Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen: Empirische Studien zur Beratung von Personen und Organisationen auf der Basis der Synergetik 9783666403538, 9783525403532, 9783647403533

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Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen: Empirische Studien zur Beratung von Personen und Organisationen auf der Basis der Synergetik
 9783666403538, 9783525403532, 9783647403533

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Interdisziplinäre Beratungsforschung Herausgegeben von Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller, Christiane Schiersmann Band 5: Christiane Schiersmann, Heinz-Ulrich Thiel (Hg.) Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen

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Christiane Schiersmann/ Heinz-Ulrich Thiel (Hg.)

Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen Empirische Studien zur Beratung von Personen und Organisationen auf der Basis der Synergetik Mit 26 Abbildungen und 10 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

Gefördert durch die Deutsche Gesellschaft für Supervision (DGSv).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40353-2 ISBN 978-3-647-40353-3 (E-Book)

 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Redaktion: Panja Schweder, Frankfurt/Main Satz: www.composingandprint.de Druck & Bindung: l Hubert & Co, Göttingen

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Inhalt

Christiane Schiersmann und Heinz-Ulrich Thiel Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christiane Schiersmann und Heinz-Ulrich Thiel Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen – eine Theorie jenseits von »Schulen« und »Formaten« . .

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Günter Schiepek und Heiko Eckert Monitoring und Evidenzbasierung von Beratungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ariane Wahl Generische Prinzipien in der beruflichen Beratung – Konkretisierung und Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Johanna Hein Analyse (in)direkter Effekte von Coaching anhand der generischen Prinzipien – eine empirische Fallstudie . . . . . 132 Marco Paukert Systemkompetenz – eine empirische Studie zur Kompetenzentwicklung von Beratern . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Martin Biehaule Outplacement-Beratung: Analyse der Bedingungen für die berufliche Neuorientierung auf der Basis der Theorie der Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

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Inhalt

Heinz-Ulrich Thiel und Christiane Schiersmann Selbstorganisation fördernde Wirkprinzipien und Erfolgsfaktoren in der Organisationsentwicklung – zwei Fallstudien im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Peter Weber Das transnationale Politiknetzwerk für die Verbesserung lebensbegleitender Beratung ELGPN. Eine Untersuchung von Mustern und Ordnungsübergängen . . . . . . . . . . . . . . . 302 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

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Christiane Schiersmann und Heinz-Ulrich Thiel

Einleitung

Die Bedeutung von Beratung wächst in unserer komplexen Gesellschaft, in der Trends wie Globalisierung, Individualisierung, Wissensflut etc. mit Unsicherheit und vielfältigen Entscheidungsnotwendigkeiten einhergehen. Daher stellt sich die Herausforderung, eine konsistente Beratungstheorie zu konzipieren und diese Interventionsform damit zugleich weiter zu professionalisieren. Nachdem sich Beratung über lange Zeit hinweg bei der konzeptionellen Ausgestaltung weitgehend auf Ansätze bezogen hat, die aus den therapeutischen »Schulen« stammen, ist gegenwärtig ein Trend zur Kombination dieser Ansätze zu beobachten, der sich bisweilen als theoretisch nicht explizit begründeter »Methodenmix« darstellt. Um dieses Phänomen zu überwinden, ist eine allgemeine Beratungstheorie erforderlich, auf deren Basis die unterschiedlichen Methoden und Strategien verschiedener Beratungsansätze systematisch und begründet ausgewählt werden können. Als eine Metatheorie für die Gestaltung und Analyse von Beratungsprozessen wird in diesem Band die Theorie der Selbstorganisation, die Synergetik, zugrunde gelegt. Bei dieser spezifischen Variante der Systemtheorie steht das Zusammenwirken unterschiedlicher Elemente in komplexen, nichtlinearen Systemen im Mittelpunkt, deren Wechselwirkung zur Bildung spezifischer Ordnungen bzw. Muster führt sowie Übergänge von einem Muster zu einem anderen bewirkt. Dabei handelt es sich um selbstorganisierte Prozesse des jeweiligen Systems ohne zentrale Steuerungsinstanz. Daraus abgeleitet wurden von Haken und Schiepek (2010) sogenannte generische Prinzipien, die der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Christiane Schiersmann und Heinz-Ulrich Thiel

Unterstützung von Ordnungsübergängen dienen. Berater fungieren in dieser Konzeption als Förderer von Selbstorganisationsprozessen. Die generischen (Wirk-)Prinzipien ermöglichen die Auswahl unterschiedlicher Methoden und stellen zugleich Kriterien guter Beratung dar. Der Band zielt darauf ab, diese Überlegungen für die Beratung von Personen und Organisationen konzeptionell fruchtbar zu machen und legt zugleich erste empirische Studien zur Umsetzung vor. Wenngleich davon auszugehen ist, dass die theoretische Basis der Synergetik für alle Beratungsfelder im Prinzip gleichermaßen relevant ist, wird die arbeitsweltbezogene Beratung als Anwendungsgebiet fokussiert. Diese umfasst nach dem Verständnis der Herausgeber sowohl personenbezogene Formate (z. B. Bildungs-, Berufs- und Karriereberatung, Coaching/Supervision) sowie organisationsbezogene (z. B. Organisationsberatung, Teamentwicklung, Qualitätsmanagement). Diese Fokussierung resultiert daraus, dass in der Beratung neben den prozessbezogenen Dimensionen immer auch spezifisches Wissen über das Handlungsfeld eine Rolle spielt. Der Band beginnt mit einem einführenden, konzeptionellen Beitrag von Christiane Schiersmann und Heinz-Ulrich Thiel. Erläutert wird eingangs das zugrunde gelegte systemische Verständnis professioneller Beratung, das neben der Beratung als Interaktionsprozess auch die organisationalen und gesellschaftlichen Kontexte von Beratung einbezieht. Angesichts des bisher häufig zu beobachtenden Rückgriffs der Beratungsliteratur auf theoretische Modelle und empirische Ergebnisse der Psychotherapie wird ein systematischer Vergleich dieser beiden Interventionsformen vorgenommen – mit dem Ergebnis größerer Gemeinsamkeiten als grundsätzlicher Unterschiede. Anschließend wird der Weg der Fachdiskussion nachgezeichnet – von Beratungs- bzw. Therapieschulen über vielfältige eher pragmatische Kombinationen von Ansätzen, systematische Verknüpfungsversuche unterschiedlicher Schulen, die Berücksichtigung von Ergebnissen der Psychotherapieforschung bis zur empirischen Identifizierung schulenübergreifender Wirkfaktoren von Grawe (2000). Wenngleich Grawe in seinen Arbeiten Theorien der Psychologie und der Psychotherapie verarbeitet, verbleibt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Einleitung

sein Vorgehen doch insofern induktiv, als die Ergebnisse aus sehr umfangreichen Sekundäranalysen vorliegender Studien gewonnen wurden. Demgegenüber liegt mit der Theorie der Selbstorganisation komplexer Systeme – der Synergetik – eine Metatheorie vor, aus der sich das Vorgehen in der Beratung theoretisch begründen und Veränderungsprozesse empirisch nachweisen lassen. Die Eckpfeiler dieser Theorie in Bezug auf soziale Systeme und der Transfer dieser Theorie auf die Beratung werden dargestellt – mit einem besonderen Fokus auf die sogenannten generischen, die Selbstorganisation unterstützenden Prinzipien und deren Verknüpfung mit der Problemlösepsychologie. Abschließend werden erste Überlegungen angestellt, wie dieser Ansatz forschungsmethodisch zur Analyse von Beratungssituationen genutzt werden kann. Der Beitrag von Günter Schiepek und Heiko Eckert, zwei Autoren, die ganz zentral den Transfer der ursprünglich aus der Physik stammenden Theorie auf soziale Systeme, insbesondere auf die Psychotherapie und das Management bzw. die Organisationsentwicklung geleistet haben, schließt insofern unmittelbar an den vorhergehenden Beitrag an, als er die Aspekte des Monitoring und der Evidenzbasierung von Beratungsprozessen in den Mittelpunkt rückt. Die Autoren verstehen Beratung als ein dynamisches und adaptives Schaffen von Bedingungen für selbstorganisierten Musterwandel im biopsychosozialen System (sei es eine Person, eine Gruppe, ein Team oder eine Organisation) und zeigen, dass und wie die aus dem Bereich der nichtlinearen, komplexen Systeme inspirierte Methodologie des Prozessmonitorings und Prozessfeedbacks ermöglicht, den Verlauf von Beratungsprozessen abzubilden. Im Zentrum steht dabei das Synergetische Navigationssystem (SNS), mit dessen Hilfe es möglich wird, die Turbulenzen selbstorganisierter Entwicklungsprozesse zu erfassen. Es handelt sich dabei um eine elaborierte Software-Anwendung, die bisher in der Psychotherapie breit erprobt wurde und in dem Beitrag in ersten Ansätzen auf Beratungsprozesse transferiert wird. Die damit gegebene Chance eines Real-Time-Monitoring dient keineswegs ausschließlich Forschungszwecken. Vielmehr profitiert vor allem die Beratungspraxis davon. Die Analyse der gewonnenen Daten wird als © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Reflexionsinstrument für Berater und Ratsuchende und die Planung weiterer Schritte genutzt. Ziel ist dabei eine partnerschaftliche Kooperation zwischen Berater und Ratsuchendem, bei der letzterer sein eigener Prozessgestalter werden und die Prozesssteuerung zunehmend selbst in die Hand nehmen soll. Der Beitrag von Ariane Wahl zielt zum einen auf die Konkretisierung der generischen Prinzipien. Ihre Leistung besteht in diesem Teil vor allem darin, die Relevanz dieser Prinzipien mit anderen Befunden aus der Psychotherapie und Beratungsforschung zu verknüpfen. Darüber hinaus analysiert der Beitrag anhand eines Fallbeispiels aus der beruflichen Beratung, wie die generischen Prinzipien realisiert wurden. Die Auswertung mit Hilfe einer Prozessmatrix zeigt, dass in dem ausgewählten Gesprächsausschnitt zwei generische Prinzipien von besonderer Bedeutung waren – die Herstellung stabiler Rahmenbedingungen für den Veränderungsprozess und eine Destabilisierung alter Muster. Es ist aber auch interessant zu sehen, dass in dem Gesprächsausschnitt das Zusammenspiel sehr vieler generischer Prinzipien einen Veränderungsprozess voranbringt. Belegt wird auch, dass – wie konzeptionell vorgesehen – eine Intervention des Beraters der Umsetzung verschiedener generischer Prinzipien dienen und ein generisches Prinzip durch verschiedene Methoden realisiert werden kann. Die Fallstudie von Johanna Hein analysiert ein betriebsinternes Coachingkonzept, das als Personalentwicklungsmaßnahme in einem Großbetrieb der IT-Branche durchgeführt wird. Die Autorin hat auf der Basis von Interviews mit Coaches untersucht, ob die generischen Prinzipien von den Coaches realisiert wurden. Das Ergebnis zeigt, dass auch Coaches, die nicht gezielt mit diesem Konzept arbeiten, dennoch die generischen Prinzipien – im Sinne guter Beratung umsetzen. Neben dieser Analyse geht die Autorin auch den direkten kognitiven, emotionalen und behavioralen Effekten des Coachings durch Befragung der Coachees nach. Ein besonders innovativer Ansatz liegt darin, darüber hinaus auch die Wirkungen des Coachings auf das betriebliche Umfeld des Coachees zu analysieren, was durch Interviews von Mitarbeitern und Vorgesetzten der jeweiligen Coachees geschah. Marco Paukert beschäftigt sich mit dem aus der Theorie der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Einleitung

Selbstorganisation abgeleiteten Konstrukt der Systemkompetenz und untersucht in der Ausbildung von systemischen Beratern und im Training von Universitätsstudenten den Zuwachs dieser Kompetenz. Dabei konzentriert Marco Paukert sich auf drei zentrale Aspekte dieses Konstrukts, nämlich das erforderliche Wissen über Synergetik, die Methode der Systemmodellierung und die generischen Prinzipien. Außerordentlich anregend für weitere Untersuchungen ist die differenzierte Erhebungsmethodik. So wurden unter anderem eigene Dokumentationsbögen entwickelt, die nach dem Gespräch von Ratsuchenden und Berater ausgefüllt wurden. Zusätzlich wurden dieselben Beratungsgespräche auf der Basis von Videoaufzeichnungen von einem externen Rater bewertet. Aus seinen Befunden leitet Marco Paukert Anregungen für die Gestaltung von Beratertrainings ab. Der Beitrag von Martin Biehaule setzt sich mit der Outplacement-Beratung im Rahmen einer Transfergesellschaft auseinander. In diesem Kontext stellen Berater für die Beschäftigten einen kontinuierlichen Partner und den wichtigsten Kontaktpunkt dar. Die Untersuchungsfrage bestand darin, herauszufinden, inwiefern – aus Sicht der Ratsuchenden – die Berater die generischen Prinzipien realisierten. Dazu wurde auch in dieser Studie ein eigener Erhebungsbogen für eine Mitarbeiterbefragung entwickelt und eingesetzt. Der Beitrag enthält eine systematische Auswertung der Ergebnisse, die eine unterschiedlich starke Ausprägung der generischen Prinzipien zeigt. Aus den Befunden werden konkrete Anregungen für die Verbesserung der Beratungsarbeit abgeleitet. So regt der Autor an, die Kommunikation von Zielen zu verbessern bzw. nach Wegen einer besseren Abstimmung zwischen den Zielen der Transfergesellschaft und denen der Beschäftigten zu suchen. Heinz-Ulrich Thiel und Christiane Schiersmann transferieren die Theorie der Selbstorganisation und die generischen Prinzipien auf den Bereich der Organisationsberatung – unter Einbezug weiterer OE-spezifischer Erfolgsfaktoren. Es wird ein Rahmenmodell für die Gestaltung und Analyse des Ordnungswandels entwickelt, das die selbstorganisationsförderlichen (Wirk-) Prinzipien, die Unterscheidung unterschiedlicher Ebenen von Interventionsmethoden und Phasen eines Veränderungsprozes© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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ses in Beziehung setzt. Dieses Rahmenmodell wird auf zwei OEFallstudien angewandt. In beiden Unternehmen – einer NonProfit-Organisation und einem gewerblichen Betrieb – ging es um die Entwicklung einer abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit als neues Ordnungsmuster. Aus dem Vergleich der beiden Fallstudien werden praktische und forschungsmethodologische Schlussfolgerungen gezogen. Peter Weber befasst sich in seinem Beitrag mit einem besonders komplexen System, indem er den Entwicklungsprozess des »European Lifelong Guidance Policy Networks« (ELGPN) unter der Perspektive der Selbstorganisationstheorie analysiert. Bei diesem Netzwerk handelt es sich um eine europäische Initiative zur Verbesserung der nationalen Angebote und Systeme zur Beratung angesichts deren gestiegener Bedeutung im Feld Bildung, Beruf und Beschäftigung. Forschungsmethodisch spielt in dieser Arbeit die idiographische Systemmodellierung eine zentrale Rolle, mit deren Hilfe Ordnungsübergänge identifiziert werden. Derartige Netzwerke werden als neue Steuerungsform im politischen Raum eine zunehmende Bedeutung gewinnen. Das Vorgehen und die Ergebnisse des Beitrags liefern wichtige Anregungen für die Governance-Forschung und die praktische Gestaltung derartiger Koordinierungsprozesse im EU-Raum. Da die in dieser Publikation zusammengestellten Arbeiten zwar im Rahmen eines gemeinsamen Diskurses an der Universität Heidelberg entstanden, dann aber doch individuell verfasst worden sind, lassen sich an manchen Stellen Redundanzen nicht ganz vermeiden. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Erläuterung der generischen Prinzipien. Die Herausgeber haben sich dafür entschieden, diese leichten Wiederholungen in Kauf zu nehmen, weil jeder Beitrag auch aus sich selbst heraus verständlich sein sollte. Noch ein Wort zum Gendering: Zumal auf Personen zielende Worte wie Berater oder Ratsuchender im Text sehr häufig verwandt werden (müssen), haben wir uns im Interesse der besseren Lesbarkeit dazu entschieden, lediglich die männliche Form zu verwenden. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter angesprochen. Wir hoffen, mit diesem Band ein Steinchen ins Meer geworfen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Einleitung

zu haben mit dem Ziel, die Theorie der Selbstorganisation komplexer, dynamischer Systeme auf die Beratung zu übertragen – im Sinne einer gemeinsamen Grundlage für alle »Formate«. Wir wünschen den Lesern eine anregende Lektüre und würden uns freuen, wenn Sie daraus Impulse für Ihre eigene Arbeit in Forschung oder Praxis gewinnen.

Literatur Grawe, K. (2000). Psychologische Therapie (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Haken, H., Schiepek, G. (2010). Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

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Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen – eine Theorie jenseits von »Schulen« und »Formaten«

1 Einleitung Unsere Gesellschaft ist durch raschen Wandel geprägt. Personen sowie Organisationen sind mit Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit, Vieldeutigkeit und Paradoxien bei der Gestaltung der individuellen bzw. organisationalen Zukunft konfrontiert. Angesichts dieser Situation gewinnt Beratung als Unterstützungsangebot für den Umgang mit dieser Komplexität an Bedeutung, unter anderem Beratungsformate, die sich auf den Umgang von Personen und Organisationen mit arbeitsweltbezogenen Fragen befassen. Sie stehen im Zentrum dieses Beitrags. Damit wächst die Herausforderung, diese Interventionsform theoretisch und empirisch solide zu fundieren und damit zugleich ihr Profil zu schärfen. Angesichts der skizzierten Herausforderungen sowie der daraus resultierenden Beratungsanliegen stellt außerdem aus Sicht der Autoren dieses Beitrags ein lineares Paradigma, das einfache Ursache-Wirkungs-Ketten identifiziert, keine adäquate Grundlage mehr für Erklärungs-, Entscheidungs- und Veränderungsstrategien dar. Vielmehr liegt die Orientierung an einem systemischen Paradigma im Sinne einer Rahmentheorie nahe, die die Suche nach Zusammenhängen, Mustern und Wechselwirkungen anstelle der Suche nach monokausalen Erklärungen in den Mittelpunkt rückt. Das Ziel besteht in der Entwicklung einer theoretisch und empirisch fundierten allgemeinen Beratungstheorie. Hierzu sollen die folgenden Überlegungen beitragen. Nach einer Erläuterung des zugrunde gelegten Beratungsverständnisses (Kap. 2.1) und dessen Abgrenzung gegenüber Psy© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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chotherapie (Kap. 2.2) wird die Notwendigkeit der Herausarbeitung einer allgemeinen Beratungstheorie näher begründet (Kap. 3). Als Stationen auf diesem Weg sind sowohl vielfältige Kombinationen von Beratungsansätzen zu konstatieren (Kap. 3.1) als auch die Identifizierung allgemeiner Wirkprinzipien (vgl. Grawe, 2000) (Kap. 3.2). Vor diesem Hintergrund wird die Theorie der Synergetik als Wissenschaft von der Selbstorganisation als Referenzrahmen für die Herausbildung einer allgemeinen Beratungstheorie – jenseits von Beratungs- und Therapie-»Schulen« und »Formaten« des näher betrachteten Feldes der arbeitsweltbezogenen Beratung (z. B. Berufs- und Karriereberatung, Coaching, Supervision, Organisationsentwicklung) vorgeschlagen (Kap. 4). Dazu werden zunächst basale Aspekte der Theorie der Selbstorganisation in sozialen Systemen erläutert (Kap. 4.1). Aus dieser Theorie sind von Haken und Schiepek (2010) sogenannte generische, das heißt die Selbstorganisation fördernde Prinzipien entwickelt worden. Sie führen zu einem Verständnis von Beratung als Förderung der Selbstorganisation (Kap. 4.2) und beinhalten eine konzeptionelle Begründung dafür, bei der Ausgestaltung eines Beratungsprozesses auf vielfältige Methoden und Verfahren aus den unterschiedlichen »Beratungsoder Therapieschulen« zurückgreifen zu können. Diese theoretische Basis kann im Prinzip für alle lebens- und arbeitsweltlichen Beratungsformate zugrunde gelegt werden. Der Ansatz der Synergetik lässt sich nach Auffassung der Autoren dieses Beitrags durchaus in Verbindung bringen mit phasenorientierten Prozessmodellen, die auf der Problemlösepsychologie basieren (Kap. 4.3) – auch wenn die Vertreter der Synergetik diesen eher kritisch gegenüber stehen. Ein solcher Bezug erscheint hilfreich, weil Berater sowie Ratsuchende trotz einer letztlich nicht prognostizierbaren Entwicklung auf einer groben Ebene eine ungefähre Vorstellung bzw. ein vorläufiges Bild vom Gesamtverlauf benötigen, um die Komplexität eines Beratungsprozesses zu reduzieren und diesen als gestaltbar wahrnehmen zu können. Eine Kombination dieser beiden – aus verschiedenen Wissenschaftstraditionen stammenden – Ansätze für eine Beratungstheorie erscheint zumindest dann vertretbar, wenn das Phasenmodell nicht linear konzipiert, sondern syste© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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misch akzentuiert ist. Eingebunden werden die Überlegungen in ein Gesamtprogramm zur Gestaltung und Analyse von Beratungsprozessen und deren Wirkungen, in das Konzept des synergetischen Prozessmanagements (Kap. 4.4). Der Beitrag schließt mit einem exemplarischen Ausblick auf adäquate Forschungsstrategien (Kap. 5).

2 Systemisches Verständnis (arbeitsweltbezogener) Beratung 2.1 Merkmale professioneller Beratung Der Beratungsbegriff wird sehr diffus verwandt und ist nicht geschützt. Auf der einen Seite geht es dabei um die Abgrenzung von alltäglicher Beratung (z. B. beim Friseur, beim Kauf eines Lippenstiftes, bei der Taxifahrt) gegenüber professioneller Beratung. Zum anderen geht es um die Breite des Feldes der professionellen Beratung. Diese reicht von der Rechtsberatung über die Schuldnerberatung, Erziehungsberatung, Suchtberatung, Karriereberatung bis zur Organisationsberatung, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Folgenden wird heuristisch davon ausgegangen, dass sich für alle professionellen Beratungsfelder – bzw. zumindest für diejenigen, bei denen die subjektive Reflexion von Sachverhalten im Vordergrund steht und nicht die Informationsvermittlung – die gleichwohl bei Beratung immer auch eine Rolle spielt – eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten konstatieren lassen. In diesem Beitrag stehen jedoch die Formate im Mittelpunkt, bei denen die Beratungsanlässe aus der Bildungs- und Arbeitswelt resultieren. Im Interesse der sprachlichen Vereinfachung wird im Folgenden der Begriff der arbeitsweltbezogenen Beratung verwandt. Die Begrenzung auf ein Feld erscheint deswegen sinnvoll, weil Beratende neben einer relativ feldunabhängigen Kompetenz zur interaktionellen Gestaltung des Beratungsprozesses immer auch Wissen über das jeweilige Feld und die zielgruppenspezifischen Anliegen benötigen. Die arbeitsweltbezogene Beratung umfasst in unserem Ver© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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ständnis sowohl personenbezogene als auch organisationsbezogene Beratungsanlässe bzw. Beratungsformate wie die Abbildung 1 veranschaulicht. Zu Ersteren zählen unter anderem Angebote der Bildungs- und Berufsberatung, der Supervision und des Coaching mit Führungskräften, zu Letzteren unterschiedliche Facetten der Organisationsberatung, die sich auf Teams, Abteilungen oder eine gesamte Organisation beziehen können. Anzumerken ist, dass bei unserem Verständnis der organisationsbezogenen Beratung der Fokus auf der Prozessberatung in der Tradition der Organisationsentwicklung liegt, nicht auf der ausschließlichen Expertenberatung im Sinne von Unternehmensberatung. Die einleitend bereits eingeforderte Orientierung an einem systemischen Gesamtkonzept schlägt sich bereits in der Art der Definition von professioneller Beratung nieder, deren zentrale Aspekte im Folgenden skizziert werden.

2.1.1 Beratung als Interaktionsprozess zwischen dem Ratsuchendensystem und dem Beratersystem Im Sinne eines systemischen Verständnisses ist davon auszugehen, dass sich das Beratungssystem aus zwei unterschiedlichen Teilsystemen, nämlich dem des Ratsuchenden und dem des Beratenden konstituiert. Bei der personenbezogenen Beratung handelt es sich bei den Ratsuchenden in der Regel um eine Person oder (bei einem Gruppensetting) um mehrere Personen, wobei es dann ebenfalls um die je individuellen Anliegen geht. Die Ratsuchenden bringen sich mit ihrer Biographie, ihren Einstellungen und Erfahrungen sowie ihren lebens- und arbeitsweltlichen Kontexten (Familie, Freunde, Beruf) in den Beratungsprozess ein. Bei der Beratung von (Teilen von) Organisationen umfasst das Ratsuchenden-System verschiedene Personen und Akteursgruppen eines größeren sozialen Systems. Hier bilden zum Beispiel Teams, Abteilungen oder Projektgruppen das Ratsuchenden-System – ebenfalls mit den jeweiligen Organisationsbiographien und Organisationskulturen. Das Zusammenspiel der beiden Teilsysteme mit ihren jeweiligen Kompetenzen in einem Interaktionsprozess konstituiert das Beratungssystem, das den Beratungsprozess gestaltet. Das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 1: Systemisches Modell arbeitsweltbezogener Beratung

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beratende System bringt professionelle Handlungskompetenz in den Prozess ein. Aber ebenso finden sich im RatsuchendenSystem Ressourcen im Sinne von Erfahrungen, Kompetenzen und Zielvorstellungen, deren Stärkung das Ziel des Prozesses ist. Es handelt sich folglich um eine Interaktion im Prinzip auf gleicher Augenhöhe, wenngleich mit unterschiedlich verteilten Kompetenzen und Ressourcen. Gemeinsam stellen der Berater und der Ratsuchende eine für den Beratungsprozess tragfähige Beziehung her, klären Ziele, identifizieren Motive und Ressourcen für den Veränderungsprozess, entwickeln Lösungswege, planen und begleiten die Umsetzung. Von Beratung sprechen wir erst dann, wenn die Interaktion über die Vermittlung von Informationen hinausgeht und die Reflexion von Sachverhalten im Sinne eines subjektiv bedeutsamen Lernens beinhaltet. Das Wechselspiel zwischen Reflexion und Informationsvermittlung ist allerdings typisch für Beratungsprozesse. Professionelle Beratung impliziert ein explizites Beratungssetting, das unter anderem eine systematische Auftragsklärung mit Kontrakt, die Vorstellung einer Verlaufsstruktur seitens des Beratenden sowie die Transparenz des Vorgehens beinhaltet.

2.1.2 Organisationale und gesellschaftliche Kontexte des Beratungsprozesses In den Beratungsprozess fließen organisationale und gesellschaftliche Kontexte ein, auf die die Beratung wiederum auch zurückwirkt. Dieser Sachverhalt wird jedoch in vielen Beratungskonzepten nicht oder nur rudimentär berücksichtigt. Der organisationale Aspekt betrifft sowohl das Selbstverständnis und die Rahmenbedingungen der Organisation, die die Beratung anbietet, als auch die organisationalen Kontexte des Ratsuchenden. In der personenbezogenen Beratung spielt es zum Beispiel auf der einen Seite eine Rolle, ob es sich um eine freiwillige Karriereberatung (z. B. durch freiberuflich tätige Berater) oder eine Beratungspflicht im Zusammenhang mit Leistungen öffentlicher Stellen (z. B. dem Arbeitsamt) handelt. Auf der anderen Seite könnte zum Beispiel für eine Weiterbildungsentscheidung wichtig sein, ob die Organisation, in der der Mitarbeiter arbeitet, eher auf formale oder informelle Weiterbildungsakti© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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vitäten setzt bzw. welche Rolle der Arbeitgeber der Weiterbildung im Hinblick auf Karrierechancen zumisst. Bei der organisationsbezogenen Beratung betrifft der organisationale Kontext ebenso das Selbstverständnis und das Aufgabenspektrum des Beratungsanbieters sowie die Art der zu beratenden Organisation, zum Beispiel die Größe, Organisationsform (Profit oder Non-Profit), Branche, Marktposition oder Unternehmenskultur. Beratung ist ebenso in weitere gesellschaftliche Kontexte eingebunden. Beratungsanlässe resultieren in der Regel aus der Wechselwirkung zwischen individuellen, organisationalen und gesellschaftlichen Entwicklungen, das heißt arbeitsmarktpolitischen, ökonomischen oder rechtlichen Aspekten. Für die arbeitsweltbezogene Beratung spielen gegenwärtig unter anderem Megatrends wie die Globalisierung, die Technologisierung, die Entwicklung von einer Industrie- zu einer Dienstleistungs- bzw. Wissensgesellschaft, die Veränderungen der Arbeits- und Betriebsorganisation, die demographische Entwicklung, die zunehmende Interkulturalität, das Konzept des lebenslangen Lernens, die Individualisierung von Bildungs- und Berufsverläufen eine Rolle. Mit der Dimension des gesellschaftlichen Kontexts von Beratung ist aber ebenso die Stellung bzw. Wertschätzung angesprochen, die eine Gesellschaft dem Phänomen Beratung entgegenbringt. Dies betrifft zum Beispiel die Frage, ob die Inanspruchnahme von Beratung eher als Reaktion auf persönliche oder organisationale Defizite wahrgenommen wird oder aber als selbstverständliche reflexive Begleitung von Veränderungsprozessen – auch im Interesse der gesellschaftlichen Teilhabe.

2.2 Abgrenzung von Beratung gegenüber Psychotherapie Die Interventionsform Beratung hat sich theoretisch-konzeptionell zu großen Teilen aus der Psychotherapie entwickelt (vgl. Beck, Brückner u. Thiel, 1991, S. 11 ff.), praktisch zum Teil auch aus der Sozialarbeit bzw. -pädagogik (vgl. Schäffter, 2009). Fragt man nun nach einer Abgrenzung zwischen Beratung und Therapie, so erweist sich dieses Unterfangen als nicht ganz einfach, und es stellt sich die grundsätzliche Frage, wie sinnvoll eine © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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solche Trennung ist (vgl. Borg-Laufs, 2004, S. 636). Es lassen sich zunächst zumindest die folgenden Gemeinsamkeiten betonen, denen anschließend graduelle Differenzen gegenübergestellt werden.

2.2.1 Gemeinsamkeiten von Beratung und Psychotherapie Theoretische Grundlagen In historischer Perspektive ist im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen Beratung und Therapie in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei vielen »Therapieschulen« um praktische Anwendungen von allgemeinen wissenschaftlichen Theorien und Experimenten handelt. Beispielsweise bilden die Lernpsychologie und die kognitive Psychologie die Grundlage sowohl der kognitiv-behavioralen Beratung als auch der Verhaltenstherapie. Rogers (vgl. Rogers u. Schmid, 2004) betont als Begründer der personzentrierten Therapie bzw. Beratung, dass die von ihm entwickelten Merkmale eines hilfreichen Gesprächs eine geeignete und hilfreiche Kommunikationsform für alle Lebensbereiche darstellen. Die systemische (Familien-)Therapie basiert auf allgemeinen systemtheoretischen Axiomen sowie den kommunikationstheoretischen Überlegungen von Bateson (1981, 1995) und Watzlawick (2000, 1969). Die systemischen Beratungsansätze haben sich dann wiederum etwas später aus den therapeutischen Ansätzen ausdifferenziert. Beratung und Therapie stimmen folglich –»schulspezifisch« – in Bezug auf die theoretischen Bezugspunkte weitgehend überein. Ziele Ebenso lassen sich bei beiden Interventionsformaten ähnliche Ziele konstatieren, die in den einzelnen Ansätzen etwas unterschiedlich akzentuiert werden, aber doch im Prinzip auf die Stärkung der Ressourcen zur Problembewältigung ausgerichtet sind – häufig auch als Hilfe zur Selbsthilfe formuliert. So sehen zum Beispiel Vertreter der Verhaltenstherapie bzw. -beratung (vgl. z. B. Schmelzer, 1999) – um nur ein Beispiel zu nennen – sowohl Beratung als auch Therapie als systematischen Lern- und Veränderungsprozess, im Verlauf dessen die Klienten zu eigen© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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ständigem Problemlösen und zur Selbststeuerung befähigt werden. Gestaltung des Interaktionsprozesses/Methodeneinsatz Ebenso ist nicht zu übersehen, dass die Gestaltung des Prozesses in der Beratung und der Psychotherapie große Gemeinsamkeiten aufweist: Für beide Interventionsformen hat sich eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Beratern und Klienten als unerlässlich erwiesen (vgl. u. a. Borg-Laufs, 2004, S. 637). Nahezu alle Beratungs- und Therapiekonzepte orientierten sich an Phasenmodellen, die eher im Detail differieren. Ebenso lassen sich für den jeweiligen Ansatz typische Gesprächsstile oder andere methodische »Werkzeuge« identifizieren, die gleichermaßen in der Therapie sowie in der Beratung eingesetzt werden. So werden in der Verhaltensberatung sowie Verhaltenstherapie zum Beispiel operante Methoden, Verfahren zur rationalen Disputation, Reflexion, Problemlösetraining, Entspannungstechniken oder auch eine Konfrontation genutzt (vgl. Borg-Laufs, 2004, S. 636 f.). Im personzentrierten Konzept gelten die Grundhaltungen des Beraters bzw. Therapeuten (einfühlendes Verstehen, Wertschätzung, Kongruenz) für beide Settings. Gleichermaßen spielen zirkuläre Fragen oder andere Methoden, die einen Perspektivwechsel hervorrufen sollen, in der systemischen Beratung sowie Therapie eine Rolle. Ludewig (2005, S. 16) als Vertreter des systemischen Ansatzes spricht explizit von »systemischer Praxis«, die Therapie und Beratung umfasst. Folglich lassen sich die Differenzen zwischen den Interventionsformen weder in den jeweiligen theoretischen Bezugspunkten finden noch in den – daraus abgeleiteten – Überlegungen zu den Zielen der Beratung oder der methodischen Gestaltung des Prozesses. Als tendenzielle Differenzen lassen sich demgegenüber die im folgenden Abschnitt benannten Punkte markieren.

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2.2.2 Graduelle Differenzen zwischen Beratung und Psychotherapie Störungstiefe Als Differenz zwischen den beiden Interventionsformen kann vorrangig die Störungstiefe angesehen werden. Beratung ist dann angesagt, wenn die Ratsuchenden im Prinzip im Alltag handlungsfähig sind, das heißt über ausreichende Fähigkeiten zur Selbststeuerung verfügen, jedoch zu einem spezifischen Aspekt einen Klärungs- bzw. Unterstützungsbedarf formulieren. Therapie ist für Situationen angemessen, in denen die betreffenden Personen in der Bewältigung ihres Alltags nachhaltig eingeschränkt sind. Manche Autoren definieren Therapie auch als Störungen mit Krankheitswert (vgl. Boeger, 2009, S. 15). Andere Autoren – insbesondere aus dem systemischen Umfeld – lehnen allerdings grundsätzlich eine Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit ab (vgl. Ludewig, 2005). Borg-Laufs (2004, S. 637) weist in Bezug auf die Verhaltenstherapie darauf hin, dass eine Unterscheidung anhand des Krankheitswerts einer Störung bei diesem Therapiekonzept lange Zeit keine Rolle gespielt hat. Die verhaltenstherapeutische Analyse verstand sich geradezu als Gegenmodell zur klassifikatorischen Diagnostik wie sie auf der Basis der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD-10) vorgenommen wird. Eine gewisse Veränderung ergab sich bestenfalls durch die Integration der Verhaltenstherapie in das Psychotherapeutengesetz und damit das medizinische Versorgungssystem. Allerdings werden viele Therapien nicht auf der Basis des Psychotherapeutengesetzes abgerechnet. In diesen Fällen sind auch die Klassifikationskategorien mehr oder weniger irrelevant. Außerdem weist Borg-Laufs (2004, S. 637) darauf hin, dass der Unterschied zwischen einer »psychischen Störung mit Krankheitswert« und einer »Verhaltensauffälligkeit« weniger in der Person des Klienten oder in der von ihm gezeigten Symptomatik liegt. Vielmehr kommt es hier auf die Konstruktion bzw. Etikettierung des Betrachters an. Auch das Kriterium der Störungstiefe liefert folglich kaum eine wirklich trennscharfe Unterscheidung zwischen Beratung und Therapie.

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Dauer des Prozesses In der Tendenz kann davon ausgegangen werden, dass sich Beratung und Therapie durch die Dauer des Prozesses unterscheiden: Als Folge einer umfassenderen Störung (s. o.) ist bei der Inanspruchnahme von Therapie von einem vergleichsweise längeren Behandlungszeitraum auszugehen als bei der Beratung. Dieses Differenzierungskriterium ist allerdings angesichts der Tatsache, dass sich auf der einen Seite zunehmend auch Kurztherapien durchsetzen und auf der anderen Seite einige Beratungsformate wie die Superversion oder das Coaching durchaus einen längeren Zeitraum umfassen können, ebenfalls als eher idealtypisch zu charakterisieren. In besonderer Weise gilt dies für die organisationsbezogene Beratung, die in aller Regel einen Zeitraum von mindestens knapp einem Jahr umfasst. Einbindung in das gesetzlich geregelte Gesundheitssystem bzw. Sozialrecht Einen weiteren Anhaltspunkt für die Differenzierung stellt die (teilweise) Einbindung der Therapie in das gesetzlich geregelte Gesundheitssystem dar. Einige wenige, als wissenschaftlich anerkannte Therapieschulen (Verhaltenstherapie, Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) sind gesetzlich anerkannt und daher bei den Krankenkassen abrechnungsfähig. Allerdings sind auch einige arbeitsweltbezogene Beratungsformate gesetzlich geregelt und insbesondere in das Sozialrecht (z. B. das Sozialgesetzbuch) eingebunden. Dies betrifft zum Beispiel die Beratung von Arbeitslosen bei der Bundesagentur für Arbeit oder Beratungsangebote im Kontext von Rehabilitationsmaßnahmen. Also lässt sich auch aus diesem Aspekt kein eindeutiges Differenzierungskriterium ableiten. Anteil von Informationen Als eine gewisse Differenz kann weiter angeführt werden, dass bei der Beratung in der Regel der Informationsanteil größer ist als in der Therapie, denn für Entscheidungsprozesse, die in Beratungssituationen von Bedeutung sind, benötigen die Ratsuchenden relevantes Wissen. Aber auch hierbei handelt es sich eher um einen relativen Unterschied. So betont zum Beispiel © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Borg-Laufs (2004, S. 637) für die Verhaltenstherapie, dass dieses Konzept Transparenz nicht nur als ethisches Problem ansieht, sondern davon ausgeht, dass es häufig für den Therapieerfolg von hoher Bedeutung ist, dass die Klienten ihre Probleme und die Veränderungsmöglichkeiten verstehen. Somit impliziert zumindest eine Verhaltenstherapie häufig auch einen hohen informierenden, sogenannten »psychoedukativen« Anteil. Fazit zur Abgrenzung von Beratung und Psychotherapie Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist zu bilanzieren, dass sich konzeptionell mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen Beratung und Therapie identifizieren lassen und es sich bei den Abgrenzungen eher um Akzentuierungen handelt. Außerdem sind die Übergänge als fließend zu bewerten. Daher erscheint es auch vertretbar, wenn bei der weiteren Argumentation des Öfteren auf Ergebnisse der Therapieforschung zurückgegriffen wird, da die empirische Fundierung von Beratungsprozessen noch als sehr rudimentär zu charakterisieren ist. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass Beratung und Psychotherapie in vielen Fällen sinnvoll miteinander verknüpft werden können. So kann der Besuch einer Beratungsstelle ergeben, dass eine Therapie angesagt ist und diesen Weg eröffnen. Im Rahmen einer Therapie kann Beratung eine flankierende Funktion übernehmen, zum Beispiel bei der Unterstützung von Angehörigen oder nach dem Abschluss einer Therapie zur Sicherung der Nachhaltigkeit des Therapieerfolgs (vgl. Engel, Nestmann u. Sickendiek, 2007, S. 37 f.).

3 Stationen auf dem Weg zu einer allgemeinen Beratungstheorie 3.1 Kombination von Beratungsansätzen in Theorie und Praxis Wie bereits gezeigt, orientiert sich die Ausgestaltung von Beratungsprozessen bislang weitgehend an »Therapieschulen«, zum Beispiel der personzentrierten Beratung (vgl. Rogers u. Schmid, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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2004), der kognitiven Verhaltensberatung (vgl. Thiel, 2003a; Borg-Laufs, 2004), an systemischen Ansätzen (vgl. Brüggemann, Ehret-Ivankovic u. Klütmann, 2009; König u. Volmer, 2008; Königswieser u. Exner, 2004) oder der lösungsorientierten Beratung (vgl. Bamberger, 2010), – sofern denn das Beratungsgeschehen überhaupt theoriegeleitet erfolgt.1 Seit einiger Zeit zeichnen sich Entwicklungen ab, die eine Abkehr von dieser Ausrichtung der theoretischen Verortung sowie der Beratungspraxis signalisieren. Die »Märchen« einzelner Therapierichtungen im Hinblick auf einen alleinigen, ubiquitären Wahrheitsanspruch, die Behauptung der Geschlossenheit ihres Theoriegebäudes und ihrer vergleichsweise großen Wirksamkeit sind in den letzten Jahrzehnten in Etappen »dekonstruiert« bzw. als »Mythos« entlarvt worden. Um nur einige Beispiele zu nennen: • Spätestens Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre stand fest, dass es »die« Psychoanalyse nicht gibt, sondern viele Richtungen nebeneinander existieren (vgl. Wyss, 1991). • Etwa seit Mitte der 1980er Jahre kann die Frage nach dem Gemeinsamen der verschiedenen Richtungen »der« Verhaltenstherapie bzw. -beratung kaum mehr eindeutig beantwortet werden – so vielfältig sind die Facetten unter dem Dach dieser Chiffre. Längst zählten gesprächstherapeutische und eine ganze Reihe kognitiver Methoden zum Grundrepertoire eines jeden Verhaltenstherapeuten bzw. -beraters (vgl. Bambeck, 1985, S. 76 f.), schon bevor diese in der »kognitiven Wende« als notwendige Erweiterung integriert wurden. Das folgende, schon aus dem Jahr 1985 stammende Zitat von Bambeck illustriert die Konfusion in der Verhaltenstherapie: »Dabei sieht es im Therapiealltag noch viel ›schlimmer‹ aus: Der eine hat seine Vorliebe für gestalttherapeutische Übungen entdeckt, der 1 Eine empirische Untersuchung für den Bereich der Weiterbildungsberatung ergab beispielsweise, dass lediglich 45 % der Berater ihr Beratungshandeln an einem theoretischen Konzept orientieren. Dabei dominierte der personzentrierte Ansatz, gefolgt vom systemischen und lösungsorientierten Ansatz (vgl. Schiersmann u. Remmele, 2004, S. 72 ff.).

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andere für Körperarbeit und Focussing, man interveniert paradox und logotherapeutisch, benützt Encounter- und Meditationstechniken, man experimentiert mit Hypnose und Neurolinguistischem Programmieren (NLP), versucht systemtheoretisch zu denken, bespricht mit dem Klienten auf die verschiedenartigste Weise dessen Träume, sucht gar nach tiefenpsychologischen Zusammenhängen, man interpretiert und interveniert hin und wieder transaktionsanalytisch, muss zur Zeit wissen, wer Murphy ist […] und sollte sich mit der Frage auseinandersetzen, ob Watzlawicks neuestes Modell eines konstruktivistischen Therapieansatzes […] eine sinnvolle oder gar notwendige Repertoireerweiterung darstellen könnte!« (1985, S. 76. f.).

• Unter dem Label der systemischen Beratung bzw. Therapie lassen sich zum einen verschiedene konzeptionelle Varianten dieses Ansatzes ausdifferenzieren, zum Beispiel in Anlehnung an die Kommunikationstheorie und die Familientherapie (vgl. Schlippe u. Schweitzer, 2003; König u. Volmer, 2008) oder in Anlehnung an das soziologische Konzept von Luhmann (vgl. Ludewig, 2005). Zum anderen werden systemische Ansätze mit anderen kombiniert. Hierzu kann als Beispiel das systemische Beratungsmodell von König und Volmer (2000, S. 55 ff.) angeführt werden. Für die Organisationsentwicklung kombinieren sie auf der Mikroebene verschiedene Beratungsansätze. Insbesondere in der ersten Phase der »Orientierung« gehen unter anderem Elemente der kognitiven Verhaltensberatung, der personzentrierten Gesprächsführung, des systemischen Ansatzes und des ressourcenorientierten NLP ein. • Die Basisvariablen der personzentrierten Beratung (Wertschätzung, Empathie und Kongruenz) sind in viele Beratungsansätze mehr oder weniger explizit eingeflossen und gelten – weithin akzeptiert – als Grundkompetenzen jedes professionellen Beratungshandelns in unterschiedlichen Formaten. Gegenwärtig ist das Plädoyer in Richtung eines »MethodenMixes« in vielen Veröffentlichungen fast zur Selbstverständlichkeit geworden (vgl. Klein, 2005), häufig ohne Begründung und ohne Angabe der Herkunft der Versatzstücke. Schon früh gab es © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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allerdings auch einige systematische Kombinationsversuche. Dietrich (1983) hatte sich bereits in seinem Werk »Allgemeine Beratungspsychologie« um Möglichkeiten einer Kombination verschiedener Ansätze bemüht (z. B. Psychoanalyse, kognitive Verhaltensberatung, Gestaltberatung). Für den Bereich der Supervision hat sich insbesondere Petzold (1995, 2007) aus philosophischer, pädagogischer und systemischer Sicht für Synergieeffekte durch eine »Modellpluralität« und »Mehrperspektivität« eingesetzt. Er bekennt sich dabei zu einem »systematischen Eklektizismus« und integriert insbesondere Aspekte der Verhaltenstherapie, Psychoanalyse und Gestalttherapie. Insbesondere das Konzept des Neurolinguistischen Programmierens (vgl. Bandler u. Grinder, 2003; O’Connor u. Seymour, 2009) erhebt den Anspruch – ob gerechtfertigt oder nicht sei dahingestellt – (fast) alle historisch vorangegangenen Therapie- und Beratungstheorien »vereinigt« zu haben: Hier findet die Psychoanalyse Platz, weil mit dem Unbewussten gearbeitet wird; aus der Verhaltenstherapie stammt der Vorgang des »Ankerns«, der dem Prozess des Konditionierens gleicht; zirkuläres Fragen durch Wechsel der Wahrnehmungspositionen und der Zeitschiene (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) und die Berücksichtigung aller Sinneskanäle lassen sich dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz zuordnen. Einige Autoren (vgl. Schreyögg, 1992; Wagner, 2004) sehen ein vergleichbares Menschenbild als Klammer für die Integration unterschiedlicher, bereits etablierter Beratungskonzepte. Schreyögg (1992) nutzt für ihr integratives Modell der Supervision unter einer anthropologischen Perspektive das Psychodrama, die Gestalttherapie und die Psychoanalyse. Bei Wagner (2004, S. 664 ff.) bildet Groebens Psychologie des reflexiven Subjekts das metatheoretische Rahmenmodell für einen integrativen Beratungsansatz. In seinem dreistufigen Modell (vom Verhalten über das Tun zum Handeln) werden jeweils gängige Beratungsansätze zusammengefasst, die von ähnlichen Menschenbildannahmen ausgehen. Im Vergleich zum Behaviorismus und der Psychoanalyse nimmt aus seiner Sicht die humanistische Psychologie/Gestaltpsychologie die höchste Stufe ein, weil der

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Mensch dort als reflexions-, kommunikations- und handlungsfähiges Subjekt angesehen wird.

3.2 Ergebnisse der empirischen Psychotherapieforschung 3.2.1 Einzelergebnisse der Prozess-Outcome-Forschung Neben der Tatsache, dass sowohl in der Literatur als auch in der Beratungspraxis verschiedene Ansätze kombiniert werden, ist hinsichtlich der Einschätzung des Stellenwerts von »Schulen« auf die Ergebnisse der Psychotherapieforschung zu verweisen, die sich – mit der gebotenen Vorsicht aufgrund fehlender einschlägiger Studien für die Beratung – auf diese übertragen lassen. Während bisher davon ausgegangen wurde, dass die eingesetzten Behandlungsmethoden in der Psychotherapie wirken, kann diese Auffassung angesichts der vorliegenden Erkenntnisse der Prozess-Outcome-Forschung in der Psychotherapie so nicht mehr aufrecht erhalten werden (vgl. zum Folgenden: Schiepek, 2008, S. 1139 f.). • Behandlungstechniken und technikspezifische Wirkfaktoren erklären nur einen geringen Anteil der Ergebnisse. Metaanalysen zufolge erklären diese zwischen 15 % und 1 % des Therapieergebnisses. • Praktisch alle Therapieverfahren, die in direkten experimentellen Vergleichen gegeneinander getestet wurden, führen zu annähernd gleichen Effekten, was in der Literatur auch als Dodo-Bird-Effekt bezeichnet wird. • Effekte können auftreten, bevor in einem Behandlungsprogramm die spezifischen Komponenten überhaupt eingeführt werden und zur Wirkung kommen können (»early rapid responses«). So ereignen sich zum Beispiel in der kognitiven Verhaltenstherapie kognitive Umstrukturierungen bereits vor Beginn der Bearbeitung »irrationaler Beliefs«, das heißt, die zu konstatierenden Veränderungen lassen sich in diesen Fällen nicht auf die eingesetzten Methoden zurückführen. • Die im Behandlungsprogramm enthaltenen Komponenten können variiert, in unterschiedlicher Reihenfolge angewandt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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und zu großen Teilen weggelassen werden, ohne die Effekte grundsätzlich zu beeinflussen (»dismantling studies«). Dies ist zum Beispiel für die kognitive Verhaltenstherapie nachgewiesen. • Laien, das heißt Personen ohne spezifisches Fachwissen und ohne Psychotherapieausbildung und Paraprofessionelle, das heißt Personen, die zwar im Gesundheitsbereich tätig sind, aber über keine Psychotherapeutenausbildung verfügen, sind erstaunlich erfolgreich. Einige Metaanalysen bescheinigen ihnen im direkten Vergleich die gleiche Wirksamkeit wie professionellen Psychotherapeuten. In eine ähnliche Richtung weisen Befunde, die kaum oder nur geringe Zusammenhänge zwischen dem Umfang der Ausbildung und dem Behandlungsergebnis finden. Allerdings ist die Befundlage in diesem Punkt nicht einheitlich. • In zahlreichen Studien wurde auf die Bedeutung von Aspekten aufmerksam gemacht, die außerhalb der Interventionen liegen, sogenannten unspezifischen Wirkfaktoren. Hierzu zählen zum Beispiel die Qualität der Therapiebeziehung, Erwartungshaltungen und Einstellungen zur Therapie auf Seiten des Patienten, die Passung der Krankheits- und Behandlungsmodelle zwischen Patient und Therapeut, die Glaubwürdigkeit und Authentizität des Therapeuten oder Bedingungen im sozialen Umfeld des Patienten (Partnerschaft, Familie, Beruf). Eine besondere Rolle scheinen Patientenvariablen für den Therapieerfolg zu spielen. Hierzu zählen persönliche und interpersonelle Kompetenzen und Ressourcen und vor allem die Veränderungsmotivation und Aufnahmebereitschaft des Patienten. • Bereits die klassische Therapieforschung weist darauf hin, dass sich Patienten- und Therapeutenvariablen interaktionell entfalten und erst dadurch zur Wirkung kommen.

Diese Befundlage relativiert die Bedeutung einer spezifischen Therapie- oder Beratungsschule. Weiter folgt daraus, dass eine wissenschaftliche Fundierung von Therapie oder Beratung sich

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nicht auf diese Schulen beziehen kann. Daher muss nach einer anderen wissenschaftlichen Fundierung gesucht werden.

3.2.2 Identifikation allgemeiner Wirkprinzipien Einen besonderen Weg zur Integration von Einzelmethoden bzw. Verfahren aus verschiedenen Beratungsschulen hat Grawe (2000; Grawe, Donati u. Bernauer, 1994) eingeschlagen. Er führte in den 1990er Jahren nach ausgewiesenen Gütekriterien aufwändige Sekundäranalysen empirischer Untersuchungen zur Wirkung einzelner Therapieschulen durch. Deren Ergebnis bestand darin, dass jede der 42 untersuchten Therapierichtungen nur eine begrenzte Wirksamkeit besaß und sich – über alle »Schulen« hinweg – drei bis vier allgemeine Wirkfaktoren nachweisen lassen. Als logische Konsequenz aus diesen Untersuchungen über wirkungsrelevante Aspekte des Therapiegeschehens forderte Grawe (2000, S. 99) eine Orientierung an Wirkprinzipien statt an Therapiekonzepten – was sich wiederum auf die Beratung übertragen lassen sollte. Dies impliziert eine therapieschulen-übergreifende, allgemeine Grundausbildung, die er in der Schweiz auch in die Praxis umzusetzen versuchte. Außerdem sprach er sich für eine stärkere Berücksichtigung der gesamten Psychologie als Grundlagenwissenschaft bei der Therapieausbildung aus. Im Folgenden werden die Wirkprinzipien etwas näher erläutert. Dabei ist zu beachten, dass in der Veröffentlichung von 1994 (Grawe et al.) drei, in der von 2000 vier Wirkprinzipien unterschieden werden. In der jüngeren Publikation wird das erste Wirkprinzip noch einmal aufgeteilt (s. Tab. 1). Tabelle 1: Synopse der Wirkprinzipien von Grawe Grawe, 2000, S. 96 ff.

Grawe et al., 1994, S. 749 ff.

Ressourcenaktivierung prozessuale Aktivierung

Beziehungsperspektive

Intentionsveränderung

Klärungsperspektive

Intentionsrealisierung

Problembewältigungsperspektive

Das Wirkprinzip der »Ressourcenaktivierung« In der Veröffentlichung von Grawe und anderen (1994) wird das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Wirkprinzip »Beziehungsperspektive« zwischen Therapeut und Klient als das Wirkprinzip hervorgehoben, dessen Einfluss auf das Therapiegeschehen am besten gesichert ist. Bei Grawe (2000) wird dieses Prinzip ausdifferenziert in die beiden neuen Dimensionen der »Ressourcenaktivierung« und »prozessualen Aktivierung« (auch »Problemaktualisierung« genannt), durch die großer Wert auf die lebendigen Erfahrungen und das unmittelbare Erleben gelegt wird. Grawe geht davon aus, dass die Ressourcenaktivierung die gute Beziehung im Therapiesetting fördert, direkte Auswirkungen auf das Wohlbefinden des Ratsuchenden hat und zu selbstwerterhöhenden Wahrnehmungen führt. Dies wiederum beeinflusst die eigenen Veränderungsversuche positiv, im Zusammenhang mit der Induktion von Besserungserwartungen wird ein positiver Rückkopplungsprozess in Gang gesetzt. Auch die Therapiebeziehung soll so zu einer Ressource für den Patienten werden. Durch die Betonung der Ressourcen soll erreicht werden, »dass der Patient sich nicht auf seine problematischen Seiten reduziert, sondern auch in seinen anderen, positiveren Seiten wahrgenommen und gespiegelt sieht« (Grawe, 2000, S. 97), wie das folgende Zitat eindrucksvoll veranschaulicht: »Woher sollen Kraft und Mittel für die Veränderung kommen, wenn nicht aus dem, was der Patient und seine Lebenssituation bereits an Intentionen und Möglichkeiten mitbringen bzw. enthalten? Wenn man Veränderungen aus einer Problemperspektive heraus betreiben will, geht man von einem grundlegenden Irrtum aus, nämlich dem, dass der Therapeut es ist, der den Patienten ändert. In Wirklichkeit ändert sich aber in einer erfolgreichen Therapie der Patient in Interaktion mit einem Anstöße gebenden und unterstützenden Therapeuten. Dass sich der Patient für seine Veränderung selbst verantwortlich fühlt, ist nach einer Vielzahl empirischer Befunde eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Therapieergebnis« (Grawe, 2000, S. 96).

Grawe kritisiert die bis dahin geringe Beachtung der Ressourcenperspektive in der Psychotherapie. Den Grund dafür sieht er darin, »dass in einer methodenorientierten Psychotherapie, wie sie bisher vorgeherrscht hat, das Wie der Veränderung ja schon © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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durch die Methode festgelegt war« (Grawe, 2000, S. 99). Dass Grawe bei dem Wirkprinzip der »Ressourcenaktivierung« keine Notiz von den lösungs- und ressourcenorientierten Beratungsansätzen und dem NLP nimmt, die ausdrücklich dieses Prinzip ins Zentrum ihrer theoretischen Begründungen und Auswahl von Einzelverfahren gerückt haben (z. B. Fragetypen wie Ausnahmen, hypothetische Lösungen, Reframing), mag vermutlich daran liegen, dass Grawe, der sich als empirischer Wirkungsforscher profiliert und dadurch die Therapieszene »aufgemischt« hat, die neueren ressourcenorientierten Ansätze nicht berücksichtigt hat, weil sie – gemessen an den angelegten Güteprofilen von 1994 – empirisch bis dahin nicht hinreichend untersucht worden waren. Das Wirkprinzip der »prozessualen Aktivierung« Beim Wirkprinzip der »prozessualen Aktivierung« bzw. »Problemaktualisierung« steht die unmittelbare Erfahrung des Ratsuchenden im Mittelpunkt. Die Aufmerksamkeit wird auf das gelenkt, was gerade im Ratsuchenden abläuft, was er wahrnimmt, denkt, fühlt, tut oder vermeiden möchte. Dazu gehören auch die emotionale Beteiligung, der Umgang mit den Inhalten seines Erlebens, der Bezug auf eigene Werte und Intentionen sowie die Aufmerksamkeit auf den Bearbeitungsprozess selber. Mit dem Begriff der »Problemaktualisierung« hat Grawe auch die Problemperspektive aufgegriffen, sie aber in einer spezifischen Weise gewendet, nämlich in Bezug auf das aktuelle Erleben. Die Ressourcenperspektive – so eine »Faustregel« Grawes (2000, S. 99) – bestimmt das Wie der Veränderung, die »prozessuale Therapieplanung«, während die Problemperspektive das Was der Veränderung, die »inhaltliche Therapieplanung« anspricht. Grawe (2000, S. 99) geht davon aus, dass bei aller Ressourcenorientierung erst durch eine Problemanalyse festzustellen ist, ob es sich um ein »Realisierungsproblem« oder um ein »motivationales Problem« handelt. Das Prinzip der prozessualen Aktivierung von Erleben und Verhalten ist kein Selbstzweck, sondern hat eine »Moderatorfunktion« für die weiteren Wirkprinzipien der Intentionsveränderung und Intentionsrealisierung (s. dazu weiter unten). Diese © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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beiden haben zwar einen Wert in sich selbst, aber verbunden mit einer prozessualen Aktualisierung führen sie zur »korrektiven emotionalen Erfahrung«, (Grawe, 2000, S. 95), einem Kern therapeutischer Veränderungen. In der großen Bedeutung der prozessualen Aktivierung/Problemaktualisierung als Wirkprinzip im Hinblick auf den Therapieerfolg stimmen nach Grawe alle wichtigen, empirisch untersuchten therapeutischen Ansätze überein. Das Wirkprinzip der »Intentionsveränderung« Das Wirkprinzip der »Intentionsveränderung« (in der früheren Fassung die Klärungsperspektive) betrifft das klärungs- und motivationsorientierte Vorgehen, bei dem Ziele, Werte, Bedürfnisse und damit einhergehende Konflikte im Erleben und Verhalten des Ratsuchenden gemeinsam bearbeitet werden. »Die Aufmerksamkeit des Patienten wird immer auf den Wahlprozess selbst und die darin eingehenden Prämissen (Gefühle, Wünsche, Befürchtungen, Überzeugungen usw.) zurückgewendet« (Grawe, 2000, S. 89). Das Wirkprinzip der »Intentionsrealisierung« Das Wirkprinzip der »Intentionsrealisierung« – weitgehend deckungsgleich mit dem früheren Wirkprinzip der »Problembewältigungsperspektive« – fokussiert die Umsetzung von Absichten. Die Realisierung von Intentionen setzt – über die Veränderung von Erwartungen hinaus – als handlungsorientiertes Herangehen das Können und Vorhandensein der Möglichkeiten zur Veränderung voraus. Der Professionelle unterstützt den Klienten bzw. Ratsuchenden dabei, durch geeignete Maßnahmen Lösungswege zu realisieren. Dieses Wirkprinzip wurde durch eine große Anzahl von Forschungsbefunden bestätigt. Dies wird auch als bewältigungsorientierte Vorgehen bezeichnet, das durch die Verhaltenstherapie realisiert wird. Den Untersuchungen von Grawe zufolge (vgl. Grawe, 2000) gibt es mehr »positive Bewältigungserfahrungen« aufseiten des Klienten durch das realisierungsorientierte Vorgehen als durch das klärungsorientierte Vorgehen, das typisch für die personzentrierte Therapie bzw. Beratung ist. Grawe favorisiert als »allgemeine © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Therapie« eine Kombination beider Vorgehensweisen als eine auf die je individuelle Passung mit dem Klienten und seine Lage abgestimmte Interventionsstrategie, die als zwei Phasen eines Prozesses betrachten werden: »Bewältigung/Realisierung setzt Klärung voraus und Klärung führt ohne Realisierung zu keiner Wunscherfüllung« (Grawe, 2000, S. 93). Der Fokus des Ansatzes von Grawe ist induktiv angelegt, das heißt, er gewinnt seine Überlegungen aus der Sekundäranalyse vorhandener empirischer Forschungsbefunde. So ist es ihm gelungen, allgemeine Wirkprinzipien und damit einen »schulenübergreifenden« Ansatz zu formulieren. Wenngleich sich Grawe dabei zugleich auf vielfältige theoretische Konzepte der Psychotherapie und der Psychologie stützt, so ist damit allerdings noch keine Gesamttheorie gewonnen, die den Verlauf von Veränderungsprozessen, die mittels Beratung oder Therapie angestrebt werden, erklären könnte.

4 Synergetik als Metatheorie für die Unterstützung und Analyse von Selbstorganisationsprozessen Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen liegt es nahe, nach einem Ansatz zu suchen, der auf einer Metaebene angesiedelt und als Referenztheorie für Beratung genutzt werden kann. Hierfür eignet sich in besonderer Weise die Synergetik mit den daraus abgeleiteten sogenannte generischen, das heißt die Selbstorganisation fördernden Prinzipien (vgl. Haken u. Schiepek, 2010). Sie weist gegenüber dem induktiv gewonnenen Ansatz von Grawe (2000) den Vorteil auf, von einem theoretischen Modell auszugehen und impliziert zugleich konsequenter eine systemische Sichtweise. Auch die Tatsache, dass der SynergetikAnsatz für unterschiedliche Praxisformen wie Beratung, Therapie, Organisationsentwicklung oder – allgemeiner formuliert – für Lern- und Entwicklungsprozesse in unterschiedlichen Kontexten gleichermaßen genutzt werden kann (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 628), stellt einen Vorteil dieses Ansatzes dar. So kann die Theorie der Selbstorganisation zum Beispiel in organisationalen Kontexten sowohl vom Berater für die Ausgestal© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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tung eines Veränderungsprozesses angewandt werden, aber auch vom Management bzw. den Führungskräften selbst sowie schließlich auch von den Mitarbeitern berücksichtigt werden. Auch bei der personenbezogenen Beratung sollte ein Ziel darin bestehen, die Ratsuchenden für die Zukunft zu befähigen, die Überlegungen der Synergetik im Sinne des Selbstmanagement zu berücksichtigen. Im Folgenden wird dieser Ansatz in seiner Bedeutung für Beratungsformate näher erläutert.

4.1 Selbstorganisation in psychischen und sozialen Systemen Die heute zum Allgemeingut gehörende Aussage, dass »nun einmal alles miteinander zusammenhängt«, weist auf die Komplexität von Systemen hin, erklärt aber nicht die Entstehung und den Prozess von Selbstorganisation – zum Beispiel die Übergänge von Unordnung zu Ordnung oder von einer alten Ordnung zu einer neuen Ordnung. Dies ist die spezifische Leistung der Synergetik. Die Synergetik als »Lehre vom Zusammenwirken« (vgl. Kriz, 1992, S. 143) vieler Einzelelemente in einem System wurde vor über drei Jahrzehnten vom deutschen Physiker Hermann Haken entwickelt. Sie erforscht allgemeingültige Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten des Zusammenwirkens bzw. der Synchronisation von Elementen (z. B. von Molekülen, Zellen oder Menschen), die innerhalb eines komplexen dynamischen Systems miteinander in Wechselwirkung treten und unter bestimmten Bedingungen ein neues Muster, ein neues Verhalten, eine neue Ordnung hervorbringen. Synergetik ist somit die Wissenschaft von der Selbstorganisation, genauer : von selbstorganisierenden Prozessen bzw. selbstorganisierter Ordnungsbildung. Die Erkenntnisse wurden – ausgehend von der Physik (z. B. Laserlicht) – auf viele andere Bereiche übertragen, zum Beispiel auf Prozesse in der Chemie, der (Neuro-)Biologie (z. B. wird das Gehirn als selbstorganisierendes System ohne zentrale Steuerungsinstanz betrachtet), auf die Psychologie (insbesondere der Psychotherapie) und die Soziologie (z. B. auf komplexe Sozialsysteme wie Gruppen und Organisationen) (vgl. Haken u. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 2: Selbstorganisation in psychischen und sozialen Systemen (Haken u. Schiepek, 2010, S. 246)

Schiepek, 2010). Für psychische und soziale Systeme stellt sich das Grundschema der Synergetik wie folgt dar : In einem selbstorganisierenden System geht es um das wechselseitige, kreiskausale Zusammenwirken vieler Elemente und Prozesse. Dabei spielt es nach Haken und Schiepek (2010, S. 530) keine Rolle, »ob man als Elemente eines Systems Personen oder die Kognitionen und Emotionen dieser Personen oder – wie Luhmann (1984) vorschlägt – Kommunikationen auffasst«. Es wird zwischen einer mikroskopischen und einer makroskopischen Ebene unterschieden. Das System auf der mikroskopischen Ebene (s. unteres schwarz hinterlegtes Rechteck in der Abb. 2) besteht aus sehr vielen Komponenten und deren Beziehungen (z. B. Moleküle in einer Flüssigkeit oder Mitglieder einer Organisation als einem sozialen System). Bei hinreichender intrasystemischer Vernetzung zwischen den Elementen auf der mikroskopischen Ebene kann sich ein makroskopisches Muster (oberes Rechteck in der Abb. 2) herausbilden. Hier entsteht eine Emergenz von Ordnung durch Bottom-up-Kreiskausalität (s. den nach oben weisenden Pfeil in der Mitte der Abb. 2). Folglich schaffen die einzelnen Teile durch kreiskausale Prozesse der positiven Rückkoppelung bzw. Selbstverstärkung minimaler Anfangsunterschiede (z. B. auf sich selbst zurückwirkende Besserungserwartungen, Aktivierung von Ressourcen, soziale Verstärkung der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Ideen einzelner Mitarbeiter) Selbstorganisationsprozesse; es bildet sich eine (neue) »Ordnung«, ein (verändertes) »Muster«. Im Interesse der Einheitlichkeit und der besseren Verständlichkeit wird im Folgenden der Begriff des Musters bevorzugt. Relativ kleine Veränderungen in der Interaktion von Systemteilen können nach diesen Überlegungen durch positive Rückkoppelungsprozesse ein »schlummerndes Veränderungspotenzial« wecken und unter Umständen zu weitreichenden Veränderungen führen. So kann – um ein Beispiel aus der personenbezogenen Beratung heranzuziehen – zum Beispiel die (immer wieder) auftretende Angst, sich in einem Seminar in der Universität zu melden, zu einem Muster aus vielen Einzelelementen werden. Ein entstandenes Muster bindet dann die Einzelelemente ein, ihre Freiheitsgrade reduzieren sich drastisch. Die Theorie der Synergetik spricht davon, dass das Muster die Einzelelemente »versklavt« (s. den Pfeil in der Mitte der Abb. 2, der nach unten zeigt). Es liegt somit nicht nur eine kreiskausale Wirkung zwischen den Teilen des Systems vor, sondern auch zwischen der Mikroebene und der Makroebene (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 134). Selbstorganisation umfasst folglich das Wechselspiel zwischen Musterbildung durch die Systemelemente auf der Mikroebene des Systems von unten nach oben (Bottom-up = Emergenz) und der Synchronisation/Konsensualisierung von oben nach unten (Top-down). Dabei bildet jedes komplexe System eine ihm eigene Ordnung aus, ein ihm eigenes Zusammenspiel der Kräfte.2 Deshalb kann Selbstorganisation als gemeinsamer, schöpferischer Prozess charakterisiert werden – ohne zentrale Steuerungsinstanz. Ordnung kann aber auch wieder destabilisiert werden – im Extremfall ereignet sich eine »Kaskade« von Ordnungsübergängen. Selbstorganisationsprozesse sind häufig sehr fragil, in ihrer 2 In Analogie zur Musik könnte man sich Formen der Selbstorganisation als gelingendes Zusammenspiel in einem Orchester vorstellen. Glücksmomente können sich einstellen und sind für die Musiker wie ein »FlowGefühl« spürbar. Aber es kommt nicht immer dazu. Ordnungen unseres inneren und äußeren Lebens sind nahe an die »Instabilität ihres Funktionierens gebaut« (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 471).

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Komplexität kaum beherrschbar. Ordnung ist also immer dynamisch zu denken (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 44). Selbstorganisation setzt eine systeminterne Energieaktivierung (Energetisierung) voraus. Aspekte, die zum Beispiel die Motivation zur Veränderung stärken, werden als Kontrollparameter bezeichnet (s. Abb. 2, linke Hälfte). Kontrollparameter sind im Verständnis der Synergetik Einflussgrößen, die die inneren Wechselwirkungen der Prozesse und Elemente des Systems aktivieren und modulieren. Kontrollparameter beeinflussen die selbstorganisierte Strukturbildung eines Systems, da durch ihre Änderung das System-Gleichgewicht instabiler wird und fluktuieren kann (vgl. Kriz, 1992, S. 145). Sobald die dadurch ausgelösten Schwingungen kritische Werte annehmen, kann sich das Systemverhalten schlagartig ändern, und es entstehen neue Muster, das heißt, es vollzieht sich ein Ordnungsübergang (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 80). In physikalischen Systemen kann zum Beispiel die Veränderung der Energiezufuhr (Licht, Wärme) einen Kontrollparameter darstellen. In Humansystemen können die Kontrollparameter sehr verschieden sein. Eine Schwierigkeit liegt darin, dass sie häufig entweder nicht genau bekannt sind oder im »Inneren« des Systems liegen können bzw. von diesem selbst erzeugt werden (z. B. Hormone oder Neurotransmitter). Wichtig ist, dass jedes soziale System seine spezifischen Kontrollparameter herausbildet, das System wählt gewissermaßen aus, mit welcher Art von Anregung es etwas anfangen kann (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 134). Dies wird in der Abbildung 2 mit den Pfeilen zwischen der Mikroebene und dem Kontrollparameter symbolisiert. Für soziale Systeme wird vor allem die Motivation als Kontrollparameter hervorgehoben. Auch die emotionale Energie kann einen entscheidenden Kontrollparameter darstellen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 603, S. 650). Ein Kontrollparameter könnte in der personenbezogenen Beratung zum Beispiel auch der Wunsch nach einem befriedigenden Beruf oder nach Aufstieg sein, in der organisationsbezogenen Beratung zum Beispiel das gemeinsame Interesse der Mitarbeiter an einer guten Position des Unternehmens auf dem Markt. Auch die für einen angestrebten Veränderungsprozess vorhandenen Ressourcen können Kontrollpara© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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meter darstellen. Dabei kann es – auf die organisationsbezogene Beratung bezogen – sowohl um sächliche Ressourcen gehen (z. B. Geld, Technologie, Rohstoffe), personale Faktoren wie das Wissen, das Können und die Erfahrung der Mitarbeiter oder gesundheitliche oder andere psycho-emotionale sowie soziale Voraussetzungen für die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter, aber auch um systemexterne Faktoren wie Absatzmärkte oder Kundenbedürfnisse. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass in komplexen Systemen mehrere Kontrollparameter gleichzeitig auftreten können – ebenso wie mehrere Muster. Lösen sich entstandene Muster wieder auf oder gehen sie in andere Muster über, so lassen sie das System nicht im gleichen Zustand zurück. »Einmal entstandene Ordner werden leichter wieder hergestellt (wenngleich kein zweites Mal in exakt identischer Weise) […] oder verändern die Auftrittswahrscheinlichkeit anderer Ordner« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 245). Damit ist der Sachverhalt angesprochen, dass jedes System eine geronnene Systemgeschichte aufweist (s. Abb. 2, rechts oben). Diese Lerngeschichte des Systems bildet den Kontext für die Bildung neuer Muster und Attraktoren. Aber auch (aktuelle) systeminterne und externe Randbedingungen beeinflussen die Selbstorganisationsprozesse und wirken als Begrenzungen auf die aktuelle Systemdynamik. So wird zum Beispiel die Tatsache, dass die neuronale Plastizität des menschlichen Gehirns nicht beliebig ist, sondern von den bisherigen Erfahrungen begrenzt wird, mit dem Begriff der Randbedingung gefasst. Diese beschränkende Wirkung kann bereits in der Grundstruktur des Systems bestehen, zum Beispiel in der Funktionsweise der Synapsen, die die Reizverarbeitung und somit Wahrnehmung nur auf eine bestimmte Weise zulassen oder im genetischen Erbe des Gehirnaufbaus. In Organisationen zählen hierzu zum Beispiel der rechtliche Rahmen des Betriebes, Stellenbeschreibungen oder die Organisationskultur. Zu den internen Randbedingungen zählen auch langfristig stabilisierte und »geronnene« Muster (z. B. Gewohnheitsrechte, Ablaufroutinen oder Selbstverständnisse), wie sie in ISO-Normen und normativen Prozessmodellen festgeschrieben werden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 604). Randbedingungen können in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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der Funktionsweise und Wechselwirkung der Teile bestehen sowie in der Wirkung anderer Systeme und deren Muster und schließlich in physikalisch-materiellen Umgebungsbedingungen, auf die Organismen jedoch Einfluss nehmen durch Gestaltung oder Auswahl. In Bezug auf die zeitliche Dimension ist anzumerken, dass sich Randbedingungen langsamer als Muster verändern und diese wiederum langsamer als die individuelle Dynamik der Systemelemente. Das Schema der Selbstorganisation in sozialen und psychischen Systemen muss man sich vielfach parallel geschaltet vorstellen, also in Ringen oder in Netzwerken solcher selbstorganisierender Systeme, die sich gegenseitig anregen. So können Muster eines Systems zum Kontrollparameter anderer Systeme werden und umgekehrt. Die makroskopische Dynamik eines Systems kann sich mit anderen Systemen synchronisieren und neue Muster hervorbringen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 246). Muster eines Systems stehen zudem in einer Wechselwirkung mit der Umwelt. Daher zielt in Abbildung 2 der Pfeil von den Mustern auf der makroskopischen Ebene zur Umwelt. Umgekehrt wirkt die Umwelt auf das jeweilige System. Auch die »Umwelt«– wenngleich in der Abbildung 2 undifferenziert als Block dargestellt – besteht im Wesentlichen aus selbstorganisierenden Systemen unterschiedlicher Art und Größenordnung, mit denen das betrachtete System interagiert. Die Umwelt selbstorganisierender Systeme stellt Bedingungen zur Verfügung, die als Kontrollparameter fungieren (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 247). Dies wird in der Abbildung 2 ausgedrückt in den Pfeilen vom System und vom Muster (Ordner) auf die Kontrollparameter. Zur Umwelt gehören neben den interagierenden Systemen auch die Berater als »Beobachter zweiter Ordnung«. Ein »selbstorganisierendes System« besitzt folglich keine zentrale Steuerungsinstanz. Damit grenzt sich das Konzept von der Begrifflichkeit der Selbststeuerung ab. Dieses Paradigma des systemischen, vernetzten Denkens und Handelns steht einer Erwartung der schnellen Machbarkeit, einfachen Steuerbarkeit und personalen Zurechenbarkeit von Ergebnissen tendenziell entgegen. Eine solche Betrachtung trägt aber auch zur Erleich© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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terung bei: In selbstorganisierenden sozialen Systemen ruht die Verantwortung auf »mehreren Schultern« (»Halbierung der Verantwortung« nach Huschke-Rhein, 2003).

4.2 Generische (Wirk-)Prinzipien zur Förderung von Selbstorganisationsprozessen Im Hinblick auf die gezielte Unterstützung des Wandels sozialer Systeme stellt sich die Frage, wie Selbstorganisationsprozesse gefördert werden können – durch Berater, Führungskräfte oder Mitarbeiter. Haken und Schiepek (2010) haben aus der Synergetik als Wissenschaft der Selbstorganisation, der Gehirnforschung, der Chaostheorie und den Befunden der Psychotherapieforschung Bedingungen für die Förderung selbstorganisierender Entwicklungen abgeleitet. Diese Prinzipien stellen eine allgemeine Orientierung für jede Intervention bzw. »Gestaltung von Ordnungswandel« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 628) dar – sei es Beratung, Therapie, Coaching oder Management (worunter bei ihnen auch die Organisationsberatung subsumiert wird). Die permanente Berücksichtigung dieser als »generische Prinzipien« (generisch = erzeugend) bezeichneten Bedingungen fördert selbstorganisierende Entwicklungsprozesse bzw. »selbstorganisierte Ordnungsübergänge« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 436). Beraten ist somit ein prozessuales Schaffen von Bedingungen bzw. Möglichkeiten für systeminterne Prozesse bei ratsuchenden Individuen, Teams oder Organisationen. Berater sind demzufolge »energetisierende Anreger« selbstorganisierender Prozesse. Sie sind »beteiligte Mitspieler«, aber nicht alleinige »Macher«. Die die Selbstorganisation fördernden Prinzipien können zugleich als Kriterien guter Beratung bzw. als Maßstäbe für ethisch verantwortungsvolles Beratungshandeln verstanden werden. Die Orientierung an den allgemeinen Wirkprinzipien ermöglicht • (eine) theoretische Fundierung des praktischen Handelns von Beratern, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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• eine prozessadäquate Organisation des Veränderungsprozesses und • eine Komplexitätsreduktion der Praxis, da die Vielzahl möglicher Situationen auf der Basis weniger Kriterien beurteilt werden kann (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S 440). Die generischen Prinzipien korrespondieren zu großen Teilen mit dem, was in der Psychotherapieliteratur als Common Factors oder Wirkfaktoren bezeichnet wird. Haken und Schiepek (2010, S. 450 ff.) gehen davon aus, dass auch die in der Literatur als Wirkfaktoren bezeichnete Elemente implizit der Umsetzung von Bedingungen für selbstorganisierte Ordnungsübergänge dienen, wie sie von der Synergetik beschrieben werden. Gegenüber den zahlreichen Versuchen, unspezifische, »schulenübergreifende« oder allgemeine Bedingungen für therapeutische (beraterische) Veränderungen zu formulieren, besteht der Mehrwert darin, dass mit dem Bezug auf die Synergetik eine theoretische Fundierung besteht. In diesem Sinne handelt es sich im Rahmen der Theorie der Synergetik um spezifische Bedingungen (nicht unspezifische). Der entscheidende Vorteil der Orientierung an generischen Prinzipien bzw. Wirkprinzipien im Sinne der Theorie der Selbstorganisation – wir gebrauchen diese beiden Begriffe synonym – im Interesse einer allgemeinen Beratungstheorie besteht darin, dass diese theoretische Referenz es erlaubt, Methoden bzw. Verfahren aus den unterschiedlichen beraterischen bzw. therapeutischen »Schulen« situationsspezifisch einzusetzen. Die generischen Prinzipien dienen der Auswahl und Begründung der jeweils eingesetzten speziellen Techniken und Methoden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 440). Dabei ist das Verhältnis zwischen letzteren und generischen Prinzipien mehrdeutig: Ein Prinzip kann durch verschiedene Methoden realisiert werden, und eine Methode kann der Umsetzung mehrerer Prinzipien dienen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 440 f., s. dazu auch weiter unten). »Generische Prinzipien sollen für diese Prozessgestaltung zugleich Verständnis, Sicherheit und Freiheit ermöglichen, ersetzen aber nicht Erfahrung, Intuition und Kompetenzen des Komplexitätsmanagements« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 441). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Die Orientierung an diesen Prinzipien, die auf einer Metaebene angesiedelt sind, erlaubt es Beratern folglich, auf bereits vorhandene Beratungsausbildungen zurückzugreifen, ihren persönlichen Stil und ihren eigenen Erfahrungsschatz in die Gestaltung des Beratungsprozesses einzubringen. Die Synergetik kann damit auch die Ergebnisse der Therapieforschung erklären, denen zufolge der Einsatz unterschiedlicher Techniken zum gleichen Ergebnis führt (Dodo-Bird-Effekt, s. weiter oben). Unterschiedliche Techniken sind der Synergetik zufolge gleichwertig, »weil und sofern sie der Realisierung von Bedingungen für die Möglichkeit selbstorganisierender Prozesse dienen. Die Annahme der Synergetik wäre allerdings, dass Techniken nicht grundsätzlich und immer wirksam sind, sondern nur dann, wenn sie im Sinne der generischen Prinzipien angemessen kontextualisiert sind und prozessadäquat eingesetzt werden« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 455).

