteht darin, dass der Schreibende seine Aufmerksamkeit auf den durch das Thema bezeichneten Gedankenbezirk richtet und danach strebt, alles, was Verstand, Gedächtnis und Phantasie ihm über den Gegenstand zuführen, sich zu vergegenwärtigen, zu überschauen, zu beherrschen, um Stück für Stück am rechten Ort und in rechter Weise verwenden zu können.509

Das Hauptaugenmerk des Verfassers muss in diesem Produktionsstadium mithin auf dem Vermeiden rhetorischer Digression liegen: »[…] und der Sammler hat nur dafür zu sorgen, dass die besten Gedanken nicht, durch andere verdrängt, ihm sogleich wieder davon laufen.«510 Als Mittel, dies zu erreichen, gibt die Stilistik drei Kompetenzen an, die als virtutes oratori in der römischen Rhetorik mit den Begriffen der puritas (Sprachrichtigkeit), des aptum (Ange506 Dabei muss allerdings in Rechnung gestellt werden, dass die Gattung Aufsatz hier nicht nur als Referenz auf den Schuldiskurs betrachtet werden kann, sondern dass sie gleichzeitig eine Art Vorform der Kurzprosa darstellt, auf die Walser sich später spezialisieren wird. 507 Auf diese Verbindung haben bislang aufmerksam gemacht: Verena Ehrich-Haefeli: »›Gaukler sein wäre schön‹. Fritz Kochers Aufsätze – ein Modell subversiver Anpassung bei Robert Walser«, in: Wolfram Malte Fues (Hg.): Verbergendes Enthüllen. Zur Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift für Martin Stern. Würzburg 1995. 329 – 44, hier 331 – 33; sowie Stephan Kammer : Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit. Tübingen 2003 (Hermaea, Bd. 102). 85 – 89. 508 J. Steiger : Stilistik an Seminaren und anderen höheren Lehranstalten. Wiesbaden / Bern 1900. 6. 509 Ebd., 10 f., Hvbg. i. O. 510 Ebd., 11.

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messenheit) und der brevitas (Kürze) bezeichnet wurden. Der Vermeidung von Digression dient vor allem das Kriterium der Klarheit: »Bei Schülern hat die Unklarheit ihre Quelle meist in der unbewachten Thätigkeit der Phantasie, im Verweilen bei Nebendingen, in der Liebe zum Bunten, Glänzenden, Effektvollen, kurz im Mangel an ernster Auffassung und an Sorgfalt in der Wahl der Wörter und Satzformen […].«511 Diese Tendenz äußere sich stilistisch vor allem in der Wahl ambivalenter Ausdrücke und Stilfiguren wie dem Pleonasmus und der Tautologie. Das stilistische Konzentrationstraining, das Steigers Aufsatzlehre ausformuliert, findet sich auch in deutschen Abhandlungen zum Schulaufsatz. Insbesondere in Preußen kommt dem deutschen Aufsatz ein zentraler Stellenwert im Curriculum der höheren Lehranstalten zu. Wilhelm II. hatte ihn auf der Schulkonferenz des Jahres 1890 gar zum Prüfstein geistiger Reife erklärt: »Der deutsche Aufsatz muß der Mittelpunkt sein, um den sich Alles dreht. Wenn Einer im Abiturientenexamen einen tadellosen deutschen Aufsatz liefert, so kann man daraus das Maß der Geistesbildung des jungen Mannes erkennen und beurtheilen, ob er etwas taugt oder nicht.«512 War so erst einmal die Bedeutung des deutschen – in schrittweiser Ablösung des altsprachlichen – Aufsatzes etabliert, entwickelte er schnell einen derart prominenten Stellenwert, dass es in der 1904 in zweiter Auflage erschienenen Encyklopädie Wilhelm Reins heißt, der Aufsatz habe sich »allmählich den Vorrang vor allen übrigen Aufgaben, die der Gymnasialunterricht seinen Schülern stellt, errungen.«513 Zwischen den Schulkonferenzen 1890 und 1900 war der Aufsatz sogar so bedeutend, »daß eine Kompensation für eine mangelhafte Gesamtleistung im Deutschen bei der Reifeprüfung für unstatthaft erklärt wurde.«514 Auch in der Encyklopädie gilt als besonderer Vorzug des Aufsatzes dessen strukturbildende Leistung: Einmal dient er unmittelbarer als irgend eine andere Übung den wichtigsten formalen Zwecken des gesamten Unterrichts, – dem Zwecke, den Schüler zur Herrschaft über seine Muttersprache, zur Anordnung und Darlegung seiner Gedanken zu befähigen. Und zweitens gibt es für die Aneignung und innerliche Verarbeitung des Stoffes […] kein zweites Hilfsmittel von der gleichen Wirkung.515

511 Ebd., 41. 512 Anonym: Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts. Berlin, 4. bis 17. Dezember 1890. 72. 513 Rudolf Lehmann: »Deutscher Unterricht in höheren Knabenschulen«, in: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. Hg. von Wilhelm Rein. 2. Aufl., Langensalza 1904. 147 – 68, hier 162. 514 Lehmann: Deutscher Unterricht, 162. Diese Monopolstellung wurde jedoch von der Schulkonferenz 1900 wieder zurückgenommen. 515 Ebd.

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Der Aufsatz soll den Schüler dazu befähigen, »seine Gedanken angemessen und klar auszudrücken« und »sie logischer und übersichtlicher in Ordnung zu bringen.«516 Der Verfasser greift zudem die – in Preußen wie in der Schweiz prominente – Debatte über das Für und Wider des freien Aufsatzes auf und stellt sich dabei auf die Seite der Befürworter geschlossener Themen. Nur in den letzten Klassen dürfe den Schülern mehr Freiheit in der Themengestaltung zugestanden werden, doch: »[…] man verlange aber auch hier Konzentration auf dasselbe und verhindere Irrlichtelieren.«517 Dass sich die programmatische pädagogische und bildungspolitische Ausrichtung auf das Vermögen der Konzentration und der Aufmerksamkeit (vgl. dazu auch Kapitel II.2) bis in fachdidaktische Details hinein erstreckt,518 wird auch in einem Handbucheintrag zur »Aufmerksamkeit« deutlich. In Karl Adolf Schmids Enzyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens zitiert der Verfasser dieses Eintrags den Pädagogen August Grube: Zu dieser Frivolität [gemeint ist das mentale Abschweifen, G.W.] leiten wir aber die Kinder ganz systematisch an dadurch, daß wir sie nötigen, sobald als möglich über die Dinge Betrachtungen anzustellen, zu räsonnieren, wo ihre Anschauung noch nicht fertig ist.« Ein wichtiges Mittel, zur Aufmerksamkeit zu erziehen, findet G[rube] in der Gewöhnung an eine reine, klare, fließende Sprache; in der Sprache komme die Krankheit der Unaufmerksamkeit zur Erscheinung, sie enthalte aber auch das Korrektiv, um dem Übel Einhalt zu tun.519

In der Kritik, die Schüler seien bis zu einem bestimmten Alter mit der selbständigen Erörterung eines Gegenstands überfordert, deutet sich auch hier der Vorwurf an eine zeitgenössische Aufsatzlehre an, die den individuellen Stil und das lebensweltliche Wissen der Schüler vernachlässige und sie zu Schreibautomaten reduziere. Auf diese Kritik des Schulaufsatzes als eines »von Stil- und Aufbauregeln gespickte[n] Erziehungsdispositiv[s], das als wahre Textproduktionsmaschinerie pädagogisch wertvolle, aber stets von ungeregelter Reflexion 516 Ebd., 164. 517 Ebd., 166. 518 Dabei darf ein bedeutender Unterschied zwischen der Schweizer und der deutschen Diskussion nicht unterschlagen werden: der nämlich, dass sich die deutsche Diskussion neben dem stilbildenden maßgeblich für den gesinnungsbildenden Aspekt des deutschen Aufsatzes interessierte. Demgemäß diente der Aufsatz der frühen systematischen Einübung in eine deutschnationale Gesinnung. Vgl. dazu Otto Ludwig: Der Schulaufsatz. Seine Geschichte in Deutschland. Berlin / New York 1988. 252 – 64 sowie die Übersicht einschlägiger Aufsatzthemen in Ulrich Herrmann: »Über ›Bildung‹ im Gymnasium des wilhelminischen Kaiserreichs«, in: Reinhart Koselleck (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990 (Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, Bd. 41). 346 – 68, hier 355 f. 519 Bock, o. V.: »Aufmerksamkeit«, in: Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens in 10 Bänden. Hg. von K.A. Schmid. Bd. 1. 2., verb. Aufl., Gotha 1876. 261 – 65, hier 262, Hvbg. i. O.

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bedrohte«520 Inhalte generiere, zielte schon Nietzsches Polemik in seinen postum publizierten Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten ab.521 Friedrich Paulsen kritisierte die Offenheit der Themen,522 mit denen der Schüler keine lebensweltlichen Erfahrungen verbinde und so auch keine authentischen Texte verfassen könne: Allmählich erlangt der Schüler so eine gewisse Virtuosität im Aufsatzanfertigen; die Assoziationen kommen williger. Und so lernt er die Kunst zu reden, ohne etwas zu sagen zu haben, das verba facere, eine Kunst, die denn wohl auch ihren Wert haben mag, aber doch nicht ein eigentlicher Gegenstand schulmäßiger Erlernung sein kann.523

Ähnlich fällt auch das Urteil von Adolf Jensen und Wilhelm Lamszus in ihrer Programmschrift Unser Schulaufsatz – ein verkappter Schundliterat aus. Die Verfasser plädieren dafür, den fachdidaktischen Schematismus durch eine organische Aufsatzdidaktik und die »Sprachindividualität« stärker zu berücksichtigen.524 Unabhängig davon, wie detailliert Walser mit dieser Fachdiskussion vertraut gewesen sein mag,525 so verdeutlicht die Darstellung der deutschen und schweizerischen Debatte um den Stellenwert des Aufsatzes doch mindestens seine ›Stellvertreterfunktion‹ im bildungspolitischen Diskurs. An seinem Bei520 Müller : Mit Fritz Kocher in der Schule der Moderne, 84. 521 »Und solange die deutschen Gymnasien in der Pflege der deutschen Arbeit der abscheulichen gewissenlosen Vielschreiberei vorarbeiten, so lange sie die allernächste praktische Zucht in Wort und Schrift nicht als heilige Pflicht nehmen, so lange sie mit der Muttersprache umgehen als ob sie nur ein nothwendiges Übel oder ein todter Leib sei, rechne ich diese Anstalten nicht zu den Institutionen wahrer Bildung.« Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Schriften 1870 – 1873, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München 1980. 681. 522 Für einen Überblick deutscher Aufsatzthemen vgl. Herrmann: Über ›Bildung‹, 355 f. 523 Friedrich Paulsen: »Der deutsche Unterricht«, in: Juliane Eckhardt, Hermann Helmers (Hg.): Theorien des Deutschunterrichts. Darmstadt 1980 [1909/11]. 205 – 19, hier 210. 524 »Es ist S c h u n d l i t e r a t u r, d i e s i c h w i e e i n t r ü b e r S t r o m a u s d e r z ü n f t i g e n Au f s a t z l i t e r a t u r a u f d i e M e t h o d e d e s L e h r e r s e r g i e ß t u n d j e g l i c h e N a i v i t ä t i m Ke i m e e r s t i c k t ! F o r m a l i s t e n u n d A n e m p f i n d e r s i n d d i e Tr i u m p h e d e r S c h u l e . S i e w e r d e n a u f Ko s t e n d e r e c h t e n s p r a c h s c h ö p f e r i schen Begabung gezüchtet. Die Sprachindividualitäten werden in der Schule zerstör t, und die Phantasiebegabungen verbildet und zug r unde g e r i c h t e t , d e n n e s i s t S c h u n d l i t e r a t u r s c h l i m m s t e r A r t , w o z u d i e Wi s s e n s s c h u l e i h r e K i n d e r i m Au f s a t z u n t e r r i c h t s y s t e m a t i s c h e r z i e h t . Man steinige uns, so es uns nicht gelingt, den aktenmäßigen Nachweis zu erbringen.« Adolf Jensen, Wilhelm Lamszus: Unser Schulaufsatz – ein verkappter Schundliterat. Hamburg 1910. 19, Hvbg. i. O. 525 Dass er den deutschen bildungspolitischen Diskurs mindestens in Auszügen zur Kenntnis genommen haben könnte, ist insofern nicht unplausibel, als Walser vor der Niederschrift der Aufsätze bereits einige Zeit in Stuttgart und München verbracht hatte. Vgl. dazu Robert Mächler : Das Leben Robert Walsers. Eine dokumentarische Biographie. Frankfurt am Main 1992. 39 f. und 63 f.

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spiel werden nicht nur fachdidaktische Befindlichkeiten, sondern viel grundsätzlicher Debatten über Erziehungsprinzipien für eine ganze Generation sowie nationalpolitische Ideologien ausgetragen. Fritz Kochers Aufsätze wurden 1902 von Jakob Viktor Widmann in der Berner Zeitschrift Bund veröffentlicht, und schon in diesem Rahmen fiel die Reaktion der Leser verhalten aus. Verstimmte Leser schrieben Widmann, »am meisten ärgerte« sie die Tatsache, »dass sie diese Sachen, obschon sie sie ›absurd‹ fanden, doch immer zu Ende lesen mussten. Es lag etwas Suggestives in Walsers Art, seine eigentümlichen Gedanken so ohne Hast und Nachdruck fast wie sanft gleitende Billardbälle auf grünem Tisch hervorrollen zu lassen.«526 1903 trat Walser in Verhandlungen mit dem Leipziger Insel-Verlag, um Teile seiner bisherigen Texte zu veröffentlichen. Sein Bruder Karl lieferte die Illustrationen zu dem Band, der unter dem Titel Fritz Kochers Aufsätze neben diesen drei weitere Texte (Der Commis, Ein Maler, Der Wald) enthielt und in einer ersten Auflage von 1300 Exemplaren Ende November 1904 gedruckt wurde.527 Ein halbes Jahr später waren von dieser Auflage nur 47 Bücher abgesetzt – ein Umstand, der den neuen Leiter des Verlags, Anton Kippenberg, dazu veranlasste, die restlichen Exemplare in Berliner Kaufhäusern »verramschen«528 zu lassen. Der Text selbst beinhaltet zwanzig Aufsätze,529 die von einer Herausgeberfiktion eingeleitet werden. Sie beginnt mit der recht lapidaren Feststellung: »Der Knabe, der diese Aufsätze geschrieben hat, ist kurz nach seinem Austritt aus der Schule gestorben.«530 Auf die Gründe für seinen Tod geht der Herausgeber nicht näher ein. Bemerkenswerter Weise hat die Einleitung Anlass zu Spekulationen über biographische Bezüge der Persona Fritz Kocher gegeben. Die Tochter eines Fritz Kocher, Margrit Wyss-Kocher, schrieb nach der Neuauflage der Aufsätze an den Insel-Verlag: 526 Josef Viktor Widmann 1904 im Bund, zitiert nach Jochen Greven: Nachwort, in: Robert Walser : Das Gesamtwerk in 12 Bänden. Hg. von Jochen Greven. Bd. 1: Fritz Kochers Aufsätze. Geschichten. Aufsätze. Frankfurt am Main 1978. 375 – 88, hier 377. 527 Vgl. ebd., 378, sowie das editorische Nachwort im jüngst erschienenen ersten Band der Kritischen Walser-Ausgabe: Hans Joachim Heerde, Barbara von Reibnitz, Matthias Sprünglin: Editorisches Nachwort, in: Robert Walser : Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. von dens. Bd. I, 1. Basel 2010. 101 – 45. 528 Greven: Nachwort, 379. 529 Die einzelnen Themen lauten Der Mensch, Der Herbst, Die Feuersbrunst, Freundschaft, Armut, Die Schule, Höflichkeit, Die Natur, Freithema, Aus der Phantasie, Der Beruf, Das Vaterland, Mein Berg, Unsere Stadt, Weihnacht, Als Ersatz eines Aufsatzes, Jahrmarkt, Musik, Der Schulaufsatz, Die Schulklasse. Dass die Themen einen repräsentativen Charakter beanspruchen können, legt unter anderem Steigers Hinweis auf das Aufsatzthema »Berg« nahe, vgl. Steiger : Stilistik, 11. 530 Robert Walser : Fritz Kochers Aufsätze, in: Ders.: Das Gesamtwerk in 12 Bänden. Hg. von Jochen Greven. Bd. 1: Fritz Kochers Aufsätze. Geschichten. Aufsätze. Frankfurt am Main / Zürich 1978. 7 – 48, hier 7. Im Folgenden Siglenangaben.

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Mit grossem Befremden lese ich nun die Einleitung des Buches »Fritz Kochers Aufsätze«. Ich gestehe dem Dichter Walser selbstverständlich dichterische Freiheiten zu, aber hier handelt es sich um ganz falsche Angaben, die Robert Walser ganz bestimmt nicht gemacht hat. Mein Vater, Fritz Kocher, verstarb im Alter von 63 Jahren. Er war der scheue und intelligente Bub und Klassenfreund von Robert Walser. Die Eltern Kocher waren bescheidene und geachtete Bieler-Bürger [sic!], aber bestimmt nicht wohlhabend. Warum also diese Einleitung? Die Aufsätze des jungen Fritz Kocher und die dichterische Verarbeitung des Robert Walser sprechen doch für sich, wozu eine Einleitung die absolut unwahr ist? Ich bitte Sie nun sehr um eine diesbez. Erklärung. Ich möchte mich so sehr freuen über das reizende Prosa-Bändchen mit den vertrauten Aeusserungen in den Aufsätzen meines Vaters, aber was stimmt nun? die [sic!] »Einleitung« oder die Aufsätze?531

Dieser Brief äußert einmal mehr den Verdacht der Vermischung von (Schul-) Biographie und (Schul-) Fiktion, wie er für das Genre insgesamt charakteristisch ist. Für Walsers Schultexte ist darüber hinaus aber insbesondere der Aspekt der »Rollenprosa«532 von Bedeutung. Nicht nur spielt Walser mit biographischen Referenzen; wie noch zu zeigen sein wird, treibt er vor allen Dingen ein verwirrendes Rollenspiel mit einzelnen Figuren, die von einem Text in den anderen gleiten und so die Frage nach der Verfasserschaft zum Beispiel des TagebuchTextes aufwerfen. Als Annäherung an Fritz Kochers Aufsätze bietet sich die exemplarische Analyse des Aufsatzes Der Herbst an. An ihm lassen sich stilistische Eigentümlichkeiten verdeutlichen, die sämtlichen in Steigers Stilistik erwähnten Kriterien zuwiderlaufen. Charakteristisch ist zunächst der ständige Metakommentar, den Fritz gegenüber seinen eigenen Texten vornimmt, indem er sie wiederholt auf die fachdidaktischen Normen hin reflektiert, die er gleichzeitig unterläuft. Der Aufsatz beginnt folgendermaßen: »Wenn der Herbst kommt, fallen die Blätter von den Bäumen an den Boden. Ich müsste es eigentlich so sagen: Wenn die Blätter fallen, ist es Herbst.« (FKA, 10) Diese Selbstkorrektur bereits im zweiten Satz lässt darauf schließen, dass das Produktionsstadium der dispositio nur mangelhaft ausgeführt worden sein kann. Fritz reflektiert dies auch gleich: »Ich habe es nötig, mich im Stil zu verbessern. Letztes Mal bekam ich die Note: Stil erbärmlich. Ich gräme mich darüber, aber ich kann es nicht ändern.« (Ebd.) Gleiches gilt für die spätere Überlegung, ob das Geschriebene eigentlich wahr sei: »Ich weiß nicht, ob das zutrifft. Nun, der Lehrer wird schon so freundlich sein und es korrigieren.« (FKA, 11) So stellt jeder Aufsatz das Bewusstsein seiner Künstlichkeit und Zweckbezogenheit immer wieder deutlich

531 Brief an das Robert Walser Archiv Zürich, zitiert nach Müller : Mit Fritz Kocher in der Schule der Moderne, 17, Hvbg. i. O. 532 So Greven: Nachwort, 380.

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aus, unterläuft mithin die implizite Voraussetzung, die Artifizialität der Schreibsituation unthematisiert zu lassen. Weiterhin kennzeichnet Fritz’ Stil die Tendenz zur Digression. Denn was als Aufsatz über den Herbst beginnt, geht nach wenigen Zeilen zum Winter über : »Ich liebe auch den Schnee, wenn es auch unangenehm ist, mit kalten nassen Füßen drin lange zu waten.« (FKA, 10) Seine Aufzeichnungen ergehen sich dann in einem einzigen Mäandern der Gedanken – von armen Kindern über die Farben des Herbstes und des Winters. Dabei – und das wäre die dritte stilistische Auffälligkeit – verstrickt Fritz Kocher sich in Widersprüche und verliert sich in Wortspielen. Lobt er zunächst die Farbenprächtigkeit des Herbstes, so heißt es wenig später : »Ich liebe das Einfarbige, Eintönige. […] Weiß ist wie ein Murmeln, Flüstern, Beten. Feurige, zum Beispiel Herbstfarben, sind ein Geschrei.« (FKA, 11) Und er stellt fest: »Wenn alles so weiß ist, weiß man alles besser in der Schule.« (Ebd., m. Hvbg.) – verstößt also gegen die Vorgabe, Ambivalenz im Ausdruck zu vermeiden. Der Aufsatz schließt fatalistisch: Habe ich nun aber auch genügend vom Herbst gesprochen? Ich habe viel vom Schnee gefaselt. Das wird eine schöne Note ins Zeugnis geben, dieses Quartal. Noten sind eine dumme Einrichtung. Im Singen habe ich die Note eins und ich singe doch keinen Ton. Wie kommt das? Man sollte uns lieber Äpfel geben, statt Noten. Aber da würden schließlich doch zu viele Äpfel verteilt werden müssen. Ach! (FKA, 12)

Diese stilistischen Charakteristika prägen auch die weiteren Aufsätze. Sie lesen sich dadurch wie ein didaktisches Musterbeispiel dessen, wie ein Schulaufsatz auf keinen Fall auszusehen hat. Außerdem zeichnet sie ein ständiger Metakommentar, Digression im Stil sowie das Spiel mit der Sprache aus.533 Und sie sind geprägt von einem Verfahren, das Walser später mit dem Bild des Schleichens um den heißen Brei zu fassen versucht hat: Besteht nicht Schriftstellern vielleicht vorwiegend darin, dass der Schreibende beständig um die Hauptsächlichkeit herumgeht oder -irrt, als sei es etwas Köstliches, um eine Art heißen Brei herumzugehen? Man schiebt schreibend immer irgend etwas Wichtiges, etwas, was man unbedingt betont haben will, auf, spricht oder schreibt vorläufig in einem fort über etwas anderes, das durchaus nebensächlich ist.534

533 Besonders deutlich kommt die Diskrepanz zwischen den stilistischen Vorgaben und Fritz’ Verstoß dagegen vielleicht am Beispiel des Aufsatzes Mein Berg zum Ausdruck. Wo Steiger meint: »Über den ›Berg‹ wird wenig zu sagen wissen, wer nicht den Fuß, die Abhänge und Gipfel gesondert ins Auge fasst […]« (Steiger : Stilistik, 11), belehrt Fritz ihn in seinem Aufsatz Mein Berg eines besseren, indem er statt einer Bergbeschreibung einen privaten Erlebnisberichts einer Wanderung anbietet (vgl. FKA, 32 – 4). 534 So der Erzähler im »Prosastückelchen« Der heiße Brei, zitiert nach Kil-Pyo Hong: Selbstreflexion von Modernität in Robert Walsers Romanen ›Geschwister Tanner‹, ›Der Gehülfe‹ und ›Jakob von Gunten‹. Würzburg 2002. 10.

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Hier und am Beispiel weiterer Passagen lässt sich eine stilistische Strategie ausmachen, die Clemens Pornschlegel treffend beschrieben hat: Die Ironie der Kocherschen Aufsätze besteht […] darin, die normativen Wertschätzungen anzuerkennen auf der propositionalen Ebene, um sie um so [sic!] besser unterlaufen zu können auf der Ebene eines digressiven, quasi-›automatischen‹ Schreibens, in dem sich Wort an Wort reiht und das Subjekt sich gehen lässt und sich dem Reiz der Worte und freier Assoziation überlässt, das heißt ohne sein Schreiben permanent auf eine Zensurinstanz hin zu reflektieren.535

Die textuelle Strategie unterläuft mithin die normativen Vorgaben des Schulaufsatzes, gerade indem sie diese obsessiv anzuerkennen vorgibt. Diese Tendenz der unkritischen Zustimmung zu allem und jedem, insbesondere aber zu institutionellen Vorgaben, kann gleichzeitig als charakteristisch für Walsers Poetologie insgesamt gelten, die man mit Viktor Zˇmegacˇ eine subversive ›Poetologie des Kaputtlobens‹536 nennen kann. Die vermeintliche Naivität dieser Textstrategie hat Zˇmegacˇ mit einer anderen Wendung getroffen, wenn er Walsers Verfahren als das eines »ästhetischen Infantilismus«537 bezeichnet: Er [Walser, G.W.] verfremdet die Erfahrungsrealität, indem er Unkenntnis über die Ordnungen der Perzeption vortäuscht, doch tut er dies dadurch, daß er wohlfeile Prägungen hin und her wendet. Die List besteht namentlich darin, daß es ungewiß bleibt, ob die Konvention ironisiert oder vielleicht doch bestätigt wird. Daß die Ironie keineswegs immer als ausgemacht gelten kann, macht den Reiz dieses Zwiespalts aus.538

Der selbstreflexive Text Der Schulaufsatz beschreibt diese Strategie in nuce. Er stellt in einer für die gesamten Texte charakteristischen Weise die stilistische Subversion dessen dar, was auf der Ebene des Gehaltes behauptet wird. Einen Aufsatz soll man reinlich und mit leserlichen Buchstaben schreiben. Nur ein schlechter Aufsatzschreiber vergißt, sich der Deutlichkeit sowohl der Gedanken als der Buchstaben zu befleißen. Man denke zuerst, bevor man schreibt. […] Die Trägheit des Schülers allerdings glaubt, Worte ergeben sich aus Worten. Das ist aber nichts als eine eitle und gefährliche Einbildung. (FKA, 45, m. Hvbg.)

535 Clemens Pornschlegel: »Der Autor und sein Double. Zur literarischen Maskerade in ›Fritz Kochers Aufsätzen‹ von Robert Walser«, in: Ethel Matala de Mazza (Hg.): Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte. Freiburg 2003. 253 – 70, hier 263. 536 »Gerade das scheinbar so unkritische Jasagen zu allem ist das eigentlich Unheimliche bei Walser. […] Poetisch oder nicht, die Häufung des Schönen und Guten erweckt den Eindruck, dass die Welt hier gleichsam kaputtgelobt wird. Das Positive schlägt ins Gegenteil um.« Viktor Zˇmegacˇ : »Robert Walsers Poetik in der literarischen Konstellation der Jahrhundertwende«, in: Dieter Borchmeyer (Hg.): Robert Walser und die moderne Poetik. Frankfurt am Main 1999. 21 – 36, hier 27 f. 537 Ebd., 24. 538 Ebd.

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Eben diese in altklugem Ton geäußerten Regeln unterläuft Fritz im Schreiben permanent. »Mit unfertigen Gedanken einen Satz beginnen, ist eine Liederlichkeit, die nie zu verzeihen ist« (ebd.) – dieser Satz führt in seiner ungeschickten syntaktischen Fügung Fritz’ anti-performatives Schreiben vor, das in der Form des Ausdrucks das unterläuft, was es auf Ebene des Gehaltes behauptet. So oder ähnlich präsentiert sich auch der Rest dieses Textes: Fritz reiht beliebige stilistische Sentenzen aneinander, die überdies vielmehr dem materiellen Aspekt des Schreibens als Stilfragen gelten: »Auf sauberem, glattem Papier läßt sich’s viel hübscher, und deshalb viel fließender, und deshalb viel empfindlicher und gefälliger schreiben […]« (ebd.); »Worte ausstreichen gibt einen unsauberen Anblick.« (FKA, 46) »Stil ist Ordnungssinn. Wer einen unklaren, unordentlichen, unschönen Geist hat, wird einen ebensolchen Stil schreiben« (FKA, 45), hält Fritz außerdem fest. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Zusammenhang der ansonsten so häufig vorgenommene selbstkritische Kommentar fehlt. Fritz verzichtet darauf, sich selbst in dieses von der Institution übernommene Normensystem einzuordnen. Sein Stil, so scheint es, lässt sich nicht mit den Kriterien des schulischen Schreibens beurteilen. Weshalb das so ist, macht der Aufsatz mit der Überschrift Freithema deutlich. Zunächst moniert Fritz darin die Wahlfreiheit als solche: »Diesmal, sagt der Lehrer, dürft ihr schreiben, was euch gerade einfällt. Ehrlich gestanden, mir will nichts einfallen. Ich liebe diese Art von Freiheit nicht. Ich bin gerne an einen vorgegebenen Stoff gebunden.« (FKA, 24) Denn worum es ihm geht, ist nicht der Stoff, sondern die Form: »Mich reizt nicht das Suchen eines bestimmten Stoffes, sondern das Aussuchen feiner, schöner Worte. […] Was weiß ich, ich schreibe, weil ich es hübsch finde, so die Zeilen mit zierlichen Buchstaben auszufüllen. Das ›Was‹ ist mir vollständig gleichgültig.« (Ebd.) Fritz ordnet hier dem rhetorisch durchkomponierten, gegenstandsbezogenen Argument das zweckfreie Interesse an der Form deutlich über. Indem er sich weniger für den Gehalt des Geschriebenen als für dessen (Material-) Ästhetik interessiert, ist sein Schreiben literarisch zu nennen. Dies gesteht er in einem anderen Aufsatz mit dem Titel Als Ersatz eines Aufsatzes auch ein, wenngleich er das Geständnis einer anderen Person in den Mund legt. Der Aufsatz beinhaltet einen Brief seines Bruders, in dem dieser schreibt: »Du bist ein Schurke im Stil. Du schreibst wie zwei Professoren zusammen. Ein Schriftsteller von Beruf könnte sich nicht besser ausdrücken.« (FKA, 38) Neben der Frage der Verfasserschaft des Briefes respektive Aufsatzes, mit der Walser hier ein weiteres Mal spielt, ist der Hinweis auf das schriftstellerische Schreiben aufschlussreich. Als Gemeinsamkeit von Walsers frühen Texten macht Clemens Pornschlegel den »(ersehnten) Übergang[] vom nicht-

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literarischen zum literarischen Text, vom Schulaufsatz oder Tagebuch zur Literatur«539 aus. Vor dem Hintergrund dieser Überlegung lassen sich die Aufsätze auch als Quelle der Transformation eines Schülers zum Schriftsteller lesen, die durch das dauernde Unterlaufen institutioneller Normen zum Ausdruck kommt. Diese Subversion drückt sich einerseits in dem beschriebenen Verfahren der formalen Missachtung propositional behaupteter Normen aus. Andererseits kommt sie auch auf inhaltlicher Ebene zum Ausdruck. Davon zeugen besonders deutlich die Anekdoten aus den beiden Aufsätzen, welche die Institution selbst behandeln und damit ein selbstreflexives Element in Fritz’ Aufsätze einführen: Die Schule und Die Schulklasse. Der Aufsatz Die Schule veranschaulicht gebündelt Fritz’ Schreibstrategie und seine Rolle in der Institution. Zunächst wird in seiner Reaktion auf die Themenvorgabe »Über den Nutzen und die Notwendigkeit der Schule« die Manifestation dessen deutlich, was Rainer Kolk als die »ironische Kontrafaktur der Schulgeschichte«540 beschrieben hat. Mit fröhlichem Pragmatismus unterläuft Fritz den zeitgenössischen Betroffenheitsdiskurs über die Überbürdung durch die Schule und verschreibt sich einer ganz gegensätzlichen Position: Ich behaupte, die Schule ist nützlich. Sie behält mich sechs bis acht Stunden im Tag zwischen ihren eisernen oder hölzernen Klauen (Schulbänke) und behütet meinen Geist, in Liederlichkeiten auszuarten. Ich muß lernen, das ist vortrefflich. Sie bereitet mich auf das bevorstehende öffentliche Leben vor: das ist noch besser. Sie ist da und ich liebe und verehre Tatsachen. Ich gehe gern zur Schule und verlasse sie gern. Das ist die schönste Abwechslung, die ein unnützer Schlingel verlangen kann. (FKA, 18)

Die vergnügte Affirmation steigert sich noch, wenn Fritz den Leistungsdruck in der Schule positiv als seinem Naturell entsprechende Form des Wettbewerbs lobt: In der Schule wird ein Maßstab an jedermanns Kenntnisse gesetzt. […] Ich finde, das ist eine hübsche Einrichtung, so den Ehrgeiz zu reizen und einem zu gestatten, um die Bewunderung der Kameraden zu buhlen. Ich bin fürchterlich ehrgeizig. […] Das ist der schöne Nutzen der Schule, sie strengt an, sie regt auf, sie setzt in Schwung, sie hätschelt die Einbildungskraft, sie ist der Vorsaal, gleichsam das Wartezimmer zum Leben. (FKA, 19, m. Hvbg.)

Die Semantik des Reizens, der Anstrengung und der Aufregung, die im Rahmen der Überbürdungsdebatte ausschließlich negativ konnotiert ist, wird hier positiv gewendet als belebende Motivation.541 Der zweite Teil des Aufsatzes the539 Pornschlegel: Der Autor und sein Double, 258. 540 Kolk: Literatur, Wissenschaft, Erziehung, 248. 541 Zum Diskurs der Nervosität in Walsers Werk siehe Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers ›Jetztzeitstil‹. Frankfurt am Main 1998. 53 – 90.

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matisiert allerdings wiederum die Meta-Ebene des Schreibprozesses, wenn Fritz die Aufgabenstellung als solche – aller fingierten Demut zum Trotz – hinterfragt: Mich wundert überhaupt, daß man uns eine solche Frage vorlegt. Schüler können eigentlich nicht über den Nutzen und die Notwendigkeit der Schule, in der sie selbst noch stecken, reden. Über so etwas sollen ältere Leute schreiben. Etwa der Lehrer selbst, oder mein Vater, den ich für einen weisen Mann halte. […] Man kann allerlei plappern, ja; ob aber das Mischmasch (ich verzeihe mir die Ungezogenheit, womit ich meine Arbeit tituliere), das man schreibt, etwas spricht und bedeutet, ist eine Frage. (FKA, 19)

Seinen Aufsatz beendet Fritz Kocher dann mit dem sentenzartigen Hinweis: »Vom Nutzen einer Sache sprechen zu wollen, die notwendig ist, ist überflüssig, da alles Notwendige unbedingt nützlich ist.« (FKA, 20) Mit dieser Wertung setzt er sich ein weiteres Mal über die pragmatischen Schreibvorgaben des Aufsatzes hinweg. Der Aufsatz Die Schulklasse greift die in der Schulliteratur wiederholt verwendete Figur der Synekdoche auf, wenn der erste Satz lautet: »Unsere Schulstube ist die verkleinerte, verengte Welt. Unter dreißig Menschen können doch gewiss ebenso gut alle Empfindungen und Leidenschaften vorkommen, wie unter dreißigtausend.« (FKA, 47) Diese Beobachtung leitet in eine weitere über, die das literarische Potential der Institution thematisiert: Unter uns spielen Liebe und Hass, Ehr- und Rachsucht, edle und niedere Gesinnung eine bedeutende Rolle. Wir haben Armut und Reichtum, Wissen und Dummheit, Erfolg und Mißerfolg in all ihren Schwankungen und feinen Unterschieden. Man hat oft Gelegenheit, in der Schulstube den Helden, den Verräter, das Opfer, den Märtyrer zu spielen. Es sollte nur einmal ein Dichter in unsere Verhältnisse hineinblicken, er würde reichen Stoff zu spannenden Werken finden. (Ebd.)

Die Formulierung in der dramatischen Semantik ist kein Zufall, ebenso wenig die Verwendung des Begriffs »spielen«. Fritz Kocher lässt an dieser Stelle hinter die Kulissen seiner schulischen Existenz blicken. Erstens gibt er dabei sein Verhalten als subversives Spiel zu erkennen. So, wie er in den Aufsätzen mit den Rollen des Schülers und des Schriftstellers jongliert und es dem Lehrer durch diese stilistische Strategie unmöglich macht, ihm mit Sanktionen beizukommen – Fritz erwähnt in den Texten zwar schlechte Noten, weitere Konsequenzen scheinen die Aufsätze jedoch nicht zu haben –, deutet er in der Beschreibung des schulischen Alltags ein fluktuierendes Rollenspiel an, das auf Jakob von Gunten voraus weist. Zweitens betont er das literarische Potential dieses Rollenspiels und damit der Institution, in der es stattfindet. Durch diesen Metakommentar wird er gleichsam zum literarischen Protokollanten dieser Schulwelt. Im zweiten Teil des Aufsatzes schildert Fritz den »Haupthalunken« (ebd.) der

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Klasse. Dieser wird namentlich nicht näher definiert und lässt so eine wohl nicht ganz unabsichtlich gesetzte Leerstelle: Er gibt in einer Viertelstunde mehr zu lachen, als zehn andere im ganzen Jahr. […] Wir haben ihn alle lieb, und auch dem Furchtsamsten würde es nicht einfallen, ihn dem Lehrer zu verraten. Er ist […] unser Gott. […] Selbst der Lehrer muß oft mitlachen, wahrscheinlich, weil er von so viel Witz gerührt ist. […] Er ist wie eine Art König unter uns. (FKA, 47 f.)

Es wäre plausibel, Fritz selbst hinter dieser Maske zu vermuten, der auf diese Weise nicht zuletzt dem Lehrer indirekt mitteilt, dass er dessen Ohnmacht seinem nicht sanktionierbaren Rollenspiel gegenüber durchschaut. Wie noch zu besprechen sein wird, ließe sich aber auch diskutieren, ob der beschriebene Schüler nicht eine frühe Version der erst 1909 verfassten Figur des Jakob von Gunten darstellt, die Aufsätze mithin als ein Entwurf zu betrachten sind, den Walser in Jakob von Gunten weiter entwickelt. Der Aufsatz schließt mit der Bemerkung: »So ist unsere kleine Welt. Der Lehrer ist wie eine Figur aus der großen andern. Er ist zwar zu klein, um uns groß vorzukommen.« (FKA, 48) Der letzte Satz der Aufsatzsammlung stellt auf diese Weise noch einmal deutlich die subversive Rolle Jakobs aus, wenn er in vermeintlicher Vergessenheit des Rezipienten seines Textes schreibt und mit der ›Kleinheit‹ nicht zuletzt dessen ohnmächtige Position innerhalb der Klasse unterstreicht. Fritz Kochers Aufsätze stellen ihr subversives Moment auf zwei Ebenen aus. Erstens unterlaufen sie die Vorgaben der zeitgenössischen Aufsatzdidaktik auf formale Weise – und zwar im gleichen Moment, indem sie diese inhaltlich anzuerkennen vorgeben. Zweitens stellt Fritz in den Aufsätzen, welche die Schule zum Gegenstand haben, den offiziellen Diskurs dieser Institution selbst in Frage: etwa indem er auf das Rollenspiel der Schüler hinweist; indem er den »Haupthalunken« zum »König« der Schulgesellschaft krönt; indem er im übertriebenen Lob der Schuldisziplin sich ihrer ironischen Kommentierung verdächtig macht; und nicht zuletzt, indem er mit dem Kommunikationsverhältnis der Aufsätze insofern spielt, als er den Lehrer als impliziten Leser adressiert, provoziert und düpiert. Die Gemeinsamkeit dieser beiden subversiven Verfahren liegt in ihrer Ausrichtung auf bestimmte Vorstellungen, welche die Institution in Bezug auf das Schreiben und das Betragen setzt – anders gesagt, in der Ausrichtung auf institutionelle Stilvorgaben. In einem Stil betitelten Mikrogramm nimmt Walser später folgende Definition vor : »Stil ist eine Art Betragen. Einer, der sich gut benimmt, hat Stil.«542 In gewisser Weise formuliert dies schon Fritz Kocher in seinem Aufsatz zur Höf542 Robert Walser : Stil. In: Ders.: Aus dem Bleistiftgebiet. Hg. von Bernhard Echte und Werner Morlang. Bd. 4: Mikrogramme aus den Jahren 1926 – 27. Frankfurt am Main 1990. 175 – 78, hier 175.

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lichkeit, der sich dort als leidenschaftlicher Anhänger gesellschaftlicher Umgangsformen zu erkennen gibt: »Ohne Höflichkeit gäbe es keine Gesellschaft und ohne Gesellschaft kein Leben. […] Wie unterhaltend sind die Regeln, denen man sich, will man ein Mensch unter Menschen sein, zu unterwerfen hat! Da ist keine Vorschrift, die nicht ihren Reiz hätte.« (FKA, 20 f.) Wiederum ist das Bekenntnis zur Unterwerfung unter gesellschaftliche Umgangsformen als Lippenbekenntnis zu lesen – scheint doch der eigentümliche »Reiz« der Vorschrift gerade in ihrer Subversion zu liegen. Dies formuliert Walser auch in dem genannten Mikrogramm: »Wer sich einem gewissen Zwang unterwirft, darf sich irgendwie gehenlassen.«543 Walsers Schultexte lassen sich als drei Variationen dieser Argumentationsfigur lesen, die Jakob von Gunten am konsequentesten ausführt. Zwischen dem Roman und den Aufsätzen erscheint jedoch das Tagebuch eines Schülers, das dem intratextuellen ein intertextuelles Vexierspiel hinzufügt.

b.

Intermezzo: ›Tagebuch eines Schülers‹ (1908)

»Als Progymnasiast sollte man eigentlich anfangen, ein wenig ernsthaft über das Leben nachzudenken. Nun: gerade das will ich versuchen.«544 Mit dieser Ankündigung beginnt das Tagebuch eines Schülers, das Walser wenige Jahre nach den Aufsätzen, vermutlich 1908, verfasst hat. Ursprünglich hatte er diesen und eine Reihe anderer kurzer Texte als Nachfolgeband zu Fritz Kocher vorgesehen, der ebenfalls im Insel-Verlag erscheinen sollte. Als er im Herbst 1905 jedoch wegen der Folgepublikation anfragte, war die Resonanz negativ. Für »zu leichte Ware« wurde die Kurzprosa befunden, man »forderte ihn immer wieder auf, sich doch wie ›seriösere‹ Autoren an Romanen und Novellen zu verschreiben.«545 Die Publikation verzögerte sich und wurde erst 1914 erfolgreich bei Ernst Rowohlt unter dem Titel Geschichten verlegt. Der Großteil der Texte stammt aber aus der Zeit des ersten Publikationsversuchs, weshalb Jochen Greven die Veröffentlichung als »Walsers zweite Prosasammlung«546 wertet. Robert Musil besprach die Neuerscheinung in der Neuen Rundschau positiv. Das kurze Tagebuch ist jedoch weder in Arbeiten zur Schulliteratur noch in anderen Forschungszusammenhängen näher untersucht worden. Tatsächlich liest es sich zunächst auch eher wie ein kurzes Intermezzo zwischen den beiden anderen Texten. Es erhöht die 543 Ebd., 176. 544 Robert Walser : Tagebuch eines Schülers. In: Ders.: Das Gesamtwerk. Hg. von Jochen Greven. Bd. 1: Fritz Kochers Aufsätze. Geschichten. Aufsätze. Frankfurt am Main / Zürich 1978. 208 – 17, hier 208. Im Folgenden Siglenangaben. 545 Greven: Nachwort, 382. 546 Ebd., 384.

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Komplexität der schulliterarischen Trias jedoch, denn das Figureninventar beginnt durch das Tagebuch zwischen den Texten zu gleiten. Das Tagebuch besteht aus neun Lehrerporträts, verfasst in einem Stil, der dem der anderen Texte sehr ähnlich ist. Das wird bereits anhand der viel versprechenden Einleitung, »ernsthaft über das Leben nach[]denken« zu wollen, deutlich – ein Anspruch, der im nächsten Satz unterlaufen wird. »Einer unserer Lehrer heißt Wächli« (TeS, 208), beginnt der namentlich nicht näher bezeichnete Schüler unvermittelt sein erstes Charakterporträt, das nun gerade mit ernsthaftem Nachdenken über das Leben wenig zu tun hat. Ebenso enttäuscht der Text die Gattungserwartung des Tagebuchs: Die Einträge sind weder datiert noch chronologisch, sie lassen sich beliebig vertauschen. Die Porträts lesen sich wie das Typeninventar einer Lehrerkomödie,547 der schreibende Schüler gleicht einer Zensurinstanz, die über Erfolg und Misserfolg der Berufswahl seiner Lehrer urteilt. Am Beispiel des Lehrers Wächli reflektiert der Verfasser zwar die Späße der Schülerschaft als »nicht edel« und befindet: »Wir Schüler sind überhaupt keine vornehmen Naturen; uns fehlt vielfach das schöne abmessende Taktgefühl.« (Ebd.) Dennoch diagnostiziert er Wächli: »Im allgemeinen, scheint mir, hat er seinen Beruf verpasst. Er sollte Bienenzüchter sein oder so etwas. Er tut mir leid.« (TeS, 209) Auch der Französischlehrer Blok wird als »gar kein rechter Lehrer« (TeS, 210) abqualifiziert. Dass die Unarten der Lehrer sich mitunter jenseits des sittlich und rechtlich Legitimen bewegen, deutet der Schreiber in einem Rückblick auf einen entlassenen Lehrer nur an: Dieser Hüseler erlaubte sich ganz sonderbare Dinge. Ich selbst fühle noch immer auf meiner Wange seine alte, knöcherne, widerwärtige Hand, mit welcher er in der Stunde uns Jungen gestreichelt und geliebkost hat. Als er sich dann herausnahm, was keine Feder beschreiben kann, wurde er seines Amtes enthoben. (TeS, 214)

Doch neben den schon in ihrem äußerlichen Erscheinungsbild als Karikaturen stilisierten Negativfiguren erwähnt der Verfasser auch solche, die er anerkennt. Dem Rektor Wyß bringt er die schon für die Figur Fritz Kocher typische Demut entgegen, die sich gleichzeitig einer subversiven Anmerkung nicht enthalten kann: »Wir fürchten und achten ihn, diese beiden soliden Empfindungen sind ein bisschen langweilig.« (TeS, 211) Die Prügel, die er verteilt, verbreiteten »das angenehme Gefühl, es sei eine vernünftige, gerechte Strafe. […] Der Mann, der so meisterlich prügeln kann, muss gewissermaßen human sein.« (Ebd.) Begeisterung vermag er für den Geographielehrer Jakob zu entwickeln: »Und wie weiß der alte Jakob durch Einflechten von abenteuerlichen Geschichten aus Schulung und Erfahrung diese Stunde interessant zu machen!« (TeS, 212) Auch für den Rechenlehrer Bur bringt der Schüler Sympathie auf – und zwar, weil 547 Zu diesem Genre vgl. das folgende Kapitel.

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dieser den »lustigste[n] und kühnste[n] Schulkamerad […] Fritz Kocher« (TeS, 214) im Gegensatz zu den anderen Lehrern nicht straft, sondern ihn – so die Vermutung des Schreibers – »wegen der unglaublichen Gerissenheit seiner Einfälle« (TeS, 215) schätzt. Zwischen Walsers beiden frühen Schultexten entsteht an dieser Stelle ein osmotisches Verhältnis, wenn die Figur Fritz Kocher zwischen den Texten diffundiert. Das Tagebuch eines Schülers liest sich im Zusammenhang mit den beiden anderen Texten Walsers wie eine Fingerübung, die die Stilelemente der Aufsätze aufgreift und solche des Jakob von Gunten vorwegnimmt. Der Eindruck der Ungreifbarkeit, den die Figuren der schreibenden Schüler hervorrufen, wird hier noch verstärkt durch die Erwähnung Fritz Kochers, durch die Auflistung von Lehrern, die auch in Jakob von Gunten wieder auftauchen werden,548 und nicht zuletzt die Figur des Rektors Wyß, dessen Name wiederum die reale Figur der Margrit Wyss-Kocher, Tochter des ›echten‹ Fritz Kocher, in Erinnerung ruft. Die Figuren geistern zwischen den Texten herum und entziehen sich zwischen Referenz auf realweltliche Personen und fiktionale Selbst- und Fremdbeschreibungen dem hermeneutischen Zugriff. Nimmt man die Aufsätze und das Tagebuch zusammen, befinden die Schüler sich in einer Art permanenter Selbstbeobachtung, in der Situation eines klasseninternen Dauerprotokolls. Schule erscheint in Walsers Texten dann als auf Dauer gestellte institutionelle Selbstreflexion: Diesen Gedanken nimmt Jakob von Gunten auf.

c.

Die Zersetzung der Institution im Zeichenspiel: ›Jakob von Gunten‹ (1909)

Über den Entstehungskontext des Romans ist wenig bekannt, da diese biographische Phase Walsers dokumentarisch kaum belegt ist.549 Jakob von Gunten erschien 1909 als das Werk »eines zwar noch nicht zu größerem Publikumserfolg gelangten, aber doch etablierten, gut besprochenen und zumindest bei der jüngeren Intelligenz bekannten Autors.«550 Das änderte nichts an der Tatsache, dass die Reaktionen auf den neuen Roman ambivalent und die Verkaufszahlen gering waren. Bruno Cassirer konnte nur eine Auflage drucken, erst 1950 wurde der Text neu aufgelegt.551 Walser selbst schätzte den Roman und bemerkte sei548 Jakob erwähnt Lehrer namens Wächli, Merz, Wyß und Bur : Robert Walser : Jakob von Gunten. Ein Tagebuch. Hg. von Jochen Greven. Frankfurt am Main / Zürich 1985. (Sämtliche Werke in Einzelausgaben, Bd. 11), 58 f. Im Folgenden Siglenangaben. 549 Vgl. Jochen Greven: Nachwort des Herausgebers, in: Walser : Jakob von Gunten. 167 – 78, hier 167. 550 Vgl. ebd. 551 Greven: Nachwort des Herausgebers, 168.

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nem Freund und späteren Vormund Carl Seelig gegenüber, unter seinen umfangreicheren Büchern sei dieses ihm »das liebste«.552 Von den zeitgenössischen Lesern urteilte einzig Franz Kafka uneingeschränkt positiv.553 Walsers Mentor Joseph Widmann war zwar um eine wohlwollende Darstellung bemüht, konnte seine Verärgerung über stilistische Einzelheiten aber nicht verhehlen und zitierte in seiner Rezension über weite Strecken eine zuvor erschienene, lobende Besprechung von Hermann Hesse.554 Dieser macht darin unter anderem auf das ›Recycling‹ des Walser’schen Figureninventars aufmerksam: Der Roman bringe »die alte Geschichte, der Jakob ist Kocher, ist Tanner, ist der Gehülfe Marti, ist Robert Walser. Auch der Ton ist der alte.«555 Entrüstet fällt dagegen die Einschätzung des deutschen Kritikers Josef Hofmiller aus, der aus seinem Befremden keinen Hehl macht: »Mit Robert Walsers neuem Roman konnte ich noch weniger anfangen als mit dem vorjährigen. Solch kraft- und saftloses Geschreibe in den Tag hinein ist nicht zum aushalten.«556 Jochen Greven stellt rückblickend fest, mit Jakob von Gunten habe Walser sich seinen Zeitgenossen entfremdet: »War er vorher noch eine Hoffnung des Literaturbetriebs gewesen, […] so wurde er jetzt zur außenseiterischen Randerscheinung. Die zwiespältige, um nicht zu sagen negative Aufnahme des Romans trug gewiß zu den Krisen seiner letzten Berliner Jahre bei […].«557 Den enigmatischen Charakter des Textes verstärken noch die intertextuellen Verflechtungen, die nicht nur für die von Hesse erwähnten Romane gelten, sondern auch und insbesondere für die schon analysierte Prosa. Auf die gleichlautenden Lehrernamen im Tagebuch und in Jakob von Gunten wurde bereits hingewiesen. Auch zwischen Jakob und Fritz werden Ähnlichkeiten nahegelegt: Jochen Greven hat den Diener Fehlmann erwähnt, der als »äußerliche Klammer«558 in den Elternhäusern beider Schüler existiert. Die Schüler ähneln sich überdies hinsichtlich ihres Stils und der Schreibstrategien. So bemerkt Jakob bezüglich eines seiner schriftlichen Einträge: »Das ist sehr dichterisch. Fräulein Benjamenta würde mich ganz gehörig zurechtweisen, wenn sie 552 Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Frankfurt am Main 1981. 15. 553 Vgl. Greven: Nachwort des Herausgebers, 168. Das mag nicht zuletzt in dem beiden Dichtern gemeinsamen Interesse für die Funktionsmechanismen moderner Institutionen begründet sein. 554 Vgl. Josef Viktor Widmann: »Jakob von Gunten«, in: Katharina Kerr (Hg.): Über Robert Walser. Bd. 1. Frankfurt am Main 1978. 33 – 38. 555 Hesse ebd., 35. Bemerkenswert ist allerdings, dass Hesse nicht auf die schulliterarische Tradition eingeht, in welcher der Roman steht und an der nicht zuletzt sein eigener Roman Unterm Rad Anteil hat. 556 Josef Hofmiller : »Jakob von Gunten. Gedichte«, in: Katharina Kerr (Hg.): Über Jakob von Gunten. Bd. 1. Zürich 1978. 52. 557 Greven: Nachwort des Herausgebers, 170. 558 Ebd., 171.

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lesen würde, was ich hier schreibe.« (JvG, 47) Schon durch Zitat des eigenen Figureninventars entsteht um den Tagebuchroman herum eine Art textuelles Bollwerk, das ihn vor einer allzu extra-literarischen Lesart schützt; das Gleiten der Figuren verhindert aber darüber hinaus die Geschlossenheit der jeweiligen Texte. Diese Zitatstruktur macht Walser nicht nur auf Ebene der Figuren zum Prinzip, sondern auch hinsichtlich der Gattungstraditionen, in die sich Jakob von Gunten stellen lässt. Am deutlichsten, weil explizit im Untertitel erwähnt, ist wohl – erstens – der Tagebuchcharakter des Textes. Wie bereits im Fall des Tagebuchs eines Schülers unterläuft die Schreibpraxis aber die Gattungserwartung insofern, als die Einträge weder mit Daten versehen sind, noch überhaupt eine Chronologie erkennen lassen. Vielmehr sind die assoziativen Einträge beliebig austauschbar. Wie eine Art mise en abyme dieses Spiels mit Gattungskonventionen liest sich insofern auch der in das Tagebuch integrierte Lebenslauf (vgl. JvG, 50 – 52), den Jakob für den Institutsvorsteher verfassen muss und der ebenfalls alle Erwartungen an einen Lebenslauf enttäuscht. Zweitens hat Jochen Greven im Roman eine »typische Märchenfabel« ausgemacht: »Jakob ist der Prinz, der, verkleidet oder verwunschen, die Welt befahren und Prüfungen bestehen muß, und das Institut Benjamenta […] wird ihm zu einem solchen Ort der Prüfung und zugleich der Einweihung in die Lebensgeheimnisse.«559 Wenngleich man für diese Interpretation mindestens von einer grotesken Verzerrung der klassischen Märchenfabel sprechen müsste, scheint dieses gattungsgeschichtliche Zitat für den Roman durchaus plausibel. Eine dritte, von der Forschung wiederholt identifizierte Referenz ist die ironische Reaktion auf den deutschen Bildungsroman.560 Diese Beobachtung bezieht sich dabei meist auf Jakobs Feststellung: »Ich entwickle mich nicht.« (JvG, 144) Bemerkenswert ist allerdings, dass es sich bei allen Bezugnahmen auf diese Gattung um negative 559 Ebd., 172. 560 Vgl. etwa Dieter Borchmeyer: Dienst und Herrschaft. Ein Versuch über Robert Walser. Tübingen 1990 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 26), 27 f.; Hans H. Hiebel: »Robert Walsers ›Jakob von Gunten‹. Die Zerstörung der Signifikanz im modernen Roman«, in: Klaus-Michael Hinz, Thomas Horst (Hg.): Robert Walser. Frankfurt am Main 1991. 240 – 75, hier 247; Hong: Selbstreflexion von Modernität, 175. Hong gibt auch weitere Referenzen auf Jakob von Gunten als Bildungsroman an, vgl. ebd., Anm. 696. Im Gegensatz zu diesen negativen Attributionen unternimmt Andreas Gößling den Versuch, Parallelen in den poetologischen Verfahren des Wilhelm Meister und des Jakob von Gunten auszumachen. Dieser Vergleich wird jedoch überstrapaziert, nicht zuletzt, weil Gößling es versäumt, die veränderten literatur- und sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen angemessen zu berücksichtigen: Andreas Gößling: Abendstern und Zauberstab. Studien und Interpretationen zu Robert Walsers Romanen ›Der Gehülfe‹ und ›Jakob von Gunten‹. Würzburg 1992 (Kommentare und Studien zu Robert Walsers Romanen, Bd. 2), 141 f. Zu einer erhellenden Analyse von Walsers Bildungsbegriff (die sich allerdings nicht auf Jakob von Gunten bezieht) vgl. Stanitzek: Regenschirmforschung.

