Über die Verzweiflung hinaus: Das Jahrhundert zwischen Stefan Zweig und Aharon Appelfeld 9783737004480, 9783847104483, 9783847004486

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Über die Verzweiflung hinaus: Das Jahrhundert zwischen Stefan Zweig und Aharon Appelfeld
 9783737004480, 9783847104483, 9783847004486

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Poetik, Exegese und Narrative

Studien zur jüdischen Literatur und Kunst

Poetics, Exegesis and Narrative

Studies in Jewish Literature and Art

Band 4 / Volume 4

Herausgegeben von / edited by Gerhard Langer, Carol Bakhos, Klaus Davidowicz, Constanza Cordoni

Wolfgang Treitler

Über die Verzweiflung hinaus Das Jahrhundert zwischen Stefan Zweig und Aharon Appelfeld

V&R unipress Vienna University Press

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5200 ISBN 978-3-8471-0448-3 ISBN 978-3-8470-0448-6 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0448-0 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V&R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und des Landes Niederösterreich. © 2015, V&R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: »pays vert«, © Hazel Karr, Tochter der Malerin Lola Fuchs-Carr und des Journalisten und Schriftstellers Maurice Carr (Pseudonym von Maurice Kreitman); Enkelin der bekannten jiddischen Schriftstellerin Hinde-Esther Singer-Kreitman (Schwester von Israel Joshua Singer und Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer) und Abraham Mosche Fuchs. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

‫לאהרן ידידי‬ Für meinen Freund Aharon

This is the greatness of the prophet: he is able to convert terror into a song. Abraham Joshua Heschel, The Prophets

Inhalt

Der Zug in die Katastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Zweig – Sehnsucht nach Frieden und Glück des Letzten 1. Sehnsucht nach Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lebens- und Schreibwege eines Weltenwanderers . . . . . 3. »Im Schnee« (1901) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Franz Kafka – ein Mensch »ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach« 1. Was für eine Welt… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Von Prag nach Klosterneuburg – mit Hoffnung auf Eretz Israel . . 3. »In der Strafkolonie« (1916/1919) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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55 55 60 74

Franz Werfel – Gottes Geheimnis und menschliche Heiligkeit 1. Zeugnis gegen die Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Immer nur vorwärts« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Höret die Stimme« (1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jean Améry – Es gibt keine »Banalität des Bösen« 1. Ein isolierter »Katastrophenjude« . . . . . . . 2. Ressentiment und Resistenz . . . . . . . . . . 3. »Die Tortur« (1966) . . . . . . . . . . . . . . .

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Abraham Sutzkever – »Juden, verschwört euch gegen den Tod!« 1. Widerstand ohne Ergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Weg eines Lebens: Sibirien – Wilna – Tel Aviv . . . . . . . . 3. »Frau Hiob« (1954) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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167 167 177 194

Elie Wiesel – »Ich, der ich dabei war« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verstehen wollen und nicht verstehen können . . . . . . . . . . . . .

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2. Sighet – Auschwitz – Frankreich – USA . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Die Geisel« (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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255 255 271 294

Zugbahnen über die Verzweiflung hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aharon Appelfeld – »Ich habe das Tor gesprengt« . . . . . . . . . 1. Der Mensch und seine Sprache – der Mensch und seine Welt 2. Von Czernowitz nach Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen« (2010) . . . . . .

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Vorwort

In diesem Buch geht es um einen Weg durch etwas mehr als ein Jahrhundert bis in die Gegenwart, begleitet von sieben jüdischen Schriftstellern. Das Wort Jude ist ein Lehnwort des hebräischen Jehuda, und dieses Wort hat eine sehr direkte Verbindung zum Wort Dank. Einen solchen Dank möchte ich dem Buch mehrfach voranstellen. Zuerst möchte ich meinem Kollegen Univ.-Prof. Gerhard Langer danken für die Aufnahme in die Reihe Poetik, Exegese und Narrative und für seine offenherzige Begleitung, ebenso Ruth Vachek und Oliver Kätsch von der V &R unipress GmbH für die Hilfestellungen bei der Typoskriptgestaltung und Finanzierung. Diese wiederum wurde dankenswerterweise übernommen von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und von der Abteilung Wissenschaft und Forschung des Amtes der NÖ Landesregierung – keine Selbstverständlichkeit in Zeiten verknappter Fördermittel. Mit Aharon Appelfeld verbindet mich eine Freundschaft. Dankbar bin ich ihm für viele Gespräche in Jerusalem, in denen er mir den Blick und das Ohr geöffnet hat für wichtige Aspekte jüdischer Literatur, für jüdisches Leben und Überleben gestern und heute.

Der Zug in die Katastrophe

Fast zwei Jahrtausende jüdischer Geschichte angesichts des Christentums liegen zurück. Eine Katastrophengeschichte? In den anfänglichen Polemiken der späten Literatur des Neuen Testaments, also etwa ab der Zeit nach der Tempelzerstörung im Jahr 70. n. d. Z., braute sich schon die Absolutheit des alle umfassenden Christentums zusammen, die streng zwischen Freund und Feind unterschied und ebenso streng antijüdisch wirkte. Denn der Jesus in den Mund gelegte Satz: »Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich; wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut« (Mt 12,30; Lk 11,23), prägte die Totalität der Gruppe ebenso, wie er die ihr korrespondierende Aversion gegen die Anderen rasch steigerte, gleichzeitig die kindische Furcht vor den Anderen freisetzte und diese für den eigenen totalitären Anspruch ausnutzte. Theodor W. Adorno verstand diesen Zusammenhang von der Selektion her, die in den Eingangsbereichen der nationalsozialistischen Todeslager ausgeübt wurde: »Das Ende ist die medizinische Untersuchung nach der Alternative: Arbeitseinsatz oder Liquidation. ›Wer nicht für mich ist, ist wider mich‹ war von jeher dem Antisemitismus aus dem Herzen gesprochen. Es gehört zum Grundbestand der Herrschaft, jeden, der nicht mit ihr sich identifiziert, um der bloßen Differenz willen ins Lager der Feinde zu verweisen: nicht umsonst ist Katholizismus nur ein griechisches Wort für das lateinische Totalität, das die Nationalsozialisten realisiert haben. Sie bedeutet die Gleichsetzung des Verschiedenen, sei’s der ›Abweichung‹, sei’s des Andersrassigen, mit dem Gegner. Der Nationalsozialismus hat auch darin das historische Bewußtsein seiner selbst erreicht: Carl Schmitt definierte das Wesen des Politischen geradezu durch die Kategorien Freund und Feind. Der Fortschritt zu solchem Bewußtsein macht die Regression auf die Verhaltensweise des Kindes sich zu eigen, das gern hat oder sich fürchtet.«1

Solche Selbstunterscheidungen und Abgrenzungen kannte die jüdische Tradition zwar auch: Nach dem Ende des Babylonischen Exils im 6. Jhdt. v. Chr. und der Reorganisation Jerusalems als Stadt und religiöses Wohngebiet befahl der Priester Esra den Männern, die nichtjüdische Frauen geheiratet hatten, sich von 1 Adorno Theodor W., Minima Moralia, 172.