Schiepek (2008, S. 1138) geht davon aus, dass Interventionswirkungen als Resonanzeffekte zwischen Systemzuständen des Ratsuchenden und Angeboten des Beraters entstehen. Die Wirkprinzipien werden im Folgenden näher erläutert (siehe dazu auch den Erhebungsbogen in Kap. 4.5, in dem die generischen Prinzipien operationalisiert werden). Dabei werden gegenüber den Formulierungen von Haken und Schiepek (2010, S. 246 f., S. 628 ff.) einige Modifikationen vorgeschlagen. Diese sollen zum einen dazu dienen, die zum Teil aus den Naturwissenschaften übernommenen Begriffe sprachlich zu vereinfachen. Zum anderen resultieren einige Punkte inhaltlich aus dem Transfer auf den Beratungsbereich. Dies wird an den jeweiligen Stellen erläutert.

4.2.1 Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse schaffen Die Bearbeitung von Anliegen der Ratsuchenden, wobei es sich in der Terminologie der Synergetik um »Ordnungsübergänge« handelt, geht der Destabilisierung gewohnter Muster und folglich mit instabilen Phasen einher. Daher besteht eine zentrale Auf© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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gabe von Beratern darin, stabile Rahmenbedingungen für den Veränderungsprozess zu schaffen, das heißt, für strukturelle und emotionale Sicherheit bei den Beteiligten zu sorgen und deren Selbstwirksamkeitserleben zu stärken. Hierzu zählen alle Maßnahmen zur Schaffung eines »sicheren Ortes«. Dabei geht es um ein klares, professionelles Setting und die Transparenz des geplanten Vorgehens. Strukturelle Sicherheit ist gegeben, wenn Übereinstimmung über das Anliegen bzw. Thema der Beratung, den Zeithorizont und Umfang der Beratung, die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit sowie die Rolle des Beraters erzielt wurde. Ebenso geht es im Kontext dieses generischen Prinzips um emotionale Stabilität, das heißt das Vertrauen des Ratsuchenden zum Berater, in dessen Kompetenz, Glaubwürdigkeit, emotionale Standfestigkeit. Zur Unterstützung und Sicherheit der Ratsuchenden zählt auch, die bereits vorhandenen Ressourcen zu verdeutlichen und zu aktivieren und so Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Bei der Realisierung dieses Aspekts des ersten generischen Prinzips sind die zentralen Variablen der personzentrierten Beratung (Empathie, Wertschätzung und Kongruenz) von großer Bedeutung.

4.2.2 Das System und dessen Muster identifizieren Bei diesem Prinzip geht es zum einen darum, das System festzulegen, auf das sich die Beratung beziehen soll. Zum anderen gehört dazu die Identifikation vorfindlicher, in der Regel unerwünschter Muster. Die Identifikation von Mustern dient zugleich als Bezugssystem für die Bewertung von Veränderungen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 629). Dabei sind auch die »geronnene Systemgeschichte«, das heißt die bisherigen Lernprozesse von Individuen bzw. die Organisationsbiographie (bei der Organisationsentwicklung) zu berücksichtigen sowie die systeminternen und externen Randbedingungen, die Veränderungsprozesse fördern oder behindern können (vgl. Beisel, 1996). Es ist davon auszugehen, dass Umweltbedingungen in der Beratung sowohl als Einflussfaktor für die Entstehung des Anliegens als auch als Ressource für Veränderungsstrategien von großer Bedeutung sind. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Zur Realisierung dieses generischen Prinzips eignen sich insbesondere Visualisierungsmethoden, zum Beispiel idiographische Systemmodellierungen der Ausgangssituation im Sinne der Konstruktion eines Netzwerkes von Einflussfaktoren (vgl. Schiersmann u. Thiel, 2011, S. 101 ff., s. auch den Beitrag von Thiel u. Schiersmann in diesem Band). Auf dieser Basis können Muster auf der Einstellungs-, der Emotions- oder der Verhaltensebene herausgearbeitet werden und gemeinsam mit den Ratsuchenden Entscheidungen für das weitere Vorgehen generiert werden.

4.2.3 Visionen und Ziele entwickeln, Sinnbezug herstellen Um einen geeigneten Weg vom Ist-Zustand zum erwünschten Soll zu erreichen, ist es erforderlich, Ziele und Visionen für die Veränderungsprozesse zu identifizieren. Dieser Aspekt wird bei Haken und Schiepek nicht so explizit erwähnt, erscheint uns aber implizit vorhanden, wenn davon die Rede ist, dass Lern- bzw. Entwicklungsprozesse von den Mitgliedern des Systems (Personen, Teams oder Organisationen) als sinnvoll erlebt werden und mit deren eigenen Zielvorstellungen und zentralen Lebenskonzepten korrespondieren müssen, damit diese sich auf Veränderungsprozesse einlassen. Die Orientierung des Beraters an den jeweiligen Sinnbezügen der Person, des Teams bzw. der Organisation und ihrer Mitarbeiter (z. B. an ihrer Unternehmenskultur) stellt eine wichtige Voraussetzung für die Stärkung der persönlichen bzw. unternehmerischen Leistungsfähigkeit dar. Dies gilt umso mehr, je krisenhafter die aktuelle Situation erlebt wird, da Ratsuchenden in dieser Konstellation innere Stimmigkeit und zielorientiertes Handeln kaum zur Verfügung stehen.

4.2.4 Energetisierung ermöglichen, Kontrollparameter identifizieren Selbstorganisation setzt eine energetische Aktivierung des jeweiligen Systems voraus. Daher ist es für die Herausbildung neuer Muster entscheidend, einen oder mehrere relevante Kontrollparameter zu identifizieren. Es geht in diesem Zusammenhang um die Herstellung motivationsfördernder Bedingungen, um die Aktivierung von Ressourcen, um die Herausarbeitung der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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emotionalen und motivationalen Bedeutung von Anliegen, Visionen und Zielen der Ratsuchenden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 438). Auch bei diesem Wirkprinzip ist die systemexterne Umwelt im Hinblick auf relevante Kontrollparameter zu prüfen. Methodisch kann das Prinzip der Energetisierung zum Beispiel durch die vor allem in der lösungsorientierten Beratung eingesetzten Wunderfrage realisiert werden (»Was wäre, wenn Sie eines Morgens aufwachten und Ihr Problem wäre gelöst? Was würden Sie dann sehen, was würde passieren?«) oder – in der Organisationsberatung durch den Einsatz von Großgruppenverfahren, die eine hohe, auch emotional getönte Partizipation der Beteiligten ermöglichen (z. B. Zukunftsworkshops, OpenSpace-Methode, World Caf oder »Appriciate Inquiry«), wertschätzende Erkundung und einen energetischen Schub in Richtung einer Veränderungsbereitschaft auslösen.

4.2.5 Destabilisierung, Fluktuationsverstärkungen anregen

Beratung zielt darauf ab, den Beteiligten neue Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen. Um dies zu erreichen, werden bestehende Muster der Kognition, des Erlebens und des Verhaltens (K-E-VMuster) destabilisiert, was zunächst irritierend auf die Betroffenen wirken kann. Dabei geht es darum, neue Blickwinkel, neue Perspektiven auf die Ausgangslage zu eröffnen und damit das System in Bewegung zu bringen. In der Beratung – stärker als in der Therapie – ist in diesem Zusammenhang auch die Vermittlung relevanter Informationen von hoher Bedeutung, um realistische Veränderungsperspektiven zu entwickeln. Darüber hinaus geht es in der Beratung auch darum, systemexterne Einflussfaktoren zu identifizieren, die entweder den Veränderungsprozess fördern oder behindern – ein Aspekt, der bei Haken und Schiepek für die Therapie nicht so explizit benannt wird. Um bestehende Muster zu unterbrechen, können vielfältige Techniken eingesetzt werden, zum Beispiel Übungen und Rollenspiele, Verhaltensexperimente, Fokussierung auf die Ausnahmen von einem Problemmuster, Kraftfeldanalysen, Einführung bisher nicht benutzter Unterscheidungen und Differenzierungen, Erarbeitung von veränderten Verständniszusammenhängen und Deutungen (Reframing), konfrontative und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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provokative Verfahren, um Anreize zu identifizieren, veränderte Symbole, Sprachspiele und Interpretationen anzuregen, bei der Organisationsberatung Meinungsführer und Imageträger in die Veränderungen einzubeziehen und »Pilotprojekte« durchzuführen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 439, 630). Dabei ist es wichtig, begonnene Lernprozesse zu unterstützen, weil die soziale Verstärkung den kleinsten Baustein der Selbstorganisation darstellt. Sie wirkt gemäß dem kreiskausalen Denken bzw. dem Gedanken der positiven Rückkoppelung auf das verursachende Element zurück.

4.2.6 Symmetriebrechung unterstützen In der Sprache der Synergetik bedeutet »Symmetrie«, »dass zwei oder mehrere Attraktoren (bzw. ›Ordner‹) eines Systems im Zustand kritischer Instabilität potenziell mit gleicher oder ähnlicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden können. Da kleine Fluktuationen über ihre Realisation entscheiden, ist die Vorhersagbarkeit der weiteren Entwicklung gering« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 439).

Die Aufgabe des Beraters besteht darin, diese Entscheidung nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sinnvolle Hilfestellungen zur »Symmetriebrechung« zu geben, um einige Strukturelemente eines neuen Ordnungszustandes mit den dazu gehörigen Emotionen umzusetzen. Gezielte Zustandsrealisierungen setzen dabei insbesondere auf die Intentionalität und Antizipationsfähigkeit des Menschen (z. B. über imaginierte Zustände oder die kognitive Antizipation von Verhaltensweisen). Hierzu können zum Beispiel »Pilot- und Referenzprojekte« von großer Bedeutung sein, um »Attraktionskerne« für umfassende Entwicklungen zu etablieren.

4.2.7 Re-Stabilisierung sichern Werden im Zuge des Beratungsprozesses positiv bewertete K-EV-Muster erreicht, so gilt es, diese zu stabilisieren, das heißt in alltägliches Handeln zu überführen. Die am Veränderungsprozess beteiligten Personen sollen sich idealerweise mit der neuen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Ordnung und ihren Rahmenbedingungen identifizieren. Psychologisch gesehen geht es darum, das neue Muster in das bestehende Selbstkonzept bzw. die Unternehmensstruktur und -kultur zu integrieren und mit bestehenden kognitiv-emotionalen Schemata zu vernetzen. Hierin besteht ein wesentlicher Erfolgsfaktor von Veränderungsprozessen. Auch bei der Re-Stabilisierung spielen aus Sicht der Autoren dieses Beitrags wiederum systemexterne Faktoren eine große Rolle, die den Stabilisierungsprozess stärken oder behindern können. Daher ist es wichtig, diese zu identifizieren und den Umgang damit zu reflektieren. Schließlich stellt sich die Frage, in welcher Weise ein Transfer des Gelernten auf andere Bereiche erreicht werden kann. Aus unserer Sicht scheitern manche Beratungsprozesse deshalb, weil für die Verstetigung begonnener Lern- und Entwicklungsprozesse nicht hinreichend gesorgt wird. Maßnahmen zur Re-Stabilisierung bzw. Verstetigung/Nachhaltigkeit können sein: Feedbackschleifen, Wiederholungen, Variationen, Nutzung in unterschiedlichen Situationen und Kontexten, positive Verstärkung oder – in der OE – zum Beispiel die Überführung von Abläufen in Prozessbeschreibungen (z. B. in Qualitätshandbücher).

4.2.8 Resonanz beachten, Synchronisation herstellen Im Veränderungsprozess angewandte Methoden und Verfahren sollen dem aktuellen kognitiv-emotionalen Zustand (state of mind)3 der daran Beteiligten entsprechen und zur aktuellen kognitiv-emotionalen Verarbeitungstiefe der Beteiligten passen. Interventionen, die damit nicht kongruent sind, haben nur eine geringe Chance, vom Ratsuchenden verstanden und aufgegriffen zu werden, weil das System dann dafür keine Antennen hat. Die zeitliche Passung und Koordination der Vorgehensweisen und des Kommunikationsstils eines Beraters mit den psychischen, physiologischen und sozialen Prozessen und Rhythmen der Beteiligten kann als Voraussetzung sowie auch als Merkmal einer 3

Diese »states of mind« sind nach Haken und Schiepek (2010, S. 339) als (Quasi-)Attraktoren des psychischen und sozialen Geschehens zu betrachten. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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gelingenden Beratung gelten (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 439). Ist ein Ratsuchender mit inneren Such- und Verarbeitungsprozessen beschäftigt, so ist es kaum sinnvoll, ihm einen neuen Input anzubieten, es sei denn, man möchte diese inneren Prozesse gezielt unterbrechen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 439). Dieses generische Prinzip verweist auch darauf, dass Veränderungsprozesse eine Eigendynamik aufweisen, die nur bedingt beschleunigt werden kann (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 630; für die OE vgl. Wimmer, 1999). In der organisationsbezogenen Beratung ist zusätzlich zu beachten, dass Veränderungsprozesse in unterschiedlichen Teilsystemen der Organisation zur Passung gebracht werden müssen. Methodisch kann hier unter anderem auf das Prinzip des »Pacing and Leading« in der lösungsorientierten Beratung bzw. beim Neurolinguistischen Programmieren (NLP) verwiesen werden, wobei der Berater durch Übereinstimmung in Wortwahl (z. B. durch Aufgreifen von Bildern, idiosynkratischen Begriffen oder Redewendungen der Beteiligten) und Körperhaltung den Kontakt/»Rapport« zum ratsuchenden System verstärkt und eine Sensibilität für dessen Aufnahmebereitschaft entwickelt (vgl. Fittkau, 2003; Thiel, 2003b). Im Hinblick auf das Wirkprinzip »Resonanz beachten/Synchronisation herstellen« ist ebenso zu reflektieren, ob es dem Berater gelungen ist, die ersten sieben Wirkprinzipien durch geeignete Methoden umzusetzen. Bei der Erläuterung der einzelnen Wirkprinzipien sind bereits Beispiele für geeignete Methoden genannt worden, es sei aber nochmals an die Mehrdeutigkeit des Verhältnisses von Methoden und Wirkprinzipien erinnert: Eine Methode kann für die Realisierung verschiedener Wirkprinzipien eingesetzt werden und umgekehrt. Auffällig ist auf den ersten Blick, dass bei den generischen Prinzipien die in der Fachliteratur als zentral erachtete Dimension der therapeutischen bzw. beraterischen Beziehung nicht explizit benannt wird. Vielmehr gehen Haken und Schiepek (2010, S. 452) davon aus, dass sich eine »gute« Beziehung im Prinzip 1 (Erfahrung von Stabilität), im Prinzip 3 (insbesondere dem Bemühen, den Veränderungsprozess als sinnvoll und zum eigenen Lebensentwurf passend zu erleben), im Prinzip 4 (För© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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derung der Motivation, Prozessinvolviertheit und Veränderungsbereitschaft des Ratsuchenden) und im Prinzip 8 (Resonanz und Synchronisation zwischen den therapeutischen Prozessen und den inneren Prozessen des Ratsuchenden) realisiert. Damit wird zugleich betont, dass die Beziehungsqualität kein Selbstzweck ist, sondern der Umsetzung wesentlicher Bedingungen für die Möglichkeit von Ordnungsübergängen in der Beratung dient.

4.3 Beratung als phasenorientierter Problemlöseprozess Wie bereits im Kapitel 2 erläutert wurde, lässt sich professionelle Beratung im Vergleich zu alltäglichen Beratungssituationen unter anderem dadurch charakterisieren, dass sie einen »Plan« besitzt oder eine bildhafte Vorstellung davon entwickelt, in welche inhaltlichen Schritte bzw. zeitlichen Abschnitte, Stadien oder Phasen sich der komplexe Prozess einer Beratung heuristisch strukturieren lässt. Nahezu alle Beratungsansätze weisen ein mehr oder wenig explizites Phasenschema auf (vgl. u. a. BorgLaufs, 2004, S. 634 ff., S. 139; König u. Volmer, 2008, S. 67 ff.; Thiel, 2000c; Bamberger, 2010, S. 63 ff.). Beraten lässt sich zudem als Hilfe zum Lösen eines subjektiv bedeutsamen Problems oder Anliegens definieren. Letzteres kann eine Person, eine Gruppe bzw. Team oder die Gesamtorganisation betreffen. Auch in dieser groben Ziel- und Funktionsbestimmung haben die meisten Beratungsansätze und -definitionen einen gemeinsamen Nenner (vgl. Schwarzer u. Posse, 1986; Brem-Gräser, 1993; Ertelt u. Schulz, 2008). Aus unserer Sicht stellt das Grundmuster des komplexen Problemlösens die Basis für das Vorgehen bei (fast) allen Veränderungsstrategien dar. Selbst wenn man im Sinne der Selbstorganisationstheorie davon ausgeht, dass sich der Wandel von einem Muster zu einem anderen Muster keineswegs linear und oft spontan vollzieht, scheint es aus unserer Sicht doch sinnvoll, sich an einem Phasenschema als Planungsgrundlage zu orientieren, auch wenn eine zu Beginn des Beratungsprozesses entwickelte Planung sicher öfter revidiert werden muss. Eine solche © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Orientierung ermöglicht eine ungefähre Vorstellung vom Veränderungsprozess und trägt dazu bei, die Komplexität zu reduzieren. Berater sowie Ratsuchende benötigen zu Beginn eines letztlich nicht prognostizierbaren Entwicklungsprozesses auf einer groben Makroebene eine ungefähre Vorstellung bzw. ein vorläufiges Bild von der Gestaltung des gemeinsamen Prozesses. Eine transparente Ablaufstruktur gibt sowohl für professionelle Berater als auch individuelle Ratsuchende bzw. Organisationsmitglieder einen gewissen Halt und bildet einen Orientierungshorizont und eine Verständigungsbasis, was wichtig ist, da Veränderungsprozesse tendenziell mit Verunsicherung, Instabilität und Angst einhergehen (s. generisches Prinzip 1). Phasenmodelle stellen ein »prozedurales« bzw. strategisches Handlungswissen im Umgang mit komplexen Problemen bzw. Situationen dar (vgl. Putz-Osterloh, 1994, S. 86). Die Orientierung an Phasen als Leitfaden für einen Entwicklungsprozess unterstützt eine Weiterentwicklung von Personen, Gruppen und Organisationen dadurch, dass – ausgehend vom häufig allgemeinen Problemanlass oder diffusen Unbehagen – die zu bearbeitende Situation immer konkreter, der Lösungsweg überschaubarer und planbarer und die Erfolgsaussicht eines Beratungsprozesses gesteigert – aber nicht garantiert wird. Die Phaseneinteilung trägt somit zur »Hoffnung auf Erfolg« bzw. zur Antizipation der Zukunft auf dem Weg vom »Ist« zum »Soll« bei. Es ist demzufolge konsequent, sich der theoretisch begründeten und empirisch fundierten Problemlösepsychologie zu bedienen (vgl. Dörner, Schaub u. Strohschneider, 1999; Gomez u. Probst, 1999; Ulrich u. Probst, 1991). Als weiterer Eckpunkt für eine allgemeine Beratungstheorie wird deshalb ein aus der empirisch fundierten Problemlöse- und Denkpsychologie stammendes Phasenkonzept zugrunde gelegt, das in seiner Grundstruktur eine weite, multidisziplinäre Verbreitung gefunden hat. Dörner (1976) definiert ein Problem durch drei Merkmale: Einen unerwünschten Ausgangszustand (= die »Ist-Situation«/der Problembereich), eine gewünschte Veränderung als Ziel (= »SollZustand«/Zielbereich) und eine Wegstrecke, die unter Einsatz unterschiedlicher Mittel und Methoden zurückgelegt werden muss – also ein unter Umständen längerer, risikoreicher Weg vom © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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»Hier und Jetzt« der Ausgangssituation zum »Dort und Dann« des gewünschten Zielzustandes. Dies entspricht im Prinzip in der Struktur auch der Vorstellung der Synergetik vom Ordnungswandel, das heißt vom Übergang von einem alten, nicht mehr passenden zu einem neuen Muster. Dabei ist häufig von einem »dialektischen« Problemtypus bei personenbezogener und organisationsbezogener Beratung auszugehen, bei dem zu Beginn weder das Ziel ganz klar noch die notwendigen Methoden auf dem Weg dahin hinreichend bekannt sind. Nach Dörner (1976) ist Problemlösen ein strategisches Werkzeug zur Reduktion dieser Unbestimmtheit. In der Abbildung 3 findet sich ein solches phasenorientiertes Prozessmodell, auf dessen Grundstruktur sich (fast) alle publizierten Modelle abbilden lassen, wobei die Phasen und deren Benennung teilweise etwas differieren. Es umfasst neben der vorangehenden Auftragsklärung die folgenden Aspekte: • die Problemerkundung und eine mehr oder weniger intensive Analyse der Ausgangssituation (»Was ist Ihr Anliegen/Problem?«), • die Zielklärung (»Was wollen Sie erreichen? Was ist Ihr konkretes Ziel?«), • die Ideensammlung und Strukturierung möglicher Veränderungsschritte, Lösungswege bzw. Maßnahmen zur Zielerreichung (»Wie werden Sie dieses Ziel erreichen? Für welche Maßnahme/n entscheiden Sie sich?«), • die zeitliche, personelle und finanzielle Planung der Umsetzung (»Welche Ressourcen/Unterstützung haben/brauchen Sie? Was sind die nächsten Schritte?«), • die Umsetzung und Kontrolle der Durchführung (»Ist die festgestellte Abweichung zwischen dem ursprünglichen Plan und dem augenblicklichen Stand ein Anlass für Korrekturen?«) sowie • die Evaluation, Reflexion und der Transfer von Ergebnissen (»Im Hinblick auf welche Kriterien ist der Prozess ein Erfolg/ haben Sie das Ziel erreicht? Was wurde in dem Prozess der Bearbeitung individuell (und kollektiv) gelernt? Auf welche

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weiteren Situationen/Probleme sind die gemachten Erfahrungen übertragbar?«). Nun ist bei der Verknüpfung der Problemlösetheorie mit der Synergetik, die in Abbildung 3 dargestellt wird, zu berücksichtigen, dass Haken und Schiepek (2010, S. 436) sich gegen Phasenschemata wenden, auch wenn die beiden Autoren den Begriff »Phasen« häufig verwenden – allerdings ohne nähere Erläuterung. Die skeptische Haltung von Haken und Schiepek bezieht sich jedoch auf »normative« Phasenmodelle (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 540). Sie konstatieren, dass ein elaboriertes Phasenmodell »der Eigendynamik menschlicher Entwicklungsprozesse eine normative Schrittfolge aufzwingen würde« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 436 f.). Die generischen Prinzipien verstehen sie demgegenüber als »eher permanent zu beachtende Kriterien«, die jedoch »in unterschiedlichen Phasen der Psychotherapie unterschiedliche Bedeutungen erhalten können« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 437). Gegenüber dieser Argumentation lassen sich jedoch zwei Einwände vortragen. Erstens ist dem normativen Phasenmodell eine systemische Sicht entgegenzuhalten, der zufolge die benannten Phasen nicht starr und streng sequenziell aufzufassen sind. In der Praxis wird das Phasenschema nicht linear durchlaufen (z. B. kann man problemlos mit der Zielklärung beginnen und sich dann der Ist-Diagnose widmen). Häufig ist ein »vielfältiges Hin- und Herspringen zwischen diesen verschiedenen Stationen» (Dörner, 1989, S. 73) zu beobachten. Die Phasen sind folglich miteinander vernetzt und rückgekoppelt und der Verlauf des Prozesses ist nicht prognostizierbar. In der Abbildung 3 wird der gesamte Prozess des komplexen Problemlösens deshalb durch ein Netz von zirkulären Rückkoppelungsschleifen zwischen potenziell allen Phasen dargestellt. Die Gesamtheit dieses Zusammenspiels beim komplexen Problemlösen macht das »Systemische« aus. Werden sogar alle Phasen zusammen mehrmals »abgearbeitet«, müsste der gesamte Problemlösekreislauf graphisch als sich wiederholender Zyklus dargestellt werden (vgl. Schiersmann u. Thiel, 2000, S. 145). Darüber hinaus gehen wir – vor dem Hintergrund des Phänomens der Fraktale – von der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 3: Verknüpfung des Phasenmodells mit generischen Prinzipien

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Hypothese aus, dass der gesamte Problemlösekreislauf sich strukturell auch in jeder einzelnen Phase wiederfindet. Das komplexe Problemlösen im Rahmen von Beratung erfordert folglich ein vernetztes Denken und Handeln (vgl. Dörner, 1989; Ulrich u. Probst, 1991). Zum anderen kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass auch bei den generischen Prinzipien von Haken und Schiepek ein implizites Phasenschema durchscheint. Dies betrifft nicht das Prinzip der Synchronisation/Resonanz, das wir aus diesem Grund auch ans Ende gestellt haben. Es liegt in gewisser Weise quer zu den anderen Wirkprinzipien, da die Beachtung der angemessenen Verarbeitungstiefe und die Auswahl passender Methoden sich durch den gesamten Prozess zieht (s. Kap. 4.2.). Es betrifft auch weniger das Prinzip 1 »Stabilitätsbedingungen herstellen«, denn diese Anforderung ist zwar zu Beginn zentral, aber ebenfalls während des gesamten Beratungsprozesses wichtig. In Bezug auf die übrigen Wirkprinzipien lässt sich jedoch durchaus eine gewisse Zuordnung zu bestimmten Phasen eines Problemlösemodells erkennen. Wir haben in der Abbildung 3 eine solche heuristische Zuordnung versucht: So korrespondiert das Prinzip »System und dessen Muster identifizieren« mit der Phase der Problem-/Ausgangslage. Die Phase der Zielklärung steht in einem engen Zusammenhang mit dem Wirkprinzip »Visionen und Ziele entwickeln/Sinnbezug herstellen« (auf der kognitiven Ebene der Zielklärung). Das Wirkprinzip »Energetisierungen ermöglichen/Kontrollparameter identifizieren« korrespondiert mit der emotionalen Ebene der Zielklärung sowie der Phase der Entwicklung von Veränderungsschritten. Das generische Prinzip der »Destabilisierung/Fluktuationsverstärkung« weist ebenfalls eine Nähe zur Phase der Lösungsfindung sowie zur Planungsphase auf, das Wirkprinzip »Symmetriebrechung« entspricht der Phase der Umsetzung und das Wirkprinzip der ReStabilisierung der Phase der Evaluation und des Transfers. Es geht dabei nicht um eine eindeutige Eins-zu-eins-Zuordnung von generischen Prinzipien und Phasen, sondern das Aufzeigen von gewissen Parallelen. In dem Beitrag von Thiel und Schiersmann in diesem Band wird in dem zweiten Fallbeispiel einer Organi-

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sationsentwicklung die schwerpunktmäßige Zuordnung von Phasen und Wirkprinzipien näher illustriert. Geht man von der Hypothese aus, dass der gesamte Problemlösekreislauf sich strukturell in jeder einzelnen Phase wiederfindet (s. o.), dann heißt dies, dass auch die generischen Prinzipien als Aspekte der Unterstützung des Selbstorganisationsprozesses potenziell in jeder Phase Anwendung finden können bzw. sollten. Diese vorsichtige Zuordnung schließt keineswegs aus, dass einzelne Interventionen des Beraters zugleich verschiedene Wirkprinzipien tangieren können (s. dazu den Beitrag von Wahl in diesem Band). Gleichwohl lässt sich eine Gewichtung in Bezug auf die verschiedenen Phasen konstatieren. Dies bedeutet aus unserer Sicht, dass die beiden Theoriekonstrukte zwar unterschiedlichen Ursprungs sind, sich in Grenzen aber dennoch aufeinander beziehen lassen. Für deren Verknüpfung spricht auch, dass sie sich beide sowohl mit komplexen Systemen auseinandersetzen als auch mit Handlungssituationen. Haken und Schiepek (2010) haben neben der analytischen Blickrichtung mit den generischen Prinzipien auch handlungsanleitende Überlegungen für die Unterstützung von Veränderungsprozessen unterschiedlichster Art formuliert.

4.4 Synergetisches Prozessmanagement als Rahmenmodell für die Gestaltung und Analyse von Beratungsprozessen Im Hinblick auf die Gestaltung und Analyse von Entwicklungsprozessen unterschiedlichster Art (z. B. Beratung, Therapie, Organisationsentwicklung) werden die Überlegungen zur Synergetik von Haken und Schiepek (2010, S. 441 ff.; Schiepek, Zellwanger, Kronberger, Aichhorn u. Leeb, 2011, S. 570 f.) in ein Rahmenmodell, das des Synergetischen Prozessmanagements (SPM) eingebracht. Dieser Ansatz wird im Folgenden für die Beratung modifiziert (siehe Abb. 4). Die Grundlage für das SPM bilden der bereits erläuterte Theoriekern der Synergetik »sowie der mathematische Formalismus der Theorie komplexer dynamischer Systeme, auf den sich die Synergetik bezieht« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 441). Dabei erleichtert die Korrespondenz © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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zwischen den formal-mathematischen und den qualitativ verbalen Ausführungen das Verständnis und die Nachvollziehbarkeit des Konzepts. Um diese Metatheorie für konkrete Anwendungen fruchtbar zu machen, ist eine Anreicherung durch bereichs- bzw. disziplinspezifische Theorien4 notwendig. Dies betrifft in Bezug auf die arbeitsweltbezogene Beratung von Personen unter anderen Berufswahltheorien, Theorien über Karrierewege, über Strukturen des Bildungssystems und des Arbeitsmarktes. Bei der organisationsbezogenen Beratung geht es hier zum Beispiel um Theorien über Organisationen, deren Strukturen, Abläufe und Kulturen, um Führungstheorien sowie um Konzepte zur Organisationsentwicklung. Während die Synergetik die Grundlage für die allgemeine Analyse von Prozessen der Selbstorganisation darstellt, beziehen sich die bereichsspezifischen Theorien auf die Inhalte und gegenstandsbezogenen Ziele der Veränderung, zum Beispiel die berufliche Neuorientierung einer Führungskraft oder die Einführung abteilungsübergreifender Kooperation in einer Organisation. Die Anreicherung um bereichsspezifische Theorien ist insofern wichtig, weil das Gesamtmodell damit zugleich prozess- und inhalts- bzw. ergebnisbezogen ausgelegt ist. Hinzu kommt für die Beratung, dass bereichsspezifisches Wissen dort zum Teil auch explizit vermittelt wird, zum Beispiel Informationen über die Arbeitsmarktsituation in der personenbezogenen Beratung oder über Projektmanagementtools in der organisationsbezogenen. Das SPM-Modell, das von Haken und Schiepek zunächst für die Therapie entworfen wurde, sieht nach der Ebene der bereichsspezifischen Theorien die Ableitung von Hypothesen vor, die mit geeigneten Messverfahren einer empirischen Prüfung unterzogen werden (vgl. Schiepek et al., 2011, S. 571 f.). Zur Erfassung von Mustern eignen sich verschiedene Verfahren, die eine Darstellung der Funktionsweise und der Vernetzungsstrukturen der jeweils interessierenden Systeme ermöglichen (vgl. Schiepek et al., 2011, S. 571). Hierzu zählen Verfahren wie 4

Wir bevorzugen im Folgenden den Begriff »bereichsspezifisches Wissen« aufgrund der Überzeugung, dass für die Erforschung einzelner Beratungsbereiche unterschiedliche Disziplinen heranzuziehen sind. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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die idiographische Systemmodellierung (s. Näheres dazu im Beitrag von Thiel u. Schiersmann in diesem Band), das Ratinginventar Lösungsorientierter Interventionen (RLI)5 oder ein Ressourceninterview (vgl. Schiepek u. Cremers, 2003). Mit Hilfe dieser Vorgehensweisen können die K-E-V-Muster der am Veränderungsprozess Beteiligten in ihrem Lebensumfeld oder in der Interaktion mit dem Therapeuten beschrieben werden (vgl. Schiepek et al., 2011, S. 571). Es entwickelt sich auf dieser Basis ein Orientierungswissen und eine Orientierungskompetenz auf Seiten der Berater. Von dieser Ebene der Datenerhebung werden bei Haken und Schiepek (2010, S. 442) die Ebenen des Handlungswissens und der Handlungskompetenz sowie der »prozessualen Organisation« unterschieden, bei der es um die Gestaltung des Interventionsprozesses seitens des Therapeuten geht. Diese orientiert sich an den generischen Prinzipien, die wiederum als Filter für die Auswahl je fallspezifischer und vom Können und von der Vorliebe der Berater abhängiger Interventionstechniken, Fragestile etc. dienen (Interventionsmethoden-Pool). Dabei wird vorausgesetzt, dass Therapeuten (Berater) in der Regel über ein Repertoire an spezifischen Techniken verfügen. Da die Therapeuten (Berater) bei der Gestaltung des Beratungsprozesses auf unterschiedliche »Schulen« zurückgreifen können, bezeichnen Haken und Schiepek (2010, S. 444) das »synergetische Prozessmanagement auf der Ebene der Interventionsmethoden – und nur auf dieser! – als eklektisch«. Sie weisen jedoch zugleich darauf hin, dass »man bei der Anwendung therapeutischer Techniken im SPM sensibel dafür sein sollte, dass die verschiedenen therapeutischen bzw. beraterischen Werkzeuge in ihrem ursprünglichen ›Verwertungszusammenhang‹ in bestimmten kognitiven und emotionalen Kontexten von Überzeugungen und Erklärungsmodellen stehen, die man eventuell nicht mit übernimmt oder verändert« (Schiepek et al., 2011, S. 572). 5

Beim RLI handelt es sich um ein Erhebungsinstrumentarium, das eine graphische Darstellung des Therapeutenverhaltens ermöglicht und sich schwerpunktmäßig an einem lösungsorientierten Beratungskonzept orientiert. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Die Orientierung an der Theorie der Selbstorganisation zeigt, »dass ein eklektisches Vorgehen auf der technischen Ebene keineswegs theorielos und methodisch inkohärent sein muss« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 449). Die theoretische Kohärenz liegt auf der Ebene des stattfindenden biopsychosozialen Selbstorganisationsprozesses und nicht (primär) auf der Ebene der eingesetzten Techniken. So nimmt das SPM eine von den Therapieschulen unabhängige Position ein, ohne dabei auf wertvolle Erfahrungen und Befunde über die Wirkung verschiedenster Behandlungsmethoden verzichten zu müssen (vgl. Schiepek et al., 2011, S. 572). Die Unabhängigkeit des SPM gegenüber klassischen Therapieschulen beruht darauf, »dass die Synergetik als generelle Theorie von Veränderungs- und Innovationsprozessen auf eine erheblich allgemeineren und auch abstrakt-formaleren Ebene ansetzt als übliche Psychotherapietheorien« (Schiepek et al., 2011, S. 572). Für den Bereich der Beratung schlagen wir vor, die Ebenen der Datenerhebung und der Intervention nicht so strikt voneinander zu trennen, sondern von einem Gesamtkonstrukt der Gestaltung und empirischen Analyse der Beratungsprozesse auszugehen. Dafür spricht auf einer allgemeinen Ebene die Einsicht – die als Allgemeingut angesehen werden kann –, dass jede Analyse auch bereits eine Intervention darstellt. Darüber hinaus ist das Bestreben anzuführen, Analyse und Gestaltung als einen gemeinsam mit den Ratsuchenden zu gestaltenden Prozess zu konzipieren. So wird die Feststellung der Grenzen des zu beobachtenden und zu verändernden Systems auf der biologischen, psychischen sowie sozial-interaktionellen Ebene gemeinsam mit den Ratsuchenden vorgenommen. Ebenso wird in der Beratung der zweite Schritt, die Identifizierung von Kognitions-, Emotions- und Verhaltensmustern, die bei Haken und Schiepek (2010, S. 442) ebenfalls der Ebene der Datenerhebung zugeordnet wird, kooperativ mit einer einzelnen ratsuchenden Person, einem Team, einer Abteilung oder einer Organisation erarbeitet, zum Beispiel durch idiographische Systemmodellierungen, Kraftfeldanalysen oder Ressourceninterviews. Dies schließt keineswegs aus, die dadurch gewonnenen Daten bzw. die identifizierten Muster auch analytisch auszuwerten. Auch Schiepek und andere © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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(2011, S. 571) betonen, dass Ergebnisse der Datenerhebung im Sinne eines Real-Time-Monitoring bzw. der Praxisforschung zeitnah und immer wieder an die Klienten/Ratsuchenden rückgekoppelt werden sollen. Der Klient soll in das Prozessfeedback und in die Auswertung der Verlaufsanalysen aktiv einbezogen werden. Ziel ist die Förderung einer partnerschaftlichen Kooperation, »in der der Patient sein eigener Prozessgestalter wird und die Prozessteuerung zunehmend selbst in die Hand nimmt« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 445). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich dieser Sachverhalt in positiver Weise sowohl auf das Selbstwirksamkeitserleben des Klienten und sein Selbstwertgefühl sowie die Therapie-/Beratungsbeziehung auswirkt (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 445). Durch die Prozessdokumentation und die kooperative Beteiligung der Ratsuchenden an der Prozessgestaltung wird eine hohe Transparenz des Vorgehens (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 448) und – aus Forschersicht – eine Datenerhebung in Ko-Produktion zwischen Beratern und Ratsuchenden erreicht (vgl. Haubl, 2009). Aus diesen Überlegungen ergibt sich das in der Abbildung 4 dargestellte SPM für das Feld der personen- und organisationsbezogenen Beratung. Das SPM-Modell impliziert auch eine Evaluation von Therapie bzw. Beratung – zunächst auf der Ebene der jeweiligen Einzelfälle, deren Auswertung sich dann bei einer hinreichenden Zahl von Fällen zu verallgemeinerbaren Aussagen verdichten ließen (s. dazu Kap. 4.5). Auf dieser Basis können Stärken und Schwächen des Beratungsverlaufs identifiziert werden, Prozesse und der Einsatz verfügbarer Ressourcen im Beratungsalltag optimiert werden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 445 f.; Schiepek et al., 2011, S. 572 f.). Die Auswertungen der Erfahrungen können und sollten schließlich in ein Qualitätsmanagementkonzept der Beratungsorganisation einfließen (s. den untersten Kasten in der Abb. 4). Die Erfahrungen und Ergebnisse dieser Analyse von Beratungsprozessen können auf verschiedene Ebenen des SPM-Modells zurückwirken (s. die Feedbackpfeile in Abb. 4) und sowohl zur weiteren Verbesserung des praktischen Handelns als auch zur Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen genutzt werden (vgl. Schiepek et al., 2011, S. 572 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 4: Synergetisches Prozessmanagement für die Beratung

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5 Forschungsausblick: Empirische Analyse von Beratungssituationen anhand der generischen Prinzipien Es wurde herausgearbeitet, dass sich die generischen Prinzipien – unter Berücksichtigung eines Phasenmodells – eignen, um einen Beratungsprozess so zu gestalten, dass er den Selbstorganisationsprozess fördert. Um diese Überlegungen empirisch zu validieren, ist es notwendig, Beratungsprozesse in ihrem Verlauf auch anhand dieser Kriterien zu analysieren. Dazu wurde von den Autoren dieses Beitrags der Versuch unternommen, die generischen Prinzipien zu operationalisieren und auf dieser Basis Items für Erhebungen zu entwickeln (s. für organisationsbezogene Beratung den Beitrag von Thiel und Schiersmann in diesem Band). Im Folgenden werden drei Varianten einer Erhebung der Umsetzung der generischen Prinzipien in einer Übersicht einander gegenüber gestellt: • Einschätzung durch die Berater, • Einschätzung durch die Ratsuchenden, • Rating durch Beobachter (auf der Basis von Video- oder Audioaufzeichnungen), Als Grundlage für die Erstellung der Items wurden die folgenden Erhebungsbögen einbezogen: • Therapieprozessbogen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 363), • Therapiesitzungsbogen für Patienten und Therapeuten (vgl. Tschacher u. Endtner, 2007, Anhang), • Stundenbogen für die Allgemeine und Differentielle Einzelpsychotherapie (vgl. Krampen, 2002), • Ratinginventar lösungsorientierter Interventionen RLI (vgl. Schiepek, Honermann, Müssen u. Senkbeil, 1997), • Lösungsorientierter Stundenbogen (vgl. Bamberger, 2010, S. 311 ff.), • Dokumentationsbogen zur Umsetzung der Generischen Prinzipien (DUGEP) (vgl. Paukert, 2011). Das Ziel bestand allerdings eindeutig darin, die generischen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Prinzipien zu operationalisieren, die Items aus anderen Erhebungsbögen dienten vorrangig als Formulierungshilfe. Bei der Ausgestaltung der Erhebungsbögen haben wir uns von folgenden Prinzipien leiten lassen: • Die Erhebungsinstrumente sollen »alltagstauglich« sein, das heißt, dass sie (neben ihrem Einsatz in größeren Forschungsprojekten) auch von Praktikern anwendbar sein sollten. Dies bedeutet insbesondere, dass die Sprache auch für Ratsuchende verständlich sein muss und möglichst nur eindeutige und klar definierte Begriffe verwendet werden. Dies erfordert weiter, dass die Zahl der Items gering gehalten werden muss, damit die Ratsuchenden (und Berater) bereit sind, im Anschluss an eine Beratungssitzung den Erhebungsbogen auszufüllen. • Die Items sollten für die Beratenden, die Ratsuchenden und Rater möglichst einen identischen Sachverhalt erfassen, wenngleich sie aus unterschiedlicher Perspektive formuliert werden, damit auch sprachlich leichte Differenzen aufweisen und insbesondere für die Ratsuchenden frei von Fachtermini sein müssen. • Es wird angestrebt, die Interaktionsperspektive zu erfassen, das heißt, den Beratungsprozess als Interaktion zwischen Beratern und Ratsuchenden zu treffen. Wie die Tabelle 2 zeigt, können die sinngemäß gleich formulierten Items in einer Befragung von Beratern und Ratsuchenden (am Ende einer Beratungssitzung) beantwortet werden. Eine Triangulation der Datenerhebung kann dadurch erreicht werden, dass der abgelaufene Prozess durch einen neutralen Beobachter (auf der Basis von Audio- oder Videodokumenten) systematisch analysiert wird. Setzt man diese Erhebung zu verschiedenen Zeitpunkten ein, ergibt sich ein Einblick in den Prozessverlauf. Bis auf wenige Items – die in der Übersicht durch ein Sternchen gekennzeichnet sind – können die Ratsuchenden den gleichen Erhebungsbogen auch zwischen den Beratungssitzungen ausfüllen, denn auch in der alltäglichen Lebenssituation können sich – ja dies ist geradezu wünschenswert – selbstverständlich Übergänge von einem Muster zu einem anderen vollziehen. So © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

Berater

Ratsuchende nach einer Beratungssitzung sowie zwischen Beratungssitzungen

Es besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Berater und mir. Die Vertraulichkeit des Beratungsgeschehens ist geklärt.

Es besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Berater und Ratsuchenden. Die Vertraulichkeit des Beratungsgeschehens ist geklärt.

Es wird an den Fähigkeiten und Mir sind meine Fähigkeiten und Stärken zur Klärung des Anliegens Erfahrungen des Ratsuchenden angeknüpft. deutlich geworden.

Ich habe an die Fähigkeiten und Erfahrungen des Ratsuchenden angeknüpft.

1.2 Selbstwertunterstützung

1.3 Es besteht ein Emotionale Sicherheit Vertrauensverhältnis zwischen dem Ratsuchenden und mir. Vertrauen Die Vertraulichkeit des Beratungsgeschehens ist geklärt.

Der Berater und ich haben sich verständigt über das Anliegen/das Thema der Beratung, den Zeithorizont und Umfang der Beratung, die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit die Rolle des/der Berater(s)*.

Ich habe mich mit dem Ratsuchenden verständigt über das Anliegen/das Thema der Beratung, den Zeithorizont und Umfang der Beratung, die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit, die Rolle des/der Berater(s).

Berater und Ratsuchende haben sich verständigt über das Anliegen/das Thema der Beratung, den Zeithorizont und Umfang der Beratung, die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit, die Rolle des/der Berater(s).

Rater

1.1 Strukturelle Sicherheit

1. Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse schaffen

Wirkprinzip

Tabelle 2: Items zu Selbstorganisation fördernden Wirkprinzipien für die personenbezogene Beratung – für Berater, Ratsuchende und Rater

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Berater

Es ist mir gemeinsam mit dem Ratsuchenden gelungen, typische Abläufe, Regeln und Zusammenhänge im System herauszuarbeiten.

Es ist mir gemeinsam mit dem Ratsuchenden gelungen, systemexterne Einflussfaktoren, die das bisherige Muster stabilisieren und Veränderungsprozesse behindern können, zu identifizieren.

2.2 Muster des Denkens, Erlebens und Handelns

2.3 Systemexterne Einflussfaktoren

2. Das System und dessen Muster identifizieren 2.1 Es ist mir gemeinsam mit dem Systemgrenze Ratsuchenden gelungen, das Beratungssystem mit seinen Teilen/ Subsystemen zu definieren.

Wirkprinzip

(Fortsetzung) Rater

Mir ist deutlich geworden, welche externen Einflussfaktoren mein bisheriges Verhalten stabilisieren und einen Veränderungsprozess behindern können.

Mir sind die in Bezug auf mein Anliegen typischen Abläufe, Regeln und Zusammenhänge deutlich geworden.

Systemexterne Einflussfaktoren, die das bisherige Muster stabilisieren und Veränderungsprozesse behindern können, sind identifiziert.

Typische Abläufe, Regeln und Zusammenhänge im System sind herausgearbeitet.

Mir ist deutlich geworden, was Das Beratungssystem mit seinen alles in meiner Situation betrachtet Teilsystemen ist definiert. werden muss.

Ratsuchende nach einer Beratungssitzung sowie zwischen Beratungssitzungen

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Berater

Die gemeinsam mit dem Ratsuchenden entwickelten Ziele werden von diesem als stimmig mit seinen persönlichen Lebensvorstellungen empfunden.

Die herausgearbeiteten Ziele werden vom Ratsuchenden als stimmig mit seinen persönlichen Lebensvorstellungen empfunden.

Die Veränderungsziele empfinde ich als stimmig mit meinen persönlichen Lebensvorstellungen.

4.1 Veränderungsmotivation stärken

Ich habe dazu beigetragen, die Motivation des Ratsuchenden für eine Veränderung zu stärken.

Meine Motivation für eine Veränderung ist gestärkt.

Die Motivation für eine Veränderung ist gestärkt.

Visionen und Ziele des Veränderungsprozesses sind entwickelt.

Rater

Visionen und Ziele in Bezug auf mein Anliegen sind mir klar.

Ratsuchende nach einer Beratungssitzung sowie zwischen Beratungssitzungen

4. Energetisierung ermöglichen/Kontrollparameter identifizieren

3.2 Selbstkonzept

3. Visionen und Ziele entwickeln/Sinnbezug herstellen 3.1 Es ist mir gelungen, Visionen und Ziele gemeinsam mit dem Ratsuchenden Visionen und Ziele des Veränderungsprozesses zu entwickeln.

Wirkprinzip

(Fortsetzung)

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Ratsuchende nach einer Beratungssitzung sowie zwischen Beratungssitzungen

Es ist mir gemeinsam mit dem Mir ist klar, welche externen FakRatsuchenden gelungen, Faktoren toren mich zur Veränderung anvon außerhalb des relevanten Sys- regen. tems zu identifizieren, die dieses zur Veränderung anregen.

Berater

Ich habe dem Ratsuchenden rele- Ich habe relevante Informationen Es wurden relevante Informatiovante Informationen für die Bear- für die Bearbeitung meines Anlie- nen vermittelt. beitung seines Anliegens vermit- gens erhalten. telt.

Es ist klar, wie die nächsten Schritte zur Zielerreichung aussehen.

Mir ist klar, wie die nächsten Schritte zur Zielerreichung aussehen.

5.2 Informationsvermittlung

Es sind andere Blickwinkel auf das Anliegen eröffnet worden.

Mir sind andere Blickwinkel auf das Anliegen deutlich geworden.

Es ist mir gemeinsam mit dem Ratsuchenden gelungen, andere Blickwinkel auf das Anliegen zu eröffnen. Ich habe gemeinsam mit dem Ratsuchenden herausgearbeitet, wie die nächsten Schritte zur Zielerreichung aussehen.

Faktoren von außerhalb des Systems, die dieses zur Veränderung anregen, sind identifiziert/erkannt.

Rater

5.1 Neue Blickwinkel und nächste Schritte

5. Destabilisierung/Fluktuationsverstärkungen anregen

4.2 Systemexterne Einflussfaktoren

Wirkprinzip

(Fortsetzung)

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Es ist mir gemeinsam mit dem Ratsuchenden gelungen, systemexterne Einflussfaktoren zu erkennen, die den Veränderungsprozess fördern. Es ist mir gemeinsam mit dem Ratsuchenden gelungen, systemexterne Einflussfaktoren zu erkennen, die den Veränderungsprozess behindern.

Berater

Ich konnte dazu beitragen, dass der Ratsuchende in der Lage ist, das neue Muster im Denken, Fühlen und Verhalten zumindest ansatzweise zu realisieren.

6. Symmetriebrechung unterstützen

5.3 Systemexterne Einflussfaktoren

Wirkprinzip

(Fortsetzung)

Der Ratsuchende ist in der Lage, das neue Muster im Denken, Fühlen und Verhalten zumindest ansatzweise zu realisieren.

Systemsexterne Einflussfaktoren, die den Veränderungsprozess behindern, sind identifiziert worden.

Mir ist klar, welche externen Faktoren meinen Veränderungsprozess behindern.

Ich bin in der Lage, das neue Muster im Denken, Fühlen und Verhalten zumindest ansatzweise zu realisieren.

Systemexterne Einflussfaktoren, die den Veränderungsprozess fördern, sind identifiziert worden.

Rater

Mir ist klar, welche externen Faktoren meinen Veränderungsprozess fördern.

Ratsuchende nach einer Beratungssitzung sowie zwischen Beratungssitzungen

Beratung als Förderung von Selbstorganisationsprozessen

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Berater

Ratsuchende nach einer Beratungssitzung sowie zwischen Beratungssitzungen

Ich bin sicher, dass ich die neuen Der Ratsuchende ist sich sicher, dass er die neuen HandlungsweiHandlungsweisen auch in ähnlichen Situationen anwenden kann. sen auch in ähnlichen Situationen anwenden kann.

Ich konnte Unterstützung dafür geben, dass der Ratsuchende das Gelernte in Zukunft auch in ähnlichen Situationen anwenden kann.

7.3 Transfer auf andere Situationen

Systemexterne Einflussfaktoren, die eine verlässliche Umsetzung des Gelernten in den Alltag unterstützen oder behindern, sind erkannt.

Mir ist klar, welche systemexternen Einflussfaktoren eine verlässliche Umsetzung des Gelernten in den Alltag befördern oder behindern.

Es ist mir gemeinsam mit dem Ratsuchenden gelungen, systemexterne Einflussfaktoren zu erkennen, die eine verlässliche Umsetzung des Gelernten in den Alltag unterstützen oder behindern.

Die neuen Handlungsweisen werden verlässlich und routiniert im Alltag umgesetzt. (Das neue Muster ist stabil.)

Rater

7.2 Systemexterne Einflussfaktoren

7. Restabilisierung sichern 7.1 Ich konnte dazu beitragen, dass Ich kann die neuen HandlungsUmsetzung in den der Ratsuchende die neuen Hand- weisen verlässlich und routiniert Alltag lungsweisen verlässlich und routi- im Alltag umsetzen. niert im Alltag umsetzen kann.

Wirkprinzip

(Fortsetzung)

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Berater

Ich habe Methoden und Gesprächsstile genutzt, die geeignet sind, die Wirkprinzipien umzusetzen.

* nur nach den Beratungssitzungen zu beantworten

8.2 Wirkprinzipien

8. Resonanz beachten/ Synchronisation herstellen 8.1 Die von mir eingesetzten MethoAufnahmebereitden und Gesprächsstile entspraschaft chen der aktuellen Aufnahmebereitschaft des Ratsuchenden.

Wirkprinzip

(Fortsetzung)

Die vom Berater eingesetzten Methoden und Gesprächsstile entsprachen meiner aktuellen Aufnahmebereitschaft.

Ratsuchende nach einer Beratungssitzung sowie zwischen Beratungssitzungen

Die eingesetzten Methoden und Gesprächsstile sind geeignet, die Wirkprinzipien umzusetzen.

Die eingesetzten Methoden und Gesprächsstile entsprechen der aktuellen Aufnahmebereitschaft des Ratsuchenden.*

Rater

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kann auch in der Beratung – wie in der Therapie (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 654 ff.) – eine möglichst dichte Prozesserfassung durch viele Messzeitpunkte realisiert werden. Für eine konkrete Prozesserfassung sind die Items in einen Erhebungsbogen zu transferieren, der zum Beispiel mit einer Fünfer-Skala von »stimmt überhaupt nicht« bis »stimmt ganz genau« versehen wird. In Bezug auf das Rating (von Audio- bzw. Videoaufnahmen) gibt es zwei Varianten, um Kodiereinheiten festzulegen. Eine besteht darin, eine zeitliche Einheit zu definieren (z. B. alle zwei Minuten), die andere darin, sich an Sinneinheiten zu orientieren, zum Beispiel einem Gedankengang, einer Episode, einer Intervention des Beraters oder einer Phase eines umfangreicheren Prozesses (s. dazu den Fall 2 im Beitrag von Thiel u. Schiersmann in diesem Band). Bei der Analyse von Beratungssituationen sollten neben den prozessbezogenen Items, die auf den generischen Prinzipien basieren, weitere Daten erhoben werden, und zwar zum einen solche, die sich aus den bereichs- und disziplinspezifischen Theorien ableiten lassen (z. B. in Bezug auf die personenbezogene Beratung Aspekte der Ausbildungssituation, von Führungsverhalten, in Bezug auf die organisationsbezogene Beratung Items zur Struktur der Organisation, der Marktsituation etc.). Zum anderen geht es um Items, die sich auf den je spezifischen Fall und das individuelle bzw. organisationale Anliegen beziehen (z. B. bei der organisationsbezogenen Beratung Fragen zur Bewertung der abteilungsspezifischen bzw. abteilungsübergreifenden Kooperation, s. dazu den Beitrag von Thiel u. Schiersmann in diesem Band oder bei der personenbezogenen Beratung Items zum persönlichen Ziel in Bezug auf Führung oder Aufstieg). So werden auch der Anlass der Beratung sowie die Kontextbedingungen (s. Modell zur systemischen Beratung, Abb. 1) abgedeckt und es wird möglich, neben der Analyse des Prozesses des Ordnungsübergangs auch die Frage zu beantworten, inwiefern die inhaltlichen Veränderungsziele erreicht werden. Auf diese Weise kann ein anspruchsvolles Konzept einer Prozess-Outcome-Forschung für die Beratung entstehen. Derartige Erhebungen können unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die Auswertung kann © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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• der Selbstreflexion des Beraters dienen, • in kollegiale oder professionelle Supervision einfließen, • auch für den Ratsuchenden eine selbstreflexive Funktion haben, • eine Basis für eine gemeinsame Reflexion von Beratern und Ratsuchenden bilden, aus der die nächsten Schritte im Veränderungsprozess abgeleitet werden, • aus Forschersicht die Basis bieten, um zunächst idiosynkratisch einzelne Beratungsverläufe zu erheben und auszuwerten und daraus gegebenenfalls auf einer breiteren Datenbasis gewisse Verallgemeinerungen vorzunehmen. Das in Tabelle 2 dargestellte Erhebungsinstrument wird zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung getestet. Ein erster Einsatz hat interessanterweise gezeigt, das Ratsuchende und Berater den abgelaufenen Prozess in der Beratungssitzung durchaus unterschiedlich einschätzen. Die Datenbasis ist im Moment noch sehr schmal, aber sie verdeutlicht, dass es sich bei der Beschreibung der Prozesse um soziale Konstruktionen handelt. Paukert (s. den Beitrag in diesem Band) hat mit vergleichbaren Erhebungsbögen auf der Basis der generischen Prinzipien den Kompetenzzuwachs von Beratern in Ausbildungssituationen erhoben. Methodisch einen Schritt weiter in der empirischen Analyse von Therapieverläufen sind Haken und Schiepek (2010) gegangen. Sie haben ein spezielles Softwareprogramm, das Synergetische Navigationssystem (SNS,) entwickelt, um die Prozesse der Veränderung zeitnah erfassen zu können (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 444, s. dazu auch den Beitrag von Schiepek u. Eckert in diesem Band). Beim SNS handelt es sich um ein elaboriertes, softwarebasiertes Instrumentarium zur Dokumentation, Analyse und Gestaltung von Veränderungsprozessen in komplexen Systemen auf der Basis der Synergetik. Es hilft, durch die Turbulenzen selbstorganisierender Prozesse zu navigieren – daher der Name (vgl. Schiepek, 2008, S. 1144). Dieses Konzept für das Echtzeit-Monitoring psychotherapeutischer Veränderungsprozesse bildet deren nichtlineare Dynamik und die dabei auftretenden Instabilitäten und Ordnungsübergänge ab (vgl. Schiepek et al., 2011, S. 569). Es ermöglicht die zeitnahe Intervention, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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angesichts der Tatsache, dass offenbar auch erfahrene Therapeuten ohne ein solches Instrumentarium Verschlechterungen im Therapieverlauf nicht rechtzeitig genug erkennen, um adäquat darauf zu reagieren (vgl. Schiepek, 2009, S. 300). Der Transfer des SNS auf die personen- sowie organisationsbezogene Beratung stellt eine forschungsmethodische und alltagspraktische Herausforderung dar. Beratungen werden in eher langen Abständen durchgeführt und Ratsuchende – im Gegensatz zu Patienten in der stationären Psychiatrie, mit denen das SNS bisher mit täglichen Messzeitpunkten getestet wurde – bleiben in ihren Lebensalltag mit all seinen (zeitlichen) Verpflichtungen eingebunden. Noch einmal komplexer stellt sich die Situation in der organisationsbezogenen Beratung dar, weil dort in der Regel verschiedene Teilsysteme am Veränderungsprozess beteiligt sind. Diese veränderte Situation schließt gleichwohl einen modifizierten Einsatz des SNS im Interesse anspruchsvoller Prozess-Outcome-Studien nicht aus.

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Günter Schiepek und Heiko Eckert

Monitoring und Evidenzbasierung von Beratungsprozessen

1 Einleitung Innovative Entwicklungen in der Beratungswissenschaft bemühen sich derzeit um eine schulen- und formatunabhängige Konzeption von Beratungsprozessen (Schiersmann u. Thiel, 2011, sowie mehrere Beiträge in diesem Band). Dies kann als sinnvoll gelten, da mit einem entsprechenden Metamodell einerseits eine Erklärung für das Funktionieren von Beratungsprozessen geliefert werden könnte – einschließlich zahlreicher damit verbundener empirischer Fragestellungen und Hypothesen, welche sich in der Beratungsforschung als fruchtbar erweisen sollten – und andererseits eine Flexibilität und Kalibrierbarkeit des Vorgehens möglich wird, welches sich dann auf unterschiedliche Formate und Settings einstellen lässt. Derartige Entwicklungen können sich auf Befunde und Diskussionen in einem benachbarten Gebiet berufen, in dem sich die Überwindung einzelner Schulen seit mindestens zwei Jahrzehnten abzeichnet, nämlich die Psychotherapie bzw. die Psychotherapieforschung. Deren professionelle Aufgabenstellung ist zwar nicht direkt auf die Beratungspraxis übertragbar, aber der dortige Forschungsstand dürfte für die Beratung sicher heuristisch fruchtbar sein. Einige Aspekte seien daher kurz angesprochen, und der Leser sei aufgefordert, »Therapie« einfach durch »Beratung« zu ersetzen.

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Günter Schiepek und Heiko Eckert

2 Ein kleiner Exkurs in die Psychotherapieforschung In zahlreichen Studien und Metaanalysen wurde deutlich, dass der Beitrag von Interventionen und Behandlungstechniken zum Therapieergebnis relativ gering ist (Lambert u. Ogles, 2004; Wampold, 2010). Behandlungstechniken aber gehören neben Menschenbild und Persönlichkeitskonzepten zu den wesentlichen Identitätsmerkmalen von Schulen (Therapie- wie Beratungsschulen). Andere Wirkfaktoren wie Therapeutenmerkmale, Qualität der professionellen Beziehung, Setting, soziales Umfeld und insbesondere Klientenmerkmale (voran die intrinsische Veränderungsmotivation, zudem Persönlichkeit, Ressourcen und Kompetenzen, Komorbidität, Chronifizierung usw.) tragen wesentlich mehr zum Behandlungserfolg oder -misserfolg bei als Technikvariablen (vgl. die Übersichten von Duncan, Miller, Wampold u. Hubble, 2010; Lambert, 2004). Allerdings fehlen bislang immer noch klare systemische Modelle über das Zusammenwirken dieser Faktoren. In eine ähnliche Richtung zielt die hartnäckig replizierte Feststellung wenig unterschiedlicher Effekte konzeptionell sehr unterschiedlicher Behandlungsansätze (sog. Dodo-Bird-Effekt), wenn sie als ernstzunehmende und einigermaßen kompetent durchgeführte Heilbehandlungen (sog. »Bona-fide-Therapien«) angeboten werden und wenn Aspekte wie die selektive Identifiziertheit der beteiligten Forscher und Therapeuten mit den untersuchten Ansätzen (sog. »allegiance«) und die daraus resultierenden Biases kontrolliert werden (z. B. Wampold, 2001, 2010). Seltener zitiert, aber trotzdem erwähnenswert sind ältere Meta-Analysen, welche die Vergleichbarkeit der Effekte von Laientherapie und professioneller Psychotherapie deutlich machen (Gunzelmann, Schiepek u. Reinecker, 1987). Hochaktuell und zahlenmäßig schnell zunehmend dagegen sind Studien zu »sudden gains« oder »early rapid responses«, welche sowohl zeigen, dass Veränderungen in der Psychotherapie oft diskontinuierlich und sprunghaft statt linear und sukzessive stattfinden, als auch, dass sie paradoxerweise häufig vor und nicht während oder nach den eingesetzten Interventionen auftreten (Heinzel, Tominschek u. Schiepek, 2011; Stiles et al., 2003; Stulz, Lutz, Leach, Lucock u. Barkham, 2007). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Solche Befunde setzen relativ engmaschig erhobene Prozessdaten voraus, wie sie erst seit einigen Jahren vorliegen. Die Routineerfassung von Therapieprozessen ermöglicht nun nicht nur Einblicke in die Muster von Veränderungen, sondern trägt auch wesentlich zur Unterstützung von Veränderungsprozessen bei, zum Beispiel über regelmäßiges Feedback an den Klienten oder die Früherkennung von Verschlechterungen oder Stagnationen mit der Chance rechtzeitiger Korrektur (z. B. Lambert, 2010; Lutz, Böhnke u. Köck, 2010; Schiepek, 2008; Schiepek, Eckert, Bauhofer u. Weihrauch, 2008; Schiepek, Fartacek, Sturm, Kralovec, Fartacek u. Plöderl, 2011b). Forschungsmethodisch bestand ein entscheidender Schritt zur Überwindung des Schulendenkens in der Relativierung von kontrollierten Vergleichsgruppenstudien mit standardisiertem (meist manualisiertem) Vorgehen als »Goldstandard« oder als alleinig dem Anspruch von Wissenschaftlichkeit genügender Methodik. Randomized Controlled Trials (RCTs) wurden nicht nur kritisiert, ihnen wurde vor allem auch eine ernstzunehmende Alternative zur Begründung wissenschaftlicher Psychotherapie an die Seite gestellt, welche auf der Erfassung und mathematischen Analyse von Prozessen und Effekten unter Feld- und Praxisbedingungen beruht. Hierbei spielen internetbasierte Prozessmonitoringsysteme eine große Rolle. Schließlich konnten Metamodelle zur Funktionsweise von Psychotherapie bereitgestellt werden (z. B. Grawe, 1998; Haken u. Schiepek, 2010), welche von einem linearen Input-Outputbzw. Treatment-Effekt-Mechanismus und von der additiven Superponierbarkeit von Einzeleffekten und Einzelmaßnamen absehen. Das Allgemeine Lineare Modell und die dazu korrespondierende RCT-Logik wurden ergänzt durch eine aus dem Bereich der nichtlinearen, komplexen Systeme inspirierten Methodologie des Prozessmonitorings und Prozessfeedbacks. Psychotherapie wird dabei verstanden als ein dynamisches und adaptives Schaffen von Bedingungen für selbstorganisierten Musterwandel im biopsychosozialen System eines Klienten oder Klientensystems (z. B. Gruppe, Team, Organisation). Da solche Selbstorganisationsprozesse in Form von Kaskaden von meist diskontinuierlichen Ordnungsübergängen ablaufen, entspricht dies genau der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Befundlage zu den »sudden gains«. Die Professionalität von Therapie oder eben auch von Beratung und Coaching (als Teilgebiet der Beratung, Schiersmann u. Thiel, 2000, 2009) liegt dabei nicht mehr darin, Interventionen und Beratungstechniken nach einem vorstrukturierten Programm ablaufen zu lassen, sondern die geeigneten Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse von Klienten herzustellen. Diese Bedingungen werden in Form der sogenannten »generischen Prinzipien« konkretisiert (Haken u. Schiepek, 2010, S. 336 – 346; Schiersmann u. Thiel, 2011, und in diesem Band; Wahl, in diesem Band).

3 Beratung als synergetisches Prozessmanagement Fundamentaler noch als die Referenz auf Entwicklungen im Nachbargebiet Psychotherapie ist die systemische Konstitution des Menschen. Auf unterschiedlichen Ebenen – vom Gehirn eines Individuums bis hin zu ganzen Gesellschaften – funktioniert das Menschsein in vernetzten Systemen, deren Teile (wie auch immer man diese auf den einzelnen Ebenen definiert) in nichtlinearer Weise interagieren. Die von diesen Humansystemen generierten Prozesse sind damit ebenso nichtlinear, und Selbstorganisation, also die spontane Entstehung und Veränderung von Mustern, ist ein allgegenwärtiges Phänomen (s. zahlreiche Beispiele in Haken u. Schiepek, 2010; Mainzer, 1997, 1999; Strunk u. Schiepek, 2006). Beratung lässt sich damit als ein Management von Selbstorganisationsprozessen der relevanten biologischen, psychischen und/oder sozialen Systeme des Klienten konzeptualisieren (Abb. 1), an dem sich Berater und Klient gleichermaßen beteiligen. Ausgangspunkt dieses Konzepts ist der Theoriekern der Synergetik (Synergetik ist die Wissenschaft komplexer, selbstorganisierender Systeme) sowie der mathematische Formalismus der Theorie komplexer dynamischer Systeme, auf den sich die Synergetik bezieht und den sie sich zu Nutze macht (Haken, 2004). Um konkrete Spezifizierungen des formalen Theoriekerns für bestimmte Anwendungen zu erzeugen, muss eine Anreicherung durch Zusatzannahmen und phänomenspezifische Bezüge erfolgen. Erst eine solche »Kernerweiterung« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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führt zu prüfbaren Theorien für intendierte Anwendungen, zum Beispiel für psychotherapeutische Veränderungsprozesse oder die Dynamik von Neuronenpopulationen (zur strukturalistischen Theorienauffassung s. Stegmüller, 1973; Westmeyer, 1992). Hierzu ist ein Zugriff auf phänomenspezifisches Wissen notwendig. Nach einer phänomenbezogenen Kernerweiterung ist die Ableitung von Hypothesen möglich, welche nach geeigneten Operationalisierungen und mit geeigneten Messverfahren einer Testung unterzogen werden können. Notwendiges Instrumentarium für die Aufbereitung, Darstellung und Analyse von Messergebnissen, die unter Nutzung von Verfahren des RealTime-Monitoring meist in Form von Zeitreihen vorliegen, ist das Methodenspektrum der linearen und nichtlinearen Zeitreihenanalyse. Im synergetischen Prozessmanagement kommen eine Reihe von Verfahren zum Einsatz, die eine Darstellung der Funktionsweise und Vernetzungsstrukturen der jeweils interessierenden Systeme ermöglichen. In Abbildung 1 werden sie dem Orientierungswissen und der Orientierungskompetenz des Praktikers zugeordnet. Beispiele sind die idiographische Systemmodellierung (ISM, Schiepek, 1991; Schiepek, Wegener, Wittig u. Harnischmacher, 1998), die Methoden der Plan- und Schemaanalyse (PA, Caspar, 1996) oder die Erfassung von Ressourcen (Ressourceninterview, Schiepek u. Cremers, 2003). Diese Verfahren dienen der Identifikation und Beschreibung von Kognitions-Emotions-Verhaltens-Mustern von Beratungsklienten in ihrem Lebensumfeld oder in der Interaktion mit dem Berater. Entscheidend ist es bei den Fallkonzeptionen, sich über die Grenzen des beobachteten und zu verändernden Systems, über die räumliche und zeitliche Auflösung der Modellbildung und über die betrachtete(n) Systemebene(n) (biologische, psychische, sozial-interaktionelle Ebene) im Klaren zu sein. Weitere Verfahren kommen im Rahmen der Organisationsberatung zum Einsatz (s. König u. Volmer, 2008; Königswieser u. Exner, 2004; Schiersmann u. Thiel, 2000, 2009; Thiel u. Schiersmann, in diesem Band). Ein wesentlicher Aspekt der Orientierungskompetenz besteht darin, Informationen über dynamische Merkmale selbstorgani© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 1: Das Konzept des Synergetischen Prozessmanagements

sierender Prozesse zu erhalten. Die Prozesserfassung mit Verfahren des Real-Time-Monitoring (z. B. dem Synergetischen Navigationssystem, SNS) bietet hierfür verschiedene Funktionen, zum Beispiel die Darstellung von Itemverläufen (Rohwerte) und aggregierten Verläufen (Subskalen) sowie Analysen der dynamischen Komplexität der Zeitreihen. Diese Analysetools dienen zur Stabilitäts- und Kohärenzdiagnostik eines dynamischen Systems (SKD) (zu den Funktionalitäten des SNS s. Schiepek, Zellweger, Kronberger, Aichhorn u. Leeb, 2011a, sowie unten in diesem Beitrag). Die Messfühler in die Dynamik eines Beratungsprozesses müssen sich nicht auf subjektive Einschätzungen beschränken. Beliebige andere Informationen (z. B. von Beratern oder aus dem sozialen Umfeld des Klienten) sind prinzipiell ebenso erfassbar und analysierbar. Verfahren des internetbasierten Real-Time-Monitoring sind ein Herzstück des synergetischen Prozessmanagements, da sie eine datenbasierte Naviga© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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tion durch die Turbulenzen selbstorganisierter Entwicklungsprozesse eines Systems ermöglichen. Natürlich müssen Berater ein Repertoire an Interventionsmethoden und spezifischen Techniken zur Verfügung haben, wie sie in entsprechenden Aus- und Weiterbildungen erlernt werden. Insofern Berater auf die Erfahrungen unterschiedlicher Beratungsansätze zurückgreifen können, dabei aber auch immer ihre eigenen Präferenzen, ihr persönliches Kompetenzprofil und ihren persönlichen Stil berücksichtigen werden, kann man das synergetische Prozessmanagement auf der Ebene der Interventionsmethoden – und nur auf dieser! – als eklektisch bezeichnen. Interventionstechniken dienen der Realisierung der generischen Prinzipien und bieten dem Praktiker innerhalb der funktionellen Äquivalenz mehrerer Techniken für die Realisierung jeweils eines Prinzips Spielräume und Wahlfreiheit. Sensibel sollte man allerdings dafür sein, dass Behandlungstechniken in ihrem ursprünglichen Verwertungszusammenhang in bestimmten Kontexten von Überzeugungen und Erklärungsmodellen stehen, die man eventuell nicht mit übernimmt oder verändert. Die verfügbaren Interventionsmöglichkeiten und Informationen werden vor dem Hintergrund der generischen Prinzipien reflektiert und geprüft, um zu einem klientengerechten, das heißt seinem momentanen Entwicklungs- und Systemzustand entsprechenden Beratungsangebot zu kommen. Die generischen Prinzipien dienen dabei als Filter und Kriterien für kontinuierliche, adaptive »Indikations«-Entscheidungen. Im Hintergrund steht das Modell der »relativ rationalen Rechtfertigung« von Interventionsentscheidungen (Westmeyer, 1979, 1997). In Abbildung 1 ist die Filter- und Screeningfunktion der generischen Prinzipien durch die Pfeile symbolisiert, die vom Real-TimeMonitoring, der diagnostischen Modellierung des Systems (Orientierungswissen auf Grundlage angewandter AssessmentVerfahren) und dem verfügbaren Pool an Interventionsmethoden auf eben die generischen Prinzipien zulaufen. Der Klient wird in das Prozessfeedback und in die Auswertung der Verlaufsanalysen aktiv einbezogen, und zwar in Form regelmäßiger SNS-basierter Beratungsgespräche. Damit entsteht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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eine partnerschaftliche Kooperation, in der der Klient sein eigener Prozessgestalter wird und die Prozesssteuerung zunehmend selbst in die Hand nimmt. Dies sollte sich in positiver Weise auf seine Veränderungsmotivation, sein Selbstwirksamkeitserleben und sein Selbstwertgefühl sowie auf die Beratungsbeziehung auswirken. Die SNS-basierte Prozessdokumentation und Prozessanalyse schließen auch die Evaluation von Beratungseffekten ein. Zu beliebigen Messzeitpunkten können Fragebögen vorgelegt und soziodemographische wie therapiebezogene Daten erfasst werden (z. B. beim Erstkontakt, bei Beratungsbeginn, bei Beratungsende, und zu Follow-up-Zeitpunkten). Die Evaluationsergebnisse fließen in das Qualitätsmanagement der Beratungspraxis ein und werden zur Grundlage weiterer Optimierung. Das SNS kann eine vollständige Aufzeichnung des Beratungsverlaufs und seiner Ergebnisse liefern, wobei Einzelfalldaten aggregiert und zu Gruppenstatistiken zusammengefasst werden können. Prozess-Outcome-Forschung wird damit in ökologisch valider Weise im konkreten Praxissetting möglich. Die Ergebnisse und Erfahrungen wirken auf verschiedene Komponenten und Ebenen des Modells zurück und lassen sich sowohl zur weiteren Verbesserung praktischen Handelns als auch zur Bearbeitung wissenschaftlicher Fragestellungen nutzen (Feedbackpfeile in Abb. 1).

4 Die Bedeutung des Prozessmonitorings in der Beratungspraxis Der Einsatz von Real-Time-Monitoringsystemen kann als ein zentrales Element des synergetischen Prozessmanagements gelten. Dies trifft einmal mehr zusammen mit Forderungen aus der Psychotherapieforschung, Verfahren des Prozessmonitorings in der psychotherapeutischen Routinepraxis einzusetzen (z. B. Lambert, 2010; Lutz et al., 2010), zumal in verschiedenen Studien gezeigt werden konnte, dass sich Therapien damit optimieren und mögliche Verschlechterungen rechtzeitig erkennen und verhindern lassen. Im Kontext einer wissenschaftlich fundierten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Beratung entscheidend ist eine hochfrequente und äquidistante (z. B. tägliche) Datenerfassung mit der damit gegebenen Möglichkeit, nichtlineare Analysen auf der Höhe des Geschehens durchzuführen und die Ergebnisse zu visualisieren (Schiepek et al., 2011a). Der Status von drei für Selbstorganisationsprozesse wesentlichen generischen Prinzipien wird im SNS in Form einer Farbampel angezeigt (1: erlebte Stabilität von Rahmen- und Randbedingungen, 4: Therapie- und Veränderungsmotivation; 5: Ausprägung von Komplexität und kritischer Instabilität). Neben dem SNS wurde auch ein Verfahren zur Darstellung von Beziehungsmustern zwischen Personen in sozialen Systemen (Paare, Familien, Gruppen, etc.) entwickelt, deren Inhalte (Beziehungsdimensionen) nutzerbestimmt definierbar sind und deren Veränderung filmartig in einer Folge von Matrizen visualisierbar ist. Für die Gestaltung von Beratungsprozessen könnte das Prozessmonitoring in Zukunft eine Schlüsselfunktion erhalten (Abb. 2). Über die Analyse von Prozessmustern lassen sich für Fall- und Beratungskonzeptionen Datengrundlagen gewinnen, die deutlich über Statuserfassungen hinausgehen. Eine auf Daten und Auswertungen gestützte Prozesssteuerung zu Zwecken der adaptiven Indikation, das heißt der prozessadäquaten Platzierung von Interventionen, ist ohne Real-Time-Monitoring nicht denkbar. Wie bereits in Abbildung 1 dargestellt, dienen die generischen Prinzipien als Entscheidungsregeln für die Prozesssteuerung. Das Prozessmonitoring könnte in Zukunft auch für die feedbackgestützte Begleitung von Internetberatungen von Relevanz werden. Neue Perspektiven entstehen aktuell durch die Integration von idiographischer Systemmodellierung (Schiepek, 1986, 1991) und Prozessmonitoring, wobei der Fragebogeneditor des Synergetischen Navigationssystems dazu genutzt wird, die Variablen der Systemmodelle in Items eines einzelfallbezogenen Prozessfragebogens zu übersetzen. Die Motivation und das Engagement für Veränderungsprozesse wird dadurch gesteigert, ebenso die Einsicht in die Dynamik individueller Problem- und Lösungssysteme. Völlig neue Möglichkeiten eröffnen sich hiermit auch im Bereich der Suchtprävention. Idiographische Systemmodelle © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

Abbildung 2: Über die geläufigen Schritte und Komponenten einer Psychotherapie oder Beratung erhält das Prozessmonitoring einen zentralen Stellenwert. Zu Zwecken der Fallkonzeption und Mustererkennung werden Querschnittsdaten durch Prozessdaten ergänzt und damit im Prozess auftretende Dynamiken (z. B. emotionale Schwankungen) überhaupt erst erkennbar. Damit wird eine Prozesssteurung im Sinne einer Unterstützung von Selbstorganisationsprozessen möglich, die sich an den generischen Prinzipien als Entscheidungsregeln orientiert.

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können für das Zusammenspiel von individuellen Risiko- und Protektivfaktoren gemeinsam mit dem Klienten entwickelt werden, um im Anschluss deren Dynamik zu monitoren. Darüber kann in persönlichen oder telefonischen Feedbackgesprächen kommuniziert werden, was die Einsicht in entsprechende Risikodynamiken fördert und unter Nutzung nichtlinearer Zeitreihenanalysen zur Entwicklung eines Frühwarnsystems führen könnte (Schiepek et al., 2011b).

5 Evidenzbasierte Beratung Was bedeutet vor diesem Hintergrund der Anspruch einer Evidenzbasierung von Beratung? In einem erweiterten Verständnis bedeutet dies, dass das Beratungsvorgehen und die bei diesem Problemlöseprozess anfallenden Entscheidungen mit Bezugnahme auf theoretische Modelle, empirische Befundlagen und den aktuellen Status des fokussierten Systems (d. h. des Klienten, aber auch des Beraters und des Settings) relativ rational gerechtfertigt und begründet werden können. Mit dieser Begriffsbestimmung wird explizit auf das sogenannte »Verhandlungsmodell« von Westmeyer (1979, 1997) Bezug genommen. Auf einer mittleren Ebene (Abb. 3) mag sich dieses Verständnis von Evidenzbasierung mit dem Einsatz von Verfahren decken, die in kontrollierten Studien (z. B. Randomized Con-

Abbildung 3: Relativ rationale Rechtfertigung klinischen Handelns © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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trolled Trials, RCTs) als wirksam ausgewiesen werden. Dabei ist allerdings einschränkend zu berücksichtigen, dass (a) solche in kontrollierten Studien getesteten Beratungstechniken bislang kaum oder gar nicht vorliegen, (b) wie in der Psychotherapie belegt, Interventionsverfahren nur einen relativ geringen Anteil der Outcomevarianz von Therapien erklären und (c) nichtlineare Systeme durch standardisierten Input mit linearen Effekterwartungen kaum zu steuern sind. Über die im Einzelfall sinnvolle Vorgehensweise kann eine Wahrscheinlichkeitszuschreibung für das Auftreten von bestimmten Effekten bei bestimmten Problemstellungen nur sehr bedingt etwas aussagen. In Abbildung 3 wird diese mittlere Ebene als RCT-Evidenz bezeichnet. Eine relativ rationale Begründung des professionellen Vorgehens hat sich daher vor allem auf den aktuellen Stand der individuellen Dynamik des betreuten Systems zu beziehen. Auf der Grundlage aktueller Prozessdaten ist zu begründen, warum dieses oder jenes getan bzw. unterlassen wird. Diese am Einzelfall orientierte Begründung wird in Abbildung 3 als idiographische Evidenz bezeichnet. Für solche Entscheidungen müssen nicht nur Verlaufsdaten (wie über das SNS gegeben), sondern auch Entscheidungsregeln zur Verfügung stehen. Diese Regeln brauchen einen klaren theoretischen Bezug, der durch ein allgemeines, empirisch gestütztes Modell von Veränderungsprozessen gegeben sein sollte. Gehen wir davon aus, dass sich Psychotherapie auf der Ebene der beteiligten neuronalen, psychischen und sozialen Systeme in Form nichtlinearer und nichtstationärer Dynamiken vollzieht, so kommen hier die Synergetik als allgemeine Theorie selbstorganisierten Musterwandels und die generischen Prinzipien als Entscheidungsregeln in eine prominente Rolle (vgl. Abb. 1 und 2). Diese Ebene der theoriebezogenen Referenzierung von Therapieentscheidungen kann als nomothetische Evidenz bezeichnet werden. Der klassische Begriff der Evidenzbasierung wird damit um zwei entscheidende Ebenen (Idiographik und Nomothetik) ergänzt. Vor allem aber ist die »Evidenz« für die (mögliche) Wirksamkeit nicht mehr den Interventionen oder Programmen kontextunabhängig und per se zugeordnet, sondern muss sich im © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Einzelfall, also kontextabhängig, begründen, empirisch – das heißt datenabhängig – belegen und auch revidieren lassen. Evidenzbasierung ist damit kein Attribut von Ereignissen (z. B. Beratungsangeboten) in der Umwelt der relevanten Systeme, sondern eine systemrelative Qualifizierung des beraterischen Vorgehens.