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Attributionen handelt, die ein vermeintlich generalisierbares Funktionsschema ›des‹ Bildungsromans postulieren, von dem Jakob von Gunten ohne genaueren analytischen Nachvollzug abgegrenzt wird.561 Demgegenüber soll im Folgenden punktuell und problembezogen auf Konzepte von Bildung und Entwicklung Bezug genommen werden, wo sie für das Analyseinteresse Relevanz entfalten. Denn für den vorliegenden Zusammenhang ist eine vierte Gattungstradition noch aufschlussreicher, auf die Jakob von Gunten rekurriert: die Tradition der deutschsprachigen Schulgeschichte im Allgemeinen und der Überbürdungsgeschichte im Besonderen. Um diese Verbindung zu erklären, ist eine kurze Wiedergabe der Handlung nötig. Die Tagebucheinträge fallen sämtlich in die Zeit von Jakobs Aufenthalt im Institut Benjamenta, einer nicht näher bezeichneten Erziehungseinrichtung, und enden mit seinem Austritt. Wie schon bei Robert Musil ist der Roman also durch den Aufenthalt in der Institution gerahmt.562 In erster Linie fällt die Handlungsarmut des Textes auf. Das von dem Geschwisterpaar Benjamenta geleitete Institut selbst wird weitgehend ex negativo charakterisiert, durch das, was es nicht leistet: Von Wissensvermittlung kann dort keine Rede sein. Die Lehrer sind meist abwesend, die einzige, von Lisa Benjamenta abgehaltene Unterrichtsstunde läuft immer gleich ab und besteht in der Auseinandersetzung mit der Frage »Wie hat sich der Knabe zu benehmen?« (JvG, 9). Neben sporadischen Tanz-, Turn- und Theaterstunden sind die Zöglinge des Instituts einem stundenlangen Müßiggang ausgesetzt und warten auf eine ihnen diffus in Aussicht gestellte Anstellung. Während dieser Mußezeit sind die Vorschriften des Instituts sowie das Handbuch auswendig zu lernen, das den Titel »Was bezweckt die Knabenschule Benjamenta?« (JvG, 8) trägt. Das Institut vermittelt insofern nicht etwa Bildungswissen im konventionellen Verständnis, sondern gibt mit dem Handbuch vielmehr einen auf Dauer gestellten Impuls zur institutionellen Selbstreflexion, die unabgeschlossen bleibt. Jakob, der sich dieser Selbstreflexion verweigert, füllt die leere Zeit wahlweise mit Spaziergängen in der Großstadt oder aber damit aus, im Institut Unruhe zu stiften. Seine Rolle 561 Dass schon der Wilhelm Meister das neuhumanistische Bildungsideal nicht ungebrochen darstellt, hat Wilhelm Voßkamp bereits 1985 einschlägig nachgewiesen: Wilhelm Voßkamp: »Utopie und Utopiekritik in Goethes Romanen ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ und ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹«, in: Ders. (Hg.): Utopieforschung: Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 3. Frankfurt am Main 1985. 227 – 49. Dies und ihre Bezugnahme auf ein auch sonst vereinfachtes Gattungsschema reflektieren die oben erwähnten Titel aber nicht. 562 Rüdiger Campe hat auch Walsers Roman auf plausible Weise als einen Institutionenroman untersucht: Campe: Robert Walsers Institutionenroman Jakob von Gunten. Er konzentriert sich in seiner Arbeit auf zwei Aspekte dieses Institutionenromans, den »Familienroman der Institution« sowie seine »Topographie oder de[n] Verkehr über die Grenzen der Institution«; ebd., 243 f.

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besteht in einer eigenartigen Mischung aus begeisterter Anpassung an die Gesetze und Vorschriften des Instituts, die er zugleich unterläuft. Während er wiederholt gelobt, sich den Gesetzen des Instituts fügen zu wollen, entlarvt sein Verhalten diese Beteuerungen als Lippenbekenntnisse. Nach und nach macht sich der beginnende Verfall des Instituts bemerkbar, nicht nur in den sinkenden Schülerzahlen, sondern auch in der zunehmenden Nachlässigkeit des ErzieherGeschwisterpaars Benjamenta. Während Lisa Benjamentas Autorität immer weiter abnimmt und sie schließlich stirbt, gerät Herr Benjamenta in Abhängigkeit von Jakob und vergisst darüber seine Leiterpflichten im Institut. Der Roman endet mit dem gemeinsamen Auszug des ungleichen Paares Jakob und Benjamenta aus dem Institut in die »Wüste« (JvG, 164). Bereits aus dieser skizzenhaften Rekapitulation wird die Distanz zu solchen Texten deutlich, die wie die frühe Schulliteratur einen offensichtlichen Bezug zur bildungspolitischen Realität anstreben. Es ist insofern bezeichnend, dass Rainer Kolk Jakob von Gunten vor dem Hintergrund der Kontrastfolie von Hermann Hesses Unterm Rad liest und zu dem Ergebnis gelangt, Walser verwende »die zeitgenössische ›Schulgeschichte‹ als Medium eigener Form«.563 Tatsächlich sind die invertierten Referenzen auf das Narrativ der Überbürdungsgeschichte zahlreich. »Man lernt hier sehr wenig«, konstatiert bereits der erste Satz, »es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.« (JvG, 7) Direkt zu Beginn der Aufzeichnungen wird also der Leistungsethik, welche die Überbürdungsgeschichten kennzeichnet, eine ausdrückliche Absage erteilt. Statt um Karriereambitionen geht es in den Unterrichtsstunden einzig darum, »uns Geduld und Gehorsam einzuprägen, zwei Eigenschaften also, die wenig oder gar keinen Erfolg versprechen.« (Ebd.) Anstelle der Überforderung der Schüler durch eine Flut an Wissensstoff gilt für das Institut die dauernde Auseinandersetzung mit der Frage des Benimms: »Um diese Frage herum dreht sich im Grunde genommen der ganze Unterricht.« (JvG, 8 f.) Das kumulative Lernprinzip wird durch ein bis zur Absurdität gesteigertes iteratives ersetzt, das statt Lernstress Langeweile hervorruft (vgl. JvG 71, 87). Die Lehrer, sonst sanktionierende Instanzen, sind hier nicht einmal vorhanden. Über ihren Verbleib kann Jakob nur spekulieren: »Es fehlt eben, wie ich schon sagte, an Lehrkräften, das heißt die Herren Erzieher und Lehrer schlafen, oder sie sind tot, oder nur scheintot, oder sie sind versteinert, gleichviel, jedenfalls hat man gar nichts von ihnen.« (JvG, 9) Das heißt jedoch nicht, dass im Institut keine Disziplin herrscht – im Gegenteil. Es regieren die »Vorschriften« (JvG, 55), über 563 Kolk: Literatur, Wissenschaft, Erziehung, 245. Kolk bezieht sich dabei auf die ›Schulgeschichte‹; hier wird zur Präzisierung der Begriff der Überbürdungsgeschichte verwendet, wie sie in Kapitel II dargestellt wurde.

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deren Ursprung, Durchsetzung und konkreten Gehalt der Leser nichts erfährt, die aber noch die Physiognomien der Schüler reglementieren: Nasen von Zöglingen sollen stumpf und gestülpt erscheinen, so verlangen es die Vorschriften, die an alles denken, und in der Tat, unsere sämtlichen Riechwerkzeuge sind demütig und schamhaft gebogen. […] Unsere Augen blicken stets ins gedankenvolle Leere, auch das will die Vorschrift. Eigentlich sollte man gar keine Augen haben, denn Augen sind frech und neugierig […]. Ziemlich ergötzlich sind die Ohren von uns Zöglingen. Sie wagen kaum zu horchen vor lauter gespannten Horchens. (Ebd.)

In der übertriebenen Darstellung wird an dieser Stelle auch die aus der Kadettengeschichte bekannte Uniformität als Zitat erkennbar, das doppelt ironisiert wird: einmal in den karikierten Physiognomien, dann aber auch, indem Jakob diese Uniformität nicht verachtet oder unter ihr leidet, sondern sich für sie begeistert (vgl. JvG 55 f.). Insgesamt charakterisiert ihn die Ambivalenz einer fröhlich-pragmatischen Affirmation des institutionellen Zwangs und dessen gleichzeitiger Subversion, die schon Walsers frühe Schülerfiguren auszeichnete: Etwas nicht tun sollen, das ist manchmal so reizend, daß man nicht anders kann, als es doch tun. Deshalb liebe ich ja so von Grund aus jede Art Zwang, weil er einem erlaubt, sich auf Gesetzeswidrigkeiten zu freuen. […] Mich soll man nur zwingen, antreiben, bevormunden. […] Zuletzt entscheide doch ich, ich allein. Ich reize das stirnrunzelnde Gesetz immer ein wenig zum Zorn […]. (JvG, 28)

Ganz anders als in den Überbürdungsgeschichten verzweifelt der Protagonist also nicht an den formalen Vorgaben, welche die Schule an sein Verhalten macht, sondern unterläuft sie und erlangt nicht zuletzt in diesem Verhältnis zum Diskurs der Institution subjektive Autonomie (»ich, ich allein«). Kolk hat dieses Verfahren bündig formuliert: Jakob von Gunten greift diese in den vorliegenden ›Schulgeschichten‹ präsenten Elemente auf, ändert aber ihre narrative Kopplung. Seine literarische Form zeichnet sich dadurch aus, daß die Komponenten der – aus der Perspektive jugendlicher ›Entwicklungspotentiale‹ – feindlichen Lebenswelt mit anderen Vorzeichen rearrangiert werden.564

Ein weiterer Aspekt, den Kolk nicht anspricht, ist das aufschlussreiche Rearrangement der familiären Konstellation. Dabei interessiert in diesem Zusammenhang weniger eine mögliche psychoanalytische Lesart der ›ödipalen‹ Trias des Vorstehers, Lisa Benjamentas und Jakobs im Sinne des Freud’schen Fami564 Kolk: Literatur, Wissenschaft, Erziehung, 249. Kolk weist außerdem überzeugend auf die ironische Inversion der liminalen Situation in Jakob von Gunten hin. In der Überbürdungsgeschichte wird der Übergang von der Familie in die Schule stets als Initiationstrauma geschildert, während Jakob rückblickend nur über seine eigene Naivität spotten kann: »Wie dumm ich mich doch benommen habe, als ich hier ankam.« (JvG, 11)

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lienromans,565 als vielmehr die Schwächung der Elternfiguren, die im Jakob von Gunten vorgenommen wird. Programmatisch formuliert Jakob eine Absage an die Erziehungsinstanzen, wenn er schreibt: »Das ist es ja: um mich quasi selbst zu erziehen, oder mich auf eine künftige Selbsterziehung vorzubereiten, deshalb bin ich Zögling dieses Institutes Benjamenta geworden […].« (JvG, 69) Diesem autodidaktischen Postulat entspricht die Distanzierung von der adligen Genealogie. Noch ganz im Sinne der Überbürdungsgeschichte gibt Jakob in seinem Einstandsgespräch bei Benjamenta an: »Ich sagte unter anderem, mein Vater sei Großrat, und ich sei ihm davongelaufen, weil ich gefürchtet hätte, von seiner Vortrefflichkeit erstickt zu werden.« (JvG, 12) Die Flucht vor dem Vater endet aber nicht, wie noch in den Überbürdungsgeschichten, im Selbstmord, sondern im Institut, wo er sich im Lebenslauf von seiner angeblich aristokratischen Abstammung lossagt: Die von Gunten sind ein altes Geschlecht. In früheren Zeiten waren sie Krieger, aber die Rauflust hat nachgelassen, und heute sind sie Großräte und Handelsleute, und der Jüngste des Hauses, Gegenstand dieses Berichts, hat sich entschlossen, gänzlich von aller hochmütigen Tradition abzufallen. Er will, dass das Leben ihn erziehe, nicht erbliche oder irgend adlige Grundsätze. (JvG, 51)566

In der Figur Benjamentas ließe sich eine Art Vater-Ersatz vermuten, wäre da nicht das irritierende Spiel mit den biblischen Namen: ist doch aus dem Alten Testament Benjamin als Sohn und Jakob als Vater bekannt; eine Konstellation, die hier nicht nur auf Ebene der Namenswahl umgekehrt wird. So verstärkt sich die Irritation der Rollen noch, wenn Benjamenta im Verlauf des Tagebuchs seine eigene Autorität immer mehr zurück nimmt und sich Jakob gleichsam ausliefert. Entgegen seiner früheren Strenge gibt er sich immer offener : »Ich habe eine seltsame, eine ganz eigentümliche, jetzt nicht mehr zu beherrschende Vorliebe für dich gewonnen. Du wirst jetzt mir gegenüber recht frech sein, nicht wahr, 565 Vgl. Campe: Robert Walsers Institutionenroman ›Jakob von Gunten‹, 243 f. 566 Die Aussagen im Lebenslauf werden freilich insofern relativiert, als Jakob wenig später über sich selbst in der dritten Person angibt: »[…] aber er lügt […].« (JvG, 51) Das Eingeständnis, gelogen zu haben, wiederholt sich und macht Jakob so zu einer unzuverlässigen Erzählerfigur. Dieter Borchmeyer hat darauf hingewiesen, dass »Guntens Dieneridee quasi ein umgestülpter Aristokratismus ist«, dass Jakob entgegen anderslautender Beteuerungen einem aristokratischen Lebensstil verpflichtet bleibt: Borchmeyer : Dienst und Herrschaft, 13. Das entspricht der bereits aus den früheren Texten bekannten Argumentationsfigur der Subversion von Normen bei gleichzeitiger Suggestion ihrer Anerkennung. Borchmeyer hat diese textuelle Strategie treffend beschrieben: »Durch diesen halb schelmischen, halb ernsthaften Ton […] wird die Tendenz der Darstellung verschleiert, die Intention des Autors [hier ist Jakob gemeint, G.W.] nahezu unergründlich: eine Art Über-Ironie, welche auch die Ironie als bloß mögliche Perspektive relativiert, somit ein typisches […] Merkmal des ›konjunktivischen‹ Erzählstils Robert Walsers.« Ebd., 20.

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Jakob?« (JvG, 94)567 Die Vaterfunktion wird insofern nicht nur auf verschiedene Figuren verteilt und damit fragmentarisiert, sondern innerhalb dieser Figuren auch wieder unterlaufen. Dadurch wird die Position des Vaters als eine Leerstelle erkennbar. Ähnliches gilt für die Rolle der Mutter, die ja schon in den Überbürdungstexten in erster Linie durch Abwesenheit gekennzeichnet war. Auf sie referiert Jakob nur ex negativo, indem er ihr den Kontakt verweigert (vgl. JvG, 22) beziehungsweise in masochistischen Szenarien von ihr träumt (vgl. JvG, 34). Auch für die Position der Mutter findet sich in Form von Lisa Benjamenta ein Ersatz. Gleichzeitig verkompliziert ihre Rolle als Schwester des Vorstehers die genealogische Relation und ruft ödipale Muster in Erinnerung;568 wenn sie vor Jakobs Austritt aus dem Institut stirbt, perpetuiert sie damit die aus den Überbürdungsgeschichten bekannte mütterliche Leerstelle. Neben Vater und Mutter, die in erster Linie durch ihre Abwesenheit auffallen, pflegt Jakob ein enges Verhältnis zu seinem Bruder Johann. Auch seine Kameraden werden namentlich genannt und ausführlich charakterisiert. Insofern lässt sich eine bezeichnende genealogische Verschiebung von der vertikalen auf die horizontale Achse der Verwandtschaft ausmachen. Diese Verschiebung muss als eine weitere und entscheidende Modifikation des schulliterarischen Narrativs begriffen werden, impliziert sie doch eine – expressionistische Texte antizipierende – Bewegung weg von der Orientierung an hierarchischen Verwandtschaftsverhältnissen hin zu einer horizontalen Organisation unter Gleichaltrigen. Bei Jakob von Gunten hat man es also erneut mit einem schulliterarischen Text zu tun, der als Kommentar insbesondere der Überbürdungsgeschichten lesbar ist. Er erschöpft sich jedoch nicht im Rearrangement von Elementen der vorgängigen Texttradition. Gleichwohl verbirgt er in der dauernden Ausrichtung auf die Mängel der Institution geschickt den positiven Gehalt ihrer Erziehung, also die Antwort auf die viel diskutierte Frage, welche Art von Ausbildung das Institut Benjamenta eigentlich leiste. Verschiedentlich wurde die Einrichtung als Dienerschule gedeutet, eine Interpretation, deren Prominenz wohl nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass Walser kurz vor seiner Arbeit am Jakob von Gunten im Jahr 1905 selbst an einem Dienerkurs teilgenommen hatte.569 Der Text bietet diese Deutung mit den häufigen Erwähnungen von Konstellationen des Dienens und Herrschens und Jakobs Erklärung im Lebenslauf zwar an: Er sei ins Institut eingetreten, »um sich die paar Kenntnisse anzueignen, die nötig sind, 567 Vgl. zu dieser Selbst-Devestitur Benjamentas außerdem 106 f., 128 f., 142 f., 148 f., 156 f. Tatsächlich beschreibt Benjamenta selbst Jakobs Wirkung auf seine Funktion als Investitur und Devestitur, vgl. 107. 568 Das gilt besonders für die ambivalente Initiation in die inneren Gemächer, die Jakob durch sie erfährt, vgl. JvG, 98 f. 569 Vgl. Borchmeyer : Dienst und Herrschaft, 25.

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um in irgend jemandes Dienst zu treten.« (JvG, 51) Wenn die folgenden Überlegungen aber diese konkrete Zuschreibung vermeiden und die Institution als eine Schule des Stils betrachten, so orientiert sich diese Perspektive an dem Werkzusammenhang. Dieser legt es nahe, den Roman hinsichtlich der Struktur formaler institutioneller Vorgaben einerseits und Strategien ihrer individuellen Subversion andererseits zu betrachten. Was die Einordnung des Textes in die Schulliteratur betrifft, lässt sich insofern – wie etwa bei Wedekind und Musil – eine Bewegung ausmachen, die sich von Bezügen auf zeitgenössische bildungspolitische Debatten distanziert. Ruft man sich Walsers Mikrogramm in Erinnerung, in dem er Stil als »eine Art Betragen«570 bestimmt, so wird deutlich, dass Stilbewusstsein im Sinne eines Bewusstseins für die gute Form im Mittelpunkt der Ausbildung des Instituts steht. Darauf weist schon der Gegenstand der einzigen Unterrichtsstunde hin: »Wie hat sich der Knabe zu benehmen?« Der Text betont wiederholt den Stellenwert, den das Institut der guten Form beimisst. Er deutet dabei einen Bildungsbegriff an, der zwischen Form und Inhalt differenziert und erstere bevorzugt: »Uns Zöglinge will man bilden und formen, wie ich merke, nicht mit Wissenschaften vollpfropfen.« (JvG, 63, m. Hvbg.) An anderer Stelle bemerkt er : »Ich bin auch heute noch dumm«, um dann relativierend zu ergänzen: »[…] aber auf feinere, freundlichere Art und Weise. Und auf die Art und Weise kommt alles an. […] Die Art und Weise: ja, ja. –« (JvG, 31) Die geistige Entwicklung wird zugunsten des formalen Wissens um die »Art und Weise« zurückgestellt, wie Jakob seine vermeintliche Dummheit darzustellen weiß. Anders gesagt: Die Bildung, die das Institut Benjamenta vermitteln will, ist eine Bildung zur vollendeten Form. Vor diesem Hintergrund wird auch begreiflich, weshalb Jakobs eigenartiger Mitschüler Kraus sein Vorbild ist. Kraus, der »picklige« (ebd.) Einzelgänger, fühlt sich ohne Unterlass von Jakobs Verhalten provoziert. Anders als dieser hält sich Kraus pedantisch an die Vorschriften und gilt als Musterschüler, ist sein Verhalten doch formvollendet und hat »Stil« (ebd.). Es ist insofern bezeichnend, dass Jakob seinen Bildungsbegriff am Beispiel Kraus’ definiert: An ihm sieht man so recht, was das Wort Bildung eigentlich bedeutet. Kraus wird später im Leben […] immer als brauchbarer, aber als ungebildeter Mensch angesehen werden, für mich aber ist gerade er durchaus gebildet, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er ein festes, gutes Ganzes darstellt. Man kann gerade ihn eine menschliche Bildung nennen. (JvG, 79)

Jakob weist an dieser Stelle auf ein konventionelles Bildungsverständnis hin, das Kraus Bildung abspräche, und setzt diesem sein eigenes Konzept entgegen, das 570 Walser : Stil, 175.

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Bildung nicht an Kriterien des Wissens, sondern an einer konsequenten formalen Haltung ermisst: »Er ist treu und anständig gegen alle. […] Kraus kennt wenig, aber er ist nie, nie gedankenlos, er unterwirft sich immer gewissen selbstgestellten Geboten, und das nenne ich Bildung.« (JvG, 80) Bemerkenswert ist an Kraus aber vor allen Dingen seine Rätselhaftigkeit (vgl. JvG, 81), »weil überhaupt gar kein lebendiger Mensch hinter diesem namenlos unscheinbaren Kraus irgendeine Aufgabe, irgendein Rätsel oder eine zartere Bedeutung vermuten wird. Kraus ist ein echtes Gott-Werk, ein Nichts, ein Diener.« (Ebd.) Jakobs Beschreibung gibt Kraus in seiner Bedeutungslosigkeit als Signifikant ohne Signifikat, als absolute Form zu erkennen. Kraus ist in diesem Sinn die vollendete Personifikation der Bildung zur vollendeten Form, die das Institut Benjamenta zum Ziel hat. Das Dienen wird so als Chiffre des Aufgehens in der reinen Form erkennbar. Diese Versiertheit in der Form wird besonders im sozialen Miteinander evident, in ihrer Erscheinung als Beherrschung von Umgangsformen. Nicht zuletzt darauf muss das Institut vorbereiten: »Die Schule Benjamenta ist das Vorzimmer zu den Wohnräumen und Prunksälen des ausgedehnten Lebens« (JvG, 65), resümiert Jakob. Er ruft damit das aristokratische Paradigma in Erinnerung, von dem abzugrenzen er sich eigentlich zum Ziel gesetzt hatte. Diese anachronistische Referenz ist nicht die einzige; an anderer Stelle beklagt Jakob etwa den Verlust von Dienertugenden wie denen des von Gunten’schen Hausdieners Fehlmann (JvG, 70). Besonders deutlich wird diese Rückwendung zu vormodernen, höfischen Praktiken am Beispiel der »Tanz-, Anstands- und Turnstunde« (JvG, 110), in der die Schüler gesellschaftliche Szenen nachstellen müssen: […] dann verwandelt sich vor meinen Augen die Schulstube in ein herrschaftliches Zimmer, in eine Straße voller Menschenverkehr, in ein Schloß mit alten, langen Korridoren, in eine Amtsstube, in ein Gelehrtenkabinett, in einen Damen-Empfangsraum, je nachdem, in alles Mögliche. Wir müssen eintreten, grüßen, uns verneigen, sprechen, eingebildete Geschäfte oder Aufträge erledigen, Bestellungen ausrichten, dann plötzlich sitzen wir bei Tisch und essen auf hauptstädtische Manier, und Diener bedienen uns. Schaft, oder vielleicht gar Kraus, stellt eine hocharistokratische Dame vor, und ich übernehme es, sie zu unterhalten. (Ebd.)

Im Rahmen dieses Gesellschaftsspiels praktizieren die Schüler überkommene Exerzitien. Die Schule bereitet insofern mitnichten auf das moderne Großstadtleben außerhalb ihrer Mauern vor. Jakob bewegt sich auf seinen Spaziergängen vielmehr als distanzierter Flaneur, der mit dandyhaft-aristokratischer Erhabenheit auf das laute Treiben herabsieht (vgl. JvG, 40). Auch die Theaterspiele, die er im folgenden Eintrag beschreibt, proben diese anachronistische Einübung in die Form: »Der Inhalt unserer kleinen Dramen nimmt stets Bezug auf die Schule und auf die Zöglinge. […] Das Ende des Stückes ist immer die

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Verherrlichung und Versinnbildlichung bescheidenen Dienens. Das Glück dient: das ist die Moral unserer dramatischen Literatur.« (JvG, 113) Gegenstand des Stücks ist die Bewerbung eines Benjamenta-Zöglings um die Hand einer höheren Tochter, die ihrer Mutter den Bewerber schmackhaft zu machen versucht: »Ach Mama, sehen Sie doch, wie er sich benimmt. Welche feinen Manieren.« (JvG, 112) Die Mutter wehrt dies ab mit der Begründung: »Schweig von Manieren. Auf aristokratisches Benehmen kommt es doch längst nicht mehr an.« (Ebd.) Das Institut wird so zum Relikt einer vormodernen, artifiziellen Form der Geselligkeit, die Walsers Zeitgenosse Georg Simmel 1911 in einem Aufsatz zur Soziologie der Geselligkeit behandelt hat. Simmel nimmt darin, wenn man so will, eine programmatische soziologische Reformulierung der gesellschaftlichen Exerzitien des Instituts Benjamenta vor. Er definiert die Geselligkeit als »Spielform der Vergesellschaftung«571 und konzipiert dieses Verhältnis in Analogie zu dem des »Kunstwerks zur Realität«572 : Aber nur die gesellige ist eben »eine Gesellschaft« ohne weiteren Zusatz, weil sie die reine, prinzipiell über jeden spezifischen Inhalt erhabene Form all jener einseitig charakterisierten »Gesellschaften« in einem […] alle Inhalte in das bloße Spiel der Form auflösenden Bild darstellt.573

Seiner formalsoziologischen Konzeption geselligen Verhaltens dient dabei die französische Aristokratie als Idealbild: Hier waren aus dem Wegfall der konkreten Lebensinhalte, die der französischen Aristokratie gewissermaßen durch das Königtum ausgesogen waren, freischwebende Formen entstanden, zu denen das Bewußtsein dieses Standes kristallisiert war – Formen, deren Kräfte, Bestimmtheiten, Relationen rein gesellig waren und keineswegs etwa Symbole oder Funktionen der realen Bedeutungen und Intensitäten der Personen und Institutionen. Das Etikettenwesen der höfischen Geselligkeit war zum Selbstzweck geworden, es etikettierte keinen Inhalt mehr, sondern hatte immanente Gesetze ausgebildet, jenen der Kunst vergleichbar, die nur aus dem Gesichtspunkt der Kunst heraus gelten und durchaus nicht den Zweck haben, die Wirklichkeit der Modelle, der Dinge außerhalb der Kunst treuer und treffender in ihr nachzubilden.574

Es ist diese zum Selbstzweck gesteigerte Förmlichkeit, welche die Eleven des Institutes Benjamenta kennzeichnet. Doch auch für die moderne Geselligkeit betont Simmel die Bedeutung der Form:

571 Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit, in: Klaus Lichtblau (Hg.): Georg Simmel: Soziologische Ästhetik. Wiesbaden 2009. 163 – 75, hier 165. 572 Ebd. 573 Ebd., 165. 574 Ebd., 173.

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Es ist kein bloßer Zufall des Sprachgebrauchs, dass alle Geselligkeit […], wenn sie irgend welchen Sinn und Bestand haben soll, einen so großen Wert auf die Form legt, auf die gute Form. Denn Form ist gegenseitiges Sich-Bestimmen, Wechselwirken der Elemente, wodurch sie eben eine Einheit bilden; und da nun für die Geselligkeit die konkreten, an die Zwecksetzungen des Lebens angeknüpften Motivierungen der Vereinheitlichung in Wegfall kommen, so muß die reine Form, der sozusagen freischwebende, wechselwirkende Zusammenhang der Individuen um so stärker und mit um so größerer Wirksamkeit akzentuiert werden.575

Freilich ist, um diesen »Zusammenhang« zu erreichen, die Zurücknahme der Individualität zugunsten der Gruppe essentiell: »[…] weil hier alles auf die Persönlichkeiten gestellt ist, dürfen die Persönlichkeiten sich nicht gar zu individuell betonen«, vielmehr müsse eine »Herabsetzung der persönlichen Zugespitztheit und Selbstherrlichkeit stattfinden, damit ein Beisammensein überhaupt möglich sei.«576 Diese Überlegung führt zurück zu Jakob von Gunten. Wie bereits angedeutet, geht das Programm der Erziehung zum vollendeten Stil, wie Kraus ihn verkörpert, bei Jakob nicht auf, weil dieser sich den Normen des Instituts zu entziehen weiß. Doch nicht nur am Beispiel Jakobs deutet sich an, dass das Institut Benjamenta an der Ausbildung seiner Schüler scheitert. Der Leser erfährt beispielsweise, dass Jakobs Kamerad Schacht nach einer Anstellung wieder ins Institut zurückkommt (vgl. JvG, 122 f.) Jakob ist an dem Verfall des Instituts nicht unbeteiligt. Mit dem, was mit Viktor Zˇmegacˇ als ›Poetologie des Kaputtlobens‹ bezeichnet wurde, trägt er dazu bei: Gegenüber der Unpersönlichkeit, welche das Formideal fordert, macht Jakob immer wieder seine Individualität geltend. Anstatt, Kraus gleich, zur perfekten Form zu werden, bringt er durch die Irritation der »Vorschriften« immer wieder seine eigene Bedeutung ein – ein Umstand, den der Rektor Benjamenta treffsicher benennt, wenn er sagt: »Es ist etwas Bedeutendes an dir, Jakob.« (JvG, 94) Durch dieses subversive Verhalten treibt Jakob so lange ein verwirrendes Spiel mit der sozialen Ordnung der Institution, bis sie sich auflöst. Er erreicht dies durch Techniken der ambivalenten Rede. Jakobs liebste Opfer sind der Mitschüler Kraus und der Institutsleiter Benjamenta. Jakob gesteht, Kraus gern provokante Fragen zu stellen, deren Antworten er im Voraus kenne: »[…] ich habe ihn nur wieder einmal reizen wollen. Wie unschön ist das von mir, und wie leer. […] Und doch: wie reizend.« (JvG, 87) Das gleiche Verhältnis der Täuschung findet sich in der Reaktion auf Benjamentas ersten Versuch, sich Jakob zu nähern: »Ich heuchelte irgendwelche Kälte, irgendwelche Oberflächlichkeit, während ich doch am liebsten hätte in 575 Ebd., 173. Hvbg. i. O. 576 Ebd., 165.

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sein Gesicht lachen mögen, vor Freude.« (JvG, 95) In diese Täuschungsstrategie lässt sich auch die wiederholte Null-Semantik einordnen. Sein Bruder Johann schreibt Jakob diese vermeintliche Bedeutungslosigkeit geradezu vor: »Du bist jetzt sozusagen eine Null, bester Bruder. Aber wenn man jung ist, soll man auch eine Null sein, denn nichts ist so verderblich wie das allzu frühe Irgendetwasbedeuten. Gewiss: Du bedeutest dir etwas. Bravo. Vortrefflich. Aber der Welt bist du noch nichts, und das ist fast ebenso vortrefflich.« (JvG, 66)

Auch die ständige Beteuerung, auf ein untergeordnetes Dasein vorbereitet zu werden, findet seinen bildlichen Ausdruck in dieser Ziffer : »Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.« (JvG, 8) Dieser Demutstopos erweist sich jedoch als Finte, wenn man die mathematische Bedeutung der Null in Betracht zieht, wie Peter Utz es getan hat. Dann nämlich wird deutlich, dass die Null – als ein »Bedeutungssystem, das sich selbst versteht, das – von außen gesehen – seinen Inhalt umschließt«577 mitnichten Ausdruck semantischer Leere, sondern vielmehr Orientierungspunkt des gesamten Rechensystems ist.578 Jakobs eigentliche Bedeutung ist im konventionellen Sprachregister also nicht erkennbar, ja vielmehr irreführend; nur im mathematischen Register wird sie deutlich. Eben dadurch entzieht sie sich aber auch dem Zugriff der Institution. Ihre Ausrichtung auf die Form sieht ein derart komplexes semiotisches Spiel nicht vor. Die Verwirrung, die Jakob stiftet, hat aber zur Folge, dass die Institution sich tatsächlich am Individuum auszurichten beginnt. Jakob wird mithin – gleich der Null – zum systemischen Referenzpunkt. Diese ›Unberechenbarkeit‹ legt Jakob auch als Erzähler an den Tag. Den Wahrheitsgehalt seines Tagebuchprotokolls etwa markiert er immer wieder selbst als höchst fragwürdig. Die Einschränkung »aber er lügt« (JvG, 52), die er im »wahrheitsgetreu[]« (JvG, 23) zu verfassenden Lebenslauf vornimmt, wurde bereits erwähnt. Er gibt außerdem an, die Menschen in der Stadt über seine Identität besonders gern »[…] im Unklaren zu lassen. Oder ich lüge und sage, ich sei Däne.« (JvG, 22) Seine Aufrichtigkeit zweifeln auch die Figuren der Diegese an: »Nein, nein, ich lüge nicht«, muss Jakob Lisa Benjamenta gegenüber beteuern, »[i]ch rede wahr, Fräulein […].« (JvG, 125). Wenige Seiten später stellt er dies aber gleich wieder in Frage, wenn es heißt: 577 Peter Utz: »Robert Walsers ›Jakob von Gunten‹ – Eine ›Null‹-Stelle der deutschen Literatur«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), 488 – 512, hier 490. 578 »Einerseits ist die Null unentbehrlich zur Positionsbestimmung der Zahlen; ohne sie läßt sich beispielsweise im Dezimalsystem der ›Stellenwert‹ keiner anderen Ziffer festhalten. […] Andererseits referiert die Null auf einen Nicht-Inhalt; sie sprengt damit ein simples, an den sichtbaren Realien orientiertes Zählen und Rechnen und macht damit komplexere Operationen überhaupt erst möglich.« Utz: Null-Stelle, 490 f.

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Ich lüge nicht gern. Überhaupt mir gegenüber lügen: was hätte das für einen Sinn? Ich lüge woanders, aber nicht hier, vor mir selber. […] Lügen sind das, lauter Lügen. Ich habe das ja alles eigentlich gewußt. Gewußt? Das ist wieder eine Lüge. Es ist mir nicht möglich, die Wahrheit zu sagen. (JvG, 135)

Der Mangel an Zuverlässigkeit verstärkt sich noch durch Jakobs Neigung zur Geheimniskrämerei. Er verleiht wiederholt seinem Bemühen Ausdruck, seine eigene Person möglichst für andere intransparent zu halten: »Nichts ist mir angenehmer, als Menschen, die ich in mein Herz geschlossen habe, ein ganz falsches Bild von mir zu geben.« (JvG, 26) Gleichzeitig ist er bemüht, der Institution und ihrem Personal möglichst noch das letzte Geheimnis zu entlocken: Aber ich forsche wenigstens immer. Um zu forschen […] trete ich öfters in das Kontor und richte so läppische Fragen […] an den Mann. […] Ja, und deshalb, um etwas herauszukriegen aus all diesem Geheimnisvollen, reize ich ihn, damit ihm etwas wie eine unvorsichtige Bemerkung entfahre. (JvG, 45)

In seiner Reinform ist das institutionelle Geheimnis in den inneren Gemächern verkörpert, die Jakob auch mit Lisa Benjamenta besucht (vgl. JvG 98 – 103) – ein Besuch, der sich anschließend, mit zunehmendem Verfall der Institution, als bloße Chimäre erweisen wird: »Ich bin übrigens jetzt endlich in den wirklichen innern Gemächern gewesen, und ich muß sagen, es existieren gar keine. Zwei Zimmer sind da, aber diese Räume sehen nach nichts Gemachartigem aus.« (JvG, 130 f.) Wie vieles andere, was die Ontologie der erzählten Welt betrifft, muss auch hier die Frage offen bleiben, welche Version der beiden Berichte Gültigkeit beanspruchen kann. Jakobs subversive Strategie kommt vielleicht in folgendem Satz am deutlichsten zum Ausdruck: »O mir ist manchmal, als hätte ich es in der Gewalt, mit der Erde und all den Dingen darauf beliebig spielen zu können.« (JvG, 60) Seine eigene Aussage, gerne die Vorschriften des Instituts zu missachten, lässt sich vor diesem Hintergrund als Spiel mit den institutionellen Regeln lesen. In den obigen Zitaten fällt dabei die häufige Verwendung der Semantik des Reizes auf, die Jakob gebraucht, um sein subversives Verhalten zu beschreiben.579 Es ist bemerkenswert, dass die permanente Provokation, die dieses Reizen beinhaltet, so erfolgreich ist, dass sich der Institutsvorsteher selbst Jakobs Ausdrucksweise bedient, wenn er sagt: »Es ist prickelnd reizend, sich dir gegenüber ein wenig schwach und weicher, als gewöhnlich, zu verhalten.« (JvG, 107) Um Jakobs schrittweise Auflösung der institutionellen Ordnung zu begreifen, genügt es im Grunde genommen, seine Gespräche mit Benjamenta nachzuvollziehen. Die Veränderung der Reaktionen des Vorstehers auf Jakob lassen eine langsame Eskalation des Kontrollverlusts erkennen. Dies beginnt mit Benjamentas Be579 Vgl. auch JvG, 28, 45, 52, 82, 87, um nur einige Fälle zu nennen.

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Spiele mit der Norm

kenntnis der »Vorliebe« (JvG, 94) für Jakob, steigert sich zu dessen eigener Verwunderung darüber, »daß ich mich dir gegenüber aller Vorgesetztengewalt entkleidet habe« (JvG, 106) und kulminiert in der Aufforderung zur Untugend: »Ich möchte dir sogar anraten, ein wenig schlendrianisch, vergeßlich und gedankenträge zu werden. Denn siehst du, das, was man Untugenden nennt, das spielt im Dasein des Menschen eine so große Rolle, das ist so wichtig, fast möchte ich sagen, notwendig.« (JvG, 128) Die Stil- und Benimmtugenden, die Umgangsformen, die das Erziehungsprogramm des Instituts charakterisierten, werden hier vollständig auf den Kopf gestellt.580 Im Gegensatz zu den anderen Schülern, die – repräsentiert durch Kraus – als ›leere Signifikanten‹ zu verstehen wären und sich insofern in die programmatische Selbstreferenz des Instituts fügen, formuliert Benjamenta mit seiner Beobachtung von Jakobs »Bedeutung« (JvG, 94) womöglich am deutlichsten dessen Eigenart, die das semiotische System der Institution verstört: die Tatsache nämlich, dass er als Figur Bedeutung beansprucht oder zumindest – durch die oben beschriebenen Strategien – Bedeutung zu besitzen vorgibt. Wenn man so will, leistet Walser hier die womöglich elaborierteste, weil semiotische Neuinterpretation des in der Schulliteratur so prominenten asymmetrischen Machtverhältnisses zwischen Individuum und Institution. Jakob verweigert sich dem institutionellen Programm durch die Ambivalenz generierenden Strategien der Lüge und des Geheimnisses und macht so seine – vermeintliche oder tatsächliche – subjektive Bedeutung geltend. Fritz Kochers Aufsätze bereiten in diesem Sinn vor, was Jakob von Gunten detaillierter vorführt. Erstens beschreiben die Texte institutionelle Programme einer Stilbildung, die man insbesondere im Fall Jakob von Guntens mit Georg Simmel als eine alternative Reaktionsmöglichkeit auf die Zumutungen der modernen Gesellschaft betrachten könnte – statt der Kapitulation und Überforderung, deren Symptom die nervöse Gereiztheit ist und die die frühen Texte variantenreich beschrieben haben, hätte die Ausbildung zur Förmlichkeit hier eine Entlastungsfunktion. Diese vollkommene Ausrichtung auf die Form geht jedoch nicht auf. Denn gleichzeitig beschreiben die Texte Individualisierungsprozesse, die durch die Irritation dieses institutionellen Formprogrammes zu580 Damit einher geht auch die Infragestellung der Herrschertugenden Benjamentas. Jakobs Strategie stellt die machttheoretische Grundannahme aus, dass »Herrschaft der Zustimmung der Beherrschten bedarf und insoweit eher phantasmatischer als im strikten Sinn realer Natur ist.« Jakobs ›Zersetzungstaktik‹ ließe sich insofern auch dahingehend beschreiben, dass sie die »regulativen Fiktionen«, auf die sich soziale Ordnung gründet, außer Kraft setzt. Albrecht Koschorke: »Macht und Fiktion«, in: Ders., Thomas Frank, Susanne Lüdemann, Ethel Matala de Mazza (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte – Bilder – Lektüren. Frankfurt am Main 2002. 73 – 84, hier 73 bzw. 77, Hvbgen. i. O.

Programme der Stilbildung und ihre Subversion

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stande kommen. Wie im Fall von Fritz’ eigenwilliger Aufsatzstilistik verletzt auch Jakobs semiotische ›Unberechenbarkeit‹ die Logik der institutionellen Ordnung, so dass sich die Institution schließlich auflöst. Das Spiel mit den Regeln der Institution erweist sich so als einzige Individuierungsoption. Entsprechend schildert auch Jakobs letzter Eintrag die kollaborative Destruktion dessen, was vom Institut geblieben ist: »Ja, wir beide, der Vorsteher und ich, wir sind mit Packen, […] Abbrechen, Aufräumen, Auseinanderzerren, Schieben und Rücken beschäftigt.« (JvG, 164) Das Tagebuchprojekt wird aufgekündigt: »Ich fühle, daß das Leben Wallungen verlangt, nicht Überlegungen.« (Ebd.) Die Selbstaufforderung: »Aber weg jetzt mit der Feder. Weg jetzt mit dem Gedankenleben« (ebd.), lässt sich insofern als Beendigung eines Projekts betrachten, das in der Form des Tagebuchs eine doppelte Irritationsgeschichte erzählt hat. Auf der Ebene der erzählten Welt berichtet es von einer programmatischen Irritation der Ordnung der Stilschule Benjamenta. Auf der MetaEbene des Schreibprozesses vollzieht das Tagebuch diesen irritierenden Stil nach, indem der Erzähler Jakob sich immer wieder als unzuverlässige Instanz zu erkennen gibt. Ohne eine verlässliche Referenz, geleitet von einem Erzähler, die noch den ontologischen Status der erzählten Welt immer wieder fragwürdig erscheinen lässt, findet sich der Leser mithin in der hilflosen Position des diegetischen Personals wieder. Aus dieser Position heraus lässt sich kein Urteil fällen und nicht sanktionieren. Auf doppelte Weise hat der Roman mithin der deutenden, richtenden, nicht zuletzt: der pädagogischen Instanz und Institution die Grundlagen ihres Selbstverständnisses genommen.

IV. Politische Transformationen

Im Jahr 1906 veröffentlicht Friedrich Wilhelm Kitzing, leidenschaftlicher Hobbyleser zeitgenössischer Schulliteratur, in der Publikationsreihe des Allgemeinen Deutschen Elternbundes für Schulreform einen Vortrag mit dem Titel Das moderne deutsche Schul- und Erziehungsdrama mit besonderer Berücksichtigung der neueren literarischen Erscheinungen. Darin lädt er am Schluss zu einem »Experiment«581 ein. Er listet die zwölf Schuldramen, die er besprochen hat, chronologisch auf und stellt dann folgende Beobachtung an: Betrachten Sie diese Tabelle aufmerksam, so werden Sie finden, daß von einem anfänglich nebensächlichen Mitwirken der Schule diese letztere immer mehr in den Vordergrund tritt; daß aber auch zweitens das Auftreten der Schüler immer kühner und selbstbewusster wird; bis endlich in der »Gymnasiastentragödie« eine Schülerrevolte zustande kommt, die aber doch noch mit dem Tode des Helden endigt. Schließlich aber im letzten Stück haben wir […] einen Ausgang mit dem Siege des sich auflehnenden Schülers. Es mag diese ganze Folge der Theaterstücke ein Zufall sein; ich aber nehme sie als Zeichen dafür, daß erstens die Dichter mehr und mehr Zutrauen zu der Jugend und ihrer ungebrochenen Kraft fassen, daß sich aber andererseits auch mehr und mehr in der Schuljugend – nicht nur im Buche, sondern auch in der Wirklichkeit – ein bestimmteres Gefühl für das Unwürdige und Schändliche des augenblicklichen Zustandes verbreitet, daß mehr und mehr die Jugend sich ihres Rechtes bewusst wird und sich sehnt nach einem Siege über das morsche Alter. Und so rufe ich Ihnen zum Schluss die Worte zu, mit denen der Probekandidat Fritz Heitmann nach seinem moralischen Siege über die Philister seiner Heimatstadt das Drama Max Dreyers beschließt: »Das Lebendige behält den Sieg! Immer und überall! Mit dieser Gewißheit lässt es sich leben!«582

581 Friedrich Wilhelm Kitzing: Das moderne deutsche Schul- und Erziehungsdrama mit besonderer Berücksichtigung der neueren literarischen Erscheinungen. Leipzig 1908 (Veröffentlichungen des Allgemeinen Deutschen Elternbundes für Schulreform). 582 Ebd., 28.

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Politische Transformationen

Man muss sich nun nicht mit Kitzing zu vorschnellen Rückschlüssen hinreißen lassen, was die gesellschaftliche Abbildfunktion von Literatur betrifft, oder gar in das Pathos der aus der Schulliteratur geborgten Parolen einstimmen. Seine Diagnose einer Veränderung innerhalb der besprochenen Schuldramen vor und nach der Jahrhundertwende kann man jedoch für die Schulliteratur insgesamt erweitern: Tatsächlich lässt sich um das Jahr 1910 herum ein weiteres Mal eine Veränderung ausmachen. Verstärkt sind Momente der Konfrontation von Schülern und Lehrern zu beobachten, die die Texte von Heinrich Mann, Robert Saudek, Wilhelm Lehmann, Leonhard Frank oder Arnolt Bronnen auf verschiedene Weise gestalten. Nun sind diese Konfrontationsszenarien jedoch weniger harmlos, als sie, insbesondere im Kontext des expressionistischen Jahrzehnts583, auf den ersten Blick vermuten lassen. Die späten schulliterarischen Texte leisten weit mehr, als die nachgerade topischen ›Kollisionen‹ von Vätern und Söhnen, von Alt und Jung zu beschreiben. Sie vollziehen vielmehr auf dieser Grundlage ihre eigene Transformation in einen politischen Diskurs. So verliert in den Texten nicht nur die Schule als staatliche Institution an Bedeutung – das Genre der Schulliteratur verliert damit auch seine politische Unschuld. Diese Transkription des pädagogischen in einen politischen Diskurs und die damit einhergehende Radikalisierung der Texte hat ihre Wurzeln im expressionistischen Jahrzehnt, dem die Texte eher aus sozialhistorischer beziehungsweise literatursoziologischer denn aus ästhetischer Perspektive zuzurechnen sind. In diesem Sinne eint die vorliegenden Texte jedoch weniger formale Innovation als vielmehr ihr »gesellschaftskritische[r]« und »utopisch-messianische[r]« »Protestcharakter«584. Die Einordnung der Schulliteratur in expressionistische Programme ergibt sich also in erster Linie aus ihrem diskursiven Gehalt, denn das Sujet der Schule dient hier als ein Symptom dessen, was die Autoren dieser Epoche als überkommen und reformbedürftig betrachten: »Die Repräsentationsfigur eines derart kulturkonservativen Denkens, das […] der deutsche Bildungsphilister predigte, ohne sie noch mit Leben füllen zu können,

583 Gemeint sind die Jahre 1910 – 1925, vgl. für diese Periodisierung Ralf Georg Bogner : »Expressionismus«, in: Metzler Lexikon Literatur. Hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moenninghoff. 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2007. 222 – 24, hier 222. 584 Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890 – 1933. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart 1998. 134. Zu dieser terminologischen Bestimmung der Epoche auch das Metzler Lexikon Literatur : »Der Begriff bezeichnet Texte, die etwa in den Jahren 1910 – 25 erscheinen und durch Gemeinsamkeiten sowohl ihrer ästhetischen Form als auch ihrer spezifischen Einbindung in das Sozialsystem Lit. Gekennzeichnet sind. Typisch ist die radikal kultur- und gegenwartskritische Ausrichtung des E., die Infragestellung des Modernisierungsprozesses und seiner Phänomene […].« Bogner : Expressionismus, 222 f.

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war der deutsche Gymnasiallehrer.«585 Hinsichtlich des Widerstands gegen vermeintlich überholte Werte und Normen, wie sie die curricularen Anforderungen des wilhelminischen Schulsystems ausdrücken, kommt der Institution Schule eine ähnliche Funktion zu wie in den in Kapitel III behandelten Texten – auch dort ist die Schule paradigmatisches Feindbild. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die Schule nun auf verschiedene Weisen überwunden werden soll. Unterstützung für derartige Absichten kommt dabei auch von Seiten der Psychoanalyse, die insbesondere in den Figuren Sigmund Freuds, vor allem aber Otto Gross’, der etwa Leonhard Franks Werk stark geprägt hat, den Expressionismus beeinflusst. In einem einschlägigen Aufsatz Zur Überwindung der kulturellen Krise, den die Zeitschrift Die Aktion 1913 druckte,586 forderte Gross die Überwindung der patriarchalischen Familie als Ursache des in seiner Wahrnehmung epochentypischen Konflikts des Individuums zwischen seiner ersten und seiner zweiten, anerzogenen Natur. Indem er so den Kampf gegen die – in erster Linie: männlichen – Erzieher ins Zentrum seiner Kulturdiagnose setzt und die »Psychologie des Unbewussten« zur »Philosophie der Revolution«587 erklärt, bringt Gross »mit dieser historisch erstmaligen und radikalen Transformation Freudscher Psychoanalyse auf den Begriff […], was gerade zum unbegriffenen Erfahrungspotential der Jugendbewegung gehörte.«588 Hermann Korte resümiert in seiner einschlägigen Gegenüberstellung von Expressionismus und Jugendbewegung: Literarische Avantgarde und avantgardistische Psychoanalyse: in ihrer wechselseitigen Bestätigung liegt die Erkenntnis einer Gemeinsamkeit, die […] weit über die Affinitäten zwischen Expressionismus und Jugendbewegung hinausgeht. Die PsychoanalyseDebatte der Aktion ist die Überführung aller ehrlich gemeinten Thesen und Forderungen zur Jugenderziehung und zur sozio-kulturellen Rolle der Jugend in eine neue, revolutionär wirkende Theorie der Kulturkrise […].589

Denn Gross’ Aufsatz steht im Kontext einer breiteren Diskussion über das Verhältnis von Expressionismus und Psychoanalyse, die mit einem Essay von Gustav Landauer im Sozialisten ihren Anfang genommen hatte.590 Ein Großteil des Austauschs der Gruppierungen nicht nur in dieser Frage fand in Zeit585 Silvio Vietta, Hans-Georg Kemper : Expressionismus. München 1997 (Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, Bd. 3), 177. 586 Otto Gross: »Zur Überwindung der kulturellen Krise«, in: Die Aktion 3 (1913), Sp. 384 – 87. 587 Ebd., 384. 588 Hermann Korte: »Expressionismus und Jugendbewegung«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 13 (1988), 70 – 106, hier 90. Hvbg. i. O. 589 Ebd. 590 Vgl. Thomas Anz, Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910 – 1920. Stuttgart / Weimar 1982, 151.

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Politische Transformationen

schriften statt. In erster Linie ist hier die von Franz Pfemfert ab 1911 herausgegebene Aktion (im Untertitel: Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst) zu nennen; später kamen der Anfang (von 1913 an im Aktionsverlag erschienen) und der Aufbruch (1915 von Ernst Joel begründet) hinzu. Nicht zuletzt waren die Zeitschriften auch ein Ort der engagierten Diskussion pädagogischer Fragen – im Anfang etwa findet eine ausführlichere kritische Auseinandersetzung mit der Schule statt.591 Insbesondere der Reformpädagoge und Leiter der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, Gustav Wyneken, war am Anfang beteiligt und nutzte das Medium, um sich als pädagogische Heilsgestalt zu inszenieren.592 Auf Wyneken wird anlässlich Wilhelm Lehmanns Bilderstürmer zurückzukommen sein. Wichtig ist hier zunächst, festzuhalten, dass die expressionistischen Jahre auf diese Weise in verschiedenen Lebensbereichen Nährböden bereiteten für Szenarien der Kritik, des Widerstands und der Konfrontation, kurz, für Möglichkeiten der Umgestaltung des sozialen Lebens. In diesem Zusammenhang wird nun mit Blick auf die Schulliteratur die bemerkenswerte Tendenz erkennbar, dass zwischen den Bereichen der Pädagogik und der Politik eine wachsende Unschärfe entsteht, anders gesagt: dass Bildung und Erziehung zu Gebieten werden, in denen man Möglichkeiten der Neugestaltung593 und Organisation des sozialen Lebens durchspielt. Diese Tendenz ist kein literaturimmanentes Phänomen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, was Detlev Peukert in seinem einschlägigen Essay zur Weimarer Republik am Beispiel des Wandervogels ausgeführt hat. Er schildert dort die Veränderung, die diese für das wilhelminische Deutschland repräsentative Jugendbewegung im Verlauf des Ersten Weltkriegs durchmachte: Aus dem ›Wandervogel‹ wurden die ›Bündischen‹, die die Kriegserfahrung durch eine Steigerung des Nationalismus, durch festere und dem Führerprinzip verpflichtete Organisation und durch eine aus dem Jugendmythos entwickelte diffuse Sendungsideologie verarbeiteten. […] Zudem erwiesen sich die Jugendbewegungen als Rekrutierungs- und Bewährungsfelder für den Nachwuchs sowohl der pädagogischen Institutionen als auch der politischen Organisationen […].594

591 Vgl. die Funde von Glen Wayne Gadberry : Arnolt Bronnen and the Revolt of Youth: A Critical Analysis of Selected Works. Ann Arbor 1975. 16 f. 592 Vgl. Korte: Expressionismus und Jugendbewegung, 101, 102. 593 Der Begriff der ›Gestaltung‹ ist hier nicht zufällig gewählt. Verschiedene Beobachtungen, die dieses Kapitel dokumentiert, ließen sich möglicherweise gewinnbringend mit dem Diskurs der Plastizität und, im Zusammenhang damit, mit der Anthropologie der 1920er Jahre in Verbindung bringen. Weil die literarischen Texte solche Zusammenhänge aber allenfalls latent adressieren, würde dieser Exkurs das Anliegen des Kapitels sprengen, bleibt jedoch Desiderat. 594 Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt / Main 1987. (Neue Folge, Bd. 282), 96 f.

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Hatte sich der ›Wandervogel‹ um 1900 noch »aus einer Gruppe von Oberschülern und reformorientierten Pädagogen«595 mit der Absicht gebildet, eine jugendliche Gegenwelt zu den Zwängen und Pflichten der Gesellschaft aufzubauen, ist offenbar im und nach dem Krieg eine größere Bereitschaft, ja ein Bedürfnis nach Orientierung und Lenkung erkennbar. »Jugendliche«, so resümmiert Peukert, »hatten einerseits größere Chancen zur Emanzipation, andererseits suchten sie vor der Erfahrung der Bindungs- und Perspektivlosigkeit Schutz in totalitären Bewegungen.«596 Er bezeichnet diese Tendenz, die bei der Jugend nicht haltmachte, einige Kapitel später als die »totalitäre Versuchung«: Nicht nur die politische Klasse, die mit den Stilmitteln der formierten Öffentlichkeit zu experimentieren und über den Aufbau von ›Führerpersönlichkeiten‹ nachzudenken begann, sondern auch die zivile Gesellschaft der zwanziger Jahre spürte die totalitäre Versuchung als Ausweg aus den Widersprüchen und Handlungsblockaden des Modernisierungsprozesses. […] Daraus [aus bestimmten Problemwahrnehmungen, G.W.] entwickelte sich eine totalitäre Erwartungshaltung, die sich in der Sehnsucht nach echter personaler Führerschaft […] und in der medialen Verbreitung einer formierten Öffentlichkeit ausdrückte.597

Über dieses Panorama von Latenzzuständen der Weimarer Mentalität darf nicht in Vergessenheit geraten, dass es sich hier erstens um eine sozialgeschichtliche Darstellung handelt, die sich zweitens auf einen späteren Zeitraum als den bezieht, in dem die späten schulliterarischen Texte erscheinen. Umso brisanter lässt diese Konstellation jedoch das erscheinen, was die Texte zu sagen haben. Ohne eine direkte Verbindung zwischen Sozialgeschichte und Schulliteratur der ausgehenden wilhelminischen Ära beziehungsweise frühen Weimarer Republik postulieren zu wollen, darf man doch festhalten, dass die Texte Aspekte dieser von Peukert geschilderten sozialgeschichtlichen Entwicklung präformieren. Denn man kann beobachten, dass der Bedeutungsverlust der Schule, wie ihn die Literatur darstellt, zugunsten einer dort ebenfalls geschilderten Privilegierung andersgearteter Bildungs- und Erziehungszusammenhänge geschieht. In den reformschulartigen Gemeinschaften in den Texten Lehmanns etwa soll Schulbildung im Rahmen von Kreisen und Gruppen stattfinden, die auf Initiativen individueller Führerfiguren zurückgehen und gleichsam am Staat vorbei gegründet werden. Ein Curriculum im engeren Sinn vermisst man – die Gemeinschaften dienen kaum mehr der Vermittlung von Wissen, sondern vielmehr, in Form einer selbstreferentiellen Schließung, des Kultes ihrer selbst und ihrer Führer, wie die Texte von Saudek, Lehmann oder auch Bronnen zeigen. Mehr als um ›Bildung‹ geht es jetzt um Vergemeinschaftung. Die Revolte gegen 595 Ebd., 96. 596 Ebd., 100. 597 Ebd., 236 f.