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diesen zu trennen. Hoch war sein Einsatz, indem er kündete, solche Ehen seien gegen Gott ein Treuebruch, der nur durch ein Bekenntnis zu ihm und die diesem Bekenntnis entsprechende Lebensform zu sühnen sei (Esra 10,10f). Später, in rabbinischer Zeit, diente der Ausschluss solcher gemischten Ehen der gleichen Abgrenzung: Nicht erst der Beischlaf mit einer Nichtjüdin, sondern schon das »Alleinsein mit einer Nichtjüdin«2 galt als untersagt, als Anbahnung einer möglichen Ehe war es verdächtig. Doch weil den Rabbinen nichts so fern lag wie eine zölibatäre Existenz3, die mit teils drastischen Maßnahmen dem Eros zu Leibe rückte und, wenn er nicht zu bezwingen war, zur schmerzhaften Selbstbestrafung schritt4, kannten sie wohl aus naher Erfahrung den verführerischen 2 bT Abodah Zara 36b. 3 Das Mischnagebot ist hier ganz eindeutig: »Niemand unterlasse die Fortpflanzung, es sei denn, dass er Kinder hat.« (bT Jabamuth 61b). 4 Gregor erzählt in seinen Dialogen, dass Benedikt, der Gründer des europäischen Mönchstums im 6. Jhdt., in der Einsamkeit von Subiaco, wohin er nach dem Fortzug aus Rom gegangen war, in eine »heftige sinnliche Versuchung« gefallen war. »Irgendwann hatte er eine Frau gesehen, die ihm der böse Geist jetzt wieder vor Augen führte. Durch das Bild ihrer Schönheit entfachte er im Diener Gottes eine solche Glut, daß sich das brennende Verlangen in seiner Brust kaum bändigen ließ. Fast hätte die Leidenschaft ihn überwältigt, und er war nahe daran, die Einsamkeit zu verlassen. – Da traf ihn plötzlich der Blick der göttlichen Gnade, und er kehrte zu sich selbst zurück. Er sah in der Nähe ein dichtes Nessel- und Dornengestrüpp, zog sein Gewand aus und warf sich nackt in die spitzen Dornen und brennenden Nesseln. Lange wälzte er sich darin; als er aufstand, war er am ganzen Körper verwundet. – So heilte er durch die Wunden der Haut am eigenen Leib die Wunden der Seele; die Lust wurde zum Schmerz.« (Gregor der Große, Der hl. Benedikt, 111). Papst Gregor, selbst Benediktiner, schuf hier die Sequenz eines zölibatären Heldenstücks mit den zu jeder antiken Propaganda gehörenden Übertreibungen; da es weder ein jüdisches Kloster noch eine jüdische Zölibatsforderung gibt, findet sich auch kein jüdisches Äquivalent zu dieser furchtbaren Geschichte; kurz nur ist der Weg von einer solchen Selbstversehrung, die aus einer tiefen Verachtung der durchaus zweideutigen, aber schöpferischsten Kräfte des Menschen aufsteigt, zur zerstörenden Verachtung derer, die eine solche zölibatäre Form grundsätzlich nicht leben. Wie die Selbstbestrafung Benedikts, so glättet Gregor rhetorisch auch die Ausmerzung des Anderen– und zwar genau in dem hier angesprochenen Bereich der Zölibatspraxis: Ein Jude, der nach Rom kam und zur Nacht sich in einen leeren Apollotempel legte, geschützt durch das Kreuz, das er auf seine Brust gelegt hatte, »obwohl er an das Kreuz nicht glaubte« (Gregor der Große, Vier Bücher Dialoge, 117), sah im mitternächtlichen Traum, wie ein Bischof angesichts einer in seinem Haushalt lebenden gottgeweihten Jungfrau in Versuchung geriet. Nächsten Tag kam der namenlose Jude zum Bischof und erzählte ihm das alles, was ihm im Traum gezeigt wurde. Der Bischof, zunächst in Angst vor einer Denunzierung durch den Juden, wirft sich zum Gebet nieder, nachdem der Jude ihm zugesagt hatte, von der bischöflichen Versuchung nichts bekannt zu machen. Das brachte den Bischof auf den reinen, zölibatären Weg zurück. Der also geheilte Kirchenmann schritt nun zur zweifachen Tat: Er machte aus dem Apollotempel eine Kirche des hl. Andreas »und wurde von jener Anfechtung des Fleisches vollkommen frei. Den Juden aber, durch dessen Gesicht und durch dessen Zurechtweisung er gerettet wurde, führte er zum ewigen Heil: denn er unterwies ihn in den heiligen Geheimnissen des Glaubens, reinigte ihn durch das Wasser der Taufe und führte ihn in den Schoß der heiligen Kirche. So geschah es, daß dieser Hebräer, während er für das Heil eines andern besorgt war, sein eigenes erlangte, und der allmächtige Gott gerade dadurch den einen zu einem guten Leben führte, daß er den

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Zauber der erotischen Begierde. Deshalb regelten sie auch die Verhältnisse, in denen dieser Zauber Grenzen niederriss und fruchtbar wurde, nicht durch ein Vorgehen gegen den Körper, sondern durch eine Systematisierung der Zugehörigkeit der Nachkommenschaft auf der Basis der Mischna. Sie hatte festgelegt, dass jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat.5 Daraus ergaben sich ganz klare Einschätzungen in Bezug auf allgemeine, aber auch geschlechtliche Verbindungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen.6 Sie alle standen und blieben unter der Voraussetzung der Abgrenzung, die sich aus der frühen Ablehnung orgiastischer Kulte herleiten lässt7 und zu teils markanten Sanktionen bei Ehebruch geführt hat. Denn von Anfang an hielt sich die stets kleine jüdische Gemeinschaft für gefährdet in ihrem Bestand.8 Das unterscheidet jüdische Selbstabgrenzung grundsätzlich von der christlichen Selbstabgrenzung gegen das Judentum ab dem 4. Jhdt., also ab jener Epoche, die mit Kaiser Konstantin und seinen reichspolitischen Absichten einsetzte und kirchlich auf dem vom Kaiser einberufenen Konzil von Nizäa im Jahr 325 lehrhaft vollzogen wurde.9 Blieb jüdische Selbstabgrenzung eine Angelegenheit einer Minderheit ohne politische Möglichkeiten, so wirkte die christliche Selbstabgrenzung gegen das Judentum durch den Hebel politischer Macht zunehmend fatal.10 Abgrenzung diente allenfalls in der Antike dem Selbstschutz der entstehenden Christenheit, ihrer selbst noch sehr unsicher und schwankend zwischen gnostischen Gruppen und denen, die sich später als rechtgläubig bezeichneten, weil sie geschichtlich gesiegt haben. Diese Rechtgläubigen transportierten einen polemischen Antijudaismus; denn sie mussten gleichzeitig mit ihrer Akzeptanz jüdischer heiliger Schriften, die von Gnostikern rundweg abgelehnt wurden, die jüdische Gemeinschaft mit allen Mitteln bekämpfen.11 Hier setzte die radikale Enterbung des Judentums an, contra Iudaeos wurde zur großen, gefährlichen Losung, die ab dem frühen Mittelalter mit steigender Härte Juden vor die Alternative von Konversion oder Vertreibung stellte.12 Im Hoch-

5 6 7 8 9 10 11 12

andern im guten Leben erhielt.« (ebd., 118). Wird ein Jude also wirklich gereinigt, so verliert er sein Judentum und wird erst dadurch zu einem guten Leben geführt. – Die Implikationen sind so traditionell, wie sie theologisch das Judentum vernichten. bT Kidduschin 66b. bT Aboda Zara 36b; bT Kidduschin 68b. Die Lehren des Judentums nach den Quellen I, 206f. Vgl. Bereschit Rabba Cap. XII, Par. 14–17 (Der Midrasch Bereschit Rabba, 183–186): Da wird die Bedrohung der kleinen Sippe Abrahams durch den mächtigen Pharao reflektiert, gleichsam eine Grundkonstellation jüdischer Existenz. Boyarin Daniel, Border Lines, 196. Fredriksen Paula, The Birth of Christianity, 27. Ebd., 25f. Paula Fredriksen sieht diese Entwicklung angebahnt durch Kirchenväter wie Justin, Tertullian, Irenäus und Hippolyt; ab dem Jahr 312, dem Jahr der kaiserlichen Tolerierung des Christentums, ergaben sich langsam Möglichkeiten, den Druck auf jüdischen Gemeinden, die

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mittelalter war die Selbstabgrenzung gegen das Judentum als Schutz der Christenheit weithin sinnlos geworden, wurde aber – scheinbar paradoxerweise – forciert, denn jetzt ging es an die Vergeltung gegen die immer noch verführerischen »Lästerer Christi«13, wie es das Vierte Laterankonzil im Jahr 1215 ausdrückte. Auf diesem Konzil wurden Gewandkennzeichnungen verordnet, damit es zu keiner Vermischung zwischen Christen und Juden komme, weil beide voneinander aufgrund der Gleichheit ihrer Erscheinung nicht unterscheidbar sind: »Damit die Auswüchse dieser Vermischung, die man nur verurteilen kann, unter dem Deckmantel eines solchen Versehens kein Schlupfloch der Entschuldigung mehr finden können, bestimmen wir: Die Juden und Sarazenen beiderlei Geschlechts müssen sich in jeder christlichen Provinz und zu allen Zeiten durch die Art ihrer Kleidung in der Öffentlichkeit von den anderen Völkern unterschieden; denn schon durch Mose ist ihnen dies, wie zu lesen ist, auferlegt worden. An den Tagen der Klagen und der Passion des Herrn dürfen sie überhaupt nicht in der Öffentlichkeit erscheinen.«14

Den Konvertiten, die zum Christentum übergetreten sind, schickt dasselbe Konzil noch eine warnende Mahnung nach: »Solche Leute müssen unbedingt von den Kirchenoberen von der Observanz der alten Lebensform abgebracht werden, damit, wer durch freie Willensentscheidung zur christlichen Religion gefunden hat, durch heilsamen Zwang bei ihrer Einhaltung bleibt; denn es ist weniger schlimm, den Weg der Herrn nicht zu erkennen, als ihn rückwärts zu gehen, nachdem man ihn erkannt hat.«15

In dieser Form von Abgrenzung herrscht das Freund-Feind-Schema genauso vor, wie Adorno es aphoristisch angedeutet hat, die Furcht vor den Anderen eingeschlossen, die sich im Herrschaftsgestus maskiert. Der Jude ist der Andere, der Gefährliche, der Zerstörende. Selbst als Konvertit entfällt ihm das zugedachte Tückische und Unheimliche nicht: Den Zwang, der ihn vorher als Juden drangsaliert hat, fühlt er als Konvertit nicht weniger. Hier war ein christlich-institutioneller Standard erreicht, der sich bruchlos über die Kirchenspaltung im lateinischen Westen hinweg erhielt und den deutschen Geist nicht mehr losließ. Selbst die philosophische Aufklärung entging ihm nicht. Unter ihrem Einfluss verstand auch Hegel das Judentum nicht als eine Religion der Gegenwart oder Zukunft. Als junger Denker erdachte er das Judentum in der Figur des Abraham als eine Gegebenheit, die mit nichts die es überall im Römischen Reich gab, zu steigern. »Beginning in the European early Middle Ages, bishops often put local Jews in the position of having to choose between conversion or exile; in the High Middle Ages, between conversion or death.« (ebd., 27). 13 Wohlmuth Josef (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien. Band 2, 266. 14 Ebd., 266. 15 Ebd., 267.