6 Funktionalitäten des SNS Das Synergetische Navigationssystem (SNS) ist ein generisches System, das die Implementierung verschiedenster Fragebögen, Rating- und Beobachtungssysteme erlaubt (natürlich innerhalb des lizenzrechtlichen Rahmens). Die Dateneingabe kann mit fast allen internetfähigen Geräten mit fest installiertem oder drahtlosem Empfang erfolgen, zum Beispiel PCs, Notebooks, iPhones, iPods, und andere. Damit ist eine maximale räumliche und zeitliche Flexibilität für die Dateneingabe »im Feld« und auch für die Einsichtnahme in die Analyseergebnisse möglich (»ubiquitous computing«). Folgende Funktionalitäten sind gegenwärtig verfügbar : • Verwaltungsmodus. Anlegen von Usern, Übersicht über aktuelle User sowie Archiv für abgeschlossene Fälle, Vergabe von Rechten für unterschiedliche User (wem ist welcher Zugang zu den verschiedenen Funktionalitäten erlaubt), Zuweisung von Fragebögen im Einzelmodus und mit der Möglichkeit, Nutzerkategorien anzulegen, Löschen von Usern. • Klientendokumentation. • Auswahl von Fragebögen. Es stehen unterschiedliche Fragebögen zur Erfassung von Störungsbildern, Symptomausprägungen, Behandlungszufriedenheit oder Bindungsmustern für die Evaluation von Psychotherapien (Qualitätsdokumentation) zur Verfügung. Für die Beratungspraxis müssen solche Fragebögen in Zukunft bereitgestellt, getestet und validiert werden. Für die Prozesserfassung mit täglicher Dateneingabe wurde der Therapieprozessbogen (TPB) (Haken u. Schiepek, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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• • •



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2010) entwickelt. Ein vergleichbarer Standardprozessbogen für die Beratung sollte erprobt werden. Fragebogeneditor. Der Administrator oder User kann eigene Fragebögen für die Prozesserfassung anlegen. Dazu sind die Items zu formulieren, die Art und Ausprägung der Antwortskalen festzulegen und zu beschriften (z. B. Likert-Skalen, visuelle Analogskalen), sowie die Zugehörigkeit zu Subskalen zu definieren. Auch ist zu markieren, ob ein Item eventuell zur Berechnung von Subskalen- bzw. Faktorenwerten umgepolt werden soll. Somit können für einzelne Patienten, Gruppen oder Teams ganz spezifische Inhalte erfasst werden (z. B. Therapieziele, Konfliktthemen, Ressourcen). Zeitschedulierung der verschiedenen Fragebögen. Zum Beispiel einmalige Vorgabe, Vorher/Nachher, regelmäßige Vorgabe (»time sampling« im Monats-, 14-Tages-, Wochen-, Tagesrhythmus). Eine mehrfache Vorgabe pro Tag ist bis zu einer Frequenz von dreißig Minuten möglich. Zudem ist eine Vorlage von Fragebögen ohne Zeittaktung möglich, das heißt, unmittelbar nach dem Ausfüllen steht der Fragebogen sofort wieder zur Verfügung (z. B. für »event sampling« oder für Ratings von Videoaufzeichnungen durch Beobachter). Die Vorgabe der Items erfolgt randomisiert. Bei Fragebögen, die mit dem Fragebogeneditor angelegt wurden, kann die Randomisierungsfunktion an- und abgeschaltet werden. Nach der Einschätzung der Skalen kann ein Kommentarfeld zum Beispiel für Beratungstagebücher (ohne Zeichenbegrenzung) benutzt werden. Fragebögen, die innerhalb eines gewählten Zeitfensters nicht ausgefüllt wurden, können in einer definierbaren Zeitspanne (z. B. mehrere Tage) nachgetragen werden. Erfolgt kein Eintrag (»missing data«), so wird der fehlende Wert einer Zeitreihe durch einen kubischen Spline geschätzt und ergänzt. Ergänzte Werte werden farblich markiert. Die Resultate der Outcome-Fragebögen werden in Säulendiagrammen visualisiert, wobei die Subskalen entweder je einzeln oder in farblich unterschiedlichen Abschnitten einer den Gesamtscore repräsentierenden Säule dargestellt werden. In Pop-

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up-Fenstern kann man die Bezeichnung der (Sub-)Skala, Ausfülldatum und Wert ablesen. Die Ergebnisse der Prozessfragebögen werden in Form von Zeitreihen (Graphen) dargestellt, wobei zwischen unterschiedlichen Größen und Anordnungen der Diagrammfelder gewählt werden kann. Die einzelnen Diagrammfelder sind – wenn gewünscht – unabhängig konfigurierbar, so dass entweder mehrere oder alle Itemverläufe einer Person oder aber zum Beispiel ein bestimmtes Item in seinem Verlauf bei unterschiedlichen Personen dargestellt werden können. Die ausgewählte Itemkonfiguration kann gespeichert werden, wenn man etwa immer nur ganz bestimmte Items betrachten möchte. Wird die Konfiguration zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgerufen, so lädt und zeigt sie automatisch den aktuellen Stand der Entwicklung (es wird also die Darstellungskonfiguration, nicht die Werte gespeichert). Bewegt man den Cursor über den Graphen einer Zeitreihe, so ist pro Messzeitpunkt der Messwert, das Ausfülldatum und der Tagebucheintrag abzulesen (letzterer kann auch unsichtbar gemacht werden). Über z-Transformationen und Mittelungen können auch die Zeitreihen der Subskalen (Faktoren) eines Fragebogens berechnet und visualisiert werden. Sie werden aufgrund der zTransformation variierend um den Mittelwert 0 in Einheiten von Standardabweichungen dargestellt. In einem Diagramm können in unterschiedlichen Farben bis zu sieben Zeitreihen übereinander gelegt werden, wobei auch die Zeitreihen von Analyseergebnissen ausgewählt werden können. Da sowohl die Rohwerte der Zeitreihen (z. B. siebenstufige oder hundertstufige Auflösung), als auch die Verläufe der Faktoren, als auch die Analyseergebnisse (dynamische Komplexität, Permutationsentropie) auf unterschiedlichen Skalenranges und -auflösungen liegen, werden die Graphen optisch angepasst und kalibriert. Nach Wunsch können – wenn sinnvoll – unterschiedliche Zeitreihen (z. B. mehrere Rohwertverläufe, mehrere Komplexitätsverläufe) auch gemittelt werden. Farbdarstellung für Rohwerte. Die Ausprägung der Rohwer© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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tezeitreihen der einzelnen Items ist in einem Diagramm zeilenweise (angeordnet nach Subskalen bzw. Faktoren) in Farbabstufungen visualisiert. Damit wird eine Farbsynopse der Verläufe geboten. • In einer Ampeldarstellung werden auf Grundlage einer hinterlegten Zusammenfassung von ausgewählten Einzelitems und Komplexitätsausprägungen des TPB die Ausprägungen dreier wesentlicher generischer Prinzipien gezeigt. Prinzip 1: Stabilität und Erleben von Sicherheit; Prinzip 4: Intrinsische Veränderungsmotivation und Prozessinvolviertheit als Kontrollparameter ; Prinzip 5: Ausprägung der kritischen Instabilität, wobei hier die relative (prozentuale) Veränderung der Komplexität des aktuellen Sieben-Messpunkte-Fensters in Relation zur kurzfristig zurückliegenden Komplexitätsentwicklung dargestellt ist. Als Zusatzlicht der Ampel gibt es einen Hinweis auf die Möglichkeit, dass mit einer kritischen Instabilität eine persönliche Krise (Rückfall, Demoralisierung, psychotischer Schub o. a.) verbunden sein könnte. Während für die Prinzipien 1 und 4 sowie für diesen Zusatzhinweis eine absolute Skala von 0 – 100 % vorliegt, wird für Prinzip 5 die relative Komplexitätszunahme gezeigt (bei Gleichbleiben oder Abnahme der Komplexität bleibt die Ampelscheibe weiß). Die Ampelfunktion weist somit (a) eine theoretische Orientierung an den generischen Prinzipien und (b) eine individuelle Kalibrierung auf, da nichtlineare (chaotische) Systeme wie Psychotherapien kaum vorhersehbare, hochgradig individuelle und auch durch Krisen gekennzeichnete Entwicklungsverläufe aufweisen. • Zur Auswertung der Zeitreihen stehen verschiedene Verfahren zur Verfügung: o Dynamische Komplexität. Diese setzt sich aus einem Fluktuations- und einem Verteilungswert zusammen. Die Komplexität wird in einem Gleitfenster von frei wählbarer Breite berechnet und für jedes Item bzw. jeden Faktor eines Fragebogens im Zeitverlauf dargestellt. Mit Bezug auf die Verteilung von zurückliegenden Komplexitätswerten (der Zeithorizont des »Komplexitätsgedächtnisses« ist frei wählbar) wird zur Signifikanzbestimmung ein 95 %- und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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ein 99 %-Konfidenzintervall berechnet, das die Signifikanzschwellen des jeweils aktuellen Komplexitätswertes der Dynamik definiert (zum mathematischen Algorithmus s. Haken u. Schiepek, 2010; Schiepek u. Strunk, 2010). o Komplexitäs-Resonanz-Diagramme. Die Ausprägung der Komplexität der einzelnen Zeitreihen kann in einem sowohl auf das real auftretende Maximum der Komplexität als auch hinsichtlich des Maximalwertes frei kalibrierbaren Diagramm in Farbe dargestellt werden. Da man daran sehr gut erkennt, bei welchen Items und Faktoren Komplexitätsänderungen synchron auftreten (z. B. bei kritischen Instabilitäten), werden diese Darstellungen als Komplexitäts-Resonanz-Diagramme (KRD) bezeichnet (Abb. 4). Neben der direkten Umsetzung von Komplexitätsausprägungen in ein Farbspektrum gibt es auch KRDs mit drei verschiedenen Signifikanzschwellen (Signifikanzbestimmung innerhalb der jeweiligen Zeitreihen), wobei die signifikanten Komplexitätsausprägungen in hellgrau, mittelgrau und schwarz dargestellt sind. o Permutationsentropie. Das Verfahren berechnet die Wahrscheinlichkeit von Sequenzmustern aufeinanderfolgender Werte (die Sequenz- bzw. Wortlänge ist frei wählbar) eines Zeitreihenabschnitts mittels Shannon-Information. Permutiert werden die Größenrelationen aufeinander folgender Werte auf Ordinalniveau (Algorithmus in Bandt u. Pompe, 2002; s. auch Schiepek u. Strunk, 2010). Wie die dynamische Komplexität wird die Permutationsentropie im Zeitverlauf dargestellt. o Recurrence Plots. Das Verfahren macht wiederkehrende Muster von Zeitreihen in einem ZeitxZeit-Diagramm erkennbar (Eckmann, Oliffson Kamphorst u. Ruelle, 1987; Webber u. Zbilut, 1994). Es beruht auf der Einbettung von Zeitreihen in einem Ersatzphasenraum mit Zeitverzögerungskoordinaten, wobei die euklidischen Abstände der Vektorpunkte direkt in Farbe übertragen werden (FarbRecurrence Plots) oder nach Vorgabe eines Radius um jeden Vektorpunkt binär markiert werden (Nachbarpunkt innerhalb oder außerhalb des wählbaren Radius; Schwarz© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Weiß-Plot). Deutlich werden Musterwechsel (Ordnungsübergänge) und Transienten (Perioden kritischer Instabilität). Recurrence Plots und KRDs zeigen in vielen Fällen komplementäre Muster (vgl. Abb. 4). o Synchronisationsmuster. Die Absolutwerte der Iteminterkorrelationen eines Fragebogens werden zu einem mittleren Korrelationsverlauf gebündelt. Dies ist ein Maß der inneren Kohärenz (Ordnerstärke) der Dynamik (unabhängig davon, ob die Verläufe direkt oder spiegelverkehrt synchron verlaufen). Die Interkorrelationen der einzelnen Itemverläufe werden in einer Dreiecksmatrix in Farbabstufungen dargestellt (von 1 (dunkelrot) über 0 (weiß) bis +1 (dunkelgrün)). Die Korrelationsmatrizen werden in einem frei wählbaren Zeitfenster berechnet. Mit einem Marker kann man die Matrizen über den Verlauf ziehen, was die Veränderung der Synchronisationsmuster wie in einem Film sichtbar macht. Bis zu vier Matrizen können optisch fixiert werden (Abb. 4 unten). • Für den Export von Daten (Zeitreihen der Item-Rohwerte, der Faktoren, der Komplextäten und der PE) in Excel- oder csvDateien steht eine Datenexport-Funktion zur Verfügung. Damit können die Zeitreihendaten in andere Statistik- und Zeitreihenanalyseprogramme transferiert werden. Auch die Texte der Tagebücher bzw. Kommentare können zu Zwecken von Textanalysen in Word exportiert werden. Umgekehrt können Zeitreihendaten in das System zu Zwecken von Analyse und Visualisierung importiert werden. • Druckfunktion. Alle auf dem Bildschirm gezeigten Graphiken können ausgedruckt werden, ebenso die Kommentartexte.

7 Fazit und Perspektiven Von einem schulen-, format- und settingübergreifenden Konzept von Beratung als synergetischem Prozessmanagement soll vor allem die Beratungspraxis profitieren. Zugleich handelt sich aber auch um ein Forschungsprogramm, das im Sinne hoher All© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 4: Synopse eines psychotherapeutischen Prozesses. Der Verlauf (tägliche Einschätzungen über etwa zwei Monate) stellt einen Ordnungsübergang dar, welcher von einer kritischen Instabilität in zahlreichen Items des Therapieprozessbogens (TPB) begleitet wird. Oben: Recurrence Plot der Zeitreihe des Items »In Bezug auf meine persönlichen Ziele erlebte ich mich heute als erfolgreich«. Die Punkte im Diagramm repräsentieren wiederkehrende Abschnitte der Dynamik, leere Abschnitte weisen auf Übergänge (Transienten) mit singulären Dynamiken hin. Mitte: Komplexitäts-ResonanzDiagramm aller Items des TPB. Die Ausprägung der dynamischen Komplexität jedes Items wurde in Farben übertragen. Die Items sind nach Faktoren (Subskalen) des TPB angeordnet. Unten: Mittlere (absolute) Interkorrelation aller Items des TPB, berechnet in einem Gleitfenster. Dies entspricht der Gesamtsynchronisation aller durch die Items des TPB abgebildeten Erfahrungsaspekte des Patienten. Die Korrelationsstruktur ist an vier Zeitpunkten in Form einer Matrix dargestellt. Die Intensität der Farbe Grün entspricht der Ausprägung positiver Korrelationen, die Intensität von Rot entspricht der Ausprägung negativer Korrelationen (hier Druck in Graustufen). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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tagsnähe und ökologischer Validität die Praxis zum Forschungsfeld macht. Das bisher bestehende Empirie- und Datendefizit in der personenzentrierten wie in der Organisationsberatung könnte damit schnell und nachhaltig aufgefüllt werden. Nachhaltig deshalb, weil es sich nicht um eine Offensive für ein großes, aber isoliertes Forschungsprojekt handelt, sondern um die dauerhafte Synthese von feldnaher Datenerhebung, Datenanalyse und Praxis. Für die Aus- und Weiterbildung in den Bereichen Beratung, Coaching und Supervision liegt damit die Notwendigkeit nahe, Praktiker auch mit wissenschaftlichen Kompetenzen auszustatten. Ziel sollte es sein, insbesondere die akademische Ausbildung zum Berater oder zur Beraterin nach einem Scientist-PracitionerModell zu konzipieren. Die inhaltlichen Vorgaben könnten sich am Konstrukt der Systemkompetenz orientieren, welches kognitive (Wissen, technisches und methodisches Know-how), emotionale (z. B. Emotions- und Stressregulation) und handwerklich-praktische Dimensionen für den Umgang mit komplexen, nichtlinearen und dynamischen Humansystemen definiert (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 634 – 637; Paukert, in diesem Band). Das Konstrukt umfasst 1. soziale Kompetenzen, 2. den Umgang mit der Dimension Zeit (nichtlineare Prozesse), 3. Umgang mit Emotionen, Stressbewältigung und Ressourcenaktivierung (Hintergrund: kontraintuitives Verhalten und begrenzte Steuerbarkeit von komplexen Systemen), 4. Entwicklung von Bedingungen für Selbstorganisation, 5. systemtheoretisches (Chaostheorie, Synergetik), psychologisches und evtl. auch neurobiologisches Wissen sowie 6. Mustererkennung, Modellierung und Analyse von Prozessen. Natürlich kann für die professionelle Beratung auch die Problemlösepsychologie eine Rolle spielen. Besonders derjenige Teil der Problemlösepsychologie, der sich mit komplexen Systemen befasst, also mit der Frage, wie sich Menschen in solchen intransparenten und schon diesseits des Chaos schwer prognostizierbaren Netzwerken von Einflussgrößen mit indirekten Abhängigkeiten und weitreichenden Neben- und Folgewirkungen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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verhalten, wie sie denken, planen, emotional reagieren und handeln, könnte von großem Nutzen sein (z. B. Dörner, 1989; Dörner, Schaub u. Strohschneider, 1999; Putz-Osterloh, 1994). Ohne auf die umfassende Forschungslage zu Problemlöseprozessen von Individuen und in Gruppen auch nur annähern eingehen zu können (s. Haken u. Schiepek, 2010, S. 529 – 560) kann betont werden, dass der Umgang mit Nichtlinearität, Vernetzung und Dynamik eine der Schlüsselkompetenzen für Entscheidungsträger in Technik, Medizin, Wirtschaft und Politik darstellt. Eben aus diesem Grund wurden Verfahren wie die idiographische Systemmodellierung, Internet-basierte Interaktionsmatrizen und das Synergetische Navigationssystem entwickelt. Bisher gab es zu vielen Entscheidungsprozessen vor allem in psychologischen und sozialen, wirtschaftlichen und politischen Praxiskontexten keine Zeitreihendaten und kein Real-Time-Monitoring, also ein Prozessfeedback auf der Höhe der Entwicklungen. Die Nutzung solcher Instrumente ist eine entscheidende Voraussetzung, um Problemlösen, Intervenieren und Entscheiden in komplexen Szenarien in Zukunft nützlich werden zu lassen, zu optimieren und auch zu untersuchen. Dies setzt aber voraus, dass solche Instrumentarien gelehrt werden, dass Berater eine Ausbildung in Systemkompetenz erhalten, und dass die psychologische Problemlöseforschung sich auf die Frage der Modellierung und Steuerung selbstorganisierender, das heißt sich nichtlinear und nichtstationär verhaltender Systeme einlässt. Dazu wäre eine Synergie mit Ansätzen der Synergetik notwendig. Genau auf diesem interdisziplinären Feld (auch unter Einbezug der Neurowissenschaften) des Handelns in komplexen Systemen ist die Beratungsforschung gefordert und könnte in Zukunft Maßstäbe setzen. Ob dabei eine Orientierung an universellen Phasen des Problemlösens sinnvoll und möglich ist, wird sich zeigen. Solche Phasenmodelle, die wir als »normative« Phasenmodelle bezeichnen könnten, da davon ausgegangen wird, dass sie notwendigerweise durchlaufen werden und auch durchlaufen werden sollten, haben sicher einen heuristischen und Orientierungswert. Sie können einem kreativen Prozess aber eventuell auch im Weg stehen. Ob solche Phasen in Beratungsprozessen (In © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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welchen? In welchen Settings? In der Einzel- oder in der Teamoder Organisationsberatung?) aber wirklich replizierbar erkennbar sind, und ob eine Orientierung daran nützlich ist (d. h. zu messbar besseren Effekten führt), setzt die empirische Erfassung von hunderten von Beratungsprozessen voraus. Die sinnvolle Reihenfolge wäre also hier, zunächst mit großen Fallzahlen und praxisnah die Prozesserfassung und -analyse von Beratungen durchzuführen, sich dann die Ergebnisse anzuschauen und dann die Schlüsse zu ziehen. In der stationären Psychotherapie, in der wir inzwischen hunderte von Verlaufsdaten (Vollerfassung von Therapieprozessen) gesehen haben, spricht für einen Standardverlauf oder eine Verlaufsnorm nichts. Das Chaos, das heißt die Unvorhersehbarkeit der Prozesse, ist sehr ausgeprägt. Aufgrund der Unvorhersehbarkeit ist es ja gerade die Botschaft der Selbstorganisationstheorie, statt normativer Verlaufsmodelle (Standardverläufe) oder normativer Interventionsprogramme (Manualisierungen) ein sensitives Verlaufsmonitoring durchzuführen – für Prozesse, in denen Krisen zu erwarten sind, durchaus im Sinne eines Frühwarnsystems (Albeverio, Jentsch u. Kantz, 2006; Schiepek et al., 2011b) – um dann mit seiner Erfahrung, Kompetenz und Intuition, aber auch nach bestimmten Entscheidungsregeln (generische Prinzipien) sinnvoll, zeitnah und kontextadäquat reagieren zu können.

Literatur Albeverio, S., Jentsch, V., Kantz, H. (Eds.) (2006). Extreme events in nature and society. Berlin u. a.: Springer. Bandt, C., Pompe, B. (2002). Permutation Entropy : A natural complexity measure for time series. Physical Review Letters, 88, 174102, 1 – 4. Caspar, F. (1996). Beziehungen und Probleme verstehen. Eine Einführung in die psychotherapeutische Plananalyse. Bern: Huber. Dörner, D. (1989). Die Logik des Misslingens: Strategisches Denken in komplexen Situationen. Reinbek: Rowohlt. Dörner, D., Schaub, H., Strohschneider, S. (1999). Komplexes Problemlösen – Königsweg der Theoretischen Psychologie? Psychologische Rundschau, 4, 198 – 205. Duncan, B., Miller, S., Wampold, B., Hubble, M. (Eds.) (2010). The heart and © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Günter Schiepek und Heiko Eckert

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Ariane Wahl

Generische Prinzipien in der beruflichen Beratung – Konkretisierung und Fallbeispiel

1 Vorbemerkungen Der Beitrag hat das Ziel, das abstrakte Konzept der Synergetik bzw. die daraus abgeleiteten Bedingungen für die Gestaltung selbstorganisierender Entwicklungen (generische1 Prinzipien) für die Beratungspraxis zu konkretisieren. Er gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil setzt sich theoretisch mit dem Transfer der generischen Prinzipien in die Beratung auseinander. Der zweite Teil analysiert auf der Basis der generischen Prinzipien eine Einzelberatung mit einem Klienten, der eine berufliche Veränderung anstrebt. Die Arbeit endet mit einem kurzen Resümee.

2 Konkretisierung der generischen Prinzipien für die Beratung Nach Haken und Schiepek (2010, S. 4 ff.) liefert die Synergetik einen formalen Theoriekern, der durch eine fach- und phänomenspezifische Wissensanreicherung in vielen Bereichen angewandt werden kann. Es geht in diesem Beitrag um den Versuch, die generischen Prinzipien in möglichst engem Wechselspiel von Theorie und Praxis zu beschreiben. Das bedeutet, dass die Prinzipien erklärt und mit Instrumenten aus der Praxis (Gestaltungsempfehlungen) angereichert werden. Die generischen Prinzipien können als Beratungsschulen übergreifende theoretisch integrative Prinzipien zur Förderung 1

Generisch im Sinne von »erzeugend« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 436). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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und Unterstützung selbstorganisierender Entwicklungsprozesse verstanden werden. Sie lassen sich nach Schiepek (2010, S. 4 ff.) auf alle Therapie- und Beratungsformen anwenden und verfolgen die Absicht, die Auswahl spezieller therapeutischer oder beraterischer Techniken und Methoden zu organisieren und zu begründen. Im Vordergrund dieses Beitrags steht die Frage, wie die eingesetzten Interventionstechniken und Methoden der Realisierung der generischen Prinzipien dienen und damit Selbstorganisation beim Ratsuchenden unterstützen. Es geht um ein Ermöglichen und nicht ein Bewirken von Selbstorganisation, das heißt, der Klient übernimmt selbst Verantwortung für seine Veränderung. Wesentlich dabei ist, dass eine Methode der Umsetzung eines oder mehrerer generischer Prinzipien dienen kann und sich umgekehrt ein generisches Prinzip in mehreren konkreten Methoden realisieren kann.2 Die generischen Prinzipien sind folglich Kriterien, die im Beratungsprozess zu beachten sind und denen in den unterschiedlichen Phasen eine unterschiedliche Bedeutung zukommen kann (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437). Die Einordnung in ein Phasenmodell lehnen Haken und Schiepek jedoch ab, »[…] da es der Eigendynamik menschlicher Entwicklungsprozesse eine normative Schrittfolge aufzwingen würde« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 436). Der Schwerpunkt liegt mehr auf der Prozessgestaltung, wofür die generischen Prinzipien in ihrer Funktion als Verständnis-, Gestaltungs- und Analyseinstrument gleichzeitig Sicherheit, Wahlfreiheit und Spielräume bieten sollen.3 Sie sind jedoch kein Ersatz für Erfahrung, Intuition und fachliche Aus- und Weiterbildung des Beraters im Bereich Komplexitätsmanagement (vgl. Schiepek u. Cremers, 2003, S. 187). Schiersmann und Thiel hingegen sprechen sich für die Kombination der generischen Prinzipien mit phasenorien-

2 »[…] es besteht ein mehr-mehrdeutiges Verhältnis zwischen Methode/ Techniken und generischen Prinzipien« (Schiepek u. Cremers, 2003, S. 187) 3 Es geht nicht um eine Totalplanung des Beratungsprozesses, sondern um eine Balance zwischen Flexibilität (Veränderung) und Stabilität (Erhaltung).

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tierten nichtlinearen Prozessmodellen aus und begründen dies wie folgt: »[…] dies macht Sinn, weil Berater sowie Ratsuchende trotz eines letztlich nicht prognostizierbaren Entwicklungsprozesses auf einer groben Ebene eine ungefähre Vorstellung bzw. ein vorläufiges Bild von einem Gesamtverlauf des Prozesses benötigen, um die Komplexität eines Beratungsprozesses situativ gegebenenfalls zu reduzieren« (2009, S. 74).

2.1 Schaffen von Stabilitätsbedingungen Da Ordnungsübergänge mit kritischer Instabilität und mit einer Destabilisierung von Attraktoren verbunden sind, ist es Aufgabe des Beraters, gleichzeitig einen zuverlässigen, vertrauten Rahmen anzubieten, in dem der Ratsuchende sich verändern kann. Alle Maßnahmen zur Förderung eines selbstorganisierten Ordnungswandels erzeugen demnach »Destabilität im Kontext von Stabilität«. Maßnahmen, die für emotionale und strukturelle Sicherheit sorgen, betreffen das Setting, den Behandlungsablauf, die Verstehbarkeit und subjektiv erlebte Transparenz des Vorgehens, die Beziehungsqualität und das Vertrauen zum Therapeuten (Kompetenz, Glaubwürdigkeit, emotionale Standfestigkeit) und die Unterstützung und Sicherheit, die der Klient aus sich selbst heraus erhält (Selbstwirksamkeitserleben, Kontrollierbarkeit, Handhabbarkeit, Ressourcenorientierung, Selbstwertunterstützung, Kongruenzerfahrung) (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437). Gerade in der ersten Beratungssitzung liegt der Schwerpunkt auf der Begründung einer Beziehung und auf dem Schaffen einer tragfähigen Basis für die weitere Zusammenarbeit. Erst wenn ein gutes »Beziehungsfundament« besteht, kann die Aufmerksamkeit auf inhaltliche Aspekte und auf Veränderung gerichtet werden (vgl. Grossmann, 2005). Nach Rogers sind die zentralen Elemente zur Begründung eines Arbeitsbündnisses: Empathie, Wertschätzung und Kongruenz (Echtheit des Beraters) (vgl. Rogers, 1998). Die Qualität der Beratungsbeziehung zeichnet sich, in Anlehnung an Schulte (1996), dadurch aus, dass der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Berater sowohl einen glaub- und vertrauenswürdigen Eindruck auf den Klienten macht als auch als kompetenter Experte mit entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten wahrgenommen wird. Der Ratsuchende sollte sich vom Berater wertgeschätzt und in seinem Anliegen verstanden, anerkannt und unterstützt fühlen. Er sollte darüber hinaus das Gefühl haben, dass sich der Berater für ihn interessiert und einsetzt sowie gemeinsam mit ihm auf seine Zielerreichung hinarbeitet (vgl. Schulte, 1996). Sicherheit versprechen auch die positive Veränderungserwartung des Ratsuchenden und der Glaube des Beraters, dass die Beratung hilft. Auf diese Weise wird es möglich, dass der Klient die Beraterbeziehung als Ressource erlebt; Bamberger umschreibt dies mit dem Begriff »ressourcenaktivierende Beziehungsgestaltung« (Bamberger, 2001, S. 102). Die Basis der Beratung bildet das Gespräch, genauer gesagt die professionelle Form der Gesprächsführung. Die Aufgabe des Beraters liegt darin, sich auf die sprachlich-bildliche Welt des Klienten einzulassen (vgl. Bamberger, 2001). Das Mitgehen, die Warmherzigkeit, das Einfühlen und die Begeisterung zum Beispiel durch aktives Zuhören, Wiederholungen, Feedbackgeben, offenes Fragen nach weiteren Informationen sowie nach Bewertungen und Meinungen, Loben und »Komplimente machen« oder Paraphrasieren, sind Möglichkeiten, wie der Berater die Beziehungsqualität fördern kann. Eine Wertschätzung des Klienten zeigt sich neben den verbalen Aspekten auch im nonverbalen Verhalten. Grossmann (2005, S. 266) weist mit Recht darauf hin, dass ein »Zuviel an Einschwingen« von Klienten auch als störend, nicht authentisch und distanzlos erlebt werden kann. Der Beratungsrahmen, das heißt die Atmosphäre im Raum, die Ungestörtheit und die genaue zeitliche Begrenzung sollten scharf von der sonstigen Umgebung des Klienten getrennt sein. Auf diese Weise kann er sich im Schutzraum der Beratung auf Interventionen einlassen und experimentieren, da er weiß, dass er im Alltag nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann. Der Anspruch, Ressourcen von Klienten zu erkennen und zu aktivieren, bildet die Grundlage selbstorganisierter Entwicklungsprozesse. Die Ressourcenperspektive hat Vorläufer in der humanistischen Psychologie mit ihrem festen Glauben an das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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positive Veränderungspotenzial im Menschen. Das Überwiegen der Problemperspektive kann wie ein »Bremsklotz« wirken, denn die Kraft für Veränderungen schöpft ein Klient aus seinen positiven Möglichkeiten, Erfahrungen und seinem Umfeld. Während die Problemperspektive beschreibt, was der Ratsuchende verändern möchte, zeigt die Ressourcenperspektive Wege auf, wie die Veränderung gefördert werden kann. Grawe (2000) bezeichnet aufgrund seiner Wirksamkeitsforschung von Psychotherapie die Ressourcenaktivierung als einen wesentlichen Faktor für erfolgreiche Psychotherapie. Er geht davon aus, dass Ressourcen nicht nur vom Klienten selbst eingebracht werden, sondern es ebenfalls Aufgabe des Beraters sei, »schlummernde« Möglichkeiten zu »wecken«. Stierlin (1994, S. 108) beschreibt unter dem Stichwort »Ressourcenselbst« die Arbeitsweise von Milton Erickson, der hypnotherapeutisch arbeitete. Für ihn geht es darum, im jeweiligen Problemangebot des Klienten auch immer Lösungsansätze zu sehen. Widerstand kann auf diese Weise zum Kooperationsangebot werden. Ressourcen können in der Person des Klienten liegen oder in seinem sozialen Kontext, zum Beispiel in Familie, Partnerschaft/ Ehe, Freundschaften/sozialen Kontakten, persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten und Kompetenzen, Aussehen oder Ausstrahlung, Bereitschaft und Fähigkeit zu besonderen Anstrengungen, Freizeit und Sport, Lebenszielen, Überzeugungen, Selbstwertgefühl, Glaube und Religion, Beruf, Gruppenzugehörigkeit, materieller Situation, Erinnerungen und Erfahrungen aus der Vergangenheit, Zukunftsperspektiven, körperlicher Befindlichkeit, Sexualität, Natur und Tieren, kleinen alltäglichen Eindrücken und Begegnungen (vgl. Schiepek u. Cremers, 2003, S. 166 ff.). Wesentlich für die Herstellung von Stabilität sind die Anliegens- oder Auftragsklärung sowie die Erarbeitung von Zielen, da sie dem Beratungsprozess einen Rahmen und eine Richtung geben. Das Anliegen steckt nach Schiepek »[…] das Terrain ab, auf das sich Veränderungsprozesse beziehen« (1999, S. 65). Dies schließt jedoch nicht aus, dass sich das Anliegen im Laufe einer Beratung ändert. Der Diskurs rund um Ziele und Lösungen unterstützt motivationale Prozesse und vermittelt Hoffnung. Das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Akronym SMART bringt die Anforderungen an die Zieldefinition auf den Punkt: Specific, Measurable, Attractive, Realistic, Terminated. Schiepek formuliert die Bedeutung von Zielen wie folgt: »Je plastischer und attraktiver entsprechende Antizipationen erlebt werden, umso mehr Sogwirkung entfalten sie auf Prozesse der Neuorganisation« (1999, S. 161). Ein zentraler Ansatzpunkt in der lösungsorientierten Beratung ist das Selbstwertgefühl, das sehr eng mit Selbstwirksamkeitserfahrungen einhergeht. Selbstwirksamkeit bezeichnet die subjektiv ausgeprägte Überzeugung eines Menschen, aufgrund seiner Fähigkeiten eigene Handlungen organisieren und ausführen zu können, um damit bestimmte Ziele zu erreichen bzw. Schwierigkeiten zu überwinden (vgl. Bandura, 1997, S. 3). In der Beratung bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten an, Selbstwert fördernde und Selbstwirksamkeit unterstützende Erfahrungen zu machen, wie zum Beispiel das Fokussieren auf Ausnahmen, in denen das Problem nicht oder in unterschiedlicher (schwächerer) Ausprägung auftritt (s. dazu auch generisches Prinzip 5), aber ganz besonders auch die Ressourcenaktivierung, da das Zeigen von Stärken und Fähigkeiten in der Beratung dem Klienten Selbstwert erhöhende Wahrnehmungen verschafft.

2.2 Identifikation von Mustern des relevanten Systems Hier geht es darum, festzulegen, auf welches System sich die zu fördernden Selbstorganisationsprozesse beziehen sollen. Aus diesem Grund ist eine Analyse und Darstellung der K-E-VMuster (Kognitions-Emotions-Verhaltensmuster) oder der Systemprozesse notwendig. Sie ermöglicht eine Fallkonzeption, auf die sich das beraterische Vorgehen beziehen kann und zeigt auf, worauf die Interventionen gerichtet werden sollen. Die BeraterKlient-Beziehung ist außerdem an die unterschiedlichen Beziehungsmuster des Ratsuchenden anzupassen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437). Um handlungsfähig zu bleiben und den unterschiedlichen Erfahrungen eine Ordnung zu geben, entwickelt jeder Mensch Annahmen über sich und über die Welt, in der er lebt. Bestehende © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Annahmesysteme sind mit zunehmendem Alter immer schwieriger zu verändern und dem Wunsch diese zu überprüfen, geht in der Regel ein starker Beweggrund, verbunden mit einer emotionalen Erregung, voraus (vgl. Frank, 1985). Nach de Shazer (2005, S. 98) sind Klienten »in ihrer Sicht der Welt festgefahren«, was häufig ein Gefühl von Hilflosigkeit nach sich zieht. Das heißt, sie nehmen aus einer fast unendlich großen Zahl von Möglichkeiten in einer Situation einige wahr und übersehen andere. Sie schaffen es nicht, aus eigener Kraft ihren K-E-V-Mustern, die ihre Problemzustände ausmachen, zu entkommen. Es geht nicht darum, den Klienten aus seiner Welt herauszuholen, sondern darum, ihn zu unterstützen, seinen Möglichkeitsraum innerhalb seines Systems zu erweitern (s. auch generisches Prinzip 5). Über die Versprachlichung der inneren Systemzustände ist es möglich, die »innere Landkarte« kennenzulernen und zu erfragen, von welchen Gedanken, Gefühlen und Themen Ratsuchende in Bann gezogen werden, und was sie bisher bereits unternommen haben, um ihr Problem zu lösen. Gerade zu Beginn einer Beratung befinden sie sich noch sehr ausgeprägt in ihren »Problemattraktoren« (z. B. negative Selbstsicht). Eine erfolgreiche Beratung zeichnet sich eher dadurch aus, dass die subjektive Bedeutsamkeit dieser »Problemattraktoren« abnimmt, und weniger durch die »Auflösung« des Problems. Schwierigkeiten und Hindernisse werden vielmehr wertfrei akzeptiert und gehen als wichtige Bestandteile in die Lösung ein (vgl. de Shazer, 2005, S. 30). »States of Mind« (aktuelle kognitiv-emotionale Zustände) können sowohl durch verbale als auch durch nonverbale Äußerungen, inhaltliche Themen, den Ausdruck von Emotionen oder kommunikative Verhaltensweisen identifiziert werden. Um Zugang zu den Denkmustern des Klienten zu erlangen, eignen sich Fragen nach seinem aktuellen Selbstbild, das heißt danach, wie er sich erlebt, welche Beziehungen sich daraus ergeben und welche Gefühle damit einhergehen (offene, erkundende Fragen, hypothetische Fragen). Aktives Zuhören und die Arbeit mit Bildern oder Symbolen sind weitere Möglichkeiten, um Transparenz zu schaffen. Das soziale Umfeld des Klienten verdient ebenfalls besondere Beachtung, da in vielen Fällen der »Veränderungs© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Transfer« in die Realität scheitert, weil das soziale Netz den Veränderungsbemühungen eines Menschen entweder keine Beachtung, keine Unterstützung oder sogar Widerstand entgegen bringt. Für die berufliche Beratung bietet sich der Einsatz von Fragebögen und Tests an, zum Beispiel der Karriereanker (s. Kap. 2.3). Der eigentliche Beratungsprozess beginnt, indem Klient und Berater ein Anliegen »konstruieren«, das sie gemeinsam bearbeiten können, um ein positiv betrachtetes Ziel zu erreichen (vgl. de Shazer, 2005, S. 99). Der Schritt der Anliegenklärung ist wesentlich, denn wenn der Klient und der Berater nicht wissen, worin das Problem eigentlich besteht bzw. welches Ziel durch die Beratung erreicht werden soll, ist das Erarbeiten einer Lösung schwierig. Der Zielfindungsprozess führt Klärungserfahrungen herbei, da verdrängte und unbewusste K-E-V-Muster erstmals sichtbar werden, und befriedigt beim Klienten das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle.

2.3 Sinnbezug, Synergitätsbewertung Der Veränderungsprozess muss für den Klienten als sinnvoll erachtet werden und seinem zentralen Lebenskonzept sowie seinen Zielvorstellungen entsprechen. Nur für bedeutsame und sinnvoll erlebte Projekte ist der Klient bereit (motiviert), Aufwand und Mühe zu investieren (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437 f.). In diesem Prinzip spiegelt sich das Expertentum des Ratsuchenden bezogen auf seinen Lebensentwurf, den es zu respektieren und wertzuschätzen gilt. Nur er kann beurteilen, welche Richtungen für sein Leben nützlich sind und welche nicht. Da das Auftreten kritischer Instabilität häufig als persönliche Krise erlebt wird, ist es bedeutsam, den aktuellen schwierigen Weg in den persönlichen Lebensentwurf und in langfristige Ziele einordnen zu können (vgl. Schiepek u. Cremers, 2003). Der Neurobiologe Gerald Hüther (2009b) geht davon aus, dass die inneren Bilder (Selbstbilder, Menschenbilder, Weltbilder) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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eines Menschen sein Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. Diese im Gehirn abgespeicherten handlungsleitenden Muster, Hüther nennt sie auch »Empfindungsbilder« (vgl. Hüther, 2009a, S. 107), benutzt ein Mensch, um Handlungen zu planen, Herausforderungen anzugehen oder Lösungen zu suchen etc. Manche lassen Menschen mutig und lösungsorientiert durchs Leben gehen, andere wiederum machen Angst und führen zu Hoffnungslosigkeit und Rückzug. Hilfreich für die Beratung ist in diesem Kontext die Frage, woran der Klient erkennen wird, dass sein Problem gelöst ist. Diese in die Zukunft gerichtete Frage leitet einen ersten Schritt in eine sinnvolle Lösungsrichtung ein, indem ein inneres Lösungsbild generiert wird, und stellt damit einen Sinnbezug her. Dies ist umso wichtiger, da Beratungsschritte erfahrungsgemäß nur dann nachhaltig umgesetzt werden, wenn sie für den Klienten mit der Realisierung seines Ziels in Einklang stehen. Eine wichtige Bedingung für das Umsetzen des Erfahrenen nach der Beratung spielt die Motivation des Ratsuchenden. Die neu entwickelten Ideen erscheinen zwar oft vernünftig, aber deren Umsetzung scheitert häufig daran, dass diese als beschwerlich erlebt wird. Um Veränderungen einzuleiten, muss das angestrebte Ziel überhaupt wünschenswert und persönlich bedeutsam sein. Rheinberg (2004, S. 15) beschreibt Motivation als »[…] aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand«. Nicht zurückliegende Ereignisse sollen den Menschen antreiben, sondern ein erwarteter zukünftiger Zustand soll ihn anziehen (vgl. Rheinberg, 2004, S. 19 ff.). Es reicht nicht aus, zu glauben, die Fähigkeiten zu besitzen, eine Handlung erfolgreich durchführen zu können, sondern die Handlung sollte gleichzeitig auch zu den erwünschten Konsequenzen führen. Aufschluss über die Motive, Werthaltungen und Fähigkeiten von Klienten, bezogen auf deren Beruf, bietet zum Beispiel der »Karriereanker« von Edgar Schein (2005). Dieser »Anker« macht es möglich, die gewünschte Berufsentwicklung zu den persönlichen Werten in Bezug zu setzen. Die persönliche Einstellung zum Thema »Beruf« und die Beweggründe werden transparenter. Schein bietet acht verschiedene Kategorien von beruflichen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Karriereorientierungen an: technisch/funktionale Kompetenz, Befähigung zum General Management, Selbständigkeit/Unabhängigkeit, Sicherheit/Beständigkeit, unternehmerische Kreativität, Dienst oder Hingabe für eine Idee oder Sache, totale Herausforderung, Lebensstilintegration (vgl. Schein, 2005, S. 28 ff.).

2.4 Kontrollparameter identifizieren, Energetisierung ermöglichen Eine wesentliche Voraussetzung für Selbstorganisation ist die energetische Aktivierung des Systems. Insbesondere geht es um die Herstellung motivationsfördernder Bedingungen, um die Aktivierung von Ressourcen, um die Intensivierung von Emotionen und um die emotionale und motivationale Bedeutung von Zielen und Anliegen des Ratsuchenden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 438). Hier stellt sich die grundlegende Frage, woher die Energie für menschliche Veränderungs- und Entwicklungsprozesse kommt und welche Kontrollparameter für den Ratsuchenden relevant sind. Nach Haken und Schiepek (2010, S. 422) geht es um Veränderungsmotivation (Leidensdruck: weg von etwas – hin zu etwas) und um die emotionale Intensität der Problembearbeitung. Ein hoher Leidensdruck aktiviert gleichzeitig einen starken Veränderungswunsch. Dabei ist es, wie bereits im vorangehenden Kapitel erwähnt, einfacher, sich von einer attraktiven Zukunftsvision anziehen zu lassen, als sich mühsam von einem problematischen Zustand weg zu schieben (vgl. Bamberger, 2001, S. 48). Emotionen spielen dabei eine wichtige Rolle, denn sie geben der Welt eine Bedeutung. Nach LeDoux »[…] werden Emotionen, sobald sie auftreten, zu mächtigen Motivatoren künftigen Verhaltens« (2010, S. 22). Antizipierte Emotionen, die als Folge von Entscheidungen erwartet werden, können den aktuellen Gemütszustand des Entscheiders (seine Aufmerksamkeits- und Voreingenommenheitsparameter) ebenso verändern wie zufällige Ereignisse. Sie bringen ihn in verschiedene States of Mind, in denen er die Welt unterschiedlich interpretiert. Zudem greift der Mensch auf Vorerfahrungen (Erfahrungsschatz) zu© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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rück, die ihrerseits wiederum emotional geprägt sind (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 205 ff.). Die energetische Aktivierung des Systems entspricht dem »Prinzip der unmittelbaren Erfahrung des Klienten« nach Grawe (2000, S. 93 ff.). Hier wird die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, was gerade im Ratsuchenden abläuft bzw. welche »gefühlte Bedeutung« er diesen Abläufen zuschreibt (Was denkt und fühlt er? Was möchte er tun/vermeiden?). Der Gegenwartsbezug spielt eine überaus große Rolle, da Veränderungen immer von der Gegenwart in die Zukunft wirken. Auch LeDoux (2010, S. 217 ff.) vertritt die Meinung, dass sich neuronale Netze vor allem im aktivierten und damit energetisch angeregten Zustand verändern. Daher soll der Klient angeregt werden, biographisch wichtiges Material in lebendiger und erlebnisnaher Form in den Beratungsprozess einzubringen (vgl. LeDoux, 2010). In der Beratung ist es hilfreich, Ziele emotional anzureichern, das heißt, einen Bezug zwischen Emotionen und Zielen herzustellen. Maturana (1982) spricht von »Emotionieren« und verbindet damit, dass alles Verhalten emotional gesteuert wird, Lämmle nennt es den »angespürten« Zielzustand (vgl. Lämmle u. Haase, 2004). Das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) nach Storch und Krause (2009, S. 31) ist eine wissenschaftlich fundierte Methode zur gezielten Entwicklung von Handlungspotenzialen. Das daraus entwickelte Selbstmanagementtraining spricht Klienten systematisch auf der kognitiven, der emotionalen und der körperlichen Ebene an.

2.5 Destabilisierung, Fluktuationsverstärker realisieren Beratung verfolgt das Ziel, den Ratsuchenden neue und veränderte Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen. Durch neuartige Erfahrungen werden bestehende K-E-V-Muster destabilisiert und es treten zunächst irritierende Inkongruenzen auf. Bereits im Vorfeld der Beratung bahnen sich beim Klienten schon Gefühle an, dass das bisher verfolgte Lebenskonzept nicht mehr adäquat ist (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 438 f.). Phasen kritischer Instabilität führen zu einer Aufweichung der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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bestehenden Ordnung. Sie zeigen sich im Prozess in mehr oder weniger deutlicher Form und gehen häufig mit starken Emotionen (Verunsicherung, Angst, Trauer, Wut) einher. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Reduktion von Beschwerden, Problemen und Symptomen und der Ausprägung der kritischen Instabilität im Beratungsprozess. Nachdem zuvor das »Schaffen von Stabilitätsbedingungen« als wichtiges Prinzip zur Förderung von Selbstorganisation beschrieben wurde, scheint eine Destabilisierung auf den ersten Blick im Widerspruch dazu zu stehen. Die Herausforderung für den Berater ist das Herstellen einer Balance zwischen stabilisierenden (Empathie, Respekt etc.) und destabilisierenden (Veränderungen anregen) Interventionen. Stabilität bildet den Hintergrund, vor dem Destabilisierung möglich wird, das heißt, wenn ein Klient sich sicher fühlt, lässt er sich leichter auf Veränderungen ein. Nach de Shazer (2005, S. 24) findet Veränderung statt, wenn im Beratungsprozess neue und andere K-E-V-Muster innerhalb des vorgestellten Anliegens und/oder eine Lösung entstehen können. Dabei birgt jede noch so kleine Veränderung4 die Chance, eine Lösung in Richtung einer zufriedenstellenderen Zukunft auf den Weg zu bringen. Grundsätzlich ist es keinesfalls fraglich, »ob« eine Veränderung eintritt, vielmehr geht es um die Frage, »wann« sie eintreten wird. Dies bedeutet: Für Zweifel an der Veränderung/Lösung bleibt kein Raum; sie ist unvermeidlich und muss nicht erfunden, sondern nur aufgefunden und entdeckt werden (vgl. de Shazer, 2005, S. 221 ff.). Um das Klientensystem energetisch zu aktivieren und um zu erfahren »welche Tür zur Lösung geöffnet werden sollte«, bieten sich verschiedene Techniken an, wie etwa: Ausnahme- und Unterschiedsfragen, Skalierungen, »Wunderfragen« oder Handlungsempfehlungen (vgl. Grossmann, 2005, S. 138). Der Beratungsfokus liegt eindeutig bei den 4 Der sogenannte Schmetterlingseffekt besagt, dass kleine Ursachen große Wirkungen hervorrufen können. Nach der Metapher von Edward Lorenz ist es demnach theoretisch vorstellbar, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien zwei Wochen später einen Wirbelsturm in Texas auslöst.

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Lebensbereichen des Klienten, die funktionieren (vgl. Grossmann, 2005, S. 141). Da eine Veränderung nicht vorhersehbar und voraussagbar ist und zahlreiche Möglichkeiten bestehen, in Zukunft zufriedener und ohne »das Problem« zu leben, ist es Aufgabe des Beraters, das voranzutreiben, was nach den Erwartungen des Ratsuchenden anders sein wird, wenn das Beratungsziel erreicht ist (vgl. de Shazer, 2005, S. 63 ff.). Hilfreich sind hier die Entwicklung von emotional und motivational bedeutsamen Zukunftsszenarien, »[…] die wahr werden können und die Sehnsucht nach Zukunft wecken« (Bamberger, 2001, S. 21). Auch Bateson betont die Suche nach interessanten Differenzen, nach »Unterschieden, die einen Unterschied machen«5 – auch kleine Unterschiede können größere nach sich ziehen6 (vgl. Bateson, 1983, S. 580 ff.). Solche Änderungen, Schwankungen und Fluktuationen des Problems finden sich häufig im Vergleich zwischen früher, heute und künftig, zwischen dem, was ist und was sein könnte (vgl. Honermann, Brinkmann, Müssen u. Schiepek, 1999, S. 16). Aufgabe des Beraters ist das Anstoßen und die Unterstützung dieser inneren Suchprozesse, die den Klienten mit seinem Möglichkeitsraum in Kontakt bringen und die Problem stabilisierenden Muster unterbrechen (vgl. Bamberger, 2001, S. 24). Die Lösung des Problems ist, wie bereits erwähnt, nicht zwangsläufig seinem »Verschwinden« gleichzusetzen. Es ist durchaus möglich, dass die Lösung darin besteht, dass dem Problem eine andere Bedeutung zugeschrieben wird und es nicht mehr als solches wahrgenommen wird. So kann zum Beispiel der Streit mit dem Arbeitskollegen nicht mehr als belastend, sondern als förderlich empfunden werden. Auch die gezielte Wissensvermittlung und das Einbringen von fachlichen Kenntnissen sind hier angesiedelt, da der Klient neue Informationen erhält, die ihm neue Einsichten ermöglichen.

5 »Ein Unterschied, der einen Unterschied macht, ist eine Idee. Er ist ein ›Bit‹, eine Informationseinheit« (Bateson, 1983, S. 353). 6 Dies ist jedoch nicht zwingend. Kleine Unterschiede können größere, kleinere oder gar keine Unterschiede nach sich ziehen (vgl. Grossmann, 2005).

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2.6 Kairos beachten, Resonanz und Synchronisation ermöglichen Die Interventionen und Methoden in der Beratung sollen dem aktuellen kognitiv-emotionalen Zustand (»state of mind«) und der Verarbeitungstiefe des Klienten entsprechen. Es geht dabei sowohl um die zeitliche Passung und Koordination des Beratungsprozesses als auch um den Kommunikationsstil des Beraters. Nur wenn diese mit den Prozessen und Rhythmen des Klienten kongruent sind, können sie von ihm verstanden und aufgegriffen werden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 439). Der Berater strebt Passgenauigkeit an, indem er sich der Eigendynamik des Klientensystems anpasst und sich von dessen Feedback auf seine Interventionen leiten lässt. »Angesichts der Autonomie komplexer Systeme sind Interventionen ohne Kenntnis geeigneter Möglichkeiten der ›Kopplung‹ und ohne Passung zu aktuellen Systemzuständen und spezifischen Umweltsensibilitäten wenig erfolgversprechend« (Schiepek, 1999, S. 36 f.).

Falls erforderlich, modifiziert der Berater sein Vorgehen, um Passgenauigkeit herzustellen. Genau in dieser Fähigkeit liegt nach Schiepek das Expertentum des Beraters begründet (vgl. Schiepek, 1999, S. 37 ff.). Jede vom Klienten selbst bewirkte Veränderung7 kann als Zeichen von Passgenauigkeit betrachtet werden8 (vgl. de Shazer, 2005, S. 90 ff.). Interventionen sind ebenfalls auf den richtigen Moment, auf Kairos9, angewiesen und sollten zur richtigen Zeit in der richtigen Form erfolgen. Es gilt, die sensiblen Momente und Aufnahmebereitschaften zu erspüren, zu nutzen und zu fördern. Der Begriff »Anregungs-Aufnahmebereitschafts-Passung« spiegelt die Bedeutung dieses Prinzips wider. Solange der Ratsuchende noch mit inneren Such7 Das gilt nicht für spezifische beraterische Anweisungen, die der Klient »nur« ausführt. 8 Passgenauigkeit zeigt sich zum Beispiel darin, ob der Klient die Hausaufgabe erledigen konnte/wollte. 9 In der griechischen Mythologie gilt Kairos als Gott der günstigen Gelegenheit, der besonderen Chance, des rechten Augenblicks.

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und Verarbeitungsprozessen beschäftigt ist, ist eine neue Intervention nur sinnvoll, wenn diese Prozesse gezielt unterbrochen werden sollen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 439). Der Berater sollte sich darauf einstimmen, wie der Klient denkt, fühlt, handelt und spricht und sich seine Bilder, Metaphern, Erwartungen und Ziele zu eigen machen. Bamberger bringt dies wie folgt auf den Punkt: »Nur wenn in der Logik des Klienten gedacht und formuliert wird, kann dieser gute Gründe finden, um sowohl der Wirksamkeit dieser Lösungsidee als solcher zu vertrauen als auch sich selbst als angemessen kompetent für die Lösungsumsetzung einzuschätzen« (Bamberger, 2001, S. 100).

Die Akkommodation des Beraters an die Repräsentationssysteme des Klienten betrifft sowohl verbale als auch nonverbale Aspekte der Kommunikation, wie Körperhaltung und Wortwahl, Sprechgeschwindigkeit, Tonfall, Pausen, Blickkontakt, Mimik, Gestik, Atmung, das Aufgreifen von Bildern, Metaphern oder Schlüsselwörtern. Lämmle spricht vom »Finden des Codes, der überhaupt ein Entree in die innere Welt des Klienten erlaubt« (Lämmle u. Haase, 2004, S. 12). Zeigt sich der Berater unbeteiligt von dem, was der Ratsuchende berichtet, wird dies vom Klienten zum Beispiel als mangelndes Interesse oder fehlendes Verständnis für sein Anliegen oder seine Person wahrgenommen (s. generisches Prinzip 1); dies beeinflusst sein weiteres Verhalten (vgl. Grawe, 2000, S. 310 ff.). Damit sich auch der Berater authentisch und sicher fühlt, müssen die Beratungstechniken nicht nur zum Klienten (Persönlichkeit, persönliche Konstrukte) und zum Prozess passen, sondern auch zur eigenen Persönlichkeit und zum eigenen Stil (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 448 ff.).

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2.7 Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen Im Zustand kritischer Instabilität besteht die Möglichkeit, dass zwei oder mehrere Attraktoren (Ordner) eines Systems mit gleicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden10. Der Berater hat die Aufgabe, Interventionstechniken anzuwenden, um die »Symmetriebrechung« in eine bestimmte Richtung zu lenken, zum Beispiel durch Rollenspiele und das Fokussieren auf Emotionen, motorische Übungen, imaginierte Zielzustände, kognitive Antizipation von Verhaltensweisen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 439 – 440). Neue Ordnungszustände entstehen, wenn unter einer Vielzahl von Möglichkeiten, diejenige ausgewählt wird, die geeignet ist, einen bestehenden Spannungszustand zu reduzieren. Es entsteht, sozusagen unter Berücksichtigung der vorgebahnten neuronalen Erregungsmuster und durch die realen Umstände ein »Entwicklungsraum« (ein Zukunftsraum mit vielen offenen Möglichkeiten) innerhalb dessen mehrere Zustände möglich sind. Eine Veränderung kündigt sich durch eine Phase der Instabilität an und setzt einen Möglichkeitsraum voraus. In der Beratung geht es darum, die aktuell funktionierenden Kontrollparameter zu beeinflussen, um den »stabilen Störungsattraktor« in einem ersten Schritt zu destabilisieren. Im zweiten Schritt ist dann gezielt, entweder durch Etablierung eines neuen oder durch Aktivierung eines bereits vorhandenen anderen Attraktors, das Klientensystem vom versklavenden Einfluss des Störungsattraktors (z. B. mangelnde (berufliche) Selbstwirksamkeitserwartung) zu befreien (vgl. Grawe, 2000, S. 480 ff.). Dabei wird nicht »alles« der Selbstorganisation überlassen, sondern es wird versucht, der Entwicklung eine bestimmte (positive) Richtung zu geben. Der Berater versucht, bestimmte Entwicklungsrichtungen attraktiver zu machen als andere, unter anderem über häufige Hinweise auf erfolgreiche Verhaltensmuster, Fähigkeiten und Möglichkeiten (Ressourcenaktivierung durch positive Konnotation), durch das Konstruieren von Zielen und Visionen und 10

Es besteht »Symmetrie«. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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durch die Frage, wie der erste Schritt wohl aussehen und wann er unternommen wird (vgl. Bamberger, 2001, S. 48 ff.). In Rollenspielen kann der Klient mit reduzierter sozialer Komplexität experimentieren. Mit seinen definierten Regeln (Abgrenzung zur Realität) grenzt das Spiel einen geschützten Raum (»Schonraum«) ein, innerhalb dessen Realität antizipiert oder nachgestaltet werden kann. Auch Annahmen über die Zukunft haben eine kraftvolle Wirkung auf den gegenwärtigen Zustand. Das gemeinsame Konstruieren von Wirklichkeit, die für die Lösung wirksam wird, zum Beispiel über Imaginationen, trägt entscheidend dazu bei. Mithilfe von Skalierungsfragen werden dem Klienten Fortschritte und Bewegungen in Richtung einer Lösung deutlich vor Augen geführt. Darüber hinaus erlauben Zahlen und Skalen dem Ratsuchenden, sich konkrete Unterschiede vorzustellen. Der Übergang von Prinzip 5 zu Prinzip 7 ist fließend (graduelle Unterschiede).

2.8 Re-Stabilisierung Dazu zählen alle Maßnahmen zur Stabilisierung und Integration neuer und positiv bewerteter K-E-V-Muster. Die neuen Muster sind in das bestehende Selbstkonzept des Ratsuchenden zu integrieren und mit den bestehenden emotionalen Selbst-Schemata zu vernetzen. Dies gelingt zum Beispiel durch Wiederholung, Variation, Nutzung in unterschiedlichen Situationen und Kontexten oder positive Verstärkung (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 440). Neuronale Erregungsmuster, die unter bestimmten Bedingungen (Kontrollparametern) hervorgerufen wurden und einen Spannungsabbau beim Individuum auslösen, bilden neue synaptische Verbindungen. Je häufiger diese Verschaltungsmuster durch eigene, emotional bedeutende Erfahrungen, Handlungen oder Vorstellungen aktiviert werden, desto fester und stabiler werden die synaptischen Verbindungen. Sobald der Klient das »gebahnte Verschaltungsmuster« ohne darüber nachzudenken reflexartig abruft, hat sich die neue Ordnung fest verankert (vgl. Hüther, 2009b, S. 87). Der in Form von Erregungsbereitschaft © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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gespeicherte Attraktor löst sich also von seiner Entstehungsgeschichte und wird autonom (vgl. Grawe, 2000). Dort, wo positiv bewertete K-E-V-Muster erreicht wurden, gilt es, diese zu stabilisieren, zu automatisieren und zugänglich und verfügbar zu halten. Positive Verhaltensweisen oder neue Bedeutungsgebungen, die in der Ausnahme funktionieren, sollen demnach zur Regel werden. Die erfolgreiche und wiederholte Realisierung erfolgt beispielsweise durch Variation, Nutzung in unterschiedlichen Situationen und Kontexten sowie durch positive Verstärkung. Durch beraterische Aufgabenstellungen (Hausaufgaben) werden diese in den Alltag des Klienten integriert und somit gleichzeitig eingeübt. Die Erfahrungen der Klienten zwischen den einzelnen Beratungssitzungen prägen dies wesentlich mit. Nach Loth (1998, S. 147 ff.) geht es um die »Verkörperung der Veränderung«11 und um das Sichtbarmachen von Erfolgserlebnissen im Beratungsprozess mit dem Ziel der Beendigung der Unterstützungsnotwendigkeit. Dabei geht es nicht um die Lösung der Probleme, sondern vielmehr um die Fähigkeit des Klienten, unabhängig kompetent und effektiv handeln zu können, das heißt, selbstorganisiert sein weiteres Leben zu gestalten. Die wertschätzende Identifikation von positiven Veränderungen, die sich im Anschluss an das erste Beratungsgespräch im Alltag des Klienten ergeben haben, zum Beispiel durch die einleitende Frage, was sich seit dem letzten Gespräch verbessert hat und deren Verknüpfung mit den Ressourcen über die anschließende Frage, was zum Gelingen beigetragen hat, fördern das Selbstwirksamkeitserleben (vgl. Bamberger, 2001, S. 137 f.). Auch Skalierungsfragen bieten sich an, um Fortschritte abzubilden und dem Ziel näher zu kommen. Sobald neue Muster wie selbstverständlich zum Alltag eines Klienten gehören, sind sie keine »Lösungen« mehr, weil sich die Differenz zwischen Problem und Lösung auflöst (vgl. Grossmann, 2005, S. 295). 11

Auch Grawe geht davon aus, dass Klienten »reale Erfahrungen« mit all ihren Sinnen machen müssen und nicht nur »verbale Repräsentationen von Erfahrungen«, damit sich ein neues Muster etablieren kann (vgl. Grawe, 2004). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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2.9 Fazit Wie bereits einleitend bemerkt, sollte durch die vorangehende Beschreibung und Interpretation der Prinzipien klar werden, dass diese keine fest vorgeschriebene Beratungsgestaltung verlangen. Vielmehr gilt es, aus einem offenen Methodenrepertoire diejenigen auszuwählen, die fall-, situations- und personenangemessen die Selbstorganisation im Beratungsprozess am ehesten fördern. Eine eindeutige Zuordnung von Methoden zu den Prinzipien bzw. eine klare Abgrenzung der Prinzipien voneinander scheint allerdings nicht möglich zu sein. Vielmehr gibt es Überschneidungen und die Prinzipien bedingen sich gegenseitig. Fühlt sich ein Klient zum Beispiel nicht sicher, lässt er sich nicht auf eine Veränderung ein; passt das erarbeitete Ziel nicht zu seinem Lebensentwurf, wird er kaum Anstrengungen unternehmen, es zu realisieren etc. Die Wunderfrage kann sowohl einen Möglichkeitsraum eröffnen als auch eine Symmetriebrechung auslösen, Rollenspiele können zu einer Stabilisierung einer neuen Ordnung führen oder zu einer Symmetriebrechung.

3 Einzelfallstudie einer berufsbezogenen Beratung Die im Folgenden vorgestellte Einzelfallstudie beschäftigt sich mit einer von der Verfasserin durchgeführten berufsbezogenen Beratung. Zu betonen ist, dass die Beratung nicht explizit in Anlehnung an die generischen Prinzipien aufbereitet und durchgeführt wurde. Gleichwohl orientiert sich die Beraterin an den generischen Prinzipien, indem sie zum Beispiel ressourcenund lösungsorientiert arbeitet. Nachfolgend soll überprüft werden, inwieweit in diesem persönlichen Beratungsansatz die generischen Prinzipien – mehr oder weniger – realisiert werden. Dazu wird das gesammelte Datenmaterial (transkribierte Bandaufzeichnungen) inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Kategorien dazu bilden die generischen Prinzipien. In diesem Beitrag werden aus Platzgründen nur Teile der ersten Beratungssitzung12 12

Es fanden insgesamt fünf Beratungssitzungen  sechzig Minuten statt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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betrachtet. In der folgenden Darstellung wird die jeweilige Sitzung zuerst verdichtet zusammengefasst, danach werden beispielhaft Gesprächsauszüge (Prozesselemente) aus den Transkripten extrahiert und aufgeführt. Prozesselemente (PE) sind Sinneinheiten, die in der Regel durch eine Intervention der Beraterin charakterisiert sind. Anhand der Gesprächsausschnitte erfolgt eine interpretative subjektive Zuordnung zu den generischen Prinzipien. Zu erwähnen bleibt, dass Veränderung beim Klienten auch ohne eine Intervention von Beraterseite stattfindet. Dies ist jedoch nicht Gegenstand der Betrachtung. Eine abschließende graphische Darstellung (Prozessmatrix) soll den Prozess illustrieren.

3.1 Rekonstruktion und Analyse des Beratungsprozesses 3.1.1 Fallskizze Der Klient nimmt im Anschluss an eine vierwöchige Arbeitsunfähigkeit (Burn-out-Syndrom) Beratung in Anspruch. Der Leidensdruck bzw. die Veränderungsmotivation ist entsprechend hoch, was den Beratungsprozess positiv beeinflusst. Der lebensweltliche Kontext des Klienten sieht wie folgt aus: Er ist zum Zeitpunkt der Beratung 44 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder.

3.1.2 Realisierung der generischen Prinzipien Ein Ohnmachtsgefühl prägt in der ersten Beratungssitzung das Erleben von Herrn S. Seine berufliche Situation wird als äußerst belastend erlebt. Typisch für das herrschende Muster sind: Stress und Orientierungslosigkeit, der Wunsch nach Stressreduktion und die Frage nach beruflich sinnvollen Handlungsalternativen. Gefühle des Hin-und-her-gerissen-Seins sind ein Indikator dafür, dass die Ordnung bereits aus den Fugen geraten ist. Das System befindet sich auf dem Höhepunkt der Instabilität, und der Klient ist an diesem Verzweigungspunkt des Wandels nicht fähig, aus eigener Kraft die Symmetriephase zu überwinden. Durch die gemeinsame Erarbeitung eines Ziels erfährt er eine Zunahme seiner Handlungskompetenz. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Beratungssequenz 1 (PE 1) Die Unterschiedsfrage zentriert die Aufmerksamkeit des Klienten auf das eigene Handeln. Beraterin: »Sie haben ja irgendwie vor, was zu bearbeiten/zu verändern…. Was ich auch immer so höre von den Klienten ist: ›Seit ich weiß, ich habe da einen Termin, hat sich bei mir schon was getan oder ich habe irgendwie schon gemerkt, dass sich etwas verändert hat‹. Können Sie das auch berichten?« Klient: »Das ist tatsächlich so. Ich würde es vielleicht als Leichtigkeit und Unbekümmertheit beschreiben …«

Der Fokus des Klienten wird durch das eigene Beobachten des Prozesses auf seine Ressourcen (es hat sich schon was getan) (Prinzip13 1, 3 und 4) und Handlungsspielräume gelenkt (Prinzip 5). Die Frage zeigt darüber hinaus Interesse am Ratsuchenden, vermittelt Zuversicht (Prinzip 1) und würdigt seine eigene Veränderungsarbeit (Prinzip 7). Zusätzlich wird eine energetische Aktivierung (er fühlt sich leicht und unbekümmert) ermöglicht (Prinzip 4). Die Frage leitet die Klärungsarbeit ein und macht KE-V-Muster bewusst (Prinzip 2). Gleichzeitig möchte der Berater etwas über den aktuellen Systemzustand erfahren, um Folgeinterventionen daran anzupassen (Prinzip 6). Die Antwort des Klienten weist einerseits darauf hin, was ihm gerade wichtig ist (Prinzip 3), und zeigt andererseits seine eigene Zuversicht, bezogen auf den Veränderungsprozess (Prinzip 1). Erste Erfolgserlebnisse (Prinzip 7) und seine Veränderungsmotivation werden sichtbar (Prinzip 4). Beratungssequenz 2 (PE 2) Die Frage nach dem Beratungsziel fokussiert die inhaltliche Seite der Zusammenarbeit. Aus Gründen der Vereinfachung wird bei den Sitzungsanalysen im Folgenden nur noch von »Prinzipien« gesprochen. Damit sind die generischen Prinzipien gemeint. 13

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Beraterin: »Gut. Und jetzt die zweite Frage, was mich natürlich interessiert, was ist das Ziel, was versprechen Sie sich von der Beratung, was wünschen Sie sich? Wo möchten Sie gerne hin?« Klient: »Bestätigung und noch mehr Klarheit …« Klient: »Genau, also etwas ganz anderes zu tun und auch durchaus finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen, für das Glück. Ich möchte das mal als Glück bezeichnen. Und ja, die Erwartung an die Beratung ist ein bisschen noch mehr Bestätigung für meinen Weg, den ich mir überlegen könnte …«

Die Anliegenklärung steckt den Rahmen der Beratung ab (sorgt für Stabilität) (Prinzip 1). Sie zeigt Muster des Klientensystems auf (»Bereitschaft zugunsten des Glücks, finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen oder etwas ganz anderes zu tun«) (Prinzip 2), stellt einen Sinnbezug her (das Ziel soll zu seinem Lebensentwurf passen) (Prinzip 3), aktiviert das Klientensystem energetisch (persönliche Betroffenheit) (Prinzip 4) und öffnet den Blick für neue Möglichkeiten (»etwas ganz anderes tun«) (Prinzip 5). Das bisher verfolgte Lebenskonzept scheint nicht mehr adäquat, das Gewohnte (gute finanzielle Lage) wird infrage gestellt (Prinzip 5). Durch die »breite« (unpräzise) Formulierung der Frage wird versucht, Passgenauigkeit herzustellen (Prinzip 6). Der mögliche Entwicklungsraum wird in eine positive Richtung gelenkt (Anregung zur Schilderung seiner Vorstellungen) (Prinzip 7). Beratungssequenz 3 (PE 3) Das Bild der Waage (Metapher) beschreibt den Zustand des Klienten. Beraterin: »O.K. Also das ist die Spur, die Sie die ganze Zeit fahren und irgendwie kristallisiert sich heraus, wird die eine etwas stärker. Ein bisschen so eine Waage.« Klient: »Ja richtig. Die Waage bezeichnet es, glaube ich, sehr gut. Ja. Die Waage bezeichnet es gut. Es ist tatsächlich so, beides sind meine Schwerpunkte und ich war immer technisch unterwegs in irgendwelchen technischen Dingen, aber immer an Schnittstellen. Sei es zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Ariane Wahl Marketing, sei es zu Controlling, sei es zu, ja, zu anderen kaufmännischen Dingen …«

Es scheint, dass sich der Klient verstanden fühlt (Prinzip 1 und 6). Es wird nicht versucht, ihm das innere Zerrissen-Sein auszureden, sondern es geht als Ressource (die Fähigkeit abzuwägen) in den Prozess ein (Prinzip 6 und 4). Das Hin-und-her-gerissenSein bekommt eine Gestalt und ermöglicht eine neue/andere Wahrnehmung (Prinzip 2 und 5) und die Metapher passt in sein Lebenskonzept (er hat ein Doppelstudium absolviert) (Prinzip 3). Es ist fast eine kleine Erleichterung spürbar (»ja, die Waage bezeichnet es gut, sehr gut«) (Prinzip 4). Vielleicht hat sogar eine Symmetriebrechung stattgefunden, da das Problemerleben zu einem »Ausbalancieren/Abwägen« umformuliert wurde (Prinzip 7) und eine Stabilisierung, da das Erreichte (seine Spur) hervorgehoben und gewürdigt wird (Prinzip 8). Beratungssequenz 4 (PE 4) Der Klient beschreibt als Experte in seinem beruflichen Kontext verschiedene berufliche Alternativen und wird aufgefordert, eine davon genauer auszuführen. Beraterin: »O.K. Und jetzt die Wissenschaft, was wäre denn das Ziel? Internationale wirtschaftliche Zusammenhänge zu untersuchen oder wie sieht denn diese Tätigkeit aus? Würde mich mal interessieren, was macht man da?« Klient: »Also, im Moment kann ich das von der Lehre her etwas besser vielleicht beschreiben. Ich habe seit letzten Dezember eine Dozententätigkeit an der Fachhochschule und das macht mir große Freude …«

Hier ist das Expertentum des Klienten gefragt; er kennt sich besser aus als der Berater (Prinzip drei). Seine Ressourcen werden sichtbar und aktiviert (Prinzip 1, 3 und 4), er erfährt Interesse und erlebt die Beratung als Kooperation zwischen zwei »gleichrangigen« Menschen (gute Beziehungsqualität) (Prinzip 1 und 6). Die Dozententätigkeit macht ihm »Freude« (Selbstwahrnehmung, hohe Motivation) (Prinzip 2 und 4) und passt in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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sein Lebenskonzept (Prinzip 3). Es scheint ein Bereich zu sein, der ihm gefällt (Ausnahme von der Problemsituation) und der seinem Wunsch nach mehr Glück entspricht (Prinzip 5). Das Betrachten eines Lebensbereiches, der funktioniert, geht in Richtung Symmetriebrechung, das heißt weg von der Orientierungslosigkeit (Prinzip 7), und trägt zur Stabilisierung bei (Prinzip 8). Beratungssequenz 5 (PE 5) Die Zieldefinition und die Entwicklung einer Vision einer erfreulicheren Zukunft werden erarbeitet. Beraterin: »Wenn wir das Ziel jetzt mal in Worte fassen wollten, wäre das berufliche Zufriedenheit durch die optimale Entscheidung oder wie?« Klient: »Nein, das müsste man anders formulieren, persönliche Zufriedenheit.« Beraterin: »Persönliche Zufriedenheit.« Klient: »Durch berufliche Zufriedenheit. Es gibt einen wirtschaftlichen Sättigungsgrad und der geht nicht einher mit dem emotionalen Sättigungsgrad. Und dieser Hunger nach Emotionen, nach emotionaler Zufriedenheit, das ist für mich der Antrieb, um hier einen Wechsel herbeizuführen.« Beraterin: »Also es geht jetzt sozusagen um eine emotionale berufliche Zufriedenheit?« Klient: »Ja richtig.« Beraterin: »Eine gefühlte berufliche Zufriedenheit?« Klient: »Genau.«

Die Frage lässt mehr Klarheit über das Beratungsziel entstehen und lenkt die Aufmerksamkeit in eine positive Richtung (Vorstrukturierung) (Prinzip 1 und 7), die Denkmuster des Klienten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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werden sichtbar (Prinzip 2) und es geht eindeutig um das Anliegen des Klienten und die Passung zu seinem Leben (Prinzip 3). Die Veränderungsmotivation (energetische Aktivierung) ist hoch und wird deutlich über die Aussage »dieser Hunger nach Emotionen, nach emotionaler Zufriedenheit, das ist für mich der Antrieb« (Kontrollparameter) (Prinzip 4). Durch den Suchprozess nach der passenden Formulierung werden bestehende Muster unterbrochen (Prinzip 5); und ein neuer Ordnungszustand entsteht und festigt sich (Prinzip 7 und 8). Das Mitgehen des Beraters, zum Beispiel durch Wiederholungen, Feedback und Rückfragen, stellt Passgenauigkeit her (Prinzip 6). Graphische Darstellung Mithilfe der Prozessmatrix (s. Tabelle 1) soll der Beratungsprozess im Hinblick auf die generischen Prinzipien abgebildet werden, um auf einen Blick erkennen zu können, welche generischen Prinzipien durch welche Interventionen wann und in welcher Ausprägung realisiert werden. Die relevanten Prozesselemente (PE), das heißt die Interventionen des Beraters und die Reaktionen des Klienten14, werden in ihrer zeitlichen Abfolge den generischen Prinzipien (GP) zugeordnet. Die Zahlen 1 bis 3 sind Ausdruck des Realisierungsgrades (– = nicht ausgeprägt, 1 = gering ausgeprägt, 2 = mittelstark ausgeprägt, 3 = stark ausgeprägt). Die zahlenmäßige Bewertung erfolgte auf der Basis der subjektiven Einschätzung der Beraterin und kann jederzeit hinterfragt und anderweitig interpretiert werden. In der Matrix wird sichtbar, dass Prinzip 5 und 1 die meisten Punkte erzielt haben, das heißt die Stabilisierung in Verbindung mit der Destabilisierung. Gerade in der ersten Beratungseinheit spielen der Beziehungsaspekt und das Schaffen eines sicheren Raums eine bedeutende Rolle. Gleichzeitig werden durch das gezielte Hinterfragen von Klientenäußerungen und durch die Zielfindung erste Klärungsmomente herbeigeführt, die dem Ratsuchenden neue Perspektiven eröffnen. Die Konkretisierung des beruflichen Ziels (PE 5) erreichte als Prozesselement die 14

Die Nummerierung entspricht der zeitlichen Abfolge und steht im Text hinter dem Prozesselement in Klammern. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Generische Prinzipien in der beruflichen Beratung Tabelle 1: Prozessmatrix, Teilauszug Sitzung 1 Prozessmatrix

PE (1)

PE (2)

PE (3)

PE (4)

PE (5)

Summe

GP 1

3

3

3

3

3

15

GP 2

1

2

1

1

2

7

GP 3

2

2

1

3

2

10

GP 4

2

2

2

3

3

12

GP 5

3

3

2

3

3

14

GP 6

1

1

3

2

2

9

GP 7

1

1



2

3

7

GP 8







1

1

2

13

14

12

18

19

Summe

höchste Wertigkeit. Die Anliegens- und Zielklärung bildet im Erstgespräch stets die Basis der weiteren Zusammenarbeit und mündet in der Regel in einen Beratungskontrakt.

4 Abschließende Reflexion Die einzelnen Prinzipien können nicht isoliert betrachtet werden; vielmehr sind sie zusammenwirkende Elemente eines gesamten Beratungszusammenhangs. Sie sind eng miteinander verknüpft, beziehen sich aufeinander und bedingen sich gegenseitig. Die in diesem Beitrag stark verkürzte Gesprächsanalyse bestätigt außerdem die eingangs formulierte These, dass eine klare Zuordnung von Methoden zu den Prinzipien nicht möglich ist; vielmehr kann eine Intervention der Umsetzung mehrerer generischer Prinzipien dienen. Darüber hinaus gehen Veränderungen auch direkt vom Klienten aus und können nicht auf Interventionen zurückgeführt werden. Auch der Grad der Realisierung ist nur schwer und eher subjektiv bewertbar. Da in Anlehnung an Haken und Schiepek Interventionstechniken der Realisierung der generischen Prinzipien dienen, scheint es hilfreich, Interventionen nach den Kriterien »nützlich/förderlich« oder »weniger nützlich/förderlich« einzuteilen. Dies kann jedoch nur auf den jeweiligen spezifischen Beratungskontext bezogen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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erfolgen. Laut Schiepek (2010, S. 6) sind lebende Systeme keine »Input-Output-Automaten«, die von außen instruier- und störbar sind. Im vorliegenden Beitrag standen die beraterischen Methoden und Interventionen im Zentrum der Betrachtung. Die generischen Prinzipien entfalten ihre Wirkung jedoch nicht aus sich selbst heraus, sondern in ihrem Zusammenspiel, bezogen auf den jeweiligen Einzelfall bzw. den aktuellen Selbstorganisationszustand, in dem sich der Ratsuchende gerade befindet (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 440 f.). Es kommt darauf an, auf welches System bzw. auf welche inneren Systemzustände eine Intervention trifft, um zu sehen, was sie bewirkt (s. Kap. 2.6). Das bedeutet, dass das oben angeführte Beratungsbeispiel bzw. die Interventionen und ihre Wirkung auf die Selbstorganisation des Klienten nicht eins zu eins auf andere Fälle übertragen werden können; wahrscheinlich erlauben sie bestenfalls eine Tendenzeinschätzung. Um sichere Erkenntnisse zu gewinnen, bedarf es, wie oben angeführt, vielmehr einer kontinuierlichen Überprüfung der praktischen Anwendung in unterschiedlichen Beratungssituationen und -anlässen.