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die Schule kann als Vorstufe zu avantgardistischen Szenarien gelesen werden, die den Widerstand insofern überbieten, als die entsprechende Literatur zur politischen Handlungsanweisung, die Grenze zwischen Kunst und Leben mithin zunehmend unkenntlich wird. In wachsendem Maß lassen sich die späteren Texte insofern bezüglich solcher ›Ermächtigungsstrategien‹ lesen, wie sie die jüngere Forschung als ein Signum der Klassischen Moderne ausgemacht hat: Für den Diskurs der Klassischen Moderne ist es bezeichnend, dass sie aus einer fundamentalen tabula rasa ihrer Gegenwart zugleich offensive Akte sozialer Gründungen ableitet, von denen aus das Soziale zum Gegenstand elementarer Formbarkeit erklärt werden kann – eine Formbarkeit, die ihren programmatischen Anspruch, Kontingenz zu tilgen, durch das ›Zeigen‹ ihrer autoritären Selbstermächtigung vergrößert. […] In diesem Sinne ist die Klassische Moderne als Projekt einer Rückerstattung jener Lebenstotalität zu verstehen, die von den fortgeschrittenen Differenzierungsprozessen der Moderne, aber auch der Vielfalt ihrer konkurrierenden Deutungsdiskurse restlos aufgezehrt schien.598

Für die Schulliteratur muss zwar einschränkend hinzugefügt werden, dass dieser Befund eher für die diskursive als für die poetologische599 Dimension gilt. Dass und inwiefern die späten schulliterarischen Texte aber mindestens Residuen dieser geschilderten Tendenz aufweisen, gilt es im Folgenden zu präzisieren. Den 598 Ingo Stöckmann: »Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und ›Das Abenteuerliche Herz‹ (Erste Fassung)«, in: Ders., Uwe Hebekus (Hg.): Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900 – 1933. München 2008. 189 – 220, hier 192 f. Die folgende Argumentation, die die späten schulliterarischen Texte in diese sehr spezifische Selbstinterpretation der Klassischen Moderne einbettet, stützt sich neben den oben genannten Titeln auf jüngere Forschungsergebnisse aus der Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie der Philosophie. Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf sie einzugehen, seien hier die wichtigsten Titel genannt: Gerhard Kraiker : »Rufe nach Führern. Ideen politischer Führung bei Intellektuellen der Weimarer Republik und ihre Grundlagen im Kaiserreich«, in: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 4 (1998), 225 – 273; Annette Simonis: Gestalttheorie von Goethe bis Benjamin: Diskursgeschichte einer Denkfigur. Köln / Weimar / Wien 2001. (Kölner Germanistische Studien: Neue Folge, Bd. 2); Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. 2. Aufl.. Frankfurt am Main 1994; Ders.: »Sich in Form bringen. Der Wille zum Abschied von der Nervosität in der Politischen Anthropologie von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen«, in: Ulrich Bröckling, Benjamin Bühler, Marcus Hahn, Matthias Schöning, Manfred Weinberg (Hg.): Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik. Tübingen 2004. 73 – 84. Uwe Hebekus: Ästhetische Ermächtigung. Zum politischen Ort der Literatur im Zeitraum der Klassischen Moderne. München 2009. 599 Texte anderer Autoren der Klassischen Moderne wie etwa – paradigmatisch – Stefan George verpflichteten sich »immanenten Poetologien der textuellen Schließung und des formalen Durchgebildetseins […]« und »verdichten« sich so »zu einem totalitären Innenraum.« Uwe Hebekus, Ingo Stöckmann: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900 – 1933. München 2008. 7 – 17, hier 10.

Gymnasiallehrer auf Abwegen

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Weg dorthin weist zunächst eine Figur, welche die frühere Schulliteratur eher peripher behandelt hat: die Figur des Gymnasiallehrers.

1.

Gymnasiallehrer auf Abwegen: Die Figur des Lehrers im Schuldrama und ihre Radikalisierung in Heinrich Manns ›Professor Unrat‹ (1905)

a.

Wider den Philister: Bilder des Gymnasiallehrers um 1900 Meine Ergriffenheit bei der Begegnung mit meinem früheren Gymnasiallehrer mahnt mich, ein erstes Bekenntnis abzulegen: Ich weiß nicht, was uns stärker in Anspruch nahm und bedeutsamer für uns wurde, die Beschäftigung mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit den Persönlichkeiten unserer Lehrer. Jedenfalls galt den letzteren bei uns allen eine niemals aussetzende Unterströmung, und bei vielen führte der Weg zu den Wissenschaften nur über die Personen der Lehrer; manche blieben auf diesem Weg stecken, und einigen ward er auf solche Weise – warum sollen wir es nicht eingestehen? – dauernd verlegt.600

Derjenige, der dieses Bekenntnis anlässlich des 50-jährigen Jubiläums seines ehemaligen Wiener Realgymnasiums ablegt, muss sich freilich nicht vorwerfen, ›stecken geblieben‹ zu sein: Sigmund Freud hält 1914 einen Vortrag Zur Psychologie des Gymnasiasten, in dem er die These vom Gymnasiallehrer als Vaterersatz aufstellt und daraus die »Gefühlsambivalenz« ableitet, mit der Schüler ihm begegneten: Im Grund liebten wir sie [die Lehrer, G.W.] sehr, wenn sie uns irgend eine Begründung dazu gaben; ich weiß nicht, ob alle unsere Lehrer dies bemerkt haben. Aber es ist nicht zu leugnen, wir waren in einer ganz besonderen Weise gegen sie eingestellt, in einer Weise, die ihre Unbequemlichkeiten für die Betroffenen haben mochte. Wir waren von vornherein gleich geneigt zur Liebe wie zum Haß, zur Kritik wie zur Verehrung gegen sie. Die Psychoanalyse nennt eine solche Bereitschaft zu gegensätzlichem Verhalten eine ambivalente; sie ist auch nicht verlegen, die Quelle dieser Gefühlsambivalenz nachzuweisen.601

So wissenschaftlich differenziert fallen andere zeitgenössische Betrachtungen der Lehrerfigur nicht aus. Die Gedichte der Expressionisten Jakob van Hoddis (Der Oberlehrer, vermutlich 1908)602 und Georg Heym etwa (Die Professoren, 600 Sigmund Freud: Zur Psychologie des Gymnasiasten, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Anna Freud. Bd.10. 5. Aufl. Frankfurt am Main 1969. 204 – 7, hier 205. 601 Ebd., 205 f. Zur These des Vaterersatzes vgl. 206 f. 602 »Gewaltig hockt er auf dem Tisch und spricht / Von Theben und Athen, heut Nachmittag. / Ein grauer Schnurrbart starrt durch sein Gesicht / Er riecht nach saurem Brot und nach Tobak. // Sein kahles Haupt umwettert der Gedanke / Von Thebens heilger Schar, von Pindar

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Politische Transformationen

1911)603 beschreiben, bei letzterem bis zur Animalisierung überspitzt, in ihrer Wissenschaft versunkene, körperlich verkümmerte und in ihren Manieren unappetitlich gewordene Professoren. Auch andere Texte schildern eine Konfliktstruktur, in welcher der Lehrer nahezu immer als Figur der Abgrenzung erscheint. So stellt der Lehrer August Rosikat in einer Besprechung zeitgenössischer Schultexte mit dem Titel Der Oberlehrer im Spiegel der Dichtung fest: »Bei vielem Lichte ist auch starker Schatten in dem Bilde, das die Poesie uns bietet von dem Wesen, dem Leben und Erleben, dem Streben und dem Wirken sowie der gesellschaftlichen Stellung des Oberlehrers.«604 Heinrich Manns Professor Unrat ist dabei zum Inbegriff des philiströs-spießerhaften Wesens geworden, das landläufig hinter der Figur des preußischen Oberlehrers vermutet wird. Dass und wie diese Sicht relativiert werden muss, soll später gezeigt werden. Zunächst ist jedoch die Figur des Lehrers in der Literatur vor der und um die Jahrhundertwende zu betrachten. Denn im Gegensatz zu ihrem peripheren Stellenwert in den Überbürdungsgeschichten finden sich bereits vor und um 1900 eine Reihe von Texten – in erster Linie: Dramen –, deren Protagonisten Lehrer sind. Ungeachtet der außergewöhnlichen zeitgenössischen Popularität der Dramen war deren Prominenz jedoch nicht nachhaltig: Wiederum im Gegensatz zur Entwicklung der Überbürdungsgeschichten sind sie heute größtenteils unbekannt. Um 1900 herrscht jedoch eine erstaunliche literarische Omnipräsenz der Lehrerfigur, die eine Identifizierung genuin schulliterarischer Texte erschwert. In Eugen Zabels und Alfred Bocks gemeinschaftlich verfasstem Schauspiel Der Gymnasialdirektor (1896) etwa verwickelt sich selbiger in eine Affäre mit der Mutter eines Schülers und muss daraufhin sein Amt niederle-

spricht er. / Der Primus reibt sich an der alten Banke. / Die meisten machen willige Gesichter. // Er spricht von Theben heute Nachmittag. / Einige heben ihre kleinen Hände, / Einige kitzeln leise sich am Sack / Und gucken schläfrig an die leeren Wände. // ›Wer hat soeben auf den Tisch gehauen?‹ / Durch die betrübten Fenster schimmern Wolken. / Die Jungen sitzen staunend und verdauen. – / Der Lehrer wird jetzt in der Nase polken.« Jakob van Hoddis: Der Oberlehrer, in: Ders.: Dichtungen und Briefe. Hg. von Regina Nörtemann. Zürich 1987. 32. 603 »Zu vieren sitzen sie am grünen Tische, / Verschanzt in seines Daches hohe Kanten. / Kahlköpfig hocken sie in den Folianten, / Wie auf dem Aas die alten Tintenfische. // Manchmal erscheinen Hände, die bedreckten / Mit Tintenschwärze. Ihre Lippen fliegen / Oft lautlos auf. Und ihre Zungen wiegen / Wie rote Rüssel über den Pandekten. // Sie scheinen manchmal ferne zu verschwimmen, / Wie Schatten in der weißgetünchten Wand./ Dann klingen wie von weitem ihre Stimmen. // Doch plötzlich wächst ihr Maul. Ein weißer Sturm / Von Geifer. Stille dann. Und auf dem Rand / Wiegt sich der Paragraph, ein grüner Wurm.« Georg Heym: Die Professoren, in: Ders.: Dichtungen und Schriften. Bearb. von Karl Ludwig Schneider und Gunter Martens. Bd. 1. Hamburg / München 1964. 157. 604 August Rosikat: Der Oberlehrer im Spiegel der Dichtung. Sonderabdruck aus: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 18 (1904), 687 – 703, hier 703.

Gymnasiallehrer auf Abwegen

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gen.605 Auch in Hans Lands Roman Bande!! von 1902606 steht die Schule nicht im Mittelpunkt der Handlung, sondern ist vielmehr humoristischer Nebenschauplatz, wenn der Schulrat seine vegetarische Neigung entdeckt und vom Rektor der Schule verlangt, er solle der von ihm begründeten vegetarischen Gesellschaft beitreten. Prominenter behandeln die Figur des Lehrers Max Dreyers Probekandidat (1900), Otto Ernsts Flachsmann als Erzieher (1901) und das von Arno Holz und Oskar Jerschke gemeinsam verfasste Drama Traumulus (1905). Für alle Dramen und die Mehrzahl ihrer Verfasser gilt, dass sie zeitgenössisch äußerst publikumswirksam waren, ja teilweise als die populärsten Stücke der jeweiligen Autoren galten. Max Dreyers literarische Anfänge liegen im Naturalismus, später wird er vor allem als Autor humoristischer Prosa und als Dialektdichter bekannt. Der Sohn eines Lehrers übte selbst bis 1888 den Lehrerberuf aus, wechselte dann aber – wegen Differenzen mit seinem Direktor – in den Journalismus und war als Redakteur in Berlin tätig. Dort kam er mit der »Freitagstisch«-Runde in Verbindung, der unter anderem Wilhelm Bölsche, Richard Dehmel, die Brüder Hart, Otto Hartleben und Ernst von Wolzogen angehörten.607 Diese Runde gab auch die Anregungen zu seinen ersten Dramen. »Kontroversen riefen v. a. Der Probekandidat (1900) u. Tal des Lebens (1903) hervor, die sich als ›Anklageschriften‹ gegen das autoritäre Bildungswesen der wilhelminischen Zeit verstanden.«608 Dreyers Probekandidat ist nicht sein einziges schulliterarisches Werk. Später folgen der Roman Das Gymnasium zu St. Jürgen (1925) sowie das Drama Die Reifeprüfung (1931). Mindestens diese beiden Dramen stießen beim Publikum auf große Begeisterung, wenngleich die Kritik geteilter Meinung war.609 Der Probekandidat gilt als Dreyers populärstes Stück. Nach seiner Uraufführung im November 1899 am Deutschen Theater in Berlin erreichte die gedruckte Ausgabe bereits im Erscheinungsjahr 1900 die fünfte Auflage.610 Auch Rosikat erwähnt den »vielbesprochenen Probekandidaten«611, und Kitzings Bemerkung lässt Rückschlüsse auf die außergewöhnliche Prominenz nicht nur von Dreyers Drama zu:

605 Eugen Zabel, Alfred Bock: Der Gymnasialdirektor. Schauspiel in vier Aufzügen. Berlin 1896. 606 Hans Land: Bande!! Ein humoristischer Roman. Berlin 1902. 607 Vgl. Reinhard Tenberg: »Dreyer, Max«, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walter Killy. Bd. 3. München 1989. 114. 608 Ebd. 609 Vgl. Heinrich Zerkaulen: Max Dreyer. Der Dichter und sein Werk. Leipzig 1932. 28 f. 610 Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900: von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998. 517. 611 Rosikat: Der Oberlehrer, 691.

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Wohl kaum haben zwei Autoren in den letzten Jahren […] einen solchen Erfolg zu verzeichnen gehabt wie Otto Ernst mit dem Flachsmann als Erzieher und Max Dreyer mit dem Probekandidaten. Sie alle kennen dieses Stücke gut genug, um mir zuzugeben, dass der Streit, welches von diesen Stücken das literarisch wertvollere sei, völlig gegenstandslos sein würde. Sie stehen sich beide völlig gleichwertig gegenüber […].612

Die Handlung spielt innerhalb von zwei Tagen »in einem norddeutschen Kleinstaat«613. Probekandidat Fritz Heitmann, ein begeisterter Referendar, hat an seinem ersten Tag als Vertretungslehrer einen naturwissenschaftlichen Ausflug unternommen und in der Oberprima Elemente der Darwin’schen Evolutionslehre unterrichtet. Das widerspricht dem Profil der Schule, deren Rektor sich aus familiären Gründen mit der Kirche gut zu stellen versucht. Er verlangt von Fritz, das Gelehrte zu widerrufen, was dieser – zerrissen zwischen seiner Überzeugung und der des spielsüchtigen Vaters wegen ökonomisch schwachen Situation seiner Familie – zunächst auch zugesteht. In der schauprozessartigen Inszenierung des Widerrufs bringt er es jedoch nicht über sich, seiner Überzeugung abzuschwören, und hält stattdessen eine flammende Rede auf die Freiheit des Wortes, die ihn seine Stelle kostet. Er opfert so nicht nur seine eigene ökonomische Sicherheit der Gewissensentscheidung, sondern auch die seiner Familie. Ob und wie sich dieser Missstand löst, lässt das Drama offen. Es erfährt allerdings eine positiv-idealistische Wendung durch einen Aufmarsch der Schüler vor Heitmanns Wohnung, die sich mit Parolen zu ihrem Lehrer bekennen. Dies gibt Fritz Hoffnung zurück: »Das Lebendige behält den Sieg!« (PK, 184) Im Kontext der Schulliteratur fällt hier zunächst die veränderte Darstellung der Lehrerfigur auf, die weder autoritär noch humoristisch verhandelt, sondern als ein idealistischer Charakter gezeichnet wird, der in einem tragischen Zwiespalt endet. Der junge Referendar wird in einem Register geschildert, das bislang den Schülerfiguren vorbehalten war : als Revolutionär, Umstürzler, Nihilist, Sehnsüchtling, Denker und unruhiger Geist bezeichnet ihn sein Kollege Paul Benefeldt (vgl. PK, 15 f.). Insofern lässt sich Heitmann durchaus als Geistesverwandter der Jugendbewegung begreifen.614 Er ist eine übertrieben tadellos geschilderte Heldenfigur, die sich in erster Linie durch Wahrheitsliebe, Integrität 612 Kitzing: Das moderne deutsche Schul- und Erziehungsdrama, 11. 613 Max Dreyer : Der Probekandidat. Drama in vier Aufzügen. 5. Aufl., Leipzig / Berlin 1900. »Personen«. Im Folgenden Siglenangaben. 614 Wenn man mit Hermann Korte voraussetzt, dass der Jugendbegriff »in seiner pejorativen Verwendung keineswegs bloß eine unausgegorene Durchbrechung künstlerischer Konventionen [meint]; er ist auf eine literarische Praxis und eine bohÀmienhafte Lebensform gleichermaßen gerichtet und zeigt an, dass Jugend als ›Gesinnungsangelegenheit‹ betrachtet werden muss und keine Frage des Alters ist.« Korte: Expressionismus und Jugendbewegung, 74 f.

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und Aufrichtigkeit auszeichnet. So erklärt er bereits zu Beginn des Dramas seinem Privatschüler : »Wer lügt, ist immer in Not. Wer lügt, der hat Angst und versteckt sich und kneift aus.« (PK, 9) Als Erzieher orientiert er sich an vitalistischen Prinzipien, wovon etwa sein Bericht von dem Schulausflug zeugt: »Wie den Jungen so die Augen aufgingen – und das Begreifen – und das Herz – durch mich! Ah – das war etwas wie Schöpferkraft und Schöpferfreudigkeit.« (PK, 94)615 Dabei kippt seine Begeisterung nicht selten in Allmachts- oder Prophetiephantasien um (vgl. ebd.), die sich bis in sein Privatleben erstrecken – etwa in die Beziehung zu seiner Verlobten Gertrud, als deren Erzieher er sich in botanischer Metaphorik inszeniert: »Das lebendig zu machen, was in ihr ist! Durch mich kommt das alles so heraus! Mir wächst und blüht das so allmählich entgegen!« (PK, 25)616 Der pädagogische Elan Heitmanns ist allerdings insofern nicht unkritisch dargestellt, als sich im Übereifer des omnipräsenten Bildungs-, ja Gestaltungsanspruchs der Menschen in seinem Umfeld eine problematische, weil gottgleiche Omnipotenz anmaßende Ambition ausdrückt. Dennoch bewertet das Drama die übrigen Vertreter der Institution sehr viel negativer. Kontrastfiguren zu Fritz sind die Kollegen, die gegenüber Heitmanns Enthusiasmus ihr Duckmäusertum entweder frei bekennen (vgl. PK, 20) oder dem Referendar einen unvermeidlichen Gesinnungswandel prophezeihen (vgl. PK, 61). Die konservative Position der Schule zeigt sich besonders deutlich in ihrer Ablehnung der Darwin’schen Evolutionslehre. Mit dem Diskurs des Darwinismus tritt die Naturwissenschaft hier von der Formseite, auf der sie in der naturalistischen Experimentalästhetik sonst beheimatet ist, auf die Seite des Inhalts. Allerdings spielt sie nicht nur auf propositionaler Ebene als Gegenstand des Konflikts eine Rolle. Sie lässt sich auch auf der strukturellen Ebene des Dramas verorten, insofern es mit der Figur Heitmanns eine Geschichte der Nicht-Anpassung erzählt, durch die er nicht zuletzt seine ökonomische Existenz gefährdet. Ob und wie dieses Minimalnarrativ einer Entwicklung allerdings endet, lässt das Drama offen. Fritz Heitmanns Zerrissenheit zwischen familiären und Gesinnungspflichten fügt sich in einen motivischen Strang des Naturalismus, der – bevorzugt in dramatischer Form – derartige Konflikte von Entscheidung, Tat und Opferschaft verhandelt, die jenseits des thematischen Gehalts als lebensphilosophische Reflexionsfiguren begriffen werden müssen. Ingo Stöckmann hat in seiner Analyse 615 Zu vitalistischen Motiven im Naturalismus und im Expressionismus vgl. Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive. Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1971 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur, Bd. 22). 616 Diesem Motiv der Frauenerziehung innerhalb eines erotischen Verhältnisses widmet sich detaillierter eine etwa zeitgleich erschienene Erzählung von Lou Andreas-Salom¦: Ruth. Stuttgart 1897.

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naturalistischer Einakter auf die »figuralen Qualitäten« von Tat und Entscheidung hingewiesen: Weil das Lebensganze momenthaft im Augenblick der Tat oder der Entscheidung aufgeht und weil sich – umgekehrt – der Augenblick der Tat auf das Ganze des Lebens bezieht, markiert der Einakter die Grundstruktur von Referenz, indem er in einer Art dramatischer Synekdoche Lebensmoment und Lebensganzes aufeinander bezieht. Sie verhalten sich wie die beiden Seiten einer Einheit, deren Sinn sich nur in der Bezüglichkeit und im Verhältnis ihres wechselseitigen Verweisens herstellt.617

Diese Überlegung gibt Fritz Heitmanns Entscheidung, seinen naturwissenschaftlichen Unterricht nicht zu widerrufen, als Signatur einer Lebenshaltung zu erkennen, die ihn über die Durchschnittlichkeit seiner Umgebung erhebt. So konstatiert seine Cousine Marie: »Ich hab’ von Mutter gehört, was geschehen ist – daß Du Dich nicht weggeworfen hast – Du bist nur noch größer geworden – und stehst noch höher da über uns Allen in unserer Niedrigkeit –« (PK, 170). Diese über alle ökonomischen Zwänge erhabene Einsicht in ein Lebensprinzip formuliert Fritz dann auch in seinen pathetischen Schlussworten zum Sieg des Lebendigen. Die »Probe«, die dem Kandidaten Heitmann gestellt wird, erweist sich so weniger als ein bürokratischer Ritus vor der Übernahme in den lebenslangen Staatsdienst. Das Drama macht sie vielmehr als Prüfung einer Lebenshaltung kenntlich, die Überzeugungskraft und Vorbildfunktion qua Authentizität zu erreichen vermag. Es ist freilich für die Institution der Schule vielsagend, dass diese Haltung mit dem Lehrerberuf unvereinbar ist. Den idealistischen Ton von Dreyers Drama greift Otto Ernsts (eigentlich Otto Ernst Schmidt) 1901 verfasste Komödie Flachsmann als Erzieher auf. Ernst war, wie auch Dreyer, zunächst als Lehrer in Hamburg tätig und engagierte sich seit der Jahrhundertwende in der pädagogischen Publizistik618 sowie als freier Schriftsteller. Große Popularität konnte er insbesondere mit seiner am Muster des Bildungsromans orientierten Semper-Trilogie erzielen.619 Der Flachsmann war Ernsts drittes Drama und stand, wie schon Jugend von heute (1899), in der Tradition der sozialkritischen Komödie.620 Zuvor hatte Ernst bereits Die größte 617 Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 – 1900. Berlin 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 52), 214 f., Hvbgen. i. O. 618 Vgl. etwa Otto Ernst: Lasst uns unsern Kindern leben! Buch für Eltern und Erzieher. Leipzig 1912; Ders.: Der deutsche Schulmeister und sein Werk. Gesammelte pädagogische Aufsätze und Reden. Leipzig 1926. Für weitere Werke vgl. Christian Schwarz: »Ernst, Otto«, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walter Killy. Bd. 3. München 1989. 290 f. 619 Asmus Sempers Jugendland (1905), Semper der Jüngling (1908) und Semper der Mann (1916). 620 Schwarz: Ernst, 290.

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Sünde (1895) veröffentlicht.621 Flachsmann behandelt das Sujet der Schule jedoch prominenter. Das Drama brachte seinem Verfasser außerordentliche Popularität und, wenn man einem zeitgenössischen Kritiker Glauben schenken darf, binnen kürzester Zeit eine halbe Million Mark ein.622 Nicht nur in Deutschland, auch in den Vereinigten Staaten wurde es häufig gegeben623 und 1920 als Stummfilm produziert.624 Auch der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers weist in seiner Monographie zur Reformpädagogik auf den zeitgenössischen Erfolg des Flachsmann hin: Gerade wegen seiner dichotomen Struktur und der zitierten Klischees habe das Drama den Zahn der Zeit getroffen.625 Die zeitgenössische Beliebtheit spiegelt sich allerdings nicht in der Beachtung wider, die das Stück oder sein Autor in der literaturwissenschaftlichen Forschung gefunden haben; an Ernsts Werk scheint allenfalls sein »sozialgeschichtlicher Quellenwert«626 geschätzt worden zu sein. Der Titel deutet eine intertextuelle Anspielung auf Nietzsches Schopenhauer als Erzieher an, der zweiten Abhandlung aus den Unzeitgemäßen Betrachtungen, auf die der Kulturkritiker Julius Langbehn bekanntermaßen mit seiner Schrift Rembrandt als Erzieher reagierte. Im Gegensatz zu diesen Texten fungiert die titelgebende Figur jedoch nicht als erzieherisches Ideal, sondern als Abschreckung. In Bezug auf die Handlung fallen deutliche Parallelen zu Dreyers Drama auf. Auch hier ist es ein junger Lehrer, Jan Flemming, der sein reformpädagogisches Erziehungsideal umsetzen möchte. Dabei steht ihm allerdings Hinrich Flachsmann, Oberlehrer der Schule, im Weg. Flemmings Gegenspieler im Kollegium ist der intrigante Lehrer Carsten Diercks, der es wie Flemming auf einen durch den Tod eines Kollegen vakant gewordenen höheren Posten abgesehen hat. Flachsmann ist von Diercks abhängig, weil dieser von seinem Examens621 Im Zentrum dieses Dramas steht ebenfalls eine Lehrerfigur, wenngleich deren Unterricht nicht in einem institutionellen Zusammenhang stattfindet: Der Protagonist Wolfgang Behring, Nationalökonom, ist nach dem Verlust seines Vermögens darauf angewiesen, durch Stundengeben seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nach dem Bekenntnis zum Atheismus und der resultierenden unehelichen Gemeinschaft mit seiner Geliebten erleidet er eine Reihe von Schicksalsschlägen und erhängt sich schließlich. 622 Das behauptet zumindest Oscar Burckhardt bereits im Erscheinungsjahr des Dramas: Oscar Burckhardt: »Flachsmann als Erzieher«, in: Pädagogische Monatshefte 2 (1901), 224 – 7, hier 226. Dass das Drama nicht nur beliebt, sondern insbesondere beim Lehrerstand durchaus umstritten war, ist der Darstellung von Ernsts Zeitgenossen Ottomar Enking zu entnehmen. Vgl. Ottomar Enking: Otto Ernst und sein Schaffen. Zum 50. Geburtstage des Dichters. Leipzig 1912. 45. 623 Vgl. Burckhardt: Flachsmann als Erzieher. 624 Franz Lösel: »Otto Ernsts ›Flachsmann als Erzieher‹ im zeitgenössischen Zusammenhang«, in: Dirk Jürgens (Hg.): Mutual Exchanges: Sheffield-Münster Colloquium II. Frankfurt am Main u. a. 1999. 209 – 21, hier 209, 211. 625 Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 3., vollst. bearb. und erw. Aufl., Weinheim 1996. 85. 626 Schwarz: Ernst, 290.

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betrug weiß. Diercks nimmt sich daher im Beruf die größten Freiheiten heraus, die Flachsmann hilflos dulden muss. Als er ihn für den vakanten Posten vorschlägt, kommt überraschend Regierungsschulrat Prell zur Inspektion und entdeckt die Ungereimtheiten im Kollegium. Sieht er sich zunächst noch gezwungen, Flemming wegen einer Beleidigung seines Vorgesetzten strafversetzen zu müssen, ändert sich die Lage mit der Aufdeckung von Flachsmanns Betrug. Prell suspendiert Flachsmann vom Dienst und ernennt Flemming zum Rektor der Schule, der überdies mit der Kollegin Gisa Holm auch sein privates Glück findet. Stärker als bei Dreyer ist die Figur Flemmings durch ihr vitalistisches Pathos gekennzeichnet. In deutlicher Anlehnung an Nietzsche formuliert Flemming wiederholt die Diskrepanz pädagogischer Stile zwischen Maschine und Organismus, zwischen Handwerk und Kunst: Wir [Flemming bezieht sich auf sich selbst und Flachsmann, G.W.] sind aber zwei unvereinbare Gegensätze. Sie wollen das ›Alterprobte‹ Millionen Mal wiederholen, ich will Neues erproben. Das ist ja das Greuliche an unserer Schulmeisterei, dass kein Ikarusflug darin ist, kein Wagemut, kein Sturm, kein Drang! Wer Großes leisten will, muss Unmögliches wollen. […] Ihnen ist die Schulmeisterei ein Handwerk, mir ist sie eine Kunst. […] Seit vier Jahren ringe ich nach Luft in dieser Atmosphäre von geistigem Tod! Seit vier Jahren schrauben Sie an mir herum wie an einem toten Rad in dem toten Uhrwerk Ihrer Schule. Ich bin ein freier, schaffender Geist und schaffe, was ich will und was ich muss!627

Es ist Regierungsschulrat Prell, der Flemming gegen den Oberlehrer unterstützt und dem Kollegium diesen als Rollenideal empfiehlt: »Herr, ich verlange Kraft! Leben verlange ich, Herr! […] Sehen sich ’ne Rechenstunde bei Herrn Flemming an! Da lebt und blüht alles! Die Zahlen und die Kinder! Ich alter Mann habe gedacht: Wärst du noch mal vierzehn Jahr und könntest hier sitzen und mittun.« (FaE, 116) Umgekehrt feiert Flemming nach seiner Ernennung zum Rektor den Regierungsschulrat als »Befreier« (FaE, 128) und rekurriert damit wiederum auf das Diktum Nietzsches in Schopenhauer als Erzieher, wo es heißt: »[…] deine Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier.«628 Wenngleich das komödiantische Element hier stärker zum Ausdruck kommt als noch bei Dreyer, so dominiert auch in Ernsts Drama das nur selten ironisch gebrochene Pathos und die schematische Kontrastierung des »Kriechers gegen den Flieger«, des »Strebers gegen den geborenen Sieger« (FaE, 103). Die »tragische Komödie« Traumulus (1905/4) ist das Produkt einer ökono627 Otto Ernst: Flachsmann als Erzieher. Eine Komödie in drei Aufzügen. 56.–60. Tausend. Leipzig 1922. 48 f. Im Folgenden Siglenangaben. 628 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München 1980. 335 – 427, hier 341.

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misch begründeten Kooperation zwischen dem Naturalisten Arno Holz und dem schriftstellerisch dilettierenden Anwalt Oskar Jerschke. Aus dieser Zusammenarbeit gingen fünf gemeinsame Stücke hervor, von denen jedoch keines die Beliebtheit des Traumulus erlangte.629 Der Schulalltag spielt in diesem Drama eine geringere Rolle als in den früheren, doch ist das schulische Personal prominent vertreten. In dieser und auch in anderen Hinsichten, beispielsweise der Konfrontation der Sphäre der Schule mit der des Theaters, lassen sich Parallelen zu Heinrich Manns Professor Unrat ausmachen. Im Zentrum der Handlung stehen Rektor Niemeyer und sein Lieblingsschüler Kurt Zedlitz. Im Zuge der Vorbereitung für den Majestätsbesuch anlässlich der Enthüllung eines Kaiser-Wilhelm-Denkmals wird ein Drama aus der Feder Niemeyers geprobt, das die Schüler zusammen mit Lydia Link, einer Darstellerin des Stadttheaters, aufführen sollen. Der Rektor selbst wird – ebenfalls im Gegensatz zu den früheren Darstellungen – nicht als Tyrann, sondern als gutgläubig-naiver Idealist geschildert, der seinen Schülern vorbehaltlos vertraut. Als er erfährt, dass der Schüler Zedlitz eine Nacht mit der Schauspielerin verbracht haben soll, will er das zunächst nicht wahrhaben. Er glaubt Zedlitz daher auch, als dieser die Unterstellung abstreitet. Als sich herausstellt, dass die Affäre stattgefunden hat, rechnet Niemeyer erbost mit dem Schüler ab. Dieser, dem das schlechte Gewissen seinem ihm sonst so wohlmeinenden Rektor gegenüber keine Ruhe lässt, verschwindet daraufhin. Als die Suche nach ihm erfolglos bleibt, wird eine Streife ausgesandt. Sie findet ihn im Freien herumirrend; er missversteht die Bedeutung des Streifenwagens und erschießt sich vor den Polizisten. Rektor Niemeyer wird zwar als gutmütig, aber dennoch als Versager charakterisiert. Im Gegensatz zum Ausnahme-Individuum Kurt Zedlitz (»So haben wir noch keinen gehabt«630), beschreibt der Landrat noch vor dessen Auftritt Niemeyer als weltfremde Figur : Wenn Sie ihn fragen, mit wem die Persephone verwandt is, oder von wem die olle Hekuba die Tochter war, das weeß er. […] Aber wenn die Bengels mit seinem haarsträubenden Idealistendusel das schandbarste Schindluder treiben, das merkt er nich. […] Als ob er erst gestern auf die Welt gekommen wär! (Tm, 21)

Auch in der Vaterrolle versagt Niemeyer. Nach dem Tod seiner Frau hat er die junge Jadwiga geheiratet, die mit seinem Sohn aus erster Ehe die respektlose Haltung dem Familienoberhaupt gegenüber teilt. »Andre Väter kommen vorwärts im Leben, unsrer fällt de Treppe nach rückwärts!« (Tm, 47), konstatiert 629 Vgl. dazu die Honorare, die Holz’ Freund Rudolf Ress zusammentrug: Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900, 139. 630 Arno Holz, Oskar Jerschke: Traumulus. Tragische Komödie. Dresden 1909. 139. Im Folgenden Siglenangaben.

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Fritz. Niemeyers Schüler haben die »Blutsverbindung Antityrannia« gegründet, in der sie Verbindungsrituale pflegen und ihren Rektor wegen dessen weltfremder Haltung als Traumulus verspotten. Das Motiv der Schülerverbindung weist bereits auf Texte wie die von Saudek oder Bronnen voraus. Aller gespielten Distanz zum Trotz kommt dabei doch Sympathie ihrem Rektor gegenüber zum Ausdruck: »Es ist ein natürlicher Kampf zwischen Lehrern und Schülern. Dieser Kampf ist gesund! […] Wenn wir, beseelt von unbezähmbarem Freiheitsdrang auch seine Tafeln zerbrechen […] – wir lieben und verehren ihn doch.« (Tm, 91) In der »Blutsverbindung« entsteht ein Konflikt, als Zedlitz – durch die anfängliche Gutgläubigkeit Niemeyers in seiner Affäre wie in einer Epiphanie (vgl. Tm, 88) bekehrt – die Auflösung der Verbindung beantragt: »Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß unser Direktor, den wir Tag für Tag auf das Schamloseste beschwindeln, […] der beste Mensch ist. […] Wir sind dumme Jungens oder Schurken, wenn wir seine unglaubliche Gutheit in so schandbarer Weise noch weiter missbrauchen.« (Tm, 95) Das Plädoyer führt zu einer Krise in der Schülergemeinschaft, gewinnt sie doch ihre Existenzberechtigung gerade aus der Abgrenzung gegen ihren Direktor und durch den Habitus einer markigen Virilität: »Wir haben uns doch nicht hier zusammengetan, um jedes Mal ne große Flennerei loszulaßen, wenn’s einer mit der Angst kriegt. Wir wollen doch mal Männer werden.« (Ebd.) Zedlitz tritt daraufhin aus der Gemeinschaft aus. Im gleichen Moment verliert Niemeyer sein Vertrauen in ihn und verflucht ihn für die Erschütterung seines pädagogischen Weltbildes: »Sie sind der sittlich verkommenste Mensch, der mich je meinen schweren Beruf noch schwerer empfinden ließ. Wenn Sie ahnen könnten, was dieser Augenblick eben in mir zertrümmert hat!« (Tm, 118) Wie bereits bei Dreyer wird hier die Bedeutung des Moments evident. Hier ist es die Tat des Schülers, welche die pädagogische Überzeugung des Rektors ins Wanken bringt. Und es ist wohl diese Konstellation, die das Drama zu einer »Tragische[n] Komödie« macht: Komisch ist Rektor Niemeyer wegen seiner übertriebenen Gutgläubigkeit, aber er verteidigt – und dies im Gegensatz zu den gängigen Darstellungen von Lehrerfiguren – den »Glauben an [seine] Jungens« (Tm, 126) bis zum Schluss. Seine aufrichtige Erschütterung über das Verhalten eines Schülers und nicht zuletzt die aufrichtige Betroffenheit in Anbetracht von dessen Selbstmord machen die Tragik Niemeyers aus. Auf Kurts Verschwinden hin ist es jedoch bezeichnender Weise der Landrat, nicht der enttäuschte Pädagoge, der die Folgen des Gesprächs ahnt: »Stellen Sie, bitte, sofort fest, ob der junge Herr Zedlitz nach Hause gegangen ist. […] Sah mir etwas … sehr merkwürdig aus.« (Tm, 125) Während des Wartens auf Nachrichten zu Kurts Verbleib beschleichen Niemeyer zunehmend Zweifel an seinem

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Verhalten, zumal ihm auch sein Versagen als Vater vor Augen geführt wird.631 Noch vor dem Eintreffen der Nachricht von Zedlitz’ Selbstmord ahnt Niemeyer den fatalen Ausgang seines Wutausbruchs: »Eine einzige Untreue gegen sich selbst kann doch unmöglich die ganze Summe eines langen, arbeitsschweren Lebens vernichten! […] Die Welt wäre ein blöder, brutaler Zufall!« (Tm, 153) Als eben der erweist sie sich dann und bewahrheitet damit die Bedeutung, die auch in diesem Text dem Augenblick zukommt, der damit gleichsam zum Sinnstifter und eigentlichen Kriterium der Beurteilung von Niemeyers Leben erhoben wird. Nicht zuletzt erhebt der Schluss die Tat des Schülers über das bloße Wort des Lehrers. Der Rechtsanwalt Falk beschwört die Unschuld Niemeyers: »Sie sind frei von Schuld. […] Wir sind willenlose Spielbälle eines unbegreiflichen Schicksals!« (Tm, 160) Doch dieser erwidert: »Das sind ja nur Worte!« (Ebd.) Entsprechend bleibt auch sein zuletzt geäußerter Wunsch ein fiktiver, wenn er »zusammenbrechend« äußert: »Wär’s doch mein eigener Sohn.« (Ebd.) und damit seine genealogischen Beziehungen zugunsten einer ideellen Gemeinschaft mit dem verstorbenen Schüler opfert. Die Figur des Lehrers wird um die Jahrhundertwende also keinesfalls so pauschal verurteilt, wie es die häufig und einschlägig geäußerte Klage wider den Philister vermuten ließe. Zwar schildern die Dramen häufig bornierte Rektoren. Diesen werden aber junge Lehrer gegenübergestellt, deren Modernisierungsbestreben nicht zuletzt von institutioneller Stelle aus unterstützt wird: Das wird etwa am Beispiel der Figuren des Regierungsrates Prell bei Otto Ernst oder auch dem Vegetarismus-Advokaten bei Land deutlich. Mitunter, wie in Traumulus, sind auch Rektorenfiguren vergleichsweise differenziert und empathiefähig geschildert. Insofern verläuft der Konflikt offensichtlich nicht schematisch zwischen hilflosem Individuum und übermächtiger Institution, sondern es werden vielmehr ›Bruchstellen‹ innerhalb der Institution selbst geschildert, die sich auf die Dichotomie progressiv und konservativ zurückführen lassen. Ihr entspricht aber eben nicht notwendig die Opposition von jung und alt. Dieses Verfahren, das gewohnte Stereotypenkonstruktionen unterläuft, gibt gleichzeitig Aufschluss über die Andeutung einer Krise innerhalb der schulischen Institution – einer Krise, welche die Texte des vorliegenden Kapitels noch deutlicher beschreiben werden. Insofern setzt Professor Unrat diese Tendenz fort. Das Konfliktgefälle verläuft hier zwar zunächst zwischen einem Lehrer und seinen Schülern; die konventionellen Zuschreibungen progressiver und konservativer Haltungen werden jedoch mindestens ambivalent, wenn nicht gar invertiert, und das Wertesystem der Schule auf diese Weise von innen heraus unterlaufen. 631 Jadwiga informiert ihn über die Spielschulden und den versuchten Betrug seines Sohnes, den sie gedeckt hat: »Auch in Deinem Sohn hast Du Dich verrechnet!« (Tm, 145)

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Der Philister als Musteranarchist: Heinrich Manns ›Professor Unrat‹ (1905) So saß ich ahnungslos im Teatro Alfieri zu Florenz, die Pause kam, ich kaufte eine Zeitung und las, aus Berlin berichtet, von einem Professor X, der im trauten Verein mit einer Chanteuse auf die traurigsten Abwege gerathen war. Ein Moment der selbstvergessenen Empfängnis, und ›Professor Unrat‹ lebte. Sein Vorbild aus der Zeitung stellte sich später als Börsenredakteur heraus. Für mich aber war das Phänomen vom ersten Augenblick an ein Gymnasialprofessor, der Mann der Ordnung und des festen Befehls, der fallen, sich in Anarchie auflösen und den Tyrannen von seiner Kehrseite zeigen mußte…632

Die histoire seines Romans aus einer Zeitungsmeldung schöpfend, gestaltet Heinrich Mann seinen discours in Form einer drastischen Wandlungsgeschichte, an deren Anfang der vermeintlich prototypische Philister, an deren Ende der wegen Diebstahls verhaftete, stadtbekannte Anarchist steht. In den oben behandelten Texten waren die Rollen des konservativen und reaktionären Lehrers und seines progressiv-modernen Gegenspielers noch in zwei Figuren aufgespalten. Die neuartige Darstellung eines radikalen Sinneswandels in der Biographie ein und derselben Figur macht Professor Unrat im Kontext der Schulliteratur besonders interessant und gestattet nicht zuletzt erste Rückschlüsse auf den veränderten Stellenwert der Schule in der Literatur des frühen Expressionismus. Bemerkenswert ist aber zunächst, dass dieser Sinneswandel in der Forschung kaum erkannt, geschweige denn in seinen Implikationen thematisiert wurde.633 Durch seinen stark typisierten Protagonisten scheint der Roman eine sozialgeschichtliche Lesart hinsichtlich des Spießers oder Philisters und die Interpretation der Lehrerfigur als Tyrann geradezu aufzudrängen. Eine solche Lektüre verfolgt ein Großteil der Forschung zu dem Roman.634 Daneben wird Pro632 Heinrich Mann an Paul Hatvani, 3. 4. 1922, in: Ders.: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Mit einem Nachwort von Rudolf Wolff und einem Materialienanhang, zusammengestellt von Peter-Paul Schneider. Frankfurt am Main 1989. (Studienausgabe in Einzelbänden), 283. 633 Eine Ausnahme stellen die Überlegungen Rainer Kolks dar, auf die noch zurückzukommen ist: Ders.: »Kairos und Kabuff. Kommentare zur ›Jugend‹-Konzeption in Heinrich Manns ›Professor Unrat‹«, in: Eva Geulen, Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg / Berlin / Wien 2007. 161 – 78. 634 Vgl. etwa Peter Fock: »Der Roman ›Professor Unrat‹ und Heinrich Manns Kritik des Ästhetizismus«, literatur für leser 3 (1982), 164 – 76; Walter H. Sokel: »Demaskierung und Untergang wilhelminischer Repräsentanz: Zum Parallelismus der Inhaltsstruktur von ›Professor Unrat‹ und ›Tod in Venedig‹«, in: Gerhard Gillespie, Edgar Lohner (Hg.): Herkommen und Erneuerung. Essays für Oskar Seidlin. Tübingen 1976. 387 – 412, hier 388 f.; sowie Markus Joch: »Ungehörige Lehrer. Heinrich Mann und Gymnasialprofessor Raat«,

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fessor Unrat unter werkbiographischen Gesichtspunkten als Signatur des Übergangs zur sozial engagierten Literatur betrachtet, mit der sich Heinrich Mann von dem Konzept des l’art pour l’art distanziere.635 Was seine Poetologie betrifft, dominieren Untersuchungen zu dem satirischen Stil des Romans636 und der für Heinrich Mann typischen Mischung der dramatischen mit der Prosaform.637 Außerdem fällt auf, dass der Unrat bevorzugt unter produktionsästhetischen Gesichtspunkten gelesen wird. So dient er Karin Marquardt in ihrer literatursoziologischen Studie zur Bildungskritik der Jahrhundertwende als ein Beispiel für die strategische Positionierung von Autoren im literarischen Feld. Mann grenze sich durch die veränderte Perspektive auf die Lehrerfigur von dem in der Schulliteratur gängigen Fokus auf das ästhetische Kind ab – eine Einschätzung, die mit Blick auf die früheren naturalistischen Lehrerdramen allerdings insofern relativiert werden muss, als die Abgrenzungsstrategie im literarischen Feld weniger originell ist als Marquardt vermutet.638 Schließlich fehlt auch bei diesem Roman die offenbar unvermeidliche autobiographische Be-

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in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 23 (2006), 27 – 43 und Matthias Luserke-Jacqui: »Literaturund kulturgeschichtliche Aspekte einer Abwehr der Moderne am Beispiel von Heinrich Manns Roman ›Professor Unrat‹«, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 23 (2005), 65 – 77. Helmut Koopmann grenzt sich zwar von diesen Lesarten und insbesondere der Persistenz ab, mit der die Forschung im Unrat faschistoide Tendenzen vorweggenommen sieht, und entlarvt den wiederholt geäußerten Befund, Unrat repräsentiere das wilhelminische Bürgertum, als vereinfachend. Allerdings vermag seine Einschätzung, der Roman stelle vielmehr »ein Psychogramm Heinrich Manns in dieser Zeit« dar (Helmut Koopmann: »Der Tyrann auf der Jagd nach Liebe: Heinrich Manns ›Professor Unrat‹«, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 11 (1993), 31 – 51, hier 50), wenig neue Erkenntnis zur Eigenart des Textes beizusteuern. Demgegenüber hat Elke Emrich in einer sorgfältigen und aufschlussreichen Lektüre vorgeschlagen, den Roman im Zusammenhang mit Heinrich Manns Nietzsche-Rezeption und die Figur des Unrat als »Satire auf die demoralisierende Wirkung Nietzsches um die Jahrhundertwende« zu lesen. Elke Emrich: Macht und Geist im Werk Heinrich Manns. Eine Überwindung Nietzsches aus dem Geist Voltaires. Berlin / New York 1981. 201. So Fock: Heinrich Manns Kritik des Ästhetizismus, 172; Emrich: Macht und Geist, 190, 201 sowie Heinz Drügh: »Unter leisem Schnaufen. Diederich Heßling und die populärkulturelle Ästhetik des Leibes«, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 24 (2006), 79 – 97. Letzterer bringt diese Wende mit Manns programmatischen Essays in Zusammenhang, belegt jedoch auch, dass diese Veränderung nicht den Verzicht auf eine moderne Poetologie bedeuten muss, vgl. ebd., 85 f. Vgl. etwa Ralf Siebert: Heinrich Mann: ›Im Schlaraffenland‹, ›Professor Unrat‹, ›Der Untertan‹: Studien zur Theorie des Satirischen und zur satirischen Kommunikation im 20. Jahrhundert. Siegen 1999 (Kasseler Studien – Literatur, Kultur, Medien, Bd. 3). Dazu einschlägig Hugo Dittberner : Die frühen Romane Heinrich Manns. Untersuchungen zu ihrer szenischen Regie. Göttingen 1972. Karin Marquardt: Zur sozialen Logik literarischer Produktion. Die Bildungskritik im Frühwerk von Thomas Mann, Heinrich Mann und Hermann Hesse als Kampf um symbolische Macht. Würzburg 2007 (Epistemata – Würzburger wissenschaftliche Schriften, Bd. 205), 243. Auch Ralf Siebert vermutet hinter dem Roman die Strategie Manns, sich seiner Leserschaft gegenüber konzilianter zu zeigen und ein breiteres Publikum zu erreichen, vgl. Siebert: Studien zur Theorie des Satirischen, 260.

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zugnahme nicht. Wie Helmut Koopmann dargestellt hat, verarbeitet Mann nach eigener Aussage im Unrat Züge seines alten Klassenlehrers Dr. Curtius aus dem Lübecker Katharineum, an dem er als Schüler durch alles andere als glänzende Leistungen auffiel.639 Umgekehrt rezipierten auch die Lübecker den nur vier Jahre nach den Buddenbrooks erschienenen Roman als eine weitere Literarisierung der Stadt und ihrer Einwohner in einer Darstellung, die sie nicht goutierten.640 Der Roman stieß zunächst nur auf verhaltene Resonanz beim Lesepublikum: Bis 1916 war nur eine dürftige Anzahl von Exemplaren verkauft.641 Inzwischen kann Professor Unrat aber als einer der wenigen prominenten Schultexte nach 1900 gelten und wird auch meist unter dem Aspekt der Schulkritik rezipiert, wozu nicht zuletzt die Interpretation durch Carl Zuckmayers Filmdrehbuch zu der 1930 entstandenen populären Verfilmung des Romans unter dem Titel Der Blaue Engel (Regie Joseph von Sternberg, in den Hauptrollen Emil Jannings und Marlene Dietrich) beigetragen haben mag. Professor Unrat ist dabei nicht der einzige Text Heinrich Manns, der im Schulmilieu angesiedelt ist. 1905, im Erscheinungsjahr des Unrat, verfasste er eine kurze Novelle mit dem Titel Abdankung, die hinsichtlich des Gewaltmotivs der Tradition der Kadettengeschichten642 zuzurechnen wäre. Sie erzählt von dem sadistischen Schüler Felix, der seine Mitschüler schikaniert und gegeneinander aufbringt. Als ihm die ständige Herrscherrolle lästig wird, tauscht er diese gegen die des Sklaven um und lässt sich von seinen Mitschülern Befehle erteilen. Nach einem Sommerurlaub mit Hans, dem willigsten seiner Untergebenen, hat er in der Schule seine Aura verloren, nach und nach sagen sich die Mitschüler von ihm los. Schließlich ertränkt sich Felix und beruft sich dabei auf eine Anweisung, die Hans im Sommer scherzhaft gegeben hatte: »Der Weg ging doch zu den Fischen hinunter.«643 Wenngleich auf der Ebene der Schülerschaft, spielt die Novelle Manns noch einmal das Thema Macht im schulischen Kontext durch, das auch den Unrat dominiert und das Mann beim Verfassen des Romans anleitete.644 Der kontrollwütige Professor Raat, Lehrer und Altphilologe, übt seit Jahren in einer Kleinstadt den Lehrerberuf aus und wird von den Schülern und der üb639 Vgl. Koopmann: Der Tyrann auf der Jagd nach Liebe, 31 f. 640 Vgl. Marquardt: Zur sozialen Logik literarischer Produktion, 244. 641 Dies führt Ralph Siebert allerdings nicht zuletzt auf mangelndes Engagement des Verlegers zurück, vgl. Siebert: Studien zur Theorie des Satirischen, 261. 642 Vgl. Kapitel III.2. 643 Heinrich Mann: Die Abdankung, in: Ders.: Novellen. Berlin 1976. 532 – 43, hier 543. 644 »Ich ging ferner mit dem Begriff der Macht ins Gericht, als ich 1904 ›Professor Unrat‹ schrieb […].« Heinrich Mann an Eugen Bautz, 17. 9. 1920, in: Ders.: Professor Unrat, 282. Für ein close-reading der Abdankung vgl. Ilett: »The End of a Schoolyard Tyrant: Power, Homoeroticism and Language in Heinrich Mann’s ›Abdankung‹«, in: The German Quarterly 84 (2011), 177 – 97.

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rigen Bevölkerung nur als Professor Unrat bezeichnet. Sein erklärtes Ziel ist es, Schüler »›hinein[zu]legen‹« und »vom ›Ziel der Klasse‹ zurück[zu]halten«645. Er wittert die Chance, dem ihm besonders verhassten Schüler Lohmann die Karriere zu verderben, als er in dessen Aufsatzheft ein anzügliches Gedicht über die Variet¦-Künstlerin Rosa Fröhlich liest. Auf der Suche nach dieser gerät er in das ihm unvertraute provinzielle Kleinkunstmilieu. Zunächst erschleicht er sich die Nähe zu Rosa Fröhlich unter dem Vorwand, seine drei Schüler Lohmann, Kieselack und von Ertzum von unzüchtigem Umgang abhalten zu müssen. Zunehmend wird er jedoch in den Bann der Künstlerin gezogen und zu ihrem Diener und Beschützer. In der Stadt verliert er zugleich den Ruf einer autoritären Instanz; dieser Verlust steigert sich noch, als er die Künstlerin heiratet. Nach der Rückkehr von einem gemeinsamen Urlaub verliert Unrat seine Stelle und gibt Privatunterricht, der aber im Lauf der Zeit die Form kollektiver Trinkgelage und Orgien annimmt. Dass seine Frau ihn betrügt, ist zunächst ein Umstand, mit dem Unrat sich arrangieren kann. Als sie sich aber mit Lohmann trifft, vergisst der Professor sich derart, dass er Rosa Fröhlich schlägt und Lohmann bestiehlt. Dieser zeigt ihn an, und Unrat wird zur Genugtuung der Bürger der Stadt verhaftet. Professor Unrat schildert die krasse Transformation eines in fachwissenschaftlicher und didaktischer Borniertheit verfangenen Charakters, der nach und nach die Lebensweise des Kleinkunstmilieus erlernt und diesen »Karriereweg nach unten«646 konsequent bis ins Gefängnis hinein verfolgt. Seine Innovation aber besteht darin, dass er diese Entwicklung in Form eines narrativen Schemas erzählt, das bislang den Darstellungen jugendlicher Entwicklungsgeschichten vorbehalten war :647 Es folgt dem dreigliedrigen Schema eines ›naiven‹ Ausgangszustandes, auf den die liminale Initiationsphase folgt und der mit der Integration in das neue Milieu enden soll. Zur Ausgangssituation: Die Themen und Motive, die der Roman prominent entfaltet, sind zunächst altbekannte. Das gilt in erster Linie für die geradezu topische Darstellung der Lehrerfigur : Unrats körperliche wie geistige Verknö645 Heinrich Mann: Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen. Mit einem Nachwort von Rudolf Wolff und einem Materialienanhang, zusammengestellt von Peter-Paul Schneider. Frankfurt am Main 1989. (Studienausgabe in Einzelbänden), 14. Im Folgenden Siglenangaben. 646 Kolk: Kairos und Kabuff, 173. Kolk argumentiert allerdings, Unrat sei schon zu Beginn in seiner Hingabe an die Altphilologie dem neuhumanistischen Bildungsideal verpflichtet und entspreche in dieser »Habitualisierung seiner Arbeit« (ebd., 167) nicht zuletzt den Forderungen der Reformpädagogen. Diese Interpretation übersieht jedoch die Kleingeistigkeit in Unrats wissenschaftlicher Arbeit, die beispielsweise mit dem Studium der Partikel im Werk Homers (vgl. PU, 46) eben die Lebensnähe vermissen lässt, welche etwa die Reformpädagogik verlangt. 647 Zu diesem Schema vgl. Kolk: Literatur, Wissenschaft, Erziehung sowie Kapitel II.

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cherung, bereits aus den Dramen Kaisers und denen des Naturalismus geläufig, kommt vor allem in seinem verkümmerten Körper648 sowie in seiner Redeweise zum Ausdruck. Kaum ein Satz, der ohne eine Floskel auskäme wie »gewiss nun freilich« (PU, 12), »denn also« (PU, 16) und vor allem das ständig verwendete »traun fürwahr« (ebd.). Matthias Luserke-Jacqui hat darauf hingewiesen, dass das Füllwort »traun« ein Anagramm seines Spitznamens darstellt: »Unrat ist auf diese Weise […] das Anagramm eines Partikels der beliebigen, weil rhetorischen Bestätigung.«649 Auch Unrats Unterricht ist durch Lebensferne charakterisiert, wie das erste Kapitel verdeutlicht. Die Schüler sollen einen Aufsatz über das dritte Gebet des Dauphins in Schillers Jungfrau von Orl¦ans verfassen, das aber gar nicht existiert. Doch: »Auf alle Fälle«, so der auktoriale Erzählerkommentar mit einem Seitenhieb auf die zeitgenössische Aufsatzdidaktik, mußte über dieses dritte Gebet, ja selbst über ein viertes und fünftes, wenn Unrat es verlangt hätte, irgend etwas zu sagen sein. Über Gegenstände, von deren Vorhandensein man nichts als weniger überzeugt war, etwa über die Pflichttreue, den Segen der Schule und die Liebe zum Waffendienst, eine gewisse Anzahl Seiten mit Phrasen zu bedecken, dazu war man durch den deutschen Aufsatz seit Jahren erzogen. Das Thema ging einen nichts an; aber man schrieb. (PU, 14 f.)

Auch die Anspielungen an das dramatische Genre rufen frühere Texte in Erinnerung. Die Situierung der Handlung im Theatermilieu und die Eigenart des Mann’schen Erzählers, viele Aussagen zwischen interner und Nullfokalisierung in der Schwebe zu halten,650 relativieren die für die Darstellung einer Lehrerfigur ungewöhnliche Wahl der Prosaform und bewahren so das Element der dramatischen Form, die für diese Figur offenbar prädestiniert erscheint. Professor Unrat greift also durchaus auf eine vorgängige Tradition zurück, um sie dann allerdings mit neuen Vorzeichen zu rearrangieren. Neu ist nämlich, dass der Roman die Geschichte der »Entsittlichung einer Stadt« (PU, 213) beschreibt und damit, wenn man so will, die Entwicklung eines Pädagogen zum Anti-Pädagogen erzählt. Es scheint in diesem Zusammenhang bedeutsam, dass der Roman die geläufige metonymische Entsprechung der Schule als Staat im Staate umkehrt. Unrats Auffassung zufolge ist nicht die Schule die Miniaturform des Staates, sondern die Gesellschaft ihrer Struktur 648 Sein pathologisches äußeres Erscheinungsbild und die mechanischen Bewegungen fügen sich in die zu Beginn des Kapitels zitierte Darstellung von Professoren im Expressionismus: »Und sofort zuckte der Alte heftig mit der Schulter, immer mit der rechten, zu hohen, und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu und rachsüchtig war […]. Sein hölzernes Kinn mit dem dünnen, graugelben Bärtchen daran klappte herunter und hinauf.« (PU, 7) 649 Luserke-Jacqui: Literatur- und kulturgeschichtliche Aspekte einer Abwehr der Moderne, 68. 650 Vgl. zur Erzählstimme auch Emrich: Macht und Geist, 166 f.

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nach der Schule gleich. Ihm, der »sein ganzes Leben in Schulen verbracht hatte« (PU, 16), ist die Institution Lebensprinzip: Was in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens. […] Die Schule endete für ihn nicht mit der Hofmauer ; sie erstreckte sich über die Häuser ringsumher und auf alle Altersklassen der Einwohner. Überall saßen störrische, verworfene Burschen, die ›ihrs‹ nicht ›präpariert‹ hatten und den Lehrer befeindeten. (PU, 16 f.)