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Wirklichkeit berührt oder alteriert hat, sondern an den »Trieb nach Abhängigkeit von etwas Eigenem«16 gebunden blieb. Abstraktheit stand Abstraktheit gegenüber, der abstrakte Herr den abstrakten Knechten, die nichts miteinander verband außer der ebenso abstrakten Beziehung der absolute Macht auf die Knechtsgesinnung, und diese, so der junge Hegel, zertrampelte alles, was bis dahin als heilig gegolten hatte. »Das Schicksal des jüdischen Volkes ist das Schicksal Macbeths, der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing und so in ihrem Dienst alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermorden, von seinen Göttern (denn es waren Objekte, er war Knecht) endlich verlassen und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden mußte.«17

Der junge Philosoph dachte den Untergang des jüdischen Volkes, verlassen von seinem Gott, der über dieses religiös abstrakte Gebilde hinausstieg, und verlassen in einer Welt, deren Schönheit vom jüdischen Volk nicht nur verkannt, sondern verneint wurde. Hier war schon alles angelegt, was Hegels Systemdenken18 bestimmt hatte. Gerade wegen aller Aufhebung des Gewesenen dachte er vom jüdischen Volk als einer längst untergegangenen Gegebenheit, beerbt von der griechischen und römischen Religiosität und schließlich endgültig vom Christentum. Dass es das Judentum immer noch gab, musste für ihn anachronistisch sein, eine Überlagerung von Untergegangenem und Absolutem, wie sie im Halblicht der Erkenntnis und Wirklichkeit immer wieder entstehen mag. Doch der Untergang des Judentums wird an ihm selbst offenbart: Was in ihm zum Geist durchdrang wie etwa Spinoza in seiner Philosophie, war ohne die absolute Religion des Christentums nicht zu machen.19 Und diese sollte nach Hegel die versöhnte Identität von allem bilden, nämlich die zwischen der religiösen Selbstaufbietung Gottes und der erkennenden Vernunft – ein gewaltiger, ein titanischer Grundgedanke, der nicht zu halten war. Emil Fackenheim interpretierte das als fehlgegangenes Experiment des Denkens, was sich am »collapse«20 dieses Systems zeigte. »Jede Philosophie ist Philosophie ihrer Zeit, sie ist ein Glied in der ganzen Kette der geistigen Entwicklung«21, sagte Hegel in der Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Auch wenn er vorgab, im Zeitbezug und im etappenweisen Zeitfortschritt eine Notwendigkeit zu erkennen, die die »Langsamkeit des Weltgeistes« erkennbar macht, der »nicht pressiert ist, 16 17 18 19 20 21

Hegel Georg Wilhelm Friedrich, Der Geist des Christentums 294. Ebd., 297. Hegel Georg Wilhelm Friedrich, Werke 10, 370f; ders., Werke 16, 50–79. Fackenheim Emil L., To Mend the World, 117f. Ebd., 120. Hegel Georg Wilhelm Friedrich, Werke 18, 65.

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nicht zu eilen und Zeit genug hat – ›tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag‹«22, kam er selbst darüber doch nicht ins Absolute. In der Tradition des Zitats aus 2 Petr 3,8 – der eine christliche Deutung von Ps 90,4 vornahm, um wenig einleuchtend den Ausstand der messianischen Vollendung zu deuten – verschob Hegel den messianische Kern des Christentums, der vielleicht wirklich nicht zu halten war, in eine eschatologische Perspektive, die dem Christentum Zeit eintrug, die gar nicht mehr sein durfte, wenn der Nazarener der Messias gewesen sein soll. Aus der Naherwartung, die den Messias kennzeichnet, wurde ein diffuses und weit hinausgeschobenes Eschatologisches, dem Hegel philosophisch Gegenwart geben wollte in der absoluten Erkenntnis – ein alte christliche Idee, die sich stets an der nachchristlichen Gegenwart des Judentums stieß und dieses liquidierte. So saß auch Hegel im Zug in die Katastrophe, nicht als Betroffener, der nicht wusste, wohin es ging, und gewiss auch diesseits der Ahnung, dass mehr als ein Jahrhundert später Ausgesonderte eingepfercht in Viehwaggons massenweise in den Tod geführt wurden. Aber er erdachte eine Absolutheit, die in der antijüdischen Tradition christlichen Denkens die Auslöschung der jüdischen Religion implizierte und geistig auch vollstreckte. In der philosophischen Absolutheit Hegels hatte sich die politische, soziale und ökonomische schon verpuppt, in ihr auch die Aversion gegen das Judentum im Ganzen bestätigt. Haltesignale wie in der Kritischen Philosophie Kants23 gab es nicht mehr; dem, das nicht dazu passte, indem es als Nichtidentisches durch Negation markiert wurde, war »teleologisch«24 die Vernichtung schon eingeschrieben. Hegel stand am Anfang des 19. Jahrhunderts und vollendete sich in Berlin als gefeierter Philosoph. Nach ihm nationalisierte sich Europa rasch und verlor das Universale des Philosophen25, dem ohnedies oppressiver Geist innewohnte. Ein Beispiel für die Zeit und die Entwicklungen nach Hegel ist Arthur Schopenhauer. Er hielt den Juden generell für die Gestalt des Ahasverus, wie sie seit dem frühen 17. Jhdt. in deutschen Ländern als polemisches Sinnbild des Juden präsent war: 22 23 24 25

Ebd., 55. Adorno Theodor W., Negative Dialektik, 380. Ebd., 355. Ernst Düring (Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VII, 35f) steht dafür in der deutschsprachigen Philosophie, August Rohling für die deutschsprachige katholische Theologie (Schreckenberg Heinz, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte, 740f; Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus. VI, 264; Ders., Geschichte des Antisemitismus VII, 27), Richard Wagner für die deutschsprachige Kunst (Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VI, 237–265; Ders., Geschichte des Antisemitismus VII, 33), Gustav Freytag und Wilhelm Raabe für die deutschsprachige Literatur (ebd., 14f). eben konstituierte Turnvereine hatten mit ihren Köpfen Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn antisemitische Protagonisten (Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VI, 193f), studentische Burschenschaften ihr betont antisemitisches Profil (ebd., 190).

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Wegen seiner Verbrecherexistenz muss er ruhelos und ohne Heimat umherziehen.26 In der für den Antisemitismus bezeichnenden Form der Generalisierung schreibt Schopenhauer: »Der ewige Jude Ahasverus ist nichts Anderes, als die Personifikation des ganzen jüdischen Volkes. Weil er an dem Heiland und Welterlöser schwer gefrevelt hat, soll er von dem Erdenleben und seiner Last nie erlöst werden und dabei heimatlos in der Fremde umherirren. (…) So ist denn noch heute diese gens extorris, dieser Johann ohne Land unter den Völkern, auf dem ganzen Erdboden zu finden, nirgends zu Hause und nirgends fremd, behauptet dabei mit beispielloser Hartnäckigkeit seine Nationalität, ja, möchte, eingedenk des Abraham, … auch gern irgendwo recht fußen und Wurzel schlagen, um wieder zu seinem Lande zu gelangen, ohne welches ja ein Volk ein Ball in der Luft ist. – Bis dahin lebt es parasitisch auf den andern Völkern und ihrem Boden, ist aber dabei nichtsdestoweniger vom lebhaftesten Patriotismus für die eigene Nation beseelt … Das Vaterland des Juden sind die übrigen Juden: daher kämpft er für sie, wie pro ara et focis, und keine Gemeinschaft auf Erden hält so fest zusammen, wie diese.«27

Das Echo von Hegels Abraham-Motiv baut Schopenhauer zu einer Deutung aus, in der spätere nationalsozialistische Rhetorik unmittelbar zu hören ist: Zu Parasiten degradierte Existenzen können vernichtet werden, um den befallenen Körper zu retten. Nationalisierung und Antisemitismus hat Schopenhauer zu einer Identität verschmolzen, die sich gegenüber den geradezu mythischen und in diesem Sinn urstarken Bindekräften der Juden untereinander behaupten müssen. Und weil Parasiten sich in den gesunden Körper still und zunächst unerkannt einschleichen, um ihn dann wie einen morschen Baum zu Tode zu bringen, nimmt Schopenhauer, ohne sich darauf direkt zu beziehen, die alte Idee des Vierten Laterankonzils wieder auf, durch die die gefährlichste Weise der Verbindung, die über den Eros, gebannt werden soll, und dreht sie direkt um: Die Ausmerzung des Judentums soll nicht über seine Isolation erreicht werden, sondern durch gezielte geschlechtliche Vermischung bis zum völligen Untergang jüdischer Spuren in den Generationen. »Um … dem ganzen Unwesen ein Ende zu machen, ist gewiß das beste Mittel, daß man die Ehe zwischen Juden und Christen gestatte, ja, begünstige … Dann wird es über 100 Jahre nur noch sehr wenige Juden geben und bald darauf das Gespenst ganz gebannt, der Ahasverus begraben seyn, und das auserwählte Volk wird selbst nicht wissen, wo es geblieben ist. Jedoch wird dieses wünschenswerte Resultat vereitelt werden, wenn man die Emancipation der Juden so weit treibt, daß sie Staatsrechte, also Teilnahme an der Verwaltung und Regierung christlicher Länder erhalten.«28

26 Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus II, 138. 27 Schopenhauer Arthur, Parerga und Paralipomena, 278f. 28 Ebd., 280f.