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Generische Prinzipien in der beruflichen Beratung

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Analyse (in)direkter Effekte von Coaching anhand der generischen Prinzipien – eine empirische Fallstudie

1 Coaching wirkt hinter verschlossener Tür In diesem Beitrag werden die Ergebnisse einer empirischen Fallstudie zu Wirkmechanismen von Coaching in einem Großunternehmen der IT-Branche dargestellt. Das Unternehmen verfügt über einen internen Coaching-Pool, um durch professionelles Coaching einen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der Organisation zu leisten und die Mitarbeiter in ihrer Weiterentwicklung zu unterstützen. Da Coaching als individuelle Personalentwicklungsmaßnahme in der Interaktion zwischen Coach und Coachee gewöhnlich hinter verschlossener Tür stattfindet, ist bislang weitgehend unklar, welche Prozesse Effekte in einem Coaching ermöglichen. Diese Prozesse wurden im Rahmen dieser Untersuchung genauer erforscht. Dabei fanden die sogenannten generischen Prinzipien (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437 ff.) als Wirkprinzipien für Psychotherapie und Beratung Berücksichtigung. Sie basieren auf der Synergetik und stellen Bedingungen dar, die Selbstorganisationsprozesse eines Systems fördern. Neben Wirkprinzipien wurden auch resultierende Effekte detailliert untersucht, die von Coach und Coachee beschrieben wurden. Da (Business-)Coaching im Unternehmenskontext stattfindet, war weiterhin von Interesse, inwiefern die Effekte des Coachings auch das organisationale Umfeld der Coachees beeinflussten. Das Erkenntnisinteresse der qualitativen Untersuchung leitete sich demnach aus folgenden Forschungsfragen ab:

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1. Fördern die generischen Prinzipien als Wirkprinzipien im Coaching-Prozess die Selbstorganisation der Coachees? 2. Welche (direkten) Effekte resultieren aus dem CoachingProzess? 3. Inwiefern beeinflussen direkte Effekte indirekt Personen aus dem Umfeld der Coachees? Durch die Beantwortung dieser Forschungsfragen sollte die Wirksamkeit von Coaching unter Rückbezug auf die Synergetik evaluiert und deren Bedeutung für organisationale Entwicklungsprozesse beleuchtet werden. Hierzu wird zunächst im folgenden Kapitel skizziert, was Coaching charakterisiert und auf welchem Coaching-Verständnis diese Untersuchung aufbaute. Darauf folgt im dritten Kapitel eine knappe Einführung in die theoretische Basis der Untersuchung und somit in die Synergetik, um die daraus entwickelten generischen Prinzipien für Coaching-Prozesse nachvollziehen zu können (s. zur näheren Betrachtung der generischen Prinzipien Schiersmann u. Thiel in diesem Band). Der Fokus liegt jedoch auf den Kapiteln 4 und 5, in denen zunächst das methodische Vorgehen und anschließend die Ergebnisse der Fallstudie dargelegt werden. Schließlich wird im sechsten Kapitel bilanziert, inwiefern die generischen Prinzipien zur Unterstützung von Selbstorganisationsprozessen im Coaching künftig angewendet werden sollen und im Rahmen einer allgemeinen Beratungswissenschaft weiter untersucht werden könnten.

2 Coaching – Hilfe zur Selbsthilfe Da Coaching zunehmend zu einem weit dehnbaren Modewort für verschiedenste Tätigkeiten verkommt, soll knapp umrissen werden, was unter Coaching in diesem Kontext verstanden wird. Trotz vieler unterschiedlicher Coaching-Definitionen scheint über die folgenden drei Charakteristika Konsens zu herrschen: • Das grundliegende Ziel von Coaching ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Der Coachee ist für seine Problembewältigung selbst verantwortlich, wird aber durch den Coach dabei unterstützt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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und beraten (vgl. Heß u. Roth, 2001, S. 15; König u. Volmer, 2009, S. 12 ff.). Oftmals liegt ein Problembewusstsein beim Coachee vor, Ursache und Lösung sind ihm aber unklar (vgl. Rauen, 2005, S. 112 f.). • Ein weiteres Merkmal ist die Gestaltung des Coaching-Prozesses durch den Coach. Der Coach versucht Abläufe im Coaching so zu lenken, dass sich die Ressourcen des Coachees bestmöglich entwickeln können, um dessen Wahrnehmung, Erleben und Verhaltensrepertoire zu erweitern (vgl. Backhausen u. Thommen, 2006, S. 106 f.). Er ist Experte für die Prozessgestaltung, nicht für die Handlungsentscheidungen des Coachees. • Coaching basiert auf einer gleichberechtigten Beziehung zwischen Coach und Coachee. Der Coach achtet darauf, den Coachee kontinuierlich in den Prozess einzubeziehen, indem er Interventionen und sein Konzept erklärt, auf das Befinden des Coachees sensibel eingeht usw. (vgl. Heß u. Roth, 2001, S. 15). Somit handelt es sich um ein transparentes, interaktives, machtsymmetrisches Geschehen (vgl. Loos u. Rauen, 2005, S. 156 f.). Die theoretische Verankerung von Coaching ist bislang – ebenso wie der Weiterbildungsweg zum Coach – heterogen, weshalb Coaching differenziert nach der theoretischen Basis betrachtet werden sollte (z. B. lösungsorientiert, systemisch, personzentriert, neurolinguistisch). Thematisch richtet sich Coaching an Personen – vorwiegend Führungskräfte – in ihrem organisationalen Kontext und damit einhergehenden berufsspezifischen Anlässen. Gemeinsam mit einem Coach können sie Ziele in ihrem Berufsleben reflektieren und an ihrer beruflichen Entfaltung arbeiten (vgl. Schreyögg, 2003, S. 52 ff.; Turck, Faerber u. Zielke, 2007, S. 15 ff.). Durch die Komplexitätszunahme in Unternehmen sind Managementtätigkeiten jedoch vermehrt auch Teil anderer Positionen. Eine schnelle Entscheidungsfindung oder Delegation von Aufgaben sind in projektartig organisierten Unternehmensstrukturen Teil vieler Positionsbeschreibungen. Deshalb ist Coaching nicht mehr nur Führungskräften vorbehalten. Obwohl Coaching stets © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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an Personal und somit an der Ausübung der Berufsrolle ansetzt, kann diese Rolle nicht von der gesamten Person abgespalten werden (vgl. Lippmann, 2008, S. 22 f.). Daher verläuft die Grenze zwischen beruflichen und privaten Themen im Coaching häufig fließend. Aufgrund dieses unscharfen Übergangs sollten Lebens-, Arbeits- und gesellschaftliche Kontexte des Coachees im Coaching Berücksichtigung finden, um den komplexen Wechselwirkungen gerecht zu werden (vgl. Schiersmann, 2009, S. 104, Kontextmodell). Ein Coach beobachtet die subjektive Wirklichkeitskonstruktion des Coachees und hilft ihm, Veränderungschancen zu identifizieren und Alternativen zu finden (vgl. Backhausen u. Thommen, 2006, S. 106). Um hierzu Interventionen sinnvoll einzusetzen, sollte der Coach ein Rahmenmodell anwenden, das eine theoretisch fundierte Ableitung zulässt und begründet. Dennoch sollte das Modell flexibel genug sein, um an den jeweils spezifischen Coaching-Prozess und die jeweils individuellen Bedürfnisse des Coachees angepasst werden zu können. Eine solch flexible und gleichzeitig variable Orientierung können die generischen Prinzipien leisten und so Selbstorganisationsprozesse fördern.

3 Synergetik: Ordnungsübergänge in Systemen Um in die theoretische Basis der Untersuchung einzuführen, soll zunächst kurz mit einer Metapher ausgeholt werden. Akteur dieser Metapher ist ein Schmetterling, ein Monarchfalter. Er gehört zur Gattung der Wanderfalter und legt zum Überwintern in riesigen Schwärmen lange Zugstrecken von Kanada bis nach Mexiko zurück, um sich dort in den Wäldern niederzulassen. Nachdem er von den ersten Sonnenstrahlen im Frühjahr geweckt wird, richtet er seine Flügel in einem perfekten Winkel als Sonnenkollektoren aus, so dass seine Schmetterlingsnachbarn ausreichend Wärme bekommen, um ebenfalls aus ihrer Winterstarre zu erwachen. Einzeln wären sie schutzlos und würden erfrieren, im Schwarm aber – oder im selbstorganisierten System – überleben sie. Der Schmetterling wird zudem häufig mit dem © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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»Schmetterlingseffekt« assoziiert, bei dem ein Flügelschlag eines Schmetterlings ausreicht, um einen Sturm zu entfachen, also eine neue Ordnung entstehen zu lassen. Der Untersuchung von Prozessen in selbstorganisierten Systemen und Ordnungsübergängen hat sich die Synergetik verschrieben. Aus der Synergetik leiteten Haken und Schiepek allgemeine Wirkprinzipien der Psychotherapie ab – die generischen Prinzipien (2010, S. 437 ff.). Darüber hinaus finden sie jedoch auch in anderen Feldern wie dem Management oder der Beratung Anwendung. Die Einhaltung dieser Prinzipien schafft Bedingungen, die Selbstorganisationsprozesse fördern. Gewinnt ein Coachee beispielsweise eine neue Sichtweise seines Problems oder erkennt eigene Stärken, hat sich die Ordnung seines psychischen Systems geändert. Diese Ordnung ist durch Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster (K-E-V-Muster) geprägt. Effekte im Coaching sind demnach Änderungen oder Ordnungsübergänge von K-E-V-Mustern. Ein Coach kann durch Interventionen das psychische System des Coachees anregen und innere Prozesse in Gang setzen, die zu Kaskaden von Ordnungsübergängen führen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 51, S. 244). Diese Muster werden durch spezifische Attraktoren (Anziehungspunkte) und Ordnungsparameter beeinflusst, die das Systemverhalten beeinflussen. In der Therapie und auch im Coaching geht es darum, Symmetrie zwischen Ordnungsparametern gezielt zu brechen und Ordnungsübergänge zu ermöglichen, so dass das Systemverhalten flexibel bleibt und nicht von einigen wenigen, aber starken Attraktoren abhängt (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 340 f.). Systeme sind mit anderen Systemen lose gekoppelt und können durch ihre Umwelt beeinflusst werden, so wie sie auch Einfluss auf andere Systeme, also ihre Umwelt, nehmen können. Diese kreiskausale Verbindung zwischen Umwelt und System wird möglich, indem Ordnungsparameter eines Systems zu Kontrollparametern eines anderen werden können. Ändern sich Kontrollparameter eines Systems, kann sich dessen Verhalten plötzlich ändern, da sie es energetisieren und so Fluktuationen provozieren. Auch Handlungen können als Ordnungsparameter gesehen werden, die über Kontrollparameter die Umwelt beein© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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flussen, indem sie als externe Randbedingung anderer Systeme deren Ordnerstruktur und somit deren Muster beeinflussen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 246 f.). Über geänderte Handlungen des Coachees (direkte Effekte) können folglich Muster von Personen aus dessen Umfeld beeinflusst werden (indirekte Effekte). Diese Wechselwirkungen fanden bislang keine Berücksichtigung in wissenschaftlichen Untersuchungen und waren daher in dieser Untersuchung von besonderem Erkenntnisinteresse.

4 Methodisches Vorgehen 4.1 Bisherige Forschungspraxis zur Untersuchung von Effekten im Coaching Die bisherige Wirksamkeitsforschung zu Coaching ist methodisch wie auch in ihrer theoretischen Fundierung sehr heterogen. Oftmals werden Untersuchungen in diesem Bereich ohne explizite theoretische Basis durchgeführt (vgl. Heß u. Roth, 2001) oder beziehen sich auf schulenübergreifende, für die Psychotherapie als allgemeingültig postulierte »common factors« (vgl. Jansen, Mäthner u. Bachmann, 2004). Die Bezugnahme auf Theorien der Psychotherapie scheint nach Künzli (2005, S. 237 ff.) jedoch Erfolg versprechend zu sein, wie er aus seiner Metaanalyse folgert. Die hier dargestellte empirische Untersuchung basiert theoretisch vor allem auf den generischen Prinzipien (Haken u. Schiepek, 2010, S. 437 ff.), aber auch auf einem weiteren psychotherapeutischen Wirkmodell (Grawe, 2000, S. 530 ff.) sowie auf dem Strukturmodell von Einzel-Coaching nach Greif (2008, S. 277). Trotz der unterschiedlichen Vorgehensweisen dominieren bisher quantitative Untersuchungen zu Wirkfaktoren und Effekten von Coaching, die numerische Daten oder betriebswirtschaftliche, legitimitätsfördernde Kennzahlen erzeugen (vgl. Giacovelli u. Goldkamp, 2009, S. 228). Einige qualitative Untersuchungen erforschen sehr spezifische Aspekte von Coaching, aber nicht den Prozess als solchen (vgl. Heß u. Roth, 2001; vgl. Hall, Otazo u. Hollenbeck, 1999; Alvey u. Barcley, 2007). Diese Fallstudie stützte sich ebenfalls auf ein qualitatives Vorgehen, um © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Prozess, Effekte und Auswirkungen im konstruktivistischen Sinne detailliert untersuchen und die soziale Wirklichkeit berücksichtigen zu können. In Anlehnung an ein 3608-Feedback bezog das Forschungsdesign möglichst viele Perspektiven (Coachs, Coachees, Umfeld der Coachees) auf den Untersuchungsgegenstand ein, um die Auswirkungen des Coachings auf andere Organisationsmitglieder eingehend untersuchen zu können (s. Abb. 1). Dabei wurden zum einen Wirkprinzipien und Auswirkungen von Coaching exploriert, zum anderen Effekte evaluiert.

4.2 Beschreibung des Untersuchungskontexts Die empirische Untersuchung fand in einem Großkonzern der IT-Branche statt. Durch professionelles internes Coaching soll das Potenzial von Mitarbeitern aller Hierarchiestufen individuell gefördert und deren Leistungsfähigkeit sowie Motivation gesteigert werden. Die Coachs stammen dabei aus unterschiedlichen Bereichen des Unternehmens und üben ihre Tätigkeit zusätzlich zu ihren alltäglichen Arbeitsaufgaben als Job-Enrichment aus. Allerdings müssen sie zunächst eine externe Weiterbildung zum Coach absolviert haben, die durch den DBVC (Deutscher Bundesverband Coaching e. V.) anerkannt ist. Vor der Aufnahme in den internen Coaching-Pool findet außerdem ein Aufnahmegespräch statt. Das Programm fußt auf umfassenden Maßnahmen zur Qualitätssicherung, die aus Qualitätsrichtlinien (zur Weiterbildung zum Coach und zur Durchführung von Coaching) und der standardisierten Evaluation der CoachingFälle bestehen. Zu diesen Qualitätsstandards müssen sich alle Coachs verpflichten. Sie enthalten einen Großteil der Kriterien zur Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualität nach Heß und Roth (2001, S. 141 ff.). Aus diesem Coaching-Pool wurden in der vorliegenden Untersuchung ausgehend von zwei Paarungen (bestehend aus Coach und Coachee) Interviews geführt.

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4.3 Forschungsdesign Im Verlauf des mehrstufigen Forschungsdesigns (s. Abb. 1) wurde zunächst die Einhaltung der Qualitätsdimensionen nach Heß und Roth (2001, S. 141 ff.) überprüft, um aufgrund eines formal qualitativ hochwertigen Coachings von einer grundsätzlich möglichen Effektivität ausgehen zu können. Diese Überprüfung fiel anhand der internen Qualitätsrichtlinien, Daten der Kurzfragebögen und Interviewaussagen in beiden untersuchten Fällen positiv aus. Der Fokus der Interviews lag jedoch auf der Dimension der Ergebnisqualität nach Heß und Roth (2001, S. 143). Die problemzentrierten Interviews bestanden zum Teil aus bewusst offen gestellten Fragen und zum Teil aus theoretisch operationalisierten Fragen, so dass die Prinzipien der Gegenstands- und Prozessorientierung berücksichtigt wurden (vgl. Witzel, 1982, S. 70 f.) sowie unvoreingenommen die soziale Realität erfasst werden konnte (vgl. Lamnek, 2005, S. 128 ff.). Durch den offenen Gesprächscharakter bei gleichzeitiger Zentrierung auf das Forschungsinteresse konnten bei dieser Interviewform sowohl theoretisch erarbeitete Erkenntnisse im Gespräch aufgenommen (vgl. Mayring, 2002, S. 67), als auch neue Aspekte durch den Interviewten eingebracht werden (vgl. Lamnek, 2005, S. 21). Mit Hilfe von Kurzfragebögen wurden hingegen leicht abfragbare Rahmeninformationen des Coaching-Prozesses und der Interviewten erhoben.

4.4 Stichprobe Um die Stichprobe zu gewinnen, wurden sämtliche Coachs der internen Datenbank kontaktiert und gebeten, Coachees, die die Merkmale des Stichprobenplans erfüllen, nach ihrer Bereitschaft zur Teilnahme an der Untersuchung zu fragen. Die Merkmale waren erfüllt, sobald der Coachee eine Führungsposition mit Personalverantwortung innehatte, das Coaching vor etwa drei Monaten beendet war, und er einverstanden war, dass auch Personen aus seinem Umfeld sowie sein Coach interviewt werden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

Abbildung 1: Überprüfung der Qualitätsdimensionen nach Heß und Roth 2001 und Aufbau des Forschungsdesigns (eigene Darstellung)

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Ausgehend von den beiden Paarungen (Coach und Coachee) wurden jeweils fünf Personen aus dem Umfeld der Coachees interviewt. Sie wurden von den Coachees selbst genannt, um zu gewährleisten, dass die Feedbackgeber bekannt sind und vom Feedbacknehmer als solche akzeptiert werden (vgl. Blum u. Zaugg, 2009, S. 77). Die Fallstudie beinhaltet somit zwei Fälle, wobei jeweils einer aus Coach, Coachee und fünf Umfeldpersonen besteht. Insgesamt wurden demnach 14 Interviews geführt.

4.5 Datenanalyse Während die Kurzfragebögen rein deskriptiv ausgewertet wurden, wurden die Interviews in Anlehnung an Mayring (2007, S. 542 ff.) systematisch inhaltsanalytisch analysiert. Hierzu wurden sie zunächst nach Transkriptionsregeln wörtlich transkribiert (vgl. Mayring, 2002, S. 89 ff.). Dabei fand eine leichte Glättung der Sprache statt, Angaben, die Rückschlüsse auf die Person der Interviewten zuließen, wurden anonymisiert und Auffälligkeiten in der Sprache, wie zum Beispiel lange Sprechpausen, wurden markiert. Anschließend wurden alle Transkripte textgeleitet zusammengefasst, um den Umfang des Datenmaterials, nicht aber den inhaltlichen Gehalt, zu reduzieren (vgl. Mayring, 2007, S. 58). Abweichend von Mayring (2007, S. 61 f.) wurde hier allerdings nur ein Zusammenfassungsschritt vorgenommen, das heißt, die Transkripte wurden in Paraphrasen zusammengefasst. Mayring schlägt vor, in einem zweiten Reduktionsschritt diese Paraphrasen nochmals zusammenzufassen (vgl. Mayring, 2007, S. 62). Darauf wurde verzichtet, um den inhaltlichen Sinn vollständig zu erhalten und leicht verständliche Paraphrasen kategorisieren zu können. Schließlich fand eine inhaltliche Einordnung der Paraphrasen in ein deduktiv konstruiertes Kategoriensystem statt, das ausgehend von den zuvor entwickelten Interviewleitfäden, also aufgrund des theoretischen Vorwissens, erstellt wurde. Die einzelnen Kategorien stellen somit theoretische Antworten auf die Interviewleitfragen dar. Im Abgleich mit den real untersuchten Fällen wurden induktiv weitere Kategorien hinzugefügt, so dass auch jene relevanten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Textpassagen kodiert werden konnten, die zuvor in keine theoretisch entwickelte Kategorie passten. Auf diese Weise wurde für jede Teilstichprobe (Coach, Coachee, Umfeld) ein spezifisches Kategoriensystem erstellt. Die Kombination aus induktiver und deduktiver Kategorienbildung stellt eine theoretisch fundierte Auswertung sicher, die sich dennoch flexibel an den Untersuchungsgegenstand anpasst.

5 Darstellung der Ergebnisse Zur Objektivitätssicherung bei qualitativen Forschungsvorgehen dient die genaue Beschreibung der untersuchten Fälle (vgl. Lamnek, 2005, S. 174 ff.; Mayring, 2002, S. 144; Steinke, 2009, S. 324 f.). Im Folgenden werden daher zunächst beide untersuchten Fälle dargestellt, um anschließend die Ergebnisinterpretation ausgehend von den Forschungsfragen vornehmen zu können. Abbildung 2 veranschaulicht die Konstellation der interviewten Personen des ersten Falls. Die Klammern verdeutlichen mit welchen Interviewten der Coachee vor bzw. während und nach dem Coaching in Kontakt stand. Die Linienlänge zwischen den Interviewten und dem Coachee verdeutlicht, wie eng diese zusammengearbeitet haben, während die Größe der Kreise die Dauer der Zusammenarbeit abbildet. Je nach Kontakt, Nähe und Dauer der Zusammenarbeit können die Coaching-Effekte unterschiedlich wahrgenommen werden. Das Anliegen des Coachees in diesem Fall bestand zunächst aus einem klassischen Karriere-Coaching, da er für den Karriereschritt vom Berater zum Beratungsleiter Unterstützung von einem Coach suchte. Mit Hilfe des Coachs erreichte er dieses Ziel schneller als geplant. Anschließend unterstützte ihn sein Coach bei den ersten hundert Tagen der Eingewöhnung in die neue Rolle als Beratungsleiter. Als auch dieser Prozess erfolgreich abgeschlossen war, wollte der Coachee sein Zeit- und Selbstmanagement verbessern. Die ersten beiden der drei Coaching-Prozesse dauerten mit über zehn Sitzungen etwa neun Monate, der letzte war zum Zeitpunkt der Erhebung noch nicht abgeschlossen, aber © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 2: Konstellation der interviewten Personen des ersten Falls (eigene Darstellung)

für diese Untersuchung auch nicht relevant. Im Coaching lernte der Coachee sehr viel über seine Stärken und Schwächen. Hierzu verwendete sein Coach zwei psychologische Persönlichkeitstests, den GPOP1 und den Belbin-Teamrollentest2. Sein Coach war weiblich, mit Anfang dreißig vergleichsweise jung und coachte zum ersten Mal nach der Zertifizierung zum Coach an einem management- und praxisorientierten Weiterbildungsinstitut. Die Fremd- und Selbsteinschätzung durch die beiden Tests verDer »Golden Profiler of Personality« (GPOP) erfasst über eine Selbsteinschätzung die Persönlichkeitsstruktur in den Dimensionen Energie, Wahrnehmen, Entscheiden und Lebensstil (vgl. Höft u. Muck, 2009, S. 322). 2 Der Belbin-Teamrollentest generiert durch einen Fragebogen die Fremdeinschätzung zum Teamverhalten. Anschließend findet die Einordnung in eine von neun Teamrollen statt, denen spezifische Verhaltensweisen, Stärken und Schwächen zugeordnet sind (vgl. Belbin, 2010). 1

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half dem Coachee sein Selbstbewusstsein und -vertrauen – auch in der neuen Position – zu stärken. Zum Zeitpunkt der Untersuchung wurde er von seinen Mitarbeitern als Beratungsleiter gelobt und als entscheidungsfreudiger Kollege geschätzt. Die direkten Mitarbeiter lernten den Coachee als ihren Vorgesetzten jedoch erst im Laufe des Coachings kennen und können so keine Einschätzung zu Veränderungen geben. Durch die relativ weite Entfernung der interviewten Kollegen und Vorgesetzten zeigten sich die Auswirkungen des Coachings auf das Umfeld insgesamt relativ schwach. Im Gegensatz zum ersten Fall konnten im zweiten Fall nur Mitarbeiter, keine Vorgesetzten und Kollegen, interviewt werden (s. Abb. 3). Mit ihnen arbeitete der Coachee zum Untersuchungszeitpunkt jedoch sehr eng zusammen.

Abbildung 3: Konstellation der interviewten Personen des zweiten Falls (eigene Darstellung)

Das Anliegen des Coachees scheint zunächst dem des ersten Falls ähnlich zu sein, da er ebenfalls den nächsten Karriereschritt anstrebte. Der Fokus lag dann zunächst darauf, sich selbst kennenzulernen und bestimmte Verhaltensweisen zu ändern (wie © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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z. B. zu viel zu reden oder Aufgaben der Mitarbeiter zu übernehmen, anstatt sie zu delegieren). Im Gegensatz zum anderen Coachee befand sich dieser bereits von Beginn des Coachings an in einer Position mit Personalverantwortung im IT-Bereich des Unternehmens. Der Coaching-Prozess verlief mit knapp unter zehn Sitzungen über eine Zeitspanne von acht Monaten (Juli 2009 bis Februar 2010). Anfang 2010 wechselte der Coachee aufgrund einer internen Umstrukturierung das Team, was die Einschätzung von Coaching-Effekten durch das Umfeld erschwert. Sein Coach war ebenfalls weiblich, aber bereits seit acht Jahren intern als Coach aktiv und durchlief eine systemische sowie eine hypnosystemische Coach-Weiterbildung. Pro Jahr begleitet sie zwei bis drei Coachees neben ihrer Arbeit im Human-RessourceBereich des Unternehmens. Im Coaching wendet sie häufig einen Embodiment-Ansatz an, bei dem das Gefühl, Erleben und Spüren des Coachees reflektiert werden. So lag hier der Schwerpunkt auf der Betonung der Gefühlsebene und der Erprobung neuer Verhaltensweisen, während der Coach des ersten Falls vermehrt Spiegelungen und Feedback einsetzte. Die Vorgehensweise der Coachs ist folglich unterschiedlich. Inwieweit die generischen Prinzipien dennoch in beiden Fällen realisiert wurden, wird im Folgenden dargestellt.

5.1 Wirkprinzipien im Coaching Um Wirkprinzipien im Coaching-Prozess zu untersuchen, wurde das Vorgehen der Coachs unter Rückbezug auf die generischen Prinzipien (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437 ff.) analysiert. Sie können als Kontextfaktoren eines gelungenen Beratungsprozesses gelten, da deren Einhaltung Bedingungen schaffen, die einen Ordnungsübergang erleichtern und so die Selbstorganisationsprozesse eines Systems fördern (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 436).

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5.1.1 Stabilitätsbedingungen schaffen

Voraussetzung für Ordnungsübergänge ist eine kritische Instabilität des Systems. Um diese aushalten zu können, sind stabile Randbedingungen nötig, die aus struktureller oder emotionaler Sicherheit sowie aus dem Coachee selbst heraus resultieren können (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437). Die Coachs beschreiben Coaching als geschützten Raum, in dem ungestört gemeinsam reflektiert werden kann. Stabilitätsbedingungen wurden in beiden Fällen vor allem über eine emotionale Sicherheit hergestellt, wie sie durch eine vertrauensvolle, offene und ehrliche Beziehung zwischen Coach und Coachee geschaffen wird. Eine solche stabile Vertrauensbasis empfanden beide Coachees als elementar, wie folgendes Zitat illustriert: Coachee 1: »Das ist auch, denke ich, eine zwingende Notwendigkeit, dass man dem Coach vertraut. Ansonsten wäre es, glaube ich, schwierig. Also wenn ich ihr nicht vertrauen könnte und mich nicht öffnen könnte und über die Dinge, die mich belasten oder mich irgendwo bewegen, reden könnte, dann bräuchte ich keinen Coach.«

Die Coachees konnten sich ohne Hemmungen ihrem Coach anvertrauen und öffnen. Auslöser des Vertrauens war die akzeptierende und wertschätzende Haltung des Coachs, die bereits durch Rogers (1976, 2007, S. 211 ff.) betont wurde: Coach 1: »[…] ich nehme ihn einfach ernst und höre ihm zu und gebe ihm nicht das Gefühl, dass irgendwas, was er sagt, jetzt lächerlich, schlecht oder sonst irgendwas ist. Ich glaube, das war wesentlich.«

Besonders im zweiten Fall wurden Stabilitätsbedingungen zusätzlich durch strukturelle Sicherheit ergänzt (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437), indem der Coach sein Konzept erklärte und es gemeinsam mit dem Coachee weiterentwickelet, was für Transparenz und Verständnis des Vorgehens sorgte. Die Schaffung von Stabilitätsbedingungen aus dem Coachee selbst heraus (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437; Grawe, 2000, S. 538 ff.), beispielsweise durch Selbstwirksamkeitserfahrungen, wurde in den Interviews nicht expliziert. Unter Betonung der emotionalen Sicherheit schafften den© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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noch beide Coachs stabile Bedingungen für den Coaching-Prozess.

5.1.2 Muster des relevanten Systems identifizieren Nach diesem Prinzip muss zunächst festgestellt werden auf welches System sich die zu fördernden Selbstorganisationsprozesse beziehen sollen (z. B. Familie, Team, Person). Anschließend werden bestehende K-E-V-Muster und states of mind, also »zeitlich begrenzte Strukturen, die das Fühlen, Denken und Handeln einer Person zu einem kohärenten Ganzen organisieren« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 328), analysiert, um daraus Ansatzpunkte für mögliche Interventionen abzuleiten (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437). Während im ersten Fall Muster vor allem durch Persönlichkeitstests (GPOP, Belbin-Teamrollentest) identifiziert wurden, um so Stärken, Schwächen, typische Verhaltensweisen und die daraus resultierende Außenwirkung des Coachees zu beleuchten, beobachtete im zweiten Fall der Coach seinen Coachee ohne weitere Hilfsmittel. Dabei fokussierte sie vor allem körperliche Muster, wie Haltung oder Atmung des Coachees sowie deren Zusammenhang mit seinem Verhalten.

5.1.3 Sinnbezug herstellen Es sollte darauf geachtet werden, dass die persönlichen Entwicklungsprozesse als sinnvoll erlebt und bezüglich der Lebenskonzepte des Coachees als stimmig und bedeutsam empfunden werden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437 f.). Während der Interviews mit Coachs und Coachees wurden wenige Aspekte thematisiert, die der Herstellung des Sinnbezugs dienen. Die Sinnhaftigkeit des Coachings wurde vermutlich implizit angenommen, da der Coachee sich im Unternehmen selbstständig um ein Karriere-Coaching bemühen musste. Dennoch sollte die Passung zum eigenen Lebenskonzept im Verlauf des Coachings reflektiert werden, da sich die Ziele des Coachings im Prozess ändern können. Der Coachee des zweiten Falls wurde während des Coachings angehalten, den Sinn seines Ziels zu hinterfragen: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Johanna Hein Coachee 2: »Der will letztendlich, dass man sehr genau sich auch mal selbst in seinen Vergangenheitswurzeln abcheckt und man sagt: Ok, das und das sind Grundeigenschaften, die erkenne ich sogar noch als Pubertierender wieder. Ist in Ordnung. Macht es Sinn sie zu ändern? Macht es keinen Sinn zu ändern? Was passt zum Ziel und zu meinem eigenen Verhalten? Und was ist vielleicht ein Grundcharakter.«

5.1.4 Energetisierung ermöglichen und Kontrollparameter identifizieren Eine weitere Voraussetzung der Destabilisierung des Systems ist die energetische Aktivierung über Kontrollparameter, um die Teilchen des Systems anzustoßen. Im psychischen System kann dies unter anderem über die Aktivierung intrinsischer Motivation des Coachees erreicht werden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 438). Ebenso wie beim vorherigen Prinzip ist auch hier davon auszugehen, dass eine hohe Motivation zur Veränderung vorhanden und das System bereits energetisiert ist, sobald aktiv nach einem Coach gesucht wurde. Wichtiger erscheint daher die Identifikation von Kontrollparametern, um das System auch bei starken Instabilitäten erneut zu energetisieren, also den Wert des Coachings erneut vor Augen zu führen. In beiden Fällen können hier der Wunsch nach Karriere und persönlicher Weiterentwicklung angeführt werden.

5.1.5 Fluktuationsverstärkungen realisieren, Destabilisierung ermöglichen

Im Coaching können durch Perspektiverweiterung und Eröffnung neuer Erfahrungsmöglichkeiten Fluktuationen erzeugt werden, die die Potenziallandschaft des Systems in Bewegung versetzen und bestehende K-E-V-Muster destabilisieren (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 438 f.). In beiden Coaching-Prozessen schienen vor allem Fragen wirkungsvolle Interventionen darzustellen, die dazu anregen, gedankliche Vorstellungen zu überdenken und Alternativen zu finden. Durch Nachfragen wird der Coach so zu einem Katalysator für Perspektivwechsel. Beide Coachees sahen eine Aufgabe des Coachs darin, sie mit Fragen zu konfrontieren und das Ge© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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spräch zu leiten. Hier wird das Grundprinzip von Coaching (»Hilfe zur Selbsthilfe«) deutlich. Fluktuationen können auch verstärkt werden, indem die Wirkung des Verhaltens auf andere rückgespiegelt wird. Neben der Funktion des Katalysators kann der Coach so als Spiegel für den Coachee dienen und seinen Erfahrungshorizont erweitern. Der Coach des zweiten Falls beschrieb dies bildhaft: Coach 2: »Meine Rolle als Coach ist ein Handlungsoptionenkellner. […] Coaching ist für mich in erster Linie, wie ich es verstehe, ein sehr breiter Spiegel. […]Also wie wirkt das, was du tust, aber nicht nur wie sehe ich es direkt, sondern auch mal, da ist noch jemand, der sitzt noch an der Seite. Der sagt dir dann vielleicht, wie es da auch noch wirkt. Obwohl du dich nur, wenn du dich rumdrehst, vielleicht irgendwie in einem kleineren Fokus betrachten kannst. […] Von daher bin ich jemand, der bringt Möglichkeiten, Perspektivwechsel, Optionen und kellnern auch deshalb, weil es kann auch durchaus sein, dass es nicht passt, das Gericht. Und dass im zweiten Gang was Besseres dabei ist oder so was.«

Durch Rückspiegelungen anderer Wahrnehmungen können positive Rückkopplungsprozesse in Gang gesetzt werden. Das Selbstwertgefühl des Coachees wurde gestärkt, er traute sich neue Schritte zur Problembewältigung zu und machte so positive Selbstwirksamkeitserfahrungen: Coach 1: »[…] er mir eine Wunschliste genannt hatte von Fähigkeiten, die er gerne entwickeln möchte […]und ich habe ihm dann aber widergespiegelt, dass ich die schon alle sehe. Und ich hatte den Eindruck, dass allein das ihn schon in die Position gehoben hat, das dann auch zu leben.«

Der Coach des zweiten Falls fokussierte in der Rückspiegelung Kompetenzen des Coachees und wertschätzte ein zuvor problematisiertes Verhalten. Diese Wertschätzung stellte für den Coachee eine neue Erfahrung dar und befähigte ihn bislang negativ gesehene Eigenschaften als Stärken anzuerkennen: Coachee 2: »Man kann sich ja extrem schlecht fühlen, wenn man Menschen mehr Zeit abzwackt, als sie eingeplant haben. […] Gut © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Johanna Hein und der Coach hat irgendwann auch mal gesagt: ›Anscheinend könnte das aber auch eine Eigenschaft von dir sein, die positiv ist. Wenn man dich aus der Tür rausschmeißt, kommst du durch das Fenster wieder rein und du bist da.‹«

Auch durch die Betonung der Gefühlsebene können Fluktuationsverstärkungen realisiert werden, da Emotionen im Gedächtnis als Kontrollparameter wirken, die im Coaching reflektiert werden können (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 25). Besonders im zweiten Fall wurde die Gefühlsebene bewusst einbezogen: Coach 2: »Also da geht es dann so ein bisschen vielleicht von der Kellnerei an das Buffet, weil das Optionen ausprobieren ist was, was ich auch zunehmend in den letzten Jahren stärker mache. Wie fühlt es sich an. Mach es. Tu es. Geh mal rein. In die Situation. Setz dich so hin, wie du da sitzt. Stell dich so hin, wie du da stehst. Spür mal, wie das insgesamt ist. Wo fühlst du denn was? Wie fühlt es sich denn an, wenn du dann deine Position veränderst?«

Durch die Bewusstmachung erfährt der Coachee eine Verankerung der Emotionen mit den Handlungen und erlebt den Kontakt zu sich selbst. Diese Kontrollerfahrung kann Inkonsistenzen verringern (vgl. Grawe, 2000, S. 533 ff.) und die entscheidende Irritation zur Symmetriebrechung darstellen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 630). Fluktuationsverstärkungen wurden folglich in beiden Fällen realisiert und trugen dazu bei, Symmetrien zwischen Ordnern zu brechen (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 439 f.). In der Praxis können diese beiden Prinzipien von der Realisierung von Fluktuationsverstärkungen und der Ermöglichung von Symmetriebrechung allerdings weniger scharf getrennt werden, weshalb einige der folgenden Punkte auch dem vorhergehenden Prinzip zugeordnet werden könnten und umgekehrt.

5.1.6 Symmetriebrechung ermöglichen Befinden sich zwei oder mehrere Attraktoren eines Systems in einer kritischen Instabilität, können sie mit gleicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden und bereits kleine Fluktuationen entscheiden, welcher Attraktor gewinnt. Trotz eingeschränkter © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Entwicklungsprognose in welche Richtung die Symmetriebrechung stattfinden wird, können Interventionen diese erleichtern (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 449 f.). In den untersuchten Fällen wurden Symmetrien vor allem durch korrektive Erfahrungen und praktisches Einüben neuer Verhaltensweisen realisiert. Im ersten Fall erkannte der Coachee durch Rückspiegelungen seine bislang nicht wahrgenommenen Fähigkeiten und traute sich, sie praktisch einzusetzen, um sich so quasi selbst von deren Existenz zu überzeugen – er erlebte eine korrektive Erfahrung. Daraufhin beschäftigte er sich nicht länger mit der Frage, ob ihn seine neuen Mitarbeiter als Vorgesetzten anerkennen würden, sondern wie er das Team zusammenführen und unterstützen kann. Sein Fokus hatte sich geändert. Im zweiten Fall wurde eine Symmetriebrechung während eines Verhaltensexperiments ermöglicht. Um dem Ziel des Coachees näher zu kommen, sich selbst beim Sprechen besser steuern zu können, verlegte der Coach eine Sitzung aus dem Büro in den Wald. Bei einem gemeinsamen Spaziergang bemerkte der Coachee, dass sein Sprechrhythmus mit seinem Verhalten zusammenhängt und er es selbst beeinflussen kann: Coachee 2: »Wir haben einfach mal Tests gemacht, das war ein anderes Schlüsselerlebnis […]. Gehen wir mal spazieren und sprechen da miteinander. Brilliant. Es war völlig anders. […] wie moduliere ich während meinem Dialog mich selbst. Das heißt, werde ich langsamer, werde ich schneller, je nachdem was ich grade inhaltlich erkläre. Oder ich werde was gefragt und muss nachdenken. Man wird manchmal langsamer beim Gehen. Ja, man steckt die Hände in die Hosentasche, fängt an rumzugucken, denkt nach, bleibt vielleicht auch mal stehen. […] Dass man das selbst bei sich nochmal erlebt und sagt: ›Tatsächlich. Es macht einen großen Unterschied.‹ Ich habe mich immer gefragt, warum ich mich wohler gefühlt habe bei einer Präsentation, wenn ich vorne am Stehen bin und am Erzählen.«

Wurden Muster destabilisiert und durch Phasenübergänge in eine neue Ordnung gebracht, müssen sie anschließend wieder restabilisiert werden.

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5.1.7 Re-Stabilisierung Um neue Ordnungen zu restabilisieren, müssen sie automatisiert, in das bestehende Selbstkonzept integriert und mit den emotionalen Selbst-Schemata der Person vernetzt werden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 440). Im ersten Fall wurde versucht, das gewonnene Selbstbewusstsein zu stabilisieren, indem sich der Coach in den Sitzungen zunehmend zurückzog und bewusst nur noch wenig steuerte, so dass der Coachee bemerkte, dass er alle Erfolge und Lernerfahrungen allein erarbeitet hatte und dies auch künftig allein können wird. Im zweiten Fall wurde das neue Muster restabilisiert, indem der Coachee im Verlauf des Coachings Hilfestellungen erlernte, sich selbst zu regulieren (z. B. durch Berühren eines Ankerpunkts). Diese erleichterten es dem Coachee bewusst auf sein Verhalten zu achten. Die positive Erfahrung während des Waldspaziergangs wurde in den Raum übertragen und auch dort wurde bewusst langsameres Sprechen geübt. Durch die eigene Lösungserarbeitung wird der Lernprozess nachhaltiger und dessen Reflexion trägt zu einem Doppelschleifenlernen bei (vgl. Argyris u. Schön, 2006, S. 39).

5.1.8 Synchronisation Während des gesamten Coaching-Prozesses ist es schließlich wichtig, dass der Coach sich an den »state of mind« des Coachees anpasst und zur Coaching-Phase passende Methoden anbietet (Haken u. Schiepek, 2010, S. 439). Die Synchronisation verlief in beiden untersuchten Fällen vor allem über die sprachliche Anknüpfung und aktives Nachfragen nach dem Befinden der Coachees. Expliziert wurden Synchronisationsbemühungen vor allem im zweiten Fall. Der Coach verwendete absichtlich das Vokabular des Coachees, indem er Metaphern aufgriff, die der Coachee selbst in die Gespräche einbrachte (z. B. Begriffe aus dem Sport wie »Trainingslager« oder »intensive Einheit«). Außerdem beschrieb der Coach an dieser Stelle seine Fähigkeit zur Beobachtung zweiter Ordnung, die es ihm ermöglicht, den Coaching-Prozess und die Bedürfnisse des Coachees gleichzeitig zu betrachten: © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Coach 2: »Die Selbststeuerung, also irgendwie so immer die Fähigkeit, im Prozess zu sein, aber auch drüber. Das und wirklich den Klienten in der Situation, in der er ist, nicht aus dem Blick zu verlieren. Einfach so sein Programm durchzueiern, das ist es nicht. Da kannst du so derartig daneben liegen. […] Also dieses beides, diese Ebenen im Blick zu haben. Und das geht natürlich nur mit Empathie und pacing, pacing, pacing, bis zum Abwinken.«

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Coachs beider untersuchter Fälle die generischen Prinzipien (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437 ff.) größtenteils realisierten. Auf diese Weise schafften sie günstige Bedingungen für Ordnungsübergänge, die sich in geänderten K-E-V-Mustern der Coachees niederschlugen. Wie diese in den jeweiligen Fällen inhaltlich ausgefüllt wurden, beschreibt das folgende Kapitel.

5.2 Direkte Effekte der Coachings Nachdem Wirkprinzipien im Coaching-Prozess beleuchtet wurden, wird nun dargestellt, welche K-E-V-Muster sich bei den Coachees veränderten. Diese werden analog in kognitive, emotionale sowie behaviorale Effekte differenziert.

5.2.1 Kognitive Effekte Die Effekte auf kognitiver Ebene können am weitesten ausdifferenziert werden, da sie während der Interviews am häufigsten genannt wurden, was darauf schließen lässt, dass in beiden Fällen die Wirksamkeit von Coaching vor allem auf der kognitiven Ebene ansetzte (Eröffnung neuer Perspektiven, Erkennung von Mustern, erhöhte Selbstreflexionsfähigkeit). Der Coachee des ersten Falls konnte eine neue Perspektive durch die Rückspiegelung seiner Fähigkeiten und seines selbstbewussten Auftretens im Coaching einnehmen. Außerdem wurde er sich seiner Stärken bewusst. Bewusstsein wird nach Haken und Schiepek (2010, S. 257 ff.) in aufeinander folgenden KognitionsEmotions-Einheiten (»Pulsen«) generiert, so dass sich neuronale Netze ständig neu verknüpfen und als »Begleitmusik kritischer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Ordnungsübergänge« bezeichnet werden können (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 259). Im zweiten Fall beschrieb der Coachee ein perspektiverweiterndes Schlüsselerlebnis, als sein Coach ihn während der ersten Sitzung aufforderte, sein Anliegen bildlich darzustellen: Coachee 2: »Und ich habe eine Blume hingemalt. Die Blume war im Grunde genommen so eine Kinderblume, die hat im Grunde genommen mein Kommunikationsverhalten gezeigt. Das Zentrum, die Knospe sozusagen in der Mitte der Blume, ist das, worum es geht und dann letztendlich die Blätter, das sind immer wieder so Ausuferungen. […] Und wie hätte ich es denn gerne zielorientiert? Das heißt, man macht einfach so einen Stängel zur Blume hin. Das heißt das wäre ja von unten her kommend, die Menschen abholend letztendlich einen Dialog entfalten und von dort aus durchaus mal den Zuhörer, den Mitgesprächspartner steuern lassen, ob das eine Blättchen der Blume oder das andere Blättchen der Blume jetzt wirklich wichtig ist.«

Schlüsselerlebnisse können Ausdruck spontaner Ordnungsübergänge in Wahrnehmungs- oder Deutungsmustern sein und zeigen die Unberechenbarkeit selbstorganisierter Systeme auf (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 29; Schreyögg, 2003, S. 180 f.). Durch die Visualisierung erhielt der Coachee Einsicht in sein Sprechmuster und erkannte eine Lösungsmöglichkeit. Diese Erkenntnis prägte sich nachhaltig bei ihm ein, da er sich stets daran erinnert, sobald er anfängt, im Gespräch abzuschweifen. Beide Coachees wurden sich im Coaching über ihre eigenen Muster klarer, indem sie sich nun ihrer Persönlichkeitseigenschaften bewusst sind, die ihr Denken, Handeln und Fühlen beeinflussen: Coachee 1: »Also schon dahingehend, weil auch Ergebnisse der Tests, die wir gemacht haben im Rahmen des Coaching, gesagt haben, ich bin jemand, der ganz viele Fakten braucht, um Entscheidungen zu treffen. So, das weiß ich jetzt. Da habe ich mir früher nie Gedanken drüber gemacht. […] Und deshalb weiß ich sozusagen, wo meine Schwäche war, und kann definitiv damit einfach, also sozusagen, damit umgehen und damit leben und einfach straighter vorwärts gehen.« © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Coachee 2: »Also sich stärker beobachten, mehr in die Selbstanalyse zu gehen und zu sagen: ›Ja, ich habe diese Eigenschaften. Gut. Die prägen meinen Charakter. Gewisse Dinge tue ich, weil ich dadurch gewisse Bedürfnisse stille. Ganz normal.‹«

Das Coaching unterstützte beide Coachees bei der Reflexion ihrer Rolle als Führungskraft und setzte sie in Relation zu ihren Persönlichkeitseigenschaften, was die Rollenübernahme in der Organisation erleichterte (vgl. Lippmann, 2008, S. 23). Sie steigerten so ihre Selbstreflexionsfähigkeit und das Bewusstsein über den Einfluss auf ihre Umwelt. Der Coachee des ersten Falls hinterfragte im Coaching die Auswirkungen seines Handelns auf seine neuen Mitarbeiter. Er reflektierte, welcher Mitarbeiter was benötigt, um seine Rolle optimal ausfüllen und sich entwickeln zu können. Der Coachee aus Fall 2 bezeichnete seine Gedankenschritte aufgrund des Coachings als bedachter. Die Unterscheidung zwischen bewusstem und unbewusstem Verhalten fiel ihm leichter : Coachee 2: »Also sprich, sich zwischen bewusst und unbewusst so eine kleine Eselsbrücke zu bauen. Möglichst viel bewusst zu arbeiten, um das Unbewusste, das einem manches Mal so eine Art Strich durch die Rechnung macht, und man sagt: ›Wollte ich gar nicht sagen, warum habe ich das gemacht?‹ Dass man an den Stellen sich Eselsbrücken und Hilfestellungen baut, um sich ab und zu selbst zu bremsen.«

Durch diese »Eselsbrücken« schaffte er es, sich selbst zu reflektieren, Fluktuationen herzustellen und teilweise auch in andere Muster überzugehen, was insgesamt zu einer erhöhten Selbstwirksamkeitsüberzeugung beiträgt (vgl. Greif, 2008, S. 79).

5.2.2 Emotionale Effekte Der Coachee des ersten Falls beschrieb eine Steigerung seines Wohlbefindens durch das Coaching. Durch die Begleitung seines Coachs erkannte er seine Stärken und Schwächen. Er fühlte sich in seiner neuen Rolle als Beratungsleiter wohl und motivierter als in der alten Position. Auch sein Coach bemerkte diese emotio© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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nalen Veränderungen und nahm ihn als viel fröhlicher war. Er entwickelte insgesamt mehr Selbstbewusstsein, um sich nun mutiger der neuen Aufgabe als Führungskraft zu stellen. Der Coachee des zweiten Falls lernte durch intensive Selbstreflexionen während der Coaching-Sitzungen auch mehr über sich selbst, was zum besseren Verständnis eigener Muster und letztlich zur Akzeptanz seiner selbst führte (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437 f.). Dieses Selbstverständnis erleichterte es ihm, mit Frustrationen geduldiger umzugehen, wodurch sich sein Wohlbefinden insgesamt verbesserte. Vor allem in Stresssituationen empfand er das Coaching als wertvolle Unterstützung, weil er im Coaching Raum fand, innezuhalten.

5.2.3 Behaviorale Effekte In beiden Fällen drückten sich die beschriebenen Änderungen der kognitiv-emotionalen Muster auch im Verhalten der Coachees aus. Im ersten Fall konnte der Coachee schneller Entscheidungen treffen und kommunizierte direkter als zuvor mit seinen Kollegen und Kunden. Auch sein Coach bemerkte, dass er, wenn nötig, für seine Bedürfnisse einsteht und öfter nein sagte, ohne diese Entscheidung in einer Diskussion zu rechtfertigen. Er änderte folglich seine Lage- (langes Nachdenken vor Entscheidungen) in eine Handlungsorientierung (Umsetzung von Handlungsabsichten) (vgl. Greif, 2008, S. 196). Der Coachee des zweiten Falls wurde im Verhalten etwas ruhiger und trat weniger hektisch auf. Dies könnte jedoch auch mit der parallel abnehmenden beruflichen Belastung zusammenhängen. Im Coaching lernte er jedoch Methoden, sein Verhalten bewusst zu beeinflussen. Dennoch empfinden Coach und Coachee die behavioralen Änderungen im Gegensatz zu den kognitiven in diesem Fall als nicht gravierend.

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5.3 Indirekte Effekte des Coachings auf das Umfeld des Coachees Um die gegenseitige Beeinflussung von System (Coachee) und Umwelt (andere Mitarbeiter der Organisation) zu untersuchen, wurden Personen aus dem jeweiligen Umfeld der Coachees gefragt, inwiefern sie Veränderungen im Verhalten des Coachees bemerkt haben. Zusätzlich wurden auch Coach und Coachee nach deren Einschätzung gefragt, welche Veränderungen das Umfeld festgestellt haben könnte bzw. die Coachees nach Feedback aus ihrem Umfeld. Der Coachee des ersten Falls erhielt vor dem Coaching von zwei Kollegen negatives Feedback zu seiner Standhaftigkeit und Entscheidungsfreude, vor allem in Verhandlungen mit Kunden. Kollegen des Coachees im zweiten Fall warfen ihm vor, er arbeite zu viel operativ, was seinen Karriereschritt verhindere. Die Coachees wurden folglich teilweise durch deren Umfeld beeinflusst, beeinflussten aber ebenfalls durch deren verändertes Verhalten ihr Umfeld. Bevor diese indirekten Effekte beschrieben werden können, müssen zunächst Einschränkungen angeführt werden, die die Interpretation folgender Ergebnisse relativieren: Aufgrund der losen Zusammenarbeit mit dem Coachee im ersten Fall konnte hier nur ein Kollege valide Aussagen über Auswirkungen auf das Umfeld treffen. Durch die ergänzende Einschätzung des Coachees selbst und seinem Coach können aber dennoch vielfältige Auswirkungen beschrieben werden. Ebenso war die Fluktuation der Teammitglieder während des CoachingProzesses im zweiten Fall für die Einschätzung von Veränderungen des Coachees problematisch. Auch hier müssen die Angaben des Umfelds dementsprechend relativiert werden. Weiterhin muss einschränkend angeführt werden, dass zunächst sämtliche Auswirkungen des Verhaltens der Coachees auf das Umfeld kategorisiert wurden. Diese hängen nicht zwingender Weise mit Effekten des Coachings zusammen. Im Folgenden werden daher nur Auswirkungen beschrieben, die anhand der Interviews mit Coachees und Coachs entsprechenden direkten Effekten des Coachings zugeordnet werden konnten. Im ersten Fall wirkte sich ein behavioraler Effekt des Coa© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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chings auf das Umfeld aus, da der Coachee nun direkter Entscheidungen kommunizierte: Coachee 1: »Weil ich ihnen ja bestimmte Aufgaben übergebe und dahingehend vielleicht nicht mehr so freundlich bin wie früher. In dem Sinne: Hey, Kollege Müller, kannst du vielleicht mal ein bisschen helfen, sondern schon sage, einfach weil ich zielgerichteter ticke, wir haben den Job, den machst du, du hast Zeit, also machen.«

Gegenüber Kunden zeigte er inzwischen selbstbewusst Grenzen auf, was die darauf aufbauende Arbeit seiner Kollegen vereinfachte. Durch seine erhöhte Durchsetzungsfähigkeit nahmen ihn Kollegen und Vorgesetzte souveräner und ohne Zweifel als Führungskraft wahr. Durch die perspektiverweiternden Fragen seines Coachs lernte er, seinen Teammitgliedern ebenso Fragen zu stellen, um Handlungsoptionen zu finden: Coachee 1: »Was ich halt auch versuche, ist die Erfahrung, die ich mitnehme, oder auch das, was ich aus dem Coaching mitnehme, wo ich sage, das ist gut und das ist hilfreich für meine Arbeit, dass ich das auch natürlich versuche, Kollegen mitzugeben. ›Ey, denk mal drüber nach. Da ist nochmal eine Idee oder wollen wir das nicht mal anders machen oder hast du dir mal Alternativen überlegt?‹«

Im zweiten Fall bemerkten Personen aus dem Umfeld des Coachees trotz geringer behavioraler Effekte eine stärkere Prioritätensetzung von ihrem Vorgesetzten, was deren Arbeitsbelastung minderte. So mussten neue Aufgaben nicht sofort – zusätzlich zu den bereits bestehenden – erledigt werden, sondern konnten zunächst hinten angestellt werden. Außerdem war der Coachee weniger stark in die Aufgaben seiner Mitarbeiter involviert, sondern erkundigte sich lediglich nach dem Status der Arbeitspakete. Nach Einschätzung einer Person aus dem Umfeld hatte sein hoher Anspruch zuvor teilweise den gegensätzlichen Effekt, nämlich dass Mitarbeiter ihre Aufgaben nur zu 80 % fertig stellten, da sie davon ausgingen, der Coachee würde sie in jedem Fall noch mal überarbeiten. Die Zunahme der Delegation wirkte sich also positiv auf die Zusammenarbeit und Effektivität im Team aus. Sogar die erhöhte Selbstreflexion und die intensive © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Selbstexploration des Coachees (kognitive Effekte) wurden von einer Person anhand von Äußerungen des Coachees wie: »Ich weiß – das ist eine Schwäche von mir.« wahrgenommen. Auf diese Weise weckte der Coachee das Interesse dieser Person, sich ebenfalls selbst zu reflektieren. Sogar kognitive Effekte können folglich über kleine behaviorale Reize das Umfeld beeinflussen, was für die Sensibilität und Reagibilität der Umwelt spricht.

6 Schlussbetrachtungen: Synergetik als Basis von Coaching Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass auf emotionaler Ebene Effekte wie eine Steigerung des Wohlbefindens und erhöhte Zufriedenheit mit der Rollenausfüllung erzielt wurden. Auf kognitiver Ebene konnten die Effekte als Perspektiverweiterung, Erkenntnis von Mustern durch Selbstanalyse und Zunahme ergebnisorientierter Selbstreflexionsfähigkeit beschrieben werden. Und auch auf behavioraler Ebene traten Effekte auf, die durch direktere Kommunikation, selbstbewussteres Auftreten, größerer Handlungsorientierung und vermehrter sprachlicher Steuerung zusammengefasst wurden. Diese hohe Effektivität trug zur Persönlichkeitsentwicklung und Potenzialentfaltung der Coachees bei und beeinflusste über deren Verhalten indirekt sogar weitere Organisationsmitglieder. Durch die Vernetzung der Systemelemente untereinander kann diese Entwicklung somit dem gesamten System zuträglich sein. Jene indirekten Effekte auf das Umfeld sollten künftig weiter reflektiert und bewusst genutzt werden, um die gesamte Organisation zu beeinflussen. Mitarbeiter, die motiviert und zufrieden sind und Führungskräfte, die sich selbst und ihre Rolle bewusst reflektieren, können zu einem Team zusammenwachsen, das in einer Organisation überaus effektive Leistung bringt. Die Wirksamkeit von Coaching setzt folglich bei einer Person an und entfaltet sich als Personalentwicklungsmaßnahme, birgt jedoch Potenzial, als Organisationsentwicklungsmaßnahme weiter zu wirken. Coaching regt den Coachee zum selbst gesteuerten Handeln an, geht von der Prämisse einer subjektiv konstruierten Wirk© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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lichkeit aus und unterstützt die Selbstorganisation des Systems auf einer freiwilligen, individuellen Basis (vgl. Strikker, 2007, S. 11 ff.). Diese Selbstorganisation wurde in den hier untersuchten Fällen durch die Realisierung der generischen Prinzipien (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 437 ff.) gefördert. Der Schwerpunkt in den untersuchten Fällen lag auf einer vertrauensvollen Beratungsbeziehung und der Realisierung von Fluktuationsverstärkungen. Einige Prinzipien (z. B. Musteridentifikation, Fluktuationsverstärkungen) wurden durch die Coachs unterschiedlich realisiert, was für deren Schulen übergreifende Anwendung spricht. Somit stellen die generischen Prinzipien geeignete Wirkprinzipien dar, um Wirkmechanismen zu entfalten, die sich in einem effektiven Coaching ausdrücken. Dennoch sollten die Ergebnisse – so positiv sie sich hier darstellen – kritisch hinterfragt werden. Die Evaluation einer Beratungsdienstleistung muss komplex und mehrperspektivisch aufgebaut werden, da es sich nicht um ein andauerndes, beschreibbares Produkt handelt, sondern Erzeugung und Konsum synchron verlaufen. Vor einem systemisch-konstruktivistischem Hintergrund kann auch niemals von kausalen Wenn-Dann-Verhältnissen ausgegangen werden, sondern es können immer nur Wirkungshinweise erforscht werden. Die hier erhobenen Hinweise auf Wirksamkeit von Coaching sollten an weiteren Einzelfällen untersucht werden, da die Generalisierbarkeit der Ergebnisse allein durch die Auswahl typischer Fälle nicht zu garantieren ist (vgl. Bortz u. Döring, 2006, S. 396). Für die kontinuierliche und standardisierte Evaluation der generischen Prinzipien sollte ein Fragebogen entwickelt werden, der die systematische Evaluation von Coaching sichert. Während ein solches Vorgehen in der Psychotherapie bereits geläufiger ist (z. B. durch den Therapie-Prozess-Bogen, TPB, vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 363 ff., oder dem Ratinginventar lösungsorientierter Interventionen, RLI, vgl. Honermann, Müssen, Brinkmann u. Schiepek, 1999), fehlt dies in der Beratungspraxis bislang völlig. Allerdings entwickelten Schiersmann und Thiel (in diesem Band) anhand der generischen Prinzipien bereits einen ersten Evaluationsbogen für Beratung. Da die Synergetik Prozesse der Selbstorganisation betrachtet und die hier dargestellten © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Ergebnisse auf die praktische Anwendbarkeit deuten, scheinen die generischen Prinzipien als theoretische Fundierung eines solchen Evaluationsbogens geeignet. Die konkreten Änderungen der K-E-V-Muster als Effekte von Coaching lassen sich weniger leicht standardisieren, da diese inhaltlich individuell, je nach Anliegen und Coachee, ausgefüllt werden. Dennoch sollten verallgemeinerbare Erfolgskriterien abgeleitet werden, die der Wirksamkeitsevaluation dienen, um Coaching – oder auch jede andere Beratungsform – zu legitimieren und Scharlatanerie (vgl. Kühl, 2005) künftig zu vermeiden. Ansatzpunkte könnten aus einer Metaanalyse verschiedener Untersuchungen der Effekte von Coaching abgeleitet werden. Auch die weitere Erforschung der Beeinflussung des Umfelds durch indirekte Effekte des Coachings scheint vor dem Hintergrund komplexer, selbstorganisierender Systeme ein logischer, nächster Schritt zu sein, um Wechselwirkungen besser zu begreifen und Ansatzpunkte zwischen den sich beeinflussenden Systemelementen zu nutzen. Methodisch sollte jedoch die Auswahl der Umfeldpersonen falls möglich auch durch einen Stichprobenplan festgelegt und die Anlässe der Coachees inhaltlich vereinheitlicht werden. Interessant wäre auch zu untersuchen, wie viel weiter als auf das direkte Umfeld die indirekten Wirkungen des Coachings in die Organisation ausstrahlen. Die weitere Untersuchung der Unterstützung selbstorganisierender Prozesse in Systemen könnte dazu beitragen, dass Organisationen – in die die meisten Menschen den Großteil ihrer Lebenszeit eingebunden sind – sich ebenso effektiv selbst organisieren wie die Metapher der Monarchfalter eingangs veranschaulichte.

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Johanna Hein

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Analyse (in)direkter Effekte von Coaching

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Marco Paukert

Systemkompetenz – eine empirische Studie zur Kompetenzentwicklung von Beratern

1 Vorbemerkungen Allein in Deutschland gibt es eine große Anzahl von Therapieund Beratungsrichtungen, die von einer fast unüberschaubaren Zahl von Anbietern auf dem Weiterbildungsmarkt angeboten werden. Dem Entschluss, eine Beratungsausbildung bei einem bestimmten Weiterbildungsinstitut zu beginnen, geht daher in der Regel eine intensive Recherche über Inhalte, Länge und Abschlussbescheinigungen verschiedener Anbieter voraus. Ist ein Ausbildungsinstitut einer Dachorganisation angeschlossen, die eine gewisse Standardisierung bezüglich Curriculum, Pflichtstunden oder Trainerkompetenzen erfordert, bietet dies eine Orientierung und Vergleichbarkeit der Anbieter für angehende Berater. Auf dem Markt konkurriert eine hohe Zahl von Anbietern, die mit vergleichbaren Abschlusszertifikaten werben, sich in ihrem Angebot aber erheblich voneinander unterscheiden. Zertifikate geben zwar eine gewisse Orientierung über die in der Ausbildung erworbenen Fähigkeiten; wie diese erworben wurden und in welchem Ausmaß wird häufig nicht explizit beschrieben. Die Wirksamkeit einer Beratungsausbildung und der Nutzen für die Beratungstätigkeit bleibt damit eine subjektive Einschätzung, solange er nicht objektiv überprüfbar ist und überprüft wird. Für Vorgesetzte, die ihren Mitarbeitern Weiterbildungen finanzieren, oder Interessierte, die eine Zusatzqualifikation anstreben, ist der tatsächliche Nutzen eine durchaus wichtige Frage, denn die Investition in Zeit und Kosten ist nicht unerheblich. Der

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Systemkompetenz

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Wunsch nach einem messbaren und überprüfbaren Zugewinn an Kompetenzen ist nachvollziehbar. Eine erfolgreiche Beraterausbildung zeigt sich in einem Kompetenzzuwachs von Beginn der Ausbildung bis zum Ende. Erfolgreiche Beratungstätigkeit erfordert eine Vielzahl von Kompetenzen, die situationsgemäß ausgewählt und umgesetzt werden müssen. Das Konstrukt Systemkompetenz dient hierbei als Orientierung durch die Auflistung bewährter Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissensbausteinen, Techniken und Methoden, die in einem Kompetenzmodell zusammengeführt sind. Dabei ist die Zusammenstellung der Kompetenzen unabhängig von therapeutischen Schulen oder Beratungsrichtungen und kann als Ausgangspunkt für den Aufbau eines Weiterbildungscurriculums genutzt werden. Die Erfassung eines Kompetenzstandes erfolgt in Beratungsausbildung häufig wenig systematisch und subjektiv ohne festgelegte Kriterien (vgl. Paukert, 2011), was einen intersubjektiven Vergleich erschwert. Für einige Aspekte des Konstrukts liegen Erhebungsinstrumente vor, die den Kompetenzerwerb unterstützen und eine Einschätzung des Kompetenzstands ermöglichen. Dieser Beitrag gibt einen Überblick, was Systemkompetenz beinhaltet, wie ein Berater systemkompetent werden kann und auf welche Art und Weise die Zunahme an Systemkompetenz festgestellt werden kann.

2 Systemkompetenz Der Umgang mit komplexen, sozialen Systemen ist geprägt durch Intransparenz, Eigendynamiken und Mehrdeutigkeit (Gussone u. Schiepek, 2000). Die Komplexität der Systeme führt dazu, dass die Systemelemente und deren Wechselbeziehungen oft nur ungenügend bekannt sind, was eine zielgerichtete Beeinflussung erschwert oder sogar verhindert (Dörner, Schaub u. Strohschneider, 1999). Die mangelnde Transparenz und die daraus resultierende Unkenntnis des relevanten Systems stellen mental, physisch und emotional eine große Herausforderung an Berater dar (Kriz, 2000). Um diesen Herausforderungen begegnen zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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können, sind im Konstrukt Systemkompetenz Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen und relevante Wissensbausteine zusammengeführt, damit Beratern der Umgang mit komplexen, dynamischen Systemen erleichtert und gleichzeitig die Belastung für Berater minimiert wird (Schiepek, 1991; Schiepek, 1999; Haken u. Schiepek, 2010). Das Konstrukt versteht sich als ein Kompetenzmodell, in dem die notwendigen emotionalen und kognitiven, wissenschaftlichen und praktischen Kompetenzen zusammengeführt sind, die das professionelle Arbeiten mit komplexen Systemen ermöglichen. Darüber hinaus kann es als Sammlung von Lernzielen für Aus- und Weiterbildungen von Beratern für Synergetisches Prozessmanagement dienen (Haken u. Schiepek, 2010). Die aufgeführten Kompetenzen sind zunächst nicht spezifisch für einen bestimmten Beratungsstil oder ein spezifisches Anwendungsgebiet, sondern beziehen sich ganz allgemein auf die Arbeit mit komplexen Systemen in verschiedenen Bereichen. Für die Arbeit in unterschiedlichen Anwendungsfeldern werden anwendungsspezifische Wissensinhalte zusätzlich zu dem fachübergreifenden Wissen über Synergetik, erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundlagen ergänzt. Derzeit liegen zwei Spezifikationen vor: eine für den Bereich der Psychotherapie und eine weitere für den Bereich Management und Organisationsentwicklung (Haken u. Schiepek, 2010). Auch wenn das Konstrukt im Bereich der Psychotherapie entwickelt wurde, enthält es in der entsprechenden Spezifikation keine spezifischen Techniken einer therapeutischen Schule. Die aufgeführten Kompetenzen können durch spezifische Beratungstechniken verschiedener Beratungsrichtungen umgesetzt werden. Dies betont die Ausrichtung des Konstrukts als schulenunabhängiges Kompetenzmodell, dessen systemische Betrachtungsweise über den Ansatz der Synergetik zum Tragen kommt und nicht über die Auflistung von Methoden und Interventionen der systemischen Beratung (Schiepek, 1997a).

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2.1 Emergente Systemkompetenz Beratung findet in der Praxis auf unterschiedlichen Ebenen statt. Manteufel und Schiepek (1995) betonen, dass sich Systemkompetenz auf die Kompetenz von Individuen, aber auch von sozialen Systemen beziehen kann. Dabei ist Beratung durch einzelne Personen das häufigste Beratungsmodell (z. B. Bildungsberater, Beratungslehrer). Auf einer hierarchisch höheren Ebene entsteht durch das Zusammenwirken der Kompetenzen einzelner Personen emergente Systemkompetenz. Diese zeigt sich hierbei in einer Mehrpersonenkonstellation. Durch das Zusammenwirken individueller Kompetenzen entsteht eine neue, emergente Systemkompetenz, die nur über das wechselseitige Zusammenspiel erklärt werden kann und über die Kompetenzen der einzelnen Systemmitglieder hinaus geht (z. B. Projektteam, Co-Beratung). Diese werden dann als ganzheitliche Kompetenz des beratenden Systems wahrgenommen. Das Phänomen der emergenten Systemkompetenz wiederholt sich, wenn Elemente auf der höheren hierarchischen Ebene als Einheit, sprich als System, zusammenwirken (Böse u. Schiepek, 2000). So können sich auf einer nächsthöheren Ebene ganze Abteilungen oder Institutionen systemkompetent verhalten (z. B. Erziehungsberatungsstelle, Schulpsychologischer Dienst). Wie Haken und Schiepek (2010, S. 636 f.) ausführen, kann zusätzlich zu dieser vertikalen Differenzierung zwischen Selbstanwendung (Selbstreferenz) und Fremdanwendung (Fremdreferenz) unterschieden werden (s. Tab. 1). Selbstreferentiell sind alle Verhaltensweisen, die sich auf das eigene System beziehen und der Erhaltung und Verbesserung der eigenen Funktionsfähigkeit und Zufriedenheit dienen. Systemkompetentes Verhalten wirkt in diesem Fall rekursiv auf das eigene System. Auf Ebene I zeigt sich selbstreferentielle Systemkompetenz unter anderem darin, in welcher Weise ein Berater seine eigenen Ressourcen aktiviert, Stressbewältigungsstrategien auf sich selbst anwendet oder eigene Problem löst. Somit ist die Kompetenz für das eigene Funktionieren elementar für die Erhaltung der eigenen mentalen Gesundheit und als Burn-outProphylaxe nicht zu unterschätzen (Gussone u. Schiepek, 2000). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Fremdreferentiell sind alle Verhaltensweisen, die auf ein anderes System als das eigene angewendet werden. Die Kompetenzen des eigenen Systems werden eingesetzt, um die Entwicklung und Selbstorganisation eines anderen Systems auf gleicher Integrationsebene zu unterstützen (Schiepek, 1997b). So kann zum Beispiel ein Team einer Change-Management-Abteilung Qualifizierungsmaßnahmen für Projektmanagement oder Teambuilding-Maßnahmen für andere Arbeitsbereiche durchführen. Tabelle 1: Emergente Systemkompetenz in Anlehnung an Haken und Schiepek (2010, S. 636). Selbstreferenz

Fremdreferenz

Ebene I (z. B. Bildungsberater, Beratungslehrer) Ebene II (z. B. Projektteam, Co-Beratung) Ebene III (z. B. Erziehungsberatungsstelle, Schulpsychologischer Dienst)

2.2 Professioneller Umgang mit komplexen Systemen Das Konstrukt Systemkompetenz wurde ursprünglich als Kriterienliste entwickelt, die als Leitlinie diente, um den Umgang mit komplexen, unbekannten Systemen zu bewerten. Diese Kriterien strukturierten das De-Briefing nach einem Systemspiel. Das Systemspiel ist ein mehrtägiges Rollenspiel mit einer hohen Anzahl an Beteiligten und Rollenbeschreibungen, die über den Verlauf der Spielzeit zu unvorhersehbaren Dynamiken und vergleichsweise hohen emotionalen Belastungen führt (Manteufel u. Schiepek, 1993). Damit ist Systemkompetenz eine Antwort auf die typischen Fehler, die beim Umgang mit komplexen, unbekannten Systemen gemacht werden (Dörner, Kreuzer, Reither u. Stäudel, 1996). Neben der Strukturierung von Teilnehmererfahrungen im De-Briefing dienten die Kriterien von Anfang an als Leitfaden, um die Teilnehmer besser auf die Systemspiele vor© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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bereiten zu können. Dazu waren auf verschiedenen Dimensionen kognitive Fähigkeiten, emotionale und soziale Kompetenzen sowie systemtheoretisches Wissen aufgeführt. Die Dimensionalität und die Inhalte des Konstrukts Systemkompetenz veränderten sich leicht über die Jahre, bis im Jahr 2006 die bis dahin elaborierteste Ausarbeitung veröffentlicht wurde (Haken u. Schiepek, 2010). Es beinhaltet sechs Dimensionen, die alle »notwendigen emotionalen und intellektuellen, wissenschaftliche wie praktischen Kompetenzen für den professionellen Umgang mit komplexen Systemen« beinhalten (Haken u. Schiepek, 2010. S. 634 f., S. 671 ff.). Die Dimensionen heißen im Einzelnen: • Soziale Kompetenzen. Diese Dimension beinhaltet die Arbeit mit Gruppen, Präsentations-, Kommunikations- und Koordinationskompetenzen sowie Konfliktmanagement. • Dimension Zeit. Darunter fallen alle Kompetenzen, die Berater dabei unterstützen, sich an die Eigendynamik von Systemen anzukoppeln und mit ihnen längerfristig in Resonanz treten zu können. • Emotionen, Stressbewältigung und Ressourcenaktivierung. Hier sind Fähigkeiten zur Stressbewältigung, Ressourcenaktivierung und Motivierung aufgeführt. • Entwicklung von Selbstorganisationsbedingungen. Diese Dimension enthält unterstützende Bedingungen für selbstorganisierte Entwicklungen, die sogenannten generischen Prinzipien. • Wissen. Hierzu gehören Wissensgrundlagen der Synergetik, Psychologie, Philosophie und Soziologie. Je nach Anwendungsgebiet werden diese Inhalte durch Fachkenntnisse über Management und Organisationsentwicklung oder Psychotherapie ergänzt. • Mustererkennung und Modellierung. Hier sind Verfahren aufgelistet, mit deren Hilfe dynamische Muster in Interaktionsstrukturen erfasst werden, analysiert und visualisiert werden können.