Diese Inversion der in der Schulliteratur gängigen Synekdoche ist aufschlussreich, wurde aber in der Forschung missverstanden.651 Zweierlei kommt in dieser Umkehrung zum Ausdruck: Erstens artikuliert sie Unrats universalen Erziehungsanspruch, der sich über die Schule hinaus erstreckt. Zweitens thematisiert sie damit eine Entgrenzung der Institution: Indem Unrat die Kleinstadt zu seiner Schulklasse macht, öffnet er die Schule für ihre Umwelt. Diese Operation jedoch wird zum Prüfstein: einerseits für seine konservative Pädagogik, die an diesem universalisierten Erziehungsanspruch scheitern muss, aber auch für die Institution, deren Ordnung durch die von Unrat erzwungene Öffnung für die Welt empfindlich gestört wird. Diese Konfrontation der Schule mit ihrer Umwelt äußert sich zunächst in wiederholten Rollenkollisionen. Zunächst thematisiert der Erzähler die Kommunikationsschwierigkeiten, mit denen sich Unrat konfrontiert sieht, als er in der Kleinstadt Informationen über die Künstlerin Fröhlich einzuholen versucht. So starren etwa die Seemänner im Hafen »angestrengt auf Unrat, als sei er ein sehr weit Hergekommener, etwas wie ein Chinese, den man nun verstehen sollte.« (PU, 31) Auch versucht Unrat wiederholt, im Kleinkunstmilieu das schulische Rederegister durchzusetzen, scheitert aber daran: »Aber gehen Sie jetzt nunmehr hübsch hinein, Mann«, fordert er einen Besucher des Tanzlokals in alter Lehrermanier auf, »und holen Sie mir den Burschen heraus.« Dieser denkt aber gar nicht daran, Unrats Befehle auszuführen: »Deubel, Herr, gehn Sie selber!« (PU, 52) Diese Eigenart amüsiert die Künstlerin Fröhlich und das mit ihr auftretende Künstlerehepaar Kiepert. Nach und nach aber gerät Unrat in der Garderobe der Variet¦künstler, in der er sich immer häufiger aufhält, von der Rolle des Lehrers in die des Schülers. Zunehmend ist er in seiner täglichen Arbeit in der Schule abgelenkt »wie ein Schüler, der ›Nebendinge‹ verbirgt« (PU, 87). Er findet sich auch im Kabuff der Künstlerin immer häufiger in dieser Rolle wieder : »er hatte ›geschlafen‹, wie seine Schüler, wenn ihnen die Stunde zu lang währte« (PU, 96), und »wie ein steckengebliebener Schüler« (PU, 102) muss er die Rätsel lösen, die 651 Vgl. etwa Jürgen Haupt: Heinrich Mann. Stuttgart 1980 (Sammlung Metzler, Bd. 189), 43; Sokel: Demaskierung und Untergang wilhelminischer Repräsentanz, 392 und Koopmann: Der Tyrann auf der Jagd nach Liebe, 35.

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ihm die Künstler zu ihrem Vergnügen aufgeben. Und während er die Schule zunehmend vernachlässigt, wird er im Kabuff immer versierter in der maskenbildnerischen Ausstattung der Rosa Fröhlich: Er »verstand«, »erlernte«, »übte« und machte »Fortschritte« (PU, 110). Die naive Verehrung hat aber Schattenseiten. Denn den Künstlern wird schnell deutlich, dass Unrat in erotischen Fragen vollkommen unbedarft ist. So fordern sie ihn wiederholt zu einem forscheren Auftreten gegenüber Rosa Fröhlich auf – Anspielungen, die Unrat nicht versteht: »Nee, Sie kommen aber auch auf nischt. Das is wirklich auffallend, daß er auf gar nichts kommt.« (PU, 102) Erst als Guste Kiepert ihn über Rosas Bedürfnisse aufklärt, gehen die beiden zusammen auf ihr Zimmer (vgl. PU, 131). Parallel zu dieser Initiation in die Erotik des Kleinkunstmilieus kommt der Verlust von Unrats Lehrerautorität immer deutlicher zum Ausdruck. Dies zeigt sich in der Auseinandersetzung mit den Schülern, etwa im Kontrast des ästhetischen Wissens Lohmanns – dessen Name im Übrigen als ein Anagramm von Luiz Heinrich Mann betrachtet werden kann652 – mit dem überkommenen Kunstverständnis seines Lehrers: »Das alles ist poetische Lizenz, Herr Professor, von Anfang bis zum Ende«, verteidigt Lohmann das Gedicht über Rosa Fröhlich aus seinem Aufsatzheft. »Ein ganz frivoles Machwerk, l’art pour l’art, wenn Sie den Ausdruck kennen. Hat mit Seele absolut nichts zu tun.« (PU, 115) Auch der Direktor seines Gymnasiums ruft ihn zur Ordnung: »Er entbot Unrat zu sich ins Amtszimmer und hielt ihm die sittliche Auflösung vor, der seine Klasse sichtlich entgegengehe. […] er möge […] des Beispiels nicht vergessen, das er der Klasse schulde.« (PU, 152) Dass und wie das Kleinkunstmilieu Unrats mühsam aufrecht erhaltene Professorenexistenz zermürbt, zeigt besonders deutlich der Prozess um die Schändung eines Hünengrabs, an dem die drei Schüler mit Rosa Fröhlich beteiligt waren. Unrat realisiert seine Abhängigkeit von ihr, als ihm vor Gericht seine Eifersucht auf die gemeinsame Unternehmung bewusst wird. Er eilt nach Hause und versucht, sich durch Vertiefung in seine wissenschaftliche Arbeit abzulenken. Doch er muss feststellen, dass sein Manuskript zu den Partikeln bei Homer nicht mehr vollständig ist: Aber diese und jene Rückseite war mit Zeilen an die Künstlerin Fröhlich beschrieben, manchmal nur mit einer Notiz, die sie anging. Es fehlten sogar Blätter : die hatte er achtlos an sie abgeschickt. Er sah auf einmal seine Arbeitskraft ganz ihr untergeordnet, seinen Willen schon längst nur noch auf sie gerichtet, und alle Lebensziele zusammenfallen in ihr. (PU, 166)

Diese Passage formuliert wohl am deutlichsten den Verlust der Energien, die Unrat für schulische Kontrolle und Schikane, aber auch für die eigene wissen652 Vgl. Drügh: Unter leisem Schnaufen, 88.

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schaftliche Arbeit aufzubringen vermocht hatte, und die sich nun in der Hingabe an Rosa Fröhlich auflösen. In der Folge entschließt sich Unrat daher für ein Zusammenleben mit der Künstlerin, die ihm zuliebe Latein und Griechisch zu lernen versucht. Aus Rührung über diese Geste macht er ihr einen Heiratsantrag, und nun nimmt eine Art anarchische Kollaboration des Paares ihren Lauf: Unrat und Rosa Fröhlich unterlaufen den Sittenkodex der Kleinstadt durch ihre libertinäre Lebensweise. Unrats Neigung zum Anarchismus hatte schon Lohmann an früherer Stelle mit einer gewissen Achtung konstatiert: »Dieser Unrat fängt an, mich zu beschäftigen: er ist eigentlich eine interessante Ausnahme. Bedenke, unter welchen Umständen er handelt, was er alles gegen sich auf die Beine bringt. Dazu muss man ein Selbstbewußtsein haben, scheint mir – ich für meine Person brächte so eines nicht auf. Es muß in einem ein Stück Anarchist stecken…« (PU, 145)

Diese Feststellung unterstreicht der Erzähler später im Kontext der Orgien im Hause Unrat und der zunehmenden ›Entsittlichung‹ der Stadt: »Aus dem Tyrannen war endgültig der Anarchist herausgebrochen.« (PU, 211) Es ist diese selbstbestimmte Wendung des Philologieprofessors zum Anarchisten, die für die schulliterarische Tradition neu ist. Unter Gesichtspunkten der Gattungsentwicklung kommt erstmals die Tendenz der Zersetzung der schulischen Institution durch Gegenmilieus – hier dem der Kleinkunst – zum Ausdruck.653 Es ist dabei bemerkenswert, dass diese Zersetzung gerade nicht, wie es in späteren Texten der Fall sein wird, von den Schülern ausgeht. Lohmann etwa gesteht im obigen Zitat seinen Mangel an anarchistischer Energie ein. Und auch an anderer Stelle wird deutlich, dass es ausgerechnet die Schüler sind, denen der subversivrevolutionäre Elan fehlt. Als von Ertzum einen Mord an Unrat erwägt, warnt Lohmann ganz nüchtern: »Das ist einer, über den man die Achseln zuckt. Hast du Lust, nach geschehener Tat mit dem alten Unrat zusammen in der Zeitung zu stehen? Wie kompromittierend!« (PU, 115) In gewisser Weise hat der Text damit avant la lettre den für die späteren expressionistischen Schultexte charakteristischen Taten- und Rachedrang gegenüber Väter- und Lehrerfiguren654 bereits überwunden: Erfahrungsreichtum und Entwicklungsmöglichkeiten, so die ironische Spitze des Textes, zeigen sich beim anscheinend lebensfremden und hoffnungslos bornierten 653 Walter Fähnders weist in seiner sozialgeschichtlichen Analyse des Zusammenhangs von Anarchismus und Literatur auf eine Reihe solch anarchistischer Gegengesellschaften und ihre bewusste »›Asozialität‹« hin, etwa die Neue Gemeinschaft, die Kommune auf dem Monte Verita oder die BohÀmezirkel in München und Berlin. Vgl. Walter Fähnders: »Anarchismus und Literatur«, in: York-Gothart Mix (Hg.): Naturalismus, Fin de siÀcle, Expressionismus. Wien 2000 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7), 410 – 21, hier 418. 654 Vgl. IV.3.

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Philologen, der die allseits begehrte Künstlerin Fröhlich als Ehefrau gewinnt – nicht bei den Gymnasiasten, die schon jenseits jeglicher Bildungsmöglichkeiten stehen. […] Diese Jugend hat nicht die Potentiale, die ein emphatischer Jugendkult ihr zuschreiben möchte.655

Im Gegensatz zu seinen Schülern entdeckt Unrat seine Lebendigkeit, die sich in einer neuartigen finanziellen, kulinarischen und erotischen Hemmungslosigkeit ausdrückt (vgl. PU, Kapitel XIII und XIV). Er toleriert auch die wilden Orgien in seinem Haus: »Im übrigen durfte alles drunter und drüber gehen; Unrat war einverstanden.« (PU, 209) So wird der ehemals oberste Sittenwächter der Kleinstadt zum Agenten ihrer sittlichen Verwahrlosung: »Und diese Entsittlichung der Stadt, von keinem zu unterbrechen, weil zu viele darin verwickelt waren: sie geschah durch Unrat und zu seinem Triumph.« (PU, 213) Das Zitat legt gleichzeitig nahe, dass Unrat über sein früheres Selbst noch nicht gänzlich erhaben ist, verrät es doch Genugtuung in Anbetracht der Rache an dem Milieu, das ihn früher verspottete. Insofern lässt sich hier eine Autoaggression gegen das eigene Milieu ausmachen, wie Walter Fähnders sie in der literarischen Verwendung anarchistischer Motive ausgemacht hat: ›Anarchismus‹ im Verständnis der D¦cadence wurde, von jeder Utopie losgelöst, auf Zerstörung reduziert. Der Hass auf die eigene Herkunftsklasse mochte zwar nicht bis zur anarchistischen ›action directe‹ reichen, sondern nur zur Schaffung von Kunstwelten […]; das Herbeizitieren des Anarchismus erschien aber als willkommenes Juwel im Destruktionsarsenal der D¦cadence.656

In Hinblick auf diese Entwicklung ist es nur schlüssig, dass der Schulalltag selbst im Lauf des Romans immer mehr an Bedeutung verliert und zum Schluss gar nicht mehr thematisiert wird. Es ist aber bezeichnend, dass der Roman nicht mit Unrats Triumph endet. Seine Achillesferse bleibt der verhasste Schüler Lohmann. Als er Rosa mit diesem ertappt, vergisst er sich: Unrat dachte: nun sei es aus: Sein ganzes Werk, sein ganzes strafendes Vernichtungswerk sei umsonst, da zum Schluss nun doch Lohmann bei der Künstlerin Fröhlich sitze. Er hatte sie ins Angesicht der ganzen Menschheit gestellt, daran gearbeitet, daß alles den andern entrissene ihres werde – und inzwischen machte sie seine qualvollsten Gesichte zur Wahrheit, seine Gesichte von ihr und Lohmann, in dessen Zügen alles Schlimmste, Hassenswerteste sich zusammengedrängt hatte. Was blieb da 655 Kolk: Kairos und Kabuff, 172. 656 Fähnders: Anarchismus und Literatur, 420. Entsprechend betont Fähnders, dass der Anarchismus in der Literatur der Jahrhundertwende zwar inhaltlich anzitiert werde, »ohne allerdings in ästhetischer Theorie und literarischer Praxis als eigenständige Formation in Erscheinung zu treten.« (Ebd.) Diese Tendenz kann auch für Professor Unrat gelten: Anarchistische Tendenzen sind besonders auf Inhaltsebene prominent, wenn sich auch Ansätze der formalen Auflösung von Zeichenordnungen ausmachen lassen. Vgl. die Beobachtungen von Drügh: Unter leisem Schnaufen, 90 f.

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noch? Es war aus mit der Künstlerin Fröhlich, und also aus mit Unrat. Er mußte sie zum Tode verurteilen, und damit sich selbst. (PU, 236)

Unrat hat die liminale Phase der ›Lehre‹ im Kleinkunstmilieu nicht erfolgreich durchlaufen, die Eifersucht auf Lohmann ist zu groß, als dass er über dessen Verhältnis zu seiner Frau hinwegsehen könnte. Die Folge dieses unvollendeten Entwicklungsgangs, der übrigens in seiner Struktur die abgebrochenen Biographien der überbürdeten Schüler in Erinnerung ruft, ist wenn nicht sein körperlicher, so doch sein sozialer Tod. Wie bei den überbürdeten Schülern wird Unrats gesellschaftlich deviantes Verhalten – er versucht Rosa Fröhlich zu erwürgen und stiehlt Lohmanns Brieftasche – sanktioniert. Die Sanktion nimmt, in einem letzten Akt der Inversion der gängigen Rollen, der Schüler Lohmann vor: »Lohmanns Geist, der durch so unglaubwürdige Ereignisse noch nie erprobt worden war«, so kommentiert der Erzähler, »warf alle Eigenart ab und antwortete auf ›Verbrechen‹ ganz bürgerlich mit ›Polizei‹. Wohl bewahrte er das Bewusstsein, dies sei kein besonders seltener Einfall, aber er sagte sich: ›Da hört’s auf‹ und schritt stramm über das Bedenken hinweg.« (PU, 237) So ist es am Schluss des Romans der dandyhaft-überhebliche Schüler Lohmann, der mit bürgerlichen Sentenzen auf den Lippen und mit Hilfe der Polizei die Ordnung in der Kleinstadt wieder herstellen hilft; und es ist der Lehrer, der unter Triumph des Städtchens noch im Moment der Festnahme gedemütigt wird: »Er sprudelte Wasser, empfing von hinten einen Stoß, stolperte das Trittbrett hinan und gelangte kopfüber auf das Polster neben der Künstlerin Fröhlich und ins Dunkel.« (PU, 239) Durch diese letzte Inversion des üblichen Schüler- respektive Lehrerhabitus stellt der Text allerdings die Wertung der Charaktere noch einmal in Frage: Wem konservative und wem modern-progressive Haltungen und Überzeugungen zuzuschreiben sind, bleibt ambivalent. Indem Heinrich Manns Roman mit diesen Zuschreibungen spielt und eine einfache Einordnung hinterfragt, bereitet er den Boden für Texte, in denen sich das Machtgefüge der Institution Schule weiter auflösen wird.

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2.

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Gescheiterte Gemeinschaften. Misslungene Reformprojekte und der Weg zu einer politischen Pädagogik bei Robert Saudek und Wilhelm Lehmann

Aus systemtheoretischer Perspektive betrachtet, ist die Pädagogik ihrem Wesen nach immer schon Reformpädagogik. Niklas Luhmann hat zusammen mit KarlEberhard Schorr das Paradox, das der Pädagogik inhärent ist (und das er mit der Formel der »rekursiven Kontinuität«657 fasst), folgendermaßen erläutert: Die Pädagogik ist seit ihren Anfängen Reformpädagogik, weil sie in ihrer Reformorientierung einen Ausweg aus den Zwängen der Codierung [für das Erziehungssystem lautet die Codierung besser/schlechter in Bezug auf die Verteilung von Bildung, G.W.] sucht. Obwohl die Erziehungspraxis selber immer bessere und schlechtere Ergebnisse produziert, meint die Pädagogik, dies könne besser gemacht werden. Sie sucht in einer ständig erneuerten Systembewertung einen Ort der Resistenz, an dem sie ertragen kann, dass sie in der Praxis binär verfahren muss; und das gelingt ihr, indem sie das Schema besser/schlechter temporalisiert. Das System ist gegenwärtig schlechter, als es sein sollte, und es soll daher künftig besser werden. […] anders gesagt: das System der Erziehung wird behandelt, als ob es selbst erzogen werden müsste.658

Überträgt man diesen systemischen Befund auf die Geschichte der Pädagogik, so lassen sich historische Phasen ausmachen, in denen dieses Reformbedürfnis Konjunkturen erfährt. Als eine solche Phase der Verdichtung ist die Jahrhundertwende zu betrachten; die Konjunktur der Reformpädagogik ist zusammen mit den verschiedenen Lebensreformprojekten dieser Zeit als eine Reaktion auf die vielfältigen gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse zu begreifen.659 Auf die Vielzahl der reformpädagogischen Projekte einzugehen, würde das Anliegen dieses Kapitels überschreiten. Stattdessen soll auf eine bestimmte Tendenz hingewiesen werden, welche die Reformpädagogik der Jahrhundertwende kennzeichnet und die der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers in den Mittelpunkt seiner Untersuchung dieses Zeitraums stellt. Ihm geht es darum, die reformpädagogischen Anstrengungen der Jahrhundertwende in erster Linie von 657 Niklas Luhmann, Karl Eberhard Schorr : »Strukturelle Bedingungen von Reformpädagogik. Soziologische Analysen zur Pädagogik der Moderne«, in: Zeitschrift für Pädagogik 34 (1988), 463 – 80, hier 468. 658 Ebd. 659 Für einen Überblick vgl. Herrmann: »Pädagogisches Denken und die Anfänge der Reformpädagogik«, in: Christa Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4. 1870 – 1918: von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 1991. 147 – 78. Wenn im Folgenden von der Reformpädagogik im Singular die Rede ist, wird dieser Ausdruck der Übersichtlichkeit halber gewählt. Das soll gleichwohl nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass ›die‹ Reformpädagogik der Jahrhundertwende ein höchst heterogenes Unternehmen ist, das Programme unterschiedlichster Couleur vereint.

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ihrer medialen Seite her als »massierte Erziehungspublizistik«660 zu erklären, die in ihren inhaltlichen Aussagen keineswegs neu ist. Im Gegenteil: Neu und originell sind dabei [an der Erziehungskritik und Reformsprache des ausgehenden 19. Jahrhunderts, G.W.] wiederum nicht die kommunikativen Formeln, sondern deren Verbreitung und Rezeption. Die Reflexionseliten veränderten sich, ›Erziehung‹ wurde endgültig zu einem laizistischen Thema einer größeren, fächerübergreifenden Öffentlichkeit, die die enge Bindung der Pädagogik an Schule und Konfession auflöste und ›Erziehung‹ zu einem übergreifenden Thema der Reform machte. Das gelang aber nur, soweit die moralische Bindung der Kritik gewahrt blieb, fast immer unter Beibehaltung metaphysischer Begründungszusammenhänge […].661

Dabei bestand der Erfolg der reformpädagogischen Ansätze Oelkers zufolge gerade in ihrer rhetorischen Vagheit und in ihrer diffusen Bezugnahme auf vorgängige Theorietraditionen, die etwa Ernst Haeckel, Paul de Lagarde oder Friedrich Nietzsche geprägt hatten: Die ›neue Erziehung‹ kann unmittelbar dringlich erscheinen, weil sie postulatorisch, orientiert am allgemein ›Guten‹ und so vage definiert wird, dass sie in verschiedenen Theorie- und Verwendungszusammenhängen stets gleiche Aufnahme finden kann. Die Moral des Besseren ist die Definitionsmacht der Reform […].662

Diese Vagheit ermöglicht es ihr, ihre Reformambitionen über den genuin pädagogischen Bereich hinaus auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen und dort ein Mitspracherecht zu beanspruchen. Es geht nie nur um die pragmatische Veränderung von Erziehungsinstitutionen, sondern immer auch um eine »Reform des Lebens oder Korrektur der Gesellschaft«663 im Ganzen, mithin um einen politischen Anspruch: ›Gemeinschaft‹ ist immer doppelt dekodiert, politisch und pädagogisch […]; der Ausdruck bezeichnet ›Volk‹, ›Staat‹ oder ›Nation‹ und zugleich den Bezug zwischen ›Erzieher‹ und ›Zögling‹. In beiden Fällen schafft das Gefühl die Gemeinsamkeit, das Erleben die Tiefenbildung, der Nahraum die Menschlichkeit […].664

Diese beiden Beobachtungen – der Stellenwert der reformpädagogischen Rhetorik und ihr gesamtgesellschaftlicher Anspruch – sind auch für die folgenden literarischen Analysen relevant. In Anbetracht der Omnipräsenz gesellschaftlicher Lebensreformdiskurse ist allerdings zunächst festzuhalten, dass die Schulliteratur vergleichsweise spärlich auf pädagogische Reformprojekte als Sujet rekurriert. Frank Wedekinds Mine-Haha kann als ein Fall reformpäd660 Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 3., vollst. bearb. und erw. Aufl., Weinheim 1996. 16, m. Hvbg. 661 Ebd., 16 f. 662 Ebd., 76, Hvbg. i. O. 663 Ebd., 25. 664 Ebd., 89, Hvbg. i. O.

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agogisch inspirierter Schulliteratur gelten, bleibt aber mit seiner utopischen Ausrichtung im Textkorpus singulär. Auf ganz andere Weise nehmen unterdessen zwei weitere Autoren nach 1900 auf reformpädagogisches Gedankengut Bezug. Es handelt sich um die Gymnasiastentragödie (1907) von Robert Saudek und eine Reihe von Prosatexten (1917 f.) des später vor allem als Naturlyriker populären Wilhelm Lehmann. Er verarbeitet in seiner frühen und in der Forschung weitgehend unbeachtet gebliebenen Prosa Erfahrungen, die er als Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf unter der Leitung von Gustav Wyneken machte. Bemerkenswert an den Texten dieser Schriftsteller ist die Darstellung von Gemeinschaftsmodellen, wie sie häufig auch im Zentrum realweltlicher reformpädagogischer Ansätze stehen.665 Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie letztlich erfolglose Versuche verhandeln, eine Gemeinschaft – einen ›Männerbund‹ – zu stiften. Am Beispiel dieser Texte lässt sich eine neue Tendenz der Schulliteratur ausmachen: Sie entwerfen Modelle einer Schulgemeinschaft, die die hierarchische Trennung in autoritäre Lehrer und demütige Schüler, mithin den Charakter einer staatlichen Institution, überwunden hat. Dagegen werden Konzepte egalitärer Gemeinschaften profiliert, deren nachhaltigen Erfolg die Literatur allerdings radikal in Frage stellt. Sie bewegen sich damit, wie zu zeigen sein wird, ins Feld einer politischen Pädagogik hinein.

a.

Selbstmord als Opfer für die höhere Idee: Robert Saudeks ›Gymnasiastentragödie‹ (1907)

Wie der Titel schon nahelegt, greift Robert Saudeks Drama das Motiv des Schülerselbstmords auf, das bereits aus den frühen Schultexten bekannt ist. Saudek gibt ihm aber eine neue Wendung, indem er ihn nicht als verzweifelten Ausweg eines gemarterten Schülers darstellt, sondern als den selbstbewussten Akt des Märtyrers. Den Zugang zur Produktions- und Rezeptionsgeschichte des Dramas erschwert die Tatsache, dass die Biographie Saudeks kaum dokumentiert ist. Überlieferte Quellen lassen darauf schließen, dass er als Graphologe tätig war, diese Tätigkeit den Publikationen zufolge von etwa 1930 an recht erfolgreich ausübte und zudem Lehrbücher sowie Texte wissenschaftlicher Zeitgenossen wie etwa Otto Weininger herausgab. Zwischen 1907 und 1921 verfasste er außerdem ein Drama und zwei Romane; die literarische Beschäftigung darf in Anbetracht ihrer quantitativen Dürftigkeit aber wohl als Nebentätigkeit angesehen werden.666 Der werkgeschichtliche Kontext und die Re665 Vgl. ebd., 227 – 51. 666 Vgl. die Angaben in Peter Walther (Hg.): Musen und Grazien in der Mark. 750 Jahre Literatur und Brandenburg – ein historisches Schriftstellerlexikon. Bd. 2. Berlin 2002. 232.

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zeption der Gymnasiastentragödie (1907) sind kaum überliefert. Lediglich der Besprechung eines zeitgenössischen Beobachters sind Hinweise zu entnehmen. Friedrich Kitzing erwähnt in der Diskussion zeitgenössischer Erziehungsdramen Saudek als einen »österreichischen Schriftsteller, der uns erst wenige, aber durchweg den Durchschnitt überragende Werke geschenkt hat.«667 Die Gymnasiastentragödie beurteilt er als »das Wertvollste […], was das Jahr 1906/07 uns an Kindertragödien beschert hat«, das Drama gehe »auch zugleich weiter als alle diese bisher erschienenen Werke, indem es uns eine ausgewachsene Revolte der Schüler gegen die Lehrer vorführt.«668 Die Handlung des Vierakters spielt innerhalb eines Tages, ihre Akteure sind eine Gruppe Obersekundaner, die für ein Schmähgedicht über den Direktor in der Schülerzeitung zur Verantwortung gezogen und wegen ihres uneinsichtigen Verhaltens der Schule verwiesen werden. Ihr Lehrer, Doktor Hopp – ein Anhänger der experimentellen Pädagogik –, hatte die Zeitung angeregt. Der Schüler Otto Seemann, Anführer der Gruppe, erklärt den Schulausschluss zum Prüfstein für die Solidarität innerhalb der Gruppe; wer ihr weiterhin die Treue erweise, habe sich als der Gemeinschaft würdig erwiesen. Vom zweiten Aufzug an wird allerdings deutlich, wie brüchig diese ist. Der Schüler Lienhardt berichtet parallel zum Schulausschluss von einer angeblich unheilbaren Krankheit, die er sich nach einem Bordellbesuch zugezogen habe. Er erschießt sich wenig später, was die nicht Eingeweihten mit dem Schulverweis in Verbindung bringen. Seemann, durch den Tod des »Unreinen« in der Rechtmäßigkeit seiner Überzeugungen bestärkt, versucht, die Gruppe nun erst recht zum Kampf für die – immer diffus bleibende – Idee zu motivieren. Derweil plagt sich Reformator Hopp mit schlechtem Gewissen in Anbetracht des Selbstmords, den er auf seine Anstiftung zur Zeitung zurückführt. Von den in Panik geratenen Eltern, die eine Selbstmord-Epidemie befürchten, lässt er sich überreden, zugunsten der Wiederaufnahme der Schüler seinen Rücktritt einzureichen. Seemann, der Hopp bislang als Vorbild betrachtet hatte, ist desillusioniert; nachdem ihm die Gruppe ihre Gefolgschaft versagt, bringt er sich um. Die Handlung ist also zweisträngig: Erstens schildert das Drama den Desillusionsprozess einer Schülergemeinschaft und beteiligt sich so an der nach 1900 erneut aufflammenden Debatte über das Problem der Schülerselbstmorde.669 Diese Vermutung unterstützt die in der Einleitung formulierte These, dass sich das Sujet der Schule um 1900 als Einstieg ins literarische Feld und als günstiges Thema für schnelles Geld anzubieten schien. 667 August Kitzing: Das moderne deutsche Schul- und Erziehungsdrama mit besonderer Berücksichtigung der neueren literarischen Erscheinungen. Leipzig 1908 (Veröffentlichungen des Allgemeinen Deutschen Elternbundes für Schulreform), 10. 668 Ebd., 11. 669 Vgl. etwa den Leitartikel des Herausgebers Franz Pfemfert in der Aktion vom 17. April 1911: »Im Zeichen der Schülerselbstmorde«, in: Die Aktion 9 (1911), o.S., sowie die Ausfüh-

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Auffällig ist im Vergleich mit den frühen schulliterarischen Texten allerdings, dass bei Saudek dieser Bezug gewissermaßen mit veränderten Vorzeichen vorgenommen wird: Der Akt des Selbstmords ist keine Verzweiflungstat, sondern ein letztes demonstratives Aufbegehren. Zweitens stellt der Text die Ernüchterung eines reformpädagogisch orientierten jungen Lehrers dar. Der Handlungsverlauf erinnert an die Protagonisten der in Kapitel IV.1 besprochenen naturalistischen Dramen und wiederholt deren Einsicht in die Untauglichkeit reformpädagogischer Programme. Im Folgenden werden diese beiden Stränge im Hinblick auf die Rearrangements der Motive analysiert, die innerhalb der Schulliteratur zu Beginn des expressionistischen Jahrzehnts kanonischen Status erlangt haben. Dabei soll gezeigt werden, dass die Wiederaufnahme dieser Motive nur begrenzt eklektizistischen Charakter hat, sondern vielmehr einen Wandel im schulliterarischen Diskurs sichtbar macht. Die Schülergemeinschaft wird zunächst in absentia im Zuge einer Lehrerkonferenz thematisiert. Anlass ist das ›Schmähgedicht‹ über den Rektor, das in der Schülerzeitung veröffentlicht wurde. Der Text selbst wird nirgends erwähnt oder zitiert, über seinen tatsächlichen Charakter kann der Leser beziehungsweise Zuschauer daher nur spekulieren. Zwei Interpretationsansätze liefert allerdings der Disput zweier Lehrer in der ersten Szene des ersten Aufzugs. Sie beurteilen die Schülerzeitung zwischen den Polen jugendlichen Größenwahns und wahrer literarischer Qualität. Es ist in diesem Zusammenhang aus sozialgeschichtlicher Perspektive bemerkenswert, dass die Schülerzeitschriften um 1900 als neues Medium entstehen und einige Schriftsteller der Klassischen Moderne in diesen Organen ihre ersten literarischen Gehversuche unternehmen.670 Die Rhetorik, in welcher der Rektor gerade dieses Medium verdammt, lässt sich insofern als Bewertung expressionistischer Publikationsaktivität begreifen, als sich sein Vorwurf insbesondere gegen den Manifestcharakter und das damit verbundene aufrührerische Potential der Zeitschrift wendet: Denn nach meiner Ansicht ist die Verderbtheit der ganzen Klasse auf die gehässige und alberne Agitation eines einzelnen Schülers zurückzuführen. Wir müssen unbedingt jenen elenden Pamphletisten heraus finden [sic!] und zu den strengsten Maßregeln

rungen bei Hans Rost über »Den Selbstmord in der Pädagogik« beziehungsweise »bei Schülern«: Ders.: Bibliographie des Selbstmords. Augsburg 1927. 85 f. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden immer wieder spektakuläre Fälle von Schülerselbstmorden bekannt; Sigmund Freud berief schließlich 1910 einen Kongress »Über den Selbstmord, insbesondere den Schüler-Selbstmord« ein. Vgl. dazu und zum Hintergrund der Debatte Joachim Schiller : Schülerselbstmorde in Preußen: Spiegelungen des Schulsystems? Frankfurt am Main / Berlin u. a. 1992 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 11, Pädagogik; Band 505). 670 So etwa Walter Benjamin und Georg Heym; eine systematische Untersuchung dieses Phänomens steht allerdings bislang aus.

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greifen, die nach höchsten Verordnungen das Disziplinarverfahren unserer Anstalt zulässt.671

Die Semantik der »Agitation« und des »Pamphlets« lässt die publizistische Aktivität der Schüler erstens unter literatursoziologischen Gesichtspunkten als eine in ihrem Gestus frühexpressionistische erscheinen. Die im weitesten Sinne schriftstellerisch-künstlerische Tätigkeit, die in den frühen Texten noch im privaten Bereich verortet war, tritt nun also zunehmend in die Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass es sich um ein Schmähgedicht handelt. Denn im Verlauf der Vernehmung Seemanns stellt sich heraus, dass dieser einen weiteren Text verfasst hat. Der Rektor konstatiert verwundert, dass dies »der einzige Inhalt der Zeitung [ist], der nicht direkt böse Gesinnung zeigt, sondern in leidlich guter Form ruhig erzählt.« (GT, 30) Damit wird ein gewisses literarisches Talent des Rädelsführers in Rechnung gestellt, der Revolte gegen den Rektor mithin eine ästhetische Signatur verliehen. Zweitens ist das Metaphernfeld der Krankheit für den weiteren Verlauf der Handlung bemerkenswert. Der Rektor erwähnt die Wirkung der »Verderbtheit« eines einzelnen Schülers auf die Klasse, und auch Hopp stellt die Frage, ob der Fall der Schmähschrift eine »symptomatische Erscheinung« (GT, 16) sei. Während die Lehrer die Semantik der Infektion aber auf das Verbreitungspotential des aufrührerischen Gedankenguts beziehen, verwenden die Schüler sie auf andere Weise. Ihre Gemeinschaft kommt allererst dadurch zustande, dass sie alles Pathologische ausschließt. Anders gesagt: Das Kriterium der ›Reinheit‹ wird zum Prüfstein ihrer Identität. Entsprechend stellt der Zwischenfall der Schülerzeitung auch den Zusammenhalt der von Seemann gestifteten Gruppe auf die Probe. Denn die Schüler werden vor das Lehrerkollektiv geführt und aufgefordert, den Anstifter zu denunzieren. Nach Seemanns Bekenntnis sollen sich die restlichen Schüler von ihm lossagen, wozu allerdings nicht alle bereit sind. Der Schüler Wiehert etwa erklärt seine Motivation, ihm die Treue zu halten, folgendermaßen: Früher, da war keine Einigkeit in der Klasse, aber er hat alle tüchtigen Kerle in der Klasse zusammengebracht und hat uns ein Signal vorgepfiffen, und das haben wir alle angenommen, als Zeichen der Einigkeit. Ich hab’ es in Noten gesetzt, und es steht auch in der Vignette auf dem Titelblatt der ›freien Schule‹ [die Schülerzeitschrift, G.W.]. Dann haben wir uns den Notensatz auf den Arm tätowieren lassen. (GT, 32)

Wiehert schildert hier einen Akt der ästhetischen Vergemeinschaftung, der ohne verbale Kommunikation auskommt und allein über asemantische musikalische Signale funktioniert. Diese inkorporieren die Schüler gleichsam durch die Tä671 Robert Saudek: Eine Gymnasiasten-Tragödie. Berlin o. J. (ca. 1907). 13. Im Folgenden Siglenangaben im Fließtext.

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towierung. Die Gemeinschaftsbildung sollte, so wird schnell deutlich, über die Schulklasse hinausgehen und den Anstoß zu einer Schulreform geben: »[…] wir wollten doch allen andern im Gymnasium ein Beispiel geben, alle sollten sie’s uns gleich machen, die Schüler sollten sich selbst ihr Recht verschaffen und die Freiheit, sich ausleben zu können.« (GT, 38) Seemann ist nach dem Vorfall bemüht, die Loyalität der Gruppe zu wahren und appelliert an die Maskulinität seiner Jünger : »Nur keine Sentimentalitäten, wir müssen stark bleiben und dürfen nicht weinen, wie die Weiber.« (GT, 41) Die Bedeutung, die der reinen Männlichkeit dieser Gemeinschaft zukommt, wird noch evidenter, als Lienhardt seine tödliche Krankheit beichtet. Seemann reagiert entsetzt: Für Ideale wollten wir kämpfen, Freiheit wollten wir schaffen und reine Luft atmen und du läufst dahin. Warum hast du dich uns zugesellt, warum hast du unsere Reinheit mit deiner Nähe befleckt? Warum […] hast du uns in dieser entscheidenden Stunde diese schreckliche Nachricht gebracht? (GT, 44)

Er ruft daraufhin Gott an und fordert ein Zeichen, das die Virilität der Gemeinschaft wieder herstellen möge: »[…] zeige du […], daß ideale Jugendkraft und Laster nicht gleich sind vor deinen Augen, daß nicht beide denselben Weg gehen sollen.« (GT, 47) Lienhardts wenig später folgenden Selbstmord interpretiert Seemann als dieses Zeichen und markiert die Tat als – eine für die expressionistische Literatur typische Figur – das reinigende Opfer, das die Gemeinschaft wiederherstellt. Gott habe seine Bitte erhört: »Wäre Lienhardt nicht in den Tod gegangen, so hätte unsere ganze Sache gelitten. Wir alle wären kraftlos auf dem halben Wege unseres Kampfes liegen geblieben, so sind wir alle wieder rein.« (GT, 69) Diese Elemente – der Akt einer Vergemeinschaftung mit ästhetischem ›Überschuss‹, die Betonung der Virilität und der Reinheit dieses durch eine Führerfigur gestifteten Bundes – gestatten es, die Schülergemeinschaft als eine Manifestation eines Männerbundes zu betrachten. Vorstufen solcher Zusammenschlüsse lassen sich bereits im Vereins- und Bundeswesen des 19. Jahrhunderts ausmachen, das mit der Konjunktur nicht nur, aber auch literarischer Gruppen und Vereine um 1900 einen Höhepunkt erreicht.672 Einen besonderen Nährboden für die Entstehung solcher Bünde bot der Wandervogel. Diese Gemeinschaftsform war als Ersatz für die Erziehung vor allem der Jungen innerhalb der Familie konzipiert: 672 Zum Vereinswesen des langen 19. Jahrhunderts vgl. Wulf Wülfing, Karin Bruns, Rolf Parr (Hg.): Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825 – 1933. Stuttgart / Weimar 1998 (Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 18). Zum Stellenwert literarischer Vereine und Gruppenbildung im Naturalismus und der damit einhergehenden Gesellschaftspraxis vgl. exemplarisch Ingo Stöckmann: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart / Weimar 2011. 7 – 11.

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[…] für die heranwachsenden Jungen wurde statt dessen die Erziehung in ordensähnlichen Gemeinschaften und in sogenannten Freien Schulgemeinden propagiert, in denen sie unter der Anleitung eines fordernden Führers außerhalb der korrumpierenden Einflüsse der Großstadtzivilisation auf ihre Mission als ›Sauerteig‹ in der Gesellschaft vorbereitet werden sollten.673

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Bund, definiert als »aristokratisches, ständisch organisiertes Gegenmodell zum ungeliebten, kalten und sich angeblich ständig selbst diskreditierenden System des Parlamentarismus«, zur »zentrale[n] Organisationsform«674 des Wandervogels. Es waren zwei einschlägige Werke, die das Konzept des Bundes prominent behandelten: Zunächst die 1902 erschienene Arbeit Altersklassen und Männerbünde des Soziologen und Volkskundlers Heinrich Schurtz, das auf der Basis umfangreicher ethnologischer Beobachtungen zu dem Schluss kommt, der Männerbund sei eine dem Mann angemessenere Sozialform als die Familie.675 Die Schrift Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft des ersten Chronisten des Wandervogels, Hans Blüher, baut auf Schurtz’ Studie auf. Blüher hatte bereits 1914 mit seinem Buch Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen Aufsehen erregt, das zusammen mit der 1920 erschienenen Studie zur Rolle der Erotik Aufschluss über seine Konzeption des Bundes gibt. Er ist demzufolge eine homosoziale Gemeinschaft von Männern; sein Fortbestand ist durch die Frau einer ständigen Bedrohung ausgesetzt. Diesem Argument liegen eine erotische Begründung der beiden Sozialstrukturen Familie und Männerbund – so der Titel des zweiten Bandes seiner Studie – und eine Theorie der Bisexualität zugrunde, deren homosexuellem ›Relikt‹ für das Konzept des Bundes eine entscheidende Bedeutung zukommt: Und dieser Rest ist dann nichts anderes, als die allgemeine sexual-soziale Veranlagung der Tierspezies Mensch, die diese eben zum Zoon politikon macht. Das, was man Freundschaft und Kameradschaft nennt, ist dann der Rest der invertierten Richtung, der aber durchaus nicht funktionslos geworden ist, sondern durch geistige Erhöhung emporgebildet dem Menschen seine Kultur ermöglicht. Die Familie, das heterosexuelle Triebprodukt, ist also keineswegs die Grundlage des Staates […], sondern gerade umgekehrt jener mehr oder minder starke Rest der homosexuellen.676 673 Jürgen Reulecke: »Männerbund versus Familie. Bürgerliche Jugendbewegung und Familie in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts«, in: Thomas Koebner, Rolf-Peter Janz, Frank Trommler (Hg.): ›Mit uns zieht die neue Zeit‹. Der Mythos Jugend. Frankfurt am Main 1985. 199 – 223, hier 204. 674 Ebd., 211. 675 Heinrich Schurtz: Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft. Berlin 1902. 676 Hans Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion. Berlin 1920. 70. Zitiert nach Bernd Widdig: Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne.

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Bei Blühers Entwurf hat man es also eigentlich mit einer Staatstheorie zu tun, die auf der geistigen Sublimierung homoerotischer Energien beruht. Die Familie wird, von diesem Primat des Maskulinen ausgeschlossen, demgegenüber zum »Hort des Weiblichen«677. Während die Familie nichts gewährleistet als die »Erhaltung der Art«678, entstehen Staatswesen diesem Argument zufolge nur durch den Zusammenschluss von Männern in Bünden: »Während die Frau also soziologisch einseitig ist und nur nach der Familie strebt, neigt der Mann stets nach zweierlei: nach der Familie und der männlichen Gesellschaft.«679 Die Gefahr des weiblichen Eros besteht mithin in seiner Strategie, den Mann aus dem Bund hinaus und in die Familie hinein zu ziehen.680 Indem der Männerbund aber keineswegs nur eine periphere, sondern die Organisationsform des Staates schlechthin darstellt, geht in der Logik dieser Überlegungen von der Frau eine Gefahr aus, welche die Ordnung des Sozialen als solche betrifft. Auf die Männerbund-Idee wird bei der Analyse der Texte Lehmanns noch zurückzukommen sein. Vor diesem Hintergrund wird aber zunächst Seemanns Sorge um die Integrität seiner Gemeinschaft als die Sorge um ihren wesensmäßigen Erhalt erkennbar. Lienhardts Infektion ist nebensächlich; es ist die Tatsache seiner heterosexuellen Eskapade als solcher, welche die homosoziale und wohl auch homoerotische Integrität der Gemeinschaft in Frage stellt. Frauen werden nur geduldet, sofern sie sich alle eigenen Ansprüche versagen und der Gemeinschaft völlig unterwerfen.681

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Opladen 1992. 41. Modellhaft stellt sich diese Staatsform Blüher zufolge in den Kadettenanstalten dar : »Wer die Inversion und die männliche Gesellschaft an der frei lebenden Jugend nicht sehen will, der gehe in die Kadettenhäuser, wo er alles wie unter einem Vergrößerungsglase erblicken wird; er nehme dann eine Rückübersetzung in das freie Leben vor und er wird finden, was sich ihm vorher verbarg.« Hans Blüher : Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert. Bd. 2: Familie und Männerbund. Jena 1920. 169. Widdig: Männerbünde und Massen, 43. Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, Bd. 2, 91. Ebd. Vgl. nur ebd. 221. Diese Strategie sexueller Grenzziehungen ist nur ein Beispiel in einem ganzen Arsenal von Abgrenzungsstrategien, die Helmut Lethen für die politische Landschaft der Weimarer Republik als symptomatisch beschrieben hat: »Der Unsicherheit der Grenzziehung zwischen vertraut und unvertraut, krank und gesund begegnet man im Politischen mit pathetisch-scharfen Grenzziehungen. Die Grenzen sind nicht mehr durchlässig wie die Horizonte der Nervösen. Politiker aller Lager überbieten sich in der Schärfe, mit der sie Freund und Feind unterscheiden.« Helmut Lethen: »Sich in Form bringen. Der Wille zum Abschied von der Nervosität in der Politischen Anthropologie von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen«, in: Ulrich Bröckling, Benjamin Bühler, Marcus Hahn, Matthias Schöning, Manfred Weinberg (Hg.): Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik. Tübingen 2004. 73 – 84, hier 79. Der Dialog der nur peripher auftauchenden Mädchen Marie und Gertrud gibt Aufschluss über eben diese Funktion, die den Frauen in dieser Runde zukommt: »Wir haben dieselbe Sehnsucht. […] Die Sehnsucht, uns zu opfern. […] Sehnsucht, in andern aufzugehn. Wir wollen uns ausgeben für andere und wollen keinen Dank.« (GT, 110)

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Sich selbst stilisiert Seemann zu einer geradezu christologischen Figur : »Jetzt fühle ich wieder die Kraft, zu den Kameraden zu sprechen und sie aufzurichten, jetzt fühle ich wieder die Kraft, aller Menschen Leid auf mich zu nehmen. –« (Ebd.) Diese Bezugnahme ist für Führerschaftsmodelle innerhalb von Männerbünden charakteristisch.682 Seemanns Sendungsbewusstsein zeigt sich nicht nur in der Aufopferung von Individuen für die höhere Idee der Gemeinschaft, sondern auch in einem seiner Träume, in dem er einen Pastor von der Kanzel stößt und seine eigene Weltanschauung predigt. Im Traum steht der Rektor »[g]anz ernst […] da und blickte zu mir empor, als ob ich sein Lehrer wäre und er mein Jünger. Und alle Kollegen sprangen auf und sahen mich entsetzt an, und ich sah trotzdem, dass sie mich bewunderten…« (GT, 67) Er imaginiert hier eine grundsätzliche Schulreform im Sinne einer Umkehrung der Autoritätsverhältnisse: Autorität ist hier keine Frage des Alters mehr, sondern eine Frage der Aura. Nur deshalb ist die Umkehrung der ehemals rigiden institutionellen Rollen möglich; nur so erklärt sich der Wandel von der Schule zur Gemeinde, den Seemann hier imaginiert und der in der Auseinandersetzung mit Lehmanns Texten und der Figur Gustav Wynekens wiederkehren wird. Grundsätzlich sind Seemanns Ideale aber durch Vagheit charakterisiert, die wohl am deutlichsten zum Ausdruck kommt, als er nach der Eskalation der Situation – Schüler sagen sich von ihren Eltern los, welche weitere Selbstmorde befürchten – um eine pragmatische Lösung gebeten wird und entrüstet reagiert: Dafür habe er nicht zu sorgen, vielmehr habe er »[…] einen geistigen Kampf auf mich genommen. Ich will sie [die anderen Schüler, G.W.] stützen, wenn sie im Leben seelisch unterliegen, ich will sie heilen, wenn ihre Kraft erlahmt […], aber ich kann ihnen doch nicht Stellungen verschaffen.« (GT, 105) Erneut kommt hier die Distanz zu prosaischen Alltagsproblemen zum Ausdruck, die mit bürokratischer Regulierung zu tun haben und im Gegensatz zu der charismatischen Inspiration stehen, über die sich Seemann definiert.683 Diesem Gegensatz entspricht eine charakteristische Dichotomie von Wort 682 Vgl. dazu Widdig: Männerbünde und Massen, 45; zur Verbindung dieser Figur in Jugendbewegung und Expressionismus vgl. Korte: Expressionismus und Jugendbewegung, 101 f. 683 Diese und andere Konstellationen in den vorliegenden Texten ließen sich mit Max Webers Studien der Herrschaftstypen reformulieren. Zum Verhältnis von Männerbund-Idee und charismatischer Führerschaft bei Max Weber vgl. Widdig: Männerbünde und Massen, 50 f.; auf diesen Zusammenhang wird am Beispiel Gustav Wynekens noch zurückzukommen sein. Zur Diskrepanz von bürokratischer und charismatischer Herrschaft, deren Verhältnis Max Weber allerdings eher unter umgekehrten Vorzeichen betrachtet hat – hinsichtlich der Labilität des Charismas und der Schwierigkeit seiner »Umbildung« in der Konfrontation mit pragmatischen Regulationsproblemen wie etwa Nachfolgebestimmungen – vgl. Max Weber : Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. von Edith Hanke und Thomas Kroll. Bd. I/22, Teilband 4: Herrschaft. Tübingen 2009. 138 – 71.

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und Tat, wie sie schon in früheren Texten begegnet ist. Die Handlung läuft schließlich im Rahmen eines letzten Treffens des »Kriegsrats« (GT, 69) im Wald auf diese Unterscheidung hinaus, wenn Seemann dort an die Handlungsbereitschaft der Gruppe appelliert: »An demselben Orte, wo wir Entschlüsse fassten, stehen wir heute angesichts von Tatsachen, von Konsequenzen unserer Handlungsweise. Kameraden, wir haben uns heute die Frage vorzulegen, ob wir Mannes genug sind, diese Konsequenzen auf uns zu nehmen.« (GT, 87) Demgegenüber warnt Hopp den Schüler Herpich – der sich, im Gegensatz zu Seemann, zur Räson bringen lässt – vor den potentiell fatalen Konsequenzen dieser Aktionsrhetorik: »Das alles, was wir in diesen Tagen erleben, Herpich, ist etwas, was vorübergeht. Bleibend ist nur die Tat. Und eine Selbstvernichtung ist unwiderruflich.« (GT, 115 f.) Und so gibt auch Hopp selbst nach: Auf die Bitte eines Vaters, im Interesse der Wiederaufnahme der Schüler seine Kündigung einzureichen, geht er ein. Die Schüler sind entsetzt, akzeptieren die Entscheidung aber – mit Ausnahme Seemanns. Er versucht in einem letzten Kraftakt, seine Anhänger zu einen. Doch als auch Wiehert und Herpich die Gefolgschaft versagen, entschließt er sich zum Alleingang: Wenn ich einzeln stehe, so will ich auch einzeln für meine Idee fallen. Bis zur siegreichen Schlacht habt Ihr bei mir gestanden. Und plötzlich werdet Ihr mit Blindheit geschlagen und seht nicht, daß wir gesiegt haben und lauft feige in das Lager der Besiegten. Ich aber bin nicht feige: entweder Sieger oder tot. (GT, 141)

Mit diesen Worten springt er lachend aus dem Fenster. Das Drama endet mit der Versammlung der konsternierten Schüler, Seemanns Großvater und des Lehrers Hopp vor seiner Leiche. So besiegelt Seemann seine letzte, von einer Rhetorik der Kompromisslosigkeit geprägte Rede mit einer Tat, die seinen charismatischen Habitus im Märtyrertod seinem konsequenten Ende zuführt und seine – wenngleich bis zum Schluss diffus gebliebene – Weltanschauung durch diesen Opfertod auf Dauer stellt. Um das furiose Finale des Dramas angemessen einordnen zu können, ist zunächst ein Blick auf den zweiten Handlungsstrang nötig, auf den Desillusionierungsprozess des Lehrers Hopp. Er wird schon zu Beginn von einem Kollegen als »einer dieser [reformpädagogisch, G.W.] Betörten« (GT, 9) vorgestellt und tritt während der Konferenz als Anwalt der verdächtigen Schüler auf. Seine eigentliche pädagogische Philosophie wird jedoch erst im Gespräch mit Otto Seemanns Großvater deutlich, den Hopp um Rat ersucht. Der Großvater, der Otto nach dem Tod von dessen Eltern erzieht und selbst an pädagogischen Fragen interessiert ist, hat Hopps wissenschaftliche Publikationen zur Kenntnis genommen:

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Ich habe Ihre experimentelle Pädagogik gelesen, Sie wollen die Jungen erziehen, indem Sie sie die Stadien ihrer geistigen Entwicklung in ihrer literarischen Betätigung festhalten lassen. Sie wollen den Jungen ihren eigenen Spiegel vorhalten und ihnen sagen: seht, so habt ihr vor einem Jahr gedacht und geschrieben, seht, so habt ihr vor zwei Jahren gedacht. Sie wollen ihnen sagen: seht, so entwickelt ihr euch, und doch dachtet ihr vor zwei Jahren und vor einem Jahr, daß euere damalige Auffassung die letzte Stufe war, die eine Weltanschauung erklimmen kann. Sie wollen Ihre Schüler dahin bringen, daß sie niemals an eine gegenwärtige vollendete Weltanschauung glauben und daß nicht mit dreißig Jahren ihre geistige Entwicklung mit irgendeiner Kleinen-LeuteWeltweisheit stehen bleibt, daß sie im Leben nicht durch praktische Betätigung abgehalten werden können, an der Erweiterung ihres geistigen Gesichtskreises weiterzubauen; Sie wollen es dahin bringen, daß den Menschen die geistige Rastlosigkeit zum Instinkte wird. (GT, 54)

Der Großvater fasst unter dem Begriff der experimentellen Pädagogik ein Potpourri reformpädagogischer Modelle zusammen, das mit der experimentellen Pädagogik im engeren Sinn684 wenig zu tun hat; eher orientiert es sich an der um 1900 populären Theorie der Lesealter. Auch er selbst erweist sich als glühender Pädagoge, der nach dem verfrühten Tod seines Sohnes alle Muße in die Erziehung seines Enkels investiert hat. Hopp bekräftigt das euphorische Bekenntnis des Großvaters zur Erziehung mit einem Vergleich, der die Instanz des Willens als pädagogisches Instrument in den Mittelpunkt stellt: »Ja, es ist, als ob wir die Quintessenz unseres Wollens in die Welt hinausprojizierten und als ob dieser eine mächtige Brennpunkt, zu dem sich alle Strahlen während des menschlichen Lebens vereinten, rückwirkend auf den Menschen Einfluß nähme.« (GT, 57) Dass der Wille als pädagogisches Organ allerdings bald an seine Grenzen gelangt, wird deutlich, als Seemann zu den beiden stößt und Gott für den Selbstmord Lienhardts dankt, den er als Zeichen der Bestätigung seiner Überzeugungen interpretiert. Hopp ist entsetzt über die Verblendung seines Schülers: Ihr Freund hat sich erschossen und Sie danken Gott dafür, Sie haben um seinen Tod gebeten. […] Denken Sie an die Abende bei mir, denken Sie daran, daß alles ohne mich nicht geschehen wäre und daß ich heute, wo mein Samen Früchte, gute und schlechte Früchte trägt, nicht weiß, was geschieht. (GT, 64 f.)

Der Hinweis auf die guten und schlechten Früchte der wohlgemeinten pädagogischen Absicht lassen bereits eine erste Irritation der Überzeugungen Hopps erkennen. Während sich der Konflikt innerhalb der Schülergemeinschaft zuspitzt, bleibt Hopp abwesend und tritt erst im vierten Aufzug wieder auf, um seine Ernüchterung in Anbetracht der Entwicklung der Situation einzugestehen. Er schildert dem Großvater, wie ihm der Glaube an seine pädagogische Theorie abhanden gekommen sei: 684 Nach Ernst Meumann, vgl. dazu Kapitel II.2.

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Vor zwei Tagen dachte ich noch, die Zügel in der Hand zu halten und nach meinen Absichten zu experimentieren. Die Jugend hat mir die Zügel aus der Hand gerissen und eint sich und befehdet sich und geht ihre Wege nach unerschöpflichen eigenen Gesetzen. Ich stehe da als Zuschauer, muß die Hände in den Schoß legen und muß mir sagen, daß ich ohnmächtig bin. […] Menschenseelen unterliegen nicht hunderten und tausenden Einflüssen in ihrem Werden, sondern unzähligen Einflüssen, und nie wird ein Mensch fähig sein, sie alle zu erfassen. Was er auch tun mag, immer wird er vor Überraschungen stehen. (GT, 122)

In aller Deutlichkeit formuliert der Lehrer hier die Einsicht in die Unmöglichkeit von Erziehung in Anbetracht der Eigengesetzlichkeit des Lebens, die auch der Großvater bekräftigt: »Ja, alles Lebendige ist unerforschlich. […] Ein letzter Rest von Möglichkeit bleibt immer übrig. Diese kleine Möglichkeit, diese Überraschung, der wir immer gewärtig sein müssen, gibt dem Leben eine stets neue Spannung.« (GT, 120) Diese fatalistische Erkenntnis kontrastiert mit dem naturwissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus, den der Lehrer in der Rekapitulation seiner Studien anzitiert. Er muss einsehen, dass seine einschlägigen Lektüren über »Vererbung […], rationelle Pädagogik […], Wirkung des Milieus, der Rasse […]« (GT, 121) – die Schlagworte rufen Ansätze des wissenschaftlichen Positivismus eines Auguste Comte oder Hippolyte Taine in Erinnerung – ihn nur vermeintlich mit einem Wissen ausgestattet haben, das ihm pädagogischen Erfolg garantiert. Diese Ernüchterung erklärt auch seinen Wandel zum Pragmatiker, der in die von einem Vater erbetene Kündigung einwilligt. »Vor zwei Tagen hätte ich es nicht getan. […] Heute kann ich es [gemeint ist der Widerstand gegen die elterliche Bitte, G.W.] nicht mehr. Ich fühle mich ohnmächtig […]. Ruhe, Ruhe brauche ich, ein entsagungsvolles Abwarten der Ereignisse.« (GT, 133) Der ehemals aktivierende und motivierte Lehrer ist in eine neuartige Passivität verfallen. Diese Selbstdiagnose und die vom Großvater fast heiter formulierte Einsicht in die »Möglichkeit« und »Überraschung« des Lebendigen wird durch Seemanns Selbstmord in einer zynischen Wendung noch bekräftigt. Der Selbstmord bestätigt die Worte der Männer durch die Tat. Das Ende des Dramas unterstreicht die Einsicht in die Müßigkeit aller pädagogischen Unternehmungen. Der Text formuliert diese Einsicht so deutlich wie kein vorheriger, weil sein Gegenstand eigentlich kein pädagogischer mehr ist. An Lehmanns Drama wird ein beginnender Wechsel im Leitdiskurs erkennbar : Woran der Großvater und der Lehrer verzweifeln, ist die Politisierung der Schülerschaft, der mit pädagogischen Mitteln nicht mehr beizukommen ist. Im Tod seines Enkels wiederholt sich für den Großvater das Leid, das er mit dem verfrühten Tod seines Sohnes bereits einmal durchleben musste. Er formuliert in den letzten Worten des Dramas die Verzweiflung über diese Fruchtlosigkeit seiner Erziehungsversuche:

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Otto, mein Junge … ist es wahr, daß alles zu Ende ist? Für dich habe ich gelebt, nur für dich habe ich gefühlt und gesorgt und gedacht. Was ein Mensch geben kann von seiner Seele, das gab ich dir. Alles, alles … solltest du erfüllen und jetzt gingst du dahin … Verzweifelt steh ich da und … ohnmächtig. Du warst mein Glaube, du warst mein Leben … du warst … alles, alles warst du … (Tonlos.) Was bleibt mir jetzt … Was bleibt der Welt … ? (GT, 143)

Das fast schon sprachlose Stammeln des Großvaters, welches das Drama beschließt, drückt Hilflosigkeit in Anbetracht eines Kontrollverlusts aus. Die Vertreter der älteren Generation, so fortschrittlich sie sich in ihrer pädagogischen Haltung wähnen, sehen ihr erzieherisches Handeln ins Leere laufen, mit dem sie – wortreich begründet und wissenschaftlich versiert – an ihre Kinder respektive Schüler herangetreten waren. Wenn sich auch die Mehrheit der Gruppe von dieser Haltung zur Räson bringen lässt, so bleibt doch mit dem Opfer Seemanns die inkommensurable Verstörung des als naiv entlarvten Glaubens an die Wirkmächtigkeit pädagogischer Anstrengungen bestehen: Es zeugt von einer autonom gewordenen, politischen Energie zu einer Gemeinschaftsstiftung, die – wie gezeigt wurde – anstelle von intellektueller Begründung asemantische Mittel wählt. Die von Seemann verkörperte Weltanschauung verweigert sich dem Gespräch und schreckt im aktionistischen Elan vor Menschen- und vor dem Selbstopfer nicht zurück, ja sie ist geradezu wesensmäßig auf diese angewiesen. Zurück bleibt nicht zuletzt der ohnmächtige Vertreter einer Institution, deren bürokratische Logik in Anbetracht des charismatischen Absolutheitsanspruchs außer Kraft gesetzt worden ist.

b.