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Seinem Herkommen nach lutherisch, konnte Schopenhauer ohne irgendein konfessionelles Problem dieses antisemitische Ziel eines katholischen Konzils aufnehmen. Genau hier endet das Schopenhauer zugeschriebene Außenseitertum.29 In der tiefen antijüdischen Aversion fand er mit unzähligen Anderen zusammen, ebenso in der Betonung herrschender Männlichkeit30, die im Christentum eine bis dahin völlig ungebrochene Geltung einnahm und gleichfalls später zum politischen Prinzip der Nationalsozialisten wurde. Schopenhauers Denken zeigt, dass der Geist der totalitären Oppression, der Hegels Universalsystem zumindest begleitete, durch seine Partikularisierung nicht schwand, sondern näher rückte, indem er nationaler wurde – ein gleichsam gegen Hegel laufender Volks- und Provinzgeist, in dem das Prinzip katholischer Abgrenzung und Ausmerzung des Anderen die nationalen Bewegungen zu dominieren begann. Man kämpfte zwar um ideologische Perspektiven, unzählige politische Kleingruppen organisierten sich und zerfielen wieder; daneben sah das katholische System, das seit dem frühen 19. Jhdt. begonnen hatte, Gegner im Innern und außen aufzuspüren, zu denunzieren und zu verurteilen31, und auf dem Weg zur geschichtlich einmaligen Absolutheit der Unfehlbarkeit seines Oberhauptes war, geschlossen, standfest und gut aus.32 Doch die Wucht antijüdischer Aversionen hielt zumindest die christliche Welt zusammen – die Kirchen unabhängig von ihrer konfessionellen Gegebenheit und die christlich-sozialen Bewegungen. Wenn sich auch Pius IX. (1846–1878) keinem offenen Antijudaismus hingab, so betrieb das von ihm ins Leben gerufene offizielle Publikationsorgan des Vatikan, Civiltà Cattolica, eine eindeutig religiös-antijüdische Rhetorik, die sich gegen Ende des Jahrhunderts zu Hetzkampagnen auswuchs.33 Ebenfalls in diese Zeit fiel die offensive antisemitische Rhetorik des Gründers der 29 Salaquada Jörg, Art. Schopenhauer, 378. 30 Seinen Fokus findet der männliche Charakter wesentlich im Willen. »Der Wille, als das Ding an sich, ist der gemeinsame Stoff aller Wesen, das durchgängige Element der Dinge;« (Schopenhauer Arthur, Parerga und Paralipomena, 634). Was sich hier noch neutral ausnimmt, verrät seine hierarchische Oppression bald in Schopenhauers primitivem Frauenbild, das die nationalsozialistische Frau schon präformiert und Bindeglied zwischen diesem und dem christlichen Dulderinnenbild wurde: »Schon der Anblick der weiblichen Gestalt lehrt, daß das Weib weder zu großen geistigen, noch körperlichen Arbeiten bestimmt ist. Es trägt die Schuld des Lebens nicht durch Thun, sondern durch Leiden ab, durch Wehen der Geburt, Sorgfalt für das Kind, die Unterwürfigkeit unter den Mann, dem es eine geduldige und aufheiternde Gefährtin seyn soll. Die heftigsten Leiden, Freuden und Kraftäußerungen sind ihm nicht beschieden; sondern sein Leben soll stiller, unbedeutsamer und gelinder dahinfließen, als das des Mannes, ohne wesentlich glücklicher, oder unglücklicher zu seyn.« (ebd., 649). Den Wille trägt der Mann in sich: Der Koitus (ebd., 339) offenbart dies ebenso wie die politische Gewalt. (ebd., 398). In beidem stößt der männliche Wille zu. 31 Treitler Wolfgang, Karrieresprungbrett oder Geistesschmiede, 64–68. 32 Kaufmann Franz-Xaver, The Miseries, 258. 33 Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VII, 46–52.

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deutschen christlich-sozialen Arbeiterpartei, des kaiserlichen Hofpredigers Adolf Stoecker.34 Die österreichische Variante dieser Rhetorik bildete der Judenhasser Georg Schönerer35, der fast alle späteren Huldigungsrufe, mit denen sich Hitler feiern ließ, entwickelt und auf sich bezogen hat. Was in Wissenschaft und Politik des 19. Jhdts. an Antisemitismus kumulierte, wurde durch religiöse und politische Journalistik teils mit vorbereitet, teils verbreitet. Für Österreich erledigte einen Teil dieser Agitation der Gründer der Wiener Kirchenzeitung, Sebastian Brunner.36 Ihn trieb der gleiche antijüdische Affekt wie Adolf Stoecker; unabhängig von der konfessionellen Differenz zeigten beide, wie alt und wirksam der christliche Antijudaismus durch sein mehr als eineinhalb Jahrtausende altes Feuer war, wie gehärtet und wie erhitzt er war und mit welcher Raserei er jederzeit ausbrechen konnte. In der katholischen Kaiserstadt Wien bereiteten Leute wie Brunner den Boden vor, auf dem sich später der wenigstens funktionelle Antisemit Karl Lueger als Bürgermeister seine Mehrheit holen konnte.37 Zudem nutzten Wissenschaftler wie der Historiker Heinrich von Treitschke die Wege der journalistischen Popularisierung von Thesen durch auffällige Theorie- und Schlagwortbildung, wodurch er 1878 »die berüchtigte Parole ›Die Juden sind unser Unglück‹ unter das Volk brachte.«38 Für die Verbreitung und Festigung des politischen Antisemitismus im Deutschsprachigen ist der Journalist Wilhelm Marr39 wichtig geworden, dem die Erfindung des Wortes Antisemitismus mit seinem auf Juden bezogenen Bedeutungsgehalt zugeschrieben werden kann.40 Im Jahr 1879 publizierte er seine Propagandaschrift Vom Sieg des Judenthums über das Germanenthum, die es noch im selben Jahr auf mehrere Auflagen brachte. Die Konfrontation war so klar wie drohend: da das Judentum, hier das von ihm in die Knie gezwungene Deutschtum, dem das Judentum mit seiner Konstante zum Verhängnis zu werden drohte. Denn das Judentum war seit der Antike davon getrieben, sich in fremde Kulturen hinein zu verbreiten. Das begründet für Marr bereits den Hass auf das antike Judentum.41 Da es durch römische Kaiser im Orient bedrängt wurde, verbreitete es sich in fremde Zonen, nämlich nach Europa; doch auch hier ließ man sich nicht täuschen. Die Kirche vermochte mit ihrem Gewaltmonopol den Raum der Juden einzuengen; doch wieder sahen diese sich nach neuen Ländern um, die sie infiltrieren konnten. 34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd., 31 und 37. Ebd., 36. Treitler Wolfgang, Kritische Differenz, 413–420. Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VII, 37. Ebd., 209; vgl. zu diesem Thema und dem Widerstand dagegen: ebd., 34f. Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VI, 228. Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 173. Marr Wilhelm, Vom Sieg des Judenthums, 8.