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2.3 Systemkompetenz als Kompetenzmodell Seit 1992 haben Kompetenzen, Kompetenzentwicklung und Kompetenzmessung starkes wissenschaftliches Interesse und praktische Relevanz gewonnen (ABWF, 2003; Meyer-Dohm, 2002) sowie eine Vielzahl von quantitativen und qualitativen Forschungsansätzen hervorgebracht (vgl. Erpenbeck u. von Rosenstiel, 2003). Rychen und Salganik (2003) definieren Kompetenzen als Dispositionen, die eingesetzt werden, um komplexe Ziele in einem bestimmten Kontext erfolgreich zu erreichen. Zu diesen Dispositionen gehören Wissen, kognitive und praktische Fähigkeiten, Einstellungen, Emotionen und Motivation. Um kompetent handeln zu können, werden diese aktiviert, koordiniert und in Handlung umgesetzt. Dabei werden die Entscheidungen und Handlungen einer Person so aufeinander abgestimmt, dass die angestrebten Ziele erreicht werden können. Kompetenzen sind dabei ein Ergebnis eines Lern- und Reflexionsprozesses (Goetze, 2001) und sind durch ihre Ziel- und Subjektorientierung charakterisiert. Die Zielorientierung betont, dass Kompetenzen eingesetzt werden, um bestimmte Ziele zu erreichen. Die Subjektorientierung hebt das Individuum und seine Dispositionen hervor, mit Hilfe derer die Kompetenzen umgesetzt werden (Erpenbeck u. von Rosenstiel, 2003). Kompetenz wird auch als Disposition für Selbstorganisation verstanden. Diese bezieht sich auf die Fähigkeit eines Systems, sein Handeln in unübersichtlichen Situationen auf vage Ziele hin auszurichten. Diese Fähigkeit trifft neben Individuen auch auf Gruppen, Organisationen und Regionen zu (Heyse, Erpenbeck u. Michel, 2002). Da sich das Konstrukt als Kompetenzmodell versteht, wurde dessen Eignung vor dem Hintergrund der diesbezüglichen theoretischen und empirischen Diskussion in der Kompetenzforschung überprüft (Paukert, 2011). Die sechs Dimensionen der Version des Konstrukts von 2006 sind in ihrer Komplexität sehr heterogen und stellen keine Kompetenzen dar. So beinhalten zum Beispiel die Dimensionen 5 (Wissen) und 6 (Mustererkennung und Mustermodellierung) reine Wissensaspekte, statistische Prozeduren und Evaluationsverfahren. Dimension 4 (Entwick© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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lung von Selbstorganisationsbedingungen) wiederum beinhaltet die Kompetenz, untergeordnete Kompetenzen anderer Dimensionen auszuwählen und umzusetzen. Die Umstrukturierung des Konstrukts Systemkompetenz durch Paukert (2011) folgte dem Schema von Erpenbeck und von Rosenstiel und deren Einteilung in die vier Schlüsselkompetenzen personale Kompetenzen, Aktivitäts- und umsetzungsorientierte Kompetenzen, fachlich-methodische Kompetenzen und sozial-kommunikative Kompetenzen. Systemkompetenz diente in diesem revidierten Modell als Metakompetenz, die der Auswahl der Schlüsselkompetenzen dient. Schlüsselkompetenzen sind Kompetenzkonstrukte höherer Ordnung, die mehrere Kompetenzen beinhalten (Goetze, 2001). Durch den abstrakten Charakter der Schlüsselkompetenzen reduzieren sie Komplexität und erhalten damit kommunikative Funktion, da anstelle vieler einzelner Kompetenzen nur wenige Schlüsselkompetenzen verwendet werden (Rychen, 2003). Wie Kompetenzen bestehen sie aus Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen, Motivationen und Emotionen (Rychen u. Salganik, 2003). Metakompetenz ist die Fähigkeit, die Verfügbarkeit, den voraussichtlichen Nutzen und Erlernbarkeit von Kompetenzen zu beurteilen. Sie ermöglichen das Erlernen, Entwicklung und Optimierung von Kompetenzen und deren Einsatz (North, Friedrich u. Lantz, 2006). Die Unterscheidung zwischen Kompetenzen und Metakompetenzen wird in der Literatur nicht einheitlich vorgenommen, daher ist eine gegenseitige Abgrenzung schwierig (Goetze, 2001). Durch die Umstrukturierung erhält es eine stärkere Akzentuierung der Herstellung der Bedingungen für die Gestaltung selbstorganisierter Entwicklungen (generische Prinzipien), was sich auch in der veränderten Namensgebung ausdrückt: Kompetenz zur Gestaltung selbstorganisierter Entwicklungsprozesse (Systemkompetenz). Damit wird Systemkompetenz als die zentrale Fähigkeit definiert, die Bedingungen für selbstorganisierte Entwicklungsprozesse zu gestalten. Systemkompetentes Beratungsverhalten zeichnet sich dann dadurch aus, dass in Abhängigkeit von der Phase, in der sich die Beratung befindet, ange-

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messene Kompetenzen und darin enthaltene Beratungstechniken und -interventionen ausgewählt werden. Im vorliegenden Beitrag sind die aktivitäts- und umsetzungsorientierten Kompetenzen, die weder bei Paukert (2011) noch bei Erpenbeck und von Rosenstiel (2003) weiter expliziert waren, zu Gunsten der Vereinfachung des Modells aufgehoben. Damit wird die Umsetzung der Kompetenzen implizit in die drei verbleibenden Schlüsselkompetenzen integriert, so wie es andere Kompetenzmodelle vornehmen (vgl. North u. Reinhardt, 2005). Damit werden Kompetenzen wieder stärker als Dispositionen selbstorganisierten Handelns dargestellt. Sie verfolgen einen ganzheitlichen Anspruch (Arnold, 2001), sind die zugrunde liegenden Fähigkeiten, Fertigkeiten, Motivation, Emotionen doch untrennbar mit der Ausführung verbunden. Für die pädagogische Praxis und für Trainings können so einfacher Lernziele abgeleitet und entsprechende didaktische Konzeptionen entwickelt werden. Das Konstrukt in der Ausarbeitung für Management und Organisationsentwicklung ist in Tabelle 2 dargestellt. Das Konstrukt beinhaltet auf der zweiten Ebene drei Schlüsselkompetenzen (Erpenbeck u. von Rosenstiel, 2003): sozialkommunikative Kompetenzen, fachlich-methodische Kompetenzen und personale Kompetenzen. Diese beinhalten die Kompetenzen, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissensbausteine (Dispositionen) für Berater, um einen Rahmen für selbstorganisierte Entwicklung gestalten zu können. Die Auflistung der fachlichmethodischen Kompetenzen in Tabelle 2 ist komprimierter als bei Haken und Schiepek (2010, S. 671 ff.), die unter Verfahren zur Erstellung klinischer Fallkonzeptionen und den Methoden der Analyse von Prozessdaten zahlreiche weitere Ansätze im Detail verzeichnen. Damit erhält das Konstrukt einen weniger wissenschaftlichen als praxisbezogenen Schwerpunkt, indem die Beratungstechniken und Interventionen, die tagtäglich in der Praxis benötigt werden, akzentuiert werden. In dieser Umarbeitung kann das Konstrukt als echtes Kompetenzmodell gelten, das nach Weinert (2001) fünf Kriterien genügen muss. Erstens ist die Kompetenzstruktur aus theoretischen und praktischen Überlegungen abgeleitet. Zweitens beinhaltet das Modell sozial-kommunikative, fachlich-methodische, personale Kompetenzen und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

personale Kompetenzen – Emotionen und Motivationen – Unterstützung des eigenen Selbstwertgefühls – reflektierter Umgang mit eigenen emotionalen Schemata – Umgang mit emotionalen Belastungen, konkrete Coping-Strategien – Selbstverstärkung, Förderung der eigenen Lebensqualität

fachlich-methodische Kompetenzen

– Kenntnisse in Synergetik und der Theorie komplexer nichtlinearer Systeme – Anwendung des relevanten Grundlagenwissens auf Fragestellungen von Management und Organisationsentwicklung aus: Psychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Salutogenese- und Ressourcenforschung

sozial-kommunikative Kompetenzen

– Zusammenarbeit Kompetenz-, Rollen-, Aufgaben- und Auftragsklärung – Teamfähigkeit – delegieren können – Fähigkeit zu plankomplementärem Verhalten (Plananalyse) – didaktisch und inhaltlich überzeugende Präsentation

generisches Prinzip 1: Schaffen von Stabilitätsbedingungen generisches Prinzip 2: Identifikation von Mustern des relevanten Systems generisches Prinzip 3: Sinnbezug, Synergitätsbewertung generisches Prinzip 4: Kontrollparameter identifizieren, Energetisierungen ermöglichen generisches Prinzip 5: Destabilisierung, Fluktuationsverstärkungen realisieren generisches Prinzip 6: »Kairos« beachten, Resonanz, Synchronisation generisches Prinzip 7: gezielte Symmetriebrechung ermöglichen generisches Prinzip 8: Re-Stabilisierung heuristische Kompetenzen (Informationssuche, Suchraumerweiterung, Analogiebildung, Kompetenzerweiterung)

Kompetenz zur Gestaltung selbstorganisierter Entwicklungsprozesse (Systemkompetenz)

Tabelle 2: Kompetenz zur Gestaltung selbstorganisierter Entwicklungsprozesse (Systemkompetenz)

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fachlich-methodische Kompetenzen

– philosophische Grundlagen und Fragen der Synergetik, Psychologie, Ökologie und Systemwissenschaften – Kenntnis um: Befunde der Managementforschung bewerten können – Diagnose von Organisationen und Systemen, basierend auf Unternehmens-, Management- und Organisationstheorien – Kenntnisse und Kritikfähigkeit bezüglich Forschungsstrategien in Organisationspsychologie, BWL, Managementwissenschaft, Organisationsentwicklung, Neue Institutionenökonomie – Methoden und Techniken des Messens und der Datenerfassung in der Psychologie

sozial-kommunikative Kompetenzen

– konstruktives Feedback geben Konfliktmanagement und Konfrontation – interdisziplinäre Kooperationskompetenz – Kontext beachten – Gespür für Sprache, Regeln, Umgangsformen, Geschichte, Kulturen – verständliche, kontextangemessene Sprache – Berücksichtigung fremder Operationslogiken – Berücksichtigung Systemstrukturen und -regeln – Sensibilisierung für Aufnahmebereitschaft anderer – Unterstützung des Selbstwertgefühls anderer

(Fortsetzung) – Empowerment, Jiu-Jitsu-Prinzip für sich selbst – Erkennen, Entwickeln und Aktivierung eigener Ressourcen – Engagement, eigene Motivationsklärung – Prozessaspekte – entkrampfter Umgang mit Irreversibilität, Unveränderbarkeit, Chronifizierung Umgang mit den Grenzen von Planung, Vorhersage, Wachstum und Veränderungsmöglichkeiten – fokussieren, konzentrieren (sich nicht verzetteln) – Nutzung von Hilfen, sozialen Netzwerken, Informationen – Ambiguitätstoleranz

personale Kompetenzen

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– Empowerment, Jiu-Jitsu-Prinzip für andere – Ressourcenerkennung, -entwicklung, -aktivierung – Beteiligungen, Zugehörigkeiten erzeugen – Schaffen von »Kulturen« und »corporate identities« – Prozessgestaltung – Wechsel zwischen Aktion und Reflexion – systemangemessene Frequenz von Interventionen – Zeitdruck vermeiden, langsame Taktung – Einladungen, Yes-Sets abwarten – Zeitrituale nutzen – Perspektiven, Orientierungen, Ziele entwickeln

sozial-kommunikative Kompetenzen

(Fortsetzung)

– Methoden der Evaluation und Qualitätssicherung von Führungsund Beratungsleistungen – Verfahren zur Erstellung von Fallkonzeptionen – Kenntnis und Durchführungskompetenz relevanter Fragebogen- und Testverfahren – Erfahrung mit der Durchführung und Auswertung von Systemspielen (LifeSimulation) – Verständnis von Computersimulationen – Methoden der Analyse von Prozessdaten – praktische Durchführung, Auswertung und Interpretation des computerbasierten synergetischen Navigationssystems

fachlich-methodische Kompetenzen

personale Kompetenzen

Systemkompetenz

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handlungsbezogene Kompetenzen. Drittens ist das Konstrukt komplex genug, so dass der Gebrauch eines Kompetenzkonzepts angemessen ist. Viertens sind Lernprozesse notwendig, um mit den Herausforderungen der komplexen Ziele angemessen umzugehen. Fünftens dienen die aufgeführten Meta- und Schlüsselkompetenzen im Wesentlichen der konzeptuellen Gliederung und Auswahl weiterer Kompetenzen. Die Komplexität der in den Schlüsselkompetenzen aufgeführten Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbausteinen variiert stark. So sind die fachlich-methodischen Kompetenzen zum Teil sehr abstrakte Fähigkeiten, die erfordern, Kenntnisse ganzer Wissenschaftsbereiche auf die Relevanz der jeweiligen Beratungskontexte zu prüfen und anzuwenden, komplizierte mathematische Analyseverfahren (z. B. bei den Verfahren zur Analyse von Prozessdaten) oder sogar komplexe Interviewschemata durchzuführen (z. B. bei den Verfahren zur Erstellung von Fallkonzeptionen). In den personalen Kompetenzen und den sozial-kommunikativen Kompetenzen sind einzelne Fähigkeiten aufgelistet, deren Komplexitätsgrad wesentlich geringer sind (z. B. Yes-Sets abwarten oder fokussieren, konzentrieren). Dadurch sind diese Kompetenzen nahe an den Dispositionen für kompetentes Beratungshandeln und müssen teilweise nicht mehr in weitere Konstituenten aufgeschlüsselt werden. Somit können sie, wie ursprünglich beabsichtigt, als Lernziele verstanden werden. Die fachlich-methodischen Kompetenzen sind zu abstrakt, um sie direkt als Lernziele verwenden zu können. Um diese für einen Lehr-Lern-Kontext zu verwenden, müssen sie weiter in ihre für die Beratung relevanten Bestimmungsteile untergliedert werden. Ein wichtiges Charakteristikum von Kompetenzen ist das Handeln: Dispositionen werden eingesetzt, um komplexe Ziele erfolgreich zu erreichen (Rychen u. Salganik, 2003). Das bedeutet, dass Kompetenzen in Handlungssituationen erworben werden und zum Ausdruck kommen. Somit müssen in einem Training auch Situationen geschaffen werden, in denen komplexe Ziele erreicht werden sollen. Durch das Führen von Beratungsgesprächen werden solche Situationen geschaffen, indem Berater für ihre Klienten Bedingungen herstellen, um selbstorganisierte © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Entwicklungsprozesse zu ermöglichen. In der Beratung werden durch die Veränderung von Kontrollparametern stabile, aber unerwünschte, Kognitions-, Emotions- und Verhaltensmuster (K-E-V-Muster) moduliert und in andere, erwünschte K-E-VMuster überführt. Kontrollparameter sind dabei im Verständnis der Synergetik alle Größen, welche die Wechselwirkungen zwischen Systemelemente modulieren und das System aktivieren (Haken u. Schiepek, 2010, S. 629). In der Beratung wird dies durch Beratungstechniken wie Ressourcenaktivierung und über die Arbeit an der emotionalen und motivationalen Bedeutung von Zielen und Visionen erreicht (Haken u. Schiepek, 2010, S. 438). Dadurch, dass zum Beispiel weder Anliegen der Klienten, Systemmuster oder -grenzen oder etwa Kontrollparameter bekannt oder sogar bewusst sind, ist die Beratung hinreichend komplex und intransparent. Zusätzlich zu dieser Komplexität kommen noch die unvorhersehbaren Dynamiken zwischen Berater und Klient. Um Beratungshandeln angemessen analysieren zu können, muss der Einsatz einzelner Methoden und Techniken in einem größeren Zusammenhang von Beratungsgesprächen oder einzelnen Gesprächsphasen betrachtet werden. Auch eine Ausbildung für Berater wird immer wieder auf Übungssequenzen von Gesprächen oder Gesprächsphasen zurückkommen, um zuvor erlernte, weniger komplexe Gesprächstechniken oder -fähigkeiten in einem größeren Kontext umzusetzen. Somit ist für den Kompetenzerwerb das Führen von Beratungsgesprächen unerlässlich.

3 Training zur Steigerung der Systemkompetenz Für die Entwicklung eines Beratungstrainings wurden aus dem Konstrukt Systemkompetenz von Haken und Schiepek (2010) drei Aspekte gewählt. Zum einen sind dies Fachkenntnisse, die das grundlegende Verständnis für eine systemische Denkweise, mit deren Hilfe Interaktionen und Prozesse beschrieben, und strukturiert werden können (Wissen). Zum anderen ist es die idiographische Systemmodellierung als ein Verfahren zur Erstellung klinischer Fallkonzeptionen, bei dem der Gesprächsab© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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lauf stark strukturiert ist und die generischen Prinzipien, deren Beachtung eine prozessangemessene Auswahl von Beratungstechniken und Interventionen erlaubt. Die drei Aspekte werden im Folgenden näher erläutert.

3.1 Wissen Systemkompetente Berater schaffen in ihrer Beratung Bedingungen für die Selbstorganisation ihrer Klienten. Dies basiert auf konkreten Beratungstechniken und -methoden, die wiederum auf grundlegenden Konzepten und Theorien beruhen. Systemkompetenz basiert auf dem systemischen Verständnis der Synergetik von stabilen Ordnungszuständen und der Gestaltung von Ordnungs-Ordnungs-Übergängen (Haken u. Schiepek, 2010). Um Veränderungsprozesse komplexer, sozialer Systeme professionell zu begleiten, ist ein Verständnis der zugrunde liegenden Modellannahmen, Definitionen und Beratungshaltungen notwendig. Als wesentlich werden dabei Basisdefinitionen, Grundhaltungen in Beratung, idiographische Systemmodellierung, generische Prinzipien und das Grundschema der Synergetik gesehen. Die Wissenseinheiten zielen dabei zunächst auf theoretisches Verständnis ab, das die Beratung bei der Umsetzung der idiographischen Systemmodellierung und der generischen Prinzipien unterstützt.

3.2 Systemmodellierung Um komplexe, dynamische Verhaltensmuster zu identifizieren und zu repräsentieren, ist ein systemisches Denken in Netzwerken gegenseitig abhängiger Elemente nötig. Systemisches Denken wird durch die Modellierung eines Systems, das heißt die Bewusstwerdung mentaler Prozesse, unterstützt (Ossimitz, 2000). Eine spezifische Methode ist die idiographische Systemmodellierung, mit der Einzelfälle modelliert werden (Schiepek, 1991). Die Systemelemente sind in der Regel theoretische Konstrukte (z. B. Angst, Zufriedenheit), die rekursiv miteinander © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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verknüpft sind. In der Beratung bietet das idiographische Systemmodell durch die Visualisierung eine Kommunikationsbasis zwischen Berater und Klient und durch Komplexitätsreduktion eine gemeinsame Sicht auf komplexe Zusammenhänge (Schiepek, Wegener, Wittig u. Harnischmacher, 1998). Spezifische dynamische emotionale Verhaltensmuster werden in ihrem zeitlichen Verlauf sichtbar. Dadurch können wichtige Komponenten und Substrukturen sowie deren gegenseitige Abhängigkeit erkannt werden (Casper, Rothenfluh u. Segal, 1992). Die idiographische Systemmodellierung identifiziert mentale Prozesse und setzt sie mit externen Faktoren in Verbindung (Schiepek, 2003). Abhängig vom Beratungsanlass sind problembezogene Aspekte, aber auch Lösungen, Ressourcen oder Bewältigungsstrategien Teil des Modells (Schiepek u. Kaimer, 1996). Die Methode der idiographischen Systemmodellierung erfolgt in fünf Schritten: • Narration. Zu Beginn steht ein lösungsorientiertes Beratungsgespräch mit einem starken Fokus auf Fragetechniken, die gegenseitige Einflüsse von Systemelementen elaborieren. • Identifizierung der Elemente. In diesem Schritt werden die relevanten Systemelemente in Abstimmung mit dem Klienten bestimmt und benannt. • Systemdynamik. Vor der Visualisierung wird die Kovariation der Systemelemente im Zeitverlauf erfasst. Dies kann in einem Koordinatensystem geschehen, in dem die Zeit auf der x-Achse und die Ausprägung der Systemelemente auf der y-Achse aufgetragen wird. • Visualisierung. In diesem Schritt werden die identifizierten Systemelemente miteinander in Beziehung gesetzt und in ein graphisches Modell überführt. Die Systemelemente werden mit einem Pfeil verbunden, der die Wirkrichtung anzeigt. Ein (+) oder () zeigt die Kovariation der verbundenen Elemente an. • Reflexion. Zum Abschluss wird das Systemmodell gemeinsam mit dem Klienten in Bezug auf neue Erkenntnisse und Res-

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sourcen bei Verhaltens- oder emotionalen Mustern besprochen und die weitere Zusammenarbeit vereinbart. Eine hohe Modellierungskompetenz zeigt sich in der professionellen Umsetzung der dargestellten fünf Schritte der Systemmodellierung. Durch die Modellierung des Systems können Anhaltspunkte gefunden werden, um das System zu verstören und damit gleichzeitig das modellierte Erleben und Verhalten zu verändern (Schiepek u. Kaimer, 1988). Durch die idiographische Systemmodellierung entsteht nicht nur ein rekursives Modell; der Entstehungsprozess an sich ist eine rekursive Kommunikation über Systemelemente, deren Beziehungen und Bedeutungen.

3.3 Generische Prinzipien Die generischen Prinzipien beschreiben Bedingungen, mit denen der notwendige Rahmen hergestellt werden kann, in dem selbstorganisierte Veränderungsprozesse stattfinden können. Sie lassen sich aus der Theorie der Synergetik und der Psychotherapie-Prozessforschung ableiten (Haken u. Schiepek, 2010). Die Beachtung der generischen Prinzipien, ob in Therapie, Beratung oder Organisationsentwicklung, ermöglicht Lernprozesse und Ordnungs-Ordnungs-Übergänge (Schiepek u. Kröger, 2000). Sie leiten Berater bei der Gestaltung von Beratungsprozessen und lenken die Auswahl angemessener Techniken und Interventionen in Abhängigkeit von der Aufnahmebereitschaft der Klienten. Die Logik der generischen Prinzipien besteht nicht darin, dass sie einem Phasenmodell gleich nachfolgend durchlaufen werden. Sie dienen der Reflexion über den Beratungsverlauf und als Entscheidungsgrundlage für die Auswahl der nächsten Intervention. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Beratung gewinnen unterschiedliche generische Prinzipien Bedeutung. 1. Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse. Veränderungsprozesse benötigen Stabilität, damit sie erfolgreich sein können. Dazu gehören die Transparenz des Beratungsprozesses und eine vertrauensvolle Berater-Klienten-Beziehung. Darüber hinaus wirken Ressourcenaktivierung, Stärkung der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Selbstwirksamkeit und des Kontrollerlebens stabilisierend auf die Kompetenzwahrnehmung der Klienten. Identifikation von Mustern des relevanten Systems. Jede Beratung bezieht sich auf ein Bezugssystem mit den relevanten Elementen und deren gegenseitige Abhängigkeiten. Dieses Bezugssystem bietet Ansatzpunkte für Interventionen. Als Methode können idiographische Systemmodellierung, Plananalyse oder Schemaanalyse eingesetzt werden. Sinnbezug, Synergitätsbewertung. Jeglicher Entwicklungsprozess sollte als sinnvoll und mit den zentralen Lebenskonzepten kongruent erlebt werden. Insbesondere, da jede Veränderung Aufwand und Zeit kostet und eventuell negative Emotionen mit sich bringt. Die antizipierten Ergebnisse einer Beratung sollen daher als bedeutsam und wichtig erlebt werden können. Kontrollparameter identifizieren, Energetisierungen ermöglichen. Um ein System zu verändern, muss es energetisiert werden. Im synergetischen Verständnis bedeutet dies die Veränderung interner oder externer Kontrollparameter. In der Beratung führt Ressourcenaktivierung, Lösungsorientierung und Zielarbeit zur Energetisierung. Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung. Die Veränderung eines unerwünschten Zustands ist die Hauptaktivität in einer Beratung. Dazu werden bestehende Zustände destabilisiert und neue Zustände exploriert (Veränderung des Attraktors). Bestehende Zustände können durch Rollenspiele und Verhaltensexperimente, Arbeit mit Ausnahmen, konfrontative oder provokative Verfahren verstört werden. Resonanz, Synchronisation, Kairos. Jeder Beratungsprozess muss an den kognitiven und emotionalen Zustand der Beratenden angepasst werden. Dazu gehören unter anderem die Taktung der Beratungstermine, die zeitliche Passung von Interventionen (Kairos), als auch die Fähigkeit von Beratern, adäquat auf Aussagen und Emotionen von Klienten zu reagieren. Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen. Symmetrie herrscht, wenn zwei oder mehrere Zustände mit gleicher oder ähnlicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden können. Mit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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der Entscheidung für einen der Zustände bricht die Symmetrie. In der Beratung werden Priorisierungstechniken, Antizipationstechniken oder auch Rollenspiele zur Symmetriebrechung verwendet. 8. Re-Stabilisierung. Positiv bewertete Zustände gilt es zu stabilisieren, internalisieren und sie in bestehende Selbstschemata zu integrieren, um sie leicht zugänglich zu machen. Als Maßnahmen dienen hierzu: Wiederholung, Variation, Transfer in unterschiedliche Kontexte, positive Verstärkung etc. Die generischen Prinzipien dienen als Entscheidungsraster, das als Orientierung dient, um Beratungsverhalten an dem situativen kognitiven, emotionalen und verhaltensbasierten Zustand der Klienten auszurichten. Die Kompetenz bei der Umsetzung der generischen Prinzipien zeigt sich in einer adäquaten Gestaltung des Beratungsprozesses, indem Beratungs- und Interventionsmethoden prozessangemessen ausgewählt und umgesetzt werden. Damit werden die Bedingungen für selbstorganisierte Entwicklungsprozesse geschaffen.

4 Empirischer Zugang Da das vollständige Konstrukt Systemkompetenz zu umfangreich für die Umsetzung in ein Training ist, wurden die drei oben beschriebenen Aspekte Wissen, idiographische Systemmodellierung und generische Prinzipien ausgewählt. Für das Training wurden Erhebungsinstrumente entwickelt, mit denen die Kompetenzausprägung zu verschiedenen Messzeitpunkten erfasst werden kann. Dabei stellte sich auch die Frage, welche Art der Kompetenzerhebung geeignet ist, um einen Kompetenzgewinn festzustellen.

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4.1 Zielgruppe Systemische Beratung ist ein etablierter Ansatz auf dem Beratungs- und Weiterbildungsmarkt, auf dem eine Vielzahl von Weiterbildungsinstitutionen um Teilnehmer werben. Die Zielgruppe des Trainings rekrutierte sich daher zum einem aus Teilnehmern in einem Weiterbildungskurs zu systemischen Beratern. Darüber hinaus richtet sich das Training an Studierende, die Interesse an systemischen Ansichten und systemischer Beratung haben. Daher wurden das Training und die Erhebung des Kompetenzzugewinns mit je einer Gruppe von Studierenden im Rahmen eines Lehrauftrags und einer Gruppe von Teilnehmern einer zweijährigen Weiterbildung zu systemischen Beratern zu Anfang ihrer Ausbildung durchgeführt.

4.2 Training und Evaluation Das Training bestand aus zwei Trainingsrunden mit je drei Einheiten zu den Aspekten Wissen, idiographische Systemmodellierung und generische Prinzipien. Das Training war spiralcurricular aufgebaut und wiederholte und vertiefte in der zweiten Runde die Inhalte, deren Grundlagen in der ersten gelegt wurden (Bruner, 1960). Bei einer Länge von vier Stunden pro Lehreinheit dauerte das gesamte Training 24 Stunden. Zusätzlich wurde es durch drei weitere Sitzungen strukturiert. In einer Eröffnungssitzung gab es eine Einführung in systemische Beratung und einen Überblick über die folgenden Einheiten. In einer Sitzung zwischen den beiden Trainingsrunden wurde Gelegenheit zur Wiederholung und Reflexion gegeben. In der Abschlusssitzung wurden alle Trainingsinhalte reflektiert und die Gelegenheit für Feedback ermöglicht. Um Kompetenzen zu entwickeln, müssen Lehr-Lern-Arrangements hergestellt werden, in denen die Lernenden mit komplexen Situationen konfrontiert werden (Arnold, 2001). Damit diese komplexen Situationen bewältigt werden können, ist ein hoher Anteil an Erfahrungslernen in realistischen Settings notwendig. Die Reflexion der dabei gemachten Erfahrungen erhält © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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bei der Kompetenzentwicklung besondere Bedeutung (Straka, 2001). Dieses Erfahrungslernen wurde in allen Trainingseinheiten durch Plenumsarbeit, Demonstrationen, Rollenspiele, Bearbeitung von Fallstudien, Textarbeit und Gruppendiskussionen mit anschließenden Reflexionsphasen unterstützt. Zudem sind realistische Settings für den Kompetenzerwerb als auch für die Erhebung von Kompetenzen bedeutend. Daher wurden die Umsetzung der idiographischen Systemmodellierung und die Umsetzung der generischen Prinzipien jeweils in einem Beratungssetting erhoben. Der Wissenszuwachs wurde mit einem Wissenstest abgefragt. Um die Baseline jedes Trainingsteilnehmers zu erheben, fand die erste Evaluation vor der ersten Trainingsrunde statt. Die folgenden Evaluationen fanden jeweils nach der ersten bzw. zweiten Trainingsrunde statt. Während der Wissenstest als Gruppentest durchgeführt wurde, wurden für die idiographische Systemmodellierung und die generischen Prinzipien Peer-Gruppen gebildet, in denen von jedem Teilnehmer Beratungsgespräche mit jeder Methode geführt und auf Video aufgenommen wurden.

4.3 Erhebungsinstrumente Erhebungsinstrumente lagen für jeden der drei Trainingsbereiche vor : Der Wissenstest für die Grundlagen der Synergetik (WIGSY) umfasste die fünf Fragekomplexe Definitionen, Grundhaltungen der Beratung, idiographische Systemmodellierung, generische Prinzipien und Grundschema der Synergetik. Insgesamt waren zwanzig Fragen zu bearbeiten, die im MultipleChoice-Verfahren oder als offene Frage gestellt waren. Der Dokumentationsbogen für die idiographische Systemmodellierung (DIDSYM) bestand aus drei Bewertungsabschnitten. Nach dem Ende des Gesprächs wurde der Prozess der Systemmodellierung aus drei Perspektiven bewertet: aus Sicht der Interviewer, der Klienten und der beim Gespräch anwesenden Beobachter. Danach erfolgte mit zeitlichem Abstand die Bewertung des auf Video aufgenommenen Gesprächs durch einen unabhängigen Beobachter. Drittens wurde die Qualität des visua© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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lisierten Systemmodells anhand einer Kriterienliste von einem externen Gutachter bewertet. Der Dokumentationsbogen zur Umsetzung der generischen Prinzipien (DUGEP) umfasste zwei Teile. Wie bei DIDSYM bewerteten die Gesprächsteilnehmer nach Beendigung die Güte des Gesprächs aus Sicht der Interviewer, der Klienten und der beim Gespräch anwesenden Beobachter. Das auf Video aufgenommene Gespräch wurde zu einem späteren Zeitpunkt in Bezug auf die Umsetzung der generischen Prinzipien von einem externen Gutachter bewertet. Dazu wurde das Gespräch in Zwei-MinutenIntervalle unterteilt und für jedes Intervall der Grad der Umsetzung jedes generischen Prinzips durch den Interviewer und die Reaktion der Klienten kodiert.

5 Ergebnisse der empirischen Erhebung In Bezug auf die Kompetenzentwicklung ergaben sich durchaus heterogene Ergebnisse. Während ein Wissenszuwachs eindeutig festgestellt werden konnte, hängt die Kompetenzentwicklung bei der idiographischen Systemmodellierung und den generischen Prinzipien davon ab, mit welcher Methode die jeweiligen Gespräche bewertet wurden.

5.1 Wissen Bei dem Wissenstest zeigten sich bei der ersten Erhebung keine Vorteile der erfahrenen Teilnehmer der Beratungsausbildung. Eine Ausnahme waren die Fragen zu den Grundhaltungen der Beratung, da die Teilnehmer in ihrer Beratungsweiterbildung diese Themen schon behandelt hatten. Für die Gesamtgruppe ergab sich über die drei Messzeitpunkte eine stetige Zunahme an Wissen, die einen linearen Trend aufwies. Dabei profitierten die Studierenden in der ersten Trainingsrunde stärker als die Teilnehmer der Beratungsausbildung. Dies führte dazu, dass die Studierenden zum zweiten Messzeitpunkt signifikant bessere Ergebnisse erzielten. In der zweiten Trainingsrunde kehrte sich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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der Lernzuwachs um und zum dritten Messzeitpunkt gab es keine Unterschiede zwischen den Gruppen. Der Wissenszuwachs zwischen der ersten und dritten Messung betrug 33 Prozentpunkte. Mit einem durchschnittlichen prozentualen Wert von 51 % richtiger Antworten zum dritten Messzeitpunkt kann der Lerngewinn als moderat bezeichnet werden. Das durchgeführte Training legte den Fokus auf den Erwerb von Gesprächskompetenzen und weniger auf den Erwerb theoretischen Wissens. Auch wenn die Trainingsteilnehmer die theoretischen Grundlagen als wichtig betrachteten, so kann doch angenommen werden, dass das größere Interesse an der Durchführung der Gespräche bestand. Insbesondere galt dies für die Teilnehmer der Beratungsausbildung, da das Ausbildungsinstitut den Schwerpunkt auf das Durchführen von Trainingsgesprächen legt. Der Verlust des Wissensvorsprungs der Studierenden vom zweiten zum dritten Messzeitpunkt kann zudem durch die höhere universitäre Belastung durch Klausuren, Referate und Ausarbeitungen zum Semesterende erklärt werden. Dadurch verblieb weniger Zeit für die Vor- und Nachbereitung der Trainingseinheiten, für die außerdem kein Leistungsnachweis ausgestellt wurde.

5.2 Idiographische Systemmodellierung Es zeigte sich, dass die Länge der Gespräche, in denen die idiographische Systemmodellierung umgesetzt wurde, mit steigender Kompetenz zunahm. Die Länge war bei den Teilnehmern der Beratungsausbildung insgesamt höher als bei den Studierenden. Außerdem stellte sich heraus, dass die Gesprächslänge – unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit – im Verlauf des Trainings zunahm. Trotz der von Anfang an hohen Einschätzung auf den Beurteilungsskalen zeigte sich über die Messzeitpunkte eine signifikante Erhöhung der Einschätzung bei den Klienten und den Beobachtern, nicht jedoch bei den Beratern selbst. Es lagen auch keine nennenswerten Unterschiede zwischen den verschiedenen Trainingsgruppen vor. Bei der Bewertung durch die externen Gutachter bildete sich die Kompetenzentwicklung der Berater wesentlich deutlicher ab als bei der Einschätzung durch die Ge© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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sprächsteilnehmer selbst. Für die idiographische Systemmodellierung bedeutsames Verhalten wurde häufiger beobachtet und mit zunehmender Übung in einem stärkeren Ausmaß umgesetzt. Darin wurde eine Diskrepanz in Bezug auf die Einschätzung der Kompetenzentwicklung in Abhängigkeit von der Methodik der Erfassung ersichtlich. Die Qualität der graphischen Systemmodelle stieg im Verlauf des Trainings.

5.3 Generische Prinzipien Auch in den Gesprächssituationen, in denen auf die Umsetzung der generischen Prinzipien geachtet werden sollte und die mit DUGEP bewertet wurden, zeigt sich, dass die Gesprächsdauer zunahm. Die Zunahme war in der Gruppe der Studierenden größer als in der Ausbildungsgruppe, wobei diese dennoch insgesamt die längeren Gespräche führten. Ein unerwartetes Ergebnis bestand darin, dass sich über die drei Messzeitpunkte keine bedeutungsvolle Verbesserung und damit keine Kompetenzentwicklung zeigte. Die Einschätzung der Gesprächsteilnehmer lag schon ab der Erfassung der Baseline sehr hoch. Zudem gab es keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Perspektiven. Zwar lagen bei den Teilnehmern der Ausbildungsgruppe einige Items der Beurteilungsskalen ab dem zweiten Messzeitpunkt höher als bei den Studierenden, diese Differenzen waren allerdings unsystematisch und zufällig. Bei der Bewertung der auf Video aufgezeichneten Gespräche durch die externen Gutachter zeigte sich jedoch, dass es Unterschiede zwischen den Gruppen bei der Umsetzung gab. Erfahrene Berater variierten ihr Beratungsverhalten stärker und konnten flexibler auf die Bedürfnisse der Klienten reagieren, während unerfahrene Berater wenige generische Prinzipien umsetzten, die sie dann über einen langen Zeitraum aufrecht erhielten. Außerdem konnten erfahrene Berater die generischen Prinzipien tendenziell mit einer höheren Intensität umsetzen als unerfahrene Berater.

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5.4 Kompetenzfeststellung in Ausbildungsgruppen Für den Bereich Wissen war ein eindeutiger Lernzuwachs feststellbar. Bei DIDSYM und DUGEP hing der Kompetenzzuwachs stark davon ab, wer die Bewertung vornahm. Die Bewertung des Beratungsverhaltens durch die Interviewer selbst und durch Personen, die an dem Gespräch teilnahmen, zeigte sich über die Messzeitpunkte sehr stabil. Bei der Bewertung durch nicht direkt beteiligte Personen zeigten sich über die Zeit Verbesserungen. Damit stellt sich die Frage, welche Bewertungsart für die Einschätzung von Kompetenzen in einer Beratungsausbildung angemessen ist. Ausbildungsgruppen sind immer Gruppen auf eine bestimmte Zeit. Werden in der Ausbildung Gesprächssituationen mit unterschiedlichen Rollen geübt, dann sieht sich jeder Teilnehmer irgendwann in der Position, zu seinem Beratungsverhalten beurteilt zu werden. Das Gemeinschaftsgefühl und die Angst um negative soziale Bewertung beeinflussen die Bewertung. Diese Mechanismen greifen sicherlich bei den Teilnehmern der Beratungsausbildung, aber auch bei den Studierenden, die sich teils vor dem Training schon kannten, miteinander gearbeitet haben und damit rechnen müssen, sich nach dem Training wieder in verschiedenen Lernkontexten zu begegnen. Auch kann vermutet werden, dass mit zunehmenden Wissensstand und steigenden Beratungskompetenzen das Anspruchsniveau an das eigene Beratungsverhalten steigt. Damit verändern sich bei den Beratern auch die Interpretation der einzelnen Items und die Bedeutung der Skalenwerte auf den Beurteilungsskalen. Die Erhebungsinstrumente verwenden etablierte Feedbackpraktiken (Peer-Feedback, Feedback durch Ausbilder), die auch in systemischen Ausbildungsinstituten regelmäßig eingesetzt werden (Paukert, 2011). Um eine Kompetenzentwicklung feststellen zu können, benötigt es allerdings objektivere Maße und Personen, die in einem distanzierten Verhältnis zu den Teilnehmern einer Beratungsgruppe stehen. So wertvoll die nachträgliche Betrachtung und Bewertung von Beratungsverhalten in einer Gesprächssituation erachtet wird, so unrealistisch wird es sein,

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solche Verfahren in der Breite der Ausbildungsinstitute einzusetzen. Mit zunehmender Übung nahm die Dauer der Gespräche zu. Es zeigt sich auch, dass erfahrene Berater längere Gespräche führen konnten als unerfahrene Berater. Das hängt mit einem zunehmenden Fragenrepertoire der Berater, der steigenden Fähigkeit eine vertrauensvolle Berater-Klienten-Beziehung aufzubauen und den Klienten einen angemessenen Rahmen für Selbstorganisation zu bieten zusammen. Damit kann die Länge der Gespräche, zumindest in der Anfangszeit einer Beratungsausbildung, als Indikator für den Ausprägungsgrad Gesprächskompetenzen gelten.

6 Hinweise zur Gestaltung von Beratungstrainings Die Bewertungsskalen von DIDSYM und DUGEP bieten einerseits einen Überblick über wichtige Aspekte in den jeweiligen Beratungsgesprächen. Dadurch wird vermieden, dass in einer freien Form der Rückmeldung bestimmte Aspekte vergessen werden. Andererseits bietet der Vergleich der Selbsteinschätzungen und der Fremdeinschätzungen vielfältige Kommunikationsanlässe. Der Austausch über die wahrgenommenen Unterschiede und Ähnlichkeiten dienen der Reflexion des eigenen Verhaltens und der Zielsetzung für kommende Gespräche. Diese Form der Evaluation ist leicht durchführbar und ökonomisch. Die Einschätzung des Beratungshandelns mit Hilfe relevanter Merkmale führt zu einer Profilkurve, die die Ausprägung der Merkmale wiedergibt. Gemeinsam betrachtet, beschreiben diese Merkmale als Profil die Beratungskompetenz. Dieses Kompetenzprofil ergibt ein makroskopisches Muster und unterstützt damit den Reflexions- und Lernprozess effektiver als die Angabe einer Kompetenzstufe, da das Profil wesentlich mehr Information enthält. Stärken und Schwächen werden so ersichtlich, die sonst in der Angabe einer abstrakten Kompetenzstufe verloren gingen. Der Vorteil von Kompetenzprofilen gegenüber Kompetenzstufen zeigt sich bei der Analyse der DUGEP-Gespräche, da zu © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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diesem Zeitpunkt unklar ist, ob die die festgestellten Unterschiede charakteristisch für verschiedene Kompetenzstufen sind oder auf andere Einflussfaktoren zurückgehen. Eine größere Anzahl transkribierter Gespräche ist nötig, um diese Typologie zu optimieren oder zu revidieren. Mit mehr Vergleichsgesprächen können auch gegenseitige Abhängigkeiten und Beeinflussungen der generischen Prinzipien untereinander identifiziert werden. Dabei sind Beratungsgespräche praktizierender Berater einzubeziehen. Da bei ihnen davon ausgegangen werden kann, dass sie die Kompetenzen besitzen, um erfolgreiche Beratungen durchzuführen, werden sich bei ihnen typische Charakteristika kompetenter Beratung deutlicher abzeichnen als bei Beratern in Ausbildung. Da die generischen Prinzipien unabhängig von inhaltsspezifischen Berater- oder Therapieschulen sind, können damit auch Gespräche von Beratern mit verschiedenen Beratungsausrichtungen analysiert werden. Teilnehmer in Beratungsausbildungen erwarten, dass sie am Ende ihrer Ausbildung die Voraussetzungen beherrschen, um kompetent beraten zu können. Daher kann angenommen werden, dass das Interesse an praktischen Inhalten über theoretische Inhalte überwiegt. Dazu kommt, dass durch Berufstätigkeit und familiäre Verpflichtungen das Zeitbudget der Teilnehmer eingeschränkt ist. Für die Entwicklung eines erfolgreichen Weiterbildungscurriculums muss dies berücksichtigt werden, auch um das Engagement in die Vor- und Nachbereitung der vermittelten Inhalte nicht zu überschätzen. Erfahrungslernen war das zentrale didaktische Element des von Paukert (2011) entwickelten Trainings. Für die Ausbildung von Beratern ist dies von unmittelbarer Bedeutung und für die Entwicklung von Beratungskompetenzen von hoher Relevanz. Methodisch abwechslungsreiche Lehrphasen werden von Diskussions- und Reflexionsphasen ergänzt, die das Überdenken des eigenen Beratungsverhaltens und Einstellungsänderungen fördern. Dadurch unterstützt das Training mit den dazwischen liegenden Evaluationen das selbstorganisierte Lernen bei den Teilnehmern. Das Systemspiel oder Computersimulationen sind weitere Möglichkeiten, systemkompetentes Verhalten zu trainieren oder © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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zu überprüfen. Dabei muss allerdings der hohe Aufwand, der bei Systemspielen in die Vorbereitung und Durchführung und bei Computersimulationen in die Programmierung investiert werden muss, beachtet werden. Personale und sozial-kommunikative Kompetenzen stehen beim Systemspiel stark im Vordergrund, während bei Simulationen insbesondere das Verständnis um die Funktionsweise komplexer, intransparenter Systeme geschult wird. Als Methoden, welche die Reflexion und das Verständnis über eigene mentale Operationen und Reaktionen ermöglichen, unterstützen sie die Selbsterfahrung. Sie ergänzen damit die Weiterbildungsinhalte, die sich darauf beziehen, andere Systeme bei Veränderungsprozessen zu unterstützen. So wie das Training konzipiert wurde, vermittelte es in relativ kurzer Zeit viele verschiedene Inhalte und kann damit als anspruchsvoll gelten. Zudem ist das Führen von Beratungsgesprächen eine komplexe Tätigkeit, die auch erfahrene Berater immer wieder vor ungewohnte Herausforderungen und Überforderungen stellt. Durch eine Integration des Trainings in bestehende Ausbildungscurricula können die Inhalte entzerrt werden und zunächst grundlegende Fragetechniken, Haltungen und Wissen um Beratungsmodelle erworben werden, bevor die idiographische Systemmodellierung und die generischen Prinzipien eingeführt werden. Für Beratungsausbildungen in der Erwachsenenbildung ergeben sich zwei Hinweise, wie die Kompetenzentwicklung der Teilnehmer unterstützt werden kann. Zum einen ermöglichen Übungsgruppen und Peer-Gruppen einen geschützten Übungsrahmen, in dem über das gruppeninterne Feedback die Reflexion über das eigene Vorgehen in der Beratung gefördert wird. Beurteilungsskalen helfen dabei, die Vollständigkeit des relevanten Verhaltens zu beachten. Unterschiede in der Beurteilung durch die verschiedenen Teilnehmer und Rollen in den Beratungsgesprächen dienen der Reflexion und des Austauschs über das eigene Handeln. Zum anderen unterstützt das Feedback einer außen stehenden Person die Kompetenzentwicklung, indem mit Hilfe von Kriterienkatalogen und Beschreibungen relevanten Beratungshandelns die Beratung der Teilnehmer bewertet wird. Dies kann direkt durch die Ausbilder geschehen oder von Teil© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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nehmern, die den zu bewertenden Teilnehmern nicht nahe stehen.

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Marco Paukert

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Martin Biehaule

Outplacement-Beratung: Analyse der Bedingungen für die berufliche Neuorientierung auf der Basis der Theorie der Selbstorganisation

1 Die Beziehung zwischen Synergetik und Transfergesellschaft Synergetik ist die Lehre vom Zusammenwirken, eine Selbstorganisationstheorie, die ihren Ursprung in der Physik hat. Eine Transfergesellschaft ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das in der hier angesprochenen Art rechtlich im Sozialgesetzbuch verankert ist. Synergetik sowie Transfergesellschaft tragen ihr Dasein zunächst augenscheinlich auf völlig verschiedenen Bühnen aus. Vielleicht lassen sich aber doch Verbindungen erkennen, wenn auch zunächst recht oberflächlich, die jede Bühne für sich nicht nur sehenswert machen, sondern dem Zuschauer wie auch dem Bühnenspieler gerade in der zusammenhängenden Betrachtung der aufgeführten Stücke eine bereichernde Sicht auf die Dinge bescheren. Die Bühne der Synergetik ist unter anderem gekennzeichnet durch komplexe Systeme, die aus einem geordneten oder ungeordneten Zustand selbstorganisierend meist neu entstehende innere Strukturen bilden. Auf der Bühne einer Transfergesellschaft sieht man hauptsächlich die Menschen (bei denen es sich auch um deutlich komplexe Systeme handelt), die aus einem mehr oder weniger geordneten Arbeitsverhältnis den Transfer in eine neue, wünschenswerterweise geordnete, berufliche Zukunft vollziehen. Dem Leser wird in dieser Studie erläutert, wie Synergetik zur Analyse des beruflichen Umorientierungsprozesses von Menschen in einer Transfergesellschaft angewandt werden kann. Abschließend werden Rückschlüsse aus der Untersuchung

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gezogen, die der Praxis in der Transfergesellschaft dienlich sein sollen.

2 Charakteristik der untersuchten Transfergesellschaft 2.1 Gesetzliche Verankerung Transfergesellschaften können ein Mittel für Unternehmen sein, um beispielsweise in Krisenzeiten oder betrieblichen Umstrukturierungen sozialverträglich Personal abzubauen. Bei der hier beschriebenen Art der Transfergesellschaft handelt es sich um eine, die als betriebsorganisatorisch eigenständige Einheit (beE) im Sozialgesetz (§ 216b SGB III) benannt ist und darin ihre Grundlage findet (vgl. Wagner u. Wahba, 2005, S. 41 ff.). Die Transfergesellschaft soll nicht nur dem Arbeitgeber nutzen, um sozialverträglicher Personal abbauen zu können, sondern ebenfalls maßgeblich dem Arbeitnehmer, der im Übergang in eine neue berufliche Situation unterstützt wird. Die Unterstützung, die den Abbau sozialverträglicher macht, beinhaltet für die ausscheidenden Mitarbeiter nicht nur mehr Zeit für den Transfer und die damit verbundene längere finanzielle Sicherheit, sondern auch Hilfestellungen in Form von zweckmäßigen Trainings und dauerhafter, umfassender Beratung (vgl. Wagner u. Wahba, 2005).

2.2 Konzept Die neue Arbeitsaufgabe des Mitarbeiters besteht darin, möglichst schnell eine Anschlussbeschäftigung zu finden. Alle in eine Transfergesellschaft eingetretenen Mitarbeiter sind daher vollständig von der bisherigen Beschäftigung freigestellt und werden organisatorisch abgetrennt vom alten Arbeitsplatz geführt. Welchen beruflichen Weg der Mitarbeiter auch einschlägt, das Konzept der Transfergesellschaft soll die jeweils adäquate Unterstützung anbieten. Bezogen auf die wesentlichen Kontaktpunkte zum Mitarbeiter (s. Abb. 1) und dessen Unterstützung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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besteht das Konzept nach Wagner und Wahba (2005) im Wesentlichen aus: Einzelberatung, Trainings, Jobcenter und den anderen beE-Teammitgliedern, wie das Sekretariat oder die jeweiligen Kaufleute, die für diese Untersuchung als »sonstiges beE-Team« zusammengefasst sind. Hinzu kommen, je nach Situation der Mitarbeiter, bedarfsgemäße interne und externe Einzelveranstaltungen bzw. Qualifizierungsmaßnahmen. Wie in der Abbildung 1 gezeigt wird, stellt der Berater als kontinuierlicher Partner den wichtigsten Kontaktpunkt dar, denn mit ihm hat der Mitarbeiter sehr häufigen, intensiven und weitreichenden Austausch. Damit hat jeder Mitarbeiter im Transferprozess einen Partner, der ihn individuell und in allen relevanten Belangen fördert, motiviert und unterstützt. Es soll eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Berater und Mitarbeiter aufgebaut werden, in der auch sehr persönliche Angelegenheiten besprochen werden können. Dadurch wird dieser Kontaktpunkt ein wesentlicher, bei dem Bedingungen herrschen sollen, die für den Entwicklungsprozess des Mitarbeiters besonders förderlich sind (vgl. Wagner u. Wahba, 2005, S. 116). Um die neue Arbeitsaufgabe, den Transfer in eine neue berufliche Zukunft, für den Mitarbeiter zu erleichtern, sind im Konzept der Transfergesellschaft Phasen wichtig, in denen sich der Mitarbeiter mit der Trennung vom bisherigen Unternehmen auseinandersetzen kann. Dafür sind beispielsweise unmittelbar nach Eintritt in die Transfergesellschaft Angebote im Konzept der Beratung und des Trainings der Mitarbeiter enthalten, in denen diese sich mit dem Trennungsschmerz auseinandersetzen und diesen so gut wie möglich bewältigen können. Solange der Mitarbeiter gedanklich stark an der alten Arbeitsstelle festhält, ist seine Motivation, sich auf Neues einzulassen, gedämpft, was in der verbalen Ausdrucksweise in Vorstellungsgesprächen beim potenziellen neuen Arbeitgeber spürbar werden kann oder sich unter Umständen »zwischen den Zeilen« in Bewerbungsanschreiben niederschlägt (vgl. Wagner u. Wahba, 2005, S. 100 ff.). Wenn die Trennung bewältigt wurde, folgt danach oftmals eine nötige Orientierungsphase, in der der Mitarbeiter mit seinen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen sowie der momentanen oder zukünftigen Qualifikation eine realistische Perspektive auf © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 1: Wesentliche Kontaktpunkte bzw. Konzeptteile der Transfergesellschaft aus Sicht des Mitarbeiters

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dem aktuellen Arbeitsmarkt entwickeln soll und aussagekräftige Bewerbungsunterlagen erstellt sowie eine Erfolg versprechende Eigenmarketing- und Bewerbungsstrategie entwickelt (vgl. Fritz, Schulz u. Schuppert, 1989). Oder aber, der Mitarbeiter sieht seine berufliche Zukunft eher auf selbstständiger Basis und bereitet eine Existenzgründung vor. Hierfür dient eine Reihe von Workshops, deren Fokus darauf liegt, das nötige Wissen für einen Bewerbungs- oder Existenzgründungsprozess zu vermitteln und in Übungs- und Rückmeldungsphasen zielgerichtetes Verhalten im Kontakt mit neuen Arbeit- oder Auftraggebern zu trainieren. Darüber hinaus sollen die Mitarbeiter neue Motivation schöpfen und ihren bisherigen (beruflichen) Weg analysieren, um gegebenenfalls die zukünftige Strategie zu verändern. Insgesamt kann der Mitarbeiter in den Trainings mit viel Neuem und starken Impulsen für Veränderung konfrontiert werden, was zunächst irritierend und verunsichernd wirken kann, durch Übung und begleitende Beratung aber zu vorteilhaftem und sicherem Verhalten in der gesamten beruflichen Neuausrichtung führen sollte (vgl. Wagner u. Wahba, 2005, S. 100 ff.). Nicht weniger wichtig im Konzept der Transfergesellschaft, aber in Häufigkeit und Intensität dem Mitarbeiter gegenüber geringer ausgeprägt, steht das Jobcenter hilfreich zur Seite. Das Jobcenter, in der Funktion ähnlich der eines Personalvermittlers, untersucht den aktuellen internen und externen Arbeitsmarkt, um den Mitarbeitern Stellen vorzuschlagen oder umgekehrt anderen Unternehmen Profile von passenden Mitarbeitern zukommen zu lassen. Hinter dem sonstigen beE-Team verbergen sich überwiegend administrative Funktionen, die nur selten bzw. in bestimmten Fällen mit dem Mitarbeiter in Kontakt kommen. Auch wenn zum Beispiel die Verantwortlichen für eine funktionierende Gehaltsabrechnung normalerweise nicht ins Licht der beE rücken, ist deren Funktion dennoch ungemein wichtig, um von Beginn an das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit der beE gegenüber den Kandidaten nicht zu gefährden (vgl. Wagner u. Wahba, 2005, S. 154). Ein Sonderfall sind Qualifizierungen, da diese meist an ex© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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terne Schulungsanbieter vergeben werden und eher getrennt von der beE zu sehen sind. In Abbildung 1 sind sie deshalb als untergeordneter Kontaktpunkt dargestellt. Maßnahmen zur Weiterbildung oder zur grundlegenden Qualifizierung (z. B. EDVKurse, Englischunterricht oder z. T. Berufsausbildungen) des Mitarbeiters werden grundsätzlich nur durchgeführt, wenn dadurch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt entsprechend verbessert werden. Es handelt sich dabei um überwiegend informative, das bedeutet Wissen vermittelnde Schulungen, die im Normalfall von und bei externen Schulungsanbietern durchgeführt werden. Durch den Fokus der Untersuchung auf die direkten Bezugspunkte mit der Transfergesellschaft werden die Qualifizierungen nur im Bereich der allgemeinen Gegebenheiten berücksichtigt (vgl. Wagner u. Wahba, 2005, S. 123). Über die Zeit hinweg durchläuft der Mitarbeiter in der beE also nicht nur intensive Phasen des Lernens und des Entwickelns von zweckdienlichen Fähigkeiten, sondern er setzt sich durchaus mit Teilen seiner Persönlichkeit als auch mit der eigenen Lebensund natürlich Karriereplanung auseinander. Da sich in dieser Zeit vieles verändert, teils Neues ins Lebenskonzept integriert werden muss und sich viele Fragen um Existenzielles drehen, fühlen sich die Mitarbeiter nicht selten unsicher, was sogar mit krisenhafter Belastung verbunden sein kann, mit der es umzugehen gilt. Den Mitarbeiter in diesem Prozess zu begleiten, ist eine Kernaufgabe des Teams der Transfergesellschaft, nicht zuletzt um der Fürsorgepflicht nachzukommen, aber auch, um den Transfer in eine sinnvolle berufliche Zukunft zu gewährleisten (vgl. Wagner u. Wahba, 2005). Daher gilt es, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Mitarbeiter auf seinem Weg bestmöglich unterstützen.

2.3 Merkmale der beforschten Einheit der Transfergesellschaft Die Untersuchung wird innerhalb einer Transfergesellschaft durchgeführt, die strukturell dem Personalwesen eines international tätigen Konzerns unterstellt ist. Der Konzern lässt sich dem © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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großen Bereich der Elektroindustrie zurechnen. Der Konzern veränderte in den letzten Jahren die strategische Ausrichtung auf dem Markt, wodurch Umstrukturierungsmaßnahmen eingeleitet wurden, die viele Teile des Unternehmens betreffen. Seit einigen Jahren wurde für den sozialverträglichen Personalabbau immer häufiger das Instrument der Transfergesellschaft eingesetzt. Die einzelnen Einheiten einer Transfergesellschaft sind regional abgegrenzt. Eine Region erstreckt sich meist über eine Fläche von zwei bis drei Bundesländern. Für die untersuchte Region steht ein Team aus fünf bis acht internen Mitgliedern und einigen dauerhaft eingesetzten externen Beratern zur Verfügung. Mindestens zwei der internen Teammitglieder sind überwiegend mit organisatorischen und administrativen Aufgaben betraut, weitere zwei sind interne Berater und zwei Mitarbeiter stehen als Jobcenter zur Verfügung. Das Team betreut die Mitarbeiter an mehreren Standorten in der untersuchten Region. In den beiden Hauptstandorten befinden sich neben den Büros für die Teammitglieder feste Räumlichkeiten, in denen die Beratungsgespräche, Trainings und interne Weiterbildungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Englischkurse abgehalten werden. Das beE-Team lebt eine Philosophie der »offenen Tür«, das heißt, die Mitarbeiter können beinahe jederzeit ohne Anmeldung mit Anliegen auf den jeweiligen Ansprechpartner zugehen.

3 Analyse der Transfergesellschaft anhand der generischen Prinzipien Für Leser, die sich überwiegend für den Teil der synergetischen Betrachtungsweise von beruflicher Umorientierung in einer Transfergesellschaft interessieren, sind die wesentlichen Bedingungen für selbstorganisierende Entwicklung und Veränderung nachfolgend knapp dargestellt. Für einen umfassenderen Einblick in den Zusammenhang von Beratung und Synergetik sei auf den Beitrag von Schiersmann und Thiel in diesem Band verwiesen. Nach der Darstellung der generischen Prinzipien wird der Versuch unternommen, aufzuzeigen, warum es sinnvoll ist, die Transfergesellschaft anhand einer synergetischen Betrach© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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tungsweise zu analysieren. Daraufhin wird erklärt, was genau analysiert werden soll und wie die Untersuchung aufgebaut ist.

3.1 Generische Prinzipien – Bedingungen für selbstorganisierende Entwicklung Die Wissenschaft der Selbstorganisation wird als Synergetik bezeichnet (vgl. Schiepek, 2006). Die Gesetzmäßigkeiten der Selbstorganisation heranzuziehen wird dann sinnvoll, wenn man Verhaltensweisen komplexer Systeme, wie zum Beispiel das menschliche Gehirn oder den ganzen Menschen als psychosoziales System betrachtet. Die Wirkungsweise von sehr vielen Systemen kann mit den üblichen »linearen« Theorien (eine Ursache ergibt eine bestimmte Wirkung), meist basierend auf Newtonschen Gesetzen, ab bestimmten Grenzen nicht mehr nachvollziehbar erklärt werden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010). Die generischen Prinzipien sind »einige Bedingungen […], deren Berücksichtigung für die Förderung und Unterstützung selbstorganisierender Entwicklungsprozesse wesentlich zu sein scheinen« (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 436). Sie beinhalten also die wichtigsten Bedingungen für das Zustandekommen selbstorganisierender Entwicklung, zum Beispiel die des Menschen in Situationen beruflicher Veränderung. In der Tabelle 1 sind die einzelnen Prinzipien genannt. Für die Bedeutung des jeweiligen Prinzips sei wiederum auf den Artikel von Schiersmann und Thiel in diesem Band verwiesen. Tabelle 1: Übersicht der generischen Prinzipien 1. Schaffen von Stabilitätsbedingungen 2. Identifikation von Mustern des relevanten Systems 3. Sinnbezug 4. Kontrollparameter identifizieren, Energetisierung ermöglichen 5. Destabilisierung 6. Kairos beachten, Resonanz und Synchronisation ermöglichen 7. Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen 8. Re-Stabilisierung

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3.2 Beweggrund der Untersuchung und Stand der Forschung Wie bereits erläutert wurde, sind die Menschen, die sich in einer Transfergesellschaft der beruflichen Neuorientierung widmen, mit (Heraus-)Forderungen konfrontiert, die oftmals Veränderungen im Denken verlangen, intensive Auseinandersetzungen mit der eigenen Entwicklung und dem Erlernen neuer Verhaltensweisen. Wird der Mensch als ein sich selbst organisierendes System betrachtet, wie es die aktuellen Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung vorschlagen (vgl. Simon, 2008), sind die (Heraus-)Forderungen direkt und individuell an jeden einzelnen Mitarbeiter gerichtet. Möchte man ihn in seiner Herausforderung, im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe, unterstützen, bleibt einem »nur« die Möglichkeit, die Bedingungen zu schaffen, die fördernd und unterstützend auf die selbstorganisierenden Entwicklungsprozesse wirken. Ein Blick in die Praxis zeigt, dass die Versuchung für das Team der Transfergesellschaft groß ist, (vermeintliche) Hilfsangebote instruktiv anzubringen, weil zum Beispiel der Berater (leider nur aus der eigenen Sicht) weiß, was getan werden müsste. Jedoch wird diese Art von Angeboten tatsächlich häufig ausgeschlagen oder nur wegen des Pflichtcharakters halbherzig durchgeführt. Instruktive Maßnahmen, also Maßnahmen, die aus Sicht der Transfergesellschaft hilfreich wären, müssen dies noch lange nicht aus der Sicht des Mitarbeiters sein. Daher spricht durchaus auch aus wirtschaftlicher Sicht einiges dafür, eher in die Förderung der selbstorganisierenden Entwicklungsprozesse des Mitarbeiters zu investieren, als zu viele (gut gemeinte) inhaltliche Vorgaben zu machen. Die Literaturrecherche zeigt, dass Transfergesellschaften und artverwandte Bereiche aus verschiedenen Blickwinkeln, zum Beispiel juristischen (z. B. Böhm, 2007) oder psychologischen (z. B. Mayrhofer, 1989 oder Fischer, 2001) beschrieben und beforscht wurden. Die bisherigen psychologisch orientierten Untersuchungen, die Transfergesellschaften hinsichtlich Methoden und Abläufe durchleuchten, die zum erfolgreichen Transfer © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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führen sollen, decken bei genauerem Hinsehen meist eher spezifische Detailfragen ab oder es mangelt an einem Rahmen, einer anerkannten Basis, auf der Fragestellungen beantwortet werden, so dass die Aussagekraft der Antworten äußerst differenziert betrachtet werden muss. Auch lässt sich eine Vielzahl von Kriterien in der Literatur finden, die im Allgemeinen eine »gute« Transfergesellschaft ausmachen, so dass sich die Mitarbeiter darin optimal auf das Ziel der beruflichen Um-/Neuorientierung konzentrieren können. Jedoch sind diese Kriterien oftmals weniger theoretisch begründet als erfahrungsgeleitet, wodurch sie manchmal nur für spezielle Sachverhalte gelten oder unvollständig sind. Trotzdem sollen sie durch diese Untersuchung keineswegs in Frage gestellt werden. Der Vergleich von vielen Formulierungen und Vorgaben, die in den verschiedenen Qualitätskriterien für »gute« Beratung in Transfergesellschaften gegeben werden, zeigt die deutliche Überschneidung mit den generischen Prinzipien. Eilles-Matthiessen und Janssen (2005) sprechen von Strukturqualität, in der unter anderem die Motivation und Veränderungsbereitschaft (s. das generische Prinzip der Energetisierung) des Arbeitnehmers eine wichtige Rolle spielen. Unter Ergebnisqualität beziehen sich die Autoren auf die emotionale Entlastung des Arbeitnehmers, die Stärkung des Selbstbewusstseins (vgl. Eilles-Matthiessen u. Janssen, 2005) und das Angebot einer Struktur für den Tagesablauf des Kandidaten (s. das generische Prinzip des Schaffens von Stabilitätsbedingungen) (vgl. Fischer, 2001). Die umfassende oder theoretisch fundierte Betrachtung der Aspekte, die auf die Zielgruppe, also die Mitarbeiter gerichtet sind, blieb jedoch bislang weitestgehend aus.

3.3 Forschungsfragestellung und Design der Untersuchung 3.3.1 Ziel der Untersuchung Ziel der Untersuchung ist es, die generischen Prinzipien als Messkriterien einzusetzen, um die Ausprägung der optimalen Bedingungen für Selbstorganisations- bzw. Selbstentwicklungsprozesse aus Sicht der Mitarbeiter in einer Transfergesellschaft © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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zu erfassen. In der Untersuchung wird mit einer synergetischen Betrachtungsweise ein Maßstab an die Bedingungen, die in einer Transfergesellschaft herrschen und die für deren betreute Mitarbeiter wichtig sind, angesetzt. Die Erkenntnisse aus der Untersuchung sollen auch praktisch verwertbar sein, weshalb abschließend der Frage nachgegangen wird, welche Maßnahmen sich daraus ableiten lassen. Die Erkenntnisse sollten insofern nützlich sein, als dass daraus für die Berater und für das gesamte Konzept der Transfergesellschaft erkennbar wird, welche Interventionsentscheidungen tragfähig sind und an welchen Stellen das Konzept der Transfergesellschaft unterstützend wirkt oder wo Modifikationen eine größere Unterstützung bringen könnten.

3.3.2 Stichprobe der Befragten Bei der Art der Stichprobe handelt es sich um eine Ad-hocStichprobe, die aus den laufenden Transfergesellschaftsprojekten herrührt. Zusammen mit dem Konzern wurden 150 Mitarbeiter als Stichprobe ausgewählt, die privat in der Region ansässig sind, in der die Untersuchung durchgeführt wurde und dort ebenfalls ihrer letzten beruflichen Betätigung innerhalb des Konzerns nachgegangen sind. Die Berufsgruppen und Hierarchieebenen, aus denen die Mitarbeiter stammen, bewegen sich überwiegend zwischen ausführenden Beschäftigten mit kaufmännischen und handwerklichen Tätigkeitsfeldern bis hin zu Führungskräften auf Abteilungs- oder Teamleiterebene im unteren Management. Die Altersgruppen bewegen sich zwischen unter 29-jährigen Teilnehmern bis hin zur Gruppe im Alter von fünfzig und mehr Jahren.

3.3.3 Variablen und Messmittel Der Großteil der Items wurde vom Autor neu entwickelt. Dabei wurden die verschiedenen Erläuterungen und Beispiele, die zum jeweiligen generischen Prinzip von Haken und Schiepek (2010) beschrieben sind, auf den relevanten Kontext der Transfergesellschaft angepasst. Die inhaltlichen Überlegungen, die zu den Items führten, wurden durch eine Expertin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg überprüft, was © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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damit zumindest für eine theoretische Validität aller Items spricht. Einige Items stammen, wiederum in leicht abgewandelter Form, aus dem Therapieprozessbogen der Aachener Psychotherapiestudie, die in Haken und Schiepek (2010, S. 363) beschrieben ist. Ein Item, das sich auf die Vertrauensbasis bezieht, wurde der deutschen Version des Helpers Alliance Questionaire 1 (vgl. Bassler, Potratz u. Krauthauser, 1995) entnommen. Neben den Items, die sich explizit auf die generischen Prinzipien beziehen, wurden demographische Faktoren ermittelt und in einem Freitextfeld Kommentare zugelassen. In Tabelle 2 sind die einzelnen Items aufgelistet.

3.3.4 Ablauf und Gestaltung der Befragung Es wurde eine schriftliche Befragung mittels Online-Fragebogen durchgeführt. Für diese Wahl sprach hauptsächlich die ökonomische Handhabbarkeit. Mit dieser Methode sollte zudem sichergestellt werden, dass der Befragte wirklich freiwillig und anonym antwortet und in einer sicheren Umgebung (z. B. Zuhause) sein kann, ohne beeinflussende Faktoren, die seine ehrlichen Antworten verändern würden. Vor der Befragung wurden die Berater der Mitarbeiter über die Aktion informiert und etwaige Fragen geklärt. Die per E-mail an die Mitarbeiter versendete Einladung zur Teilnahme an der Befragung beinhaltete einen Link zur Umfrageseite, der durch Anklicken direkt dort hinleitete. Der Link wurde mit einem eindeutigen Code versehen, so dass jeder Eingeladene nur einmal an der Befragung teilnehmen konnte. Die Befragung stand insgesamt neun Tage online.

3.3.5 Merkmale der Studie Die Untersuchung ist als deskriptive Forschungsarbeit konstruiert, in der die Auswertung durch die Quantität der Stichprobe erfolgt. Der Zugang zu den Daten ist als Ex-post-facto-Design ausgelegt und misst im Querschnitt durch die Stichprobe, also nur zu einem Zeitpunkt. Das Auswertungsdesign ist deskriptiv ausgelegt, um die Merkmale zu beschreiben, die sich mit den generischen Prinzipien als Messinstrument sichtbar machen lassen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Tabelle 2: Items des Erhebungsbogens 1. Schaffen von Stabilitätsbedingungen V14

In der zwischenmenschlichen Beziehung zum Berater fühle ich mich wohl.

V15

Ich habe das Gefühl, die Beziehung zwischen meinem Berater und mir ist offen und ehrlich.

V16 Ich habe das Gefühl, mich auf den Berater verlassen zu können. V17

Ich habe das Gefühl, mich auf das beE-Team (alle anderen Personen außer Berater) verlassen zu können.

V18

Ich habe das Gefühl, die Beziehung zwischen dem beE-Team (alle anderen Personen außer Berater) und mir ist offen und ehrlich.

V19 Die mich betreffenden Abläufe in der beE sind mir klar genug. V20 Die allgemeine Atmosphäre in der beE gibt mir ein sicheres Gefühl. V21

Ich bin zuversichtlich, dass ich mein Ziel, das ich mir für die beEZeit gesetzt habe, erreiche.

V22

Es wird mir immer besser möglich, meine Herausforderungen aus eigener Kraft anzugehen.

2. Identifikation von Mustern des relevanten Systems: Es wurden keine Items erstellt. 3. Sinnbezug V23

Ich habe mit dem Berater geklärt, um was es bei mir geht.

V24

Die Ziele der beE decken sich zumindest in wichtigen Punkten mit meinen.

V25

Ich erlebe die Workshops für mich als nützlich.

V26

Ich erlebe es für mich als sinnvoll, die Beratung in Anspruch zu nehmen.

V27

Der Aufwand innerhalb der beE-Zeit ist für mich angemessen, um mein Vorhaben zu erreichen.

4. Kontrollparameter identifizieren, Energetisierung ermöglichen V28

In der beE-Zeit arbeite ich ernsthaft auf eine nächste berufliche Aufgabe hin.

V29

Ich möchte an meiner momentanen beruflichen Situation aktiv etwas ändern.

V30

Ich fühle mich durch den Berater angespornt.

V31

Die Bedingungen in der beE unterstützen meine Motivation, es anzupacken.

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(Fortsetzung) V32

Die Anliegen und Ziele, über die ich mit meinem Berater spreche, sind für mich bedeutsam.

V34

Antwortauswahl: Ich konzentriere mich hauptsächlich auf eine Existenzgründung. Ich suche eigentlich nur nach einer kleinen Nebenbeschäftigung (z. B. auf 400-Euro-Basis). Was ist Ihr vorrangiges Vorrangig suche ich nach einer Teilzeitberufliches Ziel in Arbeitsstelle. der beE? Vorrangig suche ich nach einer neuen Vollzeit-Arbeitsstelle. Keines von allem, da ich jedenfalls in nächster Zeit (sechs Monate oder mehr) nicht unbedingt arbeiten muss oder aus verschiedenen Gründen nicht möchte.

V35

Haben Sie bereits so gut wie sicher eine Stelle in Aussicht?

Antwortauswahl: Ja/Nein

5. Destabilisierung V36

Meine Sicht auf gewisse Dinge hat sich durch Gespräche mit meinem Berater geändert.

V37

Die beE hat mich angeregt, gewisse Dinge anders zu machen als vorher.

6. Kairos beachten, Resonanz und Synchronisation ermöglichen V38

Der Berater hat mir zum richtigen Zeitpunkt die für mich hilfreichen Fragen gestellt oder Anregungen gegeben.

V39

Mit den Fragen/Anregungen/Kommentaren des Beraters konnte ich in meiner momentanen Situation und Verfassung etwas anfangen.

V40

Die Fragen/Aussagen/Kommentare des Beraters erscheinen mir sinnvoll.

V41

Aus den Workshops konnte ich für mich etwas mitnehmen.

V42

Die Workshops fanden für mich zum richtigen Zeitpunkt statt.

7. Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen V43

Ich habe das Gefühl, dass ich die Anregungen aus den Beratergesprächen zumindest ansatzweise verwirklichen kann.

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(Fortsetzung) V44

Die beE hat dazu beigetragen, mein Vorhaben auf die richtige Weise anzugehen.

8. Re-Stabilisierung V45

In der beE kann ich ausreichend üben und mich vorbereiten.

V46

Verhaltensweisen, die für meine Ziele wichtig sind, habe ich eingeübt und beherrsche sie sicher.

V47

Ich fühle mich durch die Beratung und die Workshops in meinen neuen Handlungsschritten gestärkt.

Grundsätzlich gehen Haken und Schiepek (2010, S. 358 ff.) davon aus, die synergetische Betrachtung eines Veränderungsprozesses mit zeitreihenanalytischen Verfahren durchzuführen, die mit einer kontinuierlichen Erfassung des Systemzustandes arbeitet, also mit vielen nacheinander folgenden Messungen. Auf Grundlage der Auswertung kann fortlaufend und adaptiv das »Therapieangebot« (alternativ Beratungsangebot, Trainingsangebot, usw.) bereitgestellt werden. Da eine kontinuierliche Messung in der Transfergesellschaft jedoch die Dauer und den Umfang dieser Untersuchung gesprengt hätte, wurde die Erfassung auf eine Momentaufnahme begrenzt. Dadurch wurde mit dieser Art der Messung ein eher tendenzielles Ergebnis erzielt, das mehr als Durchschnitt über einen längeren Zeitraum zu interpretieren ist. Rückschlüsse auf Interventionen werden somit zu grundsätzlicheren Überlegungen, die das konzeptionelle Design und die Prozessvorgaben der Transfergesellschaft betreffen.

4 Darstellung der Befragungsergebnisse 4.1 Rücklaufquote Es lagen 44 verwertbare Erhebungsbögen vor. Dies entspricht einer Rücklaufquote von rund 29 %. Von den 150 Angeschriebenen klickten 61 innerhalb der Befragungslaufzeit den in der E-Mail versandten Link an und gelangten auf die Umfrageseite. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Auf den ersten vier Seiten brachen insgesamt 16 die Umfrage ab, einer bei den soziodemographischen Fragen. Der Rücklauf ist in Bezug auf das Alter für die Gesamtheit der angeschriebenen Mitarbeiter repräsentativ.

4.2 Auswertung hinsichtlich der generischen Prinzipien Die Auswertung der Umfrage wird im Folgenden unterteilt nach jeweils einem generischen Prinzip erläutert. So wird erkennbar, inwieweit die jeweiligen Bedingungen für die Förderung von Selbstentwicklungsprozessen ausgeprägt sind. Die Ergebnisse werden hier zunächst rein beschreibend und erläuternd wiedergegeben. Eine Interpretation folgt im anschließenden Kapitel.

4.2.1 Schaffen von Stabilitätsbedingungen Das generische Prinzip ist aufgeteilt in die drei Subkategorien Vertrauen (V 14 bis V 18), Strukturelle Sicherheit (V 19, V 20) und Erfahrung von Selbstwirksamkeit (V 21, V 22). Auffallend ist, dass das Vertrauen gegenüber dem Berater in hohem Maße gegeben ist (V 14, V 15, V 16), jedoch erheblich weniger gegenüber dem beE-Team ausgeprägt zu sein scheint. Insgesamt circa ein Drittel der Mitarbeiter antworteten auf die Items zu Vertrauen zum beE-Team mit »trifft eher nicht zu« oder »trifft überhaupt nicht zu«. Die Subkategorie Strukturelle Sicherheit zeigt überwiegende Zustimmung, wenn es darum geht, die Abläufe zu verstehen, die die Mitarbeiter betreffen (V 19). Mehr als ein Viertel der Mitarbeiter antworteten hingegen eher mit Ablehnung auf die Frage, ob die Atmosphäre in der beE ein sicheres Gefühl gäbe (V 20). Die Subkategorie Erfahrung von Selbstwirksamkeit zeigt ein überwiegend positives Bild (V 21, V 22).

4.2.2 Identifikation von Mustern des relevanten Systems Dieses Prinzip ist für diese Erhebung nicht relevant, da die Identifikation von Mustern vom Berater vorgenommen werden muss. Es wurde daher in der Befragung nicht erfasst. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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4.2.3 Sinnbezug Um einen Sinnbezug herzustellen, muss zunächst geklärt werden, um was es bei der Veränderung eigentlich geht (V 23). Beinahe alle Befragungsteilnehmer antworteten, dass sie dies mit ihrem Hauptansprechpartner, dem Berater, getan hätten. Auf das Übereinstimmen der eigenen Ziele mit denen der beE (V 24) antworteten immerhin rund ein Viertel, dass dies eher nicht zutreffe, was die Frage aufwirft, warum und in welcher Weise die eigenen Ziele von den designierten vertraglichen beE-Zielen abweichen. Der Frage wird im Kapitel 5 nachgegangen.

4.2.4 Kontrollparameter identifizieren, Energetisierung ermöglichen

Ähnlich fundamental wie das Vertrauen, ist, ob die Mitarbeiter den grundsätzlichen beruflichen Transferauftrag der beE in ihre Ziele einbeziehen und der Auftrag der beE für sie damit relevant ist. Jeweils knapp ein Drittel (V 28, V 29) der Befragten bestätigten nach eigener Angabe mit »trifft voll und ganz zu«, dass sie ernsthaft auf eine nächste berufliche Aufgabe hinarbeiten und aktiv etwas an der momentanen beruflichen Situation ändern möchten. Äußerst aufschlussreich, wenn auch nicht direkt für die Messung der generischen Prinzipien notwendig, sind in diesem Zusammenhang die Antworten der Mitarbeiter auf die Frage: »Was ist Ihr momentanes vorrangiges berufliches Ziel in der beE?«. Durch die Antworten auf diese Frage lässt sich eine feinere Untergliederung des Items V 28 darstellen, denn es wird ersichtlich, welche berufliche Aufgabe vorrangiges Ziel ist. Die Mehrheit der Befragten, nämlich 57 %, sucht nach eigenen Angaben eine neue Vollzeitarbeitsstelle. 18 % sagten aus, dass sie zumindest in den nächsten sechs Monaten nicht arbeiten müssen oder dies nicht möchten, was eine Verneinung des Kontrollparameters »Transferauftrag/berufliche Neuorientierung« aussagt. Diese Verneinung liegt etwa in der gleichen Größenordnung, wie die derer, die antworteten, es treffe eher nicht zu, dass sie ernsthaft auf eine neue berufliche Aufgabe hinarbeiten (V 28). Die Zufuhr von »Energie«, die nötig ist, um die Selbstorganisation aufrechtzuerhalten, bedeutet im psychologischen Kontext Aktivierung von eigenen Ressourcen, zum Beispiel durch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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emotional bedeutsame Ziele, die Motivation hervorrufen. 80 % der Mitarbeiter gaben an, sie fühlten sich vom Berater angespornt (V 30). Beinahe dieselbe Anzahl der Mitarbeiter sehen die Bedingungen in der beE als unterstützend für ihr Vorhaben (V 31), wobei dies andererseits auch für mehr als ein Fünftel eher nicht zutrifft. Die Bedeutsamkeit der Anliegen und Ziele in den Gesprächen mit dem Berater sind für die Mehrzahl der Mitarbeiter gegeben (V 32), wodurch die Aussagen der Items zu den Kontrollparametern (V 28, V 29) bestätigt werden.

4.2.5 Destabilisierung Sollen Veränderungen dauerhaft bestehen, müssen bisherige (Problem-)Muster durch andere, auf die neue Situation oder Herausforderung zugeschnittene, ersetzt werden. Die Hälfte der Befragten meint, ihre Sicht habe sich durch die Gespräche mit dem Berater eher nicht geändert. Bezogen auf die gesamte beE stimmten nur 16 % voll und ganz zu, durch die beE angeregt zu werden, Dinge anders zu machen als vorher (V 37). Wiederum für fast die Hälfte scheint die beE wenig oder überhaupt nicht anregend zu wirken, gewisse Dinge anders zu machen als zuvor.

4.2.6 Kairos beachten, Resonanz und Synchronisation ermöglichen Die zeitliche Passung ist ein wichtiger Faktor, der die Wirkung von Vorgehensweisen und Kommunikationsstilen zur Entfaltung bringt. Für jeweils rund 80 % der Mitarbeiter treffen die Aussagen eher oder voll und ganz zu, dass der Berater zum richtigen Zeitpunkt hilfreiche Fragen stellte oder Anregungen gab (V 38), sie mit diesen Fragen/Anregungen/Kommentaren etwas anfangen können (V 39) und diese für sinnvoll halten (V 40). Konträr gestalten sich die Aussagen in Bezug auf die Workshops, denn eine hohe Anzahl an Mitarbeitern antwortete, etwas für sich mitnehmen zu können (V 41), jedoch wäre für viele ein anderer Zeitpunkt passender gewesen (V 42).

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4.2.7 Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen Sollen gewisse Handlungsmuster neu erlernt werden, ist es wichtig, den Weg in die gewünschte Richtung vorzubereiten, damit er zum Zeitpunkt, an dem sich neue Handlungsmuster bilden können, leichter begehbar ist. Bezogen auf die Beratergespräche gibt eine große Mehrheit der Mitarbeiter an, das Gefühl zu haben, die Anregungen aus den Gesprächen zumindest ansatzweise verwirklichen zu können (V 43). Der vom Berater angeregte Weg scheint ihnen damit realisierbar. Erweitert man den Fokus auf die gesamte beE und fragt die Mitarbeiter, ob die beE dazu beigetragen habe, ihre Vorhaben auf die richtige Weise anzugehen, verschieben sich die Aussagen deutlich. Immerhin mehr als ein Viertel sagt aus, es treffe eher nicht zu, dass die beE für ihr Vorhaben einen Beitrag leiste (V 44).

4.2.8 Re-Stabilisierung Positiv bewertete Muster oder »Wege« sollten nicht nur realisierbar erscheinen, sondern es ist wichtig, die nötigen Handlungsschritte vorzubereiten und versuchsweise einzuüben, wenn sie zum entsprechenden Zeitpunkt anstatt alter Muster zur Anwendung kommen sollen. Idealerweise laufen sie schon automatisiert und mit einer gewissen Sicherheit ab. Fragt man die Mitarbeiter, ob sie ausreichend üben und sich vorbereiten können (V 45), antworten zwei Drittel positiv. Das Angebot zu üben scheint gegeben, jedoch wird es nach eigener Angabe scheinbar noch nicht ausschöpfend genutzt, denn mehr als ein Viertel sind eher nicht der Ansicht, Verhaltensweisen, die für ihre Ziele wichtig sind, eingeübt zu haben und sie sicher zu beherrschen (V 46). Bei der Frage, ob sich die Mitarbeiter durch Beratung und Workshops für ihre neuen Handlungsschritte gestärkt fühlen (V 47), antworteten drei Viertel der Teilnehmer, dies sei mindestens tendenziell zutreffend.

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5 Interpretation der Ergebnisse Für die Interpretation der Ergebnisse wird ein zusätzliches Instrument eingeführt, das dazu dient, einen Schwellwert zu kennzeichnen. Der Schwellwert gibt dabei ein Niveau vor, bei dessen Über- oder Unterschreiten signalisiert wird, ob die Voraussetzungen für selbstorganisierende Entwicklung für die Mitarbeiterschaft tendenziell zur Verfügung gestellt werden oder nicht. Zum besseren Verständnis ist das Instrument in Abbildung 2 beispielhaft dargestellt und nachfolgend kurz erläutert.

Abbildung 2: Erläuterung des Schwellwertinstruments

Die Zahlen, die den Antwortkategorien zugeordnet sind (z. B. die Zahl 1 für »trifft überhaupt nicht zu«), werden addiert und durch deren Anzahl geteilt, so dass sich Mittelwerte bilden. Erreicht oder übersteigt der Mittelwert die Zahl 3, wird davon ausgegangen, dass die nötige Voraussetzung für selbstorganisierte Veränderung für die Mitarbeiter tendenziell erfüllt ist. Der Autor orientiert sich dabei an der Codierung 3 des verbalen Etiketts »trifft eher zu«, welches trennscharf wiedergeben soll, dass der Befragungsteilnehmer die Aussage der jeweiligen Frage als tendenziell zutreffend ansieht. Ergibt sich also ein Mittelwert von 3 oder darüber (3) muss eine deutliche Mehrheit der Befragungsteilnehmer mit »trifft eher zu« oder »trifft voll und ganz zu« geantwortet haben. Erreichen alle Fragen, die dasselbe generische Prinzip betreffen, den Schwellwert 3, signalisiert dies, dass das Prinzip für eine deutliche Mehrheit der Mitarbeiter erfüllt ist. Die von der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Transfergesellschaft zur Verfügung gestellten, vermeintlich unterstützenden Prozesse und Hilfsangebote, könnten in diesem Fall zumindest für eine Mehrheit der Mitarbeiter tatsächlich als förderlich angesehen werden. In Tabelle 3 sind alle Mittelwerte geordnet nach den generischen Prinzipien dargestellt.