Reformpädagogik als rhetorisches Unternehmen: Wilhelm Lehmanns Bearbeitungen der Konflikte um Gustav Wyneken in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf Den wahren Prosastil kann ich nicht schreiben, zum Gedicht langt’s aus anderen Gründen nicht, + [sic!] so schaufle ich prustend, nilpferdhaft, empfindlich, gereizt einher, anderen und mir selbst ein unangenehmes Schauspiel. Mag der Teufel wissen, wie Du zu dem Glauben an mein Talent kommst! […] Meine neue Arbeit fängt an »Der Tag kreischte mit den Farben des Kakadus« (Haste Wochte? d e r Dichter!) – nicht wahr, Du hast keinen Appetit!?!?685

Im Oktober 1915, während der Arbeit an seinem ersten Roman mit dem Titel Der Bilderstürmer, fehlt Wilhelm Lehmann offenkundig das Vertrauen in seine li685 Wilhelm Lehmann an den Lektor des Fischer-Verlags, Moritz Heimann, am 24. Oktober 1915, zitiert nach Jochen Meyer: Anhang, in: Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke. Bd. 2: Romane I. Hg. von Jochen Meyer. Stuttgart 1984. 412.

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terarischen Fähigkeiten, wenngleich ihm die Selbstironie nicht abzusprechen ist. Tatsächlich besticht der Bilderstürmer durch eine eigenwillige, ins Lyrische und teilweise ins unfreiwillig Komische neigende Naturmetaphorik. Darin deutet sich Lehmanns spätere Hinwendung zu naturmagischer Lyrik an, als deren Begründer er literaturgeschichtlich erinnert werden wird.686 Seine weitgehend unbeachtet gebliebenen literarischen Anfänge spielen sich dagegen im Bereich der Prosa ab und lassen sich als Variationen eines immer gleichen Motivs lesen: Gegenstand der Romane Der Bilderstürmer (1917), Die Schmetterlingspuppe (1918) und Der Weingott (1921) sowie der Erzählungen Der vogelfreie Joseph (1922) und Das fröhliche Thal (1918, unveröffentlicht) ist stets ein existentiell ruheloser Pädagoge auf der »Suche nach einer Einheit von Mensch und Natur«687, der aber aus verschiedenen Gründen scheitert. Lehmann ist zu dieser Zeit – nach seiner Promotion mit einer Arbeit über Das Präfix uz- im Altenglischen – an verschiedenen, teilweise reformpädagogisch orientierten Schulen als Lehrer tätig. Währenddessen fürchtet er allerdings die Einberufung in den Krieg, die er stets zu umgehen versucht.688 Auch sind einige wenige pädagogische Schriften aus dieser Zeit überliefert.689 Es wäre allerdings ein Missverständnis, Lehmanns literarische Texte nur als Verarbeitung seiner Zeit als Lehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf zu betrachten. Obgleich er sich im obigen Zitat die Kompetenz zum Gedicht abspricht, lässt sich seine Prosa passagenweise als Experiment mit lyrischen, spezifisch naturlyrischen Ausdrucksmitteln begreifen. Eben diese sind es auch, die in den ersten Besprechungen seiner Texte besonders gewürdigt werden.690 Überdies sind die pädagogischen Konflikte in eine Philosophie eingebettet, welche die Möglichkeit einer Synthese von Geist und Natur verhandelt: Erst so gelesen, entfalten Lehmanns Erzählungen und Gedichte den ihnen zugrundeliegenden Protestcharakter, der sich gegen jede Form von Totalitarismus und kollektiven Zwangs verwahrt. Nur wenn man sie so versteht, gewinnen sie ihr kämpferisches Pathos für das Recht des Einzelnen auf sich selbst, entfalten sie ihre Liberalität, die auf einer Gemeinschaft aller Kreaturen der Schöpfung und einem Wissen um das Einge-

686 Detlev Schöttker : »Wilhelm Lehmann«, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walter Killy. Bd. 7. München 1990. 191 f. 687 Ebd., 192. 688 Aus dem Dienst als Landsturmmann konnte er sich später beurlauben lassen, indem er im Gegenzug militärische Geschichten anbot. Eine dieser Auftragsarbeiten ist Das fröhliche Thal (1918). 689 Vgl. Wilhelm Lehmann: »Zur Psychologie des Lehrers (1914)« sowie »Können Lehrer Schmerz empfinden (vermutl. 1919)«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8: Autobiographisches und vermischte Schriften. Hg. von Verena Kobel-Bänninger. Stuttgart 1999. 407 f. bzw. 414 f. 690 Vgl. Meyer: Anhang, 421.

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bettetsein aller menschlichen Ordnungen in die übergeordnete kosmische Gesetzmäßigkeit beruht.691

Wiewohl sich also die frühe Prosa zunächst als erste Manifestation von Lehmanns Poetologie betrachten lässt, die in seinem späteren Werk noch deutlicher zum Ausdruck kommen wird,692 so scheinen die Ereignisse in Wickersdorf, speziell der reformpädagogische Ehrgeiz des Leiters Gustav Wyneken, einen Aspekt dieser Poetologie anzusprechen, sich gleichsam als ihr Gegenstand aufzudrängen und so möglicherweise die Intensität zu erklären, mit der sich der Autor ihnen in seinem Frühwerk widmet.

Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf (FSG) und Gustav Wynekens pädagogische Heilslehre Die FSG ist ein für die Reformpädagogik der Jahrhundertwende exemplarisches Schulprojekt, das in kaum einer zeitgenössischen erziehungswissenschaftlichen Besprechung fehlte. Gegründet wurde sie 1906 von Gustav Wyneken und Paul Geheeb. Beide hatten vorher mit Hermann Lietz, dem Gründer der Landerziehungsheime, zusammengearbeitet, sich aber nach Meinungsverschiedenheiten von diesem getrennt. Auch zwischen Geheeb und Wyneken kam es bereits 1908 zum Bruch.693 Die Geschichte der Schulgemeinde, die hier interessiert – also die Zeit von ihrer Gründung bis zu Wynekens endgültigem Abschied im Jahr 1920 –, lässt sich als permanenter externer wie interner Konflikt begreifen. Extern, weil die Schule mit ihrem Status als GmbH der staatlichen Anerkennung bedurfte, die jeweils nur zeitlich befristet vergeben wurde.694 Intern, weil Gustav Wynekens Führungsstil unter Schülern, Eltern und insbesondere im Kollegium keineswegs unumstritten war und immer wieder Konflikte provozierte.695 Als der brisanteste und bekannteste dürfte der schließlich vor Gericht ausgetragene Streit um Wynekens Interpretation des ›pädagogischen Eros‹ gelten: Wyneken hatte im Jahr 1920 zwei Schüler aus dem engeren Kreis seiner Kameradschaft nackt 691 Gunter E. Bauer-Rab¦: Hälfte des Lebens. Untersuchungen zu den Tagebüchern Wilhelm Lehmanns 1900 – 1925. Würzburg 1986. 114 f. Bauer-Rab¦ beschreibt außerdem ausführlich Lehmanns intellektuelle Interessen in der Wickersdorfer Zeit, aus denen heraus sich diese Weltanschauung entwickelte; geradezu besessen las Lehmann die deutschen Romantiker sowie englische und irische Literatur. Vgl. ebd., 84 f. 692 Vgl. Axel Goodbody : Natursprache. Ein dichtungstheoretisches Konzept der Romantik und seine Wiederaufnahme in der modernen Naturlyrik (Novalis – Eichendorff – Lehmann – Eich). Neumünster 1984 (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 17). 693 Vgl. Heinrich Kupffer: Gustav Wyneken. Stuttgart 1970. 49 f. 694 Ein chronisches Problem waren beispielsweise Fragen der Lehrplantreue und Leistungsanforderungen, vgl. Peter Dudek: »Versuchsacker für eine neue Jugend«. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906 – 1945. Bad Heilbrunn 2009. 139. 695 Für Einzelheiten vgl. ebd..

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umarmt. Der eigentliche Hergang des Vorfalls wurde nie aufgeklärt. Das Rudolstädter Landgericht verurteilte ihn zu einem Jahr Gefängnis – ein Urteil, das in einer Revisionsverhandlung zwar bestätigt, aber nicht vollstreckt wurde.696 Die Konzeption der FSG ist untrennbar verbunden mit Gustav Wynekens pädagogischer Philosophie oder vielmehr : Weltanschauung, einem Amalgam verschiedener zeitgenössischer Denktraditionen. Nicht nur hatte er die einschlägigen Kulturkritiker Friedrich Nietzsche, Paul de Lagarde und Julius Langbehn gelesen; bei der Entwicklung seiner Pädagogik machte er auch Anleihen bei mystisch-gnostischen und monistischen Denkmodellen sowie mythologischen Konzepten.697 Dabei beschränkt sich sein Einfluss nicht auf den pädagogischen Bereich; auch auf Künstlerkreise übte er offenbar zumindest zeitweilig eine starke Anziehungskraft aus.698 Was seine pädagogische Philosophie betrifft, findet sie ihren prägnantesten Ausdruck in der 1913 erschienenen Schriftensammlung Schule und Jugendkultur. Wyneken hatte darin auf Anregung des »Bundes für Freie Schulgemeinden« hin eine Reihe von Schriften gebündelt, die zum größten Teil zwischen 1908 und 1910 in den Wickersdorfer Jahrbüchern erschienen waren. Seine pädagogische Philosophie ist in ein teleologisch orientiertes Geschichtsmodell eingebettet, das als ontogenetisches wie phylogenetisches Ziel die Herrschaft des »objektiven Geistes«699 vorsieht. Wenngleich er damit begrifflich an Hegel anschließt,700 unterscheiden sich die Konzepte deutlich, denn Wynekens Philosophie ist von skeptischer Distanz zur institutionellen Ordnung des Staates und zur Geschichte geprägt. Seine Auffassung des Geistes zeichnet sich zunächst durch eine Abgrenzung von der Natur aus: Gegenüber der chaotischen Kontingenz, die Wyneken zufolge das natürliche Triebleben und damit noch das Kindesalter kennzeichnet,701 soll der objektive Geist als von menschlichen Setzungen unabhängiges Prinzip Ordnung stiften. Wegen seiner 696 Kupffer : Gustav Wyneken, 131. Dass das Ereignis in der breiteren Öffentlichkeit auf eine milde bis wohlwollende Gesinnung stieß, führt die Forschung auf ein vermeintlich fortschrittliches Selbstverständnis der Bevölkerung in Fragen der Sexualmoral zurück. Vgl. ebd., 131 f. und Dudek: Versuchsacker für eine neue Jugend, 276 f. 697 Vgl. im Detail Kupffer : Gustav Wyneken, 9 f. 698 So war er etwa an den Aktivitäten der für Themen der Jugendbewegung und des Expressionismus einschlägigen Zeitung Der Anfang beteiligt: »Zum anderen artikulierte sich die Jugendbewegung als Jugendkulturbewegung. Ihr ›Führer‹ war Gustav Wyneken, sein aktivster und wirkungsvollster ›Schüler‹ war Siegfried Bernfeld, ihr publizistisches Organ ›Der Anfang‹.« Herrmann: Pädagogisches Denken, 169. Allerdings kam es auch dort recht bald zu Zerwürfnissen, die auf Wynekens problematischen Charakter zurückgeführt werden. Vgl. Korte: Expressionismus und Jugendbewegung, 92 f. und 101. 699 Gustav Wyneken: Schule und Jugendkultur. Jena 1913. So auch der Titel eines dort abgedruckten Aufsatzes, vgl. 5 – 12. 700 Vgl. ebd., 6. 701 Vgl. ebd., 5.

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utopischen Konzeption hat Wyneken allerdings Schwierigkeiten, den Geistesbegriff genauer zu bestimmen, wie er auch an anderer Stelle eingesteht: Er sei zunächst nur »eine logisch notwendige Hilfskonstruktion, der in Wirklichkeit nichts entspricht, denn er soll ja erst ›verwirklicht‹ werden.«702 Er teilt den objektiven Geist in die Komponenten des objektiven Intellekts – den er in der rasanten gesellschaftlichen Entwicklung des abstrakten Denkens, der Sprache und der Wissenschaften verkörpert sieht703 – und des objektiven Willens, der Wyneken zufolge mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten kann. Auf dessen Ausbildung kommt es ihm an: Wie es nun einen objektiven Intellekt gibt […], so gibt es auch einen objektiven Willen, und wir dürfen das Analogon der Sprache für ihn einmal bezeichnen als Staat. Unter diesem einen Namen wollen wir vorläufig alles zusammenfassen, was dem Individualwillen sich als übergeordneter Wille, als ein Soll, gegenüberstellt. […] Dieser objektive Geist qua Wille ist eben das Soll, das jeden Willensvorgang begleitet und uns erscheint als ›Gewissen‹, d. h. als Sozialwille […]. Da, wo zum ersten Male im Tierreich das Individuum das eigne Leben in die Schanze schlägt für seine Gesellschaft, da offenbart sich der höhere Geist als Wille […].704

Die Argumentation zielt also auf das Konzept einer Gemeinschaft ab, die ihren Sinn jenseits ihrer einzelnen Mitglieder hat und nur mehr Medium zur Realisierung einer übergeordneten Idee ist, wie Wyneken – unter Berufung auf eine missverstandene Kant-Lektüre705 – darlegt: »Denn in der Tat hat kein soziales Gebilde einen wirklichen Geist; sondern es ist nur Mittel für den Geist, sich zu entfalten.«706 Entsprechend ist das Konzept des objektiven Geistes mit einer suggestiven Aura versehen, die seine irrationale und autoritäre Natur erahnen lässt: »Übrigens werden wir […] um unsre Zustimmung nicht mehr gefragt. Der Geist ist einmal in der Welt aufgeleuchtet, und er verbreitet sich in uns unwiderstehlich, wie das Licht.«707 In dieser Konstruktion deutet sich überdies ein Denkmuster an, das die Bereiche des Geistigen und des Politischen – verstanden als Sphäre der Machtkämpfe, langatmiger Debatten und Interessenkonflikte – trennt und letzterem mindestens mit Skepsis begegnet. Gleichwohl sind, wie noch zu zeigen sein wird, in Wynekens Entwurf des objektiven Geistes genuin politische Ambitionen verborgen. In diesem Gedankengerüst hat staatlich und familiär organisierte Erziehung 702 Gustav Wyneken: Der Kampf für die Jugend. Jena 1919. 53. 703 Vgl. Wyneken: Schule und Jugendkultur, 8. 704 Ebd.. Hvbg. i. O. Dieses Staatsmodell trägt Spuren von Wynekens Beschäftigung mit der Philosophie Arthur Schopenhauers und Eduard von Hartmanns, vgl. Kupffer: Gustav Wyneken. 14 f., 20. 705 Vgl. Wyneken: Schule und Jugendkultur, 8, 11. 706 Ebd., 7. 707 Ebd., 9. Vgl. auch 10, 111.

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entsprechend auch keinen Ort mehr. Der Familie spricht er die Kompetenz zur Erziehung rundherum ab,708 und zu seiner eigenen Schule kündigt er an: Wir werden geradezu mit Sorgfalt selbst Namen und Formen vermeiden, die an staatliche Institutionen erinnern. Eine Schule ist kein Staat; sie in staatliche Formen zu kleiden ist ein Ausdruck von Hilfs- und Phantasielosigkeit. […] Es wird ein StaatSpielen, eine Wichtigtuerei, politischer Ehrgeiz usw. einreißen, wovon doch wahrhaftig die Schule freibleiben soll.709

Anstelle der an strategischen Interessen orientierten Ausbildung rückt die »Persönlichkeitserziehung« in den Mittelpunkt, die – freilich gerade im Gegensatz zu dem als Pathologie der Gegenwart begriffenen »sentimentalen Kultus der individuellen Persönlichkeit«710 – auf das Aufgehen des Individuums in der dem objektiven Geist verpflichteten Gemeinschaft vorbereiten soll. Wyneken stilisiert dies zu einer Epiphanie: […] an Stelle der einen Wahrheit und Schönheit leuchten weit und breit ihrer tausende auf, und diejenigen, in denen sie aufleuchten, erleben zum ersten Male das organische Zusammenwachsen, die innere Identität des subjektiven und des objektiven Geistes, die große Wiedervereinigung des Kindes mit seinen Kindern, die große Wiedererkennung.711

Die Schule ist so der Mitarbeit an der Entwicklung des objektiven Geistes verpflichtet, sie ist »die Institution, die das Einzelbewusstsein teilnehmen lässt am Gesamtbewusstsein der Menschheit«712 – damit aber kaum mehr staatliche Institution. Wenngleich Wyneken selbst den Begriff der Institution mal positiv und mal negativ wertend verwendet,713 ist diese Verwendungsweise an sich bereits aufschlussreich für sein Verständnis der neuen Schule. In seiner negativen Verwendung meint der Begriff die Institutionen der gegenwärtigen, in ihrer bürokratischen Organisation kritisch beurteilten gesellschaftlichen Ordnung. In der positiven Wertung zielt Wyneken jedoch auf den formalen Charakter der Institution ab, die in dieser Weise als Manifestation des objektiven Geistes der Beliebigkeit ihrer Inhalte übergeordnet ist: Die Summe oder vielmehr das System unseres objektiven geistigen Besitzes nennen wir Kultur. Also Kultur zu bewahren, zu pflegen, fortzupflanzen, ist Aufgabe der Schule. Das hat zur Voraussetzung Ehrfurcht vor diesen objektiven Geistesgütern, vor Insti708 Vgl. ebd., 13 f. 709 Vgl. ebd., 108. So auch Wynekens Argument in dem Aufsatz »Staatliche Erziehung«, ebd., 56 – 60. 710 Ebd., 21. 711 Ebd., 22. 712 Ebd., 62, Hvbg. i. O. 713 Besonders prägnant im Aufsatz »Politische Erziehung«, ebd., 106 – 12; die ambivalente Verwendung gilt auch für Wynekens Staatsbegriff.

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tutionen, Gedanken, Kunstwerken. Alle Erziehung wird also auf die Schätzung der Form abzielen, auf die Erkenntnis vom selbständigen Wert der Sache (Idee), und dem nur relativen der Äußerungen rein persönlichen Lebens. In diesem Sinne wird Kultur des Lebens – das heißt doch Respekt vor Formen und Wille zu Institutionen – die Signatur einer Schule sein, die sich und ihre Idee gefunden hat.714

Das bedeutet auch die Absage an Lehrerfiguren, wie sie für die im ersten, negativen Sinn gemeinte institutionelle Ordnung charakteristisch und als literarischer Typus bekannt waren: »Unter dem hellen, scharfen Licht einer großen Aufgabe und Idee sinken alle persönlichen Prätensionen [sic!] machtlos in sich zusammen; der Schulpedant, der Schultyrann, der Schulbanause kann nicht gedeihen.«715 Eben auf diese Weise entsteht aber auch die neue Form der Gemeinschaft: »Und so bildet sich denn aus den wahren, strebenden Erziehern und ihren Zöglingen ein brüderlicher Orden, zusammengehalten durch den Glauben an ihre gemeinsame Sache und damit zugleich an ihre Schule.«716 Das ruft die Sozialform des Männerbundes in Erinnerung: Es handelt sich bei Wynekens Vision um eine elitäre, homosoziale Gemeinschaft, die durch die Verwendung heilsgeschichtlichen Vokabulars religiös überhöht wird. Heinrich Kupffer hat in diesem Zusammenhang auf das Konzept der Gemeinde aufmerksam gemacht, das Wyneken in seinen Schriften wiederholt verwendet.717 Kupffer schreibt zur zeitgenössischen Prominenz dieses Konzeptes: Das Denkmodell der Gemeinde findet sich vor allem dort, wo ein führender Geist einen Kreis von Jüngern um sich schart. Dies kann unmittelbar durch persönliche Ausstrahlung geschehen oder mittelbar durch schriftliche Äußerungen, die als Leserschaft eine gläubige Gemeinde erwarten. Hier ist etwa an George, Steiner, (H.) Keyserling, R. M. Holzapfel und Pannwitz zu denken, aber auch an bestimmte Gruppen der Bündischen Jugend. […] Wo das Gemeinde-Denken nicht nur an eine Person gebunden ist, sondern auch eine Weltanschauung zugrunde legt, begünstigt es die Institutionalisierung der zu vermittelnden ›Lehre‹ in Gestalt von ›Schulen‹.718

Der Begriff der Gemeinde drückt die quasi-religiöse Dimension von Wynekens Gemeinschaftsverständnis besonders deutlich aus. In diesem Zusammenhang kommt der Polysemie des Begriffs ›Schule‹ aus dem letzten Satz des Zitats paradigmatische Bedeutung zu. Im Anschluss daran lässt sich die These formulieren, dass die späte Schulliteratur eine Entwicklung weg von der Schule hin zu den Schulen beschreibt, als deren Anführer zunehmend selbsternannte Prophetenfiguren auftreten; eine Bewegung, die sich von staatlicher Institutiona714 715 716 717

Ebd., 64, m. Hvbg. Ebd. Ebd. Es ist anzunehmen, dass Wyneken die Begriffe ›Gemeinde‹ und ›Gemeinschaft‹ synonym verwendete. Vgl. dazu auch Oelkers: Reformpädagogik, 232. 718 Kupffer : Gustav Wyneken, 30.

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lisierung löst und sich an selbsternannten Gemeinschaftsstiftern orientiert.719 Damit einher geht eine Aufwertung ihrer Form: »Gemeinschaft ist innere Ganzheit, sie ist ›Gemeinde‹ und so auch Schulgemeinde, die der normalen Institution Schule widerspricht. Sie genügt nicht den ästhetischen Anforderungen, sie ist profan, während ›Gemeinden‹ erhaben sein müssen.«720 Ein solcher Fall einer Schulgemeinschaft ist Gustav Wynekens FSG, und der Gemeinschaftsgedanke ist eines der Kernelemente ihres pädagogischen Profils. Die Affinität des Konzepts zu Strukturen wie etwa dem George-Kreis ist dabei kein Zufall. Vielmehr lässt sich dieser mit Rainer Kolk als »Selbstdeutungsmuster« der FSG begreifen: Das Selbstverständnis der Schulgemeinden orientiert sich am Meister/Jünger-Modell ebenso wie an ordensähnlichen Sozialformen; der Freundschaftskreis wird im Medium der Lyrik Georges inszeniert, die semantische Vorlagen liefert. Wynekens Programm einer elitären, messianisch aufgeladenen Vision vom neuen Menschen in neuer Gemeinschaft ist rhetorisch ›kompatibel‹ mit den lyrischen Kodifizierungen des GeorgeKreises – und mit den prophetischen Visionen expressionistisch bewegter Rettungsund Erlösungsutopien. Dass es in diesem Geflecht kulturkritischer Topoi und antizivilisatorischer Lebensreformprojekte nicht um die Präzisierung von Gesellschaftsanalyse geht, sondern um eine Art lyrischer Letztbegründung für zumal in sozialer Praxis stark differierende Handlungsmodelle, braucht kaum noch betont zu werden.721

Dabei ist der egalitäre Charakter der Gemeinschaft, den Wyneken verschiedentlich betont – etwa im Bild der »sich selbst erziehende[n] Gemeinschaft«722 – reine Rhetorik. Das Gemeinschaftskonzept kennzeichnet das logische Paradox, dass Lehrer und Schüler einerseits als ›Kameraden‹ gleichwertig sein sollen, dass es aber andererseits Führende und Geführte gibt: »Führende keineswegs allein unter den Lehrern; es kann ältere Schüler geben, die es in höherem Grade sind als manche Lehrer.«723 Hier kommt das Konzept eines geistigen Adels zum Ausdruck, das im Gegensatz zu Altersunterschieden zum einzigen Kriterium von Autorität wird. In diesem Sinn basiert Wynekens Weltanschauung auf einer elitären Anthropologie,724 die nicht zuletzt die bei Saudek diskutierte Opferbe719 Für diese These spricht nicht zuletzt die Beobachtung, dass die noch in der frühen Schulliteratur prominente Synekdoche der Schule als ›Staat im Staat‹ später nicht mehr auftaucht. 720 Oelkers: Reformpädagogik, 232. 721 Rainer Kolk: Literarische Gruppenbildung: am Beispiel des George-Kreises 1890 – 1945. Tübingen 1998 (Communicatio, Bd. 17), 443. Der George-Kreis wird auch in anderen Studien als Bezugsgröße aufgerufen, vgl. Dudek: Versuchsacker für eine neue Jugend, 80 f., und tatsächlich wurde im Wickersdorfer Lehrplan auch Georges Lyrik behandelt, vgl. ebd. 81 f. George selbst stand allerdings der FSG kritisch gegenüber, vgl. ebd. 83 f. 722 Wyneken: Schule und Jugendkultur. 92, Hvbg. i. O. 723 Ebd., 107. 724 Vgl. ebd., 27 f.

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reitschaft voraussetzt: »[…] es kann Zustände geben, in denen das Leben nicht mehr absoluten Wert besitzt, sondern im Rausch eines höheren Glückes sich freudig zum Opfer darbringt, sei es anderen Personen, sei es einer großen Sache.«725 Eben diese Anthropologie gestattet es ihm, gleichsam unterhalb seiner egalitären Rhetorik ein zweites Argument zu führen. Das oben angedeutete Gründungsparadox, dem das erste Modell unterliegt – wer stiftet die Gemeinschaft, wenn alle Mitglieder gleichwertig sind? –, löst er durch die autoritäre Unterbrechung dieser logischen Oszillation, indem er ihr eine abgestufte Anthropologie und die resultierende »freie Hingabe an selbstgewählte Führer«726 entgegenstellt. Unter anderem auf derartige Ermächtigungsbestrebungen müssen wohl die Wickersdorfer Querelen zurückgeführt werden. Wynekens Rolle lässt sich dabei mit Max Weber als die einer charismatischen Führerpersönlichkeit beschreiben, die gerade durch ihre Außeralltäglichkeit charakterisiert ist: Charismatische Herrschaft, kraft affektueller Hingabe an die Person des Herrn und ihre Gnadengaben (Charisma), insbesondere: magische Fähigkeiten, Offenbarungen oder Heldentum, Macht des Geistes und der Rede. Das ewig Neue, Außerwerktägliche, Niedagewesene und die emotionale Hingenommenheit dadurch sind Quellen persönlicher Hingebung. […] Der Verwaltungsstab ist ausgelesen nach Charisma und persönlicher Hingabe; dagegen weder nach Fachqualifikation (wie der Beamte) noch nach Stand (wie der ständische Verwaltungsstab) noch nach Haus- oder anderer Abhängigkeit […].727

Diese Diskrepanz zwischen der charismatischen Aura einer selbsternannten Prophetenfigur und der prosaischen Erscheinung des bürokratischen Beamten hat Hans Blüher in einer Weise beschrieben, welche die Umwertung der Institution Schule und ihres Personals präzise benennt: »Ersetzte man einen Männerhelden […] durch einen Oberlehrer, so brach selbstverständlich alles zusammen.«728 Diesem auratischen Gebaren entspricht in Wynekens Werk schließlich auch eine profunde Sprachskepsis, die das gesprochene und geschriebene Wort geringschätzt und demgegenüber die Tat aufwertet: So gibt er zu, seiner pädagogischen Weltanschauung entspreche weniger eine Erklärung »in Begriff und Wort« denn eine Ausführung »in Werk und Tat.«729 Es ist daher nur schlüssig, dass er als sein Werk nicht die schriftlichen Dokumente, sondern die realweltlichen Ergebnisse seines Wirkens ansieht: »Und ich persönlich habe kaum das Bedürfnis, Bücher über Erziehung zu schreiben und betrachte noch 725 726 727 728 729

Ebd., 20. Ebd., 27. Weber : Wirtschaft und Gesellschaft, 221. Blüher: Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft, Bd. 2, 119. Wyneken: Schule und Jugendkultur, 2.

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immer als mein eigentliches Buch meine Gründung in Wickersdorf.«730 Diese Haltung führt aber in den Texten, wie am Beispiel des ›objektiven Geistes‹ dargestellt, häufig zu einer suggestiven Beschwörung diffuser Gemeinschaftsvisionen731, die inhaltlich vage bleiben: Gläubigkeit, Gehorsam, Treue, Opferwille, Heiligkeit, Kampf und Wahrheit werden von Wyneken zwar religiös überhöht, aber nicht inhaltlich ausgefüllt. Der Gefolgsmann kann diese Tugenden daher nicht aus eigener Verantwortung üben, sondern bleibt von Fall zu Fall auf die Interpretation durch den Stifter angewiesen. Wynekens religiöse Ambition stellt also im wesentlichen eine Funktion seines persönlichen Geltungswillens dar.732

Die These der folgenden Überlegungen ist, dass Lehmann in seinen Texten Wynekens ambivalentes Schulprojekt kritisiert und dabei nicht zuletzt die charismatische Aura seines Stifters entlarvt, indem er es auf diese rhetorische Strategie hin kenntlich macht. Wenngleich diese beiden Aspekte auch in den anderen Texten Lehmanns zumindest angedeutet werden, stehen für die Analysen der Roman Der Bilderstürmer sowie die Erzählung Vogelfreier Joseph im Mittelpunkt, weil sie diese Beobachtung am prominentesten entfalten.733 Schulreform als suggestives Raunen: ›Der Bilderstürmer‹ (1917) Der Bilderstürmer ist Lehmanns erster Roman, verfasst zu einer Zeit, als er gerade erste Veröffentlichungen in Zeitungen vorweisen konnte. Er findet erstmals 1915 Erwähnung, als Wyneken an der FSG wieder einmal für negative Schlagzeilen sorgte. 1910 hatte er Wickersdorf auf Verlangen des Ministeriums verlassen müssen, seitdem war Martin Luserke Schulleiter. Wyneken verstand diesen jedoch weniger als gewöhnlichen Nachfolger denn als hörigen Statthalter seiner Person und versuchte von nun an, Einfluss auf die Entwicklung der Schule zu nehmen. Diese konfliktreiche Konstellation belastete das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern, ja spaltete die Schulgemeinde insgesamt in die Anhänger Luserkes und diejenigen Wynekens. Lehmann stand dabei auf der Seite Luser730 Ebd. 731 Vgl. etwa Wynekens Schlussworte des Vorworts von Schule und Jugendkultur : »Durch drei dunkle Jahre haben mir diese Fackeln geleuchtet – wie könnte ich anders, als der Jugend die Treue halten; der Jugend, die mir einmal ihr Herz geschenkt hat, und auch dem großen, unbekannten Heere, von dem ich glaube, dass es auf unseren Ruf wartet.« Ebd., 3. 732 Kupffer : Gustav Wyneken, 182. 733 Aus diesem Grund wird auch der Vogelfreie Joseph hier berücksichtigt, wenngleich er zeitlich etwas jenseits des für das Korpus betrachteten Zeitraumes liegt. Lehmanns Texte sind nicht die einzige literarische Auseinandersetzung mit Wynekens Reformprojekt. 1929 veröffentlicht Erich Ebermayer, langjähriger Freund Lehmanns und ebenfalls Lehrer an der FSG, den Roman Kampf um Odilienberg, der allerdings wegen des Erscheinungszeitpunktes nicht mehr untersucht wird.

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kes: »Die Reibereien mit Wyneken und seinem Anhang dauern immer noch, sie reiben sehr auf + [sic!] nehmen einem viel Kraft«734, schreibt er 1915 an seine Mutter. 1914 war Luserke zum Militär einberufen worden, geriet aber bereits wenige Wochen später in Kriegsgefangenschaft, die schließlich zu einem Nervenzusammenbruch führte. Seine Abwesenheit nahm Wyneken 1914 zum Anlass, sich der FSG als stellvertretender Schulleiter anzubieten. Die folgenden Jahre waren geprägt von Abwehrversuchen eines Großteils des Wickersdorfer Kollegiums und dem ständigen Insistieren Wynekens, mit Verweis auf seinen Anspruch als Gründer und Stifter der Schule seine aktive Beteiligung einzuklagen.735 Anlässlich von Begrüßungstelegrammen zum zehnjährigen Stiftungsfest der Schule 1916 an Wyneken beziehungsweise Luserke kam es schließlich zum offenen Eklat. Die Reinschrift des Romans fällt mit dem Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen zusammen. Ein Brief Lehmanns an seinen Lektor Moritz Heimann ist aufschlussreich für seine eigene Position innerhalb dieses Konflikts: »Ich bin von allen […] der entschiedenste Gegner von W[yneken].’s ›Jugendkultur‹ und Spittelertum […]«, schreibt er, und ferner heißt es: »Seit Jahr und Tag lebe ich ausserhalb dessen, was hier endlos beredet, beredet, beredet wird.«736 Lehmanns Bemerkung deutet an, dass Wynekens aktivistische Beschwörung der Tat und seine Absage an die von individuellen Egoismen bestimmte politische Kultur im Wickersdorfer Alltag offenbar nicht aufgingen, ja vielmehr in ihr Gegenteil umschlugen: in endloses Sprechen, das dem pädagogischen Handeln im Weg stand. Die zwölf Kapitel erschienen zunächst bis zum Dezember 1916 in Abschnitten von drei, fünf und vier Kapiteln in der Hauszeitschrift des Fischer-Verlags. Unter anderem Alfred Döblin besprach den Roman ausgesprochen positiv.737 Die Kritiken, soviel fällt auf, interessieren sich in einer für die Schulliteratur ungewöhnlichen Weise primär für die literarischen Aspekte des Romans, weniger für die Bezüge zur Biographie seines Autors.738 Nach Erscheinen des Buches im Mai 1917 wurden zunächst in einem guten Monat 433 Exemplare verkauft, das Interesse ging jedoch schnell zurück. Der Bilderstürmer schildert den Versuch eines Schulreformprojekts in einer ländlichen Idylle, der an dem Größenwahn des Reformators Ernst Magerhold (das alter ego Gustav Wynekens) scheitert. Die Handlung ist eingebettet in Naturbilder ; im Verlauf des Konflikts wird gleichsam auch die Natur irritiert. So 734 735 736 737 738

Brief vom 29. April, zitiert nach Jochen Meyer : Anhang, 406. Für Details der Diskussion vgl. Dudek: Versuchsacker für eine neue Jugend, 257 f. Brief vom 4. September 1915, zitiert nach Jochen Meyer, Anhang, 411. M. Hvbg. Vgl. ebd., 417. Insbesondere warfen die Rezensionen Fragen nach der Stilrichtung des Romans auf. Die Kritiker schwankten zwischen der Einordnung des Textes in den »übersteigerten Naturalismus, […] Expressionismus oder Futurismus […]«, ebd., 420.

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dominieren in den ersten beiden Kapiteln Beschreibungen einer anthropomorphisierten Natur739 und des Verhältnisses der Bewohner des Dorfes Hollebüttel zu ihrer Umwelt. Die Landidylle wird aber bereits im dritten Kapitel durch Magerhold gestört, dem der Lehrer Beatus Leube, aus dessen Perspektive ein Großteil des Geschehens berichtet wird, im Dorfgasthof begegnet. Magerhold wird durch einen unvermittelten auktorialen Einschub eingeführt: In das Fremdenbuch hatte er [Magerhold, G.W.] sich als Gymnasiallehrer eingeschrieben. In Wahrheit war er das nicht mehr, war vielmehr, nachdem er an seiner bisherigen Wirkungsstätte große Aufregung verursacht, verabschiedet worden. Sonderbaren, kalt-brennenden Temperamentes, hatte er allen seinen Kollegen am Gymnasium gegenüber eine eigentümliche Stellung eingenommen. Seine rücksichtslose, höchst lebhafte Art sowie seine Lust, die Schule, die Stadt, deren Väter und Familien, am allermeisten Lehrer und Direktor in oft zynischer Weise zu kritisieren, hatte das sehr schnell fertig gebracht. Gegen wirkliche Missstände mit Zorn nicht nur, mit Haß und Wut ankämpfend, konnte er nicht leben, ohne jemand, sei es Mensch, sei es Sache, zu brüskieren. Schwamm einer nicht mit im Strome seiner Theorien, so war ihm auch an dessen Person zum Spotte nichts zu schlecht und nichts zu gut […]. Es war ihm bald gelungen, den Schülern die meisten seiner Kollegen lächerlich zu machen. Die Schüler hingen ihm zu großem Teile mit wahrer Begeisterung an, gegen die nur wenige sich sträubten. Er machte ihnen die Welt verständlich, indem er sie ihnen als bloß seiner von ihm erdachten Ideen und Ideale bedürftig zeigte.740

Magerholds Kunstgriff, den Beruf des Gymnasiallehrers anzugeben, wird sich im Folgenden noch als symptomatisch erweisen. Wie der Erzähler entlarvt, steckt »in Wahrheit« etwas anderes hinter ihm. Bereits seine Verewigung im Fremdenbuch nimmt also die Form eines Betrugs an und weist so auf Magerholds Talent zur sprachlichen Manipulation voraus. Es folgt die Schilderung von Magerholds charismatischem Werben für sein Reformprojekt, das auch Beatus Leube zunächst einnimmt. Magerhold »beschenkte diesen mit einer sehr bestimmten, dringlichen Aufmerksamkeit, wodurch er dessen zerstreutes Sinnen zum Zuhören zwang.« (BS, 31) Die Passage schildert die Führerfigur Magerhold als eine Art Fokalisierungsinstanz, die qua Rhetorik und Charisma die gedankliche Diffusion unterbindet und geistige Sammlung erzwingt. Dabei ist allerdings bezeichnend, dass der Text auch nur diese suggestive Wirkung schildert, über den Gehalt von Magerholds Worten aber keine Aussage trifft. Er vollzieht auf diese Weise die rhetorische Strategie nach, die auch für Wyneken, wie oben ausgeführt, und hier sein alter ego Ma739 Daraus lässt sich schließen, dass es Lehmann neben der Schilderung des Konflikts ebenso sehr um die Entwicklung einer ›Natursprache‹ (vgl. Goodbody : Natursprache, insbes. 161 f.) zu tun war. 740 Wilhelm Lehmann: Der Bilderstürmer, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2: Romane I. Hg. von Jochen Meyer. Stuttgart 1984. 7 – 114, hier 29 f. Im Folgenden Siglenangaben.

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gerhold charakteristisch war. Im Gegensatz zu diesem besitzt Leube »nicht die Fähigkeit, geradeaus zu sprechen, seine Sätze horchten in sich selbst zurück.« (BS, 35) Mit weniger rhetorischer Gewandtheit, aber mehr Feinfühligkeit begabt, beschleicht Leube aber gleichzeitig die Intuition, dass Magerholds Worte mit ihrer kalten Energie eine vernichtende Wirkung haben: »›Leg ich eine Zwiebel in seine Nähe, so keimt sie sicher nicht. Da fehlt etwas.‹« (Ebd.) So mutmaßt Leube und lässt sich doch zunehmend von Magerholds Elan anstecken. Wie für die zeitgenössische Reformpädagogik typisch, wird die Ausgestaltung des Reformprojekts stets in organologischen Metaphern formuliert: »[…] die Magerholdschen Pläne waren wirklich etwas, mit den jungen Leuten ließe sich bestimmt was machen, man könnte ihnen das beste herauslocken, Bodenmischungen herstellen, wo es wüchse, spannenlang.« (BS, 35) Mit dem zunehmenden Engagement Magerholds häufen sich jedoch auch die Anzeichen einer irritierten Natur. Auf einem Spaziergang findet Leube die Leiche einer Frau, die bei der Geburt ihres Kindes gestorben ist; der Säugling liegt – noch lebendig – neben ihr. Wie sich später herausstellen wird, handelt es sich hierbei um das uneheliche Kind Magerholds. Das Reformprojekt nimmt unterdessen Form an, wenn auch nur wenig über seine konkrete Realisierung zu erfahren ist.741 Die eigentliche Gemeinschaftsbildung vollzieht sich an der Peripherie der Schule. Es ist der Lehrer Gilbert Mannhardt – als alter ego Martin Luserkes zu verstehen –, der den »lebhaft schwingenden Kreis« (BS, 64) um sich bildet, welchen Magerhold nicht zu schaffen vermag. Es fällt auf, dass Mannhardt gerade durch seinen Mangel an rhetorischem beziehungsweise überhaupt sprachlichem Vermögen gekennzeichnet ist: »Seine Armut hatte ihn stummes Selbstvertrauen gelehrt, und diese Lehre kündete nicht sein Wort, denn er sprach ungern, sondern sein ganzes Gehaben.« (Ebd.) Was hier geschildert wird, ist die Wirkung eines Gemeinschaftsstifters, die jenseits abstrakter Zeichen vermittelt wird. Es handelt sich hier um eine Gemeinschaft, deren Authentizität gerade durch den Verzicht auf das Sprechen beglaubigt wird – ein für naturalistische Romane des ausgehenden 19. Jahrhunderts charakteristisches Phänomen: Schweigen oder Beinahe-Schweigen ist auf paradoxe Weise vielmehr die wesenhafte, natürliche Art der Gemeinschaft zu sprechen. […] Sprechen, vor allem begriffliche Sprache, erscheint als Mitteilungsweise der gesellschaftlichen Sphäre und damit als zutiefst arbiträre Verlautbarung, in der Dinge und Worte nicht beieinander sind. Die Gemeinschaft dagegen bedarf keiner eigentlichen Verständigung; sie versteht sich 741 Eine der wenigen Passagen, die zum Beispiel Auskunft über Fragen des Lehrplans geben, lautet: »Der Morgen war dem Unterricht gewidmet, meist Realien, möglichst derbe und handgreiflich zum Anfang; am Nachmittage wurde organisierte Feldarbeit […] getrieben.« (BS, 55 f.)

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durch eine gemeinsame Bedeutungswelt hindurch, die im Sprechen schlechterdings veräußert und ihrer Substantialität beraubt würde.742

Wenn Mannhardt spricht, kennzeichnet seine Sprache eine scheinbar naturhafte Authentizität: »Seine wenigen Worte waren ehrlich bereitet wie die Milch aus Wiesengräsern.« (BS, 69) Seine Rede steht damit in deutlichem Gegensatz zur Artifizialität der Magerhold’schen Rhetorik. »Während Mannhardt bei all seinem Tun in Hollebüttel immer tief in den Boden sank, voll Sehnsucht und Willen nach der schweren Erde, und ungern sich zum betrachtenden Wort aufraffend, schrie Magerhold wie ein Plakat seine Leute an.« (BS, 68 f.) Der Begriff des Willens ist hier aufschlussreich. Denn während Mannhardt der interesselose Willen zur Einheit mit der Natur charakterisiert, wird im Folgenden deutlich, dass Magerholds Projekt sich als Willenskampf paraphrasieren lässt. Im Gegensatz zur natürlichen Autorität Mannhardts macht der Lehrer Rinroth in einer Analogie den Zwangscharakter des Magerhold’schen Unternehmens deutlich: Von der Hochschule her kenne ich ein köstliches Experiment. […] Ich weiß natürlich nicht mehr, wozu es war. Aber jedenfalls wurden Spermatozoen von Farnkraut untersucht. Die Biester tummelten sich in einem Wassertropfen regel- und ziellos herum. Jetzt tut man Apfelsäure […] hinein, und – im Nu haben sämtliche Spermatozoen keinen eigenen Willen mehr und scharen sich, wie Pilger vor einem Marienbild, dicht an der Mündung dieser Röhre zusammen. Sagt was ihr wollt! Magerhold ist hier die Apfelsäure, und wir sind die Spermatozoen. (BS, 70)

Die Analogie ist auch ohne die Auslegung durch den Beispielgeber evident: Im chemischen wie im sozialen Experiment wird anstelle der natürlichen Kontingenz eine künstliche Ordnung erzeugt. Ganz so willenlos und manipulierbar sind die Hollebüttler indes nicht, wie ein Tagtraum Magerholds verdeutlichen soll, der ihm seine Ohnmacht offenbart (vgl. BS, 71). Insbesondere das sich anbahnende Verhältnis zwischen Beatus Leube und der Lehrerin Friederike Wesendonck, das sich seinem Einflussbereich entzieht, provoziert ihn. Stellvertretend für die Liebenden foltert er zwei Frösche über dem offenen Feuer (vgl. BS, 79). Die Tiere sterben zwar nicht, wohl aber im Folgenden Menschen. Der Lehrer Joas Igelshieb bringt sich nach einer misslungenen Unterrichtsstunde und einer öffentlichen Demütigung durch Magerhold um (BS, 87); wenig später stirbt der Schüler David Pfleghar. Dessen Tod steht in unmittelbarem Zusammenhang eines cholerischen Anfalls Magerholds (vgl. BS, 91). Auch in anderer Weise unterwirft Magerhold vitale Fragen seiner Kontrolle, wenn er der Gemeinschaft unter anderem vorschreibt, dass Eheschließungen künftig seiner Erlaubnis bedürfen. 742 Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 – 1900. Berlin 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 52), 316 f., Hvbg. i. O.

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Doch Magerholds Machtverlust hat zu diesem Zeitpunkt schon längst begonnen, und der Schluss des Romans beschreibt lediglich seine drastische Beschleunigung. Eine seiner Ansprachen wird durch ein balzendes Vogelpärchen gestört: Da alle wie gebannt darauf gestarrt, auf die kleine Gebärde, die mächtiger war als Magerholds Ingrimm – und er war ermattet, war ohne Kraft, und seine eigenen Worte lärmten ihm sinnlos im Ohre –, hatte er sein Taschentuch an den Mund gepreßt und war unbemerkt ums Haus davongegangen. (BS, 109)

Magerholds Rede wird leer und verfehlt ihre Adressaten; er verliert seine Autorität, indem seine Sprache in der Konfrontation mit der Naturszene ihre Suggestivität einbüßt. In blinder Wut gegen Leube läuft er in die Natur hinaus, wo er schließlich einen Schlaganfall erleidet. »Es war, als wenn sein Körper gegen ihn dichte, gegen seinen gebrochenen Willen.« (BS, 111, Hvbg. i. O.) Der Erzähler schildert eine elementare Spaltung der Figur Magerholds: Nicht mehr nur seine Umwelt, auch sein eigener Leib lehnt sich schließlich gegen den Machtanspruch seines Geistes auf. Bemerkenswerterweise geschieht dies, indem der Text den Körper mit poetischer Energie versieht, die sich gegen Magerholds Willen und dessen rhetorische Anstrengungen wendet. Entsprechend verliert seine Sprache schließlich auch gänzlich ihre Mitteilungsfunktion: »Er lallte unverständlich.« (BS, 112) Als er am folgenden Tag in die Kreisstadt gebracht wird, erholt sich die Natur in Hollebüttel wieder : »Der Boden quoll auf. Wie nach einem Siechtum erhob er sich.« (BS, 113) Parallel zum Wiederaufleben der Natur setzt sich auch Beatus Leubes Genealogie fort: Er erwartet zusammen mit Friederike Wesendonck ein Kind und adoptiert zugleich den unehelichen Sohn Magerholds. Das Ende der Erzählung stellt so anstelle der von der charismatischen Figur gestifteten Gemeinschaft die naturhaft-biologische Ordnung der familiären Genealogie wieder her. Ruft man sich die sozialpolitische Dimension dieser Ordnungen in Erinnerung, so lässt sich diese Beobachtung mit den Kategorien Hans Blühers oder Gustav Wynekens auch als die Wiederherstellung der natürlichen und weiblich geprägten Sozialform reformulieren, die der geistig-männlichen entgegengesetzt ist. Die Pointe besteht dann darin, dass derjenige, der diese zweite Sozialform zu stiften versucht hatte, in Gestalt seines unehelichen und verleugneten Kindes selbst wieder in die ihm verhasste familiäre Ordnung eingegliedert wird. Das Ende des Reformeifers im Stimmengewirr: ›Vogelfreier Joseph‹ (1922) Die 1922 erschienene Erzählung Lehmanns scheint zunächst lediglich eine Variation der Bilderstürmer-Konfiguration darzustellen, was die Konfrontation eines aggressiven Reformers mit einem gemäßigten Gegenspieler betrifft. Sie

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rechtfertigt aber insofern eine eingehendere Betrachtung, als das Schulreformprojekt hier zu einem elitären Bildungszirkel erweitert wird. Am Beispiel des Vogelfreien Joseph lässt sich die These erhärten, dass die Schulliteratur der frühen Weimarer Republik den institutionellen Rahmen der staatlichen Schule zunehmend überschreitet und anders geartete Gemeinschaften in den Blick nimmt. Im Gegensatz zu den Reaktionen auf die bereits erschienenen Romane ist das Gros der Kritiker von Lehmanns Erzählung enttäuscht. Sein Lektor Max Tau, der wiederholt auf eine kürzere Arbeit gedrängt hatte, bescheinigt dem Text sprachliche Unsicherheiten und eine fehlende Motivation der Handlungsführung. Andere Kritiker bemängeln, Lehmann habe einen Romanstoff in eine Novellenform zu gießen versucht; insgesamt fand das Buch nur geringen Absatz.743 Tatsächlich bleiben insbesondere der Beginn (die detailliert geschilderten Personen und Konflikte werden nicht wieder aufgegriffen) und der Schluss unmotiviert beziehungsweise offen; auch ein großer zeitlicher Sprung zwischen dem ersten und zweiten Abschnitt irritiert. Der Vogelfreie Joseph beginnt mit einer Episode des Lizentiats Vermehren, der das Gartenhaus eines Freiherrn mietet, um dort einen Bildungszirkel mit der Absicht zu gründen, die Menschen wieder zueinander finden zu lassen – oder, wie er es selbst formuliert: »Die Menschen können einander keine eigentlichen Mitteilungen mehr machen, so verschlagen sind sie in ihre Einsamkeit.«744 Dieser Befund der Vereinzelung zählt zu den Topoi der modernen Kulturkritik, und auf ihn reagiert ein Großteil der reformpädagogischen Projekte mit Gemeinschaftsphantasien. Die Gemeinschaft, die Vermehren im Sinn hat, funktioniert allerdings nicht so, wie von ihm beabsichtigt. Es kommt immer wieder zu Konflikten über das eigentliche Ziel des Projektes. Der Streit kulminiert, wie schon im Bilderstürmer, in der Konfrontation zweier Personen – hier der Vermehrens mit dem Lehrer Josef Wingen. Wenngleich Wingen seine Stellung behalten darf, geraten die Kontrahenten in wiederholten Auseinandersetzungen über die Rolle der Literatur im Unterricht aneinander. Nach einem besonders heftigen Eklat aus Anlass des Parzival flieht Josef Wingen in die Natur und übernimmt am nächsten Morgen den Literaturunterricht, womit der Text unvermittelt endet. Es fallen also eine Reihe von Motiven auf, die bereits aus dem Bilderstürmer bekannt sind: der charismatische Gemeinschaftsstifter, sein zurückhaltender Kontrahent und nicht zuletzt ein Bildungsprojekt, das der Text inhaltlich weit743 Vgl. David Scrase: Anhang, in: Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in 8 Bänden. Bd. 5. Hg. von David Scrase. Stuttgart 1994. 548 – 556. 744 Wilhelm Lehmann: Vogelfreier Joseph, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 5: Erzählungen. Hg. von David Scrase. Stuttgart 1994. 173 – 234, hier 181. Im Folgenden Siglenangaben.

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gehend vage lässt. Nur an einer Stelle werden drei Komponenten der Einrichtung konkretisiert, die Ausbildungsaspekte im weiteren Sinn betreffen. Erstens werden Nachhilfekurse für die Schüler des Ortes angeboten; zweitens sollen »schulentlassene, weniger für das Geistige begabte junge Leute beiderlei Geschlechts« (VJ, 194) praktisch ausgebildet und schließlich »minderbegabte Knaben und Mädchen aus der Landeswaisenanstalt« (ebd.) in werktätiger Arbeit unterwiesen werden. Deutlich wird dabei, dass sich das Bildungsprojekt ganz explizit an die zeitgenössischen Reformprojekte anschließt; so wird neben dem Wandervogel (VJ, 189) die Tatsache erwähnt, dass Vermehren die städtischen »Volkshochschulkurse« (VJ, 181) übernimmt. Darüber hinaus bleiben die Ziele des Bildungszirkels jedoch eher diffus. Was Vermehren dem Freiherrn gegenüber von seinem Plan konkretisiert, lautet: Deshalb solle der alte Konzertverein, der Name wirke fast symbolisch, zu einem Verbande der Einsichtigen unter den Gebildeten umgemodelt werden. […] Die Mitglieder des eigentlichen Vereins […] sollten sich zu einem engen geistigen Bunde schließen, mit geregelten Zusammenkünften, bestimmten Satzungen und nicht zu weit, nicht zu eng gefassten Zielen. Im Verfolg dieser Ziele würde der Magistrat den Verein vielleicht auch mit anderer Wohlfahrtspflege betrauen, die genannten und noch ungenannte Persönlichkeiten seien begeistert nicht nur, auch opferwillig […]. (VJ, 181 f.)

Das Gespräch verdeutlicht außerdem, dass Vermehren – der Name ist hier sprechend – die Wiederherstellung eines harmonischen Geschlechterverhältnisses anstrebt (vgl. VJ, 183).745 Er berauscht sich an seiner Gemeinschaftsidee, die auf einen großen Ton der Mitte abgestimmt einem Glockenspiele gleiche, die alles Individuell-Launische durch die Musik ihres Seins unter die Idee beuge, Jung und Alt, Mann und Weib, die Klugen und die Einfältigen, die Armen und die Reichen, die mannigfachsten, die divergierendsten Begabungen … (VJ, 185)

Dieses Konzept ruft deutlich Wynekens Utopie des objektiven Geistes in Erinnerung; die beiden Modelle gleichen sich zunächst in der Annahme einer alle persönlich-individuellen Differenzierungsbestrebungen nivellierenden Idee. Demgegenüber sehen sie ein Gemeinschaftskonzept vor, das ohne Worte auskommt, sich vielmehr auf asemantische Weise nicht mehr miteinander verständigt, sondern – und das zeigt das musikalische Register im obigen Zitat besonders deutlich – nur mehr als Kollektiv zum Ausdruck bringt.746 Diese semiotische Operation, die Form und Ausdruck zusammenfallen lässt, kommt einer selbstreferentiellen Schließung gleich. Sie formuliert damit eine Haltung, welche die Möglichkeit kommunikativer Auseinandersetzung für nichtig erklärt 745 Allerdings gelingt auch diese Absicht nicht, vgl. VJ, 204. 746 Diese Konzeption ruft die mit musikalischen Mitteln gestiftete Gemeinschaft in Saudeks Gymnasiastentragödie in Erinnerung.

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und demgegenüber eine Sozialform konstruiert, die in diesem Sinne eine totale ist: indem sie sich in sich selbst abschließt und in sich selbst versteht.747 Das erste Resümee nach »wenigen Jahren« (VJ, 186) fällt zunächst positiv aus; Vermehrens Eifer färbt auf die Einwohner der Stadt ab. Allerdings nehmen die Mitglieder des Zirkels Modifikationen an seinem Projekt vor und beklagen, er maße sich in Bereichen Kompetenz an, die seine Fähigkeiten überschritten (vgl. VJ, 193). Vor allem aber kommt der anvisierte Gemeinschaftsgeist nicht zustande: »Die große, bedeutende Geselligkeit, die zu binden und zu spiritualisieren angestrebt worden war, hatte sich nach einigen Aufschwüngen verflüchtigt […].« (VJ, 195) Das liegt nicht zuletzt an der Unfähigkeit der Runde, sich bei den Treffen eines »großen Teiles von Gebildeten der Stadt« auf ein gemeinsames Konzept zu einigen: Aber eine außerordentliche Hilflosigkeit lag den großen Worten zugrunde, die an den ersten Abenden fielen. Es war, als sähe sich die ganze kranke Zeit ins leere Angesicht, mit gierigem Bemühen, Kraft und Sicherheit darin zu entdecken. Es knatterte vor großen Worten. Der Himmel der ersehnten Idealität sollte weit reichen, viel decken, daher mussten die Grundbegriffe so umfassend wie möglich gehalten sein. Erregt stritt man gegen zu enge Formeln, gegen Formeln überhaupt. (Ebd.)