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Mit diesen Linien also legt sich Marr die Koordinaten zurecht, in die er das einzeichnet, was er für die Konstante jüdischer Geschichte hält. Die jeweils neue Infiltration sieht er nach dem Grundsatz verlaufen, dass das Judentum stets dann, wenn ihm eine Gesellschaft zu stark geworden ist, sich nach einer schwachen Population umsieht, in die es sich hineinbegeben und die es überwinden kann. Genau hier kommt es zu Marrs propagandistischem Plot für die Konfrontation Judentum-Deutschtum: »Nächst dem Slaventhum war aber das Germanenthum am unvorbereitesten gegen die Fremdlinge. Das Gefühl einer deutschen Nationalität, geschweige eines deutschen Nationalstolzes, existirte in den germanischen Ländern nicht. Und gerade deshalb wurde es dem Semitismus leichter, in Deutschland festen Boden zu fassen als in andern Ländern.«42

Marr zieht die Aufsplitterung der deutschen Fürstentümer heran, die erst durch die monarchischen und nationalen Prozesse überwunden wurde, um die Schwäche der Deutschen als ideologische Erfindung einzuführen und mit ihr den fiktiven Opferstatus gegenüber dem grundlegenden Habitus des Judentums. Denn das jüdische Volk, so ruft Marr geradezu aus, habe in der »Energie des theokratischen Fanatismus (…) mit seinem jüdischen Geist die Welt erobert!«43 In Marrs Deutung erlag Deutschland diesem Geist im Jahr 1871, denn dieses Jahr habe den »social-politische(n) Einbruch des Judenthums in die germanische Gesellschaft durch die Judenemancipation«44 gebracht, durch den das »Judenthum heute der socialpolitische Diktator Deutschlands geworden«45 ist, der in allen öffentlichen Formationen hervorwuchere.46 Weil diese Herrschaft derart massiv sei, dass ihr Untergang und Ende sich in Deutschland noch nicht abzeichnet, holt Marr alle antijüdischen Gegenkräfte zu Hilfe, besonders die der Kirchen, deren dogmatische Kernlehre er durchs Judentum gebeugt sieht47 und die dadurch ein eigenes Interesse an einer definitiven Niederlage des Judentums haben müsse. Nun war die katholische Kirche nicht nur die Jahrhunderte lange Vermittlerin antijüdischer Affekte, die sich tief ins Bewusstsein ihrer Zugehörigen eingegraben haben, sondern sie hatte im Jahr 1878, ein Jahr vor der Publikation von Marrs Schrift, mit Papst Leo XIII. ein neues Oberhaupt gewählt. Diesem Papst war die christlich antike Idee nicht mehr wichtig, wonach das Judentum als geschichtlich überholtes Zeugenvolk trotz seines Unglaubens grundsätzlich zu achten sei48; 42 43 44 45 46 47 48

Ebd., 11. Ebd., 15. Ebd., 21. Ebd., 22. Ebd., 41 und 44. Ebd., 29. Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VII, 46.

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darin unterschied er sich von seinem Vorgänger Pius IX., auch wenn dieser in Einzelfragen, die das Judentum betrafen, keine Grenze kannte, wie ein Vorfall aus dem Jahr 1858 bezeugt: Nachdem eine katholische Magd den kranken jüdischen Buben Edgar Mortara aus Bologna getauft hatte, ohne seine Eltern zu fragen oder zu informieren, ließ der Papst den Buben durch die Polizei holen und zur Erziehung nach Rom bringen, denn wer getauft war, war und blieb christlich und gehörte rechtlich der Kirche.49 Jedenfalls verschärfte mit dem Pontifikat Leos XIII. die schon erwähnte Civiltà Cattolica ihren bisherigen judenfeindlichen Kurs, der nun noch deutlicher über religiösen Antijudaismus hinausdrang und ins Politische reichte. Léon Poliakov schließt daraus, dass es, auch wenn es keine dokumentierte Weisung gegeben haben mag, »nicht untersagt (ist), eine Beziehung zwischen dem im Jahre 1878 erfolgten Amtsantritt des Reformpapstes Leo XIII. und des neuen Kurses, der von dieser Zeitschrift eingeschlagen wurde, einzuräumen.«50 Schärfer war die Einschätzung Israel Zollers in Bezug auf Leo XIII. im Jahr 1927: »Leo XIII. (1878–1903) war ein starrer Judenfeind, der während des Dreyfussprozesses eine äußerst feindselige Haltung gegen das J.-tum einnahm, die antisemitischen Doktrinen sowie deren praktische Betätigung verteidigte und die J. als Anarchisten, Freimaurer und Feinde der Kirche erklärte.«51 Dieses Profil fügte sich unfehlbar in die Zeit und bot für Leute wie Marr eine passende Referenz an. Dabei versuchte Marr wie auch andere antisemitische Rhetoren, die ganze Abneigung, die ihn trieb, mit humanistischer Gesinnung zu drapieren, und fühlt sich daher gezwungen, immer zu »wiederholen …: mich beseelt nicht der entfernteste ›Judenhass‹ und eben so wenig ein confessioneller Hass gegen die Juden.«52 Denn was Marr konstatiert, muss er, so gibt er vor, den schwachen deutschen Menschen selbst zuschreiben, die sich dem jüdischen Geist ergeben hätten; daher seine aufrüttelnde Schlussfolgerung: »ich bitte Euch, scheltet mir die Juden nicht! Ihr wählt die Fremdherrschaften in Eure Parlamente, Ihr macht sie zu Gesetzgebern und Richtern, Ihr macht sie zu Diktatoren der Staatsfinanzsysteme, weil Ihr mehr Geschmack an der blendenden Frivolität findet als am sittlichen Ernst, – was wollt Ihr denn eigentlich?«53 Hier schreibt ein Antisemit, dem die Heuchelei zur rhetorischen Form geworden ist. Auch das Selbstmitleid überzieht dieselbe rhetorische Heuchelei. »Ich weiß es, meine Freunde und ich sind in der Journalistik wehrlos gegen das Judenthum.«54 Das gleiche gilt für das pseudowissenschaftliche Gewand, in das er 49 50 51 52 53 54

Schreckenberg Heinz, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte, 741. Ebd., 52. Zoller Israel, Art. Päpste, 782. Marr Wilhelm, Vom Sieg des Judenthums, 38. Ebd., 44. Ebd., 45.

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in trügerischer Bescheidenheit seine Schrift steckte, die er nur im Sinn einer »kulturgeschichtlichen Skizze«55 zu verstehen vorgab. Und dann gibt er sich, als wäre es eine Analogie zum hinsinkenden Christus, den gemäß der alten Botschaft die Juden ermordet hätten, dem Unvermeidlichen hin, auch das in rhetorischer Maskerade, und sieht, dass der »1800jährige Krieg mit dem Judenthum … seinem Ende«56 naht, einem Ende ohne Glanz und Glorie für die Deutschen, denn: »Dem Semitismus gehört die Weltherrschaft!«57 Und im letzten Aufruf Marrs schwingt dann etwas von der Verlassenheit des Gekreuzigten mit, dem die Juden zuvor noch gesagt haben sollen, er soll sich doch selbst helfen, und der Gekreuzigte kann nicht mehr und muss sich fügen – so auch die Deutschen: »Finden wir uns in das Unvermeidliche, wenn wir es nicht ändern können. – Es heisst: Finis Germaniæ.«58 Aus dem sterbenden deutschen Helden, der Marrs Aufruf »Wählt keine Juden!«59sich entzog, soll damit endlich der Widerstandsfunke schlagen, der diesem von Marr skizzierten Krieg eine Wende und ein anderes Ende setzt als das, welches Marr inszeniert hat. Auch hier reicht die Analogie des Christentums, das Marr als verbündete Kraft des Judenhasses suchte, noch einmal zu, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens wollte Marr diesen antisemitischen Widerstand aufreizen, und dieser Widerstand steigerte sich auch Jahr für Jahr bis zu seiner Apotheose im Führerstaat – Auferstehung des Germanentums aus dem Grab seiner Irrelevanz; und zweitens reichte dieser Widerstand selbst noch über den Untergang des Führerstaates hinaus: Nicht nur in den deutschen und österreichischen Verwaltungen und Parlamenten der Nachkriegszeit werkten die Antisemiten weiter60 und trugen über die Ruinen ihren Ungeist hinein in die neue Gesellschaft, die gar nicht so neu war, sondern auch im Geistesleben hielt sich der Antisemitismus samt seinem furchtbaren Ergebnis, der Auslöschung des europäischen Judentums, und reicht damit bis in die Gegenwart. Wie anders wäre es erklärbar, dass Heideggers Philosophie nach 1945 bruchlos weiterging und von vielen Philosophen und Theologen seither angeeignet wird, durchaus nicht vorwiegend kritisch, sondern fasziniert von Heideggers philosophischer Rhetorik, die ein mystisch-mythisches Arkanum vorstellte, das irreal blieb und nur durch den Dunst der Worte erschaffen war, vor allem aber ein Denken inszenierte, das Marrs Hoffnung auf Wendung in diesem Krieg der Juden gegen die Deutschen nicht nur recht gab, sondern diese Hoffnung geradezu realisierte, 55 56 57 58 59 60

Ebd., 45. Ebd., 37. Ebd., 46. Ebd., 48. Wilhelm Marr, zit. in: Schreckenberg Heinz, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte, 747. Treitler Wolfgang, Erlösung durch Platon-Christus? 224; dort finden sich auch Literaturhinweise.