5.1 Ergebnisinterpretation hinsichtlich der zentralen Untersuchungsfrage Betrachtet man die Ergebnisse, so scheint es, als wäre eine erste Antwort auf die Forschungsfragestellung gegeben. Mit dem systematischen Überblick über die Ausprägungen der generischen Prinzipien wurde in der Untersuchung ein erstes Mal verdeutlicht, wie es um die Bedingungen steht, damit sich Mitarbeiter in einer Transfergesellschaft selbstorganisierend entwickeln und verändern können. Es lassen sich nun noch Interpretationen anstellen, die versuchen, eine Auskunft darüber zu geben, was zu den dargestellten Ergebnissen führt. Keiner der Mittelwerte in Tabelle 3 unterschreitet 2,50. Das deutet darauf hin, dass das Konzept und dessen Anwendung in jedem Fall für mehr als die Hälfte (die Hälfte entspricht dem Wert 2,50) der Mitarbeiter, die an der Untersuchung teilnahmen, tendenziell die Bedingungen zur Verfügung stellt, damit sie sich um ihren eigenen Transfer, ihre eigene Veränderung in eine neue berufliche Zukunft kümmern können. Die Inhalte des Konzepts und deren Anwendung scheinen zugleich so umfangreich zu sein, dass sie vielen Mitarbeitern die nötige Unterstützung zukommen lassen und so flexibel, dass sie den verschiedenen Anforderungen aus individuellen Situationen der Einzelnen gerecht werden. Die nachfolgenden detaillierten Erklärungen lassen sich anhand der folgenden tabellarischen Übersicht mitverfolgen. Sicherlich ist das ausgeprägte Vertrauen zum Berater, der den Hauptansprechpartner und damit einen der wichtigsten Einflussfaktoren darstellt, dem Umstand zu verdanken, dass alle eingesetzten Berater äußerst gut ausgebildet sind, sie seitens des © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

3,00

trifft eher zu

3,41

2,91 3,11

Mittelwert V 19. Die mich betrefV 20. Die allgemeine At- V 21. Ich bin zuversichtfenden Abläufe in der mosphäre in der beE gibt lich, dass ich mein Ziel, beE sind mir klar genug. mir ein sicheres Gefühl. das ich mir für die beEZeit gesetzt habe, erreiche.

3,14

V 18. Ich habe das Gefühl, die Beziehung zwischen dem beE-Team (alle anderen Personen außer Berater) und mir ist offen und ehrlich. 2,82

V 17. Ich habe das Gefühl, mich auf das beETeam (alle anderen Personen außer Berater) verlassen zu können. 2,77

4,00

trifft voll und ganz zu

3,05

V 22. Es wird mir immer besser möglich, meine Herausforderungen aus eigener Kraft anzugehen.

Stabilitätsbedingungen – Subkategorie Erfahrung von Selbstwirksamkeit

3,36

V 16. Ich habe das GeV 15. Ich habe das Gefühl, die Beziehung zwi- fühl, mich auf den Beraschen meinem Berater ter verlassen zu können. und mir ist offen und ehrlich.

Stabilitätsbedingungen – Subkategorie Strukturelle Sicherheit

3,43

Mittelwert V 14. In der zwischenmenschlichen Beziehung zum Berater fühle ich mich wohl.

Stabilitätsbedingungen – Subkategorie Vertrauen

Schaffen von Stabilitätsbedingungen

1,00

Zahlenkodierung

2,00

trifft überhaupt nicht zu trifft eher nicht zu

Antwortkategorie

Tabelle 3: Zusammenfassung Mittelwerte

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2,95

V 24. Die Ziele der beE decken sich zumindest in wichtigen Punkten mit meinen.

3,52

V 29. Ich möchte an meiner momentanen beruflichen Situation aktiv etwas ändern.

3,09

3,00

3,09

3,00

V 30. Ich fühle mich V 31. Die Bedingungen durch den Berater ange- in der beE unterstützen spornt. meine Motivation es anzupacken.

V 26. Ich erlebe es für mich als sinnvoll, die Beratung in Anspruch zu nehmen.

V 25. Ich erlebe die Workshops für mich als nützlich.

3,36

V 32. Die Anliegen und Ziele, über die ich mit meinem Berater spreche, sind für mich bedeutsam.

3,25

V 27. Der Aufwand innerhalb der beE-Zeit ist für mich angemessen, um mein Vorhaben zu erreichen.

2,52

2,57

Mittelwert V 36. Meine Sicht auf gewisse Dinge hat sich durch V 37. Die beE hat mich angeregt, gewisse Dinge anders zu machen als vorher. Gespräche mit meinem Berater geändert.

Destabilisierung

3,45

Mittelwert V 28. In der beE-Zeit arbeite ich ernsthaft auf eine nächste berufliche Aufgabe hin.

Kontrollparameter identifizieren, Energetisierung ermöglichen

3,59

Mittelwert V 23. Ich habe mit dem Berater geklärt, um was es bei mir geht.

Sinnbezug

(Fortsetzung)

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3,16

3,02

2,77

V 42. Die Workshops fanden für mich zum richtigen Zeitpunkt statt.

2,89

3,02

2,75

2,89

Mittelwert V 45. In der beE kann ich V 46. Verhaltensweisen, V 47. Ich fühle mich durch die Beratung und die Workshops in meinen neuen ausreichend üben und Handlungsschritten gestärkt. die für meine Ziele mich vorbereiten. wichtig sind, habe ich eingeübt und beherrsche sie sicher.

Re-Stabilisierung

3,11

Mittelwert V 43. Ich habe das Gefühl, dass ich die Anregungen V 44. Die beE hat dazu beigetragen, mein Vorhaben auf die richtige Weise aus den Beratergesprächen zumindest ansatzweise anzugehen. verwirklichen kann.

3,07

V 41. Aus den WorkV 40. Die Fragen/Ausshops konnte ich für sagen/Kommentare des Beraters er- mich etwas mitnehmen. scheinen mir sinnvoll.

V 39. Mit den Fragen/ Anregungen/Kommentaren des Beraters konnte ich in meiner momentanen Situation und Verfassung etwas anfangen.

Gezielte Symmetriebrechung ermöglichen

2,98

Mittelwert V 38. Der Berater hat mir zum richtigen Zeitpunkt die für mich hilfreichen Fragen gestellt oder Anregungen gegeben.

Kairos beachten, Resonanz und Synchronisation ermöglichen

(Fortsetzung)

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Unternehmens nur wenige Vorgaben haben, die die Beratung negativ beeinflussen könnten (z. B. enge inhaltliche Vorgaben, starke zeitliche Restriktionen) und bei Bedarf auch ein Beraterwechsel vollzogen werden kann, falls »die Chemie« nicht stimmt. Die hohen Ausprägungen der Items mit Beraterbezug des generischen Prinzips »Sinnbezug« dürfte ein Zeichen für die erfolgreiche Auftragsklärung sein und für die tatsächliche Relevanz der Themen, an denen der Mitarbeiter zusammen mit dem Berater arbeitet. Nicht nur, dass der Berater individuell auf den Mitarbeiter eingeht, er tut dies überwiegend zum geeigneten Zeitpunkt (Kairos) und spricht mit ihm über die Zielrichtung der Veränderungen und den kleinen Schritten dorthin (gezielte Symmetriebrechung). Dies regt den Mitarbeiter wiederum an, mit der Hilfe des Beraters tatsächlich etwas zu verändern (Destabilisierung). Gründe dafür, dass die Veränderung teils nicht stattfindet und Vorschläge zur Abhilfe finden sich im anschließenden Kapitel 5.2. Ähnlich dürfte es sich mit den anderen Subkategorien der Stabilitätsbedingungen verhalten. Viel Erklärungsarbeit, um die den Mitarbeiter betreffenden Vorgänge transparent zu machen, und Selbstwertunterstützung, die von sämtlichen Kontaktpersonen kommt, schaffen die notwendige Stabilität in Zeiten der Veränderung. Auffallend sind lediglich niedrige Werte bei Vertrauen zum restlichen beE-Team (V 17, V 18) und zusammenhängend damit ein niedriger Wert beim Sicherheitsgefühl, das die allgemeine Atmosphäre der beE vermitteln sollte (V 20). Der Zusammenhang und ein Vorschlag zur Verbesserung werden noch erläutert. Die grundsätzlichen Voraussetzungen, die den Transferauftrag seitens des Mitarbeiters legitimieren, scheinen gegeben zu sein, denn die Mitarbeiter stimmen zu, dass sie eine neue berufliche Aufgabe angehen möchten (V 28, V 29). Das stellt eine äußerst wichtige Ausgangslage dar und dürfte vielfach mit der Motivation zusammenhängen, für sich und die Familie langfristig ein wirtschaftliches Auskommen zu sichern. Abgesehen vom Berater sind zweifelsohne die Kontakte zu »Mut machenden« Trainern und unterstützenden beE-Teamkollegen sowie Rahmenbedingungen (V 31) zuträglich, wie die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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längere finanzielle Absicherung und die Unterstützung in der Weiterqualifizierung, um den Mitarbeiter für die bevorstehenden Schritte anzuspornen und zu ermutigen. Den Mitarbeitern wird in durchdachten und weiterentwickelten Workshops das Handwerkszeug angeboten (V 25), das sie für ihre nächsten Schritte, zum Beispiel im Bewerbungsverlauf benötigen. Dies geschieht durch hoch qualifizierte Trainer, die es verstehen, sich auf die gleiche Wellenlänge der Mitarbeiter zu begeben (V 41). Dadurch ergeben sich diesbezüglich hohe Ausprägungen im Sinnbezug und in der Herstellung von Resonanz und Synchronisation. Lediglich der Zeitpunkt, wann die Trainings durchgeführt werden (V 42), ist für viele Mitarbeiter nicht günstig gewählt.

5.2 Impulse für praktische Maßnahmen Um die praktische Verwertbarkeit der Erhebung zu steigern, werden in kurzen Zügen einige Anregungen für Optimierungsmaßnahmen umrissen. Sie sind nur auf den Kontext und die Transferprojekte des untersuchten Unternehmens zu beziehen, da für andere Transfergesellschaften zuerst eine eigene Messung durchgeführt werden müsste. Wie in Tabelle 3 dargestellt, wird der Schwellwert einige Male unterschritten. Besonders auf diese Aspekte wird im Folgenden kurz eingegangen, da sich hieraus die Impulse für Optimierungen ergeben. Im Fall der unterschrittenen Schwellwerte können Zusammenhänge interessant sein, weshalb auch Korrelationen zwischen den Items verschiedener generischer Prinzipien genannt werden. Betrachtet man die Subkategorie »Vertrauen« des Prinzips »Schaffen von Stabilitätsbedingungen« zeigen sich gute Ergebnisse bei der Beziehung zum Berater und weniger gute zum restlichen beE-Team. Um hier für mehr Stabilität zu sorgen, könnten Maßnahmen helfen, die sicherstellen, dass zu bearbeitende Anliegen (z. B. Anmelden für vereinbarte Fortbildungen, termingerechte Einladung zu Veranstaltungen, zeitnahe Erstat© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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tung von Kosten) verlässlicher erledigt werden und eine offenere Kommunikation dazu herrscht. Aus der Historie sind Beschwerden von Mitarbeitern gegenüber der beE zu diesen Themen bekannt. Dies belastete die Beziehung zum beE-Team und ist unter anderem ein nachvollziehbarer Grund, warum die allgemeine Atmosphäre in der beE für einige Mitarbeiter kein sicheres Gefühl vermittelt. Die Variablen stehen in einem mittelstarken Zusammenhang (Korrelationen V17 zu V 20 liegt bei 0,632 und V 18 zu V 20 liegt bei 0,605). Dies bedeutet, die strukturelle Sicherheit würde in einigen Fällen von den Mitarbeitern als höher erlebt werden, wenn auch das Vertrauen gegenüber dem beETeam steigt, und umgekehrt. Die oben genannten Vorschläge dürften daher für die Verbesserung beider Aspekte wirken. Um noch genauere Aussagen und weitere Vorschläge hierzu treffen zu können, wären weitere Befragungen der Mitarbeiter nötig, warum sie die Beziehung zum restlichen beE-Team und die allgemeine Atmosphäre nicht als positiver ausgeprägt erlebten. Der Sinnbezug zu den in der Transfergesellschaft angebotenen Maßnahmen scheint gegeben. Eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Mitarbeitern sagt jedoch aus, die wahrgenommenen Ziele der beE deckten sich nicht mit den eigenen. Das ist eine fundamentale Aussage, wenn man miteinbezieht, dass eine Vielzahl der Mitarbeiter eine neue berufliche Aufgabe sucht. Es könnte also einerseits vorteilhaft sein, zu überdenken, welche Ziele aus Sicht der beE gegenüber den Mitarbeitern kommuniziert werden, damit diese die Transfergesellschaft noch mehr als Partner im »Tauziehen« um eine neue berufliche Aufgabe sehen. Andererseits kann dies auch als Signal für die Transfergesellschaft interpretiert werden, sich erneut damit zu befassen, was denjenigen Mitarbeitern angeboten wird, die eigentlich andere Ziele verfolgen, als den Transferauftrag der beE. Eventuell weniger, dafür aber zielgerichtete Maßnahmen zur jeweils richtigen Zeit, anstatt eines »Komplettpakets« für alle, würden gleichermaßen den finanziellen Aufwand verringern und eine stärkere Wirkung erwarten lassen. Die geringen Werte der Items des Prinzips »Destabilisierung« könnten entweder hervorgerufen werden, weil es tatsächlich wenig problematische Muster gibt, die destabilisiert werden © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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müssten, was teilweise sicherlich der Fall ist, oder aber die Mitarbeiter sollten in noch mehr destabilisierende Erfahrungsmöglichkeiten einbezogen werden. Geht man von der zweiten Option aus und betrachtet die Zusammenhänge des Items Destabilisierung gegenüber anderen Items, zeigt sich ein hoher Zusammenhang (Korrelation V 37 zu V 44 liegt bei 0,749) zwischen Destabilisierung und gezielter Symmetriebrechung. Dieser Zusammenhang sagt aus, dass die Mitarbeiter antworten: Wenn die beE nicht angeregt hat, gewisse Dinge anders zu machen als vorher (Destabilisierung), dann hat sie auch nicht dazu beigetragen, dass die Mitarbeiter Vorhaben auf die richtige Weise angehen (gezielte Symmetriebrechung). Workshops zielen unter anderem darauf ab, für den Transferprozess ungünstiges Verhalten zu destabilisieren und zu einem vorteilhaften Verhalten zu verhelfen. Die Wirkung entfaltet sich dann am Besten, wenn sie zum richtigen Zeitpunkt stattfinden. Die Antworten der Mitarbeiter verdeutlichen, dass hier ein hoher Zusammenhang besteht, denn wenn sie aussagten, dass die Workshops nicht zum richtigen Zeitpunkt stattfanden, antworteten signifikant viele auch, dass die beE nicht dazu beigetragen hat, das eigene Vorhaben richtig anzugehen (Korrelation V 44 zu V 42 liegt bei 0,771). Die Beziehung zwischen den negativ beantworteten Items lässt sich fortschreiben: Wenn nicht destabilisiert wurde, konnte keine gezielte Symmetriebrechung erfolgen, worauf wiederum keine Re-Stabilisierung erfolgt (Korrelation V 44 zu V 47 liegt bei 0,764). An diesen Zusammenhängen lässt sich nebenbei nochmals betonen, dass die generischen Prinzipien als Bedingungen, die vorhanden sein sollen, nicht getrennt voneinander und einzeln für sich ihre Wirkung für das Zustandekommenlassen von selbstorganisierter Veränderung entfalten, sondern im Verbund. Sie müssen großteils parallel, also zeitgleich realisiert werden. Die Zielorientierung auf neue Verhaltensmuster wird nur dann vom Mitarbeiter vorgenommen, wenn sich alte Muster destabilisieren, also als nicht mehr nützlich erlebt werden. Zielgerichtete Symmetriebrechung mit einer anschließenden ReStabilisierung des Neuen sollte zum richtigen Zeitpunkt geschehen, also dann, wenn alte Muster instabil sind und sich © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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verändern lassen. Konkret ließe sich dies beispielsweise durch ein zeitlich flexibleres und angepasstes Workshopangebot realisieren. Der unterschrittene Schwellwert der Frage »Die Workshops fanden für mich zum Richtigen Zeitpunkt statt« (V 42) und die oben erläuterten Zusammenhängen deuten an, dass für einige Mitarbeiter Workshops zu einer anderen Zeit besser gewesen wären. Dies ist sicherlich nicht die einzige Maßnahme, die daraus abgeleitet werden kann, aber eine vergleichsweise leicht umzusetzende. Bezogen auf die Re-Stabilisierung empfiehlt sich, mit den Mitarbeitern genau zu betrachten, welche Verhaltensweisen für erfolgreiche nächste Schritte benötigt werden, um diese anschließend möglichst realitätsnah zu üben, das heißt, den Mitarbeiter nicht mit dem Auftrag der Übung allein lassen, sondern ihn, wenn nötig, tatsächlich darin zu begleiten. Mehr Übungsphasen sollten standardmäßig integriert werden. Dadurch lässt sich vermutlich eine Erhöhung der niedrigen Mittelwerte im Bereich der Re-Stabilisierung (V 46 und V 47) erzielen.

5.3 Kritik und weiterführende Untersuchungsvorschläge Zunächst soll ein kurzer Rückblick auf die Untersuchung dazu verwendet werden, etwaige Schwachstellen, die während oder nach der Untersuchung aufgefallen sind, zu benennen. Daraus kann in einer Fortführung dieser oder ähnlicher Studien ein »lesson learned« gezogen werden. Das aktuelle Design der Untersuchung lieferte wertvolle Aussagen in Form einer Momentaufnahme. Trotzdem sollten die Items in einem nächsten Schritt nochmals einzeln überprüft werden. Beispielsweise erscheint es sinnvoll, Items, die die Destabilisierung messen, entweder mit mehr Hintergrundinformationen zu versorgen, damit man erkennen kann, ob zum Beispiel überhaupt etwas destabilisiert werden muss. Dies kann der Fall sein, wenn ein Mitarbeiter die Bedingungen in der beE als förderlich wahrnimmt und von sich aus schon gut vorbereitet ist, wodurch keine Destabilisierung nötig ist. Findet ein Mitarbeiter in den Aussagen der beE und des Beraters lediglich Bestätigung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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dessen, was er auch bisher schon gemacht hat, findet keine Destabilisierung statt, während die Gespräche dennoch hilfreich sind. Dann würde die Frage nach Veränderungen, angestoßen durch die beE oder den Berater, zur widersinnigen Information führen, die beE wirke nicht destabilisierend genug. Damit es sinnvoll ist, Muster zu unterbrechen und neue einzuführen, müssen die bestehenden zunächst als problematisch bewertet werden. An dieser Stelle könnte es hilfreich sein, das generische Prinzip »Identifikation von Mustern des relevanten Systems« einzubinden, um mehr Informationen zu positiven oder negativen Mustern zu erhalten und den oben beschriebenen Trugschluss zu verhindern. Bezogen auf die Prinzipien »Destabilisierung« und »Kontrollparameter/Energetisierung«, wäre unter Umständen eine Erweiterung der Items in Bereiche nützlich, die die Trennungsphase vom alten Arbeitsplatz erfasst. Dies kann hilfreich sein, um zu erkennen, ob die Verbundenheit zum alten Unternehmen bzw. Arbeitsplatz so destabilisiert wird, dass Platz für Neues ist und intrinsische Motivation den entsprechenden Anschub erzeugt. Entsprechende Items könnten derartiges erfassen und dazu eine Aussage liefern. Zuletzt lassen sich noch Hinweise für Veränderungen in der Mess- und Auswertungsmethodik geben. Bisher sind die Untersuchungsergebnisse nur sehr eingeschränkt auf die Aussagen von Korrelationen zwischen verschiedenen Items untersucht worden. Wie hängt zum Beispiel die Aufenthaltsdauer mit den Antworttendenzen zusammen? Es gibt sicherlich noch einige andere Fragestellungen, die mit Erkenntnissen aus den Zusammenhängen verschiedener Items beantwortet werden könnten. Besonders interessante Erkenntnisse könnten sich ergeben, wenn man nicht nur eine Momentaufnahme, sondern mehrere Messungen zu nacheinander folgenden Zeitpunkten aufnehmen würde. Darüber hinaus würde es bei zukünftigen Messungen eine qualitative Verbesserung darstellen, wenn die Repräsentativität der Stichprobe zusätzlich andere Faktoren wie zum Beispiel die Aufenthaltsdauer einbezieht. Eine detaillierte Darstellung von einzelnen Indikatoren bringt zwar eine hohe Aussagekraft mit sich, doch können dabei leichter © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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die breite Übersicht und der Blick auf das Ganze leiden. Ähnlich, wie des Schwellwertinstrument einen Mittelwert aus der Menge von Antworten der Mitarbeiter bildet, wäre es nützlich, eine Methodik zu entwickeln, die Ergebnisse zu weniger Werten zusammenfasst, so dass beispielsweise ein Wert pro generischem Prinzip entsteht.

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Heinz-Ulrich Thiel und Christiane Schiersmann

Selbstorganisation fördernde Wirkprinzipien und Erfolgsfaktoren in der Organisationsentwicklung – zwei Fallstudien im Vergleich

1 Einleitung Der Organisationsentwicklung (OE) im deutschsprachigen Raum kommt das Verdienst zu, über vier Jahrzehnte lang für organisationsinterne und -externe Herausforderungen immer neue Konzepte und Erfahrungsberichte bereitgestellt zu haben. In Zukunft sind (empirische) Fallstudien im Hinblick auf die Wirkprinzipien bzw. Erfolgsfaktoren während des Verlaufs einerseits und auf Erfolgskriterien basierende (End-)Ergebnisse bzw. den Outcome andererseits erforderlich – kein leichtes Unterfangen angesichts der kaum überschaubaren Komplexität und der unvorhersehbaren Dynamik eines organisationalen Veränderungsprozesses. Dieses »Schicksal« des Umgangs mit Komplexität teilt die OE mit der Forschung in anderen Beratungsformaten wie zum Beispiel Coaching (vgl. Greif, 2008) und Supervision (vgl. Haubl, 2009). In der wissenschaftlichen Diskussion wächst aus unserer Sicht allmählich das Interesse an der Identifikation allgemeiner Prinzipien der Beratung bei berufsund arbeitsweltbezogenen Veränderungsprozessen bzw. beim organisationalen Wandel (vgl. Beer, Eisenstat u. Spector, 1990; Kotter, 1995; Haken u. Schiepek, 2010; Gerkhardt u. Frey, 2006; Greif, 2008; Rappe-Giesecke, 2009; Schäffter, 2009; Schiersmann u. Thiel, 2009, 2011; Kruse, 2010; Senge, 2010). Die Suche nach allgemeinen (Wirk-)Prinzipien und Erfolgsfaktoren der professionellen Beratung in unterschiedlichen Anwendungsfeldern erscheint aufgrund folgender Beobachtungen plausibel: • Bei der OE, der Teamentwicklung, dem Qualitätsmanagement, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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dem Coaching und der Supervision ist – in Analogie zur Psychotherapieforschung – bisher nicht der empirische Nachweis erbracht worden, dass ein bestimmtes Konzept innerhalb dieser Beratungsformate erfolgreicher, das heißt wirksamer ist als ein anderes. • Mit einem einzelnen Beratungskonzept auf der Mikroebene der Kommunikation (z. B. personzentriert, verhaltens- oder lösungsorientiert, systemisch) oder einem einzigen Ansatz auf der Makroebene des Veränderungsmanagements von Organisationen (z. B. struktur-, kultur-, team- oder wissensorientiert, strategisch) lässt sich der organisationale Wandel nicht mehr angemessen gestalten – zu verschiedenartig und komplex sind die Anlässe, Zielgruppen und Prozessverläufe. Deshalb gab es eine Phase der mehr oder weniger explizit begründeten Kombination/Integration unterschiedlicher Beratungsansätze (z. B. Dietrich, 1983; König u. Volmer, 2000) bis hin zur Selbstverständlichkeit eines »Methoden-Mix« (vgl. Klein, 2005). • Die Einschätzung, dass die arbeitswelt- bzw. organisationsbezogenen Beratungsformen – das heißt »Formate« wie zum Beispiel Supervision, Coaching, Organisationsentwicklung – »abgeschlossen« (vgl. Rappe-Giesecke, 2009) und ihre »Gemeinsamkeiten« größer sind als ihre feldspezifischen Ausprägungen (vgl. Fatzer, 2005), löst folgerichtig die Suche nach »Axiomen« und allgemeinen »Prinzipien« professioneller Beratung aus (vgl. Schäffter, 2009). Aber es fehlte bisher an einer »stichhaltigen neuen Theorie« (McLeod, 2004, S. 275 f.) bzw. empirisch fundierten Metatheorie. • Nachdem durch die umfangreiche Forschung von Grawe (2000) die Forderung nach einer Orientierung an »Wirkprinzipien« statt an »Therapieschulen« empirisch begründet wurde, entwickelten Haken und Schiepek (2010) aus der Synergetik als Wissenschaft von der Selbstorganisation »generische«, das heißt Selbstorganisation fördernde Prinzipien. Diese ermöglichen im Rahmen eines »synergetischen Prozessmanagements« das Verstehen und Gestalten dynamischer, komplexer Veränderungsprozesse von Personen (z. B. Coaching, Therapie), Gruppen (z. B. Teamentwicklung) und Or© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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ganisationen (z. B. OE). Sie definieren die professionellen (OE-)Berater eher als unterstützende »beteiligte Mitspieler«. Es ist dann nur konsequent, dass auch die beteiligten Organisationsmitglieder mit ihren Kompetenzen und Ressourcen zum Gelingen des selbstorganisierten Wandels beitragen. Im Folgenden unternehmen wir den Versuch, der Analyse und dem Vergleich von zwei OE-Fallstudien allgemeine (Wirk-) Prinzipien bzw. Erfolgsfaktoren zugrunde zu legen. Für die empirische Analyse der »Verlaufskomplexität« (Luhmann u. Schorr, 1979, S. 227) von Veränderungsprozessen entwickeln wir im Kapitel 2 ein heuristisches Rahmenmodell. Im Mittelpunkt stehen die »prozessuale Organisation« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 633) bzw. das »prozedurale Wissen« (Putz-Osterloh, 1994, S. 85) für eine Gestaltung des risikoreichen Weges vom alten zum neuen Muster. Unter Zugrundelegung dieses Rahmenmodells wird der Veränderungsprozess von zwei unterschiedlichen Organisationstypen zum gleichen Thema »abteilungsübergreifende Zusammenarbeit« im Sinne einer Prozess-Outcome-Forschung aus Sicht von Beratern/Beratungsforschern dokumentiert bzw. rekonstruiert. Es handelt sich um ein sozialwirtschaftliches NonProfit- (s. Kap. 3) und ein gewerbliches Unternehmen (s. Kap. 4). In Kapitel 5 werden die beiden Verlaufsstudien vor dem Hintergrund der Synergetik-Theorie bzw. generischen (Wirk-)Prinzipien miteinander verglichen und weiterführende praktische wie forschungsmethodische Überlegungen skizziert (s. Kap. 6).

2 Das Rahmenmodell: Selbstorganisation fördernde Wirkprinzipien, Ebenen von Interventionsmethoden und Phasen eines Veränderungsprozesses 2.1 Eckpunkte des Rahmenmodells Im Folgenden wird ein heuristisches Rahmenmodell für die Gestaltung und Beforschung von Beratungsprozessen – insbesondere der OE – vorgestellt (s. Abb. 1). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

229 Abbildung 1: Gestaltung und Analyse der Verlaufskomplexität von personen- und organisationsbezogener Beratung

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Dieses idealtypische Modell zur Analyse der Verlaufskomplexität von OE-Prozessen fokussiert den dynamischen, selbstorgani© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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sierten Wandel eines Systems vom alten Muster (z. B. »Abteilungsdenken«) zum neuen (z. B. abteilungsübergreifende Zusammenarbeit), wobei im Hinblick auf die Prozesserfassung und -diagnostik verschiedene Messzeitpunkte möglich sind. Wir gehen davon aus, dass das prozessuale »Managen« eines Veränderungsprozesses – wie auch dessen forschungsmethodische Erhebung – mehrere, sich wechselseitig beeinflussende Dimensionen berücksichtigen muss: Das Thema bzw. Problem mit dem dazugehörigen bereichsspezifischen (Sach-)Wissen (z. B. Theorien zu Strukturen und Prozessen in Organisationen) wird in Zusammenhang gebracht mit dem »prozeduralen« (Gestaltungs-)Wissen. Zum Letzteren gehören die generischen, das heißt Selbstorganisation fördernden Prinzipien (s. Kap. 2.2), verschiedene Ebenen von Interventionsmethoden (s. Kap. 2.3.1) und unterscheidbare (Planungs-)Phasen eines Veränderungsprozesses (s. Kap. 2.3.2). Die Konkretisierung der generischen (Wirk-)Prinzipien durch Items eines Erhebungsbogens (s. Kap. 2.4) stellt die Grundstruktur für die rekonstruktive Analyse (s. Kap. 3 und 4) und den Vergleich beider OE-Fallstudien dar (s. Kap. 5).

2.2 Transfer der generischen Prinzipien auf die OE und Zuordnung von Erfolgsfaktoren Mit der Synergetik als Wissenschaft der Selbstorganisation, die im natur- und sozialwissenschaftlichen Bereich eine breite Anwendung gefunden hat1, steht uns ein metatheoretisches Paradigma zur Erfassung nichtlinearer, dynamisch-komplexer Prozesse des Wandels zur Verfügung. Es ist naheliegend, dass wir es damit in der OE zu tun haben. Die aus der Synergetik abgeleiteten generischen, das heißt Selbstorganisation fördernden Prinzipien 1 Sie wurde zum Beispiel für empirische Untersuchungen in verschiedenen Branchen zugrunde gelegt (vgl. Beisel, 1996, für den Automobilsektor ; Schiepek, 2008, für die Psychotherapie; Paukert, 2011, für den Bereich von Training und Beratung; Niemeier, 2000, für den ökologischen Bereich).

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(vgl. Schiepek, 2008; Haken u. Schiepek, 2010; Schiepek, Zellwanger, Kronberger, Aichhorn u. Leeb, 2011) sind im Sinne von Common Factors für das Verstehen und Gestalten von Veränderungsprozessen zentral. In Tabelle 1 sind die acht generischen Prinzipien überblickartig dargestellt, die im Beitrag von Schiersmann und Thiel in diesem Band ausführlich erläutert sind. Sie werden durch 33 Items unseres Erhebungsbogens für die OE illustriert und konkretisiert (s. Tab. 2, Kap. 2.4). Zugleich wird bei der Beschreibung der generischen Prinzipien der Versuch unternommen, weitere vorhandene Systematisierungen von Wirk- bzw. Erfolgsfaktoren den generischen, das heißt selbstorganisationsförderlichen Prinzipien zuzuordnen. Zu den wenigen, die sich im Rahmen der OE damit beschäftigt haben, gehören Gerkhart und Frey (2006) mit ihren »12 Erfolgsfaktoren über den Phasenverlauf von Veränderungsprozessen«, Kotter (1995) mit den acht Schritten zur Vermeidung von »Kardinalfehlern« bei Transformationsprozessen und Beer unter anderem (1990) mit den »Six Steps to Effective Change«. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden die acht generischen Prinzipien kurz charakterisiert (s. Tab. 1).

2.2.1 Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse schaffen und das System und dessen Muster identifizieren Eine zentrale Aufgabe von OE-Beratern besteht darin, in Kooperation mit den Beteiligten stabile Rahmenbedingungen für den Veränderungsprozess zu schaffen und so für strukturelle und emotionale Sicherheit angesichts von Instabilitäten und Phasenübergängen zu sorgen. Strukturelle Sicherheit im Rahmen einer OE ist gegeben, wenn zum Beispiel Übereinstimmung im Hinblick auf den thematischen Gegenstand, den Zeithorizont, die Rahmenbedingungen und die Rolle der Berater erzielt wurde (vgl. Beisel, 1996, S. 226 f.). Während Gerkhardt und Frey (2006, S. 52) die Orientierung an den Ressourcen und Greif (2008) die Unterstützung und Wertschätzung explizit erwähnen, fehlen bei Kotter (1995) und Beer und andere (1990) solche Aspekte der Selbstwertunterstützung als Stabilitätsbedingung. Bei dem zweiten Prinzip geht es darum, das System zu definieren, auf das sich die Beratung, das heißt die Unterstützung der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Tabelle 1: Selbstorganisation fördernde (Wirk-)Prinzipien bei der Gestaltung und Analyse von Ordnungswandel – bei Personen, Teams und Organisationen in Anlehnung an Haken und Schiepek (2010, S. 436 ff.) 1. Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse schaffen

Die Bearbeitung der Anliegen von Ratsuchenden geht häufig mit Instabilitäten und Ordnungsübergängen im Sinne der Synergetik einher. Daher muss der Berater gemeinsam mit den Ratsuchenden stabile Rahmenbedingungen für den Veränderungsprozess schaffen und so für strukturelle und emotionale Sicherheit sorgen (z. B. durch Transparenz des Vorgehens, Selbstwertunterstützung, vertrauensvolle Beziehungen).

2. Das System und dessen Muster identifizieren

Das System, auf das sich die Beratung als Unterstützung von Selbstorganisationsprozessen beziehen soll, ist festzulegen. Muster, Regeln, Ordner dieses Systems sind zu identifizieren (z. B. durch idiographische Systemmodellierungen).

3. Vision und Ziele entwickeln, Sinnbezug herstellen

Lern-, Entwicklungs-, Veränderungsprozesse müssen von den Mitgliedern des jeweiligen Systems (Personen, Teams oder Organisationen) als sinnvoll/stimmig erlebt werden. Visionen und Ziele der OE müssen mit den Vorstellungen der Beteiligten korrespondieren, damit diese sich darauf einlassen (z. B. durch Partizipation der Mitarbeiter bei Planungsprozessen).

4. Energetisierung ermöglichen, Kontrollparameter identifizieren

Selbstorganisation setzt eine energetische Aktivierung des jeweiligen Systems voraus. Es geht um die Herstellung motivationsfördernder Bedingungen, um die Aktivierung von Ressourcen, um die Herausarbeitung der emotionalen und motivationalen Bedeutung von Zielen und Anliegen der Ratsuchenden (z. B. durch kreatives, gemeinsames Problemlösen, Großgruppenverfahren).

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(Fortsetzung) 5. Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung anregen

Beratung zielt darauf ab, den Beteiligten neue Perspektiven und Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen. Bestehende Muster der Kognition, der Emotion und des Verhaltens (K-E-V-Muster) werden destabilisiert (z. B. durch die Frage nach Ausnahmen, Rollenspiele, Herausarbeiten alternativer Lösungswege und Planung der Umsetzung).

6. Symmetriebrechung unterstützen

Wenn in einem System, das sich im Zustand kritischer Instabilität befindet, zwei oder mehrere Ordner/Attraktoren mit gleicher oder ähnlicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden können (»Symmetrie«), ist die Vorhersagbarkeit der weiteren Entwicklung gering. Die Aufgabe des Beraters besteht darin, sinnvolle Hilfestellungen zur »Symmetriebrechung« zu geben, um einige Strukturelemente eines neuen Ordnungszustandes mit den dazugehörigen Emotionen umzusetzen (z. B. Start von Pilotprojekten).

7. Re-Stabilisierung sichern Im Zuge des Beratungsprozesses positiv bewertete Kognitions-, Emotions- oder Verhaltensmuster gilt es zu verstärken und zu stabilisieren (z. B. durch Wiederholung, Variation, Transfer). Es geht darum, das neue Muster in das bestehende Selbstkonzept bzw. die Unternehmensstruktur und -kultur zu integrieren und für Nachhaltigkeit zu sorgen. Die am Veränderungsprozess Beteiligten sollen sich idealerweise mit der neuen Ordnung und ihren Rahmenbedingungen identifizieren. 8. Resonanz beachten, Synchronisation herstellen

Im Beratungsprozess angewandte Methoden und Verfahren sollen zur Aufnahmebereitschaft, zum aktuellen kognitiv-emotionalen Zustand (»state of mind«) und zur »Verarbeitungstiefe« der Beteiligten passen. Interventionen, die

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(Fortsetzung) damit nicht kongruent sind, haben nur eine geringe Chance, von den Ratsuchenden verstanden und aufgegriffen zu werden, weil das System dafür keine Antennen hat. Die ausgewählten Methoden/Gesprächsstile müssen geeignet sein, die Wirkprinzipien zu realisieren.

Selbstorganisationsprozesse beziehen soll, und Muster dieses Systems auf der Ebene der Kognition/des Denkens, der Emotion/ des Erlebens und des Verhaltens/Handelns (= K-E-V-Muster) zu identifizieren. Zur Bestimmung der Muster sollte auch die »geronnene Systemgeschichte«/Organisationsbiographie einbezogen werden sowie unter anderem die system- und organisationsexternen Randbedingungen, weil diese das bisherige, unerwünschte Muster eventuell stabilisieren. Zur Realisierung dieses generischen Prinzips eignen sich insbesondere Visualisierungsmethoden, zum Beispiel idiographische Systemmodellierungen. Durch die Konstruktion eines Netzwerkes von Einflussfaktoren (s. Kap. 3.3, 4.2.2, 4.3.2, 4.4.3) kann herausgearbeitet werden, was alles die Problemsituation und damit die Zielerreichung beeinflusst (s. dazu weiter unten). Die »Diagnose« der Ist-Situation, ein »gemeinsames Problembewusstsein« wird bei allen oben genannten Autoren erwähnt, die sich mit Erfolgsfaktoren in der OE beschäftigen.

2.2.2 Vision und Ziele entwickeln, Sinnbezug herstellen sowie Energetisierung ermöglichen, Kontrollparameter identifizieren Bei Lern- bzw. Veränderungsprozessen sollten die Entwicklung einer gemeinsamen Vision (z. B. im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit) sowie die Ziele des OE-Prozesses mit den allgemeinen Zielen und Strategien einer Organisation sowie mit den persönlichen, beruflichen Zielvorstellungen der Mitarbeiter korrespondieren. Nur für als sinnvoll und bedeutsam erlebte © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Visionen und Veränderungsstrategien werden sich die Mitarbeiter engagieren. Der Entwurf und die Verbreitung einer »tragenden«, »gemeinsamen« Vision (s. Kotter, 1995; Beer u. a., 1990) bzw. die Definition und Klärung von Zielen (s. Gerkhardt u. Frey, 2006; Greif, 2008) stärken die Motivation für eine Veränderung. Es ist auffällig, wie insbesondere Kotter und Beer und andere, aber auch Gerkhardt und Frey die gemeinsame, also unter Beteiligung und Zustimmung der Mitarbeiter entstehende Vision mit der Mobilisierung von »Engagement für den Wandel« (Beer u. a. 1990, S. 161) und mit der Koalition der innovationstragenden Personen bzw. Führungsebene in Zusammenhang bringen. Im Sinne der Theorie der Selbstorganisation handelt es sich dabei um eine energetische Aktivierung des jeweiligen Systems. Es geht in diesem Zusammenhang um die Herstellung motivationsfördernder Bedingungen, um die Aktivierung von Ressourcen, um die Herausarbeitung der emotionalen und motivationalen Bedeutung von Zielen, Anliegen und Visionen der Ratsuchenden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 438) – zum Beispiel durch Partizipation der Mitarbeiter auf Workshops und bei Großgruppenverfahren, die eine Transparenz des Vorgehens implizieren. Dabei muss der Blick auch auf Faktoren jenseits der Grenze des betrachteten Systems gelenkt werden, die eine Veränderung anregen.

2.2.3 Destabilisierung, Fluktuationsverstärkungen anregen und Symmetriebrechung unterstützen

Um den Beteiligten neue Erfahrungsmöglichkeiten im Hinblick auf bestehende Regeln und Abläufe, Verhaltensweisen und Wirklichkeitskonstruktionen zu eröffnen, sollen bestehende KE-V-Muster unterbrochen werden. Es ist auffällig, dass dieses generische Prinzip eines Aufweichens des alten Musters bei den anderen oben genannten Autoren kaum Entsprechungen hat (bis auf das Beseitigen von Hindernissen bei Kotter, 1995). Dies dürfte daraus zu erklären sein, dass bei den Autoren keine systematische, theoretisch basierte Vorstellung vom Wandel als Selbstorganisationsprozess zugrunde liegt. Um bestehende Muster zu destabilisieren, können unterschiedliche Methoden eingesetzt © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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werden – zum Beispiel Vermittlung bzw. Erarbeitung neuer Informationen und veränderter Interpretationen, anderer Blickwinkel/Perspektiven durch Fokussierung auf die Ausnahmen von einem Problemmuster sowie Planung der nächsten Schritte bei »Pilotprojekten« (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 439, 630). Wenn in einem System, das sich im Zustand kritischer Instabilität befindet, zwei oder mehrere Muster mit gleicher oder ähnlicher Wahrscheinlichkeit realisiert werden können (z. B. »Symmetrie« von arbeitsplatzfokussiertem und abteilungsübergreifendem Muster), ist die Vorhersagbarkeit der weiteren Entwicklung gering. Da kleine Fluktuationen über die Realisierung des einen oder anderen entscheiden, besteht die Aufgabe des OEBeraters darin, sinnvolle Hilfestellungen zur »Symmetriebrechung« zu geben, um einigen Strukturelementen eines neuen Ordnungszustandes zur Umsetzung zu verhelfen. Dabei ist es wichtig, zum Beispiel die praktische Durchführung von »Pilotprojekten« zu unterstützen, begonnene Lernprozesse zu verstärken, »kurzfristige Erfolge planerisch vor[zu]bereiten und herbei[zu]führen« (Kotter, 1995, S. 12) und Meinungsführer sowie Imageträger einzubeziehen.

2.2.4 Re-Stabilisierung sichern Bei dem Prinzip der Re-Stabilisierung geht es darum, das neue Muster in die Unternehmensstruktur und -kultur bzw. in das berufliche Selbstkonzept der Mitarbeiter zu integrieren. Maßnahmen zur Re-Stabilisierung bzw. Nachhaltigkeit können sein: Wiederholungen, Nutzung in unterschiedlichen Situationen und Kontexten oder Überführung von Abläufen in Prozessbeschreibungen (wie z. B. in Qualitätshandbüchern). Die allgemeine Formulierung »Verankerung der Veränderung« als Erfolgsfaktor bei Gerkhardt und Frey (2006) werden von Kotter (1995) und Beer und andere (1990) gleich durch mehrere »Schritte« konkretisiert: zum Beispiel »Erneuerungen durch formale Regeln und Strukturen institutionalisieren« (Beer et al. 1990, S. 164), »die Revitalisierung auf alle Abteilungen ausdehnen, ohne von oben Druck auszuüben« (Beer et al. 1990, S. 161), »Erreichte Veränderungen weiter ausbauen (Siegesfeiern nicht zu früh ansetzen)« (Kotter, 1995, S. 12). Neben der Mobilisierung des En© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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gagements für den Wandel (= Energetisierung) fokussieren Kotter und Beer und andere vor allem die Sicherung der ReStabilisierung.

2.2.5 Resonanz beachten, Synchronisation herstellen Schiepek (2008, S. 296) geht davon aus, dass Interventionswirkungen im Beratungsprozess als Resonanzeffekte zwischen Systemzuständen des Ratsuchenden (hier Organisationsmitglieder) und Angeboten des Beraters entstehen. Da die situative Passung der angewandten Methoden und Verfahren mit der Aufnahmebereitschaft, dem aktuellen kognitiv-emotionalen Zustand (»state of mind«) und der Verarbeitungstiefe der Organisationsmitglieder bei allen sieben bisher beschriebenen Prinzipien zentral ist, stellen wir dieses generische Prinzip im Sinne einer Querfunktion ans Ende. Die zeitliche Passung und Koordination der Vorgehensweisen und des Kommunikationsstils eines Beraters mit den »Prozessen und Rhythmen« der Beteiligten kann als Voraussetzung wie auch als Merkmal einer gelingenden Beratung gelten. Dies ist wichtig, da Veränderungsprozesse eine Eigendynamik aufweisen, die nur bedingt beschleunigt werden kann (vgl. Wimmer, 1999; Haken u. Schiepek 2010, S. 630). Vergleichbares umschreiben andere Autoren mit den Erfolgsfaktoren »Zeitmanagement«, »Flexibilität im Prozess« und »Reflexion« (vgl. Gerkhardt u. Frey, 2006; Greif, 2008).

2.3 Ebenen von Interventionsmethoden und Phasen eines Veränderungsprozesses Bei einem OE-Prozess handelt es sich – wie schon dargelegt – um einen sehr komplexen Übergang von einem alten zu einem neuen Muster bzw. mehreren alten zu neuen. Die Gestaltung eines solchen Prozesses erfordert ein vielschichtiges Design. Im vorangegangenen Abschnitt ist vor allem die Bedeutung der generischen Prinzipien für die Gestaltung und Analyse eines solchen Prozesses hervorgehoben worden. Diese dienen der Auswahl geeigneter Methoden und müssen wiederum durch methodische Überlegungen auf verschiedenen Ebenen unterfüttert werden © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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(s. Kap. 2.3.1). Da sich zudem ein OE-Prozess in der Regel auf einen längeren Zeitraum erstreckt und – im Vergleich zum Beispiel mit der Therapie, der Supervision und dem Coaching – verschiedene Akteursgruppen unterschiedlicher Hierarchieebenen und Geschäftsbereiche involviert sind, ist es aus unserer Sicht – trotz der Unvorhersehbarkeit von Ordnungsübergängen – erforderlich, als Planungsprinzip eine phasenorientierte Vorstellung von diesem Problemlöseprozess zu haben, unter anderem, um die Komplexität zu reduzieren – wohl wissend, dass es auch ganz anders kommen kann (s. Kap. 2.3.2). Als ergänzende Analyse- und Gestaltungselemente für den Wandel in der OE begründen wir daher im Folgenden eine Differenzierung von Ebenen des häufig pauschal verwendeten Begriffs »Interventionsmethode« und die hilfreiche Unterscheidung typischer Phasen eines Veränderungsprozesses (s. unser Rahmenmodell in Abb. 1).

2.3.1 Unterscheidung von Ebenen der Interventionsmethoden Wie bereits ausgeführt, stellt die Auswahl von zur Verarbeitungstiefe bzw. dem »state of mind« der Ratsuchenden passenden Methoden zu einem geeigneten Zeitpunkt (Kairos) im Sinne der Synergetik einen zentralen Erfolgsfaktor dar. Für den komplexen Prozess einer OE ist es erforderlich, zwischen unterschiedlichen Ebenen der Intervention zu differenzieren (s. Abb. 1). Da – wie in der Psychotherapieforschung belegt (vgl. Schiepek, 2008, S. 7) – nicht die Interventionsmethoden/»Tools« selbst in einem linearen Verständnis eine Veränderung verursachen, sondern nur in Verbindung mit der Realisierung eines generischen Prinzips (oder im Zusammenwirken mehrerer), gehört zum »prozeduralen Wissen« des OE-Beraters – neben den generischen Prinzipien – auch die profunde Kenntnis von unterschiedlichen methodischen Verfahren, die zur »Aufnahmebereitschaft« der Organisationsmitglieder »passen«. Bei der Unterscheidung verschiedener Interventionsebenen orientieren wir uns an der Konzeption von Königswieser und Exner (2004). Die unterste Ebene stellt auch für die OE – wenngleich in der einschlägigen Literatur häufig vernachlässigt – die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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des Einsatzes spezifischer Gesprächsstile und Fragetypen dar (z. B. systemisch, lösungsorientiert, personzentriert) sowie die Auswahl von spezifischen Werkzeugen/Tools (z. B. SOFT-Analyse). Darüber angesiedelt ist die Ebene, die von Königswieser und Exner (2004) als Design bezeichnet wird. Hier geht es um für die OE typische, größere Interventionseinheiten wie Workshops, Großgruppenverfahren, Projektgruppensitzungen oder ähnliche. Die nächsthöhere Ebene, die als Prozessarchitektur bezeichnet wird, umfasst eine (zumeist vorläufige) Gesamtvorstellung vom Ablauf eines OE-Prozesses oder definierter Teilphasen in Bezug auf vorgesehene Aktivitäten (s. dazu die Prozessarchitekturen Abb. 2 und 4). In Erweiterung eines klassischen Projektablaufplans wird hier deutlich, welche methodischen Aktivitäten von welchen Personengruppen in welchem Zeitraum durchgeführt werden (sollen) und eventuell aufeinander aufbauen. Auch bietet die Prozessarchitektur in der Variante von Schiersmann und Thiel (2011, S. 42 ff., s. Abb. 2 und 4) die Möglichkeit kenntlich zu machen, an welchen Stellen der Berater involviert ist. Dies muss keineswegs bei allen Aktivitäten der Fall sein – im Sinne der Ressourcenaktivierung der Beteiligten. Über die von Königswieser und Exner (2004) identifizierten Interventionsebenen fügen wir noch die umfassendere der Formate hinzu, da im Rahmen einer OE – simultan oder nacheinander – auch zum Beispiel das Coaching der Führungskräfte, die Teamsupervision oder das Training eine Rolle spielen können. Das Sach- und Theoriewissen über spezifische Anwendungsfelder (z. B. Führung, Team, Organisation) muss mit dem »prozeduralen Wissen« (Putz-Osterloh, 1994; vgl. Dörner, 1989) im Hinblick auf das Ermöglichen einer Resonanz/Synchronisation zwischen situativen Zuständen bzw. Prozessen bei den Mitarbeitern der Organisation und den Angeboten des OE-Beraters verknüpft werden.

2.3.2 Phasen eines Veränderungsprozesses Trotz der nicht linearen Entwicklung von OE-Prozessen ist es hilfreich für Berater und Organisationsmitglieder, sich bei der Planung an typischen Phasen eines Verlaufs zu orientieren, um eine heuristische Vorstellung vom Ablauf eines Veränderungs© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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prozesses zu ermöglichen und dadurch diese Komplexität für die Beteiligten etwas zu reduzieren – auch wenn alles ganz anders kommen kann. Dabei gehen wir in Anlehnung an die Forschung zum komplexen Problemlösen (vgl. Dörner, Schaub u. Strohschneider, 1999) von einem systemisch konzipierten Phasenmodell aus. Dies bedeutet, dass die einzelnen Phasen nicht zwingend linear nacheinander durchlaufen werden müssen (s. ausführlicher dazu den Beitrag von Schiersmann und Thiel in diesem Band). In unserer zweiten OE-Fallstudie (s. Kap. 4) machen wir den Versuch, die acht generischen Prinzipien jeweils auf drei unterscheidbare Phasen des Veränderungsprozesses anzuwenden. Dabei haben wir jeweils einige Phasen aus dem Problemlösemodell von Schiersmann und Thiel (2011, S. 60) zusammengefasst. Diese drei Phasen korrespondieren – wohl nicht zufällig – weitgehend mit den drei Phasen, auf die Gerkhardt und Frey (2006) ihre zwölf Erfolgsfaktoren verteilen. Das bedeutet, dass bestimmte Erfolgsfaktoren vorwiegend in bestimmten Phasen wichtig sind: • Die Phase 1 umfasst neben der Auftragsklärung und der Festlegung der Rahmenbedingungen für den OE-Prozess die Analyse der Problem-/Ausgangssituation und die Zielklärung. Hier sind zum Beispiel das Schaffen von Stabilitätsbedingungen, die Identifikation von Mustern des Systems und das Herstellen des Sinnbezugs als generische Prinzipien zentral. Gerkhardt und Frey (2006) nennen diese Phase: »Planung/ Konzept und Analyse« (Umfassende Symptombeschreibung u. Diagnose der Ist-Situation; Vision/Ziele definieren; Gemeinsames Problembewusstsein). • Die Phase 2 umfasst laut unserem Phasenmodell das Suchen nach (alternativen) Lösungswegen/Maßnahmen und die Planung ihrer Durchführung (also die Entwicklung eines Veränderungskonzepts). Gerkhardt und Frey (2006, S. 52) fassen diese Schritte unter die Überschrift »Implementierung der Veränderung« (Führungskoalition u. Treiber ; Kommunikation; Zeitmanagement; Projektorganisation u. Verantwortlichkeiten). • Phase 3 umfasst in unserem Modell die faktische Umsetzung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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und deren Controlling sowie die Evaluation und den Transfer. Das Ermöglichen von Symmetriebrechung und das Sichern von Re-Stabilisierung sind hierfür entscheidend. Gerkhardt und Frey (2006, S. 52) sprechen von der »Endbetrachtung und Stabilisierung« (Verankerung der Veränderung). Die Zuordnung von Phasen und Erfolgsfaktoren bei Gerkhardt und Frey (2006) bestärkt uns darin, als weitere Metatheorie neben der Synergetik als Wissenschaft von der Selbstorganisation die phasenorientierte Problemlöseforschung bei der Analyse von Veränderungsprozessen im Sinne des Wandels von Mustern heranzuziehen. Hinzu kommt, dass die Unterscheidung von Phasen ebenfalls die Auswahl von Interventionsmethoden/Tools erleichtert, die wiederum bestimmte generische Prinzipien »bedienen«. Bei dem Startszenarium eines OE-Prozesses eignet sich ein bestimmtes Design – zum Beispiel Elemente aus Großgruppenverfahren – für die Destabilisierung eines alten Musters. Auch die generischen Prinzipien (vgl. Schiepek, 2008) implizieren – zumindest teilweise – eine logische und zeitliche Abfolge (z. B. hat die Destabilisierung vorrangig dort ihren Platz, wo bereits eine Energetisierung des Systems erfolgt ist, die Re-Stabilisierung kann im Wesentlichen erst nach der Implementation eines Konzepts bzw. der Symmetriebrechung eine größere Rolle spielen). Die damit implizierte grobe Zuordnung von generischen Prinzipien zu Phasen schließt nicht aus, dass mehrere Prinzipien auch in den einzelnen Phasen vorkommen können (im Gegensatz zum Ansatz von Gerkhardt u. Frey, 2006) – aber mit unterschiedlicher Gewichtung. Dies zeigt auch das OE-Fallbeispiel im Kapitel 4. Eine Ausnahme von einer solchen heuristischen Zuordnung sehen wir in dem generischen Prinzip »Resonanz/Synchronisation«, das fraglos über den gesamten Zeitraum eines Veränderungsprozesses eine zentrale Rolle spielt. Vergleichbares lässt sich in gewisser Weise auch für das Wirkprinzip »Stabilitätsbedingungen schaffen« konstatieren, denn es stellt auch eine Daueraufgabe dar, strukturelle und emotionale Rahmenbedingungen für einen Veränderungsprozess zu schaffen, der selbst mit großer Unsicherheit einhergeht. (Forschungs)methodisch wie in der praktischen Realisierung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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hat diese plausible (Mindest-) Einteilung eines gezielten Wandels in drei Phasen den Vorteil, schwerpunktmäßig bestimmte generische Prinzipien in konkreten Situationen besser beachten und/oder »Kardinalfehler« (vgl. Kotter, 1995) differenzierter verorten und eventuell vermeiden zu können. Der Nutzen dieses Vorgehens für OE-Berater, Organisationsmitglieder und die Beratungsforschung wird insbesondere anhand der Fallstudie II (s. Kap. 4) dargestellt.

2.4 Erhebungsbogen und Systemmodellierung als empirische Analyseinstrumente Tabelle 2 enthält einen Erhebungsbogen mit 33 Items, den wir für die empirische Analyse und den Vergleich der beiden Fallstudien zugrunde legen. Dieser konkretisiert den in Kapitel 2.2 erläuterten Transfer der generischen Prinzipien auf die OE auf der Ebene der Formulierung von Items. An einigen Stellen wird der Erhebungsbogen unter Rückbezug auf die Fallstudie aus der Automobilindustrie von Beisel (1996) ergänzt, in der sie eine Synthese von Synergetik und OE vornimmt. Das betrifft insbesondere die Ausgestaltung einiger generischer Prinzipien im Hinblick auf förderliche oder hinderliche system- und organisationsexterne Einflussfaktoren (s. Item 2.3, 4.4, 5.4, 5.5, 7.3, 7.4). Für OE-Berater kann der zu unterschiedlichen Zeitpunkten selbst ausgewertete Erhebungsbogen (s. Tab. 2) eine ideale Form der Selbstreflexion oder der Dokumentation als Grundlage für eine professionelle Supervision oder ein kollegiales Coaching darstellen. Darüber hinaus können von Mitarbeitern ausgefüllte Erhebungsbögen – gerade vor dem Hintergrund erhobener Daten zu unterschiedlichen Beobachtungs-, Mess- und Feedbackzeitpunkten – der gemeinsamen Reflexion des bisherigen Verlaufs und einer Planung des nächsten Schrittes/der nächsten Phase dienen. Vor dem Hintergrund der Analyse beider OE-Fälle anhand der generischen Prinzipien (s. Tab. 1) und der Items als deren Konkretisierung (s. Tab. 2) erstellen wir außerdem eine Systemmodellierung mit Einflussanalyse. Eine solche Netzdarstellung und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

2 das System und dessen Muster identifizieren

1 Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse schaffen

Wirkprinzipien

2.3 System- und organisationsexterne Einflussfaktoren, die das bisherige Muster stabilisieren und Veränderungsprozesse behindern können, sind identifiziert/bekannt.

2.2 Muster des Denkens, Erlebens und Handelns Typische Abläufe, Regeln und Zusammenhänge im System sind herausgearbeitet.

2.1 Systemgrenze Das zu beratende System mit seinen Teilen/Subsystemen ist definiert/ festgelegt.

1.3 emotionale Sicherheit/Vertrauen Es besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen Berater(n) und dem/den beteiligten Mitarbeiter(n).

1.2 Selbstwertunterstützung Es wird an den Stärken und Erfahrungen der beteiligten Mitarbeiter angeknüpft.

d) Rolle des/der Berater(s)

c) Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit

b) Zeithorizont und Umfang der Beratung

a) Anliegen/Thema der Beratung

1.1 strukturelle Sicherheit Berater und beteiligte Mitarbeiter (MA) haben sich verständigt über

Items

trifft gar nicht zu

trifft eher nicht zu

trifft teilweise zu

trifft überwiegend zu trifft voll und ganz zu

Anteil des Beraters

Tabelle 2: Items zur Erfassung von selbstorganisationsförderlichen Wirkprinzipien in der organisationsbezogenen Beratung (OE): Erhebungsbogen für Rater und Beratungsforscher

Selbstorganisation fördernde Wirkprinzipien und Erfolgsfaktoren

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5 Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung anregen

4 Energetisierung ermöglichen/ Kontrollparameter identifizieren

3 Vision und Ziele entwickeln/ Sinnbezug herstellen

Wirkprinzipien

(Fortsetzung)

5.5 System- und organisationsexterne Einflussfaktoren fördern die Destabilisierung.

5.4. System- und organisationsexterne Einflussfaktoren »dämpfen«/behindern die Destabilisierung.

5.3 Es ist klar/geplant, wie die nächsten Schritte zur Zielerreichung aussehen.

5.2 Es wurden andere Blickwinkel, Zusammenhänge und neue Erfahrungsmöglichkeiten auf das Anliegen/ Problem eröffnet.

5.1 Es wurden wichtige Informationen für die Bearbeitung des Anliegens vermittelt.

4.4 Faktoren außerhalb des relevanten Systems regen es zur Veränderung an.

4.3 Die Mitarbeiter sind aktiv am Veränderungsprozess beteiligt.

4.2 Die Leitungsebene übernimmt Verantwortung für den Veränderungsprozess.

4.1 Die Motivation für eine Veränderung ist gestärkt.

3.3 Vision und Ziele werden als stimmig mit den beruflichen Selbstkonzepten der beteiligten Mitarbeiter erlebt.

3.1 Vision und Ziele des Veränderungsprozesses sind entwickelt. 3.2 Vision und Ziele werden als stimmig mit den Zielen der Organisation empfunden.

Items

trifft gar nicht zu

trifft eher nicht zu

trifft teilweise zu

trifft überwiegend zu trifft voll und ganz zu

Anteil des Beraters

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8 Resonanz beachten, Synchronisation herstellen

6.1 Die Beteiligten sind entschieden, das neue Konzept/die neue Strategie umzusetzen.

6 gezielte Symmetriebrechung unterstützen, ermöglichen 7 Re-Stabilisierung sichern

8.5 Die (Interventions-)Methoden auf den verschiedenen Ebenen (s. 8.1 – 8.4) sind geeignet, die Wirkprinzipien 1 – 7 umzusetzen.

8.4 Die Gesprächsstile entsprechen der aktuellen Aufnahmebereitschaft und Verarbeitungstiefe der Beteiligten.

8.3 Die einzelnen Werkzeuge/Tools entsprechen der aktuellen Aufnahmebereitschaft und Verarbeitungstiefe der Beteiligten.

8.2 Das eingesetzte (Interventions-)Design entspricht der aktuellen Aufnahmebereitschaft und Verarbeitungstiefe der Beteiligten.

8.1 Die vorhandene Prozessarchitektur entspricht der aktuellen Aufnahmebereitschaft und Verarbeitungstiefe der Beteiligten.

7.4. System- und organisationsexterne Einflussfaktoren fördern die Verstetigung/Nachhaltigkeit.

7.3. System- und organisationsexterne Einflussfaktoren behindern die Verstetigung/Nachhaltigkeit.

7.2 Auf eine Verstetigung bzw. Nachhaltigkeit des »neuen Musters« in der Organisation wird geachtet.

7.1 Die neuen Handlungsweisen werden verlässlich und routinisiert im Berufsalltag umgesetzt.

6.2. Die Beteiligten sind in der Lage, das neue Muster im Denken, Fühlen und Verhalten zumindest ansatzweise zu realisieren.

Items

Wirkprinzipien

(Fortsetzung) trifft gar nicht zu

trifft eher nicht zu

trifft teilweise zu

trifft überwiegend zu trifft voll und ganz zu

Anteil des Beraters

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Analyse von Einflussfaktoren hat verschiedene Funktionen und damit einen Nutzen für unterschiedliche Anwender – für OEBerater, Organisationsmitglieder und die Beratungsforschung. Es können für die jeweilige Phase im OE-Prozess oder für eine bestimmte Situation das Zusammenspiel der (Wirk-)Prinzipien bzw. die Zusammenhänge von Einflussfaktoren im Selbstorganisationsprozess des Systems visualisiert werden. Ebenso ist es möglich, den (nicht) gelungenen Anteil des OE-Beraters zu reflektieren (für sich selbst, zusammen mit einem Supervisor/ Coach oder gemeinsam mit den betroffenen Mitarbeitern/Leitungskräften). Dieses Verfahren – wie auch ausgewertete Erhebungsbögen – stellen eine Basis dar für die Planung des jeweils nächsten Schrittes, der nächsten Phase. Im Rahmen einer Prozess-Outcome-Forschung bzw. eines »Real-Time-Monitoring« (vgl. Schiepek, 2008, S. 4 f.) ist das Vorgehen als »evidenzbasiert« zu bezeichnen, nämlich »auf konkreten Prozessdaten beruhend« (qualitativen wie quantitativen). Die Darstellung der beiden OE-Fallstudien in den folgenden Kapiteln 3 und 4 orientiert sich an dem in diesem Kapitel 2 skizzierten Rahmenmodell (s. Abb. 1) und folgt einem vergleichbaren Ablaufschema im Hinblick auf die Prozesserfassung und -diagnostik: Nach einer kurzen Charakteristik des jeweiligen Unternehmens, dem Anlass und Ziel der Beratung folgt eine Prozessarchitektur als Überblick über die beteiligten (Sub-) Systeme (z. B. Geschäftsführung, Projektteams, aktive Mitarbeiter) und die OE-Aktivitäten/Interventionsmethoden (z. B. Auftragsgespräch, Workshops, Teamsitzungen) über den betrachteten Zeitraum des Veränderungsprozesses. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Illustration der Verlaufskomplexität anhand des Erhebungsbogens zu den acht generischen Prinzipien. In der ersten Fallstudie (s. Kap. 3) wird danach durch die Methode der Systemmodellierung mit Einflussanalyse das Zusammenwirken der Einflussfaktoren über den gesamten Zeitraum als Selbstorganisationsprozess aus Beratersicht rekonstruiert. In der zweiten Fallstudie (s. Kap. 4) wird jeweils am Ende der drei unterschiedenen Phasen des OE-Prozesses eine Systemmodellierung mit Einflussanalyse aus Sicht von Beratungsforschern erstellt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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3 Abteilungsübergreifende Zusammenarbeit in einer sozialwirtschaftlichen Organisation (OE-Fallstudie I) 3.1 Charakteristik des Unternehmens und Verlauf der OE-Aktivitäten Es handelt sich um eine sozialwirtschaftliche Organisation. Sie verfolgt im Prinzip die Ziele der Arbeiterwohlfahrt (z. B. Orientierung an der Lebenswelt betroffener Bürger, soziale Arbeit als Hilfe zur Selbsthilfe). Die Organisation verfügt über verschiedene Geschäftsbereiche in einer deutschen Großstadt. In einem dieser Geschäftsbereiche mit circa 150 Mitarbeitern wurde die Organisationsberatung durchgeführt. Sie war zunächst für gut ein Jahr geplant und wurde anschließend verlängert, so dass sie insgesamt zweieinhalb Jahre dauerte. Der Geschäftsbereich, der wiederum in verschiedene Abteilungen mit unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten aufgegliedert ist, hält professionelle Angebote unter anderem zur Suchtberatung, betreutem Wohnen und Prävention im Jugend- und Familienbereich vor. Anlass für die Beratung war die zunehmend spürbare Konkurrenzsituation auf dem sozialwirtschaftlichen Sektor. Angesichts der daraus resultierenden latenten Bedrohung für die zukünftige Existenz des Geschäftsbereichs und die Arbeitsplätze wurde – zunächst von der Unternehmensleitung – die ausschließliche Konzentration der Beschäftigten auf ihren je eigenen Arbeitsbereich beklagt. Bemängelt wurde ein fehlender »Unternehmergeist« bei den Mitarbeitern innerhalb der Organisation sowie außerhalb. Die gezielte Weiterentwicklung der Eigenaktivität von Mitarbeitern und des Blicks auf die gesamte Organisation wurden als wichtige Voraussetzungen sowohl für die berufliche Profilierung der Beschäftigten als auch für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens eingeschätzt. Die Autoren waren in diesem Fall OE-Berater und betrachten den Prozess rückblickend unter der Perspektive der Synergetik, insbesondere anhand der generischen Prinzipien. Die Datengrundlage für die rekonstruktive Fallstudie aus Berater- und Forschersicht bilden vor allem Videoaufnahmen von Workshops, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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transkribierte Interviews mit Projektleitern, Plakatabschriften von Workshopaktivitäten, Powerpointpräsentationen von Projektleitern, Korrespondenz (z. B. mit der Geschäftsbereichsleitung), Notizen zu mündlichen Feedbackrunden, Geschäftsberichte, betriebliche Dokumente, insbesondere das Qualitätshandbuch der Organisation. Es fanden zwei Auftragsklärungsgespräche statt (s. Abb. 2: Prozessarchitektur I). Beim ersten waren der Leiter der Gesamtorganisation, der Qualitätsbeauftragte und der Leiter des Geschäftsbereichs (GBL) anwesend, in dem der OE-Prozess stattfinden sollte. Das zweite Gespräch fand mit dem Leitungsteam des ausgewählten Geschäftsbereichs statt. Es folgte ein erster Workshop mit circa fünfzig Mitarbeitern aus allen Abteilungen dieses Geschäftsbereichs. Auf diesem Workshop wurden die schon grob auf den vorangegangenen Akquisitionsgesprächen vereinbarten Anliegen und Ziele weiter konkretisiert und in der dann gemeinsam getragenen Ausgestaltung von den Mitarbeitern als wichtig wahrgenommen. Als zentrale Grundlage für die Weiterentwicklung der Organisation im Interesse der Gestaltung ihrer Zukunftsfähigkeit und einer offensiven Präsenz am Markt wurden folgende Ziele vereinbart: • die Stärkung des selbstständigen, unternehmerischen Handelns der Beschäftigten am eigenen Arbeitsplatz, innerhalb und außerhalb der Organisation • der Ausbau der abteilungsübergreifenden Information, Kommunikation und Kooperation im Hinblick auf neuartige, innovative Themen und Projektideen • die Realisierung einer stärker koordinierten, gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit. Auf der Basis der Akquisitionsgespräche und des ersten Workshops mit den Mitarbeitern kristallisierten sich folgende zentrale Aktivitäten und Strukturen im OE-Prozess heraus, die in der Abbildung 2 als Prozessarchitektur dargestellt sind.

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Abbildung 2: Prozessarchitektur I: OE in einem sozialwirtschaftlichen Unternehmen

• Es wurden fünf eintägige Workshops2 mit jeweils circa 40 – 50 Mitarbeitern durchgeführt, auf denen viel mit Elementen aus verschiedenen Großgruppenverfahren gearbeitet wurde und auch darüber hinaus lebendige Darstellungsformen gewählt wurden. • Fünf selbstständige Action-Learning-Gruppen (AL-Gruppen)3 und daran anschließend (in der zweiten Phase des OE-Prozesses) weitere fünf Arbeitsgruppen (AG) des Zukunftszirkels (ZuZi) wurden gebildet, in denen Mitarbeiter abteilungsübergreifend zu innovativen Projektthemen zusammenarbeiteten. • Die Sprecher der AL-Gruppen und der ZuZi-AGs wurden in gemeinsamen Sitzungen von den Beratern unterstützt, der Zur detaillierten Übersicht über die fünf Workshops vgl. Thiel und Schiersmann, 2008, S. 56. 3 Bei der Methode des Action Learning (vgl. Donnenberg, 1999) handelt es sich um eine neuere Variante des kollegialen Projektlernens, das einen hohen Grad an Selbstorganisation aufweist. Der Kern der Idee besteht in der Bildung von Lernpartnerschaften von Projektleitern zum selbstorganisierten Erfahrungsaustausch. 2

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GBL durch Coaching seitens der Berater und das Leitungsteam ebenfalls durch Sitzungen mit den Beratern. Aktiv an dem OE-Projekt beteiligt waren neben dem Leitungsteam, das aus drei Personen bestand, 25 Mitarbeiter in fünf ALGruppen, 29 Mitarbeiter in fünf Zukunftszirkel-AGs, je 40 – 50 (zum Teil wechselnde) Mitarbeiter in den fünf Workshops. Damit waren insgesamt etwa 30 % der Mitarbeiter des Geschäftsbereichs in Projektteams aktiv am OE-Prozess beteiligt.

3.2 Analyse des Veränderungsprozesses 3.2.1 Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse schaffen Durch die beiden Akquisitionsgespräche und die beiden ersten Workshops wurde strukturelle Sicherheit für den Veränderungsprozess dadurch geschaffen, dass sich die Berater, die Leitung des Geschäftsbereichs und die Mitarbeiter über folgende Punkte verständigten: Das Anliegen war am Ende des ersten Workshops geklärt (abteilungsübergreifende Zusammenarbeit, Öffentlichkeitsarbeit, s. o.). Der Beratungszeitraum war zunächst auf ein Jahr ausgelegt (später Verlängerung um ein gutes weiteres Jahr). Die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit waren geklärt: Hierzu zählte die Einrichtung von fünf AL-Gruppen, die selbst gewählte, abteilungsübergreifende Themen bearbeiteten. Im zweiten Jahr führten fünf personell anders zusammengesetzte Arbeitsgruppen des Zukunftszirkels die Arbeit zu anderen Themen fort. Als Steuerungsgruppe fungierte das Leitungsteam des Geschäftsbereichs. Die Berater bemühten sich insgesamt um eine möglichst hohe Transparenz des Vorgehens, zum Beispiel bei der Prozessarchitektur und bei der Verständigung über zentrale Prinzipien der OE (z. B. Beteiligung der Betroffenen, Weiterbestehen der hierarchischen Organisationsstruktur, Experimentierräume für Innovationsprozesse). Zugleich wurde von den Beratern auf die Schwierigkeit einer verlässlichen Planung angesichts der Komplexität des Vorhabens und der Dynamik von Einflussfaktoren hingewiesen. Folglich wurden zum Beispiel © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Korrekturen des Vorgehens bei »Meilensteinen« als Möglichkeit ins Auge gefasst. Wichtig für die strukturelle Sicherheit waren auch die Übernahme der Verantwortung für den OE-Prozess durch den GBL sowie dessen sehr transparente Informationspolitik gegenüber der Mitarbeiterschaft, die Integration des Leitungsteams in den Veränderungsprozess sowie der Einbezug des Betriebsrates von Beginn an. Die Rolle der Berater wurde geklärt: Sie verstanden sich im Sinne der OE als Prozessbegleiter/-gestalter und Moderatoren auf Workshops und Treffen der AL-Gruppen-Sprecher sowie als Coach des GBL bzw. Leitungsteams. Die Ressourcenorientierung und Selbstwertunterstützung erfolgte in diesem OE-Prozess dadurch, dass insbesondere auf den Workshops mit jeweils 40 – 50 Mitarbeitern Methoden eingesetzt wurden, zum Beispiel aus dem Bereich der Großgruppenverfahren, die dazu beitrugen, die vorhandenen Ressourcen der Beteiligten zu aktivieren und zu stärken. Hierzu zählte zum Beispiel die Durchführung von gegenseitigen Interviews nach der Methode des Appreciative Inquiry4 (»wertschätzende Erkundung«) auf dem zweiten Workshop, das insbesondere positive individuelle Erfahrungen, Leistungen und Stärken im Unternehmenskontext fokussierte. Im Mittelpunkt stand der Austausch unter den Mitarbeitern über persönliche Erfahrungen am eigenen Arbeitsplatz und im Geschäftsbereich im Hinblick auf gelungene Kommunikations- und organisatorische Gestaltungssituationen in Vergangenheit und Gegenwart. So gelang es, die positiven Erfahrungen im Unternehmen herauszuarbeiten und damit die Bereitschaft für deren Weiterentwicklung durch konkrete Projekte zu stärken. Diese für die Mitarbeiterschaft neuartige Fragemethode vermied bewusst das Herumwühlen in Defiziten, sondern betonte die Stärken und »Schätze« einer Or4 Das Appreciative Inquiry (AI) ist ein Großgruppenverfahren. Es kann als »wertschätzende Erkundung« übersetzt werden. Einen zentralen Stellenwert haben wertschätzende Interviews unter den Mitarbeitern zu ihren positiven Erfahrungen am Arbeitsplatz, zu dem jeweiligen Kernthema des OE-Prozesses und zur Zukunft der Organisation (vgl. zum Konzept auch Schiersmann u. Thiel, 2011, S. 123 ff.).

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ganisation, die für die Bewältigung der Zukunft gebraucht wurden. Häufig waren Mitarbeiter und Leitung erstaunt über bisher unbekannte Fähigkeiten und Zusatzausbildungen ihrer Kollegen. Neben den Beratern begegnete auch die Leitungskraft den Mitarbeitern mit großer Wertschätzung. Außerdem konnte gut an die hohen fachlichen und sozialen Kompetenzen sowie bereits durchlaufene Lern- und Entwicklungsprozesse der Mitarbeiterschaft angeknüpft werden, die sich zum Beispiel bereits in einer umfassenden Qualitätsarbeit entwickelt hatten. Zur Stärkung der Selbstwirksamkeit trug auch bei, dass die Mitarbeiter bei der Planung und Gestaltung der Workshops in zunehmendem Umfang einbezogen wurden, ihre eigenen Ideen und Beiträge gewollt und gewürdigt wurden. Eine »Kultur der Partizipation« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 629) und die Reflexion der gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft des Geschäftsbereichs wurden so gefördert. Zwischen den Beratern und den beteiligten Mitarbeitern entwickelte sich ein Vertrauensverhältnis, das die emotionale Sicherheit in Bezug auf den Veränderungsprozess stärkte. Dazu beigetragen hat die angenehme Gesprächs- und Arbeitsatmosphäre, die sowohl von den Mitarbeitern, der Geschäftsbereichsleitung als auch den Beratern gepflegt wurde.

3.2.2 Das System und dessen Muster identifizieren Als zu beratendes System wurde der ausgewählte Geschäftsbereich der Organisation definiert. Wichtige Subsysteme waren der GBL/das Leitungsteam, die (wechselnde) Mitarbeiterschaft auf den Workshops, die im Verlaufe des Projekts eingerichteten fünf AL-Gruppen der ersten Runde, die fünf Arbeitsgruppen des »Zukunftszirkels« in der zweiten Runde, die fünf Sprecher der AL-Gruppen sowie die fünf Leiter der Zukunftszirkel-AGs. Folgende vorherrschende Muster des Denkens, Erlebens und Handelns konnten als Ausgangspunkt für die Veränderung identifiziert werden: • Ein durchgängiges Muster stellte der (berechtigte) Stolz der Mitarbeiter auf ihre hohe fachliche Qualifikation dar. Damit © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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war eine durchgängig starke Konzentration auf den eigenen Arbeitsplatz verbunden. • Zu konstatieren war auch eine hohe Identifikation mit dem Selbstverständnis der Organisation (z. B. Orientierung an der Lebenswelt betroffener Bürger, soziale Arbeit als Hilfe zur Selbsthilfe) und Stolz auf die Zertifizierung nach ISO und die Ergebnisse einer Fachkompetenzerhebung durch den Qualitätsbeauftragten. • Die (durchaus vorhandene) Kooperation konzentrierte sich überwiegend auf die eigene Abteilung. Damit waren ein starkes Wir-Gefühl und eine hohe emotionale Identifizierung verbunden. Es zählte das Image, die Ausstattung und der Erfolg des jeweiligen Projekts (nach innen und außen, z. B. je eigener Flyer). In Bezug auf den Führungsstil dominierte ein Konzept der »Führung an langer Leine«. • Der Geschäftsbereich verfügte nicht über ein gemeinsames Auftreten nach außen. Hierfür fehlte bei den Mitarbeitern der gezielte Blick auf das gesamte Unternehmen und seine Stellung am »Markt« der Mitbewerber. Für lange Zeit sicherte diese Struktur den Bestand der Organisation, da kein starker (einen kritischen Schwellenwert übersteigender) abteilungsübergreifender Leidens- bzw. Handlungsdruck vorlag, der eine Veränderungsmotivation ausgelöst hätte. Die Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Organisationsprinzips für die Zukunft führten zur OE – auch angesichts einer enger werdenden Personal- und Finanzdecke.

3.2.3 Vision und Ziele entwickeln, Sinnbezug herstellen Auf dem ersten Workshop wurde die Zieldiskussion angeregt. Dies geschah zum Beispiel durch den Einsatz von Elementen aus der Methode Zukunftskonferenz mit Fragen wie: »Was kommt auf uns zu?«, »Welche Kompetenzen sind dafür vorhanden bzw. erforderlich?« Das auf dem zweiten Workshop durchgeführte, bereits erwähnte AI-Interview vertiefte diese Auseinandersetzung vor allem auf der emotionalen Ebene. Auf dem dritten Workshop pointierte der GBL in einer »aufrüttelnden Rede« gemäß der von den OE-Beratern eingeführten Methode des »Real Time Strategic © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Change« (RTSC)5 den weiteren Veränderungsbedarf (z. B. sich am Markt/in der Öffentlichkeit zu profilieren angesichts sich verschärfender Marktkonkurrenz und abnehmender öffentlicher Förderung) und skizzierte Zukunftsvisionen. Damit signalisierte er die Bedeutung und Verantwortung für den Veränderungsprozess, und es entwickelte sich »Freude auf die Zukunft« (GBL) als neuer Attraktor. Es folgten dieser Rede eine Diskussion und Reflexion der vorgetragenen Ziele und Visionen und Korrekturen an der Vision. Damit wurde ein Nachdenken ermöglicht über die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer strukturellen Änderung in Richtung einer abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit sowie über den Nutzen der neuen Projekte für die Klienten, den Geschäftsbereich und den individuellen Arbeitsalltag. Aufgrund der Identifikation mit dem sozialpolitischen Selbstverständnis der Einrichtung als geteilter Wert und Interpretationsrahmen bzw. Sinnkontext wurde die Herausforderung zur Veränderung im System angenommen und das Denken und Handeln im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft »beflügelt«.

3.2.4 Energetisierung ermöglichen, Kontrollparameter identifizieren Die Veränderungsmotivation wurde insbesondere durch die fünf eintägigen, über eineinhalb Jahre verteilten Workshops (s. Abb. 2: Prozessarchitektur I) mit durchschnittlich 40 – 50 Mitarbeitern aus unterschiedlichen Abteilungen gestärkt. Die Workshops ermöglichten – gerade in Verbindung mit Kurzformen aus verschiedenen Großgruppenverfahren am Beginn jedes Workshops – einen kollektiven Energie- und Motivationsschub 5

Das in den USA entwickelte Konzept des RTSC (»Real Time Strategic Change«) zielt auf eine Beschleunigung des Wandels. Es handelt sich um ein Top-down-Verfahren, das sich vor allem dann anbietet, wenn das Ziel des OE-Prozesses bereits recht klar formuliert ist: Mitarbeiter sollen im Rahmen einer Großgruppenveranstaltung für die (von der Geschäftsleitung erarbeiteten) Visionen, Ziele und Veränderungsnotwendigkeiten gewonnen werden und diese gemeinsam überarbeiten. Eine zentrale Rolle auf der Großgruppenkonferenz spielt eine »aufrüttelnde Rede« der Leitung, die auch in diesem OE-Fall eingesetzt wurde (vgl. zum Konzept auch: Schiersmann u. Thiel, 2011, S. 132 ff.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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durch Aktivierung von Ressourcen für zukünftige Veränderungen. Durch die Intensität der emotionalen, auch sinnenbetonten Erlebnisse auf den Workshops (z. B. Faszination durch Sketche, Lieder, Powerpoint-Präsentationen) fand eine Energetisierung der Lern- und Arbeitsgemeinschaft im Sinne einer auch gefühlsmäßigen Beteiligung bzw. »Prozessinvolviertheit« (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 452) statt. Sie ermöglichte Eigeninitiative, Beteiligungskultur und Veränderungsbereitschaft als intrinsische Motivation zur Veränderung, zumal ein positives Commitment gegenüber dem Geschäftsbereich vorhanden war. Die Stärken und Fähigkeiten (= Ressourcen) zur Zielerreichung wurden den Mitarbeitern so bewusst und erlebbar. Im Einzelnen ließen sich folgende Kontrollparameter identifizieren6 : • die »breite und freiwillige Bereitschaft der Mitarbeiter zur Beteiligung«, die sich unter anderem darin ausdrückte, dass die Initiatoren der Projektgruppen sich selbst »Mitstreiter« suchten, • der »Mut zur Veränderung verbunden mit relativ schnell erreichten modellhaft konkreten und guten Ergebnissen«, • eine von Beginn an »positive, kreative Grundstimmung« sowie der »Spaß im Veränderungsprozess aufgrund neuer Interventionsmethoden, die ausprobiert wurden«, • die ständige Anwesenheit des GBL in den gemeinsamen Treffen als Ausdruck der Bedeutsamkeit und Notwendigkeit der Veränderung. Als systemexterner Einflussfaktor wirkte zudem das zunehmende Drängen des Vorstands der Gesamtorganisation auf Wandel angesichts der Konkurrenz in der Umwelt.