Schon hier deutet sich die Diskrepanz von reformpädagogischem Ideal und nüchterner Wirklichkeit an. Wo harmonischer Gleichklang angestrebt wurde, »knattern« nun Worte und Formeln, die Rede ist nicht still zu stellen durch die Idee. Vermehren konzentriert sich daraufhin auf den engeren Kreis seiner Anhänger, dem auch Wingen angehört. Schon bald zeichnet sich ein Kontrast zwischen den beiden ab, der in erster Linie in ihrer Ausdrucksweise besteht. Es wird deutlich, dass Vermehren seinem eigenen Anspruch an tatkräftiges Handeln nicht gerecht wird, wenn er noch »[d]as realste, kräftigste Tun« (VJ, 206 f.) mit einer »Apotheke von Ideen« (ebd.) versieht. Im Gegensatz dazu steht Wingens natürliche Ausdrucksweise (vgl. etwa 207 f.): Es war gar kein Aufhebens zu machen von Wingens Beiträgen zu den Besprechungen. Sie geschahen auf eine spröde, anspruchslose Art und hatten nichts Auftrumpfendes. Sie kamen ihm natürlich. Hinterher besaß ihn verworrene Hast, war er hölzern und 747 Diese semiotische Operation der Schließung ist als Charakteristikum einer Reihe von literarischen Texten der Klassischen Moderne zu betrachten und steht nicht zuletzt in Beziehung zur politischen Situation der Weimarer Republik, indem sie der Kontingenz der endlosen parlamentarischen Rede mit einer entschiedenen Betonung der Form und, damit zusammenhängend, einer Art ästhetischer Selbstermächtigung begegnet. Vgl. dazu Ingo Stöckmann: »Sammlung der Gemeinschaft, Übertritt in die Form. Ernst Jüngers Politische Publizistik und ›Das Abenteuerliche Herz‹ (Erste Fassung)«, in: Ders., Uwe Hebekus (Hg.): Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900 – 1933. München 2008. 189 – 220, hier 192 f.

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steif. Der Stimmchor der übrigen schwirrte über seine Worte und verschüttete sie. Das war ihm recht. Seine Bemerkungen gehörten ja eigentlich gar nicht dazu, konnten aber niemandem schaden. Die übrigen sprachen von etwas anderem. Ganz schweigen konnte er auch nicht immer. Eine große Einsamkeit durchzuckte ihn. Wem widersprachen seine Anmerkungen denn? Niemandem, nur erfrischt fühlte sich, wer sie vernahm. Es war klar, dass sie vom Thema ablagen; gleichwohl ließ sich ihnen gut nachdenken, da sie verweilten, den Raum mit imaginativer Energie erfüllten, langsam vergingen. (VJ, 210 f.)

Diese Stelle verdeutlicht zunächst noch einmal das wilde Sprechen der einzelnen Mitglieder. Dem steht Wingens »natürliche« Rede gegenüber, die eine geradezu therapeutische Wirkung auf die Gruppe hat, die Betriebstemperatur der Diskussion zumindest temporär zu senken vermag. Wingens Worte bleiben nicht ohne Wirkung: Vermehren bemerkt, dass die anderen dessen »Redensarten und Ausdrücke« (VJ, 213) gebrauchen. Subtil und unbeabsichtigt, aber dennoch wirkungsvoll droht Wingens Redeweise die Gemeinschaft zu stiften, die Vermehren nicht gelingen will. »[E]r beneidete Wingen um seine Ausdrücke.« (ebd.) Wingen selbst wird dagegen immer empfindlicher gegen das unendliche Sprechen: »Plötzlich dröhnten die vielen Worte aufdringlich an sein Ohr, unaufhörlich klingelte eine Schelle, unaufhörlich läutete eine Glocke, bis das Ohr gar nichts mehr vernahm. War er taub geworden?« (Ebd.) Erneut wird hier das musikalische Register aufgerufen, allerdings nur, um die Diskrepanz zu Vermehrens ursprünglicher Idee zu markieren: Die Rede hat zwar ihre Mitteilungsfunktion verloren, ist jedoch nicht harmonisch, sondern zum schrillen Missklang geraten. Das Reformprojekt droht, in der Kakophonie der Diskussionen zu zerbrechen. Das gilt auch für die wiederholten Diskussionen um den Gegenstand des Literaturunterrichts. Während Vermehren der modernen Literatur, insbesondere der religiösen Dichtung anhängt, ist Wingens Leidenschaft für mittelhochdeutsche Dichtung bekannt. Von der Ignoranz des Kollegiums beim Streit über Deutungen des Parzival frustriert, boykottiert er am folgenden Tag eine Feierlichkeit und übernimmt am nächsten Morgen entgegen seiner ursprünglichen Absicht den Literaturunterricht. Er erinnert sich dort an seinen Tag in der Natur und kann sich dann wieder mit einem »gutmütigen Lächeln« (VJ, 234) zum Unterricht durchringen. Lässt man die etwas holprige Handlungsführung und den unvermittelten Schluss der Erzählung außer Betracht und liest ihn mit Blick auf den Bilderstürmer, so wird deutlich, dass beide Texte Versuche von Gemeinschaftsstiftungen verhandeln, die jenseits des schulischen Raums gesellschaftliche Reformprojekte anstreben, die jeweils an der Aggressivität der Anführer scheitern. Das Anliegen, die ›Kälte‹ der modernen Gesellschaft und der resultierenden Vereinzelung durch die Wiederbelebung der vormodernen, als organisch verstandenen Sozialform der Gemeinschaft zu überwinden, wird dadurch ad ab-

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surdum geführt, dass das jeweilige Gemeinschaftsprojekt wiederum nur durch forcierte rhetorische Überzeugungsarbeit zu haben ist. Dies jedoch widerspricht gerade der ursprünglichen Absicht, die durch endlose Kommunikation ausgelöste Distanz zu überwinden, sowie dem spezifischen Gemeinschaftsgedanken einer »schönen und harmonischen Sozialordnung […], die sich aus sich selbst heraus«748 – zu ergänzen wäre: wortlos – vollenden kann. Nur zaghaft angedeutet ist die wortkarge, aber effektivere Form der Gemeinschaftsstiftung durch periphere Figuren. Diese werden jedoch nicht näher ausgestaltet, beziehungsweise stiften lediglich Verbindungen zwischen einzelnen Personen, die keinen Gemeinschaftscharakter beanspruchen können. Die Suche nach einer verlorenen Einheit, die Überwindung zwischenmenschlicher Distanz und die Versöhnung von Geist und Natur treibt die Protagonisten Leube beziehungsweise Wingen um, und man kann diese synthetisierenden Denkfiguren als den an seinen romantischen Lektüren geschulten Grundzug der Lehmann’schen Poetologie bezeichnen.749 Dieser steht der programmatischen Versessenheit auf den Geist, der Wynekens Weltbild charakterisierte, diametral entgegen; und man mag darin die Ursache für die zu Beginn beobachtete wiederholte literarische Auseinandersetzung Lehmanns mit dem Reformprojekt sehen. Lehmann gelangt in seiner frühen Prosa zu der Einschätzung, dass dieser Zustand nicht durch Zwang – sei er pädagogischer oder rhetorischer Art – zu erlangen ist. Nur im Naturerlebnis, in erotisch aufgeladenen Zweierbeziehungen oder in absoluten Ausnahmeindividuen wie Mannhardt (»der mythische Mensch, von dem die anderen bloß schwärmten«, BS, 68) nähern sich die Figuren dieser Erfahrung. Diese Einsicht sagt aber eher etwas über Lehmanns Poetologie aus und erlaubt Rückschlüsse auf motivische Sedimente seiner späteren Naturlyrik. Für die Schulliteratur, die hier interessiert, ist an dieser Beobachtung ein anderer Aspekt relevant: die Tatsache nämlich, dass Lehmanns Texte mit Saudeks Drama nicht nur den Befund der Unmöglichkeit pädagogischer Einflussnahme teilen. Beide verhandeln überdies Konzepte von Gemeinschaften, die sich ausdrücklich von staatlich-institutionellen Strukturen distanzieren und eine neuartige Form der Unterweisung erproben, die mit »Bildung« oder »Erziehung« zu bezeichnen wohl den Kern ihrer Ambitionen verfehlte. Es geht nicht mehr um mehr oder weniger allgemeinverbindliche, staatlich gesteuerte Ausbildungsprozesse. Die quasi-religiöse Konstellation nimmt vielmehr den Charakter einer Weihe oder Initiation in einen elitären, esoterischen Zirkel an. Dass diese in der Literatur zunächst scheitern, ist dabei weniger wichtig als die Tat748 Oelkers: Reformpädagogik, 227. 749 Vgl. Jochen Jung: Mythos und Utopie. Darstellungen zur Poetologie und Dichtung Wilhelm Lehmanns. Tübingen 1975 (Hermae, Germanistische Forschungen Neue Folge, Bd. 34), insbes. 15 – 51.

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sache, dass diese Transformation überhaupt stattfindet. Denn damit geht es in diesen Gemeinschaften längst nicht mehr um ›Quisquilien‹ wie die Überforderung durch institutionelle Curricula, sondern um Fragen einer ›wahren‹ Bildung und Kultur. Längst steht nicht mehr das leidende Kind mit seiner Individualität im Mittelpunkt, sondern Fragen der Organisation einer Gemeinschaft und damit, gleichsam subkutan, Fragen der Organisation von Volk und Nation.750 Die Schulliteratur scheint gegen Ende ihrer Konjunktur in etwas anderes zu drängen, und sie deutet darauf hin, dass die Trennlinie zwischen pädagogischer und politischer Erziehung zunehmend unscharf wird.

3.

Auf dem Weg in eine neue Gesellschaft: Die Überwindung der Schule bei Leonhard Frank und Arnolt Bronnen

Die Vermutung, dass schulliterarische Texte gegen Ende der Konjunktur des Genres pädagogische Zusammenhänge in politische transkribieren, lässt sich am Beispiel einer Erzählung von Leonhard Frank und des dramatischen Frühwerks von Arnolt Bronnen erhärten. Auf der inhaltlichen Ebene schildern die Texte Schülerrebellionen, die von der Überzeugung angeleitet sind, die in der Schule repräsentierte alte Gesellschaftsordnung zugunsten einer neuen Ordnung überwinden zu können. Darüber hinaus leisten zumal Bronnens Dramen eine elaborierte formale Reflexion dessen, was auf Ebene des Dargestellten als schöpferisch-anarchische Gründung einer neuen Sozialordnung erscheint. Vor einer genaueren Betrachtung der Texte soll jedoch die für diesen Befund zentrale Verwendung des Begriffs ›Avantgarde‹ thematisiert werden. Entgegen der unscharfen Auffassung, mit der jede innovationsorientierte Kunstrichtung gemeint ist, was der modernen Literatur seit der Aufklärung eine ›avantgardistische‹ Signatur verleihen würde, orientiert sie sich an einer Konzeption, die sich von der etymologischen Herkunft des Begriffs aus dem militärisch-politischen Kontext informieren lässt. Gerhard Plumpe hat dessen zentrale Charakteristika aus systemtheoretischer Perspektive folgendermaßen bestimmt: Erstens die Notwendigkeit eines soziopolitischen Kontextes von Kunst und Literatur, der die Möglichkeit einer »kulturrevolutionären« Retotalisierung, d. h. einer Entdifferenzierung der Funktionssysteme, in einer wie immer projektierten Zukunftsgesellschaft […] plausibel erscheinen lässt. Zweitens eine forcierte Zeiterfahrung, die »kairologisch« genannt werden kann und besagt, dass sich alle historischen Widersprüche auf einen Gegensatz zugespitzt haben, dessen Austrag als Kampf […] als »letztes Gefecht« unmittelbar bevorsteht. 750 Zu den Verbindungen zwischen der Reformpädagogik der Jahrhundertwende zu sozialistischen und nationalsozialistischen Programmatiken vgl. Oelkers: Reformpädagogik, 223 f.

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In der Perspektive einer Retotalisierung der »differenzierten« bürgerlichen Gesellschaft geht es drittens um das Projekt einer Entdifferenzierung von Kunst und Nichtkunst, die den […] Gegensatz von Kunst und Leben aufheben, bzw. die Differenz ununterscheidbar machen soll […]. Für die Kunst heißt das viertens konkret: Negation des »Werks« als Differenz von Medium und Form. »Werke« sollen nicht länger vorkommen, statt dessen soll entweder das Medium in absoluter Kontingenz exponiert werden (Dada) oder das Medium soll ganz Form werden (Gesellschaft als Totalorganisation) […].751

Plumpe belegt seine Konzeption am Beispiel der Lehrstücke Brechts. Die Veränderung des Theaters, die Brecht darin anvisiert, beschreibt Plumpe als »›avantgardistische‹ Funktionsintegration von Politik, Pädagogik und Kunst […].«752 Diese Einschätzung ist aber auch für die Schulliteratur aufschlussreich. Ihr folgend, ließe sich die beobachtete Veränderung im Sinne einer Politisierung des Genres auch formulieren als eine Transformation der Funktion, die der Pädagogik dort zukommt: Sie ist nun nicht mehr auf der diskursiven oder propositionalen Seite angesiedelt, mithin nicht mehr inhaltlicher Gegenstand der Texte, sondern wird in Form einer neuartigen Didaktik, welche die Literatur nicht mehr als ästhetisch zweckfrei, sondern als unmittelbare Handlungsanweisung begreift, zu deren Medium. Diese zweite Funktion veranschaulicht Plumpe am Beispiel der Lehrstücke: Sie verstehen sich nicht als »autonome« Kunstwerke, sondern als kollektive Einübung solcher Haltungen, die im revolutionären Kampf zur Überwindung der »bürgerlichen Klassengesellschaft« notwendig werden. Steht das »epische Theater« zur Gesellschaft in einem »metaphorischen« Bezug – ist es doch […] eine lehrreiche Repräsentation ihrer wesentlichen Strukturen –, so das »Lehrstück« in einer »metonymischen« Relation: Es zeigt die Gesellschaft in keiner wie auch immer gearteten Situation vor, es vollzieht sie, es ist ein treibendes, unmittelbares Element im revolutionären Prozess der Geschichte selbst. Brecht verstand die »Lehrstücke« nicht eigentlich mehr als »Literatur« im Sinne ausdifferenzierter Spezialkommunikation, er ließ »ästhetische Maßstäbe« zu ihrer Beurteilung nicht gelten, sondern als »politische Pädagogik«, die handlungsfähige Kollektive trainieren und unbrauchbare bürgerlich-individualistische Habitusformen kritisieren und überwinden sollte. Diese »politische Pädagogik« steht […] der sozialen Realität nicht gegenüber, sie differenziert sich nicht gegen Politik, Erziehung usw., um sie als Medien nutzen zu können, sie ist vielmehr Teil dieser sozialen Realität, um sie zu beschleunigen. Politik, Pädagogik und rhetorische Literatur sind in ihr »entdifferenziert« […].753

751 Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur : ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995. 215 f. 752 Ebd., 218. 753 Ebd., 219, m. Hvbg.

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Die folgenden Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass insbesondere Bronnens Texte754 sich dieser Form der politischen Mobilmachung im Medium der Literatur annähern. Die Schule dient darin als Katalysator des individuell (Frank) beziehungsweise kollektiv (Bronnen) organisierten Widerstands gegen eine als nicht mehr zeitgemäß, ja als widerrechtlich wahrgenommene Autorität. Sie wird damit zum Sinnbild gesellschaftlicher Missstände, gegen die es aufzubegehren gilt. Die von den Autoren jeweils angestrebten Zielzustände fallen jedoch denkbar unterschiedlich aus. Während Franks Erzählung in ihrer grundsätzlichen Kritik am blinden Urteil staatlicher Institutionen von der Schule bis zum Gericht für eine neue soziale Ordnung innerhalb des alten Systems plädiert, profilieren Bronnens Texte gewalttätige Ermächtigungsphantasien, durch die der Weg zu einer gänzlich neuen, wenn auch nicht näher bestimmten Gesellschaftsordnung zu erreichen wäre. Für beide Texte gilt jedoch, dass die Schule einerseits mehr als sich selbst darstellt – nämlich eine Spielart autoritärer Repression, die überwunden werden will –, dadurch aber gleichzeitig und im Gegensatz zu den früheren Texten in ihrer differenzierten institutionellen Logik nun nicht mehr von Bedeutung ist.

a.

Das Plädoyer des Lehrermörders für eine gerechte ökonomische Ordnung: Leonhard Franks Erzählung ›Die Ursache‹ (1916)

Leonhard Franks Erzählung birgt eine politische Motivation und Botschaft, die sie im Vergleich zu Bronnens Dramen allerdings weniger radikal und provokant zu übermitteln sucht. Der Mord eines erwachsen gewordenen Schülers an seinem ehemaligen Lehrer, den der Text schildert, wird mit einem psychoanalytischen Deutungsmuster versehen. Obwohl individualisiert dargestellt, wird an verschiedenen Stellen deutlich, dass der Konflikt als der einer kollektiv traumatisierten Generation ubiquitär ist. Erkennbar mit dem psychoanalytischen Wissen seiner Zeit vertraut, lässt Frank den Protagonisten sich seines Schultraumas erinnern und deutet mit dem Mord die Gefahr der Rache einer traumatisierten Generation nur an, die Bronnen zum Kriegsszenario ausgestalten wird. Die Anklage des Texts richtet sich gegen die Ignoranz gesellschaftlicher Institutionen gegenüber Individuen. Dieser Auffassung zufolge erscheint die Schule nur mehr als eine solche Institution unter vielen. Der Konflikt aus der Schulzeit, der zum Mord führt, beruht auf der finanziellen Armut des Protagonisten – einer Situation, die Frank aus erster Hand kannte. Er wuchs in einer Würzburger Schreinergesellen-Familie auf, wurde in 754 Für Franks Erzählung gilt diese Beobachtung auch, aber eingeschränkt, wie zu zeigen sein wird.

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der Schule wegen eines Sprachfehlers von seinem Lehrer Dürr traktiert, brach eine Schreinerlehre ab und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, nachdem der Vater ihm nach Abbruch der Lehre die finanzielle Unterstützung verweigert hatte.755 In München wollte Frank sich zum Kunstmaler ausbilden lassen und kam so in Kontakt mit der Schwabinger BohÀme,756 insbesondere mit dem populären Psychoanalytiker und Freud-Schüler Otto Gross. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat sich für Frank, der sich aufgrund seiner ausdrücklich pazifistischen Haltung 1915 zunächst zur Flucht in die Schweiz, zwischen 1933 und 1950 dann zum Exil gezwungen sah, zumal in dieser Rolle als Exildichter interessiert. Seine frühen Werke wurden eher sporadisch zur Kenntnis genommen.757 Dabei ist beispielsweise der vor der hier behandelten Novelle erschienene Roman Die Räuberbande, der noch im Erscheinungsjahr 1914 mit dem FontanePreis ausgezeichnet wurde und Leonhard Frank zum literarischen Durchbruch verhalf, in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Der Roman schildert die Geschichte von Würzburger Lehrlingen, die sich aus Protest gegen ihre Eltern, Lehrer und Ausbilder zu einem Abenteurer-Kollektiv zusammenschließen. Die Jungen wähnen sich – geschult an Karl-May-Lektüren – in den Fußstapfen Winnetous und Old Shatterhands. Erneut hat man es hier mit einer Männerbund-Konstellation zu tun, wie sie aus Kapitel IV.2 bekannt ist. Wie schon dort scheitern allerdings auch hier die Pläne der Abenteurer, ein zu ihrer kleinbürgerlichen Herkunft alternatives Leben zu führen. Einzig Michael Vierkant alias Old Shatterhand ist es mit den Idealen des Wilden Westens ernst; die Unmöglichkeit ihrer Durchsetzung treibt ihn jedoch in den Selbstmord. Der Roman war schon zeitgenössisch populär und kann bis heute zu den »[…] wichtigsten und sicher bedeutendsten [Romanen, G.W.] über die Jugendszene des Wilhelminischen Deutschland«758 gerechnet werden. 1917, ein Jahr nach der Ursache, er755 Zu Franks Biographie vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918: von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004. 395 f. und Werner Dettelbacher : Leonhard Franks Hungerjahre in München und Berlin 1904 – 1914. Würzburg 2001 (Schriften der Leonhard-Frank-Gesellschaft, H. 9). 756 Frank nannte dieses Künstlermilieu einmal seine »Universität«, vgl. Martin Glaubrecht: Studien zum Frühwerk Leonhard Franks. Bonn 1965. 683. Diese Bezeichnung ist aufschlussreich, wiederholt sie doch auf biographischer Ebene die im vorigen Kapitel am Beispiel der Literatur aufgezeigte Beobachtung, dass staatliche Bildungsinstitutionen zugunsten von individuell gestifteten Zirkeln ihre Bedeutung verlieren. 757 Vgl. ebd.. Das Motiv der Schule in Franks Werk untersucht Julianna Kûsa: Zum Bild der Schule und des Lehrers bei Leonhard Frank. Würzburg 1986 (Schriften der LeonhardFrank-Gesellschaft, H. 2). 758 Walter Fähnders: »›Der Mensch ist gut‹. Leonhard Franks Anti-Kriegs-Erzählungen«, in: Ders. (Hg.): Expressionistische Prosa. Bielefeld 2001. 187 – 209, hier 191. Der Roman hat inzwischen eine hohe Auflage erreicht und ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Vgl. auch Hiltrud Häntzschel: »Leonhard Frank: ›Die Räuberbande‹«, in: Kindlers Lite-

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scheint Franks Novellensammlung Der Mensch ist gut. Die fünf Texte, die stellvertretend für unzählige reale Biographien die traumatischen Auswirkungen des Krieges auf die Überlebenden schildern, wollte Frank »[…] nicht als Kunstwerk, sondern als ›aufwühlendes, direkt wirkendes Manifest gegen den Kriegsgeist‹«759 verstanden wissen. Diese Interpretation zeugt von der avantgardistischen Absicht im Sinne einer Aufhebung der Differenz von Kunst und Leben, in der Literatur zur Handlungsanweisung wird. Entsprechend wurde der Text bei seiner Veröffentlichung sofort verboten.760 Vor diesem Hintergrund sollte die Ursache betrachtet werden, welche die avantgardistischen Züge der Novellensammlung antizipiert und motivisch der Räuberbande verpflichtet ist. In der Ursache verfolgt Frank gewissermaßen einen Faden aus dem Motivgeflecht der Räuberbande weiter und unterwirft ihn einer expressionistisch-aktivistischen Neuinterpretation: Der sadistische Lehrer vom Typ ›Mager‹ aus dem früheren Roman [man beachte die semantische Nähe zum Namen von Franks tatsächlichem Lehrer Dürr, G.W.] wird nunmehr von seinem ehemaligen Schüler erwürgt.761

Prägnant lässt sich die Handlung auf die Formel bringen, mit der Franz Werfel eine 1920 erschienene Erzählung überschrieben hat: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. In Franks Erzählung verspürt der Dichter Anton Seiler nach einem Traum, der ihm nur diffus in Erinnerung ist, den Drang, in seine Heimatstadt zurückzukehren. Dort versteht er, dass der Traum ihm ein Erlebnis aus seiner Schulzeit zurückgebracht hatte: Er durfte, weil ihm das Geld für ein Glas Milch fehlte, bei einem Schulausflug nicht mit dem Rest der Klasse in der Gaststätte einkehren – ein Erlebnis, das bei ihm das bleibende Gefühl der Demütigung hinterließ. Seiler will am folgenden Tag seinen Lehrer besuchen, bringt es aber nicht über sich und fährt Hals über Kopf zurück an seinen Wohnort, wo seine Wirtin ihm gekündigt hat und ein neuer Mieter eingezogen ist. Dieser lässt ihn in der Kammer wohnen, wo die beiden über soziale Gegensätze diskutieren. Im Gegensatz zum sozialdarwinistischen Standpunkt seines Zimmernachbarn wird hier bereits die sozialdemokratische Position des Dichters deutlich. Er fährt erneut nach Hause, wo er den Lehrer zur Rede stellen und eine Entschuldigung erhalten will. Eine Szene mit zwei Schuljungen, von denen der Lehrer den einen malträtiert und dadurch das Trauma des Dichters gleichsam wiederholt, führt aber dazu, dass Seiler ihn erwürgt und anschließend einen 100-Mark-Schein stiehlt. Noch vor Ort wird er festgenommen. Vor Gericht beruft sich Seiler zu seiner Verteidigung auf das Schultrauma, das die Juristen raturlexikon. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. Bd. 5. Stuttgart / Weimar 2009. 681 – 82, hier 682. 759 Häntzschel: »Leonhard Frank: Der Mensch ist gut«, 682. Häntzschel zitiert hier Frank. 760 Ebd., 683. 761 Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918, 396.

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und der Gerichtspsychiater in der Überzeugung, der Dichter habe seinen Lehrer des Geldes wegen ermordet, nicht als Motiv akzeptieren. Er wird schließlich einstimmig zum Tode verurteilt; einzig ein einäugiger Geschworener bereut sein Votum und begeht Selbstmord. Der Text endet mit der Hinrichtung des völlig verwirrten Dichters. Franks Novelle verhandelt neben dem Schuldiskurs eine Reihe brisanter wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Diskurse. Zunächst fallen Anspielungen auf die Überbürdung auf, wenngleich diese hier in Form der Nervosität gewissermaßen ins Erwachsenenalter verschoben und damit gleichsam auf Dauer gestellt ist. Immer wieder wird erwähnt, dass der Dichter angespannt, nervös und kraftlos sei: »Die resultatlos verbrauchte Energie hatte sein Gesicht scharf gemacht […].«762 Die Kraftlosigkeit betrifft aber nicht nur den Dichter selbst, sondern seine ganze Alterskohorte: Ein weiterer Traum Seilers verdeutlicht, inwiefern dieser Schultext zum Plädoyer eines Einzelnen im Namen einer kollektiv traumatisierten Generation wird – traumatisiert, und das ist bemerkenswert hinsichtlich Franks späterer pazifistischer Haltung, nicht durch den Krieg, sondern durch die Schule. Anton Seiler träumt von einer kollektiven Rückkehr junger Menschen in ihre Heimat, »die Kindheit zu durchforschen nach dem Messer, das ihnen allen die Sehne der Kraft durchschnitten hatte.« (U, 34) Damit ist eine Fährte gelegt für das zentrale Motiv des Traumas, das im Text durch die Dichotomie von Willensfreiheit (die das Gericht vertritt) versus sozioökonomischem beziehungsweise psychologischem Determinismus (den der Dichter verficht) verhandelt wird. In diesem Zusammenhang zitiert der Text immer wieder marxistisches und freudianisches – letzteres sicherlich von Otto Gross vermitteltes – Gedankengut. Drei Jahre vor der Veröffentlichung der Ursache hatte sich Gross in der Aktion mit Gustav Landauer und Ludwig Rubiner eine erhitzte Diskussion über Fragen der Psychoanalyse geliefert, in deren Zusammenhang er 1913 den Artikel »Zur Überwindung der kulturellen Krise« verfasste. Die Pointe der Abhandlung besteht darin, dass Gross die Psychoanalyse zum theoretischen Fundament revolutionärer Praxis erhebt: Die Psychologie des Unbewussten ist die Philosophie der Revolution, d. h. sie ist berufen, das zu werden als das Ferment der Revoltierung innerhalb der Psyche, als die Befreiung der vom eigenen Unbewussten gebundenen Individualität. […] Sie ist berufen, zur Freiheit innerlich fähig zu machen, berufen als die Vo r a r b e i t der Revolution.763

762 Leonhard Frank: Die Ursache. München 1916. 7. Im Folgenden Siglenangaben. 763 Gross: »Zur Überwindung der kulturellen Krise«, in: Die Aktion 3 (1913), Sp. 384 – 87, hier 384, Hvbg. i. O.

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Gross schreibt der Psychoanalyse somit ein politisches Potential zu, indem sie das Unbewusste, »das sich der Führung und Kontrolle durch das Bewusstsein und jeder Selbstwahrnehmung überhaupt an sich entrückt erhält«764, als solches analysiert. Die Befähigung zur Freiheit besteht ihm zufolge in der Erkenntnis und Überwindung des Erziehungstraumas, das das Verhältnis zur vor-erzieherischen Individualität verstellt habe: Es zeigt sich also, dass das eigentliche Wesen dieser Konflikte im tiefsten Grund sich stets auf e i n umfassendes Prinzip zurückführen lässt, auf den Konflikt des Eigenen und Fremden, des angeboren Individuellen und des Suggerierten, das ist des Anerzogenen und Aufgezwungenen. Dieser Konflikt der Individualität mit der i n s e i g e n e I n n e r e e i n g e d r u n g e n e n Au t o r i t ä t ist mehr als jemals sonst der tragische Inhalt der Kindheitsperiode.765

Diesen Konflikt spüre »[j]edwedes Individuum […], das irgend höher steht als diese Normalität von heute«766, und gehe daran zu Grunde: Es sei »unter den bestehenden Verhältnissen außerstande, am krankheitsschaffenden Konflikt vorbeizukommen und seine i n d iv i du e l l e G e s u n d h e i t zu erreichen […].«767 Gross unterscheidet hier also zwei Charaktere. Diejenigen, die den Konflikt verdrängen, stellen dabei zwar die ›Normalität‹ dar, doch genügt bereits die kleinste Abweichung von diesem Zustand für die Qualifikation als – wie Gross sie nennt – »Charakter zweiten Ranges«768, der eben jenen krankmachenden Konflikt mit sich selbst austrägt. Dass dieser Typ nicht die Minderheit darstellt, erklärt bereits die Tatsache, dass Gross dessen Konflikt als Ursache der diagnostizierten kulturellen Krise betrachtet. Entgegen dieser Auffassung aber beobachtet er eine gesellschaftliche Tendenz, nach der Exemplare dieses Charaktertyps »mit Abscheu oder Verehrung oder Mitleid als beunruhigende Ausnahmen empfunden und auszumerzen versucht worden sind.«769 Die abfällige Erwähnung »diese[r] Normalität von heute« deutet ein Argument an, das die landläufigen Zuschreibungen von Normalität und Abweichung, von Pathologie und Gesundheit verkehrt und die Gesundheit des Außenseiters in der kranken Gesellschaft betonen will.770 Diejenigen Ausnahmeindividuen also, die von der Normalität abweichen und unter dem beschriebenen Konflikt leiden, sind durch 764 765 766 767 768 769 770

Ebd., 385. Ebd., Hvbg. i. O. Ebd., 386. Ebd., Hvbg. i. O. Ebd. Ebd. Dieses Argument bemüht auch der Dichter Seiler in Franks Erzählung: »Dass 99 Prozent aller Menschen irrsinnig sind. Und der übrige ganz kleine Prozentsatz Menschen, von denen man im Leben sagt, sie seien verrückt, unzurechnungsfähig, weltfremd, sich am schärfsten dem Normalzustand des Menschen genähert haben.« (U, 54)

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eine besondere Befähigung zur Introspektion und ein besonderes Differenzierungsvermögen ausgezeichnet. Gross’ Argument mündet schließlich in eine geschichtsphilosophische Verheißung, die vom Ende einer entlang des »Vaterrechts« organisierten Familien- und Gesellschaftsordnung und von einer »kommenden Revolution« als der »Revolution fürs Mutterrecht«771 kündet. Franks Novelle lässt sich vor diesem Hintergrund als Kampfplatz der von Gross beschriebenen Charaktere lesen. Das Bestreben ihres Protagonisten ist die Tilgung jenes Konflikts, die Anton Seiler durch die erhoffte Entschuldigung des Lehrers zu erreichen sucht: »Das würde ihm die Kraft zur Reinigung geben, zu einem neuen, rückgratvollen Leben.« (U, 35) Es ist bemerkenswert, dass auch hier der aus früheren Texten bekannte Gedanke der Reinigung auftaucht. Allerdings handelt es sich in diesem Fall nicht um ein tabula-rasa-Konzept, sondern vielmehr um einen individuellen ›Abschluss‹, einen persönlichen Versuch der Versöhnung. Die Reinigung verläuft jedoch blutrünstig. »[W]ie ein Schulknabe« (U, 37) fühlt sich der Dichter im Zimmer des Lehrers und erlebt dadurch sein Trauma ein zweites Mal. Neben dem Racheaffekt geschieht der Mord jedoch auch aus Gründen der Prävention: Im Anblick des misshandelten Schuljungen mordet Anton Seiler den Lehrer nicht zuletzt, um die Traumatisierung weiterer Generationen zu verhindern. Die folgende Analyse konzentriert sich auf die Gerichtsverhandlung, weil die Verschiebung des ursprünglich schulischen Konflikts in den Gerichtssaal die Pointe des Texts darstellt. Denn damit versetzt Frank die Institution der Schule in eine paradigmatische Reihe weiterer Institutionen und universalisiert sie. Diese Institutionen eint die Negierung des traumatischen Konflikts, den Frank von Gross übernimmt und zum Hauptargument seines Textes macht. Die Schule steht für eine institutionalisierte Verweigerung von Empathie und Verständnisbereitschaft, für eine gewollt oberflächliche Interpretationshaltung. Das Gericht, so zeigt die zweite Hälfte von Franks Novelle, stellt in seiner oberflächlichen Haltung bei der Suche nach Erklärungsmustern für den Mord die Schule lediglich auf Dauer. Zunächst steht für das Gericht fest, dass das Motiv des Dichters Raubmord ist. Der Untersuchungsrichter tut den psychologischen Erklärungsansatz als lächerlich ab: »Acht Jahre waren Sie damals alt! Wie? .. Und als einunddreißigjähriger Mann gehen Sie hin und ermorden Ihren Lehrer, weil er Ihnen, als Sie Kind waren, eine kleine Strafe auferlegt hat … Unsinn, was?« (U, 48) Der Dichter dagegen insistiert, die traumatischen Kindheitserlebnisse nähmen die Willensfreiheit und reduzierten den Menschen zum Instrument:

771 Gross: Zur Überwindung der kulturellen Krise, 387.

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»[…] daß die ohne Zweifel zahllosen schändlichen Kindheitserlebnisse zusammen, die vergessen und verdeckt in einem Menschen sitzen, ihn gegebenenfalls zu ihrem Werkzeug für jede Tat […] machen können. […] Plötzlich begeht man das Schrecklichste, denn der eigene Wille ist fortgezogen.« (U, 64 f.)

Zur Urteilsfindung wird auch ein Psychiater herangezogen, von dessen Fach sich das Gericht in naivem Naturwissenschaftsoptimismus eine präzise und fundierte Diagnose erhofft: »Es gibt […] heute schon nahezu mathematisch genaue Stützpunkte, von denen aus der Arzt mit relativ großer Sicherheit das wahre Seelenbild des Kranken nachzuzeichnen vermag.« (U, 92) Der Psychiater mobilisiert eine Reihe vage zwischen Kulturkrankheit und wirklicher Pathologie changierender Krankheitsbilder, wie sie um 1900 en vogue sind, etwa erbliche Vorbelastung, ruinierte Nervenkraft, ungesundes Milieu und beginnende Demenz, und kommt dann zu dem Fazit: »Da es sich beim Angeklagten um einen ausgesprochenen Grenzfall handelt, kann ich mich nicht entscheiden, ob infolge seiner vererbten und erworbenen Anlagen mildernde Umstände in Frage kommen dürfen.« (U, 93) Die massiv verunsicherte Deutungshoheit so diverser wissenschaftlicher Disziplinen wie Psychiatrie, Medizin, Pädagogik, Sexualwissenschaft oder Jurisprudenz um 1900 hat jüngst Michael Hagner an dem zeitgenössisch prominenten Fall erzieherischen Missbrauchs durch den Hauslehrer Andreas Dippold herausgearbeitet.772 Franks Text stellt diese Unsicherheit in der Urteilsbildung am Beispiel des Gerichtspsychiaters aus. Die Selbstverteidigung des Dichters läuft immer stärker auf den Begriff der titelgebenden »Ursache« hinaus: »Deshalb ist nur allen derjenige gerecht, der nicht nach den an der Oberfläche liegenden Motiven urteilt, sondern die Ursachen zu den Motiven sucht und dann urteilt.« (U, 97) Mit diesem Konzept plädiert Anton Seiler für eine juristische, medizinische und pädagogische Hermeneutik, die zwischen oberflächlichem Phänomen und tiefer liegenden Motiven oder Ursachen unterscheiden kann und unterscheiden will, die zuhört und seine Aussagen nicht als »Unsinn« (U, 48) abtut. Aus dieser Perspektive fordert Seiler auch eine nachhaltige Jurisdiktion, welche die eigentlichen Wurzeln der Schuld in einer misslungenen Erziehung anerkenne: »Ich sage, daß allen Menschen die Ursachen des Verbrechens ins Gehirn geschleudert werden, in einem Alter, in dem sie sich noch nicht dagegen wehren können, solange sie Kinder und einer eigenen gedanklichen Kritik noch nicht fähig sind … So werden [sie] schuldig, ohne schuldig zu sein.« (U, 98)

Der Dichter konkretisiert diese Behauptung mit einer Anekdote: Nachdem sein Vater sich einmal mit einem Lineal an ihm vergangen habe, habe er am folgenden Tag nach einer zufälligen Erwähnung des Wortes Lineal durch einen Klassen772 Michael Hagner: Der Hauslehrer. Geschichte eines Kriminalfalls. Frankfurt am Main 2010.

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kameraden rasend vor Verzweiflung eine Scheune angezündet: »Wenn man gerecht ist, ganz gerecht«, lautet die Schlussfolgerung des Dichters, »muß man sagen, daß nicht ich … sondern mein Vater der Brandstifter war.« (U, 67) In diesem Sinne kritisiert Seiler schließlich auch die Mitschuld des Gerichts: »Die Ursachen liegen tief. Man will sie nicht sehen. Man will nicht! … Weil man dann erkennen müsste, daß man mitschuldig ist.« (U, 84) Als Mitschuldige benennt er dann mehrfach die »falsche Erziehung« (U, 102), um schließlich in einem – an Gross gemahnenden – gesellschaftskritischen Rundumschlag eben diese als erste Ursache einer Tendenz auszumachen, die als zivilisatorischer Rückschritt, als Regress in die Barbarei zu paraphrasieren wäre und das Argument der Dialektik der Aufklärung in Erinnerung ruft: »Der Dunst der Schulen, der falschen Erziehung, der Eltern, Frömmelei, des ganzen stinkenden Moralgeschwürs bildet furchtbar drohend das Wort Ursache weithin sichtbar am Himmel. Der europäische Mensch ist zum kranken, tückischen, reißenden Tier geworden. Gott, die Menschenliebe, die Güte, zogen sich entsetzt zurück vor dem vom Wahnsinn gezeichneten europäischen Gesicht.« (U, 85)

Der Erziehungsprozess erreicht diesem Argument zufolge sein Ziel der Zivilisierung nicht, sondern vielmehr das Gegenteil, indem er seine Subjekte in den vormenschlichen, animalischen Zustand zurückversetzt, ja geradezu bis zum Wahnsinn pathologisiert. Daraus leitet Seiler in seinem Schlussplädoyer schließlich ein Szenario ab, das in mehr als einer Hinsicht eine avantgardistische Signatur trägt: Seine Schilderung des spannungsgeladenen Konflikts zwischen Arm und Reich deutet ein unmittelbar bevorstehendes Gefecht zwischen den beiden Klassen an und zeichnet sich damit durch die von Plumpe erwähnte kairologische Zeitauffassung auf. Vor allem aber erhält die Sprache des Dichters eine religiöse, predigende Färbung, die seine Rede zu einer rhetorischen Beschwörung macht. Sie geht über die intratextuelle Instanz des Gerichts hinaus und adressiert den Leser der Erzählung – sie überwindet mithin den Charakter eines literarischen Werks und wird zum Manifest: »Aber unten wird der Trichter eng, immer enger, und das Wasser rast im Kreis! Unten werden die Menschen herumgewirbelt, gegeneinander geschleudert. Eine ungeheure Reibung findet statt – der furchtbare Kampf ums nackte, nackte Leben! […] Millionen zwingt man, die Armut da unten zu ertragen, im Elend zu verblöden und unterzugehen! Anderer Millionen Unglückliche drängen hinauf, wo die Kreise groß sind, wo das Leben ist. Aber die Oberen und der Rhythmus des furchtbaren Wirbels drücken nach unten. Und dieser Wunden schlagende Rhythmus der sozialen Verhältnisse ist nur durch Verbrechen zu unterbrechen … Dann wird verurteilt und geköpft.« […] »Eines Tages […] stoßen die in diesem Wirbel empfangenen Ursachen einen Strahl Gift ab … und dies, nur dies ist des Menschen Motiv zum Verbrechen, zum Mord. Denn ich sage Ihnen: das Motiv ist nur das vorletzte Glied in der Ursachenkette… Das letzte Glied ist die Tat.« (U, 103 f.)

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Seine wiederholten Appelle nützen dem Dichter nichts, er wird schließlich einstimmig zum Tode verurteilt, und das nicht ohne einen weiteren Seitenhieb auf die Psychoanalyse.773 In der Nacht vor seiner Hinrichtung steigert sich setzt bei Anton Seiler geistige Verwirrung ein, die sich derart steigert, dass seine ›Ursachen-Theorie‹ schließlich zum Sprachspiel verkommt: Da verwirrte sich in seinem plötzlich heiß werdenden Hirn der Begriff von Uhr und Ur, von Ursache und Zeit. Er sagte in entsetztem Erstaunen: »Ursache ist … Uhrsache.« […] Das ist ja wunderbar. So wunderlich einfach – Zeit und Uhr gibt Ursache«, rief er. »Ah! … Zeitursache!« (U, 140)

An den Vertretern des Gerichts ungehört abgeprallt, verliert das Plädoyer des Dichters, welches das Trauma einer demütigenden Erziehung zur Ursache der kulturellen Krise erklärt, seinen kommunikativen Gehalt und ist schließlich lediglich Material für ein Spiel mit Begriffen. Der Schluss des Texts beschreibt in naturalistischer Detailtreue – eine Tendenz, die sich in Franks späteren Texten noch verstärken wird774 – die letzten Minuten der Hinrichtung. Der in interner Fokalisierung geschilderte Moment des Todes stellt noch einmal den Versuch des Dichters aus, die Entwicklung seines Lebens auf diesen Moment hin zu begreifen: Das Gehirn des Dichters begann im Kopfe zu kreisen, schnellte einen letzten Gedanken ab. Er wollte noch überlegen, ob der Mensch vielleicht nur aus Gewohnheit böse sei. »Ist alles nur Gewohnheit?« Da stürzte das Blut schon vom Halsstumpf weg, in großem Bogen sich selbst nach, entsetzt, als wolle es sich wieder in den Körper zurückholen. Das Sägemehl wurde rot. (U, 145)775

Dieser Abschnitt ist mehr als wirkungsästhetischer Selbstzweck. Neben der drastisch dargestellten Gräuel der Hinrichtung klagt die Passage mit dem im Wortsinn abgebrochenen Gedankengang die absolute Verfügungsgewalt staatlicher Institutionen an. Wenngleich es hier konkret um das Gericht und seinen Vollstreckungsapparat geht, richtet sich die Anklage, die der Text äußert, jedoch auf einen wesentlich weiteren Kreis von Instanzen, nicht zuletzt die Schule, die Verständnisbereitschaft verweigern. Damit schließt sich gewissermaßen ein 773 Einer der Geschworenen brüstet sich: »Diese Theorie der vergessenen Kindheitserlebnisse ist eine erst vor wenigen Jahren aufgekommene neue Richtung. Modernste Seelenanalyse. Ungreifbar wie die Luft […].« (U, 112) 774 Die detailgenaue Beschreibung von Gewalt wird insbesondere in Franks Anti-Kriegs-Erzählungen in dem Band Der Mensch ist gut zum Stilprinzip. Vgl. dazu Fähnders: ›Der Mensch ist gut‹. 775 Der Zusammenhang zwischen Erziehung, Verbrechen und Gewohnheitsbildung kann hier nicht näher verfolgt werden, wird aber im Text immer wieder hergestellt. Dahinter steht eine um die Jahrhundertwende mit erneuter Brisanz geführte Diskussion um den Stellenwert von Gewohnheiten und deren möglicher Disziplinierung. Vgl. Bernhard Kleeberg (Hg.): Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750 – 1900. Berlin 2012.

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Kreis zur Lektüre von Conrad Ferdinand Meyers Novelle Das Leiden eines Knaben.776 Auch dort, so wurde gezeigt, verweigert die Schule eine verständnisvolle Haltung. Auf der Handlungsebene geht es in beiden Texten um den aufrichtigen Nachvollzug der Genese eines Vorfalls. In semiotischer Hinsicht wird, grundsätzlicher, ein hermeneutisches Vermögen verhandelt, das sich nicht mit der oberflächlichen Erklärung eines Tathergangs zufrieden gibt, sondern um wirkliches Verstehen im Sinne dieses Nachvollzugs bemüht ist. Dass die institutionelle Hermeneutik auch fast fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Meyers Novelle noch nicht erfassen kann oder will, was einem pädagogischen oder juristischen Vorfall zugrunde liegt, ist das traurige Fazit von Franks Ursache. Erwachsen geworden, haben die potentiell suizidalen d¦cadents ein aggressives anarchisches Potential entwickelt. Wenngleich die avantgardistische Tendenz bei Frank insofern auch eher verhalten ist, so zeugt doch die rhetorische Struktur der Erzählung, welche die Konstellation der Gerichtsverhandlung vorgibt, mindestens von einer didaktisch-persuasiven Absicht. Bronnens Dramen werden sowohl diesen avantgardistischen Anspruch als auch das anarchische Moment, das Franks Text nur andeutet, noch konsequenter umsetzen. Denn dort besteht die gesellschaftspolitische Operation, welche die erzieherischen Verfehlungen an der Jugend sühnen soll, in einer totalen, ent-grenzenden, ja mörderischen Selbstermächtigung der Jugend.

b.

Die Gründung des Jugendreichs auf der Sprengung der Form: Arnolt Bronnens ›Geburt der Jugend‹ (1914)

Der Gedanke, die Schule durch eine von politischem Messianismus charakterisierte anarchische Bewegung zu überwinden, leitet bereits eines der kanonischen Dramen des Expressionismus an: Walter Hasenclevers Der Sohn – 1914 als sein erstes Werk verfasst und 1916 aus Zensurgründen in Dresden vor handverlesenem Publikum uraufgeführt – setzt bezeichnender Weise mit dem Ende der Schulzeit ein. Der Vater-Sohn-Konflikt entzündet sich daran, dass der in seiner Anonymität gleichsam alle Söhne umfassende ›Sohn‹ die Matura nicht besteht. Die Innovation liegt bei Hasenclever im Gegensatz zu den ›Schulversager‹-Texten der Jahrhundertwende allerdings darin, dass sein Protagonist freiwillig, ja geradezu willentlich scheitert: »Ich bin 20 Jahre alt und könnte am Theater sein oder in Johannesburg Viadukte bauen«, klagt der Sohn.

776 Vgl. Kapitel II.1.

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Weshalb muß es an der Formel für den abgestumpften Kegel scheitern! Alle Professoren waren mir gewogen, sogar der Direktor sagte mir vor. Ich hätte die Aufgabe glänzend gelöst – wäre ich nicht im letzten Augenblick geflohn. Ich glaube, es gibt etwas, das zwingt uns zum Schmerz. Ich hätte die Freiheit nicht ertragen. Vielleicht werde ich niemals ein Held. […] Ich wußte sogar, daß man den kleinen vom großen Kegel subtrahiert und trotzdem – ich habe es nicht getan.777

Der Hauslehrer des Sohnes greift als Erklärung für diesen Vorfall auf das altbekannte Muster der geistigen Überforderung zurück: »Wir hätten in den letzten Tagen nicht so viel arbeiten sollen. Ihr Zustand ist begreiflich. Sie stehen unter einer seelischen Depression.«778 Der Sohn widerspricht jedoch und liefert eine Ursachenanalyse, die der Pragmatik des Lehrers das Primat des Gefühls entgegensetzt. Darin konfrontiert er die Rationalität des Lebenslaufs mit einem irrationalen Moment: Ich glaube, die Seele der Menschen ist nicht so einfach. Dieser Tag ist ein Erlebnis. Meine Sehnsucht, frei zu werden, war zu groß. Sie war größer als ich, deshalb konnte ich sie nicht erfüllen. Ich habe zu viel empfunden, um noch Mut zu haben. Ich bin an mir selbst verblutet. Ich werde wohl niemals die Kraft haben, das zu tun, wofür ich da bin. Jetzt sehen Sie ein, daß ich die Matura nicht bestehen konnte: Ich wäre an irgend etwas zugrunde gegangen.779

Im Gegensatz zur Tragik des schulischen Scheiterns in den frühen Texten wird der bewusste Ausstieg hier zum Instrument heroischer Selbststilisierung. Die neue Freiheit ist vor allem die, sich willentlich dem vom Vater vorgeschriebenen Lebenslauf verweigern und stattdessen das emphatische Leben suchen zu können (»man lebt ja nur in der Ekstase«780). Das bewusste Scheitern an der Matura wird somit gleichsam zur Epiphanie: »[…] die Spanne bis zum Ende der Schule erschien mir weiter als das ganze Leben. Nun aber bin ich durchgefallen – und ich begann zu sehen.«781 Zwar wird der Sohn in der neu gewonnenen Freiheit zunächst zum Propheten und Sprachrohr einer politisch ambitionierten Jugendbewegung, die sich gegen die Vätergeneration wendet. Tatsächlich gerät er jedoch nur von einem Autoritätsverhältnis ins nächste, wenn er statt den expliziten Vorgaben des Vaters nun dem suggestiven Einfluss des Freundes unterliegt, der ihn für seine Zwecke missbraucht. Das alternative Leben wird als Dystopie entlarvt, ja es wird geradezu in Frage gestellt, ob ein Leben jenseits von manipulativen und Autoritätsverhältnissen überhaupt möglich ist. Der Schluss des Dramas jedenfalls lässt diese Frage offen. 777 Walter Hasenclever: Der Sohn: In: Ders.: Sämtliche Werke. Bearb. von Annelie Zurhelle. Bd. II, 1: Stücke bis 1924. Mainz 1992. 233 – 322, hier 235. 778 Hasenclever: Der Sohn, 236. 779 Ebd. 780 Ebd., 237. 781 Ebd., 259.

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Bronnens Avantgarde: Kunst und Leben Hasenclevers Drama gilt wohl nicht zuletzt wegen dieser entlang typisch expressionistischer Dichotomien wie ›jung/alt‹, ›Sohn/Vater‹, ›Schüler/Lehrer‹ strukturierten Handlung als paradigmatisches Werk der Epoche. Aufschlussreich ist hier jedoch insbesondere die Tatsache, dass es mit dem freiwillig herbeigeführten Ende der Schule einsetzt und auf diese Weise die politische Jugendbewegung, die im Zentrum des Dramas steht, auf die Negation der institutionalisierten Bildung gründet. Eben diese Denkfigur leitet auch Arnolt Bronnens frühe Dramen an – die Dramen eines Autors, dessen Biographie als eine der brisantesten unter den Kunstschaffenden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann. Die Tatsache, dass Bronnen den Ruf eines nicht nur literarischen »Radikalinskis«782, eines Skandalautors der Weimarer Republik und des Dritten Reichs erwarb, liegt wohl in erster Linie in der avantgardistisch zu nennenden Radikalität begründet, mit der er seine politischen und ästhetischen Aktivitäten als Einheit ansah. Im Folgenden soll daher der in der Forschung häufig bedauernd zur Kenntnis genommene Mangel an Trennung zwischen beiden Bereichen gerade als Charakteristikum Bronnens und seines Werks begriffen, die Texte also ihrer avantgardistischen Logik gemäß verstanden werden, die »keinen Unterschied zwischen Kunst und Leben macht«783. Ein Zeitgenosse hat diesen Befund auf die prägnante Formel gebracht, Bronnen sei ein Autor, »der mehr Wert darauf legt, Zeitgenosse als Dichter zu sein.«784 Dabei hat der oftmals widersprüchliche Facettenreichtum von Bronnens Biographie immer wieder für Irritation gesorgt: Er war verwirrend viel – Expressionist, Realist, Naturalist und Stückeschreiber, Anarchist und Utopist, Linksrevolutionär, Faschist und Nationalbolschewist, Österreicher und Alldeutscher, Germanophile und Philosemit, Militarist und Pazifist, ein besessener Sucher und Opportunist, ein großes Talent und ein Hochstapler, sein eigener Ankläger, Verteidiger und Richter, ein Meister und ein Opfer brillanter Selbstinszenierung.785

Was diese diversen Zuschreibungen – über deren Angemessenheit und Gewichtung die Forschung nach wie vor diskutiert – eint, ist die darin zum Aus782 Uwe-Karsten Ketelsen: »›Ne klebrige Sauce, die ich andernfalls in mein Präservativ gewischt hätte‹. Zur Gewalt in Arnolt Bronnens Dramen-Erstling ›Recht auf Jugend‹ (1913)«, in: Hans-Günter Diller (Hg.): Gewalt im Drama und auf der Bühne. Festschrift für Günter Ahrends zum 60. Geburtstag. Tübingen 1998. 73 – 84, hier 76. 783 Hans Mayer: »In Sachen Arnolt Bronnen. Nachwort«, in: Arnolt Bronnen: Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll. Beiträge zur Geschichte des modernen Schriftstellers. Kronberg im Taunus 1974. 242. 784 Lutz Weltmann: »Arnolt Bronnen«, in: Die Literatur 30 (1927/28), 628 – 32, hier 632. 785 Jürgen Schröder : »Arnolt Bronnen«, in: Wolfgang Rothe (Hg.): Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Bern / München 1969. 585 – 94, hier 585.

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druck kommende radikale Haltung Bronnens und seine Neigung zu tabula-rasaSzenarien, welche die Grundlage für eine neu zu schaffende gesellschaftliche Ordnung stiften sollen. Davon zeugt seine zwischen politisch rechten und linken Totalitarismen changierende Biographie und Poetologie, die hier in groben Zügen umrissen werden sollen. Bronnens Familie gehörte zwar eher dem Kleinbürgertum an, war aber – dies gilt zumal für den Vater Dr. Ferdinand Bronner (Pseudonym Franz Adamus) – häufig Gastgeber künstlerischer Zusammenkünfte. Das Verhältnis zu Ferdinand Bronner, dessen Vaterschaft Bronnen später in Frage stellen und daraufhin auch seinen Taufnamen Arnold Bronner in Arnolt Bronnen ändern sollte, war konfliktreich; auch in der Schule empfand Bronnen sich als Außenseiter.786 Vor allem die Ablehnung des Vaters kann als »Kristallisationspunkt der Teilung der Welt in ›jung‹ und ›alt‹«787 gelten, die zumindest das Frühwerk Bronnens bestimmen wird. In dieser Stimmung verfasste Bronnen alle drei der hier behandelten Dramen, bevor der Erste Weltkrieg, in den er wie so viele seiner Generation euphorisch einzog, seine Produktion unterbrach. Im Anschluss daran ist eine Entwicklung ins politisch rechte Lager erkennbar,788 wobei deren Vertreter trotz der Kontakte zu führenden Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels sein literarisches Œuvre nicht goutierten, sondern sich in erster Linie für seine propagandistische Arbeit interessierten. Nicht zuletzt aus diesem Grund wendete Bronnen sich schließlich dem politisch linken Lager zu.789 Diese biographische Entwicklung lässt sich anhand von Bronnens literarischem Werk nachvollziehen. Denn gemäß der avantgardistischen Logik seiner Arbeiten ist die Poetologie der Texte eng mit seiner weltanschaulichen Haltung verbunden. In diesem Sinne kennzeichnen Bronnens Texte zwei Operationen, die auch für andere Autoren gelten können, die der sogenannten Konservativen Revolution zuzurechnen sind: Die Autoren reduzierten die komplexen Probleme der Moderne auf eine radikale Weise, indem sie […] die Ausdifferenzierungsprozesse, die die gesellschaftliche Entwicklung des vorausgegangenen Jahrhunderts kennzeichneten, mit globalen, ja nachgerade planetarischen ›Sinn‹entwürfen überwölbten. […] Das war die eine Operation, die andere bestand in einer radikalen Ästhetisierung der Auseinandersetzung.790 786 Vgl. Ursula Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens. Wandlungen seines Denkens. Frankfurt am Main, Bern, New York 1985 (Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 788), 63 f., sowie ausführlicher Friedrich Aspetsberger: ›arnolt bronnen‹: biographie. Wien / Köln / Weimar 1995. Hier insbes. 19 – 80. 787 Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens, 66. 788 Vgl. ebd., 91 – 202, insbes. 180 – 93. 789 Vgl. ebd. 203 f. 790 Uwe-K. Ketelsen: »Die Sucht nach dem ›resistenten Zeichen‹«, in: Frauke Meyer-Gosau, Wolfgang Emmerich (Hg.): Gewalt – Faszination und Furcht. Stuttgart 1994 (Jahrbuch für Literatur und Politik in Deutschland, Bd. 1), 96 – 118, hier 96.