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indem das Heideggersche Sein alles war, was bei Marr schon zu lesen steht: schicksalshörig, dazu führerergeben (was gegenüber Marr neu, aber auch erwartbar war) und über allem völlig judenfrei? 61 In diesen Zug der Zeit, die sich zwischen der scharfen antisemitischen Rhetorik des späteren 19. Jhdts., ihrem politischen Vollzug im NS-Staat und der davon immer noch kontaminierten Zeit danach bis in die Gegenwart ausdehnt, fallen nun die sieben Literaten, die in den folgenden Abschnitten das jeweilige Zentrum bilden werden. Stefan Zweig, 1881 geboren, wuchs in diesem Getümmel auf, in dem von allen Seiten Propagandisten, Ideologen und Visionäre ihre Worte ins verzerrte Rauschen mischten. Er erlebte, wie dann plötzlich aus den Worten kriegerischer Ernst wurde und die geforderten Bindungen ans jeweilige Vaterland bis dahin bestehende Beziehungen und Freundschaften irritierten. Was dann aus dem Rauch des ersten massenhaften Tötens der Weltgeschichte, aus dem Ersten Weltkrieg, an politischen Formationen hervorkam, zog enge Grenzen, nicht nur geografisch, sondern auch kulturell, sprachlich, politisch und religiös. Fremd lebte der Weltbürger Stefan Zweig in diesen Jahren in einem Österreich, das seinen Vielvölkercharakter völlig verloren hat und zu einem Gebilde geworden war, das zwischen der Großstadt Wien, in der er geboren worden war, und einer davon völlig unberührten Hügel- und Bergwelt unentschlossen dalag. Als ihm dann in der frühen Zeit des austrofaschistischen Ständestaates sein Haus in Salzburg durchsuchte wurde, als wäre er ein Verbrecher, emigrierte Zweig, nicht nur geografisch, sondern vor allem psychisch. Der im Ersten Weltkrieg dem Gemetzel das gigantische Bühnenstück Jeremias entgegengehalten und damit eine dem Judentum damals lebensbedrohliche Geschichte erinnert hatte, musste erkennen, dass den Lauf des anrollenden Irrsinns und seiner tiefen Affekte kein Wort aufhalten konnte: Die den Worten verschworen waren und ihren Sinnmöglichkeiten, die in der Sprache lebten und die Sprache liebten als menschlich höchste Ausdrucksform, wurden von gebellähnlichen Parolen verjagt. Zweig sah, wie man die Bücher von Juden verbrannte, und hörte später, wie man jüdische Gebetshäuser anzündete und mit der Einhürdung jüdischer Menschen begonnen hatte. Als er sich im Februar 1942 das Leben nahm, war der Beschluss zur industriellen Ausrottung der Juden im Bereich der von Deutschland besetzten Gebiete erst ein paar Wochen alt. Stefan Zweig, der jüdische Literat deutscher Sprache, stand dem frommen Judentum nicht nahe. Doch er war und blieb jüdisch, sein Jüdischsein begleitete sein ganzes Schaffen. Das zeigt sich an der frühen Erzählung Im Schnee, die er als Zwanzigjähriger veröffentlichte. In dieser Erzählung findet sich auch ein wichtiges Motiv, das ihn über die kommenden Katastrophen und die eigene Ver61 Scheit Gerhard, Das Sein ohne Juden: Über Martin Heidegger.

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zweiflung hinausblicken ließ: Selbst noch die kalte Winternacht mit ihrem tötenden Frost schenkt ein letztes Traumbild, das alle Verfolgung, den Terror von Verrückten und das eigene Ende hinter sich lassen wird – das Traumbild einer Liebe, in der sich Generationen von Juden sammeln, die schließlich alle in die Stille einsinken am guten Ort. Dieser gute Ort liegt jenseits eines jüdischen Friedhofs und weist auf einen Frieden, der metaphorisch an den Gott Israels erinnert. Denn Israels Gott wird auch als hamakom, als der (gute) Ort umschrieben. An diesem Ort, den Zweig selbst am Ende seines Argentinischen Exils erreicht haben wird, ist er über die Verzweiflung hinausgelangt. Zweigs Erschwernisse hingen vielleicht auch daran, dass er keine Kinder hinterlassen hatte. Niemand sprach danach noch für ihn, wie Kinder für ihre Eltern sprechen können. Aber er hat Bücher hinterlassen, die das Feuer der Nazis gleichsam durchgestanden und diese Vernichter überlebt hatten. Doch Bücher sind nicht Kinder, die in eine kommende Zeit hineintragen, was sie erlebt, geschaut und gehört haben. Gewiss hielt sich Zweig nicht ans Talmudische Gebot gebunden, Kinder in die Welt zu bringen62, doch ihre Absenz in seinem Leben hat seine steigenden Lebensjahre zusätzlich verdüstert. Und so bebte nach seinem Freitod nur ein kurzes Entsetzen auf, unter exilierten Dichtern besonders vernehmlich; doch niemanden traf dieser so ins Mark, wie er in ein Kind gedrungen wäre, das plötzlich mit ausgelöschtem Licht weiterziehen muss. Mit Zweigs lebensmüdem Weg an den guten Ort riss eine jüdische Generationenkette ab. Kinderlos war auch Franz Kafka geblieben, der zwei Jahre später als Zweig in Prag geboren wurde. Mehr noch als Zweig fühlte sich Kafka unbehaust in der Welt, die ihm vorwiegend unmenschliche Strukturen und Prozesse zeigte. Nicht nur die Flugzeuge von Brescia oder die undurchschaubare Administration im Schloss, das die von Egyd Gstättner63 wieder erinnerte Nähe von Verwaltung und Vergewaltigung des Subjekts durchbildet, verformen die Lebenswelt zum Artefakt künstlicher Ideologien und ihrer Interessen; es ist vor allem die Unlebendigkeit und Unbarmherzigkeit der Maschinenwelt, in der sich die Industrialisierung von allem durchsetzt, auch die der Todes. Industrialisierung impliziert sowohl die geradezu erotische Beziehung des Maschinenbesessenen zu den Apparaten, wie sie ihn auch von seiner Verantwortung loslöst und zum willfährigen Knecht der Apparate macht. Was Kafka in der Isolation einer Insel entworfen hat, liest man nach der Schoa mit den Augen und Zeugnissen der technischen Vernichtung von Juden und anderen Auszurottenden in der Schoa wie eine literarische Imagination eben dieses Kommenden. In der Strafkolonie, eine Erzählung mitten im Ersten Weltkrieg geschrieben, nimmt die technische Invasion in die Menschenwelt ihren ersten, eine ganze Zivilisation umspan62 bT Jebamoth 61b; Pessachim 113b. 63 Gstättner Egyd, Ich qualitätssichere nicht, 30.

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nenden Anlauf und Ablauf und enthält das Kommende als Abbreviatur. Vielleicht brauchte es einen so unbehausten Menschen wie Kafka, der in der Nacht, da alles schlief, das Ruckeln und Knarren der tektonischen Verschiebungen spürte. Indem er es beschrieb, mitunter fast lapidar, versuchte er ihm wohl das übermächtig Drohende und Tödliche zu nehmen und sich nicht der Verzweiflung zu ergeben. Verzweiflung bliebe, wäre die Determination der technischen Welt deren Substanz und Rest. Über sie hinaus gerät Kafka, indem er mit den Determinanten bricht und das Nichtidentische, das in all diesen Systemen aufscheint und zermahlen wird, gegen seine Assimilation rettet. Ganz anders rannte Franz Werfel gegen den Schrecken an, den er wie Zweig unmittelbar erlebte. Wie Kafka in Prag geboren (1890), gehörte er in dieser Stadt wie Kafka einer doppelten Minderheit an, der jüdischen und der deutschsprachigen. Während Kafka sich manche religiöse Traditionen des Judentums durchs Selbststudium zurückholte, fiel Werfel in Religiosität hin, allerdings in eine eher unklare, die sich zwischen seinem Judentum und dem katholischen Christentum entfaltete. Aus beidem zog er eine tief sitzende religiöse Überzeugung, die des göttlichen Geheimnisses und der menschlichen Heiligkeit; beides wurde von den primitiven Propagandisten des Nationalsozialismus verraten und bald bewusst der Zerstörung zugetrieben. Gejagte Menschen, denunzierte Juden, durch die Straßen treibender Hass – und kein Friede in Sicht. Da verwandelte sich der Dichter durch seine jüdische Tradition, die er in den 1930er Jahren bewusst und forciert aufnahm, in den Propheten Jeremia und ließ im Jahr 1937 gegen den Lärm der Zeit seine Stimme hören. Dem Propheten bot der Weg kein günstiges Geschick an. Als Zeuge der Verwüstung wird er zu einem einsamen Rest Israels: rauchende Ruinen der Stadt Jerusalem, erstickte Kinder und Mütter unter herabgestürzten Balken und Platten, der ätzende Geruch von Brand, Fäulnis und Verwesung über den Trümmern, und am Tempelberg nichts mehr als Splitter des zerbrochenen Heiligtums. In diesen Bildern skizziert der Dichter die kommende Verwüstung, die Schoa, wie es Ps 63,10 schon geschrieben steht, und die Hoffnung auf Frieden, der ohne Vergeltung nicht sein wird. Und indem er zu hören mahnt, nimmt er das Bekenntnis Israels auf, das Schma Jisrael, und schreibt es kommenden Generationen ein. Auch für Franz Werfel gilt wie für Stefan Zweig und Franz Kafka: Nach ihm kamen keine eigenen Kinder. Doch mehr als die beiden andern Literaten setzte Werfel auf den Gegenwartsgehalt und Zukunftssinn dieses Bekenntnis – auch das in der festen Hoffnung, die Ps 63,10 benennt: In die Abgründe der Erde werden kommen, die Israel auszulöschen versuchten. Damit wies Werfel über die Verzweiflung hinaus, in eine Zukunft, die er jedoch nicht mehr erlebte. Sein Leben endete im Sommer 1945 im amerikanischen Exil. Eine Generation nach diesen drei Literaten: Jean Améry, 1912 geboren; ihm wurde die wohl tragischste Lebensgeschichte geschrieben und eingebrannt; ihm