3.2.5 Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung anregen Einige Mitarbeiter wichen auf dem zweiten Workshop in ihrem Denken und Handeln vom alten Muster ab, indem sie sich gegenüber den Nennungen von arbeitsplatz- oder abteilungsbezogenen Projektthemen für abteilungsübergreifende bzw. orgaDie Nennungen in Anführungszeichen beziehen sich auf Formulierungen des GBL. 6

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nisationsumfassende Projektthemen entschieden. Auf diesem Workshop übernahmen – gemäß der von den Beratern eingeführten AL-Methode – spontan fünf Mitarbeiter (»Ordnungsbrecher«) aus unterschiedlichen Abteilungen eigenständig, das heißt von sich aus, die Verantwortung für ein selbst gewähltes Projektthema aus dem Pool von Themen, die zuvor in Kleingruppen als zukünftige Herausforderungen erarbeitetet worden waren. Jeder dieser fünf Mitarbeiter suchte und fand weitere Mitstreiter aus unterschiedlichen Abteilungen und Hierarchiestufen des Geschäftsbereichs für die Bearbeitung des jeweiligen Themas – was keineswegs selbstverständlich und so nicht prognostizierbar war. Die folgenden Projekte wurden ausgewählt und in den AL-Gruppen bearbeitet: • Einrichtung eines innerbetrieblichen Infoboards als Datenbank zur Nutzung materiell-räumlicher, technologischer und personeller Ressourcen im gesamten Geschäftsbereich, • Erfassung von Kompetenzprofilen eines Bereichs zur schnelleren Integration neuer Mitarbeiter, • Hospitation und Jobrotation von Mitarbeitern im Geschäftsbereich, um andere Arbeitsfelder und -formen im Unternehmen kennenzulernen, • »Öffentlichkeitsarbeit«, um offensiv mit einem gemeinsamen Profil »am Markt« aufzutreten, • Ausweitung von Kontaktladen-Angeboten in anderen Bezirken der Stadt. Es gab durchaus Faktoren, die sich auf den Veränderungsprozess abschwächend/»dämpfend« hätten auswirken können, die im Laufe des Prozesses jedoch an Bedeutung verloren. Hierzu gehörte das anfängliche Misstrauen einiger : In einem rückblickenden Interview äußerte ein Mitarbeiter seinen anfänglichen Eindruck, es könne sich bei dem OE-Prozess um »Spielchen« handeln. Der Betriebsrat signalisierte anfangs Bedenken, die er aber nicht öffentlich, sondern nur gegenüber den OE-Beratern formulierte: Er hielt andere als die für die AL-Gruppen ausgewählten Themen für wichtiger und sah sich eventuell als Alleinvertreter solcher, insbesondere organisationsumfassenden Initiativen; er arbeitete später aber intensiv mit. Bei der Wür© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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digung der Ergebnisse der AL-Gruppen gesteht der GBL später, dass er anfangs einige der abteilungsübergreifenden Themen »nicht so prickelnd« fand. Er zeigte sich jedoch beeindruckt von den Ergebnissen.

3.2.6 Symmetriebrechung unterstützen Die in der AL-Arbeit gezeigte Eigeninitiative einzelner Mitarbeiter im Sinne des selbstorganisierten Handelns wurde durch die Resonanz bei anderen Mitarbeitern sozial verstärkt. Diese kreiskausale Rückkoppelung gilt als der kleinste Baustein von Selbstorganisationsprozessen auf der individuellen Ebene (vgl. Grawe, 2000, S. 454 ff.). Diese Symmetriebrechung wurde auf der Gruppenebene fortgesetzt durch die selbstständige, effektive Zusammenarbeit innerhalb der abteilungsübergreifend zusammengesetzten Projektteams (was nicht selbstverständlich und so nicht prognostizierbar war). Die Ergebnis- und Umsetzungspräsentationen auf den Workshops 3 und 4 wurden von der übrigen Mitarbeiterschaft und dem GBL/Leitungsteam anerkannt und positiv gewürdigt, was wiederum eine Verstärkung darstellte.7 Der »Aufbruch« zum neuen Muster der abteilungsübergreifenden Kooperation wurde durch beide OE-Berater (z. B. durch die Beratung der AL-Gruppensprecher) und einen vorbildlichen Support durch den GBL bzw. das Leitungsteam unterstützt. Die häufige und hilfreiche Anwesenheit des GBL auf den Sitzungen der AL-Gruppensprecher (s. Abb. 2, Prozessarchitektur I), seine schnellen Entscheidungen über die Vorschläge der AL-Gruppen, die von ihm ausgestrahlte herausragende Kultur der Anerkennung der Leistungen der AGs auch auf den Workshops, seine Übernahme von Verantwortung für die Umsetzung einiger Vorschläge beförderten die Symmetriebrechung und trugen ebenfalls zur Verstärkung der neuen Strategien und Verhaltensweisen der Mitarbeiter bei. Unterstützt wurde der Veränderungsprozess auch durch den Qualitätsbeauftragten und den Leiter der Gesamteinrichtung. Sie gaben Rückmeldung und signalisierten Zustimmung. Ein Projekt musste allerdings aus Mangel an verfügbaren Mitarbeitern eingestellt werden. 7

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3.2.7 Re-Stabilisierung sichern Durch die Fortsetzung der erfolgreichen Arbeit der AL-Gruppen in einer zweiten Runde mit fünf neuen abteilungsübergreifenden Arbeitsgruppen des Zukunftszirkels, in denen 29 Mitarbeiter aktiv waren, wurde die Integration des neuen Musters in die Organisationskultur und -struktur, das heißt, die Re-Stabilisierung im Sinne eines organisationsinternen Transfers erreicht. Die Zukunftszirkel arbeiteten nach denselben AL-Prinzipien (die vom GBL berufenen Leiter suchten quer zu den Abteilungen freiwillige Mitstreiter etc.). Darüber hinaus fungierten die Leiter des Zukunftszirkels als offizielles Beratungsgremium für die Geschäftsleitung. Sie legten dem Leitungsteam des Geschäftsbereichs einen schriftlichen Abschlussbericht über ihre Projekte vor. Der gelungene Ordnungsübergang bzw. die Integration des neuen Musters der abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit in die Organisationskultur illustriert folgendes Zitat aus einem Interview mit den ZuZi-Leitern über ihren Lernprozess. »Für mich hat es ein tiefes Nachdenken über den Geschäftsbereich bewirkt, und meine eigene Verbundenheit hat sich noch mal gestärkt. Man merkt, dass es so viele Möglichkeiten gibt, sich einzubringen, sich zu entwickeln […] wo man nicht nur über sich oder sein Projekt nachdenkt, sondern auch für viele andere Mitarbeiter. Außerdem habe ich gelernt, zielorientiert Zeitabschnitte abzustecken, Inhalte abzuarbeiten – eben ganz strukturiertes Arbeiten«.

Im Sinne der von den Projektleitern und dem Leitungsteam gewünschten Nachhaltigkeit (vgl. Binder, 2007) bzw. Verstetigung der durch den OE-Prozess ausgelösten Dynamik (»Bewegung institutionalisieren«, »Bugwelle vor uns weitertreiben«) über das offizielle Ende der OE hinaus, wurden durch Moderation der Berater auf einer halbtägigen Sitzung vielfältige Ideen zur gewünschten Nachhaltigkeit diskutiert (wie Klausurtage, kleine Workshops oder eine Stabsstelle »Ideenmanager«, um die Bewegung am Laufen zu halten). Ausgewählt wurde schließlich ein Entwicklungstag (»E-Day«). Vor dem jährlichen Sommerfest sollten neue, brennende Veränderungsbedarfe im Unternehmen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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kurz vorgestellt und personelle Verantwortlichkeiten für die Umsetzung beschlossen werden. Da die Durchführung des EDays, unter anderem aufgrund der Belastung des GBL, nicht optimal realisiert werden konnte, wurde auf Initiative einer Mitarbeiterin für sie die Funktion eines »IBM« (= Innovationsund Beteiligungsmanagement) mit einem begrenzten Stundendeputat eingerichtet und ihre OE-Ausbildung von der Firma finanziell unterstützt.

3.2.8 Resonanz beachten, Synchronisation herstellen Bei dem beraterischen Vorgehen fand eine Abstimmung mit dem GBL und dem Leitungsteam auf »gleicher Wellenlänge« statt. Die Workshops, deren genaue Abfolge (s. Abb. 2, Prozessarchitektur I) vorher im Detail niemand geplant hatte oder hätte planen können, wurden zunehmend gemeinsam konzipiert (vor allem mit dem GBL und Mitgliedern aus den verschiedenen Arbeitsgruppen). Für die Resonanz war zum Beispiel auch wichtig, die durchgeführten Workshops in einem angemessenen zeitlichen Abstand zu platzieren. Die kognitive und emotionale Passung im Sinne einer für diese Organisation angemessenen Verarbeitungstiefe wurden durch die Lebendigkeit der Kommunikation und die Lust auf Lernen auf den erlebnisintensiven Workshops unterstrichen – sowohl durch spielerisch anregende Übungen vonseiten der Berater als auch anspruchsvolle Powerpointpräsentationen, Sketche, vorgetragene Lieder, Bilder und Kurzvorträge durch Mitglieder der AL-Gruppen und des Zukunftszirkels bei der Präsentation ihrer Projektideen und Ergebnisse. Insgesamt wurden durch unterschiedliche Interventions-Methoden unterschiedliche Sinneskanäle bzw. »states of mind« der Beteiligten angesprochen. Die Aufnahmebereitschaft auf den Workshops durch Mitarbeiter, die nicht aktiv in die Projekte eingebunden waren, wurde auch durch deren konkreten Nutzen für die Klienten/Kunden, den Geschäftsbereich und den eigenen Arbeitsalltag gefördert. Durch den starken Praxisbezug und das Bearbeiten konkreter Themenstellungen bzw. Erprobungen im Berufsalltag wurden das Gesamtdesign des Veränderungsprozesses und die Maßnahmen im Einzelnen als stimmig von den Mitarbeitern wahrgenommen. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Neben der selbstständigen Arbeit der Mitglieder in den ALGruppen konnten deren Sprecher/Leiter ihre Erfahrungen in Sitzungen austauschen (s. Abb. 2, Prozessarchitektur I), die von einem der OE-Berater moderiert wurde. Die Sprecher/Leiter der Gruppen erhielten auch zum richtigen Zeitpunkt von einem der Berater eine kurze Einführung in die zentralen Elemente/Tools des Projektmanagements (Ziel-, Projektstruktur- und Ablaufplan). Durch diese gemeinsamen Werkzeuge und begleiteten Treffen der Gruppensprecher bzw. -leiter konnte die Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Projektteams synchronisiert, das heißt gut inhaltlich, methodisch und zeitlich aufeinander abgestimmt werden. Durch gegenseitige Unterstützung war der »gute Draht« innerhalb der AL-Gruppe gut spürbar. Ausgewählte Zitate aus dem Video über den Workshop 4 belegen das. Legt man die Erfolgskriterien von »Grad der Zielerreichung« und »Zufriedenheit der Mitarbeiter« (vgl. Greif, 2008, S. 49) sowie »Sorge für eine Nachhaltigkeit« zugrunde, so kann man bei diesem OE-Fall von einem erfolgreichen (End-)Ergebnis bzw. Outcome sprechen.8

3.3 Systemmodellierung mit Einflussanalyse (OE-Prozess I) Die Systemmodellierung dient innerhalb des »Synergetischen Prozessmanagements« vor allem als Methode der Datenerhebung und Informationsverarbeitung sowohl zur Modellierung einer Ausgangssituation (vgl. Schiepek, 1986, S. 88; Haken u. Schiepek, 2010, S. 442, 633; Paukert, 2011) als auch zur Feststellung von Veränderungen gegen Ende einer Therapie (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 435 f.). Wir benutzen im Folgenden die Systemmodellierung, um den Selbstorganisationsprozess über den gesamten Zeitraum einer OE zu veranschaulichen 8

Zu Feststellung und Bewertung von »Erfolg« siehe Schiersmann und Thiel, 2011, Kapitel 5.3.6. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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(s. Abb. 3a). Der Vorteil dieser Methode9 besteht darin, dass sie aufgrund des systemischen Ansatzes nicht isoliert und additiv einzelne Einflussfaktoren bzw. Konkretisierungen einzelner generischer Prinzipien identifiziert, sondern das relationale Zusammenspiel, die Wechselwirkungen und Rückkoppelungen zwischen verschiedenen Elementen bzw. Prozessen in einem komplexen, dynamischen System fokussiert. Vor dem Hintergrund der Analyse des Veränderungsprozesses durch die generischen (Wirk-)Prinzipien bzw. Erfolgsfaktoren (s. Kap. 3.2) werden zuerst Einflussfaktoren auf die Zielerreichung (s. Element 1) zusammengetragen, wegen der Überschaubarkeit die wichtigsten sieben bis zehn ausgewählt und daraus dann das Wirkungsnetz modelliert, indem zwischen den benannten Elementen »Wirkungsbeziehungen« (s. Pfeilrichtung), deren »Wirkungsintensität« (= Stärke des Pfeils) und »Wirkungsart« (Plus- oder Minuszeichen) bestimmt werden. Beim Letzteren bedeutet ein Plus (+) im Pfeilkopf eine »gleichgerichtete« Wirkung (Je mehr von dem einen … desto mehr von dem anderen bzw. je weniger … desto weniger). Ein Minus (–) bedeutet eine »entgegengerichtete« Wirkung (Je mehr … desto weniger bzw. je weniger … desto mehr). Ein Beispiel für die gleichgerichtete, verstärkende Wirkung (s. Abb. 3a): Das Element 5 (Unterstützung durch die Leitung) hat einen verstärkenden Einfluss (= Pluszeichen +) mittlerer Wirkungsintensität auf das Engagement der Mitarbeiter auf den Workshops (Element 2), was wiederum kreiskausal die Unterstützung der Leitungsebene positiv beeinflusst. Ein Beispiel für die entgegenrichtete, abschwächende Wirkung: Je angenehmer das »sozial-emotionale Klima« bei allen Begegnungen ausgeprägt ist (Element 4), desto weniger (= Minuszeichen –) wird von den aktiven Mitarbeitern die Mehrbelastung durch die Projektarbeit neben dem Daily Business empfunden (Element 7). Die Systemmodellierung in Abbildung 3a illustriert das synergetische Zusammenwirken der am Veränderungsprozess beteiligten »Elemente« und gibt zugleich einen Einblick in das Ausführliche Beschreibung und praktische Illustrationen der Methode siehe Schiersmann und Thiel, 2011, 105 ff. und 274 ff. 9

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Abbildung 3a: Systemmodellierung der OE-Fallstudie I

Abbildung 3b: Einflussanalyse von Fallstudie I

Zusammenspiel wichtiger Wirkprinzipien bzw. Erfolgsfaktoren: Das durch die Methoden der Großgruppenverfahren geförderte Engagement der Mitarbeiter auf den fünf Workshops (Element 2) hat die Motivation zur Eigeninitiative einzelner Mitarbeiter, ihr © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Engagement für den Betrieb ermöglicht (Element 3). Deren durch das AL-Verfahren unterstützte Aktivität im Hinblick auf innovative abteilungsübergreifende Themen traf auf Resonanz bei anderen und wurde wiederum verstärkt durch das selbstständige Finden weiterer aktiver Mitstreiter (Element 2). Die produktive, durch PM-Tools geförderte Zusammenarbeit in den Projektteams (Element 1) wurde durch positive Rückmeldungen von anderen Mitarbeitern (Elemente 2 u. 3) und dem GBL (Element 5) unterstützt (z. B. bei der Darstellung von Zwischenergebnissen auf den Workshops 4 u. 5) sowie von den Beratern (Element 6). Dieses positive Zusammenspiel/-wirken beflügelte wiederum andere Mitarbeiter zur freiwilligen Teilnahme und hoch motiviertem Engagement auf den Workshops (Element 2) usw. Durch diese »kreiskausalen, also auf sich selbst zurückwirkenden Prozesse« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 61) wurden verteilt operierende Systeme aufeinander bezogen – zum Beispiel Personen und Gruppen mit ihren methodisch basierten Aktivitäten und realisierten Wirkprinzipien/Erfolgsfaktoren. So entwickelte sich im dynamischen Zusammenspiel über diesen betrachteten Zeitraum des OE-Prozesses ein neues Ordnungsmuster – das abteilungsübergreifende Zusammenarbeiten in der Organisation. Das hat niemand allein – weder der GBL noch die Berater – verursacht, sondern das Zusammenspiel der »Elemente«, durch die zugleich die Wirkprinzipien realisiert wurden (z. B. Symmetriebrechung und Re-Stabilisierung). Neben technischen Möglichkeiten der Veranschaulichung dieser Zusammenhänge durch ein Softwareprogramm (hier durch die GAMMA-Software10 ; vgl. auch Consideo Modeler, das »Sensitivitätsmodell« nach Malik, 2011, S. 317 ff.) können diese Elemente (die Stärke ihrer Einflussnahme und Beeinflussung) im Hinblick auf eine Einflussanalyse quantitativ verrechnet werden. Die graphische Darstellung der Einflussanalyse erfolgt in vier Quadranten (z. B. rechts unten der »aktive«, links oben der »passive«). Abbildung 3b illustriert einerseits die starke Ein»GAMMA – Ein PC-Werkzeug für Vernetztes Denken«. Ein Produkt der UNICON Management Development GmbH (Vertrieb über TERTIA Edusoft GmbH Tübingen). 10

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flussnahme durch die Unterstützung der Leitung (Element 5) sowie das Engagement der Mitarbeiter auf den Workshops (Element 2) und andererseits die Tatsache, dass beide Elemente wiederum von anderen beeinflusst werden – ein Hinweis auf ein ausgewogenes Zusammenwirken zwischen eher Einfluss nehmenden und eher beeinflussten Elementen. Der bei diesem OE-Fall I aus Sicht von Beratern und Beratungsforschern zugrunde gelegte Erhebungsbogen mit den konkretisierten generischen (Wirk-)Prinzipien (s. Kap. 3.2) sowie die im Anschluss konstruierte Systemmodellierung mit Einflussanalyse (s. Abb. 3a und 3b) können mehrere Funktionen erfüllen: Zum einen wird das Zusammenwirken der Elemente (indirekt auch der generischen Prinzipien) als Selbstorganisationsprozess des Systems über den gesamten Zeitraum veranschaulicht. Dieses empirische Vorgehen kann eine Anregung für die Selbstreflexion des/der Berater(s) sein (»Gemessen an dem Zusammenwirken der Elemente und Einflussfaktoren ist unsere Rolle als Berater doch begrenzt. Welche generischen Prinzipien habe ich bzw. wir zusammen realisieren können? Wo bin ich/sind wir an Grenzen der Beeinflussung gestoßen«?). Zum anderen kann eine Systemmodellierung zu verschiedenen Zeitpunkten und Phasen eines OE-Prozesses – wenn auch häufig sehr zeitaufwendig – zusammen mit den Führungskräften und/oder aktiven Mitarbeitern (z. B. des Projektteams) erstellt werden. Die gemeinsame Konstruktion eines solchen Netzwerkes – zum Beispiel als Grundlage für die Planung der nächsten Schritte – ist nach unseren Erfahrungen zugleich ein ideales Training in das vernetzte, systemische Denken und Handeln. Damit kann ein Stück weit eine »Co-Produktion zwischen Praktikern und Forschern« (Haubl, 2009, S. 360) eingelöst werden.

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4 Abteilungsübergreifendes Lernen in einem Medienunternehmen (OE-Fallstudie II) 4.1 Charakteristik des Unternehmens und Verlauf der OE-Aktivitäten In dieser Fallstudie II zur empirischen Analyse eines OE-Prozesses geht es um ein gewerbliches Medienunternehmen, das sowohl Printmedien (z. B. Bücher, Zeitschriften) als auch elektronische Medien (z. B. CD, DVD) herstellt und vertreibt. Das Unternehmen unterlag seit den 1990er Jahren einem ständigen Innovations-, Wettbewerbs- und Kostendruck. Den Anlass für die circa einjährige OE bildete die Unzufriedenheit mit der Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen Marketing und Redaktion. Beide Abteilungen hatten insgesamt 180 Mitarbeiter. Das Ausbildungsniveau in der Organisation wurde von der Leitung als hoch beschrieben. Positiv wurde in einem ersten Akquisitionsgespräch auch die niedrige Fluktuation der Mitarbeiter hervorgehoben. Lern- bzw. Weiterbildungsangebote konzentrierten sich allerdings bis zu diesem Zeitpunkt auf die oberen Führungsebenen, und es wurde konstatiert, dass Weiterbildung häufig durch aktuelle Ereignisse »torpediert würde«, da letzteren der »Vorrang einzuräumen« ist. Dieses sollte sich als eines der durchgängigen Muster in der Organisation herausstellen, das auf den Verlauf und das Ergebnis des Beratungsprozesses einen großen Einfluss ausübte. In der folgenden Fallrekonstruktion des Beratungsprozesses werden drei plausibel abgrenzbare Phasen unterschieden (s. Abb. 4: Prozessarchitektur II, s. Kap. 2.3.2): • Phase 1: Von der Akquisition bis zur Kick-off-Veranstaltung • Phase 2: Planung eines abteilungsübergreifenden Workflows • Phase 3: Umsetzungsentscheidung und »Versanden« des Transfers Es werden für jede Phase zunächst die OE-Aktivitäten beschrieben, die in der Prozessarchitektur II dargestellt sind. Anschließend wird jede der drei Phasen anhand der generischen Prinzi© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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pien in Form des Erhebungsbogens dokumentiert und analysiert sowie für jede Phase eine Systemmodellierung mit Einflussanalyse vorgestellt.

Abbildung 4: Prozessarchitektur II: OE in einem Medienunternehmen

Bei dieser synergetischen Fallrekonstruktion II eines OE-Prozesses wird insbesondere die Bedeutsamkeit des starken Einflusses der »geronnenen Systemgeschichte« (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, Animation 35) der fokussierten Abteilungen bzw. der »Organisationsbiographie«/Unternehmenskultur sowie der sich häufig verändernden bzw. verschärfenden system- und/oder organisationsexternen Rand-/Umweltbedingungen auf den Selbstorganisationsprozess und das Ergebnis dieser OE illustriert. Diesen OE-Fall II betrachten die Autoren aus der Perspektive von Beratungsforschern. Sie hatten dem Berater den Auftrag vermittelt. Der Berater kam ursprünglich aus der klassischen Unternehmensberatung, die sich eher als Expertenberatung charakterisieren lässt, und hatte anschließend eine OE-Fortbildung absolviert. Durch unseren Kontakt zum Berater haben wir Zugang zu folgenden Informationen und Daten, die die Grundlage der folgenden Darstellung bilden: Dokumentationen des © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Unternehmens, Gespräche mit dem Berater, Ergebnisse einer Befragung, Audio- und Videomaterial.

4.2 Phase 1: Von der Akquisition bis zur Kick-off-Veranstaltung Es fand ein Akquisitionsgespräch zwischen der Leiterin der Personalentwicklungsabteilung (PE), den beiden Abteilungsleitern (AL) von Marketing und Redaktion, die den Anlass für die OE bildeten, und dem Berater statt. Bei diesem Gespräch wurde als Ziel des OE-Prozesses herausgearbeitet, dass die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit zwischen Redaktion und Marketing optimiert werden müsste. Ein halbes Jahr zuvor hatte in Eigenregie ein Großgruppenverfahren stattgefunden, und zwar ein World Caf mit allen Mitarbeitern dieser beiden Abteilungen. Unter der Moderation der PE-Leiterin hatten Mitarbeiter aus den beiden genannten Bereichen des Medienunternehmens einen Verbesserungsbedarf in der Zusammenarbeit festgestellt. Äußerungen der Beteiligten waren zum Beispiel »niemand kontrolliert den Informationsfluss«. Außerdem wurde die »Disziplin der Redakteure« hinterfragt und gefordert, »neue Produktgruppen« zu schaffen. Das World Caf hatte einen Energieschub bewirkt. Da nach diesen Anregungen monatelang keinerlei Umsetzung durch eine freiwillige Initiativgruppe erfolgte, nahmen die PE-Leiterin und die verantwortlichen Führungskräfte die formulierten Verbesserungsbedarfe zum Anlass, ein Projekt zur Optimierung der Zusammenarbeit zu initiieren. Dieses sollte von einem externen Berater begleitet werden – unterstützt durch die interne PE. Die geplante externe Begleitung zur Optimierung der Zusammenarbeit zwischen zwei Abteilungen stellte ein Novum in diesem Unternehmen dar. Durch diese Maßnahme erhoffte sich die Unternehmensleitung eine stärkere »Eigenmotivation« und »Leidenschaft« der Mitarbeiter, um »die Besten am Markt zu werden«. Es ginge in dem Geschäft um »Vernetzung und Geschwindigkeit am Markt«. »Aufgrund des hohen Zeitdrucks finden Prozessüberprüfungen nur im Störfall statt.« »Hauptsache, es läuft.« Es sollte allerdings vonseiten des Beraters kein © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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»Konfliktmanagement« oder gruppendynamische »Selbsterfahrung« betrieben werden (»Wir haben keine Konflikte«). Der von dem Berater im Akquisitionsgespräch geäußerten These, das »Wir-/Abteilungsdenken« könnte auch ein Muster der Gesamtorganisation sein, wurde von der PE-Leiterin und den beiden ALs zugestimmt. Der Berater präsentierte auf der zweiten Sitzung der inzwischen konstituierten »Steuerungsgruppe« (StG)11 (bestehend aus der PE-Leiterin, den beiden ALs sowie zwei weiteren Mitarbeitern aus beiden Bereichen) ein ausgefeiltes Design zum geplanten Projektverlauf über den Zeitraum von etwa einem dreiviertel Jahr. Die im Anschluss gegründete Projektgruppe (PG) bestand aus fünf Mitarbeitern aus beiden Abteilungen. Auf der Kick-offVeranstaltung (s. Abb. 4) mit allen Mitarbeitern aus beiden Abteilungen und der PE-Leiterin wurden insbesondere Informationen über das Vorhaben vermittelt, Fragen geklärt und Themen ergänzt (z. B. das Thema »Wertschätzung«).

4.2.1 Analyse des Veränderungsprozesses in der Phase 1 Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse schaffen Im Rahmen des Akquisitionsgesprächs und der ersten Sitzung der Steuerungsgruppe wurde strukturelle Sicherheit für den Veränderungsprozess dadurch geschaffen, dass sich der Berater und die beteiligten Mitarbeiter über folgende Punkte verständigten: Als Anliegen/Thema der Beratung wurde die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen Marketing und Redaktion vereinbart. Als Beratungszeitraum wurde ein Jahr festgelegt. Es wurden die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit geklärt. Hierzu zählten die Einrichtung einer Steuerungs- (StG) und einer Projektgruppe (PG). Der vom Berater vorgelegte zeitliche und inhaltliche Gesamtplan wurde akzeptiert. Die Rolle des Beraters wurde geklärt: Er verstand sich 11

Eine solche Steuerungsgruppe – manchmal auch Lenkungs-, Koordinierungs- oder Entwicklungsgruppe genannt – ist als Brücke zwischen dem zu verändernden System und der bestehenden Organisationsstruktur typisch für die OE (vgl. Schiersmann u. Thiel, 2011, S. 34 f.). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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als Prozessgestalter/-begleiter und moderierte die Treffen der StG und der PG. Er wurde durch die Leiterin der PE unterstützt. Obwohl das vorangegangene World Caf beim Start der OE schon circa ein halbes Jahr zurücklag, wurde versucht, an die dort erarbeiteten Stärken und Wünsche im Sinne einer Selbstwertunterstützung anzuknüpfen. Zwischen dem Berater und den beteiligten Mitarbeitern entwickelte sich ein Verhältnis, das durch gegenseitigen Respekt und Vertrauen charakterisiert war und somit ein Stück emotionale Sicherheit vermittelte. Das System und dessen Muster identifizieren Das zu beratende System umfasste zwei Abteilungen des Medienunternehmens, die der Redaktion und die des Marketings. Vorherrschende Muster des Denkens, Erlebens und Handelns ließen sich daran festmachen, dass beide Abteilungen über zu wenig Zeit klagten, in beiden Abteilungen ein ausgeprägtes »Wir-/Abteilungsdenken« vorhanden war und es eine tendenzielle Dominanz der Redaktions- gegenüber der Marketingabteilung gab. Diese drückte sich nicht nur im Gehaltsniveau aus, sondern einige Redakteure betrachteten sich als die Qualifizierteren und umgaben sich mit einer gewissen »Künstler«-Attitüde. Auch die Tatsache, dass sie im Vergleich zum Marketingbereich häufig projektbezogen vorübergehend an unterschiedlichen Einsatzorten im Bundesgebiet tätig waren, verschaffte ihnen einen höheren Status, erschwerte aber zugleich einen intensiveren Austausch zwischen den beiden Abteilungen, so dass ein stabiler Zusammenhalt bzw. eine gemeinsame Kultur fehlte. Außerhalb des betrachteten Systems herrschte im Unternehmen ein hoher Kosten- und Zeitdruck, der auch auf beide Abteilungen »abfärbte«. Visionen und Ziele entwickeln, Sinnbezug herstellen Die Zielvorstellungen der Führung konzentrierten sich auf das Lernarrangement einer arbeitsplatznahen »Inter-Teamentwicklung« vor Ort. Die beteiligten Mitarbeiter akzeptierten und unterstützten auf der Kick-off-Veranstaltung das Ziel der Verbesserung der abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit, auch wenn es top-down definiert worden ist. Die Ziele der Organisa© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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tion stimmten mit ihren eigenen Interessen/Vorstellungen überein. Energetisierungen ermöglichen, Kontrollparameter identifizieren Vor allem die Leiterin der PE und beide ALs entwickelten ein Bewusstsein von der Dringlichkeit der Veränderung. Sie waren spürbar engagiert und vorwärtstreibend – wohl wissend, dass bei knappen Ressourcen des Unternehmens schnelle Innovationen und eine Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit notwendig waren. Sie forcierten die Kooperation zwischen beiden Abteilungen, betonten ihre Verantwortlichkeiten und setzten für den Prozess klare Rahmenbedingungen: Thematisch sollte an das zuvor stattgefundene World Caf mit dem Ziel einer Verbesserung der Zusammenarbeit angeschlossen werden. Bei der Kick-off-Veranstaltung war die Veränderungsmotivation der Mitarbeiter auf allen Hierarchieebenen spürbar. Anregende Faktoren von außen zur Veränderung des Systems waren insofern zu verzeichnen, als die Direktionsebene, in deren Auftrag die PE-Leiterin handelte, dieses Vorhaben unterstützte – vor allem aufgrund des Optimierungsdrucks und der knappen Ressourcen im Gesamtunternehmen. Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung anregen Von den ALs wurde die zu bearbeitende Thematik einer Ablaufoptimierung zwischen beiden Bereichen als Anschluss an das World Caf, die zeitlich-inhaltliche Planung, ihre Entscheidungshoheit (z. B. über Projektziele, -inhalte und -struktur), die personelle Zusammensetzung sowie der Start der neu gegründeten, abteilungsübergreifenden Projektgruppe (PG) und die begleitende Unterstützung durch den Berater »festgeklopft«. Die PE-Leiterin sollte den OE-Prozess aktiv begleiten und wollte bei den folgenden Sitzungen der PG in der Regel anwesend sein. Die Kick-off-Veranstaltung hat durch Vermittlung wichtiger Informationen, anderer Blickwinkel und nächster Schritte für die Mitarbeiterschaft die Perspektive einer notwendigen Zusammenarbeit bestätigt (als »Schritt nach vorn« und »Schritt in die Breite«). Die StG und PG wollten Rahmenbedingungen für das Projekt und das Procedere ihrer Treffen konkret ausarbeiten und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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stimmten dem Planungsentwurf des Beraters zu. Er beinhaltete verschiedene Phasen mit jeweiligen Milestones (z. B. Kick-off, Analyse und Planung, Abstimmung und Umsetzung), auf denen Zwischenergebnisse den Entscheidern präsentiert werden sollten. Dieses wurde so von der Leitung akzeptiert und konnte als erstes, klares Indiz der Destabilisierung des »alten Musters« (eines getrennten Marschierens und der Konzentration auf die je eigene Abteilung) angesehen werden. Allerdings wurde die Fluktuationsverstärkung durch system- und organisationsexterne Einflussfaktoren insofern »gedämpft«, als der hohe Zeitdruck des »Daily Business« im Unternehmen immer Vorrang hatte. Da von einer Symmetriebrechung oder gar Re-Stabilisierung in dieser Phase 1 noch keine Rede sein kann, werden diese generischen Prinzipien hier übergangen. Resonanz beachten, Synchronisation herstellen Die Arbeit in der StG und PG konzentrierte sich auf eine kognitivsachliche und verhaltensorientierte Ebene, was durch den detaillierten Entwurf einer zeitlichen und inhaltlichen Planung durch den Berater für die nächsten Monate seinen symbolischen Ausdruck fand. Da nach dem vorangegangen, energetisierenden World Caf (ein halbes Jahr zuvor) zu demselben Thema trotz Verabredung nichts unternommen wurde und inzwischen der Wettbewerbsdruck im Unternehmen spürbar zugenommen hatte, war diese Fokussierung verständlich. Der Berater unterstützte das Vorhaben – wie auch insbesondere die ALs – durch eine sachliche und methodische Strukturierung. Das Interventions-Design und methodische Einzelverfahren entsprachen – aus der Perspektive des Beraters – der aktuellen Aufnahmebereitschaft und Verarbeitungstiefe der Beteiligten. Die emotionale Seite des bisherigen Musters wurde auf der Kick-off-Veranstaltung, die eine Aufbruchphase im Sinne der Energetisierung (»frischer Wind«) darstellte, unter dem Label »Wertschätzung« nicht von der StG oder PG, sondern von den übrigen Mitarbeitern thematisiert. Die Interventionsmethode einer Konfliktbearbeitung wurde bei der Auftragsklärung insbesondere von den ALs dezidiert ausgeschlossen. Die ausgewählten Methoden des OE-Beraters (z. B. transpa© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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rentes Vorgehen durch Moderationstechniken, Prozessmanagement-Know-how bei der Planung, Realisierung von OE-Prinzipien wie Einrichtung einer StG, Beteiligung der Mitarbeiter) und Gesprächsstile (z. B. Strukturierung des Auftragsklärungsgesprächs, bildliche Sprache, Hypothesenbildung) setzten Wirkprinzipien um, die vor allem zur Schaffung von Stabilitätsbedingungen für einen Veränderungsprozess (z. B. Orientierung an und Respekt vor den Kompetenzen der Mitarbeiter) und zur Destabilisierung des alten Musters beitrugen.

4.2.2 Systemmodellierung und Einflussanalyse zu Phase 1 Die Systemmodellierung (Abb. 5a) und Einflussanalyse (Abb. 5b) weisen darauf hin, dass – im Hinblick auf das Ziel dieser ersten Phase, nämlich das Commitment für eine Ablaufoptimierung zwischen beiden Abteilungen (Element 1) – insbesondere durch das Engagement der ALs (Element 5), die Aktivität des Beraters (u. a. durch die transparente Verlaufsplanung, Element 7) und der PE-Leiterin (Element 6) befördert wird. Behindert wird der Prozess durch das Muster des Abteilungsdenkens (Element 2) und den zeitlichen Abstand zum World Caf (Element 4), dessen emotionaler Schub auf einem Kick-off als Interventionsmethode, die vorwiegend die Präsentation von Informationen durch die Leitung fokussiert, neun Monate später in der Intensität nicht wiederhergestellt werden kann. Die Erstellung einer solchen Systemmodellierung für diese Phase 1 (mit einer Auswahl von wichtigen Einflussfaktoren, s. Erhebungsbogen in Tab. 2) durch den OE-Berater (oder zusammen mit einem Coach) könnte nicht nur einen systemischen Blick auf das komplexe Geflecht/Netzwerk der interagierenden Einflussfaktoren im Selbstorganisationsprozess ermöglichen, sondern auch zur weiteren Selbstreflexion anregen. Das könnte zu folgenden Hypothesen seitens des Beraters führen und damit die Planung der nächsten Schritte/der nächsten Phase einleiten: »Da Konfliktbearbeitung und Selbsterfahrung nicht gewollt sind, blieb mir nur die sachliche Ebene. Die emotionale Beteiligung der Mitarbeiterschaft beim vorausgegangenen World Caf [aber das ist schon ein dreiviertel Jahr her] ist wohl intensiver gewesen als auf der © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 5a: Systemmodellierung von Phase 1 (OE-Fallstudie II)

Abbildung 5b: Einflussanalyse von Phase 1 (OE-Fallstudie II)

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Heinz-Ulrich Thiel und Christiane Schiersmann Kick-off-Veranstaltung. Diese dient sowieso eher der Informationsvermittlung. Der Schwung der Begeisterung kann hier so nicht wieder ›aufleben‹. Vielleicht hätte ich [OE-Berater] die emotionale Seite der Visionsentwicklung der ALs stärker unterstützen sollen im Sinne der RTSC-Methode12«.

Welche Schritte könnten jetzt – vom Berater oder zusammen mit der StG und/oder PG – aus der Systemmodellierung und Einflussanalyse, die eine sehr starke, aktive Einflussnahme durch die ALs (Element 5) und den Berater (Element 7) in dieser Phase illustriert, für die zukünftige Planung »abgeleitet« werden? Welche generischen Prinzipien müssten durch welche Interventionsmethode mehr Aufmerksamkeit bekommen? Demnächst – so eine mögliche Antwort – müsste mehr Raum für das Erleben der Zusammenarbeit beider Abteilungen und die sinnliche Vorstellung des Nutzens für die Abteilungen und das Unternehmen geschaffen werden. Das könnte die Veränderungsmotivation/die Energetisierung und damit die Destabilisierung stärken. Dazu eignet sich vermutlich das von den Mitarbeitern auf der Kick-offVeranstaltung zusätzlich genannte Beziehungsthema »Wertschätzung«.

4.3 Phase 2: Planung eines abteilungsübergreifenden Workflows Aus der Prozessarchitektur (s. Abb. 4) ist ersichtlich, dass die PELeiterin bereits nach der ersten Sitzung der PG wegfiel – sie verließ das Unternehmen. Sie war die kompetente, einflussreiche, vom Direktorium unterstützte und gut vernetzte Promotorin dieses Projekts. Die PG, die faktisch aus fünf Mitarbeitern aus beiden Abteilungen bestand und nicht immer in gleicher Personalbesetzung tagte, entwickelte in neun zielorientiert verlaufenden Sitzungen über einen Zeitraum von sechs Monaten (s. Prozessarchitektur II) einen abteilungsübergreifenden Work-

12

Siehe Anmerkung 5. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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flow13 als Verbesserungsansatz, der auf zwei workshopartigen Treffen jeweils einem anwesenden AL vorgestellt wurde. Gegen Ende dieser zweiten Phase plante der OE-Berater zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen aus der PE-Abteilung eine MA-Versammlung mit beiden Abteilungen. Dieser Termin wurde unter anderem wegen des Vorrangs des Daily Business auf die Zeit nach der Sommerpause verschoben. Aus der Prozessarchitektur II ist ebenfalls abzulesen, dass die übrige Mitarbeiterschaft in diesen sechs Monaten am Prozess nicht direkt beteiligt war.

4.3.1 Analyse des Veränderungsprozesses in der Phase 2 Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse schaffen Es bestand Übereinstimmung in Bezug auf die Vorgehensweise: Zuerst sollte eine graphische Darstellung des Workflows jeder Abteilung erfolgen. Die Identifikation und Bewertung von kritischen Schnittstellen/Engpässen sollten dann die Eckpunkte der Zusammenarbeit bilden. Die anschließende Entwicklung und Planung eines abteilungsübergreifenden Workflows als Verbesserungsansatz für die Zusammenarbeit geschah in Form einer graphischen Darstellung mittels der Methodik des Prozessmanagements (vgl. Schiersmann u. Thiel, 2011, S. 316 ff.) (einschließlich Zeitschiene, Verantwortlichkeiten) und der Thematisierung der mit der Ausgestaltung der Arbeitsabläufe zusammenhängenden Kommunikations- und Verhaltensfragen (z. B. Informationsfluss). Für diese Arbeiten wurde ein Zeitraum von sechs bis sieben Monaten veranschlagt. Das schaffte strukturelle Sicherheit. Bei der Darstellung ihrer Workflows wurden die Erfahrungen und Kompetenzen der Mitarbeiter der Projektgruppe im Sinne einer Selbstwertunterstützung genutzt. Das Vertrauen zwischen OE-Berater und Mitarbeitern wurde durch eine angenehme Gesprächs- und Arbeitsatmosphäre weiter gestärkt. Zumindest in den ersten drei Sitzungen der PG war eine emotionale Sicherheit/ein Vertrauen vorhanden. Neben der Verbesserung eher ablauforganisatorischer AsEin Workflow beschreibt einen arbeitsteiligen Geschäftsprozess mit seinen Aufgaben, Arbeitsabläufen und Datenfluss. 13

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pekte der Zusammenarbeit hätte das Thema der gegenseitigen Wertschätzung im arbeitsbezogenen Umgang miteinander zur Bearbeitung angestanden. Dazu war geplant, ein anlassbezogenes Gruppencoaching als Kurzzeitintervention mit Mitarbeitern der unterschiedlichen Abteilungen durch die interne PE im Arbeitsalltag durchzuführen. Das System und dessen Muster identifizieren Das Subsystem der PG aus Mitarbeitern der beiden Abteilungen stand im Mittelpunkt des Veränderungsprozesses in dieser zweiten Phase. Das Daily Business beider Abteilungen als vorherrschendes Muster ließ kaum »Zeitoasen« für die Vorbereitung der Projektsitzungen. Es gab zudem eine untergründige Tendenz der Abwertung der Marketingabteilung durch ein Redaktionsmitglied. Er betonte die »Andersartigkeit« und »Unabhängigkeit« der Redakteure gegenüber dem Marketing. Ein system- und organisationsexterner Einflussfaktor bestand darin, dass die Nachfolgerin der langjährigen PE-Leiterin nicht dieselbe Position innehatte und zum Zeitpunkt des OE-Prozesses noch kein »standing« im Unternehmen besaß. Die im Verlauf dieser Phase zurückgehenden Umsätze und Erträge vor allem bei den Printmedien hatten einen spürbar negativen Einfluss auf das Selbstwertgefühl der Mitarbeiter und erhöhten noch den vorhandenen Zeitdruck. Vision und Ziele entwickeln, Sinnbezug herstellen Das Ziel des OE-Prozesses war die Erarbeitung eines Interabteilungs-Workflows als Verbesserungsansatz. Vor allem die StG und die PG sahen in der Aufgabenstellung einen Sinn und Nutzen für die Organisation. Fast alle Mitarbeiter der PG stimmten auch persönlich mit den Zielen überein. Sie wollten circa ein halbes Jahr prozess- und ergebnisorientiert an diesem Vorhaben arbeiten. Energetisierungen ermöglichen, Kontrollparameter identifizieren In unterschiedlicher Intensität war eine Veränderungsbereitschaft vorhanden – insbesondere von Seiten der Mitarbeiter aus der Marketing-Abteilung. Nach sieben Sitzungen der PG traf die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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StG zentrale inhaltliche Entscheidungen. In dieser Phase der Planung einer abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit durch die PG und die StG war die Mitarbeiterschaft nicht beteiligt. Im Vergleich zur ersten Phase fehlte in der zweiten Phase die »mächtige Koalition der Erneuerer« (ALs + PE-Abteilung) als Erfolgsfaktor für Transformationsprozesse (vgl. Kotter, 1995). Als system- und organisationsexterne Einflussfaktoren waren im Verlauf der Phase zwei die aufkommenden Gerüchte um eine freundliche oder feindliche Übernahme des Medienunternehmens zu werten, die die Motivation zur Zusammenarbeit ein wenig »dämpften«. Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung anregen Der Austausch von neuen Informationen in der PG führte im Verlauf der neun Sitzungen zur Identifikation relevanter Schnittstellen für eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen beiden Abteilungen und zu zentralen geplanten Verbesserungsansätzen. Der Blick in die Arbeitsweise der jeweils anderen Abteilung wurde geschärft. Nach dieser Arbeitsphase wurden die Ergebnisse der StG präsentiert. Die ALs trafen vor dem Hintergrund des Projekts eine Entscheidung bezüglich des ausgearbeiteten Interabteilungs-Workflows, des gleichberechtigten Status der beiden Bereiche bei ihrer Zusammenarbeit (z. B. geplante Installation eines »verbundenen Teams« mit verbindlicheren Projektstrukturen und klareren Kommunikationswegen) sowie der Begleitung einer geplanten Pilotphase durch kollegiale Beratung. Mit diesen Plänen für die zukünftige Verbesserung der Zusammenarbeit lagen hinreichend Indikatoren für eine Destabilisierung des alten Musters (»Abteilungsdenken«) vor – aber noch keine »Symmetriebrechung«. Der Weggang der kompetenten und einflussreichen Personalleiterin zu Beginn dieser zweiten OE-Phase, mangelnde Vorbereitungszeit der PG-Mitglieder für die gemeinsamen Sitzungen und Überlastung des OE-Beraters in seiner »Macher-Rolle« »dämpften« die Fluktuation. Für die PG-Sitzungen konnte aufgrund des ungeheuren Zeit- und Erfolgsdruck im Daily Business von den betreffenden Mitarbeitern aus beiden Abteilungen inhaltlich nichts vorbereitet werden. So musste alles direkt auf © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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diesen Sitzungen von je etwa zwei bis drei Stunden erarbeitet werden. Eine kontinuierliche Destabilisierung wurde auch dadurch behindert, dass ein Vertreter der Redaktionsabteilung »skeptisch« auf das Projekt guckte (»Da müssen ziemlich dicke Bretter gebohrt werden«). Dieser Mitarbeiter äußerte unterschwellig abwertende Urteile sowohl in Richtung der Marketingabteilung als auch der Sinnhaftigkeit des Projekts. Dieser leise Widerstand bzw. Konflikt wurde/konnte nicht bearbeitet werden – wurde also verdrängt. Damit war zugleich das Thema Wertschätzung an den Rand gedrängt. Als system- und organisationsexterner Einflussfaktor kam hinzu, dass die Verkaufszahlen in bestimmten Segmenten rückläufig waren. Von einigen Mitarbeitern – insbesondere aus dem Marketingbereich – wurde daher die eigene Arbeitsplatzsituation im Verlauf der zweiten Phase zunehmend als unsicher empfunden – auch angesichts der Gerüchte um eine Übernahme des Unternehmens. Das schmälerte im Hinblick auf das OE-Projekt den nötigen »drive« – bei gleichzeitig finanzbedingter Unmöglichkeit, neue Mitarbeiter einzustellen. Resonanz beachten, Synchronisation herstellen In dieser zweiten OE-Phase gelang die inhaltliche Planung eines Verbesserungsansatzes mithilfe von Tools aus dem Projekt- und Prozessmanagement in Richtung eines neuen Musters auf der kognitiv-behavioralen Ebene. Auch die Visualisierungstechniken und eine transparente Zeitplanung wurden als »Stringenz« des OE-Beraters gewürdigt. Der Berater war mit seinen Methoden ein stabiles Element im Veränderungsprozess, zumal der ungeheure Zeitdruck des Daily Business potenziell die Energie bzw. die Motivationsstärke bei den PG-Mitarbeitern »dämpfte«. Das Interventions-Design und die methodischen Einzelverfahren/ Gesprächsstile entsprachen – aus der Perspektive des Beraters – somit der aktuellen Aufnahmebereitschaft und Verarbeitungstiefe der Beteiligten. Der Berater selbst geriet aber durch die Rahmenbedingungen bzw. Muster in der PG überwiegend in die treibende MacherRolle (z. B. Vorbereitung, Koordination, Strukturierung und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Dokumentation der Sitzungen), wodurch mögliche Selbstorganisationsprozesse beeinträchtigt wurden. Er empfand sich selbst in gewissen Stresssituationen kaum noch als »Lernbegleiter«. Die ALs unterstützten zwar die Richtung der Verbesserungsvorschläge, räumten aber Hindernisse nicht beiseite (z. B. keine Entlastung für die zusätzliche Arbeit in der PG, kein Gespräch mit dem sich kritisch äußernden Mitarbeiter). Da kulturelle Unterschiede zwischen beiden Abteilungen (»Wertschätzung«) ausgeblendet blieben, fehlte eine emotionale Verarbeitungstiefe. Diesen Mangel spürten offensichtlich der Berater zusammen mit zwei PE-Mitarbeitern bei der Vorbereitung der MA-Versammlung am Ende dieser zweiten OE-Phase (s. Prozessarchitektur II), auf der es um die Zustimmung der Mitarbeiter aus beiden Abteilungen zu den erarbeiteten Verbesserungsansätzen und den Start der Pilotphase zur Umsetzung gehen sollte. Sie reflektierten zusammen, wie/durch welche Methoden sich »Bewegung auf der nicht kognitiven Ebene« im Sinne einer »positiven Grundstimmung« bzw. eines »Kick nach vorne einer kritischen Masse« schaffen ließ (= erneute Energetisierung und Fluktuationsverstärkung bis zur Symmetriebrechung). Der Termin für diese Versammlung wurde aber aufgrund von Schwierigkeiten in der Produktion auf die Zeit nach der Sommerpause verschoben.

4.3.2 Systemmodellierung und Einflussanalyse zu Phase 2 Betrachtet man die auf der Analyse durch die generischen Prinzipien aufbauende Systemmodellierung und Einflussanalyse des Selbstorganisationsprozesses von Phase 2 (s. Abb. 6a und 6b), so ergeben sich aus der Rater-/Beratungsforscherperspektive am Ende dieser zweiten Phase einige interessante Einblicke, die auch für die Reflexion des OE-Beraters, seiner Rolle und die Planung seiner nächsten Schritte bedeutsam sein können: Gelungen ist – so könnte die Selbstreflexion des Beraters ergeben – die sachliche Kooperation der PG-Mitarbeiter, das erfolgreiche Erarbeiten eines Konzepts zum Interabteilungs-Workflow und die Vorbereitung der MA-Versammlung in Kooperation mit den PE-Mitarbeiterinnen, auf der auf die emotionale Energetisierung aller Beteiligten und kollektive Zustimmung zu dem Erarbeiteten abgeho© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 6a: Systemmodellierung von Phase 2 (OE-Fallstudie II)

Abbildung 6b: Einflussanalyse von Phase 2 (OE-Fallstudie II)

ben werden soll. Die Stringenz der Planung und die klare Moderationsgestaltung als Interventionsmethode hat das unterstützt. Deutlich können die kreiskausalen Zusammenhänge/das komplizierte Zusammenwirken von Einzelfaktoren werden (PE© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Leiterin verlässt das Unternehmen, ALs beseitigen nicht die Hindernisse, keine Zeit der PG-Mitglieder zur Vorbereitung ihrer Sitzungen, Gerüchtebildung über eine feindliche Übernahme des Medienunternehmens, Sparzwänge unter anderem wegen des Umsatzrückgangs in bestimmten Sparten). Beispiele für TeilZusammenhänge: der Wegfall der Unterstützung durch die PELeiterin (Element 7) und die mangelnde Zeit der PG-Mitarbeiter für die Sitzungsvorbereitung (Element 2) erhöhen den Aufgabenund Zeitdruck auf den Berater (Element 4), der nur durch die Kooperation mit den beiden PE-Mitarbeiterinnen (Element 5) und Fortschritte beim Erstellen der Verbesserungsansätze (Element 1) gemildert wird. Der Zeitdruck des Beraters (Element 4) und die mangelnde Thematisierung von »Wertschätzung« zwischen den Abteilungen (Element 9) verhindern die Bearbeitung vorhandener Konflikte (Element 8) – zumal die ALs hier nicht ihre Verantwortung wahrnehmen (Element 6). Es scheint ein Stück »geronnene Systemgeschichte« und eventuell auch »Organisationsbiographie« als sich wiederholendes Muster darin zu stecken, dass Konflikte und unterschiedliche Interessen eher nicht thematisiert werden (z. B. Abwertung einer Abteilung). Die Nennung prekärer Terminsituationen und die häufige Betonung des Daily Business könnten gelegentlich auch die Funktion einer Folie für die »Nichtauseinandersetzung« mit schwierigen Situationen haben. Der OE-Berater gerät selbst in das Unternehmensspiel des Zeitdrucks und der Vermeidung eines Konfliktmanagements. Was wäre als nächster Schritt denkbar, wenn man auch die Einflussanalyse (s. Abb. 6b) einbezieht? Die aktiven Elemente (rechter unterer Quadrant), bei denen die Einflussnahme auf andere Faktoren im System hoch und die Beeinflussung durch andere vergleichsweise gering ist, spielen bei der Entwicklung von Lösungsstrategien bei dieser Methode eine wichtige Rolle. Es ist einleuchtend, dass wahrscheinlich stärkere Veränderungen im ganzen System erzeugt werden, wenn ein aktives Element verändert bzw. verstärkt wird. Könnte der OE-Berater die beiden ALs – oder zumindest den Vorgesetzten des Redaktionsmitglieds – auf ihre Verantwortung für die »Beseitigung« dieses Hindernisses hinweisen sowie auf die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Notwendigkeit eines besseren personellen Supports (z. B. für die Sitzungsvorbereitungen)? Das könnte zugleich den kritischen Zeitdruck und die Aufgabenvielfalt des Beraters mindern. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, zukünftig stärker auf den gemeinsamen Nutzen der Zusammenarbeit zwischen beiden Abteilungen als Zielantizipation abzuheben. Eventuell ist ein Neuaushandeln des Auftrags nötig, indem mit guten Gründen die Konfliktebene – im Zusammenhang mit dem kritischen Thema »Wertschätzung« – doch von dem Berater thematisiert werden darf.

4.4 Phase 3: Umsetzungsentscheidung und »Versanden« des Transfers Auf der MA-Versammlung zu Beginn der dritten Phase (s. Prozessarchitektur II) wurden den Mitarbeitern beider Abteilungen die Verbesserungsansätze vorgestellt, gemeinsam diskutiert und in Anwesenheit beider ALs die Umsetzungsentscheidung getroffen. Nach dieser MA-Versammlung war die OE-Beratung – wie geplant – offiziell beendet. Danach konnte die Pilotphase mit kollegialer Beratung beginnen, die die Chance bot, durch wiederholte Anwendung des Interabteilungs-Workflows das neue Muster sogar zu restabilisieren.

4.4.1 Analyse des Veränderungsprozesses in der Phase 3 In Bezug auf die generischen Prinzipien 1 – 3 sind keine gravierenden Veränderungen zu konstatieren. Daher wird auf sie nicht noch einmal eingegangen. Energetisierung ermöglichen, Kontrollparameter identifizieren Nach der vergleichsweise langen Planungsphase (s. Phase 2) mit einer kleinen Auswahl von Mitarbeitern (= ca. 5 % der Mitarbeiter) waren zu Beginn der dritten Phase erneut alle Mitarbeiter beider Abteilungen anwesend und auch emotional beteiligt. Ihre Veränderungsmotivation war spürbar gestärkt. Die große Zustimmung zu den Verbesserungsansätzen vonseiten der Mitarbeiterschaft beider Abteilungen veranlasste die Leitung, die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Verantwortung auch für den Umsetzungsprozess – zum Beispiel die Pilotphase – zu übernehmen. Destabilisierung, Fluktuationsverstärkung anregen Die auf der Mitarbeiterversammlung geäußerten Rückmeldungen der Teilnehmer – die »Lessons Learned« auf der individuellen, Team- und Organisationsebene – im Hinblick auf eine gezielte Zusammenarbeit zwischen Marketing und Redaktion zeigten eine Destabilisierung des alten Musters auf breiter Front. Betont wurde insbesondere der wechselseitige Einblick in die jeweils andere Abteilung aufgrund anderer Informationen, Blickwinkel und Erfahrungsmöglichkeiten – das schaffte die Voraussetzung für ein besseres wechselseitiges Verständnis. Die graphische Darstellung der Arbeitsprozesse ermöglichte einen Austausch über wechselseitige Abhängigkeiten zwischen den Abteilungen und erhöhte für einige die Hoffnung auf eine faktische Verbesserung der zukünftigen Zusammenarbeit. Beispiele von Aussagen: »Mir hat es etwas gebracht, mit der Struktur und Methodik die Arbeitsabläufe kennen zu lernen.« »Möglichkeiten der offenen Diskussion begrüßen wir.« »Die Ergebnisse wurden gut aufgenommen, erstaunlich.« »Gegenseitige Transparenz und Aha-Effekte – das macht ihr auch.« Es war klar, wie die nächsten Schritte aussahen: Es konnte danach die Pilotphase der Umsetzung beginnen. Der inzwischen angewachsene finanzielle Druck im Unternehmen beeinträchtigte als system- und organisationsexterner Einflussfaktor im Laufe der Zeit die motivierenden Kräfte für eine De-Stabilisierung des alten Musters (»Abteilungsdenken«). Symmetriebrechung unterstützen Die beteiligten Mitarbeiter auf dem World Caf waren bereit, das neue Konzept zur abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit umzusetzen. Sie sicherten sich »gegenseitige Transparenz« zu sowie eine situative Kooperation. Es gab danach gute Ansätze (»Kommunikationsverbesserungen«, wechselnde Ansprechpartner aus jeder Abteilung) und Akzeptanz bei den betroffenen Mitarbeitern. Die Abteilungsleiter trafen vor diesem Hinter-

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grund die Entscheidung für eine Pilotphase. Damit war die »Symmetriebrechung« ermöglicht. Re-Stabilisierung sichern Es herrschte – so der Berater – eine »leicht euphorische« Stimmung auf der MA-Versammlung. Aber in der Zeit danach wurde – bei allem guten Willen und kleinen Fortschritten angesichts eines erstmaligen Projekts zur abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit in diesem Unternehmen – situativ nur wenig im Alltag umgesetzt. Einige Kollegen waren bereit, aber man stieß zunehmend wieder an Grenzen, es gab auch »Gräben«. Leider hatten die ALs die Umsetzung auch nicht genügend unterstützt. Kurz danach verließ einer der beiden ALs die Redaktions-Abteilung. Danach war die Kooperation erst recht auf situative Zusammenarbeit einzelner Mitarbeiter beschränkt. Für die Aufarbeitung der subtilen, untergründigen Vorurteile zwischen den beiden Abteilungen – ein gärender Konflikt – ließ der hohe Zeitdruck angesichts der Produktionsbedingungen kaum »Zeitoasen«, um im Abstand zur Alltagsarbeit über Grundlagen der notwendigen und dringlichen abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit zu reflektieren. Der Mangel an solchen Gelegenheiten führte zum eher randständigen Status von strukturierter, innovativer Projektarbeit über die alltägliche Arbeit hinaus (hier die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit). Dadurch, dass das neue Muster nicht längerfristig etabliert wurde, spielte auch die Nachhaltigkeit des Erreichten bzw. der Transfer in andere Bereiche keine Rolle. Finanzen und fehlender Druck zur Umsetzung des Erarbeiteten verhinderten eine ReStabilisierung in der Praxis bzw. längerfristige Integration des neuen Musters in die Organisationskultur und -struktur. Gerüchte über mögliche feindliche oder freundliche Übernahmeaktionen, drohende Entlassungen und damit einhergehende Ängste der Mitarbeiter vor Arbeitsplatzverlust, ein länger angekündigter und dann realisierter Umstrukturierungsprozess mit drastischen Einsparungen (z. B. Abbau von Arbeitsplätzen) verhinderten als system- und organisationsexterne Einflussfaktoren die Re-Stabilisierung. Der zweite Abteilungsleiter verließ das Medienunternehmen, das schließlich diesen Standort aufgab. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Resonanz beachten, Synchronisation herstellen Die intensive Vorbereitung der MA-Versammlung durch den OEBerater und beide PE-Mitarbeiterinnen, der Einsatz von Methoden wie das World-Caf (erneut nach anderthalb Jahren) und eine Talk-Show hatten das Verständnis und die Akzeptanz der von der PG ausgearbeiteten und von den ALs entschiedenen Verbesserungsansätzen auf der MA-Versammlung ermöglicht. Auch die Lessons Learned verwiesen auf eine gelungene Balance zwischen Informationsvermittlung, anregender Diskussion über zukünftige Herausforderungen und damit auch ein energetisierendes Klima für individuell bedeutsames Lernen. Der OE-Berater erlebte zum Schluss Grenzen der Mitgestaltung selbstorganisierter Veränderungsprozesse in Organisationen aufgrund systeminterner und organisationsexterner Einflussfaktoren.

4.4.2 Systemmodellierung und Einflussanalyse zu Phase 3 Die aus Sicht der Autoren konstruierte Systemmodellierung und Einflussanalyse (s. Abb. 7a und 7b) illustrieren einige der Einflussfaktoren, die auf der MA-Versammlung für den Durchbruch des Verbesserungsansatzes zur abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit gesorgt haben. Dazu gehören zum Beispiel die starke Resonanz bei den Mitarbeitern (Element 4) und der Beitrag des OE-Beraters mit den PE-Mitarbeitern (Element 7), mit deren Hilfe eine zukünftige Implementation der ausgearbeiteten Verbesserungsansätze durch ein professionell begleitetes kollegiales Coaching in der Pilotphase geplant war. Unübersehbar – das verdeutlicht die Einflussanalyse (s. Abb. 7b) – ist die Auswirkung der systeminternen Einflussfaktoren (Weggang der ALs, Element 1) sowie insbesondere der systemexternen (z. B. drastische Einsparungen, Entlassungen, Element 9) und organisationsexternen Randbedingungen (Übernahmegerüchte, Standortaufgabe) auf den Beratungsprozess und das Ergebnis. Muster aus der Geschichte des Systems (z. B. gegenseitige Vorurteile der beiden Abteilungen) und der »Organisationsbiographie«/Unternehmenskultur (z. B. Zeitdruck und Vorrang des Daily Business vor abteilungsübergreifenden Lernprozessen) sowie sich fast monatlich verschärfende unternehmensexterne Randbedingungen (z. B. Wegbrechen von Marktanteilen) beeinträchtigen ein ge© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 7a: Systemmodellierung von Phase 3 (OE-Fallstudie II)

Abbildung 7b: Einflussanalyse von Phase 3 (OE-Fallstudie II)

meinsames Weiterlernen und eine planmäßige, ruhige Umsetzung der beschlossenen und gewollten Verbesserungsansätze. Eine Re-Stabilisierung wird verhindert und das alte Muster setzt sich – bis auf kleine Ausnahmen – langsam wieder durch. Möglicherweise ist das Unternehmen an diesem Standort in © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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eine »Beschleunigungsfalle« (vgl. Rüttinger, 2011) geraten. Der Autor berichtet über eine Langzeitstudie in 600 Unternehmen. Bei Firmen in der Beschleunigungsfalle – wenn zum Beispiel Mitarbeiter mit zu verschiedenartigen Aufgaben und Aktionen in turbulenten Zeiten belastet werden – verfügten 60 % der Mitarbeiter nicht über ausreichende Ressourcen für ihre Arbeit, während in Firmen ohne Beschleunigungsdruck sich nur 2 % über fehlende Mittel, Reserven und Zeit beklagten. Viele dieser oben genannten Einflussfaktoren kann der Berater wohl nicht beeinflussen. Sie stellen – für diesen Fall – eventuell sogar eine Grenze der OE dar. Möglicherweise hätte angesichts der drohenden Insolvenz des Unternehmens an diesem Standort ein Wechsel des Beratungsformats und der Zielgruppe nahegelegen (z. B. strategisches Coaching des Direktoriums des Gesamtunternehmens als Interventionsmöglichkeit). Schreyögg (2000) vertritt die Ansicht, dass bei Fusionen, drohender Insolvenz und ähnlichem ein organisationsbezogenes Coaching des Topmanagements im Rahmen einer OE angezeigt ist.

5 Schlussfolgerungen aus dem Vergleich der beiden Fallstudien In diesem Kapitel werden die beiden Einzelfallstudien zur abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit in einem sozialwirtschaftlichen und einem gewerblichen Unternehmen im Hinblick auf die jeweilige Ausprägung sowie das Zusammenwirken der generischen Prinzipien bzw. vergleichbarer Erfolgsfaktoren resümiert. Dabei lassen sich einige Gemeinsamkeiten, aber noch mehr Unterschiede feststellen, die insbesondere für eine Gestaltung, aber auch für die Analyse von OE-Prozessen relevant sind. Im Hinblick auf das Wirkprinzip »Schaffen von Stabilitätsbedingungen für Veränderungsprozesse« illustriert die Fallstudie I, dass die kontinuierliche Unterstützung durch die Führungskräfte bzw. das Top-Management sowie die Vernetzung der ChangeVerantwortlichen über den gesamten Prozess hinweg einen relevanten Erfolgsfaktor darstellen. Diese »Tragfähigkeit der Beziehung« bildet einen strukturell sicheren und ressourcenori© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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entierten Rahmen (Schiepek u. Cremers, 2003). In der Fallstudie II zeigt sich eindrucksvoll, dass das Wegbrechen der Unterstützung durch Leitungspersonen – sowohl der Leiterin der PE zu Beginn der zweiten Phase als auch später eines Abteilungsleiters in der dritten Phase – die Stabilitätsbedingungen für den Veränderungsprozess nachhaltig beeinträchtigt. Eine mangelnde kontinuierliche Kooperation zwischen den Führungskräften behindert zudem die Beseitigung von Hindernissen in Phase 2 und die Implementierung der Innovation in Phase 3. In Bezug auf die Muster des Systems zeigt sich, dass in der OE die »geronnene Systemgeschichte« und Organisationsbiographie eine nicht zu unterschätzende Rolle zum Beispiel im Hinblick auf die fachübergreifenden Kompetenzen der Mitarbeiter und vorhandene Muster spielt. So stützt die bisherige Weiterbildungsdichte und eine entwickelte Reflexionskultur der Organisation im ersten Fall den Selbstorganisationsprozess, während genau das Fehlen dieser Tradition im zweiten Fall den Verlauf mühsam werden lässt. Wie unterschiedlich sich ein gleichartiges Muster – hier der Einfluss des Daily Business – auf einen Veränderungsprozess auswirken kann, zeigt der Vergleich beider Fallstudien ebenfalls. Der im zweiten OE-Fall von Beginn an extrem hohe Zeitdruck durch das Daily Business im betrachteten System der beiden Abteilungen als auch der Gesamtorganisation hat als durchgängiges Muster zur Dämpfung kleiner Fortschritte beigetragen und damit das alte, unerwünschte Muster des Abteilungsdenkens in der Tendenz eher stabilisiert. Im ersten OE-Fall wird diese Mehrbelastung durch das Daily Business zwar ebenfalls gespürt und deutlich geäußert, sie wird aber stark gemildert bzw. kompensiert durch andere, positive Einflussfaktoren auf die Veränderungsmotivation (z. B. Würdigung der Projektarbeit durch Leitung und Mitarbeiterschaft). In beiden Fällen sind die angestrebten Ziele der OE klar. Allerdings wurde deren Übereinstimmung mit organisationalen Zielen sowie berufsbezogenen persönlichen Zielsetzungen der Mitarbeiter im Fall I insbesondere auf den Workshops durch eine gemeinsam entwickelte Vision herausgearbeitet und intensiv als kollektiver Sinnbezug diskutiert, während die Tatsache der Topdown-Entscheidung auf der Kick-off-Veranstaltung in Fall II © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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dazu führt, dass die Beteiligten die Ziele eher kognitiv-inhaltlich akzeptieren, zumal die gemeinsame Anfangseuphorie aller Mitarbeiter schon mehrere Monate zurücklag, ohne dass zwischenzeitlich irgendetwas »angepackt« wurde. Beide Fälle belegen, dass der emotionale und motivationale Faktor bei der Visionsentwicklung und Transformation der Ziele zu Attraktoren für die Identifikation von Kontrollparametern sowie die Energetisierung zentral sind (vgl. Kehr, 2008). Der große Gruppenzusammenhalt, die starke Prozessinvolviertheit und die hohe Identifikation mit der Organisation stellen im Fall I zentrale Voraussetzungen für einen erfolgreichen Prozess dar. Im Fall II sind diese Elemente weit weniger ausgeprägt. Die schon bestehende Grundstimmung in dieser Richtung konnte im Fall I durch die Lebendigkeit des kontinuierlichen gemeinsamen Lernens mit entsprechenden erlebnisintensiven Methoden weiter gestärkt werden. In der zweiten Fallstudie lag – abgesehen von der Kick-off-Veranstaltung mit allen Mitarbeitern in der ersten Phase und dem erneuten World Caf auf der Mitarbeiterversammlung zu Beginn der dritten Phase des OE-Prozesses – das Gewicht auf der kognitiv-inhaltlichen Ebene und der Einlösung des einmal verabschiedeten Zeitplanes. Die emotionalen und motivationalen Dimensionen bleiben im Fall II, insbesondere bei Visionsentwicklung und Energetisierung vergleichsweise schwächer ausgeprägt. Die Tatsache, dass das Thema »Wertschätzung« und vorhandene Konflikte nicht bearbeitet werden (können), verstärkte wahrscheinlich diese Tendenz. Für den Prozess der Destabilisierung des alten Musters gibt es in beiden Fallstudien eine Reihe gelungener Beispiele. Der »Schulterschluss« zwischen beiden Abteilungsleitern in der ersten Phase im Fall II und das systematische Erarbeiten des Interabteilungs-Workflows durch die Projektmitarbeiter auf ihren Projektgruppen-Sitzungen in der zweiten Phase dieses OE-Prozesses boten große Chancen, die Perspektive auf die jeweils andere Abteilung zu erweitern und damit die Ansätze zur Kooperation zu stärken. Die Destabilisierung des alten abteilungsfokussierten Musters in der ersten Fallstudie findet über alle Hierarchieebenen und unter starker Beteiligung der Mitarbeiterschaft bereits in den ersten beiden Workshops statt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Auffällig ist der unterschiedliche Beteiligungsgrad der Mitarbeiterschaft in den beiden OE-Fällen, was natürlich Auswirkungen auf den Grad der Energetisierung, auf die Fluktuationsverstärkung, die Kraft zum Durchbruch (d. h. zur Symmetriebrechung) und das Betreiben der Nachhaltigkeit hatte. Im Fall I waren circa 30 % der Mitarbeiterschaft aktiv in Form der abteilungsübergreifenden Projektteams involviert. Hinzu kommt der hohe Anteil der übrigen Mitarbeiterschaft auf den fünf Workshops. Im Fall II waren lediglich circa 5 % der Mitarbeiter beider Abteilungen aktiv – zumindest in der wichtigen und zeitlich längsten Phase 2 der Konzeptentwicklung. Der Grad der Partizipation im gesamten Prozess dürfte – ebenso wie die hohe, kontinuierliche Verantwortlichkeit der Führungskräfte – als starker Einflussfaktor auf das Gelingen von Selbstorganisationsprozessen in der OE zu werten sein. Auch die Studien von Geldermann, Günther und Hofmann (2005, S. 46) kommen zu dem Ergebnis, dass ein hoher Grad an Mitwirkung die Voraussetzung für die Entwicklung einer neuen Lernkultur darstellt – neben der Verantwortung der Leitung. Damit bestätigt sich zugleich ein alter Erfahrungswert von Organisationsentwicklungsprozessen, dass für den Erfolg sowohl ein Top-down- als auch ein Bottom-up-Ansatz erforderlich sind. Eine Symmetriebrechung erfolgt in der Fallstudie I durch die Realisierung der abteilungsübergreifenden bzw. organisationsumfassenden Projektideen. In der Fallstudie II geschieht die Symmetriebrechung durch die Entscheidung der Abteilungsleiter zur Umsetzung der gemeinsam erarbeiteten Verbesserungsansätze, durch die Zustimmung der Mitarbeiterschaft beider Abteilungen dazu sowie durch die ersten Schritte in eine Pilotphase. Bei dem Bemühen, ein neues Muster langfristig im Alltag der Organisation zu verankern, sind gezielte Aktivitäten zur Sicherung der Re-Stabilisierung, Nachhaltigkeit von OE-Ergebnissen von besonderer Bedeutung. Im ersten OE-Fallbeispiel ist die »Verankerung der Veränderung« (Gerkhardt u. Frey, 2006, S. 52) durch einen zeitlich längeren Lern- und Entwicklungsprozess, eine bewusste Wiederholung der abteilungsübergreifenden Projektarbeit und die gezielte Inangriffnahme der Nachhaltig© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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keitsfrage gelungen. Es überrascht auch nicht, dass der OE-Prozess – bei einer vergleichbaren Anzahl von Beratertagen in beiden Fällen – im ersten Fall insgesamt zweieinhalb Jahre Lernzeit »verbraucht« hat, und zwar obwohl das Unternehmen bereits auf eine entwickelte Reflexionskultur aufbauen konnte. Angesichts der kürzeren Beratungszeit von etwa einem Jahr und mangelnder Tradition in individueller und kollektiver Weiterbildung beim Fall II können OE-Berater wie Organisationsmitglieder vermutlich nur begrenzt Muster eines Systems bzw. der Organisation ändern und für Nachhaltigkeit sorgen (vgl. Schein, 2011, S. 127 ff.; Binder, 2007). Aus unserer Sicht führt eine OE-Beratung häufig deshalb nicht zum erhofften Ziel, weil – neben der Vernachlässigung des Blicks auf das sich verändernde Umfeld des fokussierten Systems während des Beratungsprozesses – für die Re-Stabilisierung begonnener Lern- und Entwicklungsprozesse weder von den Führungskräften noch von den Beratern hinreichend gesorgt wird. Allerdings besteht in diesem Punkt ein immenser theoretischer und praktisch-methodischer Nachholbedarf (z. B. fehlendes Methodeninstrumentarium). Der relativ hohe Prozentsatz von gescheiterten professionellen Interventionen – in der Therapie wie in der OE (vgl. Duncan, Miller, Wampold u. Hubble, 2010; Binder, 2007, S. 259) – hat zu Recht die Frage nach allgemeinen Einflussfaktoren zur Folge. Wenn man nämlich die Unzufriedenheits-, Abbrecher- und Rückfallquoten in dem über Jahrzehnte »durchprofessionalisierten« Interventionsbereich der Therapie betrachtet (vgl. Duncan et al., 2010, S. 31), so kommt man wahrscheinlich – je nach Zielgruppe, Störungstypus und zugrunde gelegter Erhebungsmethode – auf einen ähnlichen Prozentsatz wie die kolportierten Einschätzungen von Fachleuten über misslungene OE-Prozesse (vgl. Binder, 2007, S. 259; Stein, 2010; Senge, 2010). Wahrscheinlich spielt die »Erzeugung von Nachhaltigkeit« (Kruse, 2005, S. 143) als eigene Phase in der OE eine besondere Rolle im »Konzert« der Erfolgsfaktoren. Die Resonanz bzw. die Synchronisation auf gleicher »Wellenlänge« zwischen Berater(n) und Mitarbeiter(n) konnte sich im Fall I auf der Basis einer anfänglich geschaffenen ressourcenorientierten, positiven Grundstimmung durchgehend spürbar © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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weiterentwickeln. Dazu trugen sowohl die lebendigen und aktivierenden Lernsettings als Interventionsmethode bei als auch eine kontinuierliche Würdigung und damit Verstärkung der durch die Projektteams geleisteten Arbeit – sowohl durch die Führungskräfte als auch vonseiten der übrigen Mitarbeiter auf den Workshops. Demgegenüber sind in der Fallstudie II einige Störfaktoren in Bezug auf eine gelungene Synchronisation zu verzeichnen. Dort wächst zum Beispiel die Anzahl der Rollen bzw. Funktionen des Beraters insbesondere in der zweiten Phase in einem Ausmaß, dass er ebenfalls – wie die Mitarbeiter – unter Arbeits- und Zeitdruck gerät und damit in die Gefahr, in das Muster der Organisation »eingesogen« zu werden. Hinzu kommt ein unterschwelliger »Widerstand« eines wichtigen Mitarbeiters, der nicht mit angemessenen Methoden bearbeitet wurde bzw. werden konnte. Beide OE-Fallstudien illustrieren, wie wichtig es ist, dass alle Selbstorganisation fördernden Wirkprinzipien realisiert werden und sich beim Zusammenspiel14 wechselseitig verstärken (s. Abb. 5a) – dies stellt eine optimale Förderung von Selbstorganisationsprozessen auf der individuellen, gruppen- und organisationsbezogenen Ebene dar. Dabei ist gerade bei der OE bzw. einer lernenden Organisation zu beachten, dass außer den professionellen Beratern auch viele Mitarbeiter/Führungskräfte einen Teil oder alle generischen Prinzipien (aufgrund ihrer Kompetenzen) realisieren können: zum Beispiel stellt in der Fallstudie I die kontinuierliche Unterstützung durch die Führungskräfte nicht nur eine wichtige Stabilitätsbedingung für den Wandel dar, sondern beeinflusst zudem die Veränderungsmotivation der Mitarbeiter (generisches Prinzip 4), stellt einen Beitrag zur Destabilisierung des »alten Musters» dar (generisches Prinzip 5), verhilft dem neuen Muster mit zum Durchbruch (generisches Prinzip 6) und sichert die Re-Stabilisierung (gene14 Dabei muss beachtet werden, das Veränderungen nicht durch ein einzelnes Prinzip als »common factor« oder durch die gewählte Methode allein »verursacht« werden: »Wirkfaktoren wirken nicht aus sich selbst heraus, sondern entfalten sich […] nur in ihrem Zusammenspiel, und das findet im Einzelfall statt« (Schiepek, 2008, S. 4).

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risches Prinzip 7). Der Geschäftsbereichsleiter trifft mit seinen Maßnahmen auf hohe Resonanz bei den Mitarbeitern (generisches Prinzip 8). Die Energetisierung ist nicht eine Form der Unterstützung durch den Berater oder Geschäftsbereichsleiter allein gewesen, sondern wird auch durch eigenständige methodische Aktivitäten der Mitarbeiter auf den Workshops gefördert, die auf große Resonanz bei den Kollegen stießen. Wir sollten gerade in der OE oder bei gruppenbezogenen Lernsettings (z. B. in der Teamsupervision oder beim kollegialen Coaching) nicht nur den Berater in Bezug auf die generischen Prinzipien »im Visier« haben, sondern das fokussierte (Beratungs-)System insgesamt daraufhin betrachten/analysieren – was immer das an forschungsmethodischen Herausforderungen bedeutet. Es kann auch festgehalten werden, dass die mangelnde Ausprägung eines einzelnen Wirkprinzips (z. B. der Energetisierung oder Bearbeitung von Hindernissen/Konflikten als Destabilisierung, vgl. Fallstudie II) das Risiko des Scheiterns erhöht (auch hier wäre die Fokussierung nur auf den Berater zu kurzsichtig). Auffällig in Bezug auf die Ausprägung aller generischen Prinzipien und ihrer interdependenten Entwicklung in Richtung der Integration eines neuen Musters in die Unternehmenskultur ist – wie insbesondere im Fall II deutlich wird – die hohe Bedeutung system- und organisationsexterner Einflussfaktoren auf die Verlaufskomplexität. Dies betrifft zum Beispiel den Weggang von Leitungskräften (aus der PE und einer Abteilung) oder die Verschlechterung der Marktsituation. Dadurch wurde der selbstorganisierte Wandel wesentlich behindert. Die Mitarbeiter beider Abteilungen fallen nach kleinen, situativen Verbesserungen zu großen Teilen wieder in das alte Muster zurück. Der Zeit-, Kosten- und Wettbewerbsdruck von Firmen – so unser Eindruck – bestimmt immer stärker die Konzeption, den Verlauf und das Ergebnis von Weiterbildung und Beratung.