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Diese Ästhetisierung nimmt bei Bronnen in erster Linie die Form einer Ästhetisierung von Gewalt an. Von dieser Tendenz zeugen seine nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Texte wie etwa die Dramen Sturmpatrull, Die Exzesse, Anarchie in Sillian, Die Katalaunische Schlacht, Rheinische Rebellen und Ostpolzug sowie in zunehmendem Maße Prosatexte: Septembernovelle – die einen Lehrer zum Protagonisten hat791 – und Napoleons Fall, bis hin zu dem 1929 erschienenen und umstrittenen Oberschlesien-Roman O.S., in inhaltlicher wie in poetologischer Hinsicht dem Höhepunkt der Entwicklung. Der Literaturwissenschaftler Klaus Schröter hat O.S., wiederum die avantgardistische Absicht betonend, als »erstes Beispiel des politischen ›Bildungs- oder Erziehungsromans‹«792 bezeichnet, dessen Ziel eine »sozialrevolutionäre Belehrung« des Lesers sei. Uwe-Karsten Ketelsen weist am Beispiel des Romans auf die zeitgenössisch insbesondere von Kurt Tucholsky kritisch diagnostizierte »Entsubstantialisierung«793 von Bronnens Schreiben hin, die Ketelsen dort wesentlich im Verlust der Referenz von Zeichen und Bezeichnetem ausmacht. An die Stelle dieser Referenz rücke eine Poetologie der Oberflächlichkeit: »Worauf es ankommt, ist nicht die Wahrheit der Zeichen, sondern deren Überzeugungskraft, besser noch: deren appeal […].«794 Der Raum, der durch diesen Referenzverlust entstehe und der die »Totalisierung des Textraumes«795 ohne jeglichen Bezug zu einer extratextuellen Realität bedinge, werde durch Gewaltszenarien gefüllt: »[…] ja es ist sogar die Funktion dieser Leere, der Aktion ihr Feld zu schaffen.«796 Am Ende der Gewalteskalation stehe der Mythos als reintegrierendes Moment.797 Man kann die Poetologie, die hier am Beispiel von O.S. umrissen wurde und 791 Arnolt Bronnen: Die Septembernovelle. Nendeln, Liechtenstein 1973. Die 1921 erschienene Novelle behandelt die Eskalation des sexuellen Missbrauchs eines Schülers durch seinen Lehrer. Ursula Münch sieht in dem Lehrer Gustav Wyneken porträtiert, eine Interpretation, die nicht zuletzt durch Bronnens persönlichen Kontakt zu diesem und dessen umstrittene Praktik des ›pädagogischen Eros‹ plausibel ist. Zu Wyneken vgl. Kapitel IV.2. Vgl. Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens, 85 f. 792 Klaus Schröter : »Arnolt Bronnen. Protokollant seiner Epoche«, in: Ders.: Literatur und Zeitgeschichte. Fünf Aufsätze zur deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Mainz 1970. 111 – 39, hier 133. 793 Ketelsen: Die Sucht nach dem ›resistenten Zeichen‹, 102. Ketelsen weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass – obgleich Tucholsky und andere Zeitgenossen diese Charakteristik von Bronnens Werk als skandalös rezipierten – gerade darin Bronnens eminente Modernität bestanden habe; ein Umstand, den Bronnen selbst sehr wohl bewusst war. Vgl. ebd., 100 f. 794 Ebd., 103. 795 Lars Koch: »›The blood ran riot through my veins‹. Die Selbstinszenierungsstrategien Arnolt Bronnens zwischen Kunstverachtung, Kulturindustrie und politischem Radikalismus«, in: Stephan Neuhaus, Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Folgen – Funktionen. Göttingen 2007. 278 – 88, hier 286. 796 Ketelsen: Die Sucht nach dem ›resistenten Zeichen‹, 108. 797 Vgl. ebd., 113 f.

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deren Elemente sich bereits im Frühwerk andeuten, als Habitusstrategie Bronnens betrachten im Sinne des Anspruchs, zu definieren, »was im literarischen Feld als zeitgemäße Kunst akzeptiert wird«.798 Die politische Ambition dieser Poetologie kommt möglicherweise besonders deutlich in der Episode aus Bronnens Biographie zum Ausdruck, die als auch zeitgenössisch brisant diskutierter ›Radioskandal‹ in Erinnerung geblieben ist. Im Rahmen einer von der Reichsrundfunkgesellschaft ausgerichteten Tagung zum Thema »Dichtung und Rundfunk« kommt es zum Eklat, als er das Publikum mit einem kulturpolitischen Statement provoziert: Wir haben hier Leute reden hören, die der bedauerlichen Ansicht gehuldigt haben, der Rundfunk sei eine Versorgungsanstalt für ausgediente Literaten. (Lebhafter Widerspruch und Proteste aus der Versammlung) In Wirklichkeit ist der Rundfunk nicht für die Dichter da, sondern für die Nation. Ihn interessiert an den Dichtern nicht das Schaffen des einzelnen, er sieht in dem Dichter nur das Instrument der Gedanken der Nation.799

Ganz deutlich manifestiert sich hier der avantgardistische Anspruch, der Bronnens politischer und ästhetischer Überzeugung zu diesem Zeitpunkt zugrunde liegt und der nicht zuletzt der nationalsozialistischen Instrumentalisierung der Medien den Boden bereitet, wenn Bronnen dann an die historische Praxis des Mäzenatentums erinnert. Mit Blick auf den Rundfunk will er diesen in heilsgeschichtlicher Rhetorik zu neuem Leben erwecken: Das aber ist der entscheidende Punkt, indem nämlich jene Mächte der Vergangenheit von einem so starken Kulturwillen aus ihre Aufträge diktierten, daß selbst der gottloseste Künstler wieder erfüllt wurde von den Kräften des Himmels, während die heutigen Institutionen ihren Auftrag formal beschränken.800

Diesen suggestiven ›Kulturwillen‹ beschwört er abschließend zum zunehmenden Unmut seines Publikums: Der Rundfunk ist heute die größte Macht für alle Künste des Wortes. Diese Macht ist leer und wesenlos, ein schlotternder Schemen, der sich drahtlos verbreitet. Diese Macht muß erfüllt werden. Sie muß erfüllt werden von dem Geiste, der ausströmt, vom Volke, das empfängt. In einer Zeit, die verworren ist bis zur letzten Schraube […] mögen Männer aufstehen, die diese Macht lebendig machen von innen heraus; im Dienste der Nation. (Widerspruch)801

798 Dies tut Koch: ›The blood ran riot through my veins‹, 283. 799 Arnolt Bronnen: »Rede über das Hörspiel«, in: Gerhard Hay (Hg.): Literatur und Rundfunk 1923 – 1933. Hildesheim 1975. 338 – 39, hier 338. 800 Bronnen: Rede über das Hörspiel, 339. 801 Ebd.

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Bronnen bietet an dieser Stelle das ganze Arsenal der konservativen Modernekritik auf: Die zur kollektiven Verwirrung gesteigerte Kontingenz des Zeitgeistes, der die Substanzlosigkeit seiner Kommunikation entspricht, bleibt so lange technisch ohne Ausdruck, bis sie von einem mythisch beschworenen ›Geist‹ erfüllt wird. Der Begriff des Volksempfängers erfährt hier in der Wendung des Volkes, das die Botschaft einer neuen Ära empfängt, eine geradezu spiritualistische Überhöhung, und die Anrufung der Männer nimmt die Ermächtigung, die 1933 tatsächlich folgen wird, gleichsam vorweg. Wie bereits angedeutet, passten zwar solch propagandistische Auftritte – als ein weiterer Fall wäre etwa die Störung von Thomas Manns Deutscher Ansprache zu nennen, die Bronnen 1930 mit der Unterstützung von SA-Männern unternahm – bestens in das nationalsozialistische Programm. Sein schriftstellerisches Werk dagegen sperrte sich dieser Weltanschauung. Gerhard Scheit, der die lange vernachlässigte Zusammenarbeit von Bertolt Brecht und Arnolt Bronnen sowie die Affinitäten zwischen den auf den ersten Blick denkbar unterschiedlichen Autoren herausgearbeitet hat,802 schreibt: […] Bronnen gelang es mit solchen Stücken, nur einen bestimmten Flügel innerhalb des Spektrums der faschistischen Bewegung in der Weimarer Republik anzusprechen; und zwar jene Kreise um die Brüder Jünger […], Ernst Niekisch, Salomon, Strasser etc. Genausowenig aber wie sich diese Kreise innerhalb der gesamten Bewegung schließlich politisch und kultur-politisch durchsetzten, genausowenig hatten auch die Dramen Bronnens Zukunft in ihr. […] Kurz: auf dem nationalsozialistischen Theater war für jenen Typus des faschistischen Dramas kein Platz. Dieser Widerspruch zwischen Rezeptions- und Theaterverhältnissen bestimmt Bronnens weitere Entwicklung.803

Diese Tendenz mündete in Bronnens Berufsverbot als Schriftsteller, das 1933 erging. ›Jugendkunst‹ (1920) als Programmschrift: der Kontext des Frühwerks Wie zu zeigen sein wird, ist eine ganze Reihe dieser weltanschaulich-ästhetischen Motive bereits in Bronnens frühen Dramen angelegt. In diesem Sinne lässt sich seine 1920 erschienene und von der Forschung weitgehend übersehene Abhandlung mit dem Titel Jugendkunst gleichermaßen als poetologisches wie politisches Manifest lesen. Sie erscheint als Fünfzig-Punkte-Programm in der 802 Als gemeinsame, insbesondere von der Brechtforschung lang unterschlagenen Momente, »die in der künstlerischen Produktion dazu tendieren, gesellschaftliche Zusammenhänge zu mystifizieren«, führt Scheit etwa den »Fetischismus von Technik und Sport« ebenso auf wie den »Vitalismus. Sie treten aber auch in der abstrakten Opposition gegen das Bürgertum […] und seine Demokratie in Erscheinung.« Gerhard Scheit: Am Beispiel von Brecht und Bronnen. Krise und Kritik des modernen Dramas. Wien / Köln / Graz 1988. 191. 803 Ebd., 200.

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Zeitschrift Der Leib. Konsequent in Kleinschreibung gehalten und ohne einheitliche Syntax oder systematische Interpunktion verfasst, formuliert die Schrift schon auf formaler Ebene ihren anarchischen Anspruch, der sich Konventionen verweigert. Der Text führt kein linear dargelegtes Argument aus, sondern reiht lediglich assoziativ, oftmals redundant und Grundoppositionen nur reformulierend, Stichworte aneinander. So wenig man insofern von einer eigentlichen Aussage sprechen kann, sollen doch im Folgenden die Grundzüge der darin geäußerten Überzeugung dargelegt werden. Zunächst charakterisiert das Manifest eine Reihe semantischer Oppositionen: Die Begriffe ›Einheit‹, ›Gestalt‹, ›Allheit‹, ›Kunst‹, ›Gefühl‹ und ›Tat‹ etwa werden dem semantischen Feld der Jugend zugeordnet, während ›Einzeltum‹, ›Form‹, ›Vernunft‹ oder ,Rechnung‹ mit dem des Alters verbunden sind. Programmatisch durchzieht den Text also zunächst die bekannte Dichotomie von Jugend und Alter, wobei ersteres offensichtlich bevorzugt wird. Eine Dynamisierung erfahren diese Zuschreibungen, wenn sie in ein konfliktreiches Verhältnis gesetzt werden. Der erste Zusammenhang betrifft den Begriff der Form. Mehrfach wird ihm gegenüber der Begriff ›Gestalt‹ privilegiert und eine anarchische Sprengung der Form angedeutet, die nicht zuletzt die konventionelle Form der Sprache überwinden soll. Den Hintergrund dieser Operation bildet die bereits im vorigen Kapitel diskutierte Feindlichkeit gegenüber allem, was mit Geist und Rationalität zu tun hat: 5. sprache aus not zur einheit strebend durch rechnung wird sie unfromm durch form krank durch begriffe unecht. sie verliert die anschauung folgt nicht dem fühlen. reinheit kann sie retten. unrein kommt ihr niederbruch. 6. eigenworte: form ist nicht gestalt. form ist bedacht gestalt wächst.804

Das revolutionäre Potential der Jugend geht, so wird an einem späteren Punkt deutlich, eben aus diesem Verzicht auf Begrenzung hervor : »38. denn da jugend sich nicht in formen bindet ja eben schaffende gemeinschaft stärkstes leben: so ist ihr unbewußtes überviel.«805 Damit hängt, und das wäre der zweite Zusammenhang, ein Kunstbegriff zusammen, der Kunst mit Aktion gleichsetzt: »45. das ist gesagt: daß nicht vernunft die lebenssteigerung über das tier sondern schöpferische möglichkeit tat und kunst […].«806 Hier erklärt Bronnen auch den Titel der Abhandlung: »47. das vorwort jugendkunst: nicht als ob jugend schon kunst wäre. doch ist kunst schöpferisch und so nur ist sie verstanden dann ist sie schwester der tat.«807 Und schließlich verleiht Bronnen dem avantgardistischen 804 805 806 807

Arnolt Bronnen: »jugendkunst«, in: Der Leib 1 (1920), 50 – 58, hier 50. Ebd., 54. Ebd., 57. Ebd., 57.

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Zug dieses Kunstverständnisses Ausdruck,808 der nicht zuletzt von einem deutlichen Dezisionismus geprägt ist: »21. sag nicht das sind zwei bilder. glaub nicht kunst sei zweifach deutbar. wir wandern nicht um die dinge herum; da ists, entscheid!«809 Die Jugend wird schrittweise kenntlich als ein erlösendes Kollektiv, das ein ›wahres‹ Leben im Medium dieser aktionistischen Kunst herbeiführen wird und damit gleichsam das Telos einer in einem paradiesischen Zustand erlösten Geschichte menschlichen Leidens darstellt: 42. echte jugend die einheit gestalt ist die als allheit höchste steigerung des lebens trägt da sie allein die möglichkeit der kunst der tat: ist sie allein schaffend. […] 48. wo bleibt hier einzeltum? der held jedoch; ist er doch stets gestalt ein leib der vielen wie der allheit sprache. […] heilige zeiten kommen mit ihm. […] 50. eine heilige erträumte jugend aller menschlichen zeiten heimkehr und erfüllung; sie zu schaffen leben wir.810

So begegnet hier wieder die charakteristische kairologische Zeitauffassung. Bronnens letzter, der fünfzigste, Punkt kündigt, einem heilsgeschichtlichem Versprechen gleich, von dem Anbruch eines Jugendreichs. Eine ähnlich sozialrevolutionäre Tendenz, welche die Ablösung der patriarchalen durch eine fraternale Gesellschaftsordnung ankündigt, formuliert nur ein Jahr zuvor der österreichische Arzt und Psychoanalytiker Paul Federn. In der 32. Nummer des Österreichischen Volkswirtes veröffentlicht er 1919 einen Aufsatz, dessen Titel »Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft« Otto Gross’ Abhandlung in Erinnerung ruft. Federn erklärt darin die bisherige Ehrfurcht gegenüber dem Obrigkeitsstaat durch ein »Verlangen nach vaterähnlicher Autorität«, das er durch die bürgerliche Familie konditioniert sieht.811 Durch das Ende des wilhelminischen Reiches jedoch »standen plötzlich in begreiflicher innerer Verwirrtheit eine Menge vaterloser Gesellen da.«812 Federn beschreibt daraufhin die Entwicklung einer »Bruderschaft Gleichberechtigter«813 und postuliert eine entsprechende gesellschaftliche Bruderordnung, die das sich bis dato zyklisch wiederholende Modell einer Vaterordnung ablösen werde: »Allmähhlich [sic!] wird die Struktur der Familie sich der neuen Ordnung anpassen, wenn nicht vielleicht diese einen Ersatz der Familie durch die 808 809 810 811

Vgl. insbesondere die Punkte 11 und 13, ebd., 51. Ebd., 52. Ebd., 56 – 58. Paul Federn: »Zur Psychologie der Revolution«, Auszüge zitiert nach Thomas Anz, Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910 – 1920. Stuttgart / Weimar 1982. 166 – 68, hier 166. Federn geht in diesem Zusammenhang auch auf die Schule ein: »Dass dann die Schule auch verstandesmäßig und methodisch diese Einstellung fördert, ist selbstverständlich; aber die Schule ist darin so erfolgreich, weil sie der Vatereinstellung entgegenkommt.« Ebd. 812 Federn: »Zur Psychologie der Revolution«, 166. 813 Ebd., Hvbg. i. O.

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Aufzucht der Kinder nach Mutterrecht oder nach einem unbekannten System nötig machen wird.«814 Bronnens Frühwerk steht also vor dem Horizont eines spannungsgeladenen gesellschaftlichen Aggregatzustands und im Kontext einer Vielzahl sozialpolitischer Sinnentwürfe, die vor radikalen Lösungen nicht zurückschrecken. So stehen in seinen drei frühen Dramen, wie schon die Titel andeuten, Jugend und ihre Revolte gegen die Elterngeneration im Mittelpunkt der Handlung. Dass sein Interesse für diese Diskurse über sein literarisches Schaffen hinausging, wird auch daran ersichtlich, dass er während dieser Zeit den Kontakt zu Gustav Wyneken und Siegfried Bernfeld suchte, also zu zwei herausragenden Vertretern der Jugendbewegung.815 Gustav Wyneken wollte ihm gar die Aufführung von Recht auf Jugend (1913) ermöglichen, die Bronnen aber damals aus Angst vor seinem Vater ablehnte.816 Die Dramen stehen miteinander in engem Zusammenhang, was allerdings nicht die Einschätzung der beiden letzteren als »Überarbeitung[en]«817 von Recht auf Jugend rechtfertigt – dafür sind die Texte jeweils zu eigenständig. Zutreffender ist die Beobachtung, dass Geburt der Jugend und Vatermord je einen der Aspekte des ersten Dramas intensiver behandeln: die Geburt die Rebellion gegen die Schule, Vatermord den innerfamiliären Konflikt.818 Diese Bemerkung plausibilisiert ferner Bronnens eigene Einschätzung, dass das zweite Drama mit Vatermord »eine Einheit bildet«819, wie er in der Ausgabe von 1922 vermerkt. Im Zentrum der folgenden Analyse soll die Geburt der Jugend stehen, ein Drama, das – im Gegensatz zu dem im expressionistischen Literaturkanon einschlägigen Vatermord – bislang von der Forschung kaum zur Kenntnis genommen wurde.820 Wengleich die Schule auch in den anderen beiden Dramen, 814 Ebd., 168. 815 Bronnen hatte Wyneken das Manuskript von Recht auf Jugend zugesandt, dieser es an Franz Pfemfert – den Herausgeber des Anfang – nach Berlin weitergeleitet. Wyneken traf sich daraufhin mit Bronnen, und dieser gehörte dann eine Zeit lang »zu dem neu gegründeten Wiener Arbeitskreis des Anfang unter der Leitung von Siegfried Bernfeld.« Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens, 68. Bronnen blieb allerdings nicht lange dabei. Ursula Münch weist darauf hin, dass die österreichische Wandervogelbewegung eine noch schärfere nationalistische Einstellung kultivierte, sich mithin politischer begriff, als es die deutsche Bewegung tat. Vgl. ebd., 71. 816 Vgl. Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900 – 1918, 43. 817 So Michael Schmidt, »Arnolt Bronnen«, in: Kindlers Literaturlexikon. Hg. von HeinzLudwig Arnold. Stuttgart / Weimar 2009. 195. Der Beitrag fällt äußerst kurz aus und berücksichtigt von Bronnens Gesamtwerk lediglich das Drama Vatermord. 818 So Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens, 25. 819 Arnolt Bronnen: Die Geburt der Jugend. Berlin 1922. Im Folgenden Siglenangaben. 820 Als Ausnahme kann etwa die Arbeit von Glen W. Gadberry zum Frühwerk Bronnens gelten, in dem dieser ausführlicher auch auf dieses Drama zu sprechen kommt. Vgl. Ders.: Arnolt Bronnen and the Revolt of Youth: A Critical Analysis of Selected Works. Ann Arbor 1975.

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die hier kurz besprochen werden sollen, ein wichtiges Motiv darstellt, kommt in der Geburt der Umschlag von der in der Schule repräsentierten bürgerlichen Ordnung in eine radikal neue Gesellschaftsform am deutlichsten zum Ausdruck. In Vatermord – 1915 verfasst, 1922 überarbeitet und im gleichen Jahr mit spektakulärer Wirkung uraufgeführt – hat die Schule den geringsten Stellenwert. Das Drama ist im proletarischen Milieu angesiedelt, der handlungsleitende Konflikt entzündet sich an der Frage nach der ›richtigen‹ Schule. Der Protagonist Walter Fessel will eine landwirtschaftliche Schule besuchen,821 doch der Vater verweigert die dazu nötige Unterschrift. Der versagte Namenszug des Vaters bindet den Sohn somit weiterhin an ihn und dessen Vision von der Zukunft seines Sohnes: »Dass du Rechtsanwalt wirst / Und für die Arbeiter eintrittst / Und dein Blut rächst […] / Unsereins hat halt kein Glück / Aber durch dich werd ichs zwingen«822. Zu dem bereits aus Kapitel II bekannten Motiv der Vollendung des väterlichen Lebenslaufes, das hier reaktiviert wird, kommt nun eine politische Dimension hinzu: Vater Fessel erhofft sich von seinem Sohn insofern eine Korrektur der eigenen Biographie, als er in dessen Beruf die Interessen des Proletariats gerächt sehen will. Die Ironie besteht allerdings darin, dass der Vater mit seinem stellvertretenden Ehrgeiz den Habitus eben des bürgerlichen Milieus repräsentiert und reproduziert, das er überwinden zu wollen behauptet. Überhaupt nimmt Vatermord eine Reihe von Motiven der Überbürdungsgeschichten wieder auf, etwa wenn Walter der Faulheit bezichtigt wird und nicht nur der Vater ihm Dummheit unterstellt.823 Auch das Insistieren auf das ›Lernen‹, unabhängig von seinem Gegenstand, ist bereits aus den früheren Texten bekannt. Einer der ersten Sätze des Vaters lautet: »Und jetzt lern ja seh wieder keine Bücher bei dir / Das ist / Rolf auch lernen hörst du«.824 Gleichzeitig ist es der Vater, der eben diesen Lernprozess blockiert.825 Das Drama bleibt allerdings an die individuelle Situation der Familie gebunden, die gewaltsame Eskalation findet entsprechend in der klaustrophobischen Enge des familiären Milieus statt und entlädt sich im sexuellen und gewalttätigen Rausch.826 Im Gegensatz zur Geburt der Jugend, das nur ein Mal aufgeführt wurde, feierte Vatermord

821 Vgl. Arnolt Bronnen: Vatermord. Berlin 1920. 15, 21. 822 Ebd., 27. 823 So sagt auch seine Mutter : »Wenn man so sieht wie dumm du dich stellst und nirgends kommst du mir weil du dich ja auch um nichts kümmerst und bist immer faul.« Ebd., 16. 824 Ebd., 13. 825 Vgl. ebd., 43. 826 In diesem Sinne wäre Vatermord als ein weiterer Phänotyp einer dramatischen Konstellation der »Enge« zu betrachten, wie Peter Szondi sie am Beispiel von Lorcas Bernarda Albas Haus als ein »Rettungsversuch« in der Krise des Dramas der Jahrhundertwende analysiert. Vgl. Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas 1880 – 1950. Frankfurt am Main 1965. 95 – 104.

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in kürzester Zeit auf den Bühnen der Weimarer Republik, in Wien und Prag ungeahnte Triumphe im positiven wie im negativen Sinn. Es kommt zu wahren Theaterschlachten mit Polizeieinsatz und sogar zu Aufführungsverboten. Kritik und Publikum sind gleichermaßen gespalten in rigorose Ablehnung einerseits, grenzenlose Begeisterung andererseits. […] Hans Rothe, damals Dramaturg am Leipziger Schauspielhaus, schreibt 1965 rückblickend über die Berliner Erstaufführung […]: »In Berlin fand die letzte große Prügelei statt, die die Theatergeschichte unseres immer ärmer werdenden Jahrhunderts zu verzeichnen hat.«827

Recht auf Jugend wurde zwar nie aufgeführt, stellt aber ähnlich drastische Szenarien dar wie die folgenden Dramen. In Bronnens erstem erhaltenen Drama verdeutlicht bereits das Personenregister die zunehmende Öffnung der Institution Schule für ihre Umwelt: Handlungsträger sind nicht mehr nur das genuin schulische Personal oder Familienfiguren, wenn dort auch »Prostituierte, Straßenarbeiter, Aufseher, Wachmänner, Passanten«828 verzeichnet sind. Der Protagonist Hans Harder steigert seine Revolte gegen Elternhaus und Schule bis zur Ermordung seines Cousins und später seiner Cousine, die als vermeintliche Märtyrer seiner Jugend-Ideologie größere Bedeutung verleihen sollen. Sein besessener Versuch, mit dem »Geheimbund der Jugend«829 eine anarchische Revolution der Jugend gegen die Elterngeneration zu stiften, scheitert jedoch. Auch hier stellt das ›Leben‹ das höchste Ziel von Harders Ideologie dar, das den Erziehungsinstitutionen radikal entgegen gesetzt ist: »Und wir wollen leben, trotz Eltern und Schule.«830 Die Bedeutung der Schule in diesem Text wird in zwei Passagen besonders deutlich. Aufschlussreich ist erstens der vierte Akt, der in der Schule situiert ist. Nach Ende der Griechischstunde beginnt Harder, seine Klassenkameraden zum Widerstand gegen die Professoren zu ermutigen. Seine Sprache nimmt eine religiöse Färbung an, und die Lehrerfigur wird, wie schon in den Texten des vorigen Kapitels beobachtet, gleichsam durch den Schüler-Prediger ersetzt.831 Schließlich wählt man ihn zum »Führer«832, der den Professoren den Standpunkt der Klasse vermitteln soll: Daß sie kein Recht haben, uns zu etwas zu zwingen! Daß wir ihnen jede Fähigkeit abstreiten, uns zu lehren und zu erziehen (großer Beifall), weil sie uns nie verstehen 827 Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens, 81 f. 828 Arnolt Bronnen: Recht auf Jugend. In: Ders.: Werke. Hg. von Friedrich Aspetsberger. Bd. 1. Klagenfurt o. J. 34, Personenverzeichnis. 829 Ebd., 43. 830 Ebd., 46. 831 »Narren seid ihr, die ihr euch in Kot wälzt wie junge Hunde. Narren seid ihr, die ihr euch begeilt in fauler Sinnlichkeit. Narren seid ihr, die ihr Spiel treibt mit euch und eurem Leben.« (Ebd., 129) 832 Ebd., 132.

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können! (großer Beifall) Und daß wir im Notfall auf nicht friedliche Weise ausbrechen würden! (großer Beifall)833

Mit der wiederholten Einfügung solch rhetorisch-persuasiver Ansprachen rückt das Drama in manchen Momenten in die Nähe der Gattung des Lehrstücks. Der Anführer wird jedoch noch im Augenblick dieser Rede zur Karikatur seiner selbst, als sein Vater ihn nach der Pseudo-Revolution trotz Protestes buchstäblich aus dem Klassenzimmer schleift. Als der Professor eintritt, geht die Klasse sofort zur Tagesordnung über. Der Schülerstreik bleibt eine Trockenübung. Wie auch schon bei Hasenclever ist der kollektive Aufstand entgegen aller Ermächtigungsrhetorik ein illusionärer und entlarvt vielmehr seinen Anstifter : »Die revolutionäre Gemeinschaft erscheint damit nur als kompensatorisches Alibi eines mit sich selbst nicht identischen, ja pathologischen Subjekts.«834 Zweitens verdeutlicht die Unterhaltung zwischen Hans, seinem Cousin Charles und dessen Freund Fritz Bauer prägnant die Entwicklung, welche die Schulliteratur zwischen zweitem Kaiserreich und Weimarer Republik genommen hat. Fritz erklärt Hans, die Jugend müsse in erster Linie ihre Willensstärke entwickeln. Hans schildert demgegenüber, ausgehend von dem Willensbegriff, zwei kulturgeschichtliche Szenarien: Wozu brauchen Sie eine willensstarke Rasse? Für Ihre Spielereien? Ffha! Überhaupt, mein Herr, ist das Irrtum. Dieser Wille ist höchstens ein Wille zur Freude – ein Wille zum Spiel – aber kein Wille zur Arbeit – kein Wille zum Ernst. Denn dieser Wille ist noch nie durch Spielereien gewonnen worden. Die Rasse wird vielleicht gesünder sein und mehr Sport betreiben als Sie. Aber Ihr Geist wird noch um ein Stück tiefer auf der Rutschbahn der Dekadenz herabrutschen – Ihre Vernunft noch feiner – komplizierter – pedantischer sein, und das muss sie ja. Denn Sie bleiben in der alten Wohnung und weil es nichts Großes darin zu arbeiten gibt – so machen Sie immer feinere Arbeiten. Und wenn auch Ihre Sonne dekadent wird, so frieren Sie ruhig in Ihrer alten Wohnung ein – höchstens bauen Sie Wärmemaschinen. Wir aber werden uns eine neue Wohnung und eine neue Sonne – die glühende Sonne des Gefühls suchen. Wir gründen eine Nebenkultur – schaffen einen eigenen sozialen Jugendstand – wenn Sies schon in Ordnung und Vernunft eingezwängt sehen wollen. Denn anders sehn Sie ja nicht.835

Hans unterscheidet hier – mit deutlichen Anklängen an Nietzsche – zwei Willensbegriffe. Den von Fritz vertretenen diskreditiert er als inkonsequent und ordnet ihn der Dekadenz zu. Dies ist ein Argument, das mit dem Zitat des 833 Ebd., 134. 834 Peter Sprengel: »Expressionismus und Anarchismus. Gewalt und Gemeinschaft in Dramen Hasenclevers, Bronnens, Rubiners und Jahnns«, in: Ders., Jaap Grave, Hans Vandevoorde (Hg.): Anarchismus und Utopie in der Literatur um 1900: Deutschland, Flandern und die Niederlande. Würzburg 2005. 98 – 107, hier 102. 835 Bronnen: Recht auf Jugend, 111.

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Entropiekonzepts an die Schulgeschichten des zweiten Kapitels erinnert – an die übersensiblen, an der Diskrepanz zwischen ihrer geistigen Sensibilität und den Ansprüchen der Schule zugrunde gehenden Jungen. Dem setzt Hans eine andere Erzählung entgegen, nämlich die Gründung einer »Nebenkultur«. Er schildert hier die Selbstermächtigung eines Jugendkollektivs, die in krassem Gegensatz zu der Kapitulation der überbürdeten Schüler steht und den entropischen Folgen der vernunftbasierten Ordnung die charismatische Kraft des Gefühls entgegen setzt – eine Argumentationsfigur, die Bronnen später programmatisch in der Abhandlung zur Jugendkunst verankern wird. Doch dieser revolutionäre Anspruch stößt an seine Grenzen. Im Drama gibt besonders der Schluss des vierten Akts, als der Auftritt von Hans’ Vater dem Schülerstreik ein so rasches wie stummes Ende bereitet, der Lähmung des Protagonisten Ausdruck: »Auf dem Höhepunkt des Geschehens […], der Schülerrevolte, prallen der fast magische Glaube an die Macht der Bekundung […] und die Wortlosigkeit der bestehenden Verhältnisse unmittelbar aufeinander.«836 Der anarchische Aufstand wird, wie hier, entweder in seine Schranken zurückgewiesen837 oder – so in der Geburt der Jugend – in einen utopischen Raum verlagert. Mit seiner in das religiöse Register neigenden Rhetorik838, die wohl nicht zuletzt für den von einem zeitgenössischen Kritiker beobachteten »propagandistischen Tonfall«839 verantwortlich ist, und der Strukturierung der Handlung entlang einer Reihe von charakteristischen Dichotomien nimmt Recht auf Jugend Elemente der Geburt der Jugend vorweg. Nicht zuletzt deutet der Schluss des Dramas eine Einsicht an, welche die Geburt noch deutlicher formulieren wird – die Einsicht, dass ›wahres‹ Leben nur gewaltsam zu haben ist: ›Jugend‹ bleibt in all diesen Körper- und Redeorgien eine leere Projektion, ein unerreichbares Jenseits dessen, was ist; […] so setzt der Protagonist darauf, dass das ›Leben‹ im Akt äußerster Gewalt, im Mord, das Phantasma füllt und ›Jugend‹ Wirklichkeit werden lässt. Erst im Akt der Gewalt könne sie real werden.840

836 Ketelsen: ›Ne klebrige Sauce‹, 84. 837 Der Schluss des Dramas lässt offen, ob Hans Selbstmord begeht oder von den Erwachsenen zur Räson gebracht wird. In jedem Fall hat er durch die Morde an Cousin und Cousine seine ›Jünger‹ bereits verloren. 838 Gadberry hat darin die Sprache der Bergpredigt ausgemacht, vgl. Ders.: Arnolt Bronnen and the Revolt of Youth, 61. 839 So Artur Kahane, zu diesem Zeitpunkt Dramaturg Max Reinhardts am Deutschen Theater, ohne Angaben zitiert nach Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnen, 28. 840 Ketelsen: ›Ne klebrige Sauce‹, 81.

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Radikale Entgrenzung: Schülerrevolte in ›Geburt der Jugend‹ Was werkbiographisch als eine Art behutsames Recycling bezeichnet werden kann, das meint ein populärer Kritiker auch auf literaturgeschichtlicher Ebene zu sehen. Alfred Kerr notiert nach der Uraufführung 1925 – für die der zentrale vierte Akt vollständig gestrichen wurde841 – am Lessing-Theater Berlin: »Bestandsaufnahme: Wedekind: ›Die junge Welt‹. Wedekind: ›Frühlings Erwachen‹. Hasenclever : ›Der Sohn‹. Wildgans: ›Dies irae‹.«842 Er korrigiert sich dann aber. Schließlich habe Bronnen angegeben, sein Stück 1914 verfasst zu haben – mithin vor Hasenclever und Wildgans. Doch Kerr konstatiert: »Man hätte, wenn er das nicht angäbe, freilich allerdings sozusagen beinah geglaubt, er habe doch Hasenclever und Wildgans nachgemacht. Ja, man hätte Bronnen auch hier als einen ganz gewiegten Jung-Epigonen angesehen.«843 Die Tatsache jedoch, dass Kerr später auch noch Musils Törleß als Vergleich heranzieht und lakonisch hinzufügt: »Aber wenn er es 1914 schrieb«844, lässt eine von Misstrauen gezeichnete Ironie erkennen, die auch die übrige Besprechung dominiert. Kerr wirft Bronnen Epigonentum vor; inhaltlich sei das Thema überholt, formal überzogen: »Alles Abgetrabte – das einmal mehr gewesen ist: als es zuerst verkündet wurde.«845 Es soll hier nicht darum gehen, Kerrs Vorwurf des Epigonentums zu bewerten. Interessanter ist vielmehr, dass sich seine Kritik nicht nur, aber auch als ein Befund lesen lässt, der das Ende der Schulgeschichte konstatiert und dem Diskurs seine Originalität für die Gegenwart abspricht. Die These der folgenden Analyse lässt sich von diesem Befund leiten: Bei Bronnen verstärkt sich die Tendenz der ›Schulgeschichte‹, zunächst genuin schulische Problemlagen zu politischen eskalieren zu lassen. Von Vatermord unterscheidet sich das frühere Drama schon hinsichtlich des Figureninventars. Bronnen lässt hier zwei Einheiten gegeneinander antreten. Die ersten drei Akte des Dramas schildern die Eskalation eines Konflikts, der zunächst zwischen einem Lehrer und seiner Klasse besteht und dann während des Schulfests in nackte Gewalt ausartet. Der vierte Akt – mit »INKARNATION« überschrieben und in Versen verfasst – spielt auf einer in einem mythischen Bereich angesiedelten »Waldwiese« (GdJ, 49), auf der das Heer der »Jugend« das des »Alters« nieder reitet und in eine kollektive Ekstase ob der gewonnenen Freiheit verfällt. Dieser thematischen Dichotomie entspricht eine formale: Das Stück lässt sich aufteilen in die ersten drei Akte, die von teilweise naturalisti841 Vgl. Gadberry : Arnolt Bronnen and the Revolt of Youth, 94. 842 Alfred Kerr : Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten. Hg. von Hugo Fetting. Berlin 1982. 291. 843 Ebd. 844 Ebd. 845 Ebd., 292.

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schen Milieuzeichnungen und expressionistischer Sprache gekennzeichnet sind und den lyrisch-visionären, sprachlich und thematisch rein expressionistischen Schlussakt, in dem die zum Großteil namentlich konkretisierten Figuren des Dramas zu nur mehr durch Aktion und Position bestimmten einzelnen und Gruppen eines regelrecht choreographierten Bewegungsspiels werden.846

Es handelt sich bei diesem Text um die radikalste Gestaltung einer ›Selbstermächtigung‹ der Schülerschaft, die die Schulliteratur in diesem Zeitraum bietet. Der erste Akt ist mit dem Titel »Klassenkampf« (GdJ, 1) überschrieben, spielt mit der semantischen Ambivalenz des Klassenbegriffs und rückt den Aufstand der Schulklasse so in die Nähe der Marx’schen, auf soziale Klassen bezogenen Begriffsprägung. Diese Ambiguität stellt die Schulrevolte bereits zu Beginn des Dramas in einen sozialpolitischen Kontext und versieht sie mit einem teleologischen Deutungsmuster. Der Akt setzt in einer Konditorei ein, wo sich mehrere Lyzeistinnen während ihrer Freistunden mit Gymnasiasten treffen. Wie später in Vatermord zeigt sich in den Dialogen die Tendenz, dass Aussagen ihre Adressaten nicht erreichen. Das wird bereits an der Interpunktion deutlich: Fragesätze etwa sind nicht mit Fragezeichen versehen, am Ende der Sätze fehlen Punkte, so dass die Figuren aneinander vorbei sprechen. Es findet keine wirkliche Kommunikation statt – die Beobachtung des sprachlichen Referenzverlustes, die Ketelsen für O.S. angestellt hat,847 deutet sich bereits an: Karl: Unser Zeichenlehrer ist krank. Wir haben zwei Stunden frei Inne: Bei uns ist Gesangsstunde. Wir singen nicht Karl: Sag wieso hast du einen so dicken Busen Inne: Ihr Jungen seid überhaupt Karl: Ausspucken wenn man von Jugend redet Inne: Warum reden wir auch von solchen Sachen Marri: Wir müssen schon gehen (GdJ, 3)

Die Schüler treffen nur noch ausnahmsweise Übereinkünfte wie die, sich zum Schulfest zu verabreden, wenngleich diesem Ereignis kein positiver Wert abgewonnen wird: »Weil die Schule feststeht, daher der Name Schulfest.« (GdJ, 4) Jungen wie Mädchen geben sprachlich vor allem ihren sexuellen Bedürfnissen Ausdruck, die pathologische Züge annehmen: Einer : Heute wird’s wieder ganz unerhört schön werden in unserer Opiumhöhle Andrer: Hast du Mädeln 846 Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens, 38 f. 847 Dort schreibt er unter anderem: »Die Worte erreichen nicht die Realität, die Realität findet nicht zu ihren Worten, entweder zu gar keinen oder zu den falschen.« Ketelsen: Die Sucht nach dem ›resistenten Zeichen‹, 106.

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Euler : Ich liebe schwindsüchtige Andrer: Zum anschaun können sie auch paralytisch sein Euler : Unter schwindsüchtigen Mädchen berauscht zu sein / Sie riechen so unzüchtig (GdJ, 5)

Wie im vierten Akt deutlich wird, ist das Ziel der Jugendrevolte die Befreiung eben dieser verunsicherten und ins Pathologische gekehrten Sexualität.848 Der Konflikt, der diese Revolte auslöst, entsteht, als der Schüler Ulrich beichtet, die Schule geschwänzt zu haben. Von einem Klassenkameraden verraten, fürchtet er nun um die Matura und vor allem die Wut seines Vaters. Kurz darauf kommt der Lehrer Bruck dazu, um Ulrich zur Rechenschaft zu ziehen.849 Von diesem Moment an beginnt Karl, den Lehrer zu provozieren. Es wird schnell deutlich, dass Karl der Rädelsführer der Gruppe ist: »Dieser Jüngling dessen Hetzereien die ganze Schule unterwühlen?« (GdJ, 9), charakterisiert ihn Bruck. Wegen der Versammlung in der Bäckerei, in der sich zudem ein Bordell befindet, verordnet Bruck der Klasse Nachsitzen. Das Insistieren der Schüler auf ihre Freistunden stößt auf taube Ohren. »Sie können nichts dafür, daß die Schule [dem Bordell, G.W.] gegenüber liegt«, erklärt Bruck. »Aber Sie müssen rein sein.« Bruck ist auf die ›Reinheit‹ seiner Schüler geradezu versessen. Dieser Zustand spielt auch in Vatermord eine wichtige Rolle und ist insofern von Bedeutung, als er im Sinne sexueller Reinheit das Telos der ›alten‹ Generation darstellt – im Gegensatz zu der von den Schülern angestrebten, in erster Linie: sexuellen Befreiung: »Ich will nicht rein sein. Ich will zwei Stunden frei haben« (GdJ, 10), insistiert der Schüler Euler. Als Bruck daraufhin Hausarrest erteilt, spaltet sich das Lager der Schüler : »Dann beantrage ich Schülerstreik. Ich beantrage Gewalt. Ich beantrage Haß« (GdJ, 12), fordert Karl, dabei Hans Harder aus Recht auf Jugend sehr nahe. Es wird eine anarchische Tendenz deutlich, die nicht ganz so explizit schon in Saudeks Gymnasiastentragödie formuliert war. Der Schülerstreik wird erklärt, als Bruck mit Verstärkung durch den Rektor zurückkehrt. Karl wird im Folgenden von den Schuldienern isoliert, und der Rest der Gruppe soll sich von ihm und seinem Aufruf distanzieren, während er tobend auf dem Schülerstreik besteht. An dieser Stelle ist eine Einschätzung der Rolle lohnenswert, welche die Schule in dieser Konstellation einnimmt. Wenngleich der Beobachtung zuzustimmen ist, dass die »Kritik am tradierten Lehrsystem der Zeit […] völlig im 848 Dieses Argument hält Ketelsen bereits in seiner Analyse von Recht auf Jugend für zentral, vgl. Ders.: ›Ne klebrige Sauce‹. 849 Ursula Münch will in dem – in der Tat durchaus von liberalen, reformorientierten Zügen charakterisierten – Bruck eine Repräsentation Gustav Wynekens erkennen, vgl. Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens, 85 f. Diese Interpretation scheint mir der Text allerdings nicht nahezulegen.

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Hintergrund«850 bleibt, so sind die Jugendlichen keineswegs »nur sekundär als Schülerinnen und Schüler«851 charakterisiert. Schließlich ist bereits der Auslöser des Konflikts genuin schulischer Natur. Die Jugendlichen sind deutlich als Schüler gekennzeichnet, und dieser Umstand lässt auf eine bestimmte Funktionalisierung dieser Rolle schließen. Durch ihre schiere Anzahl dient die Ansammlung der Schülerinnen und Schüler hier offenkundig der Rekrutierung eines Kollektivs, das zum Aufstand gegen eben die Werte mobilisiert, für welche die Schule steht. In gewisser Weise deutet diese literaturimmanente Funktionalisierung auf das voraus, was Brecht später in dramaturgischer Hinsicht nutzbar machen wird, wenn er für seine Lehrstücke auch und insbesondere Schulklassen als kollektive Akteure vorsehen wird.852 Der Beginn des zweiten Akts verdeutlicht den Stellenwert schulischer Bildung in Bronnens Drama. Eine Reihe von Schülern sitzt in einer Wohnsiedlung zwischen den Häusern und liest, so die Regieanweisung, »nacheinander aus verschiedenen Lehrbüchern Stellen vor. Zwischendurch wird so gesprochen« (GdJ, 20). Die Schüler »[l]ernen lernen lernen« (ebd.), wie es einer von ihnen, den kognitiven Leerlauf betonend, formuliert, als ihnen die Nachricht zugetragen wird, dass ein Mitschüler von seinem Vater ermordet wurde. Daraufhin fasst der Schüler Euler zusammen: Die Sache liegt folgendermaßen. Wir dürfen vom Vormittag nicht reden. Man läßt uns gnadenhalber auf die Bank damit wir zusammen lernen können. Die Eltern schauen heraus ob wir noch da sitzen. Den Pap [das Mordopfer, G.W.] haben sie bereits erledigt. Drüben ist das Dach vom Gymnasium. Hinter uns ist der Angespuckte [Karl, G.W.] eingesperrt. Es ist sehr heiß. (GdJ, 22)

Das Lernen für die Schule ist nur mehr Exerzitium, dem jeder Sinn entzogen ist. Vom zweiten Akt an wird die Formierung zweier Fronten – dem Alter und der Jugend – weiter gesteigert; die damit einhergehende Anspannung deutet Eulers Hinweis auf die Hitze an. Karl nimmt bereits in diesem Akt das Kriegsszenario vorweg, das im vierten Akt ausgestaltet wird: Dann bricht das Feuer aus uns aus das verlöschte gebleichte eingesperrte vernichtete Feuer / Und alle laufen alle laufen / Wenn die Alten sich entgegenstemmen erschlägt man sie nur so hinhaun zertrampeln kotigen Brei aus ihnen machen / Da gibts keinen Widerstand wenn die Jugend aufsteht / Nur eine Rache […] Wir sind Bomben schwarz stinkig grauenvoll ungezählt. Wir werden alle wild rasend ausbrechen! Platzen! (GdJ, 26)

850 Münch: Weg und Werk Arnolt Bronnens, 40. 851 Ebd. 852 Vgl. Plumpe: Epochen moderner Literatur, 220.

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Deutlich kommt schon an dieser Stelle die Parole der Sprengung jeglicher Form zum Ausdruck, die Bronnen später in Jugendkunst formulieren wird. Im Gegensatz zu früheren Schultexten fällt darüber hinaus auf, dass hier Inhalt und Form einander bedingen: Der brutalen Ermächtigung auf der Darstellungsebene entsprechen in Karls Appell die aufgesprengte Syntax, der Überbietungscharakter der Adjektive und die militärischen Reizwörter, als könne die Gewalt der Worte der Handlung zuvorkommen. Der Konflikt spitzt sich zu, als Karl sich weigert, die Geschwister Ulrich und Inne Kröll ihrem Vater zu überlassen und sie für sein ›Projekt‹ der Jugendrevolution beansprucht. Immer mehr Eltern erscheinen, um ihre Kinder Karls Einfluss zu entziehen, doch gibt der die Parole aus: »Wir kommen alle nicht mehr nach Hause.« (GdJ, 31) In dieser Konstellation findet im dritten Akt das Schulfest statt, das aber eben nicht die Feier einer Schule ist, die ›feststeht‹, wie das Wortspiel der Schüler nahegelegt hatte, sondern vielmehr von ihrer prekären Stellung zeugt. Die anwesenden Schüler und Eltern warten auf die von Karl verführte Klasse. »Ich weiß, dass meine Klasse hier herum im Wald lauert. Überall lauern sie um brutal und ordinär das zu zerreißen was einige wenige mit letzter Kraft gebildet haben. Niemand will mit Freuden Mensch werden.« (GdJ, 34) Der Klassenlehrer Bruck drückt hier seine Angst vor einem zivilisatorischen Rückschritt aus: Seine Schüler haben der ›Menschwerdung‹ durch die schulische Bildung eine klare Absage erteilt und sich stattdessen in den Wald, den außerzivilisatorischen Ort schlechthin, zurückgezogen, wo sie Tieren gleich lauern. Von dort, so lässt sich der Lehrer paraphrasieren, wird der Sturm auf die moderne Zivilisation ausgehen.853 Nach und nach verschwinden die Schüler, und immer mehr Eltern machen sich in der Dunkelheit auf die Suche nach ihren Kindern. Karl sorgt schließlich mit einer Rakete für Licht und markiert damit den Beginn des Aufstands der Jugend gegen die Eltern und Lehrer, der dadurch geradezu den Charakter einer Inszenierung erhält. Die Schüler bestätigen den von Bruck gefürchteten zivilisatorischen Rückschritt, indem sie zu archaischen Mitteln greifen und Flaschen, Steine und Fackeln werfen. Daraufhin kündigt Bruck die Verhandlungsbereitschaft auf: »Kein Wort mehr. Sie sind eine Pest. Ich hab auch einen Schlagring in der Tasche. Ihr wollt Gewalt. Was ist aus euch geworden! Mich ekelt vor euch. Ich verachte euch. Kein Wort mehr. Ihr eklige kriechende maßlose Brut / !! Kein Wort mehr« (GdJ, 44) Brucks Worte verdeutlichen, dass hier die Rede zugunsten der Tat aufgekündigt wird. Der sprachentleerte Raum wird – wie in Bronnens späterem Werk, insbesondere in O.S. – mit Gewalt gefüllt, die nun nicht zuletzt der Lehrer mit dem dreimal wiederholten und dadurch paradoxen Ausruf »Kein 853 Hier fällt die Parallele zu dem bereits bei Frank geschilderten Szenario auf, das Bronnen aber mit positiven Vorzeichen versieht.

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Wort mehr!« beschwört. Der Akt kulminiert in einer nur mehr gestammelten Rede Karls, die allen »die Haare […] zu Berg« (GdJ, 46) stehen lässt und in der er zur vollständigen Eskalation des Konflikts auffordert: Barbaren sind wir Bombenschleuderer Rasende jetzt jagt es uns los / Wahnsinnig heult es und tobt es und lodert es auf alles zersprengt es es platzt rote fressende auszuckende Flammen brechen aus uns Hass und Rache und Unersättlichkeit die Leiber zerspringen / Haß gegen euch! Rache an euch / Platzt! Heraus! Los gegen euch! Ermorden erschlagen! Jetzt platzen die Bomben – Zerfetzen euch – In Stücke in Dreck mit euch – Granaten gegen euch – Es zerreißt mich – es macht mich wahnsinnig – Schreit – Brüllt – Heult – Explodiert – Los – Los – Los – / !!! Auf (ebd.)

Der Moment der Selbstermächtigung zeichnet sich durch eine radikale Entgrenzung aus, durch die buchstäbliche Sprengung jeglicher Ordnung und Form. Zu gezündeten roten Raketen stürmen die Schülerinnen und Schüler schreiend zum Zaun, geben sich die Hände, treten diesen »krachend« (ebd.) nieder und laufen so die Wiese hinauf. Im vierten Akt haben die Figuren ihre Identität verloren, sind entweder Kollektiv (›Alle‹), anonymer Einzelner (›Einer‹, ›Zweiter‹) oder Geschlecht (›Alle Mädeln‹, ›Die Buben‹). Dieser Zustand zeichnet sich durch kollektive Ekstase aus: Mensch und Tier rennen, tanzen und taumeln in der Natur umher und vereinigen sich nicht nur im Tanz, sondern auch im Sexualakt, der hier Sodomie einschließt (vgl. etwa GdJ, 50). Der Literaturwissenschaftler Horst Denkler hat anhand dieser Schlussszene in seiner Arbeit zum expressionistischen Drama die Geburt der Jugend dem Typ des »opernnahen Wandlungsdramas«854 zugeordnet. Vorbild dessen ist für ihn die »hochpathetische[], hochtheatralische[], von der ›Musik der großen Bögen, der Stretti, Finali‹ erfüllte[] […] Nummernoper.«855 Nicht nur rückblickend wurde eine solche Parallele konstatiert; auch führende Expressionisten selbst beriefen sich auf die Oper als formale Vorlage. Ein aufschlussreiches Beispiel ist Fritz von Unruh, der dieses Medium hinsichtlich seiner Wirkungsästhetik als Möglichkeit einer neuen Gemeinschaftsstiftung betrachtet: Er forderte »ein kultisch-heorisches Gemeinschaftstheater« ein, »[…] auf dass wir wieder zurückfinden zu dem Urgrund aller Gefühle! Zu dem gemeinsamen Lied, zu dem anonymen Gesang!«856 Denkler begründet diese Einordnung des Dramas unter anderem mit der oben erwähnten Formung der Figuren zu »Akteuren«857, mit einem Bühnenbild, das »Podium und Tribüne«858 der sprechenden Figuren ist, aber auch mit der szenischen Einrichtung: 854 Horst Denkler : Drama des Expressionismus. Programm, Spieltext, Theater. München 1967. 135. 855 Ebd., 137. 856 Fritz von Unruh, zitiert nach Denkler : Drama des Expressionismus, 138. 857 Denkler : Drama des Expressionismus, 160. 858 Ebd., 157

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Der vierte Akt von Arnolt Bronnens Schauspiel […] steigert den Dialog zum Rollentext für einen Sprech- und Bewegungschor, in dem Einzelstimme und Einzelaktion von Chorstimme und Massenaktion aufgefangen sind und die Handlung zu einem ›kultisch‹-ekstatischen Wort-Bild-Geschehen potenziert ist.859

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Sprache der Jugendgemeinschaft, die kaum noch in Dialogen kommuniziert. Sie erschöpft sich in Zustandsbeschreibungen und Anrufungen vor allem der Natur (»Gras! Gras / Du trockenes Wasser / Du grünes stilles undurchdringliches Wasser / Gras! Gras / Du blühende Erde / Du weiche, leise, dich anschmiegende Erde / Nimm mich auf«, GdJ, 52), aber auch in der Anrufung von Körpern (»Heila mein Auge / Heila mein Ohr / Heila meine Zunge / Meine Brüste junge / Meine weichen Hänge / meine schwellenden Lenden«, GdJ, 56). Die Rede büßt hier ihre kommunikative Funktion fast völlig ein und leistet nur noch die Bezeichnung des unmittelbar Wahrgenommenen. Sie verbleibt in der unmittelbaren Bezugnahme auf die Gegenwart und markiert so auch auf der zeitlichen Achse einen Bruch mit der vorangegangenen Ordnung. Der utopische Zustand, in dem sich die »Herren im Reich« (GdJ, 49) der Jugend befinden, zeichnet sich durch ein alles Vorherige und Kommende tilgendes Ineinanderfallen von Sprache und Handlung aus. Dieser radikale Gegenwartsbezug und der Referenzverlust der Sprache kündigen die semiotische und zeitliche Ordnung der vorangegangenen Gesellschaftsform auf. Ein letztes Mal ist diese Existenz bedroht, wenn »das Alter« als ein Kollektiv von »zwei Gendarmerieabteilungen« (GdJ, 62) in die Idylle der Waldwiese eindringt. In deutlichem Gegensatz zu der vitalistischen Ekstase der Jugend steht der militärische Drill, mit dem sie marschieren, dabei aber kein Gefühl für den Rhythmus der Marschmusik haben (vgl. ebd.). Die eigentliche Handlung findet hier in den Regieanweisungen statt; Alter und Jugend kommunizieren nur noch über gebrüllte Befehle. Die berittenen Jugendlichen »rennen blitzschnell herum über die ganze momentan wehrlose erste Abteilung reiten sie nieder nehmen ebenso blitzschnell die Gewehre auf schwingen sie hoch in der Luft und rennen so schreiend gegen die übrigen« (GdJ, 63). In diesem kurzen Augenblick werden die Alten ausgelöscht, und die Jugend holt sich im Blutrausch die Energie zurück, die ihr das Alter genommen hat: »Blut tranken wir / Uns ausgesaugtes Blut / Blut tranken wir / Das gibt uns neue Kraft« (GdJ, 64). Erst nach dieser Tilgung der Alten kann die eigentliche »Inkarnation« stattfinden, auf welche die Titel des Dramas und des vierten Aktes verweisen. In einer letzten rasenden Ekstase laufen die Jugendlichen, nur mehr stammelnd, aufeinander zu

859 Ebd., 150 f.

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und bilden nun eine Masse einen dunklen heißen Leib Alle E-e-e-e-ein Durch den Druck wachsen einige aus ihrer Mitte hervor Die Emporwachsenden Schaum auf den Lippen ganz zerkrampft den Leib zerreckt dampfend von Schweiß mit unirdischer Stimme Nun seh ich Gott Gott Nun sind wir Gott Gott Wir Gott Gierig wachsender herrschender Gott All Gott Wi-i-ir Gott Alle Wi-i-ir Gott (GdJ, 64)

Vergleicht man den Schluss des Dramas mit seinem Anfang, so lässt sich eine drastische Wende verzeichnen: Die Jugendlichen sind nicht mehr abhängig von den Erziehungsinstitutionen Eltern und Schule, vielmehr hat eine radikale Entmachtung dieser Institutionen und eine ebenso radikale, ja mörderische Selbstermächtigung der Jugend stattgefunden. Wie der zitierte Schlussakt verdeutlicht, kennt sie keinen Gott neben sich, sie gebiert sich vielmehr selbst als Gott. Es ist dieser drastische und mit suggestiver Wirkmächtigkeit versehene Schluss, der Bronnens Drama so brisant und in der eingangs bestimmten Bedeutung des Wortes avantgardistisch macht. Denn es nähert sich damit Plumpes Definition mindestens des didaktischen Anspruchs des epischen Theaters, wenn nicht gar dem Lehrstück an, wie Horst Denkler in seiner Diskussion der Wirkungsästhetik ausführt, die dem Typ des ›opernnahen Wandlungsdramas‹ eigen sei: Dem entspricht, dass die Dramen […] von Aussagezwang und Wirkungswille getragen sind und folgerichtig […] die Erlösung bringende Wandlung bzw. den […] Untergang vorführen, um damit zugleich die erlösende Wandlung der Zuschauer einzuleiten. […] Der Distanz erzwingende Operngestus sichert einerseits das Kunstwerk gegenüber der realen Wirklichkeit ab, fordert damit jedoch den Zuschauer auf zum Vergleich der Bühnenwirklichkeit mit jener, in der er lebt […]; der zugleich emotional anregende Operngestus vermag andererseits […] auf den einmal irregemachten und aufgeschreckten Zuschauer unmittelbar einzuwirken und ihm die entscheidenden programmatischen Formeln, Signale, Sentenzen einzuhämmern.860 860 Denkler : Drama des Expressionismus, 172, m. Hvbg.

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Politische Transformationen

Ob man die anarchistische Revolte als erfolgreich bezeichnen darf, muss in Anbetracht der utopischen Markierung des Schlussakts dahingestellt bleiben. Gleichwohl endet die Geburt der Jugend in einer figuralen Konstellation, die durch eine Orgie der Gewalt hin zu einer »erstarrte[n], ästhetisch stillgestellte[n] Gemeinschaftsutopie«861 führt. Mit dem mit mörderischer Energie ausgestatteten Schülerkollektiv, das sich schließlich selbst als Gott gebiert, kulminiert das Drama in der Darstellung einer selbstreferentiell geschlossenen, durch die kollektive Aktion über jede Kommunikation erhabenen und in diesem Sinne total zu nennenden Gemeinschaftsform. Was Franks Text vergleichsweise zaghaft andeutet, die von einem schulischen Konflikt evozierte anarchische Tat, gestaltet Bronnen in radikaler Manier zu einem Blutbad, aus dem die beschriebene neue Ordnung hervorgeht. In der Tat spielt die Schule am Schluss der beiden Texte inhaltlich keine Rolle mehr. Die Pädagogik ist nun in politischer Absicht auf die Seite des Mediums verlagert.