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kehrten sich dadurch alle geläufigen Bedeutungen um. Dem Judentum fremd, vom Katholizismus österreichischer Gebirgsregionen angewidert, sah er schon Mitte der 1930er Jahre, wie sich das austrofaschistische Österreich politisch dem Führerstaat angeschlossen hatte. Was daher 1938 kam, war kein Bruch, sondern die Verschärfung des Bisherigen. Améry ging in den Westen und dort in den Widerstand. Man griff ihn in Belgien auf. Folter und KZ wurden sein Erbteil, das er nie mehr anbrachte. Amérys Reflexionen leuchten die Perversion des Gewesenen aus, das zugleich seine Gegenwart behaupten konnte, wenn auch ein wenig verwandelt. So wie der Gefolterte ein Gefolterter blieb, blieben auch das Land, das den Führer hervorgebracht hatte, und das Land, das ihn zu seinem einzigen Stern erhoben hatte, Länder, die den permanenten Widerstand erzwangen. Darin lag Amérys Tragödie. Ihr zu entkommen, versuchte er ein paar Jahrzehnte, mit schwindenden Kräften und Aussichten. Und dann sagte er einmal endgültig Nein gegen das, was ihm angetan wurde, und gegen das, was über ihn kam an Zwangsmaßnahmen psychiatrischer und sonstiger Katalogisierungen und Regelungen. Sein Suizid geschah zwar auch wie der Stefan Zweigs in einem Zimmer und nicht draußen auf einem Platz. Er war keine demonstrative, öffentliche Geste. Aber Améry warf sich mit ihm gegen all das auf, was ihn entmenscht hatte, wissend, dass diese Revolte paradox blieb, weil sie das Leben auslöschte, das sich zu erheben suchte. Aber immerhin: In diesem letzten Anlauf versuchte er auch die Verzweiflung zu zerstören, die in ihm lebte. Er hat zerstört, was ihn zerstört hat, indem er der Verzweiflung als dem Erbe der Zerstörung, die über ihn verhängt war, den Boden entzog. Paradox bleibt das – und mehrdeutig, denn es war nie nur resignativ gemeint. Wer so mit dem eigenen Leben gegen die Wand fährt, die ihn umbringt, hat nicht nur den Versuch gemacht, eine Rechnung zu begleichen, die niemand gegen ihn geschrieben haben wollte, nachdem alles vorbei war, sondern er hat den eindeutigen Urteilsspruch gegen sich zerrissen und mit seinem eigenen, nun frei gewählten Tod Souveränität über sich und gegen seine Kontrahenten von gestern und heute für einen Augenblick irreversibel gelebt. Die Verzweiflung hat gesiegt und ist doch zugrunde gegangen. Auch von ihm sind nur Bücher geblieben. Keine Generation nach ihm. Anders kämpfte der 1913 geborene Abraham Sutzkever. Im Wilner Ghetto interniert, half er dort den Widerstand gegen die Besatzer zu organisieren, die das Leben im Ghetto mehr und mehr einschränkten – mit dem Ziel der völligen Auslöschung. Sutzkever trat dagegen an, dass sich die Juden des Ghettos einfach ergaben und duldend hinnahmen, was verhängt wurde. Er klärte auf, dass die Abtransporte nicht der Erholung, sondern der Erschießung dienten: Das wenig vom Ghetto entfernt gelegene Ponar war keine Waldandacht, sondern eine Mordzone, aus der niemand entkommen konnte. Er half mit Abba Kovner, Waffen ins Ghetto zu schmuggeln und Sabotage gegen die Besatzer zu betreiben. Denn diese Besatzer herrschten mit täglichem Terror, der aus Banalitäten und

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Alltäglichkeiten Katastrophen machte, um das Leben der Ghettobewohner von allen Seiten her unmöglich zu machen. Das traf ihn auch selbst. Seinem erstgeborenen Kind wurde sofort eine Giftspritze gegeben. Nachwuchs verboten. Der das alles gesehen und erlebt hatte, stieß nach erfolgreicher Flucht zu Partisanen, mit denen er weiter gegen die Nationalsozialisten kämpfte. Nach dem Ende des Krieges war er einer der ersten, die aufschrieben, was geschehen war. Man lud in nach Nürnberg zu den Kriegsverbrecherprozessen als Zeuge. Und er sprach und kämpfte weiter, für eine Zukunft, die von dieser Vergangenheit loskommen musste. Seine Einwanderung nach Israel gemeinsam mit seiner Frau war Zeichen dieses Kampfes, den er nicht aufgegeben hatte, ebenso die beiden Töchter, die dann noch zur Welt kamen. In seiner Dichtung setzte er Grabsteine, auf denen immer etwas von der Zukunft stand und von einer Kraft, die sich nicht hatte brechen lassen. Und das alles verband er mit der langen jüdischen Tradition in seiner Sprache, dem Jiddisch, der Sprache, die durch die Schoa faktisch liquidiert worden war. Indem er sie in das eben wachsende Israel hineinsprach, ließ er die Stimme der Ermordeten hören. Da kamen mitunter weit gereiste apokalyptische Bilder aus der hebräischen Bibel mit, ebenso Gestalten der Bibel, in Jiddisch gedichtet. Und sie haben sich dann wie in der dichterischen Prosa Frau Hiob von 1954 zum Volk Israel selbst verdichtet, das für ein langes Geheimnis steht, das Geheimnis seines Überdauerns, das daran hängt, was für Israel selbst Dauer hat und bleiben wird: Israels einziger Gott. Weil er bleibt, wird die Verzweiflung nicht aufkommen und gewiss nie siegen. Bei Sutzkever hat sich jüdische Tradition mit seinem Lebenskampf um Zukunft verbunden, den er hochbetagt im Jahr 2010 in Tel Aviv beendete. In anderer Form verbanden sich jüdische Tradition und Zukunft bei Elie Wiesel. 1928 im rumänischen Sighet geboren, hatte er jüdisches Leben gelernt und wurde daraus an einem Schabbat des Jahres 1944 herausgerissen. Destinationen des Zugs: Auschwitz-Birkenau, Buchenwald. Er überlebte. Danach erfuhr er, dass Staatenlosigkeit Rechtlosigkeit bedeutete. Jahre später erhielt er einen französischen Pass und kam dann über verschiedene Wege in die USA. Es hatte mehr als zehn Jahre gedauert, bis Wiesel von dem erzählen konnte, was er in der Nacht der Schoa erlebt hatte. Doch als er damit begonnen hatte, hörte er nicht mehr auf zu schreiben. Kinder, Verrückte und Alte ziehen durch seine Romane; Verrückte sind Bettler, Dichter, Irritierte, Menschen, auf die dunkle Mächte eingeschlagen haben und denen nichts mehr gewöhnlich, einfach oder normal bleiben konnte. Rabbinische Gelehrte, die sich mit Gott anlegten, Chassiden, denen das Wimmern eines Kindes das Gebet abnahm, Rabbinen, die trotz des politischen Widerstands ihr jüdisches Leben nicht aufgaben, Großstadthektiker, die sich im Betondschungel vor sich und allen verstecken wollen und ständig aufgestört werden, Geschichtserzähler, die plötzlich durch einen

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Terrorakt in die finstersten Erinnerungen fallen, die sie einst in ihrer Kindheit gehört haben, jüdische Frauen, die dem Terror seine Referenz entziehen – in Gestalten wie diesen spiegelt Wiesel immer auch etwas von den langen jüdischen Geschichten, die, was ihre Katastrophenseite betrifft, in der Schoa kulminierten. Doch der Verzweiflung ergab er sich nicht – nicht weil er wie Sutzkever zu den Waffen gegriffen hätte (wofür er wohl zu jung gewesen war), sondern weil er aus einem Widerstand heraus lebt, denkt, schreibt und spricht, der sich der ganzen jüdischen Geschichte verdankt und verpflichtet: Und trotzdem – das ist die Losung, mit der Wiesel sich der Verzweiflung entzieht. Denn wer der Verzweiflung erliegt, gibt womöglich den Tätern einen posthumen Sieg. Ihnen den Sieg zu nehmen, war auch dadurch möglich, dass Wiesel dem Auslöschungsprogramm seinen eignen Sohn entgegensetzen konnte. Wiesels Trotzdem lebt weiter, heute vielleicht mehr als vor ein paar Jahrzehnten. Denn dem Großvater sind seine beiden Enkel besonders wichtig geworden. Etwas davon hat Wiesel in einen seiner neuesten Romane mitgenommen. Hostage verbindet Erinnerungen an Geschichten, die Fetzen von der Schoa in die Dunkelhaft eines Mannes bringen, der dort beinah verrückt wird, weil er nicht durchschaut, was mit ihm, einem unbekannten Geschichtenerzähler, abläuft. Und zwischen diesen Fetzen tauchen Bilder seiner Frau auf und Bilder der Zukunft, Bilder vom Nachwuchs. Der Terror wird nicht siegen, sowenig wie die Schoa gesiegt hat. Die Zukunft gehört den Kindern, sie sind Teil dieses Trotzdem, das die Geisel spricht und lebt. Der Zug in die Katastrophe hat schließlich auch Aharon Appelfeld mitgerissen und irgendwo verloren. Der neunjährige Bub entkam 1941 einem Deportationslager, in das er nach der Evakuierung des Czernowitzer Ghettos gebracht worden war. Er trieb sich durch Wälder und Felder, schloss sich Flüchtlingen an und lernte zu überleben. Mit der Roten Armee kam er bis nach Italien und von dort nach Eretz Israel. Allein und sprachlos, weil es verpönt war, in den Jugendcamps deutsch zu reden, wurde ihm auch sein ursprünglicher Name Erwin verändert und hebräisiert. Er nahm das an, lernte hebräisch und arbeitete, holte die verlorene Bildung nach und begann, mit dem erlernten Hebräisch zu schreiben. Die Misserfolge des Anfangs brachen ihn nicht; er bohrte sich weiter und weiter in sein Leben in Israel hinein, das ihm vor allem durch die hebräische Sprache nahe kam und durch eine Reihe von Immigranten, die etwas von Europa mitgebracht hatten. Europa, verloren und verwüstet von Antisemiten, die noch nach 1945 genau darüber wachten, dass die Vernichtungsleistung des Nationalsozialismus auch erhalten blieb, drängte sich in vielen Bildern durch seine Erinnerungen, die er literarisch bildete und verwandelte. Vor allem in den Nächten lässt er sie spielen, in den Träumen. Die Mutter, der Vater, Großeltern, Verwandte, Freunde, trunkene Gewalttäter, mächtige Bäume und Hunde, Spielsachen und Speisen, betende Männer in Synagogen, Kindermädchen und Lehrer,