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6 Ausblick: Lessons Learned und Lessons to do Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass aus unserer Sicht die empirische Analyse und der Vergleich der beiden OE-Fälle die Plausibilität des in Kapitel 2 entwickelten theoretischen Rahmenmodells (s. Abb. 1) untermauern. Über die zentrale Bedeutung der generischen (Wirk-)Prinzipien (unter Einbeziehung system- und organisationsexterner Faktoren) und ihres Zusammenspiels hinaus (s. Kap. 5) ist aus unserer Sicht in der OE die Differenzierung der Ebenen von Interventionsmethoden und der Phasen eines Planungs- und Veränderungsprozesses relevant und hilfreich – sowohl für die prozessuale Gestaltung als auch für die empirische Analyse von OE-Prozessen. Um dieses nicht retrospektiv (wie hier geschehen), sondern simultan und prospektiv bei einem organisationalen Wandel auch praktisch und forschungsmethodisch einzulösen, wird es weiterer Anstrengungen bedürfen. Das betrifft zumindest die drei folgenden Aspekte.

6.1 Generische Prinzipien und verschiedene Ebenen von Interventionsmethoden Die Ausprägung einzelner und das Zusammenspiel aller (Wirk-) Prinzipien bzw. Erfolgsfaktoren werden unter anderem von der situativen Passung mit den ausgewählten Interventionsmethoden beeinflusst. Bei der OE sind – im Vergleich zur personenbezogenen Beratung – unterschiedliche Akteursgruppen und Hierarchieebenen der Organisation involviert und dementsprechend können – simultan oder nacheinander – Interventionsmethoden aus verschiedenen Ebenen für die Gestaltung relevant sein (von der Wahl des Formats über das Design bis zu den Tools/ Werkzeugen, s. Abb. 1). Die Prozessarchitekturen I und II geben einen groben Eindruck von der Abfolge und dem Zusammenhang ausgewählter Interventionsmethoden. Es müsste in Zukunft auch auf die Passung innerhalb der Ebenen des »Interventionsmethoden-Pools« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 442, 633) geachtet werden – zum Beispiel, ob in einer bestimmten Situation © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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mit den beteiligten Mitarbeitern und einem konkreten Thema beim Design »Workshop« das Tool »SOFT/SWOT« oder ein anderes angemessen ist und auf Resonanz bei den beteiligten Mitarbeitern stößt. Völlig vernachlässigt worden ist in der OE bisher die Beforschung der untersten Ebene der Interventionsmethoden (s. Abb. 1) – nämlich die der verschiedenen Gesprächsformen15 bzw. Beraterstile. In beiden Fallstudien wird belegt (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 440 f.), dass ein generisches Prinzip durch mehrere, auch verschiedene (Interventions-)Methoden realisiert werden kann (Resonanz zwischen Mitarbeitern und Berater vorausgesetzt): zum Beispiel das der Symmetriebrechung im OE-Fall II durch Sitzungen zu Entscheidungen der Leitungsebene, die Partizipation der Beteiligten durch das World Caf und die TalkshowMethode auf der Mitarbeiter-Versammlung und kollegiales Coaching in der Pilotphase. Umgekehrt »bediente« eine Interventionsmethode – zum Beispiel das World Caf im Fall I – mehrere generische Prinzipien, zum Beispiel das der Stabilitätsbedingungen, der Energetisierung und Destabilisierung. Für die Beratungsforschung auf dem Gebiet der OE stellt diese Mehrfachrelation zwischen Wirkprinzipien und methodischen Interventionsformen/-sequenzen sicherlich eine Herausforderung dar, zum Beispiel in Bezug auf die Begründung der Passung sowie eine methodisch adäquate Erfassung.

6.2 Generische Prinzipien und unterschiedliche Phasen eines Veränderungsprozesses Die methodische Aufarbeitung der Fallstudie II zeigt, dass es in praktischer und forschungsmethodischer Hinsicht sinnvoll sein kann, den komplexen Veränderungsprozess im Rahmen einer OE in Phasen als Sinneinheiten zu gliedern, um die Komplexität zu reduzieren und trotz der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit des 15

»Denn wie eine verbale Intervention wirkt, ist zum Beispiel immer auch davon abhängig, welche Worte der Supervisor wählt« (Haubl, 2009, S. 357). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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wirklichen Verlaufs eine heuristische Vorstellung davon zu entwickeln – auch im Interesse einer Stabilitätsbedingung. In den unterschiedlichen Phasen kommt den einzelnen generischen Prinzipien und ihrem Zusammenspiel ein verschieden großes Gewicht zu (s. OE-Studie II: generische Prinzipien 1 – 5 in Phase 1 (»Von der Akquisition bis zur Kick-off-Veranstaltung«) und Phase 2 (»Planung eines abteilungsübergreifenden Workflows«) gegenüber Wirkprinzipien 6 – 7 erst in Phase 3 (»Umsetzungsentscheidung und ›Versanden‹ des Transfers«). Die Differenzierung von Phasen ist in der OE zudem hilfreich, weil sie die passende Wahl der richtigen Ebene von Interventionsmethoden (oder ihrer Kombination) für verschiedene Akteursgruppen unterschiedlicher Hierarchieebenen erleichtert (z. B. Vermittlung von Tools aus dem Projektmanagement bei der Planung und Umsetzung von abteilungsübergreifenden Themen durch Projektteams). Die Wechselwirkungsbeziehungen im »Dreieck« von Wirkprinzipien, Interventions-Methoden und Phasen im Prozess (s. Abb. 1) sind zukünftig ebenfalls näher empirisch zu beleuchten.

6.3 Real-Time-Monitoring durch Erhebungsbogen und Systemmodellierung Über die hier vorgenommene retrospektive Betrachtung hinaus können der in Kapitel 2 vorgestellte Erhebungsbogen sowie die phasenspezifisch eingesetzte Systemmodellierung samt Einflussanalyse auch für eine prozessbegleitende Gestaltung und empirische Analyse von OE-Prozessen angewandt werden. Dies ermöglicht ein Real-Time-Monitoring zusammen mit den Beteiligten, eine rasche Reflexion der gerade abgelaufenen Prozesse durch deren zeitnahe Auswertung sowie die Ableitung zukünftiger Schritte aus den (Zwischen-)Ergebnissen. Gegenüber der plausiblen Einteilung in drei Phasen in OE-Fall II könnten für eine detailliertere Prozesserfassung und -diagnostik die Messzeitpunkte nach Bedarf auch weiter vermehrt werden – es müsste allerdings eine Balance zwischen optimaler Anzahl und deren Praktikabilität im konkreten Unternehmen hergestellt werden. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Ja, man kann mit guten Gründen von der forschungsmethodischen Position ausgehen, dass – im Vergleich mit einer inferenzstatistischen Auswertung von Fragebögen – eine häufigere Systemmodellierung als begleitendes Prozess-Monitoring von Beratungssituationen durch Berater und Organisationsmitglieder zu verschiedenen Messzeitpunkten (s. Abb. 1) eher einem »radikal« systemtheoretisch fundierten Forschungsansatz von Veränderungsprozessen entspricht. Ein solches Konzept impliziert eine intensive Kooperation zwischen Berater und Ratsuchenden (d. h. verschiedenen Akteursgruppen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen einer Organisation) bzw. zwischen diesen beiden und einer Forschungsperspektive »auf Augenhöhe«, das heißt, sie führt zu einer engen Verzahnung von Forschung und Praxis. Dabei ist realistischer Weise von einer in der Psychotherapieforschung empirisch belegten Differenz der Perspektiven auszugehen, die erst recht für die komplexere OE zutrifft: Prozess-Outcome-Untersuchungen und die Evaluation des Outcomes zeigen, dass Ratings aus der Perspektive von Klienten, Therapeuten und externen Beobachtern nur recht partiell übereinstimmen (vgl. Orlinsky, 2010, S. xxii f.). Eine ständige, prozessbegleitende Reflexion sowohl förderlicher als auch hinderlicher Kontextbedingungen (in der Abb. 1 als »Umwelt« um das »System« gezeichnet) ist ein wichtiger Bestandteil der Professionalität von OE-Beratern bzw. »change agents«. Im gesamten Verlauf eines OE-Prozesses müssen einschneidende Veränderungen in der organisationsinternen und -externen Umwelt in ihrer Wirkung auf ein laufendes OE-Projekt im Sinne eines »Real-Time-Monitoring« (Haken u. Schiepek, 2010; vgl. auch das »Real-Time-Control-Prinzip« als Unternehmensstrategie bei Malik, 2011, S. 318) erfasst und reflektiert werden. Schwerwiegende externe Einflussfaktoren – im Fall 2 am Ende die drohende Schließung des Standortes – können eventuell zur notwendigen Änderung des Beratungsformates führen (vgl. Schreyögg, 2000). Um dies rechtzeitig initiieren zu können, ist es erforderlich, dass OE-Berater in ständigem Austausch mit dem Auftraggeber bzw. den Führungskräften stehen und an die entsprechenden Informationen überhaupt »herankommen«. Bei massiven Veränderungen von außerhalb des betrachteten Sys© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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tems und der Organisation handelt es sich häufig um Einflussfaktoren, die von OE-Beratern wie aktiven Mitarbeitergruppen nicht direkt beeinflussbar sind. Vor diesem Hintergrund impliziert das Scheitern einer anstehenden Umsetzung – wie im OEFall II – das Bewusstsein von Grenzen einer professionellen Begleitung von Selbstorganisationsprozessen in Organisationen (vgl. Pühl, 2009, S. 96 ff. für die Supervision). Die Analyse der beiden Fälle legt – über ihren Vergleich hinausgehend – die Einschätzung nahe, dass das Rahmenmodell und die Vorgehensweise (z. B. Erhebungsbogen und Systemmodellierung zu unterschiedlichen Zeitpunkten/in verschiedenen Phasen unter Beachtung systemexterner Einflüsse) auch auf andere Beratungsformate übertragbar sind. Dem liegt die Hypothese zugrunde, dass grundlegende Prinzipien von Veränderungsprozessen (im Sinne von Common Factors) in allen Formaten weitgehend identisch sind – sei es in der OE, der Therapie, der Supervision oder beim Coaching.

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Das transnationale Politiknetzwerk für die Verbesserung lebensbegleitender Beratung ELGPN Eine Untersuchung von Mustern und Ordnungsübergängen 1 Einführung Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Entwicklung des »European Lifelong Guidance Policy Network«1 (ELGPN). Dieses Netzwerk ist eine von der Europäischen Union (EU) und den Mitgliedsstaaten initiierte transnationale Aktivität2, die das Ziel verfolgt, die Weiterentwicklung der Angebote und Strukturen der lebensbegleitenden Beratung im Kontext von Bildung, Beruf und Beschäftigung in den Mitgliedsstaaten der Union sowie in den Staaten der Beitrittskandidaten der EU zu fördern und Beratung in den relevanten politischen Kontexten besser zu verankern. Der vorliegende Beitrag ist Teil einer umfassenderen Untersuchung, die den ELPGN-Prozess als transnationale Strategie zur Verbesserung von Qualität und Professionalität der Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung untersucht. Dabei wird sowohl die inhaltliche Kooperation und Entwicklung als auch die politische Koordination und transnationale Zusammenarbeit berücksichtigt. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, auf der Basis der Synergetik als metatheoretischem Rahmen, Vgl. www.ELGPN.eu, Zugriff am 08. 09. 2011. Für Deutschland auch www.forum-beratung.de/europaeisches-netzwerk-für-beratung-elgpn/ index.html. 2 Das ELGPN-Netzwerk bezieht sich analog zu den relevanten EU-Politiken auf das Beratungsverständnis, wie es in den EU-Entschließungen zur Beratung beschrieben wurde (Europäischer Rat, 2004; Europäischer Rat, 2008). 1

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Einflussfaktoren und Muster zu identifizieren und zu untersuchen, welche Ordnungsübergänge in verschiedenen Entwicklungsabschnitten des Netzwerks rekonstruiert werden können. Ordnungsübergänge sind dabei als tief greifende Veränderungen der Muster, bzw. als die Etablierung von neuen Mustern, das heißt, als Ordnungswandel zu verstehen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt darum auf der Frage, inwiefern und wodurch ein erfolgreicher Ordnungsübergang gelingt. Um dies zu untersuchen, werden idiographische Systemmodelle entwickelt und ausgewertet und es wird anhand vorhandener Dokumente identifiziert, welche Einflussfaktoren zusammenwirken, um die Etablierung eines neuen Musters bzw. eines erfolgreichen Übergangs zu erreichen. Ziel ist es, erfolgte Veränderungen zu erkennen und zu identifizieren, wie diese Veränderungen erreicht wurden. Hinter dieser Frage nach dem Ordnungswandel steht auch die Frage nach der gezielten Beeinflussbarkeit von Ordnungswandel beispielsweise durch den Koordinator, den Berater oder eine Steuerungsgruppe und damit die Frage nach dem Nutzen solcher Untersuchungen für die Prozessgestaltung im Sinne des Forschungs-Praxis-Transfers. Im Abschnitt 2 des Beitrages wird zunächst der bildungspolitische Kontext der Untersuchung sowie das untersuchte System ELGPN vorgestellt. Der dritte Abschnitt beschreibt die Begriffe und Konzepte der Synergetik, die für die Untersuchung grundlegend sind. Der vierte Abschnitt enthält in mehreren Unterabschnitten die Beschreibung der idiographischen Modellierungsmethodik, die zur Identifikation und Untersuchung der Muster angewandt wird, die Beschreibung der Datengrundlage der Untersuchung sowie die Darstellung ausgewählter Ergebnisse. Die Einflussfaktoren, die für die Bildung der Muster als relevant identifiziert wurden, werden vorgestellt und für zwei Ordnungsübergänge wird das Zusammenwirken der Einflussfaktoren anhand idiographischer Modellierungen ausgearbeitet. Im letzten Abschnitt werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst und Folgerungen für weitere Untersuchungen und Möglichkeiten zur Verwendung der Ergebnisse beschrieben.

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2 Der ELGPN-Prozess als Untersuchungsgegenstand 2.1 Politischer Hintergrund, Strukturen und Ziele des Netzwerks Die Untersuchung der sich entwickelnden und verändernden Muster erfolgt auf der Grundlage von Daten über das transnationale, europäische ELGPN-Netzwerk. ELGPN wurde im Jahr 2008 gegründet. Es gibt der gestiegenen Relevanz von Beratung im Kontext von Bildung, Beruf und Beschäftigung Ausdruck. Es ist eingebettet in das EU-Arbeitsprogramm »Allgemeine und berufliche Bildung 2010« (Europäische Kommission, 2002) sowie in die strategischen Rahmenvorgaben für die europäische Kooperation bei Bildung und Ausbildung (vgl. Europäischer Rat, 2009). Ein wichtiger Bezugspunkt ist die Resolution des Europäischen Rates zur Beratung von 2004 »[…] on Strengthening Policies, Systems and Practices in the field of Guidance throughout life in Europe« (Europäischer Rat, 2004, S. 1). Für das Jahr 2008 wird eine erste Finanzierung der ELGPN-Aktivitäten durch die EU-Kommission gewährt. Dies beinhaltet eine Kofinanzierung und damit auch die sichtbare Selbstverpflichtung der beteiligten 29 Mitgliedsländer zu diesem Netzwerk. Die Anlage des Netzwerks und die Zusammensetzung der Akteure spiegelt den Politikansatz der offenen Koordinierung und den MehrebenenAnsatz (vgl. Weber, 2003) sowie eine intersektorale Ausrichtung wider. Diese zeigt sich beispielsweise in der Berücksichtigung von Beratung in Arbeits-, Wirtschafts- und den verschiedenen Bildungskontexten. Im selben Jahr wird, vorbereitet durch die Netzwerkaktivitäten und eingebunden in die Aktivitäten der französischen EU-Präsidentschaft, eine zweite Resolution zum Thema lebensbegleitende Beratung als »Council Resolution on better integrating lifelong guidance into lifelong learning strategies« verabschiedet (Europäischer Rat, 2008, S. 1). Das ELGPNNetzwerk wird in einer zweiten (2009 – 2010) und in einer dritten Periode (2011 – 2012) weiter gefördert (vgl. ELGPN, 2009, 2011). Relevant ist auch die intersektorale Verknüpfung mit anderen fachverwandten Aktivitäten und Initiativen auf europäischer Ebene. Diese sind bereits in der ELGPN-Programmatik angelegt, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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werden jedoch erst mit dem Arbeitsprogramm 2011 – 2012 systematisch aufgegriffen (ELGPN, 2011). Die bisherige Arbeitsstruktur entlang der vier relevanten Themenfelder wird zwar beibehalten, wird jedoch in einer Art Matrix-Struktur mit den Aktivitäten (Schule, Berufsbildung, Hochschulbildung, Erwachsenenbildung, Beschäftigung und Soziale Inklusion), die parallel in anderen Institutionen, Prozessen und Netzwerken thematisiert werden, verknüpft (ELGPN, 2011). Die Themenfelder des Netzwerks sind unter anderem die Verbesserung der nationalen Angebote und Systeme zur Beratung, die Erhöhung des Stellenwerts der (bildungs- und berufsbezogenen) Selbstmanagementfähigkeiten der Bürger, die Verbesserung der Qualität der Beratung sowie die bessere Vernetzung der Beratung mit der Politik (vgl. ELGPN, 2009; Europäischer Rat, 2008). Das übergeordnete Ziel von ELGPN ist es (hier in der Sprache der Synergetik), ein neues Muster zu etablieren, das die Entwicklung von nationalen und transnationalen Politiken für Beratung sowohl inhaltlich als auch strukturell (positiv) beeinflusst. Dieses Muster soll über die Systemgrenze des ELPGN hinaus sowohl auf der europäischen als auch auf der nationalen Ebene Einfluss nehmen, um in diesen Systemen Veränderungen zu bewirken (d. h. wiederum Musterbildungen anzustoßen).

2.2 Politische Prozesse und Politikberatung Ein wesentlicher Hintergrund für die vorliegende Untersuchung und den Kontext, in dem sie entstand, ist die Frage der prozessualen Steuerung komplexer Politikprozesse. Die Erkenntnis einer in manchen Politikfeldern schwächer werdenden Steuerungsfähigkeit (insbesondere der Nationalstaaten) und die Etablierung alternativer Governance-Strukturen begründet dies. Dieser Wandel kann durch einige Punkte näher charakterisiert werden: • die Abwendung von der Vorstellung eines hierarchischen Systems mit einem universellen Steuerungsanspruch des Staates, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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• die stärkere Betonung der Selbstregulierungskraft des Marktes und die Zurückdrängung des Staates, • die Frage nach einem Weg jenseits von Markt und Hierarchie, insbesondere die gesteigerte Aufmerksamkeit für kooperative Formen der Politik oder sogenannter Politiknetzwerke und damit die Möglichkeit der Politikentwicklung durch Akteure des nicht politisch-administrativen Systems (vgl. Mayntz, 1997, S. 266 ff.; vgl. auch Mayntz, 2009). Vor allem dieser letztgenannte Punkt hängt eng mit der Erkenntnis zusammen, »daß in gesellschaftlichen Sektoren, die aufgrund ihrer institutionellen Verfasstheit einen gewissen Grad der Selbstregelungsfähigkeit besitzen, Steuerung nicht mehr allein von staatlichen Akteuren ausgeübt wird« (Mayntz u. Scharpf, 1995, S. 9; vgl. auch Jachtenfuchs u. Knodt, 2002, S. 10). Staaten und transnationale Gebilde, wie die EU, verändern hier ihr Agieren. Es setzt ein Formenwandel der Politik ein, welcher der veränderten Situation besser gerecht zu werden versucht, indem unter anderem Politikformen etabliert werden, welche die Komplexität der differenzierter werdenden Welt abbilden: Weitere Akteure werden einbezogen, Selbststeuerungsmöglichkeiten und Netzwerkbildungen werden in verschiedenen Varianten genutzt, der Staatsapparat differenziert sich weiter aus und schafft neue Vernetzungen zu Sachgebieten und politischen Ebenen oberhalb und unterhalb des Staatsbildes. Offene Koordinierung ist eine Politik-Methode, die beispielhaft dafür steht, diesen Veränderungen gerecht zu werden. Die Methode der offenen Koordinierung bildet für EU Bildungspolitiken seit dem Lissabon-Prozess und auch für den ELGPN-Prozess die Grundlage für die Prozessgestaltung (vgl. Europäischer Rat, 2009; ELGPN, 2010). In diesem Kontext wird Politikberatung immer stärker zur Prozessberatung. Grund dafür ist der Wandel der Politikprozesse selbst. Diese verändern sich tendenziell von Verfahren, die durch formale Strukturen des Entscheidens und Durchsetzens geprägt waren, zu Aushandlungsprozessen mit vielen Beteiligten und unsicherer Umsetzung der Ergebnisse. Damit verbindet sich die Forderung, diese Prozesse wirkungsvoll zu gestalten. Solche © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Prozesse bedürfen aber der neutralen Steuerung und Begleitung durch Berater und Koordinatoren. Im ELGPN-Prozess können mehrere Funktionen identifiziert werden, die eine solche Aufgabe übernehmen. So wurden beispielsweise ein Koordinator, beratende Experten sowie eine Steuerungsgruppe etabliert. Die Vergrößerung des Prozesswissens für Personen, die in solchen Funktionen Verantwortung übernehmen, scheint geboten. Zwar liegen für Prozesse der offenen Koordinierung eine ganze Reihe von Studien vor, allerdings ist die Übertragung von Prozessgestaltungswissen aus anderen Bereichen, die Parallelen aufweisen (bspw. Organisationsentwicklungsprozesse in der Industrie), bisher nicht erfolgt oder in der Literatur nicht diskutiert. Im Anschluss an diese kurze Einführung in den Hintergrund des ELGPN-Prozesses wird im Abschnitt 3 der theoretische Rahmen der Untersuchung erläutert.

3 Synergetik als metatheoretischer Rahmen der Untersuchung 3.1 Synergetik als Theoriehintergrund für die Prozessforschung Der Untersuchung des ELGPN-Prozesses wird die Theorie der Synergetik zugrunde gelegt, die als Theorie komplexer dynamischer Systeme und deren Selbstorganisation gilt (Haken u. Schiepek 2010, S. 63 ff.). Das synergetische Modell der Selbstorganisation ist eine spezifische Systemtheorie, die im Sinne einer Metatheorie zur Untersuchung von Zusammenhängen und Prozessen in Systemen verschiedenster Art herangezogen werden kann. Dabei wird angenommen, dass für den Prozess der Entstehung des Netzwerkes, für die Arbeit im Netzwerk und für die Ergebniserreichung dieses Netzwerkes ähnliche theoretische Bedingungen angenommen werden können, wie sie für alle komplexen biologischen und sozialen Systeme gelten. In der Organisationsforschung wurde das Modell in verschiedenen Zusammenhängen und in unterschiedlicher Art und Weise bereits angewandt, so zum Beispiel von Beisel (1994) für die Analyse © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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eines Organisationsentwicklungsprozesses in der Automobilindustrie oder von Thiel und Schiersmann (s. den Beitrag in diesem Band) auf die Untersuchung von zwei Organisationsentwicklungsprozessen. Eckert, Schiepek und Herse (2006) haben die Möglichkeiten, das Modell der Synergetik auf die Untersuchung von Organisations- und Managementprozesse zu beziehen, beschrieben (vgl. auch Haken u. Schiepek, 2010, S. 53 ff., S. 585 ff.).

3.2 Musterbildung und Ordnungswandel als Untersuchungsgegenstände Zentral im Konzept der Synergetik ist die Vorstellung, dass sich in Systemen aus einzelnen Elementen (Mikroebene) in rekursiven Prozessen Ordnungsmuster (im Folgenden kurz als Muster bezeichnet) ausbilden (Makroebene). Umgekehrt konsensualisieren Ordnungsmuster, die in einem System etabliert sind, die Mikroelemente eines Systems. Dieser zweiseitige dynamische Prozess wird als Selbstorganisation bezeichnet. »Der Synergetik geht es nicht um den Prozess der Selbstherstellung von Systemkomponenten, sondern um den Prozess des (Selbst-)Organisierens, der zur Emergenz makroskopischer Systemeigenschaften führt« (Beisel, 1994, S. 52).

Mikroelemente und Muster sind zwei Betrachtungsebenen eines Systems. Dabei ist das System nicht die Summe der Teile, sondern ein »emergentes Produkt« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 79) des rekursiven Prozesses. Muster sind weder als zufällig noch als linear-deterministisch zu erklären, vielmehr sind sie synergetische Produkte der Selbstorganisation. Eine Organisation oder ein anderes soziales System ist in diesem Sinne ein komplexes System, das mit verschiedenen Mustern, die sich aus vielfältigen Subsystemen gebildet haben, beschrieben werden kann. Dabei sind die Muster nicht statisch, sondern wandeln sich. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage nach dem Wandel solcher Muster, insbesondere wird gefragt, ob es im ELGPNProzess gelingt, bestimmte Muster zu etablieren und durch das © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Zusammenwirken von Einflussfaktoren intendierte Ordnungsübergänge von einem spezifischen Muster zu einem anderen zu erreichen. Die Frage nach den, im Sinne der formulierten ELGPN-Ziele notwendigen, Ordnungsübergängen wirft auch Fragen nach der Beeinflussbarkeit des Prozesses durch die relevanten Akteure (bspw. durch den Koordinator oder die beratenden Experten) auf. Zusammenfassend werden folgende Begriffe definiert: Muster werden als makroskopische Muster verstanden, die aus dem Zusammenwirken verschiedener Elemente entstehen und ihrerseits wiederum die Elemente beeinflussen (vgl. Haken und Schiepek, 2010, S. 57). Angenommen wird, dass sich das Muster bildet, indem Ordner entstehen, die eine Konsensualisierung der Elemente, also die Musterbildung, bewirken (vgl. Haken und Schiepek, 2010, S. 109 f., S. 180 ff.). In diesem Sinne werden Einflussfaktoren in der Untersuchung als Elemente der MikroEbene verstanden. Sie können selbst wiederum komplexe Systeme sein. Darum sprechen Haken und Schiepek von einer relativen Mikro-Ebene und verweisen darauf, dass man es bei komplexen Human- und Sozialsystemen immer mit der Verknüpfung vieler Systemebenen zu tun hat. Die dynamische Veränderung von Mustern in der Zeit werden als Ordnungsübergänge bezeichnet, wobei für das Gelingen eines solchen Ordnungsübergangs die Bedingungen der Selbstorganisation und ihrer Förderung (bspw. durch Beratung oder Koordination) angenommen werden (vgl. Thiel u. Schiersmann in diesem Band). Das in diesem Beitrag untersuchte System ist das ELGPN (s. Abschnitt 2).

3.3 Untersuchungsfragen und Ziele Diese Begriffe und Annahmen bilden die Grundlage für die durchgeführte Untersuchung. Die zentralen Fragen sind: • Welche Muster können im ELGPN-Netzwerk identifiziert werden? Ziel hierbei ist es, herauszuarbeiten, dass verschiedene Muster parallel und sequenziell etabliert werden müssen, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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um das Netzwerk arbeitsfähig zu machen oder um Ergebnisse zu erzielen und diese letztendlich zu implementieren. • Welche Elemente im System wirken auf die Entstehung und Entwicklung der Muster? Ziel ist es, zu untersuchen, welche Elemente zusammenwirken, um ein bestimmtes Muster zu erzielen. Hierfür werden insbesondere sich verstärkende Regelkreise untersucht, die sich aus solchen Elementen der relativen Mikroebene des Systems konstituieren. • Können Ordnungsübergänge identifiziert werden? Ziel hierbei ist es, das Aufeinanderfolgen von Mustern zu beschreiben und zu untersuchen, ob und wie diese Ordnungsübergänge gelingen. Diese Zusammenhänge werden beispielhaft auf Basis von zwei idiographischen Systemmodellierungen untersucht und diskutiert (s. Abschnitt 4.4).

3.4 Verbindung der Synergetik als Theorierahmen mit bereichsspezifischen Theorien Eine wichtige Grundlage der Untersuchung ist die Möglichkeit der Verbindung von metatheoretischen Annahmen über die Selbstorganisation komplexer dynamischer Systeme mit bereichsspezifischen Theorien aus den relevanten Untersuchungsfeldern. Dies ist im Verständnis des synergetischen Prozessmanagements angelegt: »Um aber konkrete Spezifizierungen des formalen Theoriekerns [der Synergetik] für bestimmte Anwendungen zu erzeugen, muss eine Anreicherung dieses Kerns durch Zusatzannahmen, Begriffsexplikationen und phänomenologische Bezüge erfolgen. Erst eine solche Kernerweiterung führt zu prüfbaren Theorien für intendierte Anwendungen, wie zum Beispiel psychotherapeutische Veränderungsprozesse, Gruppendynamik, Neurodynamik oder Managementlehre« (Haken u. Schiepek, 2010, S. 442; vgl. auch Tomischek u. Schiepek, 2007).

Damit ist für die Beratungs- und Organisationsentwicklungs© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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forschung, aber auch für die Politikprozessforschung und die Forschung zur Politikberatung die Aufgabe gestellt, ihr phänomenspezifisches Wissen mit den beschriebenen metatheoretischen Annahmen im Sinne des synergetischen Prozessmanagements in Verbindung zu bringen (vgl. Schiepek u. Eckert in diesem Band). Bereichsspezifische Theorieannahmen werden in der Gesamtuntersuchung vorrangig für die Analyse der inhaltlichen Ergebnisse der Prozesse herangezogen, hauptsächlich im Hinblick auf die Frage nach Qualität und Qualitätsentwicklung in der Beratung. Es werden jedoch auch Bezüge zur Governanceforschung, insbesondere zur Methode der offenen Koordinierung (vgl. Ania u. Wagener, 2009; Kröger, 2006; Pfister, 2009; Weber, 2003; De la Porte, 2002; Tel, 2002), und zur Internationalisierung im Bildungsbereich hergestellt (vgl. Nagel et al., 2009; Nagel, 2007; Sackmann, Windzio u. Martens, 2005). Darüber hinaus können auch aus der bestehenden Organisationsentwicklungsforschung Befunde und Modelle herangezogen werden, die mit denen der Synergetik in einen produktiven Bezug gestellt werden können. Wichtige theoretische Bezüge hierzu sind beispielsweise die Untersuchungen zu Erfolgsfaktoren in Veränderungsprozessen von Gerkhardt und Frey (2006), das Modell zum Management von Instabilität nach Kruse (2010) oder die Stufen für erfolgreiche Veränderungsprozesse nach Kotter (2006) oder Beer, Eisenstat und Spector (1990). All diesen Ansätzen oder Modellen liegt die Vorstellung zugrunde, dass allgemeine Faktoren empirisch identifiziert oder theoretisch begründet werden können, die für die Gestaltung erfolgreicher Prozesse relevant sind. Mit den sogenannten generischen Prinzipien (Haken u. Schiepek 2010, S. 436 ff.) liegt auch zum Modell der Synergetik eine Ableitung solcher Faktoren vor, die ebenfalls auf Prozesse in komplexen sozialen Systemen (z. B. Organisationen oder Netzwerke) bezogen werden können (vgl. Schiersmann u. Thiel in diesem Band).

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4 Die Grundlagen für die idiographische Modellbildung 4.1 Analyse der Einflussfaktoren und der Muster Im folgenden Abschnitt wird ausgearbeitet, wie die Einflussfaktoren und Muster in der Untersuchung des ELGPN-Prozesses entwickelt wurden. Die Datengrundlage ist die umfangreiche Dokumentation des bisherigen ELPGN-Prozesses, die aus teilweise öffentlich zugänglichen und aus teilweise internen Dokumenten besteht. Ausgewertet wurden Arbeitsprogramme, Protokolle der Sitzungen der Plenumsversammlungen und der Steuerungsgruppe, sogenannte Policy-Briefings, Berichte zu den Workshops, die Ergebnisdokumentation, die Beispiele guter Praxis der Umsetzung in den Nationalstaaten sowie die Daten der formativen und summativen Evaluation der Arbeitsperiode 2009 – 2010, die vom Autor durchgeführt wurde. Die Materialien wurden kodiert und in Datenretrievals inhaltsanalytisch verdichtet, das heißt, Textpassagen des untersuchten Materials wurden inhaltlich zusammengeführt. Das zunächst deduktiv entwickelte Kodiersystem wurde dabei sukzessive erweitert, indem identifizierte Einflussfaktoren als Kodes für die weitere Datenauswertung verwendet wurden. Aus der Gruppierung der Einflussfaktoren wurden die Muster entwickelt. Ein wichtiges Kriterium für die Zusammenführung von Einflussfaktoren zu einem Muster waren die inhaltliche Nähe sowie die zeitliche Nähe des Auftretens der Einflussfaktoren. Die Abbildung 1 zeigt die fünf rekonstruierten Muster und die identifizierten Einflussfaktoren. Das erste identifizierte Muster (Netzwerketablierung) geht zeitlich der Gründung des ELGPN-Netzwerkes voraus und beantwortet die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein mussten, damit das Netzwerk entstehen konnte (s. Abschnitt 4.4.1). In einem zweiten Muster wurde die Struktur des Netzwerks zusammengefasst (s. Abschnitt 4.4.2). Neben strukturellen Einflussfaktoren konnten auch solche, die zu einem dritten Muster »Aktivitäten« führen, und solche, die ein viertes Muster »Wissen« erzeugen, gefunden werden. Im Zusammenwirken der Muster Strukturen, Aktivitäten und Wissen kann die Arbeit des Netz© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 1: Analysierte Muster des ELGPN-Netzwerks mit identifizierten Einflussfaktoren und rekonstruierten Ordnungsübergängen

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werks als Entwicklung in Richtung der intendierten Ziele beschrieben werden (s. Abschnitt 4.4.2). Dabei ist klar, dass eine Trennung von Strukturen, Aktivitäten und Wissen künstlich ist. Es wird angenommen, dass gerade das Zusammenwirken dieser drei Muster zum Ordnungswandel und letztlich zum Übergang zu einem neuen Muster (Umsetzung auf nationaler Ebene) führt. Das fünfte Muster beschreibt die (potenziellen) Folgen des ELGPN-Netzwerks (Umsetzung auf nationaler Ebene). Es geht der Frage nach, welche Auswirkungen das ELGPN-Netzwerk hat, bzw. haben kann (s. Abschnitt 4.4.3). Jedes der Muster wird durch mehrere Einflussfaktoren gebildet. Jedes Muster ist in stetiger Veränderung. Trotz dieser eher fließenden Entwicklung können analytisch drei mögliche Ordnungsübergänge identifiziert werden. Die Ordnungsübergänge zeichnen sich dadurch aus, dass das Zusammenwirken bestimmter Einflussfaktoren notwendig ist, um den folgenden Übergang zu ermöglichen. Ein Ordnungsübergang wird dabei mit einem Symmetriebruch gleichgesetzt. Ob die jeweiligen Ordnungsübergänge tatsächlich erfolgt sind, wird im Abschnitt 4.4. anhand der Systemmodelle untersucht.

4.2 Idiographische Systemmodelle Die Modellierung von Systemen wurde bereits Anfang der 1980er Jahre von Vester (Vester u. von Hesler, 1988; Vester, 2011) beschrieben. Schiepek bezieht sich auf diese Vorarbeiten und beschreibt die Anwendung der »idiographischen Modellierung« als Methode der systemischen Diagnostik in der Psychotherapie (Schiepek, 1986, S. 76 ff.; Haken u. Schiepek, 2010, S. 430). Anwendungen auf die Organisationsentwicklung finden sich bei Schiersmann und Thiel (2011, S. 112 ff.), bei Haken und Schiepek (2010, S. 53 ff.), Anwendungen auf Governance-Fragen finden sich wiederum bei Vester (2011, S. 213 ff.)3. Ziel der Methode ist Auch ein Blick auf aktuelle Referenzprojekte zum Sensitivitätsmodell nach Vester (2011) zeigt die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten beispielsweise in der Regionalplanung, der Unternehmensentwicklung oder 3

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es, in Vernetzungen zu denken, das heißt das Zusammenwirken von Elementen und Subsystemen in Systemen zu berücksichtigen. Im Sinne der Synergetik wird im vorliegenden Beitrag das Makrogeschehen (Etablierung von Mustern, Erreichen von kritischer Fluktuation und Ordnungsübergänge) des Prozesses beschrieben und unter Berücksichtigung seiner Elemente und deren Zusammenwirken erklärt. Dabei geht es nicht ausschließlich um die retrospektive Methode der Fallanalyse, sondern auch um ein formatives Instrument im Sinne des Prozessmonitorings (vgl. Haken u. Schiepek 2010, S. 667 ff.). Aus dem auf der Grundlage identifizierter Einflussfaktoren gewonnenen Wissen über Zusammenhänge im System und erreichte oder nicht erreichte Systemveränderungen (z. B. Ordnungsübergänge) können Informationen zur weiteren Prozessgestaltung und zur Prozessoptimierung (z. B. im Sinne der generischen Prinzipien) abgeleitet werden (vgl. Haken u. Schiepek, 2010, S. 441).

4.3 Vorgehen bei der Systemmodellierung Eine allgemeine Einführung in das Vorgehen bei der Systemmodellierung findet sich bei Schiersmann u. Thiel (2011, S. 110 ff.). Die Systemmodellierung basiert auf den identifizierten Einflussfaktoren. Diese wurden aus dem Datenmaterial entwickelt (s. Abschnitt 4.2). Im Abschnitt 4.4 werden die Einflussfaktoren inhaltlich vorgestellt. Um die einzelnen Einflussfaktoren in ihrem Zusammenwirken zu konkretisieren, wurden die von Schiepek sogenannten »systembezogene[n] Fragen und Kriterien« bzw. »Systemkomponenten« herangezogen (Schiepek, 1986, S. 81 ff.). Diese können zur Modellierung von idiographischen Systemen (sowohl der Einflussfaktoren als auch ihrer Beziehung und der Dynamik des Zusammenwirkens derselben) bei Energie- und Umweltfragen. Dabei scheint die Gestaltung von Politikprozessen im transnationalen Raum und in den hier interessierenden Mehrebenensystemen bisher nicht durch idiographische Modelle untersucht worden zu sein (vgl. http://www.frederic-vester.de/deu/sensitivi taetsmodell/publikationen-projekte/, Zugriff am 06. 08. 2011). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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herangezogen werden. Die Modellierungen wurden mit dem Programm Consideo durchgeführt4. Es wurden Gewichtungen im Hinblick auf den angenommenen Einfluss der einzelnen Faktoren aufeinander vorgenommen. Die Untersuchung ist qualitativer Natur, eine quantitative Modellierung oder eine Simulation von Modelldynamiken wurden nicht vorgenommen. Ziel der Darstellung der idiographischen Systemmodelle und deren Auswertungen ist es zu zeigen, welche Einflussfaktoren zusammenwirken, um einen erfolgreichen Übergang bzw. die Etablierung eines neuen Musters tatsächlich zu erreichen. Die aus dem Datenmaterial rekonstruierten fünf Muster (s. Abb. 1) wurden ausführlich auf Grundlage des Materials beschrieben und es wurde versucht, das Zusammenwirken der Einflussfaktoren, die zur Bildung dieser Muster beitragen, zu erklären. Die Muster Strukturen, Aktivitäten und Wissen wurden dabei in einem Modell zusammengeführt (s. Abschnitt 4.4.2). Das Muster Umsetzung auf nationaler Ebene wurde in einem eigenen Systemmodell dargestellt (s. Abschnitt 4.4.3).

4.4 Ergebnisse der idiographischen Modellierung der Muster und Ordnungsübergänge Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse vorgestellt. Zunächst werden für die beschriebenen Muster die beteiligten Einflussfaktoren identifiziert und kurz erläutert. Für die Ordnungsübergänge 2 und 3 werden jeweils die idiographischen Modelle erläutert (Abschnitt 4.4.2 und 4.4.3). Beispielhaft werden für diese exemplarische Regelkreise herausgearbeitet. Als Regelkreise werden die sich positiv verstärkenden oder negativ dämpfenden Zusammenhänge zwischen den Einflussfaktoren bezeichnet. Regelkreise sind in diesem Sinn eine Erklärungsebene für die Selbstorganisation des Musters. Beschrieben werden damit sowohl Einflüsse einzelner Faktoren als auch das Zusammenwirken der Einflussfaktoren als Muster. Es wird analy4

Vgl. Consideo Modeler, Version 7.0, http://www.consideo-modeler.de/, Zugriff am 08. 09. 2011. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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siert, ob und wie die Gesamtwirkung im Sinne eines erfolgten Ordnungsübergangs aussieht und welche Zusammenhänge von besonderer Bedeutung sind.

4.4.1 Das Muster Netzwerketablierung Das erste Muster wird als Netzwerketablierung bezeichnet. Es bildet sich aus Einflussfaktoren, die aus verschiedenen Systemen (z. B. Europäische Kommission, transnationale Organisationen, einzelne Experten) zusammenwirken. Im Fokus steht das sich etablierende Netzwerk ELGPN als sich entwickelndes eigenes System. Es werden aber auch Einflüsse aus der EU und den nationalen politischen Systemen berücksichtigt (s. Abb. 1). Die in der Untersuchung herausgearbeiteten Einflussfaktoren sind: • Beratung ist als relevantes politisches Thema anerkannt. Dies zeigt sich unter anderem an der Finanzierung und Durchführung von Untersuchungen zur Beratung Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahren, zum Beispiel durch die OECD, die Weltbank und die EU. Sichtbar wird dies auch anhand der Relevanz, die der Beratung in verschiedenen anderen bildungs- und beschäftigungspolitischen Papieren der EU eingeräumt wird. • Es gibt die Unterstützung der EU-Kommission für das Thema Beratung, ablesbar an der Etablierung und Finanzierung eines Expertengremiums sowie von verschiedenen Aktivitäten (z. B. Fachtagungen, Finanzierung kleinerer Projekte) zur Beratung in den Jahren 2005 – 2007. • Die Finanzierung des Netzwerks steht in Aussicht. Der Gründung des Netzwerks ging eine Periode der Beantragung und Verhandlung voran, in der die Finanzierung des Netzwerks immer wahrscheinlicher wurde. Dass diese Einflussfaktoren relevant wurden, hat seine Voraussetzungen in politischen Prozessen, die unter anderem durch Veränderungen zwischen EU und nationalen Politiken begründet sind (vgl. Weber, 2003; Wallace, 2002; Zürn, 2002). Die EU-Ebene koordiniert zunehmend bildungspolitische Themen, jedoch wurden die politischen Regelungssysteme, zum Beispiel die Zuständigkeiten, nicht angepasst. In der Folge werden koordinie© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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rende Verfahren (vgl. Europäischer Rat, 2000; EU-Kommission, 2002; Europäischer Rat, 2009) eingesetzt. Die erreichte Resolution (Europäischer Rat, 2004) zum Thema Beratung ist ein Beispiel dafür, wie der politische Wille auf transnationaler Ebene relativ lose mit nationalen Maßnahmen und Politiken verkoppelt werden konnte. Diese Verkopplung zeigt sich im Muster Netzwerketablierung. Hier ist der nationale Einfluss auf den Ordnungsübergang mit drei Einflussfaktoren modelliert: • Selbstverpflichtung der Nationalstaaten zur Resolution von 2004. Diese repräsentiert die Bereitschaft zur Umsetzung der Resolutionsziele, zur Verbesserung der Angebote der Beratung auf nationaler Ebene sowie die Mitwirkung auf europäischer Ebene. • Aktivierung der Nationalstaaten zur potenziellen Teilnahme am Netzwerk. Eine solche Aktivierung und potenzielle Bereitschaft war die Voraussetzung beispielsweise bei der Beantragung der Finanzierung des Netzwerks durch die EU-Kommission. • Die Aussicht auf Mitsprache. Das Konzept wird in der Politikforschung als Voice bezeichnet (vgl. Sackmann et al., 2005) Die Beteiligung der Nationalstaaten am Netzwerk eröffnet ihnen gleichzeitig die Möglichkeit bei der Ausgestaltung in ihrem Sinne mitzuwirken. Die dritte Gruppe der Einflussfaktoren (netzwerkspezifisch) werden den Aktivitäten in Bezug auf das im Entstehen begriffene ELGPN-Netzwerk zugerechnet. Wie die Auswertung der Dokumente zeigt, gab es im Zeitraum 1999 – 2007 verschiedene PreNetzwerk-Aktivitäten, die in nicht unerheblichem Maße Einfluss auf den Ordnungsübergang zur Etablierung des Netzwerks nehmen. Diese sind: • die bereits durchgeführten Untersuchungen und Ländervergleiche, das heißt die Schaffung einer transnationalen Wissensbasis aufgrund von Forschungsaktivitäten (s. oben); • das Interesse von Einzelakteuren, die bereits in Aktivitäten involviert sind, beispielsweise ablesbar am Engagement ein© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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zelner Personen aus der Wissenschaft und andere Fachexperten für das Thema Beratung im politischen Raum; erste Strukturen, die geschaffen wurden, unter anderem die Expertengruppe der EU-Kommission 2005 – 2007 (s. oben); das sich aus der Resolution von 2004 entwickelnde Arbeitsprogramm, das heißt die Verknüpfung des zukünftigen Netzwerks mit politischen Zielen der EU und der Mitgliedsstaaten; die Übernahme von Verantwortung und Leitung, das heißt, individuelle Akteure setzen sich auch ohne Mandat dafür ein, dass ein Prozess in Bewegung kommt, der dem Thema Beratung eine größere Aufmerksamkeit in bildungs- und arbeitspolitischen Kontexten verschafft; erste Peer-Learning-Aktivitäten, das heißt inhaltlich orientierte Arbeitstreffen zu Themen wie Qualitätssicherung in der Beratung oder national etablierte Standards für die Beratung.

Zusammen bilden die dargestellten Einflussfaktoren das Muster Netzwerketablierung. Die Systemmodellierung sowie die identifizierten Regelkreise, die im Zusammenwirken den Ordnungsübergang, das heißt die Etablierung des Netzwerks bewirken, werden hier aus Platzgründen nicht dargestellt.

4.4.2 Die Muster Strukturen, Aktivitäten und Wissen und der zweite Ordnungsübergang

Während das bisher skizzierte Muster das Entstehen des Netzwerks fokussierte und der erfolgreiche Ordnungsübergang durch die Etablierung des Netzwerks gekennzeichnet ist, fokussieren die jetzt folgenden Muster den netzwerkinternen Prozess. Der angestrebte nächste Übergang ist gleichzusetzen mit der Erreichung der operativen Netzwerkziele, also beispielsweise mit der Ausarbeitung eines Rahmens für die Qualitätssicherung in der Beratung. Das tatsächliche Erreichen dieses Übergangs setzt einen Symmetriebruch voraus, wie dies von Thiel und Schiersmann (in diesem Band) beschrieben wird. Dieser Symmetriebruch ist jedoch nur innerhalb des Netzwerks angesiedelt und entfaltet noch keine Auswirkungen darüber hinaus.

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Darstellung der Einflussfaktoren und der Systemmodellierung Die Muster werden als Strukturen des Netzwerks, Aktivitäten des Netzwerks und Wissen im Netzwerk bezeichnet. Strukturen, Aktivitäten und Wissen schaffen im Zusammenwirken die Bedingungen für den untersuchten Ordnungsübergang. Im Muster Strukturen des Netzwerks sind solche Einflussfaktoren zusammengefasst, die den Aufbau des Netzwerks ermöglichen. Identifiziert werden können diese beispielsweise in den Finanzierungsanträgen, den Arbeitsprogrammen, den Protokollen und den Berichten des Netzwerks. Die hierzu zählenden Einflussfaktoren sind: • der Aufbau des Netzwerks und seiner Arbeitsstrukturen, das heißt beispielsweise die vertraglich festgeschriebene Beteiligung von 29 europäischen Staaten, die Etablierung der Plenarversammlung und der Arbeitsgruppen, die Festschreibung von Strukturen und Arbeitsmethoden; • die Vernetzung mit anderen (transnationalen) Institutionen, beispielsweise der CEDEFOP, der IAEVG oder des ETF5 ; • die Definition von Zielen und Programmen durch den Bezug auf die EU-Resolution zur Beratung von 2004 und die Verabschiedung der Arbeitsprogramme für das Jahr 2008, 2009 – 2010 und 2011 – 2012 durch das Plenum des Netzwerks; • die Leitung des Netzwerks durch einen die Koordination verantwortenden Mitgliedsstaat, die Person des Koordinators, eine Steuerungsgruppe mit klar definierten Aufgaben und geregelter Mitgliedschaft sowie durch die Installierung eines Beratungsgremiums, der sogenannten Taskgroup, die mit Experten besetzt ist; • die Vernetzung mit der EU-Kommission, insbesondere dadurch, dass das Netzwerk durch die EU maßgeblich finanziert wird und gegenüber der Kommission rechenschaftspflichtig ist. Das Netzwerk muss sich bei der Beantragung dieser Mittel 5

CEDEFOP (European Centre for the Development of Vocational Training, http://www.cedefop.europa.eu/EN/); IAEVG (International Association for Educational and Vocational Guidance, http://www.iaevg.org/ IAEVG/ ); ETF (European Training Foundation, http://www.etf.europa.eu). © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 2: Netzwerkinterne Prozesse. Zusammenwirken der Einflussfaktoren zum zweiten Ordnungsübergang

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an den Zielstellungen der EU-Kommission orientieren und explizit die Verbindungen zu den EU-Politikzielen benennen; • Ergebnisstreben, Druck. Die Existenzabsicherung des Netzwerks und der Druck zur Legitimation des Netzwerks führen zusammen mit den genannten Faktoren dazu, dass die Verpflichtung der Akteure auf das Erreichen von Ergebnissen explizit und implizit eine Rolle spielt. Die Untersuchung des Musters Aktivitäten des Netzwerks erfolgte neben der Dokumentenanalyse auch auf Grundlage der Evaluationsdaten zu Teilprozessen, insbesondere zu den vier zentralen thematischen Arbeitsgruppen aus den Jahren 2009 – 2010 und deren Aktivitäten (z. B. Arbeitstreffen, Workshops, Peer-Learning-Aktivitäten), die vom Autor erhoben wurden. Zur Auswertung dieser Ergebnisse wurden außerdem die Protokolle und die Arbeitsberichte aus dem Prozess herangezogen. Die zum Muster Aktivitäten des Netzwerks zählenden Einflussfaktoren sind: • das Arbeitsprogramm, in dem beispielsweise die Ziele, aber auch die Vorhaben zur Zielerreichung für die bereits genannten Arbeitszeiträume des Netzwerks konkretisiert werden; • die Verantwortungsübernahme durch nationale Vertreter, zum Beispiel in der Zuordnung der nationalen Vertreter zu Arbeitsgruppen, die Übernahme von Positionen der Arbeitsgruppenleitung oder die Mitwirkung in der Steuerungsgruppe oder bei der Vernetzung zu anderen Institutionen; • die aktive Mitwirkung der nationalen Vertreter am Arbeitsprogramm, beispielsweise durch Beiträge in den Arbeitsgruppen und im Plenum oder durch schriftliche Berichte zu nationalen Aktivitäten; • die Durchführung von Aktivitäten, zum Beispiel von Workshops, Peer-Learning-Aktivitäten und nationalen Konferenzen unter dem Dach des ELGPN-Programms; • die Kommunikation zwischen den beteiligten Akteuren, sowohl im Rahmen der Präsenzaktivitäten (Plenarversammlungen, Steuerungsgruppentreffen, Arbeitssitzungen) als auch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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laufend im Mailverkehr oder die Beteiligung an Umfragen und Konsultationen. Wissen im Netzwerk wurde als drittes Muster für das ELPGNNetzwerk identifiziert. Als Wissensbasis wird hier ein von den relevanten Akteuren auf transnationaler Ebene und auf nationaler Ebene geteiltes Wissen verstanden, das notwendig ist, um gemeinsame Handlungsziele zu definieren und darauf aufbauend, Veränderungen und Weiterentwicklungen für den Bereich Beratung in Bildung und Beruf vorzuschlagen und zu implementieren. Dabei müssen unterschiedliche Wissensarten unterschieden werden. Neben Wissen über den Gegenstand Beratung geht es explizit auch um die Entwicklung von Wissen über die Weiterentwicklung von nationalen oder europäischen Politiken und von Systemen, etwa deren Angebote oder Qualität. Die Relevanz von Wissen wird nicht zuletzt durch die prinzipielle Relevanz von Information (die in Humansystemen als sinnvolle Information verstanden werden muss) im synergetischen Modell begründet (vgl. Haken, 2000), ist aber auch in der politikwissenschaftlichen Forschung von Bedeutung (vgl. Haas, 1992; Pfister 2009). Im Mittelpunkt der Untersuchung dieses Musters steht die Frage, wie sich die Wissensbasis entwickelt, welche Einflussfaktoren hierzu einen Beitrag leisten und inwiefern das ELGPN-Netzwerk bereits ein eigenes Muster, im Sinne einer eigenen Wissensbasis, etablieren konnte. Das Muster Wissen wird mit folgenden Einflussfaktoren modelliert: • die Einbindung von Experten und die inhaltlichen Beiträge der Experten: Die Experten wurden dabei in definierten Verfahren für klar umrissene Arbeitsaufträge akquiriert. Sie haben nicht nur die Aufgabe, Wissen in das Netzwerk einzuspeisen, sondern auch die generierten Ergebnisse zu verschriftlichen. • die Sichtbarkeit bzw. die Einbindung nationaler Erfahrung: Dies wird beispielsweise erreicht, indem Länder den Stand der Entwicklung zu einem Themengebiet in Berichten über ihre Erfahrungen zur Verfügung stellen. • die gemeinsam erreichte Wissensbasis, die sich in Ergebnispapieren und Ergebnispublikationen sowie in explizitem und implizitem Wissen der Beteiligten niederschlägt. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Dabei ist die gemeinsam erreichte Wissensbasis als Faktor berücksichtigt, der für den Ordnungsübergang maßgeblich ist, da er auf das Netzwerk (Strukturen, Aktivitäten) verstärkend zurückwirkt. Das Zusammenwirken der beschriebenen Einflussfaktoren am zweiten Ordnungsübergang ist von einer besonders hohen Komplexität geprägt (s. Abb. 2). Wie die Darstellung der relevanten Muster zeigt, sind interne Einflüsse, die als Strukturen, als Aktivitäten und als Wissen unterschieden werden können, relevant. Hinzu kommt, dass die äußeren Einflussfaktoren (systemextern) relevant bleiben. Denn obwohl dieser Entwicklungsabschnitt des Netzwerks eher durch netzwerkinterne Prozesse gekennzeichnet ist, hängt der Erfolg nicht allein von netzwerkinternen Gegebenheiten ab. Das Zusammenwirken der Einflussfaktoren und der zweite Ordnungsübergang Für die Darstellung des Zusammenwirkens in diesem Entwicklungsabschnitt des Netzwerks wird das idiographische Modell (s. Abb. 2) nach dem Vorhandensein von Regelkreisen untersucht. Einige exemplarische Regelkreise werden im Folgenden vorgestellt, um das Zusammenwirken der Einflussfaktoren eines Musters und zwischen den Mustern zu analysieren und um den zweiten Ordnungsübergang zu modellieren. Zunächst können Regelkreise identifiziert werden, die exemplarisch das Zusammenwirken der strukturbezogenen Einflussfaktoren (a und b) beschreiben (s. auch Abb. 2). Regelkreis a: Durch das Arbeitsprogramm und die Resolution der EU werden für das Netzwerk klare Ziele6 gesetzt. Dies stärkt die Leitung bzw. die Koordination des Netzwerks (z. B. dadurch, dass die Leitungsorgane konkrete Arbeitsaufträge definiert und in den Kooperationsvereinbarungen festgeschrieben werden). Ein positiver Impuls ergibt sich daraus für die Vernetzung des Netzwerks mit anderen Institutionen, zum Beispiel den Generaldirektionen Bildung und Kultur sowie der Generaldirektion Beschäftigung 6

Die Einflussfaktoren werden in den Regelkreisbeschreibungen jeweils kursiv hervorgehoben. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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der EU-Kommission oder der CEDEFOP. Eine solche Vernetzung wirkt zurück auf den Aufbau der Arbeitsstrukturen des Netzwerks (bspw. müssen Personen identifiziert werden, die diese Kontakte aufbauen) und nicht zuletzt ergibt sich eine positive Rückkopplung mit den Zielen (z. B. durch die Anerkennung, die das Netzwerk aus etablierten Institutionen erfährt). Regelkreis b: Dadurch, dass mit dem Koordinator und der Steuerungsgruppe eine eindeutige und legitime Leitung des Netzwerks installiert wurde, verstärkt sich auch die Vernetzung mit der EU-Kommission, denn diese hat nun eindeutige Ansprechpartner bzw. umgekehrt hat die ELGPN-Leitung die Möglichkeit, die Kommission einzubeziehen. Dies wiederum verstärkt den Druck auf das ELGPN-Netzwerk, Ergebnisse zu erzielen, denn das Netzwerk wird wahrgenommen und muss seine Existenz immer wieder legitimieren. Daraus ergibt sich wiederum eine Stärkung der Leitung des Netzwerks, da sie beispielsweise auf die Einhaltung des Arbeitsprogramms drängen kann bzw. muss. Für die Zusammenarbeit, das heißt für die Aktivitäten im Netzwerk, kann exemplarisch an einem Regelkreis (c) dargestellt werden, wie sich Einflussfaktoren innerhalb dieses Musters gegenseitig positiv beeinflussen. Regelkreis c: Das Arbeitsprogramm setzt klare Arbeitsschwerpunkte fest und regelt die Art der Zusammenarbeit als kooperative Entwicklung von gemeinsamen Ergebnissen, basierend auf Erfahrungen und Bedingungen in den beteiligten Staaten. Dies aktiviert und stärkt die Mitwirkung nationaler Vertreter. Sie können Verantwortung für die Inhalte und die Zusammenarbeit übernehmen. Damit wird auch eine Verbesserung der Durchführung von Aktivitäten erreicht. Aktivitäten wie Workshops, Peer-Learning-Aktivitäten und andere wirken sich positiv auf die Kommunikation zwischen den beteiligten Akteuren aus, was nicht zuletzt auch die Ergebnisorientierung stärkt. Die Ergebnisorientierung verstärkt dann wieder die Verantwortungsübernahme nationaler Vertreter, was sich positiv auf das weitere Arbeitsprogramm auswirkt. Die Verbindung von Strukturen und Aktivitäten wird in verschiedenen Regelkreisen deutlich, von denen einer beispielhaft dargestellt werden soll. Regelkreis d: Die im Konsens der Betei© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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ligten festgesetzten Ziele und Programme bauen einen gewissen Druck auf, Projektergebnisse auch tatsächlich zu erreichen. Dies stärkt die Leitung des Netzwerks, denn diese erhält dadurch die Möglichkeit, aktive Mitwirkung am Arbeitsprogramm einzufordern. Gleichzeitig ist der Weg, im Konsens Ergebnisse zu entwickeln, förderlich für die Kommunikation und energetisierend im Hinblick auf die Ergebnisorientierung. Diese Faktoren wirken sich verstärkend auf die Verantwortungsübernahme durch nationale Vertreter aus. Gleichzeitig verbessert sich die Durchführung von Aktivitäten. Aktivitäten und kooperative Entwicklung von Ergebnissen wirken nicht zuletzt wieder verstärkend auf die Weiterentwicklung der Ziele und Programme des ELGPN-Netzwerks. Bezieht man die Rückkopplung der erreichten Wissensbasis, das heißt der fachlichen Ergebnisse des Netzwerks mit ein, so zeigen sich zwei Typen von Regelkreisen. Zum einen sich weiter verstärkende (die erreichte Wissensbasis aktiviert zur weiteren Beteiligung), aber auch sich abschwächende, dämpfende Regelkreise (die erreichte Wissensbasis entlastet vom Druck, Ergebnisse zu erzielen usw.). Zunächst der verstärkende Regelkreis e: Die gemeinsam erreichte Wissensbasis wirkt sich positiv auf die aktive Mitarbeit der beteiligten Akteure aus. Dies stärkt das Arbeitsprogramm, denn dieses wird durch die Beteiligung der Akteure und die erreichten Ergebnisse legitimiert und fortentwickelt. Damit wirken sich die erreichte Wissensbasis, die Mitarbeit der beteiligten Akteure und die im Arbeitsprogramm weiter ausformulierten Ziele und Aufgaben positiv auf die Planung und Durchführung von Aktivitäten aus. Aktivitäten wie Workshops und andere sind eine wichtige Bedingung für die Weiterentwicklung der Wissensbasis. Der Regelkreis e bildet den zentralen Arbeitsprozess als sich selbst verstärkenden Regelkreis ab. Das Funktionieren dieses Regelkreises und seine positiv verstärkende Wirkung ist die Voraussetzung für die Schaffung der Bedingung für den angestrebten Ordnungsübergang. Es entsteht aber parallel ein dämpfender Regelkreis f: Durch die gemeinsam erreichte Wissensbasis wird der Druck, Ergebnisse zu erzielen, abgeschwächt. Bespielsweise können weniger engagierte Akteure auf die erreichten Ergebnisse als ausreichend verweisen. Entsteht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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eine solche dämpfende Wirkung, so schwächt dies die Leitung des Netzwerks, denn es wird schwieriger, die Motivation für ein starkes Engagement aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wird die Einbindung von Experten und die Weiterentwicklung des Arbeitsprogramms geschwächt oder erschwert. Eine schwächere Leitung, eine geschwächte Position der Experten und eine weniger dynamische Weiterentwicklung des Arbeitsprogramms können zu einer Dämpfung der Aktivitäten und damit zu einer schwächeren Weiterentwicklung der Wissensbasis führen. Dieser dämpfende Regelkreis zeigt, wie das Erreichen intendierter Ergebnisse tendenziell zur Schwächung des Zusammenwirkens der Einflussfaktoren beiträgt. Hypothetisch führt dies zu einem Oszillieren zwischen dem Erreichen zufriedenstellender Ergebnisse und der Notwendigkeit, den dämpfenden Rückwirkungen (weniger Engagement usw.) etwas entgegenzusetzen (z. B. Erhöhung des Ressourceneinsatzes, durch die Evaluation der Ergebnisse, das Aufstellen neuer Ziele usw.). Ob der Ordnungsübergang hin zur Umsetzung bereits erfolgt ist, wird im folgenden Abschnitt thematisiert.

4.4.3 Das Muster Umsetzung auf nationaler Ebene und der dritte Ordnungsübergang

Dieser dritte Übergang, der die Realisierung oder Umsetzung der ELGPN-Ergebnisse auf nationaler Ebene, das heißt in den 29 beteiligten Staaten, fokussiert, kann als besonders kritisch bezeichnet werden. Dies liegt darin begründet, dass die Förderung erfolgreicher Veränderungen auf der nationalen Ebene in der Programmatik des Netzwerks vorgesehen ist, somit die Existenzberechtigung des Netzwerks an das Erreichen dieses Ordnungsübergangs geknüpft ist. Im ELGPN-Prozess (und man kann annehmen, dass auch in vielen Organisationsentwicklungsprozessen ähnliche Konstellationen vorliegen) arbeitete eine Gruppe von Akteuren als Abgesandte anderer Systeme (hier nationale Ministerien, Expertengruppen etc.) gemeinsam an der Entwicklung von Ergebnissen. Um aber in einem weiteren Entwicklungsabschnitt des Netzwerks einen Symmetriebruch im Sinne der Umsetzung leisten zu können, muss eine Verbindung © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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zwischen den verschiedenen Systemen (Netzwerk, nationale Systeme) hergestellt werden. Darstellung der Einflussfaktoren und der Systemmodellierung Die Modellierung zum dritten Ordnungsübergang versucht dies zu beleuchten. In einer bewusst noch vereinfachten Darstellung werden Einflussfaktoren für diesen Ordnungsübergang identifiziert (s. auch Abb. 1). Diese sind: • die aktivierende Wirkung des Prozesses auf nationale Akteure, wie diese im Abschnitt 4.4.2 beschrieben wurden; • das Erreichen einer gemeinsamen Wissensbasis, insbesondere gemeinsamer Ergebnisse, aber auch im Sinne eines besseren Verständnisses über nationale Unterschiede oder Politikprozesse; • nationale Interessen, die im Einklang mit dem Ergebnis sind, die also eine weitere Umsetzung der Ergebnisse fördern; • die Berücksichtigung von Faktoren, die positive nationale Interessen stärken, beispielsweise nationale Vorhaben, die im Einklang mit den Ergebnissen stehen; • nationale Interessen, die negativ oder indifferent gegenüber dem Ergebnis sind, die also eine weitere Umsetzung der Ergebnisse ablehnen; • die Berücksichtigung von Faktoren, die negative Interessen stärken, beispielsweise der Wechsel einer Regierung oder wirtschaftliche Schwierigkeiten eines Staates, die zu anderen Prioritätensetzungen führen sowie • die tatsächlichen Umsetzungen, im Sinne von nachweisbaren Aktivitäten auf der nationalen Ebene, die im Einklang mit den ELGPN-Zielen und -Ergebnissen stehen. Einige der in das idiographische Modell eingeführten Einflussfaktoren sind außerhalb des ELGPN-Systems angesiedelt. Sie stellen also eine Verbindung her zwischen den Voraussetzungen zur Umsetzung der Ergebnisse wie sie im ELGPN-Netzwerk geschaffen wurden (s. 4.4.2) und der tatsächlichen Realisierung auf der nationalen Ebene. Wichtig sind in diesem Muster die beteiligten Akteure aus den Nationalstaaten. Diese sind im Einflussfaktor Aktivierende Wirkung des Prozesses auf die nationalen © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Akteure berücksichtigt. Ihr realer Einfluss in den nationalen Systemen müsste jedoch noch näher untersucht werden. Es kann angenommen werden, dass ihre Beteiligung am Prozess eine Änderung ihrer individuellen Muster (bspw. Einstellungen, Wissen, emotionale Verbindung zur Thematik Beratung) bewirkt hat. In Bezug auf ihren nationalen Ursprungskontext (d. h. beispielsweise als Mitarbeiter in einem Ministerium) ist unklar, wie diese Veränderungen dazu beitragen, einen Wandel (z. B. Anstoß für die Umsetzung von Ergebnissen) anzustoßen und zu stabilisieren. Die empirische Basis für den dritten Ordnungsübergang sind die Daten der summativen Evaluation des ELGPN-Prozesses (Vuorinnen u. Weber, 2010), die Mitte 2010 vom Autor in Zusammenarbeit mit dem Koordinator des ELGPN-Netzwerks erhoben wurden sowie die Beispiele guter Praxis der Umsetzung in den Nationalstaaten (vgl. ELGPN, 2010). Gegenstand dieser Erhebung war unter anderem die Identifikation der bisherigen Realisierung von Maßnahmen auf nationaler Ebene, die den Zielen von ELGPN entsprechen. Je mehr Maßnahmen auf der nationalen Ebene umgesetzt sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, eines erreichten Symmetriebruchs und damit des dritten Ordnungsübergangs. Die Daten zeigen jedoch, dass es zu den einzelnen Zielen, zu denen Daten erhoben wurden, sowohl qualitativ als auch quantitativ unterschiedlich gut ausgeprägte Umsetzungsaktivitäten gibt. Der dritte Übergang wäre erreicht, wenn die Realisierung der ELGPN-Ergebnisse auf der nationalen Ebene nachhaltig erfolgt ist, das ELGPN-Netzwerk also eine Wirkung in den Nationalstaaten entfaltet hat. Beispiele dafür sind die Etablierung von interministeriellen Aktivitäten, der Aufbau von nationalen Foren oder nationaler Netzwerke, die Etablierung von Qualitätsaktivitäten auf nationaler Ebene und Hinweise auf eine stärkere intersektorale Verknüpfung. Die Anzahl aktueller Aktivitäten ist ein wichtiger, jedoch nicht der entscheidende Indikator. Vielmehr sind qualitative Fragen für die Nachhaltigkeit und den tatsächlichen Erfolg der Netzwerkaktivitäten entscheidend, um zu beurteilen, ob der Übergang in diesem Entwicklungsabschnitt substanziell gelungen ist. Die Auswertung der Quellen deutet bisher im Hinblick auf die Nachhaltigkeit und die © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Abbildung 3: Umsetzung der ELGPN-Ergebnisse. Zusammenwirken der Einflussfaktoren zum dritten Ordnungsübergang

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Breite der Umsetzung eher darauf hin, dass sich das Netzwerk in einem Zustand der Symmetrie befindet. Es können eindeutige Einflussfaktoren identifiziert werden, die auf das Erreichen der Zielsetzungen hin stimulieren. Jedoch bestehen auf der anderen Seite (insbesondere auf nationaler Ebene) eigene, teilweise gegenläufige Interessen, die einer Realisierung des gemeinsamen Musters entgegenstehen. Beispiele dafür sind: • Nationale Akteure sind aktiv, folgen aber eher ihrer eigenen Programmatik und lehnen (zumindest implizit) gemeinsame Zielsetzungen ab (ablesbar etwa an den Umsetzungen von nationalen Programmatiken, die sich wenig oder kaum an einer gemeinsamen Wissensbasis oder Ergebnissen ausrichten). • Nationale Akteure sind zwar nicht offen gegen die Ergebnisse, verhalten sich aber indifferent oder setzen andere Prioritäten (ablesbar etwa an fehlender Beteiligung der relevanten Ministerien, fehlende Aktivitäten, u. a.). • Nationale Akteure setzen zwar die Ergebnisse in Handeln um, tun dies jedoch nicht in der nötigen Breite und Nachhaltigkeit (ablesbar etwa an schwacher Finanzierung der nationalen Aktivitäten). Wie dieser empirische Zwischenbefund als Zusammenwirken von Einflussfaktoren modelliert werden kann, wird im Folgenden anhand einiger exemplarisch dargestellter Zusammenhänge erläutert. Zusammenwirken der Einflussfaktoren und der dritte Ordnungsübergang Im folgenden Abschnitt wird das idiographische Modell (s. Abb. 3) auf Zusammenhänge hin untersucht, die den dritten Ordnungsübergang wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen. Dies kann anhand einiger Regelkreise thematisiert werden. Regelkreise, die den Ordnungsübergang ermöglichen und verstärken sind die Regelkreise g und h: Der Regelkreis g zeigt, dass strukturelle Unterstützung durch den weiteren Prozess (z. B. bereitgestellte finanzielle oder personelle Ressourcen, die durch das Netzwerk zur Verfügung gestellt werden) geeignet ist, © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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positive nationale Interessen zu verstärken. Dies wiederum (insbesondere wenn eine kritische Masse positiv interessierter Staaten überschritten wird) macht eine weitere und vielleicht auch stärkere strukturelle Unterstützung des Prozesses (von Seiten der Europäischen Union aber auch von Seiten einzelner Nationalstaaten) wahrscheinlicher. An diesem ersten Beispiel wird erkennbar, dass die Fortsetzung des Prozesses wichtig für die Erreichung der Umsetzung ist. Das Netzwerk hat nicht nur eine einmalig abzuarbeitende Aufgabe, sondern unterstützt durch seine Existenz am Thema Beratung interessierte Mitgliedstaaten und umgekehrt. Ein zweiter Regelkreis (h) zeigt, wie auch der Einflussfaktor Erreichte Wissensbasis positiv in Richtung einer Symmetriebrechung wirkt. Regelkreis h: Die Erreichte Wissensbasis stärkt die Strukturelle Unterstützung. Beispielsweise ist es notwendig, dass das ELGPNNetzwerk vorzeigbare Ergebnisse hervorbringt, um weiter unterstützt zu werden. Dies wirkt sich jedoch auch weiter darauf aus, dass Einflussfaktoren, die verstärkend auf positiv eingestellte Nationalstaaten wirken, gestärkt werden. Solche Faktoren sind zum Beispiel eigene nationale Arbeitsmarkt- oder Bildungspolitiken, die in Einklang mit den ELGPN-Zielen sind. Es sind aber auch einzelne Akteure auf nationaler Ebene, wenn diese positiv den Zielen oder Ergebnissen des Netzwerks gegenüberstehen. Solche Faktoren stützen das positive Engagement einzelner Staaten für die Umsetzung der ELGPN-Ergebnisse und sie wirken positiv zurück auf die aktivierende Wirkung des Prozesses. Sichtbar wird dies etwa daran, dass die Beispiele guter Praxis durchaus auf andere Staaten animierend wirken. Damit könnten sie auch eine Dämpfung negativer nationaler Interessen bewirken. Jeder Fortschritt im Zusammenwirken dieser Faktoren in Richtung Umsetzung ist wiederum eine Verstärkung der Relevanz der erreichten Wissensbasis. Die im Modell angenommene indifferente oder negative Haltung einzelner Nationalstaaten zur Arbeit oder den Ergebnissen des Prozesses können, so zeigt dieser Regelkreis, im Prozess gedämpft bzw. ins Positive verändert werden. Die Einflussfaktoren Wissensbasis, Aktivitäten und Strukturen sind dafür geeignet, im Zusammenwirken eine die negativen Vorzeichen umkehrende © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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oder zumindest dämpfende Wirkung zu entfalten. Neben den skizzierten verstärkenden Regelkreisen, die letztlich im Zusammenwirken von Faktoren eine Symmetriebrechung wahrscheinlich machen, werden beim dritten Übergang auch negative Einflussfaktoren und in Folge dessen auch dämpfende Regelkreise modelliert. Hintergrund dafür ist das Ergebnis der bisherigen Evaluation, die faktisch zeigt, dass nicht alle beteiligten Länder eine Umsetzung der Ergebnisse realisiert haben oder gegen eine Beteiligung an einzelnen Themen optieren (»Opting-out-Strategie«, vgl. Sackmann et al., 2005). Diese Aspekte werden als negative nationale Interessen zusammengefasst. Ein erster Regelkreis, der den dämpfenden Einfluss indifferenter oder negativer nationaler Interessen beschreibt, ist der Regelkreis i: Ausgangspunkt sind Einflussfaktoren, die geeignet sind, ein negatives nationales Interesse zu verstärken. Ein Beispiel für einen solchen Einflussfaktor wäre eine negative wirtschaftliche Entwicklung in einem Nationalstaat. Dies wirkt sich verstärkend auf eine ohnehin indifferente oder negative Interessenlage eines Staates aus (z. B. werden gegenläufige Prioritäten gesetzt). Der Regelkreis stellt nun eine Verbindung dieser negativen Interessen mit der strukturellen Unterstützung des Prozesses her. Angenommen wird, dass zum Beispiel der betroffene Staat weniger Ressourcen für die ELGPN-Aktivitäten einsetzt, begonnene Aktivitäten einfriert oder die von ihm entsandten Vertreter weniger unterstützt. Dieser Regelkreis beschreibt die einfachen Zusammenhänge der strukturellen Unterstützung des Prozesses (das sind bspw. Finanzmittel, politische Aufmerksamkeit auf den Prozess usw.) und dem Einflussfaktor, der negatives nationales Interesse stärkt. Dieser Einflussfaktor vereint solche Einflüsse, die eher auf der nationalen Ebene wirken (bspw. die Befürchtung einer zu großen Einflussnahme der EU-Ebene auf nationale Zuständigkeiten). Im Zusammenhang wirken diese dann dämpfend. Ein weiterer dämpfender Regelkreis ist der Regelkreis j: Bestehende negative nationale Interessen dämpfen das Erreichen einer gemeinsamen Wissensbasis. Ohne diese Wissensbasis wird die Möglichkeit zur Umsetzung geschwächt. Da aber eine erfolgreiche Umsetzung verstärkende Rückwirkungen auf positiv eingestellte Nationalstaaten hätte, wirkt sich eine schwächere Umsetzung auch © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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dämpfend auf die positiven nationalen Interessen aus und hat auch dämpfende Wirkung auf die strukturelle Unterstützung des Prozesses (z. B. Finanzielle Unterstützung durch die EU). In diesem Wirkzusammenhang wird abgebildet, dass negative nationale Interessen direkt auf die erreichten Ergebnisse (z. B. die gemeinsame Wissensbasis) einwirken, indem sie zum Beispiel Ergebnisse abschwächen, verwässern, hinauszögern oder darauf drängen, dass die Verbindlichkeit der erzielten Ergebnisse möglichst gering bleibt. Da das erreichte Wissen und auch andere Ergebnisse jedoch zentrale Faktoren für die Umsetzung und den hier thematisierten Ordnungsübergang sind, ist dies eine sehr direkte negative Einflussnahme, die sich, wie skizziert, weiter verstärken kann.

5 Diskussion der Ergebnisse und Ausblick Im vorgestellten Ausschnitt der Untersuchung des ELGPN-Prozesses konnte in den dargestellten idiographischen Modellen zu den rekonstruierten Mustern gezeigt werden, welche Einflussfaktoren zusammengewirkt haben bzw. zusammenwirken, um die Ordnungsübergänge zu realisieren. Analysiert wurde so der Ordnungsübergang, der zur Bildung des ELGPN-Netzwerks führte (s. Abschnitt 4.4.1) und derjenige, der das Erreichen von Ergebnissen im Netzwerk ermöglichte (s. Abschnitt 4.4.2). Anhand einzelner identifizierter Regelkreise wurde diskutiert, inwiefern das Zusammenwirken von Einflussfaktoren zum Erreichen der Ziele des Prozesses und insbesondere des dritten Ordnungsübergangs (Umsetzung der Ergebnisse auf nationaler Ebene) beiträgt (s. Abschnitt 4.4.3). Ein Ergebnis soll besonders hervorgehoben werden: Unbestritten haben Struktur- und Prozessfaktoren, wie sie in der Literatur beschrieben sind (bspw. Beer u. a., 1990; Kotter, 2006; Gerkhardt u. Frey, 2006; Haken u. Schiepek, 2010), zum Beispiel Führung, Definition klarer Ziele, Gewinnung der Beteiligten zur Mitarbeit, intensive Kommunikation als Prozessfaktoren (hier im Kontext der Aktivitäten des Netzwerks berücksichtigt) sowie strukturelle Faktoren (Aufbau funktionsfähiger Arbeits- und © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

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Verantwortungsstrukturen, Vorliegen eines definierten Arbeitsprogramms) einen großen Einfluss. Daneben sind aber Einflussfaktoren aus der Umgebung des Systems (z. B. der Einfluss der nationalen Ebene auf die Ergebnisse, Interessenskonstellationen, die Vernetzung mit anderen Institutionen) und vor allem wissensbezogene Faktoren (Beteiligung von Experten, Wissen aus Referenzaktivitäten, Peer-Learning, erreichte Zwischenergebnisse und ähnliches) für den zweiten Ordnungsübergang von großer Relevanz. Für den dritten Ordnungsübergang wurde diskutiert, ob dieser tatsächlich erreicht wurde oder ob nicht vielmehr davon ausgegangen werden sollte, dass zwar durch die erzielten Ergebnisse ein alternatives Muster im Entstehen ist, dass die Etablierung bisher jedoch noch nicht eindeutig gelungen ist, sodass man nicht von einer Symmetriebrechung sprechen kann. Insbesondere wurde herausgearbeitet, dass eine Umsetzung von Ergebnissen in den nationalen Systemen sehr voraussetzungsvoll ist und dass ein längerer Prozess des iterativen Zusammenwirkens nationaler und transnationaler Strukturen nötig sein könnte, um tatsächlich eine Symmetriebrechung zu erreichen. Der vorliegende Beitrag kann sowohl für den skizzierten theoretischen Rahmen als auch für die empirische Anwendung dieses Rahmens lediglich einen kleinen Schritt darstellen. Die Ergebnisse können als Grundlage für die Gestaltung des weiteren ELGPN-Prozesses von Interesse sein. Im Zuge einer Expertenbefragung sollen Beteiligte des ELGPN-Prozesses einbezogen werden, um die Relevanz identifizierter Einflussfaktoren zu bewerten und deren gegenseitige Wirkung in einer Einflussmatrix abzuschätzen. Ziel könnte dabei sein, die Vollständigkeit, die Einschätzung der Stärke der Einflussfaktoren sowie die Zusammenhänge auf eine validere Grundlage zu stellen.

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

Die Autorinnen und Autoren

Martin Biehaule, M. A., ist im Bereich Karriere- und Placementberatung tätig. Heiko Eckert, Dr. rer. pol., ist Geschäftsführer des Center for Transdisciplinary Governance sowie Lehrbeauftragter am Institut für Systemisches Management und Public Governance an der Universität St. Gallen. Johanna Hein, M. A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitseinheit Weiterbildung und Beratung des Instituts für Bildungswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Marco Paukert, Dr., Diplom-Psychologe, Schulpsychologe, ist am Staatlichen Schulamt für den Kreis Offenbach und die Stadt Offenbach am Main tätig. Günter Schiepek, Univ.-Prof. Dr.phil. Dr. phil. habil., ist Leiter des Instituts für Synergetik und Psychotherapieforschung an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Christiane Schiersmann ist Professorin für Weiterbildung und Beratung am Institut für Bildungswissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Heinz-Ulrich Thiel, Dr., OE-Berater und Supervisor, ist Dozent an der Universität Heidelberg im Masterstudiengang »Berufs- und organisationsbezogene Beratungswissenschaft«. Ariane Wahl, Diplom-Betriebswirtin, M. A. berufs- und organisationsbezogene Beratungswissenschaft, ist freiberuflich als Coach und Beraterin im

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525403532 — ISBN E-Book: 9783647403533

Die Autorinnen und Autoren

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Bereich Beruf, Karriere und Beschäftigung für die Firma Heidelberger Coaching tätig. Peter Weber, Diplom-Pädagoge, ist seit 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitseinheit Weiterbildung und Beratung am Institut für Bildungswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

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