861 Sprengel: Expressionismus und Anarchismus, 107.

V. Jenseits der Schulliteratur

wir sahen das eine nicht kommt der mensch wirklich an den tag hört die schule auf 862

Fast ebenso abrupt, wie er Anfang der 1880er Jahre eingesetzt hatte, bricht der literarische Schuldiskurs nach 1918 ab. Mit Beginn der Weimarer Republik fasert er aus: Nur einige wenige Texte können noch dem Genre der Schulliteratur zugerechnet werden. Von diesem Befund ausgehend, seien zunächst die wesentlichen Ergebnisse der Arbeit im Hinblick auf die Ausgangsfragen zusammengefasst: Wie ist der auffällig prominente Schuldiskurs in der Literatur um 1900 zu erklären? Welche Bedeutung kommt dem Motiv der Schule in diesem Zusammenhang zu? Und – so wird im Ausblick zu fragen sein, der dieser Rekapitulation folgt – wo mündet der literarische Diskurs über die Schule, wenn diese als staatliche Institution nach 1918 in der Literatur offenbar kaum mehr relevant ist? Die Analyse der Überbürdungsgeschichten hat Verbindungen zwischen der wissenschaftlichen Debatte um die Überbürdung der Schüler und dem literarischen Schuldiskurs sichtbar gemacht. Das in der Forschung üblicherweise konstatierte Machtgefälle zwischen Institution und Individuum zugunsten der ersteren hat dieses Kapitel mit Blick auf den Überbürdungsdiskurs differenzierter zu fassen versucht. Conrad Ferdinand Meyer etwa problematisiert den Diskurs der Überbürdung als solchen und bezieht ihn auf ein letztlich epistemologisches Problem: Mit der Geschichte vom Leben und Tod eines Schülers und den konkurrierenden Deutungen dieses Todes stellt er die Frage nach der Zugänglichkeit einer Wahrheit hinter sich widersprechenden Aussagen, wenn die Überbürdung hier den Charakter einer Ausrede erhält. So koppelt Meyer den Überbürdungsdiskurs nicht zuletzt mit Fragen sowohl seiner eigenen histo862 Fritz Jöde: Die Lebensfrage der neuen Schule. Ein Wort an alle, die über die Schule hinaus ins Leben wollen. Lauenburg an der Elbe 1921. 24.

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Jenseits der Schulliteratur

riographischen Poetologie als auch des ästhetischen Programms des Realismus. Die Untersuchung der Texte von Marie von Ebner-Eschenbach, Thomas Mann und Emil Strauß, durch deren ähnliche histoire bisweilen der Eindruck eines narrativen ›Schemas‹ entsteht, hat zwei Nuancierungen innerhalb des Überbürdungsdiskurses verdeutlicht: Erstens hat sich gezeigt, dass der schulische Erfolg der Protagonisten weniger an den Lerninhalten als an der Ausbildung eines strapazierfähigen Willens scheitert. Zweitens wurde deutlich, dass es weniger die Institution der Schule als die des Vaters ist, die über die Schulleistung die Verausgabung des Protagonisten forciert. Die Texte stellen insofern Versuche dar, die Schule zu refamiliarisieren und in den Symbolhaushalt einer patriarchalen Ordnung zu integrieren. Sie schildern insofern durch den Gegenstand der Schule hindurch Prozesse der Erbschaft und der Genealogie, die allerdings scheitern: Stammbäume enden oder werden in der weiblichen Linie weitergeführt, die Fortsetzung der patriarchalen Ordnung ist gestört. Am Beispiel von Rainer Maria Rilkes Turnstunde wurde schließlich das Schema der Arbeitskurve als Strukturprinzip des Textes betrachtet, wenn sich der Überbürdungsdiskurs im Akt des Kletterns nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf poetologischer Ebene manifestiert. Das Klettern und der Sturz haben jedoch nicht nur eine arbeitswissenschaftliche, sondern auch eine ästhetische Komponente, die eine Veränderung innerhalb der Schulliteratur antizipiert. Denn die im Kapitel Spiele mit der Norm behandelten Texte haben zwei miteinander zusammenhängende Merkmale gemeinsam: Erstens nehmen alle in verschiedener Weise auf die Überbürdungsgeschichten Bezug, reagieren also bemerkenswert zügig auf die noch junge ›Tradition‹ der Schulliteratur. Zweitens schildern sie Erziehungs- oder Selbsterziehungsprozesse, die zwar innerhalb der räumlichen Ordnung der Institution stattfinden, häufig aber jenseits ihrer offiziellen Regeln verlaufen. Dieser zweite Befund gilt vor allem insofern, als einige Texte dieses Kapitels von der Ausrichtung des pädagogischen Diskurses an ethischen auf seine Ausrichtung an ästhetischen Gesichtspunkten umstellen. Ethisch-moralische Gesichtspunkte verlieren ihre Bedeutung, wenn sich in den Texten die Frage stellt, wie Erziehungsprozesse gelingen können, die auf die Ausbildung einer vollendeten Form abzielen. Das gilt für Frank Wedekinds Schilderung der Erziehung von Körperkunstwerken in Mine-Haha; für die programmatische Selbsterziehung zum Ästheten durch das Mittel der Folter, die Robert Musils Törleß schildert; und ebenso für die institutionellen Stilbildungsversuche und ihre individuellen Subversionen, wie sie Robert Walsers Schulliteratur darstellt. Die Texte sind auch insofern als Schaltstellen innerhalb des Korpus zu betrachten, als sie die Stabilität der Institution Schule zu hinterfragen beginnen. Kaiser, Musil und Walser etwa beschreiben Varianten dessen, was man als Einsicht in die Kontingenz institutioneller Setzungen bezeichnen kann und

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folglich als Einsicht in die Möglichkeit ihrer Subversion. Auf dieser Erkenntnis gründen die Geschichten ästhetisch-intellektueller Selbstbildungsprozesse, die sie erzählen. Sie entwickeln damit in gewisser Weise die Geschichte der in den Überbürdungsgeschichten nur peripher dargestellten Freundesfiguren fort und erzählen damit eine Alternative zu den tragischen Verläufen. Gleichzeitig greifen die Texte voraus: In literaturgeschichtlicher Perspektive nehmen etwa Kaisers Dramen expressionistische Stilmittel vorweg und künden – in Form von tabularasa-Imaginationen und der Ankündigung einer neuen Gesellschaftsordnung – von einer politischen Ambition, die Wedekinds eugenisch-ästhetische Utopie in Mine-Haha noch deutlicher zeigt. Die zunehmende Geringschätzung der Institution und die Aufwertung andersgearteter ›Bildungszusammenhänge‹ behandeln die Texte des vierten Kapitels zu Politischen Transformationen eingehender. Heinrich Manns Professor Unrat deutet in der fundamentalen Irritation bis dato geläufiger Zuschreibungen an die institutionellen Rollen von Lehrern und Schülern die Brüchigkeit der institutionellen Ordnung an, welche die folgenden Texte noch radikaler gestalten. Bei Robert Saudek und Wilhelm Lehmann soll die reformpädagogisch inspirierte Sozialform des Männerbundes die Institution Schule ersetzen – ein Anspruch, der in beiden Texten jedoch sowohl an der Diskrepanz zwischen rhetorischem Pathos und konkreten Handlungen als auch, damit zusammenhängend, an dem Allmachtsanspruch der jeweiligen Führerfiguren scheitert. Leonhard Franks Text beschreibt den Mord an einem Lehrer und drückt, indem dieser Repräsentant einer als überkommen wahrgenommenen sozialen Ordnung beseitigt wird, die Hoffnung auf die Stiftung einer neuen und gerechteren aus. Arnolt Bronnen schließlich lässt den Generationenkonflikt in einer Schlacht zwischen Eltern und Lehrern auf der einen, Schülern auf der anderen Seite kulminieren, an deren Ende die Selbsthervorbringung der Schüler als göttliches Kollektiv steht. Spätestens mit den Texten Saudeks und Lehmanns, besonders deutlich aber bei Frank und Bronnen kommt eine Veränderung zum Ausdruck, die nicht mehr nur semantisch-thematisch, sondern diskurstaktisch zu verstehen ist: Die späte Schulliteratur beschreibt Transformationen pädagogischer Absichten in politische. Sie beobachtet diesen Umbau allerdings nicht nur, sondern partizipiert auch selbst an dieser Politisierung, wenn etwa Franks und insbesondere Bronnens Texte sich auch als politische Handlungsanweisungen lesen lassen. Damit verfolgen sie eine didaktische Absicht, die zur Folge hat, dass die Pädagogik weniger Gegenstand dieser Texte als vielmehr ihr Medium wird. Die prominente Stellung, welche die Schule in der Literatur zwischen 1880 und 1918 einnimmt, lässt sich vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse am besten erklären, wenn man die Schule als Reflexionsfigur begreift: als einen Ort, von dem aus die Epoche sich selbst zu verstehen versucht. Dieses Verhältnis der Stellvertreterschaft drückt die synekdochische Figur besonders deutlich aus, mit

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der vor allem die frühen Texte die Schule in Varianten der Formulierung vom »Staat im Staat« konzipieren. Dass die Schulliteratur als Medium gesellschaftlicher Selbstbeobachtung gelten kann, lässt sich in dreierlei Hinsicht zeigen. Erstens hat der schulliterarische Diskurs aus sozial- oder mentalitätsgeschichtlicher Perspektive teil an der Disziplinen übergreifenden breiten Erörterung einer als krisenhaft wahrgenommenen gesellschaftlichen Situation um 1900, die man als Überforderung durch die Beschleunigung der Lebenswelt vor dem Hintergrund rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritts beschreiben kann. Insbesondere die frühen Texte verhandeln anhand der Aspekte des umfangreichen schulischen Wissensinventars, das gleichsam metonymisch die ›Wissensexplosion‹ der Epoche repräsentiert, und den Anforderungen an den Willen der Schülerfiguren Ansprüche einer sich rasant verändernden Gegenwart, von deren Geschwindigkeit sich nicht wenige überholt fühlen.863 Einerseits einer langen Tradition verhaftet und eine entsprechend träge auf die rasanten Veränderungen reagierende Einrichtung, andererseits qua gesellschaftlicher Funktion auf ihre dauernde Anpassung an die veränderte Umwelt verpflichtete Institution, kommt der Schule in diesem Zusammenhang eine paradigmatische Bedeutung zu. Dabei dominiert in den frühen Texten Skepsis gegenüber Ansprüchen der Effizienz und Leistungssteigerung – ein Tenor, der die Erzählung der Moderne als Verlusterzählung begreift. Zweitens ist die Schule in der Literatur ein Ort der Vergewisserung ästhetischer Positionen. Das veranschaulichen in verschiedener Hinsicht die Texte des dritten Kapitels, indem sie von der Orientierung an moralischen Gesichtspunkten auf ästhetische Kriterien umstellen. Das gilt einerseits auf inhaltlicher Ebene, wie die Lektüren der Texte von Wedekind, Musil und Walser gezeigt haben. Es gilt aber andererseits auch hinsichtlich der poetologischen Positionierung der Autoren mit Blick auf die weitere Entwicklung ihrer Werke. So kann das Sujet der Schule, das besonders häufig im Frühwerk von jungen Autoren auftaucht, die sich im literarischen Feld noch zu positionieren haben, auch als ›Schreibschule‹ in dem Sinn begriffen werden, dass die Schriftsteller anhand dieses Gegenstands Elemente ihres noch zu entwickelnden literarischen Stils erproben. Das Sujet der Schule wäre in dieser Hinsicht schlicht als ein öffentliche Aufmerksamkeit versprechendes und daher geeignetes Mittel zur künstlerischen Distinktion zu betrachten.864 863 Vgl. die Einleitung und einschlägig jüngst Philipp Blom: The Vertigo Years. Change and Culture in the West, 1900 – 1914. London 2008, sowie Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München / Wien 1998, und Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005. 864 Vgl. die Diskussion von Karin Marquardts literatursoziologischen Überlegungen in der Einleitung.

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Und schließlich ist die Institution drittens ein Ort, an dessen Beispiel in den späten Texten des Korpus der untergründige Zusammenhang reflektiert wird, der zwischen pädagogischen und politischen Ambitionen besteht. Was Wedekinds Utopie vom Staat der schönen Körper und Musils Beschreibung schülerischer Gewaltexzesse weitsichtig antizipieren, formulieren die Texte des vierten Kapitels präziser : die Beobachtung nämlich, dass sich hinter pädagogischen Versprechen immer auch Absichten verbergen können, die jenseits der ›Ausbildungsinstitution‹ Schule auf die Gründung einer gänzlich neuen sozialen Ordnung abzielen, mit der eben diese in Institutionen organisierte Form der Gesellschaft zugunsten variantenreicher Entwürfe von Gemeinschaftsmodellen verabschiedet wird, die nicht selten auf Akten autoritärer Ermächtigung gründen. Einiges spricht dafür, Bronnens Geburt der Jugend als Ende der Konjunktur schulliterarischer Texte zu verstehen, wie sie in der Einleitung definiert wurde. Darauf deutet bereits der Umstand hin, dass die Texte, die im Zeitraum der Weimarer Republik zum Motiv der Schule noch erscheinen beziehungsweise zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur noch verfasst werden, selten werden. Darüber hinaus bestehen weder zwischen diesen Texten untereinander noch zwischen ihnen und nicht-literarischen Diskursen hinreichend dichte Beziehungen, die die Feststellung einer über 1918 hinausreichenden Konjunktur rechtfertigen würde. Otto Julius Bierbaums quasi-autobiographischer Bericht Die Leiden des jungen Bierbaum (1925) ist eine flüchtige, in ironischem Ton gehaltene Skizze der vermeintlichen Sinnkrisen eines ins Gymnasium verlegten Werthers. Die Schule ist außerdem eine Station im Genre des Entwicklungsromans, wie etwa in Hans Falladas Der junge Goedeschal (1920) und Johannes R. Bechers Abschied (1940). Teilweise nehmen die Schultexte nach 1918 Bezug auf die vorangegangene Tradition. Das gilt für Max Dreyers Reifeprüfung (1929) und für Friedrich Torbergs kanonischen Roman Der Schüler Gerber (1930), der sowohl auf Elemente der Überbürdungsgeschichte als auch auf Konzepte der ästhetischen Selbsterziehung rekurriert. Andere Texte verhandeln Fragen von Schuld und Sühne – so Alfred Döblins Gespenstersonate (1925/28) und Franz Werfels Der Abituriententag (1928). Eine frühe Fassung von Ödön von Horv‚ths Roman Jugend ohne Gott (1937) ist als Drama mit dem Titel Der Lenz ist da! Frühlingserwachen in unserer Zeit konzipiert. Mit dem Bezug auf Wedekinds Drama – der auch in den geplanten Szenen zum Ausdruck kommt – reiht sich von Horv‚th einerseits in die schulliterarische Tradition ein. Andererseits deutet der Text durch die im Untertitel markierte Gegenwartsreferenz auf eine Wendung des Sujets hin, die wohl in erster Linie in der Darstellung der Schule im Kontext eines totalitären Systems zu suchen ist. Der Grund, mit Bronnens Drama das Ende der Konjunktur dieses Genres zu konstatieren, ist in der im Kapitel zu den Politischen Transformationen be-

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schriebenen Tendenz zu suchen, deretwegen – so die These dieser ausblickenden Überlegung – die Schule als Reflexionsfigur nicht mehr greift. Gemeint ist die Beobachtung, dass sich die Schule als Institution der intellektuellen Ausbildung und der Tradierung von Wissensbeständen nicht mehr, wie es noch um 1900 der Fall war, als Repräsentation gesellschaftlicher Mentalitätslagen eignet, weil sich der pädagogische und der Schuldiskurs zunehmend auf eine überinstitutionelle Ebene hin bewegen. Entgegen den Hoffnungen, die verschiedene pädagogische Interessengruppen bei Kriegsende gehegt hatten, gingen aus den schulpolitischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik keine grundlegenden Veränderungen des Bildungssystems hervor. Suggestiver und einflussreicher als die Diskussionen über einzelne schulpolitische Veränderungen scheint eine kulturpolitische Tendenz gewesen zu sein, die von dem Programm einer Nationalpädagogik865 angeleitet ist. In diesen Diskurs mündet die Schulliteratur, und zur Erläuterung dieser Verbindung sollen abschließend die Umrisse dieses Amalgams aus Politik und Pädagogik skizziert werden. Man muss sich dafür vor Augen führen, dass die Hoffnungen, welche noch vor dem Ersten Weltkrieg in die Pädagogik gesetzt worden waren,866 sich nach seinem Ende keinesfalls als Illusionen entlarvt hatten. Im Gegenteil: In Anbetracht des als desaströs erlebten Kriegsendes und damit einhergehender Krisendiagnosen konstatiert der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth für die frühe Weimarer Republik rückblickend die Überzeugung, daß die Krise zwar nicht durch das neue politische System oder die Parteien bewältigt werden kann, daß aber gesellschaftliche Leitbilder, von Eliten erzeugter, popularisierter und von einem Staat jenseits der Parteien verbürgter Sinn die Lösung der Krise sein könnte. Auf diesem Hintergrund gewannen Erziehung und Bildung unabschätzbare Bedeutung im zeitgenössischen Denken.867

865 Mit diesem Begriff ist ein überinstitutioneller pädagogischer Anspruch gemeint, der das Bildungssystem transzendiert. Insofern ist gerade keine Anknüpfung an die Tradition insbesondere der gymnasialen Bildungspolitik seit dem frühen 19. Jahrhundert beabsichtigt, die zwar ebenfalls ein ›nationales‹ Bildungsprogramm verfolgte, dieses aber qua schulischem Curriculum an die junge Generation vermittelte. Demgegenüber adressiert der hier gemeinte nationalpädagogische Anspruch die ganze Gesellschaft. 866 Ulrich Herrmann bezeichnet noch das Jahrzehnt vor Beginn des Ersten Weltkriegs als »pädagogische[n] Frühling«: Ulrich Herrmann: »›Neue Schule‹ und ›Neue Erziehung‹ – ›Neue Menschen‹ und ›Neue Gesellschaft‹. Pädagogische Hoffnungen und Illusionen nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland«, in: Ders. (Hg.): ›Neue Erziehung‹, ›Neue Menschen‹: Erziehung und Bildung zwischen Kaiserreich und Diktatur. Weinheim / Basel 1987 (Geschichte des Erziehungs- und Bildungswesens in Deutschland, Bd. 5). 11 – 32, hier 11. 867 Heinz-Elmar Tenorth: »Pädagogisches Denken«, in: Ders., Dieter Langewiesche (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5. 1918 – 1945: Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. München 1989. 111 – 53, hier 112.

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Die Erwartungen an die Pädagogik gehen dabei über das Bildungssystem und seine Institutionen hinaus: »Die Hoffung auf den ›neuen Menschen‹ und die ›neue Gesellschaft‹ via educationis – also notfalls gegen die Gesellschaft – durch die Bildung von Individualität und Gemeinschaft – also notfalls gegen die Institutionen – prägen ihr Pathos.«868 Von diesem Anspruch ist auch das schulpolitische Klima keineswegs frei. Allein, es stellt sich die Frage, wie die Absicht, eine ganze Gesellschaft mit Hilfe der Pädagogik zu einen, im Subsystem schulischer Bildung umgesetzt werden soll und kann. Eine ganze Reihe weiterer umstrittener schulpolitischer Themen beiseite lassend,869 interessiert hier vor allem das brisant diskutierte Konzept der Einheitsschule und, damit zusammenhängend, die Frage nach der schulpolitischen Zuständigkeit des Reichs beziehungsweise der Länder. Denn am Beispiel dieser Fragen kommen die kulturpolitischen Integrationserwartungen an die Schulpolitik besonders deutlich zum Ausdruck. Die Einheitsschule kann als das zentrale schul- und bildungspolitische Ziel der unterschiedlichen reformpädagogischen Bestrebungen gelten. Jenseits der Vorstellung einer gemeinsamen Grundschule, die alle Ansätze fordern, entstammen die Konzeptionen allerdings höchst unterschiedlichen bildungs- und sozialpolitischen Motivationen und Zielsetzungen. Darunter fällt auch die Absicht, »eine Schule für ein Volk; eine Schule für eine Kulturnation […], eine Schule einer Volksgemeinschaft, wie sie […] im Schützengraben lebendige Erfahrung geworden war«870, zu schaffen. Dieses Bestreben nach nationaler Inklusion mittels des Bildungswesens zeigt sich besonders deutlich in der einflussreichen Denkschrift Kulturpolitische Aufgaben des Reiches (1919), die der preußische Staatssekretär Carl Heinrich Becker auf Wunsch des Reichsministers

868 Herrmann: ›Neue Schule‹ und ›Neue Erziehung‹, 23, Hvbg. i. O. 869 Eine ausführliche Diskussion der Rahmenbedingungen und Streitpunkte der Schulpolitik wäre hier fehl am Platz. Die gesellschaftspolitische Bedeutung der schulpolitischen Diskussionen nach der Novemberrevolution 1918 behandeln Theodor Wilhelm: »Der reformpädagogische Impuls. Bildungspolitik, Schulreform, Bildungreformen am Beginn der Zwanziger Jahre«, in: Herrmann (Hg.): ›Neue Erziehung‹, ›Neue Menschen‹, 177 – 99, und Christoph Führ : »Die Schulpolitik des Reiches und der Länder am Beginn der Weimarer Republik«, in: Herrmann (Hg.): ›Neue Erziehung‹, ›Neue Menschen‹, 161 – 76. Als Tendenz der schulpolitischen Bemühungen und Resultate lässt sich festhalten: »Reformideen wurden im wesentlichen im niederen Schulwesen […] verwirklicht, und hier eher in den nordund mitteldeutschen als in den süddeutschen Ländern. Die höheren Schulen wurden zumindest aus den politischen Integrationserwartungen nicht ausgenommen, sondern zumal in Lehrplanreformen im nationalen Sinne intensiv erfaßt.« Tenorth: Pädagogisches Denken, 123. 870 Herrmann: ›Neue Schule‹ und ›Neue Erziehung‹, 17, Hvbg. i. O. Herrmann bezieht sich in seiner Zusammenfassung auf die prominenten Entwürfe zur Einheitsschule von Georg Kerschensteiner, Ludwig Gurlitt und Johannes Tews, vgl. ebd., Anm. 11.

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des Innern verfasst hatte.871 Becker spricht sich darin für eine Reichskompetenz in schulpolitischen Fragen aus. Er geht dabei zunächst von der topisch gewordenen Beobachtung eines Defizits nationaler Einheit aus: Wir stehen vor der ungeheuer schwierigen Aufgabe, ein neues einigendes Band zu suchen, das uns über unseren Stammespartikularismus, über unsere konfessionelle Spaltung und über unsere berufsständische und soziale Gliederung hinaus zum Einheitsvolk werden läßt. […] Wenn der Deutsche nicht selbst danach greift, so muß er eben d a z u e r z o g e n w e r d e n .872

Die auf die Innenpolitik bezogene Schlussfolgerung dieses Plädoyers für eine kollektive Erziehung lautet entsprechend: Tr ä g e r d e r R e i c h s e i n h e i t s i d e e k a n n h i n f o r t n u r n o c h d a s R e i c h s e i n. In diesem einfachen Satz steckt eine ungeheure Aufgabe. Sie ist durch Reichseisenbahnen, gemeinsame Briefmarken und selbst durch die beste Wirtschaftspolitik nicht zu lösen, sondern nur durch eine n a t i o n a l e Ku l t u r p o l i t i k . Ihre Parole muß sein: Erziehung der deutschen Stämme zur Nation.873

Die nationalpädagogische Absicht Beckers zielt also auf eine Kulturpolitik, die sich am Gedanken einer geeinten »Ku lt u r n at i o n «874 ausrichtet und dafür nicht zuletzt die Schulpolitik in die Pflicht nimmt. Den utopischen Charakter seines Programms gesteht Becker dabei freimütig ein, rechtfertigt diesen aber mit dem Hinweis auf die suggestive Wirkung, die er sich von einem solchen bewusst auch irrationale Elemente beschwörenden Plädoyer erwartet: Die formulierten »Ideale« bildeten »[…] ein Kulturprogramm, das unerreichbar und utopisch ist wie alle letzten Ziele der Menschheit sein müssen, das aber eine normative Kraft von packender Wucht enthält […].«875 Dass Becker dabei jedoch nicht nur auf den Automatismus suggestiver Rede vertraut, verrät der durchaus handgreifliche Schlusssatz seiner Denkschrift: »Ideale nicht nur zu haben, sondern sie mit dem vielgestaltigen kulturpolitischen Apparat bewußt dem deutschen Volke als Lebensideale einzuhämmern – das ist die eigentliche Aufgabe der Kulturpolitik des Reiches.«876 Es ist allerdings charakteristisch für die Uneinigkeit der Schulpolitik, dass weder die Einheitsschule noch die Reichskompetenz in schulpolitischen Fragen zustande kommen. Statt einer strukturell integrativen Politik durch bürokra871 Die Denkschrift steht im Kontext der Beratungen des Verfassungsausschusses über die Etablierung einer kulturpolitischen Zuständigkeit des Reiches, vgl. Führ : Die Schulpolitik des Reiches und der Länder, 163. 872 Carl Heinrich Becker : Kulturpolitische Aufgaben des Reiches. Leipzig 1919. 5. Hvbg. i. O. 873 Ebd., 17. Hvbg. i. O. 874 Ebd., 47, Hvbg. i. O. 875 Ebd., 57. 876 Ebd., 58.

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tisch-institutionelle Organisation wird sich der Gedanke einer ideellen, auf Grundlage des »nationalen Kulturgut[s]« innerlich vereinheitlichten Schulsystems durchsetzen.877 Von mangelnder Einheitlichkeit der schulpolitischen Ziele zeugt auch die Reichsschulkonferenz 1920.878 Die Absicht, im Rahmen einer 700 Teilnehmer umfassenden Veranstaltung – der Erziehungswissenschaftler Eduard Spranger sprach rückblickend von einer »achttägigen Massenschlacht«879 – in einer Generaldiskussion Klarheit über die weitere Entwicklung des Bildungswesens zu gewinnen, misslingt mit Ausnahme von Fortschritten in Detailfragen gründlich.880 Die Schulpolitik zeigt sich in diesem Rahmen, deutlicher aber noch während des Weimarer Schulkongresses im Jahr 1924, tief gespalten. Das eine Lager in diesem Konflikt bilden dabei solche Reformpädagogen, wie sie zumal im ›Bund der Entschiedenen Schulreformer‹ um Paul Oestreich881 oder dem um Fritz Jöde organisierten ›Wendekreis‹882 repräsentiert waren und in der Schulpolitik den Weg zu gesellschaftspolitischer Neustrukturierung, ja Revolution erblickten. Das andere Lager umfasst Individuen wie Kurt Zeidler, Eberhard Grisebach, Theodor Litt oder auch Siegfried Bernfeld, die – wenn auch aus unterschiedlichen Motivationen heraus – mit der Metapher der ›Grenze‹ eine Rückbesinnung der Schulpolitik auf ihr konkretes Handlungsfeld forderten und vor pädagogischen Allmachtsphantasien warnten.883 Wenngleich sich insbesondere die Einwände des Philosophen und Pädagogen Theodor Litt in erster Linie an den politisch links zu verortenden Bund der Schulreformer richteten, so kann man doch in allen, besonders in Litts Appellen an eine realistische Einschätzung der Reichweite pädagogischer Maßnahmen, auch eine Reaktion auf 877 Vgl. Wilhelm: Der reformpädagogische Impuls, 196 f. In diesem Sinn auch Tenorth: Pädagogisches Denken, 129. 878 Vgl. detailliert Gerhard Kluchert: »Das große Treffen: Reichsschulkonferenz, Juni 1920«, in: Ders., Hellmut Becker (Hg.): Die Bildung der Nation: Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Stuttgart 1993. 263 – 364. 879 Spranger, zitiert nach Führ : Die Schulpolitik des Reiches und der Länder, 171. 880 Vgl. ebd., 171 f. 881 Vgl. zu diesem Kreis Wilhelm: Der reformpädagogische Impuls, 185 ff. 882 Vgl. dessen einschlägige Publikation: Fritz Jöde (Hg.): Pädagogik deines Wesens. Gedanken der Erneuerung aus dem Wendekreis. Hamburg 1919. 883 Den Begriff der Grenze tragen fast alle dieser Publikationen bereits im Titel: Kurt Zeidler : Die Wiederentdeckung der Grenze. Beiträge zur Formgebung der werdenden Schule. Jena 1926 (Documenta Paedagogica: Quellen zur Geschichte der Erziehung und des Unterrichts); Eberhart Grisebach: Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung Halle an der Saale 1924; Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. 3. Aufl., Frankfurt am Main 1979 [1925]. Wenn auch nicht auf die Schulpolitik bezogen, ist in diesem Zusammenhang auch auf Helmuth Plessners 1924 erschienene einschlägige Schrift zu den Grenzen der Gemeinschaft hinzuweisen, in der er aus der Perspektive der philosophischen Anthropologie für die distanzierenden Formen der Gesellschaft plädiert: Helmuth Plessner : Grenzen der Gemeinschaft. Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt am Main 2002 [1924].

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solche Programme sehen, die als nationalpädagogische Bestrebungen einer politisch konservativen Haltung zuzurechnen wären. Insbesondere im Werk des Philosophen und Pädagogen Herman Nohl tritt die Überzeugung zutage, die sich auch schon bei Becker angedeutet hatte: dass allein die Pädagogik den Geist der deutschen Kulturnation wiederbeleben könne.884 Diesem im politisch linken wie rechten Lager zu beobachtenden totalitären Anspruch gegenüber erheben sich also mahnende Stimmen, die allerdings ihrer Kritik selten konkrete Lösungsvorschläge folgen lassen. Der Appell des Philosophen Eberhart Grisebach an Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung (1924) etwa ist dafür symptomatisch: Einerseits warnt er vor einer politischen Pädagogik und vor Ansprüchen einer Führerschaft, welche die Prämisse seines emphatischen Gemeinschaftsmodells als Grundlage pädagogischen Handelns verbietet.885 Andererseits bleibt sein Erziehungskonzept selbst diffus. Vor dem Hintergrund seiner Lebensphilosophie betont er in erster Linie das irrationale Moment der Erziehung und entzieht sich auf diese Weise Vorschlägen für konkrete pädagogische Maßnahmen: »Wir können sie [die Erziehung, G.W.] nicht wissend meistern und ihrer nicht besitzend gewiß sein, wir können nur auf sie horchen, an sie glauben, damit sie durch den Nächsten uns zuteil werde.«886 Deutlicher, persönlicher und in seinen Forderungen konkreter bringt Theo884 Vgl. Herman Nohl: Die Deutsche Bewegung. Vorlesungen und Aufsätze zur Geistesgeschichte von 1770 – 1830. Göttingen 1970, sowie Ders.: Die pädagogische Bewegung und ihre Theorie. 6. Aufl., Frankfurt am Main 1963. Daniela Gretz widmet Herman Nohls Ideen ein Kapitel in ihrer erhellenden Arbeit zur Deutschen Bewegung, in der sie diese als variantenreiche Adaptationen eines »(Re-) Konstruktionsmodells nationaler Identität« betrachtet, »welches […] versucht, die Geschichte der ästhetischen Erfindung der Nation um 1800 nachzuzeichnen.« Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation. München 2007. 16. Nohls Werk sieht sie als ein Beispiel der für die Reformpädagogik charakteristischen Überzeugung, reformpädagogische Erziehung sei immer auch »Erziehung zur emphatisch verstandenen nationalen Gemeinschaft. Individualität gründete sich dabei, indem Nation erzieherisch als internalisierte Haltung etabliert wurde, auf den imaginären Bezug zur Volksgemeinschaft, die sich wiederum tautologisch erst aus den so in doppeltem Sinne ›gebildeten‹ Individuen als nationale Glaubensgemeinschaft konstituierte.« Dies.: »Remix 1918: Ästhetische Erziehung goes Nationalpädagogik. Zur pädagogischen Theorie Hermann Nohls«, in: Eva Geulen, Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg / Berlin / Wien 2007. 69 – 92, hier 70. 885 »Das Gesetz der Gemeinschaft ist die Beziehung von widersprechenden Ansprüchen und Pflichten, die ausgehalten werden nach dem konkreten ethischen Gesetz des Widerspruchs. Er [der Führer, G.W.] hat teil an einer endlichen Wirklichkeit, in der die Grenze als Aufgabe anerkannt sein muß, die ihm durch den Widerspruch und Anspruch des andern gestellt ist, der ihm Pflichten in der Gemeinschaft aufgibt. […] In unserer lebendigen Wirklichkeit dürfen wir nie den Führer erhoffen, nie selbst Führer sein wollen.« Grisebach: Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung, 54. 886 Ebd., 63. Ähnlich auch Zeidler : Die Wiederentdeckung der Grenze, 99.

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dor Litt sein Plädoyer für die Selbstbegrenzung des pädagogischen Anspruchs zum Ausdruck: zunächst 1924 im Rahmen eines Offenen Briefes an Paul Oestreich in der Neuen Erziehung, dann in seiner Ansprache während des Weimarer Schulkongresses 1926.887 Litts Mahnungen benennen sehr präzise die Mentalitätslage, die nicht zufällig in dem Moment zum Ausdruck kommt, als der Diskurs der Schulliteratur, wie oben geschildert, abebbt. In seinem offenen Brief diagnostiziert Litt dem ›Bund‹ um Paul Oestreich zunächst eine Diskrepanz zwischen dem rhetorischen Pathos seiner Reformpläne und der Realisierbarkeit seiner Entwürfe. Erstens kritisiert er den utopischen Charakter der darin beschworenen neuen Gesellschaft und die naive Vorstellung gemeinschaftlicher Harmonie, die ihr zugrunde liege: Aber ich frage: wo in aller Welt wird es denn einmal eine Gemeinschaft geben, die alle Dissonanzen so in Wohlklang auflöst, alles Leben so friedevoll ineinanderrinnen läßt? […] Von ›Persönlichkeit‹ und ›Gemeinschaft‹ hören wir unaufhörlich in den Verlautbarungen der ›Entschiedenen‹: aber es fehlt diesen Begriffen nur allzu oft das Moment der Spannung, der Polarität, der Dialektik, das mit dem Wesen alles Geistes gesetzt ist […]. Zu viel Romantik und zu wenig Hegel!888

Zweitens, und das ist hier zentral, entlarvt er die Unmöglichkeit der ›Operation‹, mithilfe der Erziehung zu einer neuen Gesellschaftsordnung zu gelangen. Denn der Weg von der als defizitär begriffenen gegenwärtigen Gesellschaft in eine neue sei nicht durch die Institution der Schule zu leisten: Sie [die Verbindungen von der alten zur neuen Gesellschaft, G.W.] werden auch nie konstruiert werden, weil nie und nimmer die Welt der Schule, die reale wie die gedankliche, die Stelle ist, an der der Hebel zur Umwälzung politisch-kultureller Gesamtzustände angesetzt werden kann. Gesetzt, die ungeheure Katastrophe stehe uns wirklich bevor, auf deren Herannahen Sie so oft drohend und warnend hinweisen – glauben Sie, sie könnte durch eine Bildungsreform verhindert oder auch nur wesentlich abgeschwächt werden? Es will mir scheinen, daß der, der seine Reformpläne sich von diesen und ähnlichen Erwartungen diktieren läßt, einfach gewisser elementarer Einsichten in die unaufhebbaren Strukturprinzipien großer Sozialkörper ermangelt.889

Dass Litts eigene Einsicht in diese Strukturprinzipien in elaborierter Weise gleichsam die systemtheoretische Annahme der Autopoiesis vorwegnimmt, belegt er in seiner zwei Jahre später in Weimar abgegebenen Stellungnahme. 887 Der Kongress war als Forum zur Diskussion der Ergebnisse neuer pädagogischer Ideen für die Schulpolitik gedacht, endete aber nicht zuletzt aufgrund von Litts Diskussionsbeitrag eher ernüchternd. So wurde »für die pädagogische Diskussion und die Schulpolitik […], vielleicht gegen Litts Intention, die Metapher der Grenze […] zum Signal der bildungspolitischen Begrenzung.« Tenorth: Pädagogisches Denken, 133. 888 Theodor Litt: »Offener Brief«, in: Die neue Erziehung 6 (1924), 369 – 74, hier 373. 889 Ebd., 371.

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Darin diagnostiziert er eine »Ermattung« und »Selbstbesinnung«890 des pädagogischen Elans. Warum er diese Beobachtung gutheißt, erklärt er, indem er die Alternative zu dieser besonnenen Haltung ausmalt: Es dürfe »nicht übersehen werden, daß keine einzige geistige Macht, und so auch nicht die Pädagogik, auf die Dauer diesen Anspruch aufrechterhalten kann.«891 Dies begründet Litt mit dem begrenzten Einflussbereich der Pädagogik als eines gesellschaftlichen Subsystems: […] das heißt sie ist nicht imstande, aus der Kraft ihrer eigenen Leitideen heraus die verschiedenen Bezirke des menschlichen Lebens inhaltlich auszufüllen. Denn diese alle müssen sich eben gemäß i h r e n e i g e n e n Formgesetzen ausbauen; wollten sie diese Formgesetze gegen pädagogische Normen austauschen, so würden sie ihr eigenes Wesen zerstören. Was geschieht infolgedessen, wenn die Pädagogik trotz dieser Sachlage das Wagnis auf sich nimmt, das Ganze des menschlichen Daseins gestalten zu wollen? Während sie den Anschein erweckt und sich schmeichelt, das Ganze der Wirklichkeit sich unterworfen zu haben, macht sie unvermerkt Anleihen bei den Lebensgewalten, die sie unterworfen zu haben glaubt, und wird damit abhängig von Prinzipien durchaus n i c ht pädagogischer Art. So kommt es dahin, daß sich Pädagogik nennt, was in Wahrheit religiöse Prophetie, metaphysische Spekulation, soziales Programm, politische Willensbildung ist. Damit verwandelt sich die vermeintliche Autonomie in die schlimmste Heteronomie, denn bekanntlich sind diejenigen Bindungen die wirksamsten, von denen der Gebundene nichts weiß.892

Man braucht den weiteren und auf dem Kongress höchst kontrovers aufgenommenen Ausführungen an dieser Stelle nicht weiter zu folgen.893 Überaus weitsichtig benennt Litt eine Tendenz, die – entgegen seiner Hoffnungen – nach 1926 eben noch nicht beendet sein sollte: die Tendenz, dass sich pädagogische Ansprüche nicht mehr nur auf das Bildungs- und Erziehungssystem beziehen, sondern sich gesamtgesellschaftliche – systemübergreifende – Kompetenz anmaßen. Im Sinne der Erziehung des Volkes zu einer geeinten Kulturnation wird fortan nicht mehr nur der Schüler, sondern der Mensch Adressat dieser neuen Pädagogik sein, dessen ›Bildung‹ in zunehmendem Maße als Formung und 890 Theodor Litt: »Die gegenwärtige pädagogische Lage und ihre Forderungen«, in: Georg Ried (Hg.): Die moderne Kultur und das Bildungsgut der deutschen Schule. Bericht über den Pädagogischen Kongress des Deutschen Ausschusses zu Erziehung und Unterricht, veranstaltet in Weimar vom 7. bis 9. Oktober 1926. Leipzig 1926. 1 – 11, hier 1. 891 Ebd., 2. 892 Ebd., Hvbg. i. O., Kursivierung von mir, G.W. 893 Konkreter noch als im Offenen Brief fordert Litt dort eine sachliche Rückbesinnung auf die handwerklich-didaktische Komponente des Schulunterrichts, dem keinesfalls der aus dem lebensphilosophischen Lager stammende Vorwurf der »Technik« zu machen sei, vgl. ebd., 8. Zu den Reaktionen im Rahmen des Kongresses vgl. Herrmann: ›Neue Schule‹ und ›Neue Erziehung‹, 26 f. Paul Oestreich verfasste später eine erboste Replik auf Litts Forderungen: Paul Oestreich: »Ruhe! Herr Litt?«, in: Die neue Erziehung 9 (1927), 33 – 38.

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Gestaltbarkeit verstanden werden wird.894 Dieser Anspruch aber geht über die Institution der Schule hinaus. Ihre Konjunktur als literarische Reflexionsfigur ist mit dem Beginn des nationalpädagogischen Diskurses an ihr Ende gelangt.

894 Ernst Lichtenstein: »Bildung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. 1. Sp. 921 – 37, hier 932 f.; Rudolf Vierhaus: »Bildung«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhard Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1992. 508 – 51, hier 550; sowie Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. 3., vollst. bearb. und erw. Aufl., Weinheim 1996. 227 – 251.

Siglenverzeichnis

Wo Jahreszahlen in eckigen Klammern angegeben sind, beziehen sie sich auf das Erscheinungsjahr des jeweiligen Textes. B BS FaE FE

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Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt am Main 1981 (Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. 1) [1901]. Wilhelm Lehmann: Der Bilderstürmer, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 2: Romane I. Hg. von Jochen Meyer. Stuttgart 1984 [1917]. 7 – 114. Otto Ernst: Flachsmann als Erzieher. Eine Komödie in drei Aufzügen. Leipzig 1922. Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891), in: Ders. Werke. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. von Matthias Baum und Rolf Kieser. Bd. 2. Darmstadt 2000. 259 – 322. Emil Strauß: Freund Hein. Eine Lebensgeschichte. Stuttgart 1982 [1902]. Robert Walser : Fritz Kochers Aufsätze, in: Ders.: Das Gesamtwerk in 12 Bänden. Hg. von Jochen Greven. Bd. 1: Fritz Kochers Aufsätze. Geschichten. Aufsätze. Frankfurt am Main / Zürich 1978 [1904]. 7 – 48. Arnolt Bronnen: Die Geburt der Jugend. Berlin 1922. Robert Saudek: Eine Gymnasiasten-Tragödie. Berlin o. J. (ca. 1907). Robert Walser : Jakob von Gunten. Ein Tagebuch. Hg. von Jochen Greven. Frankfurt am Main / Zürich 1985 [1909]. (Sämtliche Werke in Einzelausgaben, Bd. 11) Conrad Ferdinand Meyer : Das Leiden eines Knaben, in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Alfred Zäch. Bd. 12: Novellen II. Bern 1961 [1883]. 99 – 157. Frank Wedekind: Mine-Haha, oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen, in: Ders. Gesammelte Werke. Bd. 1. München / Leipzig 1912. Max Dreyer : Der Probekandidat. Drama in vier Aufzügen. 5. Aufl., Leipzig / Berlin 1900. Heinrich Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Mit einem Nachwort von Rudolf Wolff und einem Materialienanhang, zusammengestellt von PeterPaul Schneider. Frankfurt am Main 1989 (Studienausgabe in Einzelbänden) [1905]. Georg Kaiser : Rektor Kleist. Tragikomödie in vier Akten. Berlin 1918 [1905]. Paul Natorp: Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft. 4. Aufl., Stuttgart 1909. Georg Kaiser : Der Fall des Schülers Vehgesack. Szenen einer kleinen deutschen

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Siglenverzeichnis

Komödie, in: Ders. Werke. Bd. 1: Stücke 1895 – 1917. Hg. von Walther Huder. Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1971 [1905, UA 1915]. 39 – 115. Rainer Maria Rilke: Die Turnstunde, in: Ders.: Sämtliche Werke in 12 Bänden. Besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 7: Frühe Erzählungen und Dramen, erste Hälfte. Frankfurt am Main / Leipzig 1975 [1894]. 601 – 609. Robert Walser : Tagebuch eines Schülers. In: Ders.: Das Gesamtwerk in 12 Bänden. Hg. von Jochen Greven. Bd. 1: Fritz Kochers Aufsätze. Geschichten. Aufsätze. Frankfurt am Main / Zürich 1978 [1908]. 208 – 17. Arno Holz, Oskar Jerschke: Traumulus. Tragische Komödie. Dresden 1909. Leonhard Frank: Die Ursache. München 1916. Marie von Ebner-Eschenbach: Der Vorzugsschüler, in: Dies.: Das Gemeindekind. Novellen. Aphorismen. Hg. und mit einem Nachwort von Johannes Klein. München 1956 [1893]. 514 – 54. Wilhelm Lehmann: Vogelfreier Joseph, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 5: Erzählungen. Hg. von David Scrase. Stuttgart 1994 [1922]. 173 – 234. Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Fris¦. Bd. 1: Prosa und Stücke. Reinbek bei Hamburg 1978 [1906]. 7 – 140.

Literaturverzeichnis

1.

Schulliterarische Quellentexte

Wo Jahreszahlen in eckigen Klammern angegeben sind, beziehen sie sich auf das Erscheinungsjahr des jeweiligen Textes.

a.

Korpustexte

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b.

Weitere schulliterarische Quellentexte

Hier werden zum Zweck der möglichst umfassenden Korpusdarstellung auch Texte genannt, die im Text nicht erwähnt werden. Andreas-Salom¦, Lou: Ruth. Erzählung. Stuttgart 1897. Arminius, Wilhelm: Stietz-Kandidat. Roman aus grauer Vergangenheit des Oberlehrerlebens. 2 Bde. Berlin 1908. Becher, Johannes: Abschied. Wiesbaden 1965 [1940].

Schulliterarische Quellentexte

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Bierbaum, Otto: Die Leiden des jungen Bierbaum. Ein Gymnasiastentagebuch 1881. Privatdruck 1925. Bronnen, Arnolt: Die Septembernovelle. Nendeln, Liechtenstein 1973 [1921]. Busse, Carl: Das Gymnasium von Lengowo. Ein Schulroman aus der Ostmark. 2 Bde. Stuttgart 1907. Busse, Carl: Die Schüler von Polajewo. Novellen aus Heimat und Kleinstadt. Stuttgart 1901. Döblin, Alfred: Gespenstersonate, in: Ders.: Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. Jubiläums-Sonderausgabe zum 100. Geburtstag des Dichters. Hg. von Edgar Pässler. Olten / Freiburg 1977 [1928]. Dreyer, Max: Reifeprüfung. Berlin 1929. Ernst, Otto: Asmus Sempers Jugendland. Der Roman einer Kindheit. Leipzig 1904. Ernst, Otto: Semper, der Jüngling. Ein Bildungsroman. Leipzig 1908. Ernst, Otto: Die größte Sünde. Leipzig 1907. Fallada, Hans: Der junge Goedeschal. Ein Pubertätsroman. Berlin / Weimar 1993 [1920]. Harlan, Walter : Der lateinische Esel. Berlin 1909. Harlan, Walter : Die Sünde an den Kindern. Eines Schulmeisters Leben, Sterben und Fahrt in das Allherz. Berlin 1908. Heym, Georg: Die Professoren, in: Ders.: Dichtungen und Schriften. Bearb. von Karl Ludwig Schneider und Gunter Martens. Bd. 1. Hamburg / München 1964 [1911]. 157. Hoffmann, Hans: Publius, in: Das Gymnasium zu Stolpenburg. Berlin 1891. Huch, Friedrich: Mao. Berlin 1907. Kielland, Alexander L.: Abraham Lovdahl. Die Romantrilogie: Gift – Fortuna – Johannisnacht, in: Ders.: Werke. Bd. 2. Hg. und bearbeitet von Rudolf Wolff. Übers. von Marie Leskien-Lie, Friedrich Leskien. Berlin 1986 [1883]. Land, Hans: Bande!! Ein humoristischer Roman. Berlin 1902. Misch, Robert: Kinder. Eine Gymnasiasten-Komödie. Berlin 1906. Schwayer, Adolf: Die Sittennote. Die Tragödie eines Schülers in vier Aufzügen. Wien 1906. Thoma, Ludwig: Lausbubengeschichten. Aus meiner Jugendzeit. München 1905. Torberg, Friedrich: Der Schüler Gerber. München 2008 [1930]. van Hoddis, Jakob: Der Oberlehrer, in: Ders.: Dichtungen und Briefe. Hg. von Regina Nörtemann. Zürich 1987 [1908]. 32. von Horv‚rth, Ödön: Jugend ohne Gott. Frankfurt am Main 2001 [1937]. von Ompteda, Georg: Sylvester von Geyer. Ein Menschenleben. 2 Bde. Berlin 1896. von Reitzenstein, Hans Joachim: Vergitterte Jugend: Geschichten aus dem Kadettenkorps. Berlin 1920. von Salomon, Ernst: Die Kadetten. Berlin 1933. von Wildenbruch, Ernst: Das Orakel, in: Ders.: Tiefe Wasser. Fünf Erzählungen. Berlin 1898. 313 – 28. Werfel, Franz: Der Abituriententag. Frankfurt am Main 1990 [1928]. Winsloe, Christa: Mädchen in Uniform. Göttingen 1999 [1931]. Zabel, Eugen, Alfred Bock: Der Gymnasialdirektor. Schauspiel in vier Aufzügen. Berlin 1896. zu Reventlow, Franziska: Ellen Olestjerne. Eine Lebensgeschichte. Hamburg 2009 [1903]. Zweig, Stefan: Allah, in: Ders.: Ein bisschen Blut. Berlin / Weimar 1987 [1911].

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Namensregister

Altschul, Theodor 45, 47, 49 f., 84, 101 Andreas-Salom¦, Lou 33, 235 Bach, Julius 34, 145 Baer, Abraham 27 Baginsky, Adolf 52 Baumeister, o. V. 53 Baur, Alfred 54 Becher, Johannes 35, 323 Becker, Carl Heinrich 244, 325 – 328 Bellmann, Johannes 91 f. Benda, Theodor 56 Bernfeld, Siegfried 268, 305, 327 Bierbaum, Otto 129, 323 Blüher, Hans 259 f., 273, 279 Bock, Alfred 232 f. Bock, o. V. 196 Bollenbeck, Georg 17, 22 f., 57 Bronnen, Arnolt 41, 172, 226, 228 f., 240, 285, 287, 296, 298 – 314, 316 – 318, 321, 323 Burgerstein, Leo 43, 48 Campe, Rüdiger 32, 176, 180, 182, 190 – 192, 211, 214 Christensen, Jens Lauris 23 Clausius, Rudolf 28 f. Cohn, Hermann 142 Cramer, August 52, 139 Dannemann, Adolf 52 de Lagarde, Paul 22, 253, 268 de Saint-Simon, Louis de Rouvroy 64

Döblin, Alfred 275, 323 Dreyer, Max 225, 233 f., 236 – 238, 240, 323 Durkheim, Emile 58 – 61, 81, 103 Ehlen, Leo 31 Erhart, Walter 39, 55, 90 f., 94 – 97, 113 Ernst, Otto 233 f., 236 – 238, 241 Eulenburg, Albert 27, 129 Fähnders, Walter 14, 99, 226, 249 f., 288, 295 Fallada, Hans 35, 323 Federn, Paul 304 Finkelnburg, Carl 52 Florack, Ruth 132, 138 f. Foucault, Michel 91, 128 Frank, Leonhard 41, 226 f., 285, 287 – 293, 295 f., 314, 318, 321 Freud, Sigmund 129, 150, 156, 182, 213, 227, 231, 256, 288 Frey, Adolf 63 Gehlen, Arnold 191, 230, 260 Geulen, Eva 16, 22, 37, 160, 242, 328 Greven, Jochen 198 f., 206, 208 – 210, 333 f. Griesbach, Hermann 44, 47 Grimm, Jacob, Wilhelm Grimm 74, 153 Grisebach, Eberhart 327 f. Gross, Otto 227, 288, 290 – 292, 294, 304 Grosz, Carl 52, 139 Gurlitt, Ludwig 23, 31, 325

362 Gutjahr, Ortrud 63, 131 f., 148 f., 157 Hasenclever, Walter 296 – 298, 308, 310 Herrmann, Ulrich 13 – 16, 22 – 24, 60 f., 88, 91, 113, 196 f., 252, 268, 324 f., 330 Heym, Georg 231 f., 256 Hoffmann, Hans 33 Holz, Arno 35, 40, 55, 176, 233, 239 Huch, Friedrich 112, 114 Ilett, Darren 37, 116, 119, 125, 244 Jelavich, Peter 132, 145 Jensen, Adolf 197 Jerschke, Oskar 233, 239, 334 Jöde, Fritz 319, 327 Kaiser, Georg 32, 40, 161 – 169, 171 – 173, 246, 320 f. Kemsies, Ferdinand 53, 128 Kerr, Alfred 173 f., 310 Ketelsen, Uwe-Karsten 298 – 300, 309, 311 f. Key, Axel 43 Key, Ellen 13 f., 20, 88, 118 Kielland, Alexander L. 33 Kittler, Friedrich 65, 71, 75, 77 Kitzing, Friedrich Wilhelm 31, 34, 38, 225 f., 233 f., 255 Kolk, Rainer 31 f., 37, 40, 116, 192 f., 203, 212 f., 242, 245, 250, 272 Korte, Hermann 11, 227 f., 234, 261, 268 Kraepelin, Emil 29, 44 f., 47, 49 f., 53 Kraus, Karl 15 Kümmel, Albert 175, 182 Kupffer, Heinrich 267 – 269, 271, 274 Kutscher, Artur 147 – 149, 151, 155 Lamszus, Wilhelm 197 Land, Hans 233, 241 Landau, Richard 56, 227, 290 Langbehn, Julius 22, 237, 268 Lay, Wilhelm August 78 Lehmann, Rudolf 195 Lehmann, Wilhelm 226, 228, 252, 254, 265 – 267, 276, 280, 284, 321

Namensregister

Litt, Theodor 327, 329 f. Lombroso, Cesare 58 Lorentz, Friedrich 47 Lorinser, Carl Ignaz 27, 46 Luhmann, Niklas 23, 252 Luserke, Matthias 34, 36, 148, 176 f., 192, 243, 246 Mann, Heinrich 35 – 37, 226, 231 f., 239, 242 – 245, 251, 321 Mann, Thomas 33, 36 f., 89, 96 f., 100 – 102, 104, 302, 320 Märklin, Georg F. 52 Marquardt, Karin 36, 243 f., 322 Medicus, Thomas 147, 159 Meumann, Ernst 78 – 80, 83, 263 Meyer, Conrad Ferdinand 62 – 67, 177, 296, 319 Meyer, Richard M. 131 Minder, Robert 34, 176 Mix, York-Gothart 15, 32 – 35, 37, 40, 55, 89, 97, 116, 118, 249 Möbius, Paul Julius 109 Mosso, Angelo 29 f., 47 – 49 Musil, Robert 34 – 37, 40, 161, 173 – 176, 179, 186 – 190, 206, 211, 216, 310, 320, 322 f. Natorp, Paul 60, 85 – 87 Neswald, Elizabeth 28 f. Netolitzky, August 48 Nietzsche, Friedrich 14, 17 – 22, 30, 57, 94, 96, 98, 121 – 123, 126, 144, 150 f., 155 f., 159 – 162, 175, 189, 197, 237 f., 243, 253, 268, 308 Nohl, Herman 328 Oelkers, Jürgen 14 f., 23, 27, 45 f., 61, 87 f., 128, 237, 252 f., 271 f., 284 f., 331 Oestreich, Paul 327, 329 f. Oppenheim, Hermann 56 – 59, 128 Pankau, Johannes 131, 133, 136, 148 Pappenheim, Martin 52, 139 Paulsen, Friedrich 23, 54 f., 59, 197 Payot, Jules 84

363

Namensregister

Petrarca, Francesco 106 f. Peukert, Detlev 228 f. Pfemfert, Franz 27, 228, 255, 305 Plessner, Helmuth 230, 260, 327 Plumpe, Gerhard 65, 155, 159 f., 285 f., 294, 313, 317 Polgar, Alfred 166 Pornschlegel, Clemens 201 – 203 Reitzenstein, Hans Joachim von 178 Ribot, Th¦odule 81 – 84 Riehl, Wilhelm Heinrich 23 Rilke, Rainer Maria 14, 31, 34 f., 37 f., 40, 55, 114 – 123, 126, 144, 174, 176, 188, 320 Rosenthal, Oskar 128 Rosikat, August 31, 232 f. Rost, Hans 58, 256 Saudek, Robert 35, 41, 226, 229, 240, 252, 254 – 257, 272, 281, 284, 312, 321 Schlaf, Johannes 40, 55, 176 Schönborn, Sybille 129, 132, 143 Schurtz, Heinrich 259 Simmel, Georg 60, 103, 115, 218, 222 Spitzner, Alfred 80 Steiger, J. 174, 194 f., 198 – 200 Stöckmann, Ingo 40, 62, 65, 68, 71, 82, 84, 108, 114, 230, 235 f., 258, 278, 282 Strauß, Emil 31, 40, 78, 89, 106 f., 320 Stross, Annette M. 27 f., 43, 45, 51 Strümpell, Ludwig 80, 84 Tenorth, Heinz-Elmar 31, 78, 324 f., 327, 329 Tönnies, Ferdinand 60 f.

Torberg, Friedrich 36, 323 Utz, Peter 203, 220 van Hoddis, Jakob 231 f. Virchow, Rudolf 46, 51, 53 f., 58 Vogl, Joseph 179, 184 von Ebner-Eschenbach, Marie 40, 89 f., 92, 95, 320 von Salomon, Ernst 178 von Szczepanski, Paul 177 f. von Wiese, Leopold 178 f. von Wildenbruch, Ernst 34, 118, 176 f. Walser, Robert 32, 37, 41, 180, 190, 192 – 194, 197 – 203, 205 f., 208 – 216, 218, 220, 222, 320, 322 Weber, Max 261, 273 Wedekind, Frank 34, 37, 40, 91, 127 – 133, 135 f., 138 – 143, 145 – 157, 159 f., 162, 165, 168, 185, 216, 253, 310, 320 – 323 Werfel, Franz 289, 323 Wilde, Oscar 15 Winsloe, Christa 33 Witte, Wilhelm 128 Wyneken, Gustav 62, 228, 254, 261, 265, 267 – 269, 279, 300, 305, 312 Wyneken, Hans 163 Zabel, Eugen 232 f. Zeidler, Kurt 327 f. Zerkaulen, Heinrich 233 Ziehen, Julius 139 zu Reventlow 33 Zweig, Stefan 23