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Beamte und Haushälterinnen, Partisanenkommandanten und stumme, in sich gekehrte Menschen, Prostituierte und Soldaten und vor allem Züge sind es, die sich in den Träumen und in den Geschichten Appelfelds finden. Auf fast geheimnisvolle Weise finden sie alle in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen zusammen und werden in diesem Roman wie in einer großen Einwanderung nach Israel mitgenommen. Denn dieser junge Mann, der lange nicht aufhören konnte zu schlafen, hat es unternommen, in der ihm ganz unbekannten hebräischen Sprache durch intensive Übung ein solches Zuhause zu finden, in das er dann das Innerste seiner Erinnerung mitnehmen kann, die Melodie der Sprache seiner Mutter. So holt Appelfeld die Toten aus ihren unbekannten Gräbern und bringt sie nach Israel, wo auch er wohnt. Im Land Israel sind sie wieder lebendig, indem sie in der Sprache des Landes und seiner spezifischen Gestaltung durch Appelfeld leben. Wie er durch seine Sprache die Toten in die Gegenwart des Landes holt, so gab er dieser Sprache mit seinen Kindern und Enkel auch eine Zukunft, so kräftig wie die Elie Wiesels oder Abraham Sutzkevers. Seinen Kindern ist das Hebräisch die Muttersprache, ihre Melodie ihnen so geläufig wie Appelfeld das einst gesprochene Deutsch im Elternhaus. Allen vier Überlebenden – Jean Améry, Abraham Sutzkever, Elie Wiesel und Aharon Appelfeld – ist darüber hinaus noch etwas Wesentliches gemeinsam: Sie leben nicht mehr in Europa, sondern entweder in Israel oder in den USA. Denn Europa gibt es nicht mehr. Für das Judentum ist es untergegangen. Jean Amérys Unmöglichkeit, hier zu überleben, ist einer der erdrückendsten Erweise dieser Erfahrung, die vor allem bei Aharon Appelfeld markant ist. Von Stefan Zweig, Franz Kafka und Franz Werfel gibt es in Europa keine Nachfahren mehr, weder direkte noch literarische. Auch das ist ein Erweis des Nachlasses, der in diesen Erfahrungen liegt. Und selbst Juden, die heute wieder in Europa leben – und es ist meist weniger als ein Zwanzigstel der einstige jüdischen Bevölkerung –, haben mit steigenden Zahlen antisemitischer Übergriffe zu tun.64 Im Innern von Menschen wie Appelfeld donnern manchmal die Züge in die Katastrophe immer noch. Die Todeszüge, von denen Appelfeld auch in seinem neuesten Roman Auf der Lichtung etwas erzählt, blieben bis zum Ende der nationalsozialistischen Diktatur auf Schiene und die Schienen intakt. Über diese Katastrophe und ihr Vermächtnis, nämlich die Verzweiflung, hinauszukommen, schloss daher mit ein, aus dem Kontinent fortzugehen, auf dem diese Züge gerollt sind; es schloss mit ein, Wichtiges von denjenigen nach Israel, ins Land jüdischer Geschichte und Gegenwart, oder in die USA heimzubringen, die in Europa zerstört wurden – ein großer Gestus des literarischen 64 Für Österreich hat der Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich eine Untersuchung durchgeführt, und zwar in der Erweiterung einer EU-Studie, die sich nicht auf Österreich bezogen hat: Gottschlich Maximilian, Die große Abneigung.

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Widerstands gegen die Verzweiflung, der zugleich ein jüdischer und daher menschlicher ist. In diesem Sinn kommen alle sieben Literaten zusammen. Denn jeder von ihnen hat schreibend der Sinnlosigkeit ihre Anwartschaft bestritten. Sie retteten nicht nur etwas von sich ins Wort, sondern sie retteten mit ihrem Wort auch etwas von der untergehenden oder untergegangenen Welt des Judentums. Das macht es, dass sie alle über die Verzweiflung hinaus reichten in etwas Unnennbares, um das keine religiöse Tradition so deutlich weiß als die jüdische. Denn in ihrer Mitte steht mit dem Schma Israel das Bekenntnis zur Einzigkeit des unnennbaren Gottes, das Generation um Generation weitergegeben wird und das Judentum in all seinen Variationen zusammengehalten hat, auch in dem fruchtbaren Jahrhundert, das sich zwischen Stefan Zweig und Aharon Appelfeld spannt.

Stefan Zweig – Sehnsucht nach Frieden und Glück des Letzten

1.

Sehnsucht nach Frieden

Die antisemitischen Wellen, die durchs 19. Jhdt. trieben und sich immer stärker aufschaukelten, führten schließlich die massivsten Formen eines Antisemitismus herauf, die je in der Geschichte heimisch werden und ans Vernichtungswerk gehen konnte. Wenn auch vor dem Ersten Weltkrieg der Erfolg dieser politischen, kulturellen und religiösen Ideologien und Gruppen noch bescheiden blieb, so war durch sie doch schon ein politisch aktiver Antisemitismus ins Öffentliche eingetragen, der nach dem Ersten Weltkrieg mit steigender diktatorischer Durchsetzungskraft bald in ganz Mittel- und Südeuropa die Politik bestimmen und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Härten Schritt für Schritt Menschen jüdischer Herkunft aus dem Öffentlichen entfernen und entsorgen würde wie Müll, der zu verbrennen war, um den Volkskörper wieder zu reinigen. So gefährlich-primitiv war das Politische gefügt nach 1918, nachdem vier Jahre zuvor eine viele Jahrhunderte alte Welt in sich zusammengebrochen war. So wie kein Krieg davor hat auch dieser niemanden geheilt. Mit ihm hatte sich eine Welt, morsch schon und zerrissen, in unvergesslich prächtigen Sommerfarben verabschiedet, wie sich Stefan Zweig im Exil knapp vor seinem Tod 1942 erinnerte65, und den großen Wunsch hinterlassen: Das Paradiesische bleibe so, wie es ist. Doch in den Jahren davor hatten sich schon die zerstörenden Kräfte geballt; so assimiliert Stefan Zweig als Jude auch war und so fern seiner jüdischen Tradition, die ihm als etwas irrtümlich Vorgestriges und Fanatisches erschienen war66, konnten ihm die steigenden Angriffe aufs Judentum überhaupt nicht verborgen bleiben. Sie behafteten auch ihn daran, jüdisch zu sein, mochte er sich auch in etwas hinausgehoben haben, das ihm, reichlich unbestimmt, als universal und weltbürgerlich gegolten hatte. Dem feinsinnigen Schriftsteller, der sich 1915 mitten in der Katastrophe einer untergehenden Welt fand, die ihn wohl erstmals 65 Zweig Stefan, Die Welt von Gestern, 246. 66 Ebd., 142.

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heimatlos machte, weil sie ihn danach an ein nationales Gebilde fesselte – diesem feinsinnigen Schriftsteller kam im Ersten Weltkrieg keineswegs zufällig ein alter Mahner und Künder in den Sinn, der nirgendwo anders lebte und sprach und Wort seiner Botschaft wurde als in Israel: Jeremia, Prophet an der Schwelle des Untergangs Jerusalems. Diesem ging Stefan Zweig in jenen Untergangsjahren nach, las ihn, hörte ihn und wandte ihn seiner katastrophalen Gegenwart zu. Im Drama Jeremias, an dem er 1915–1917 gearbeitet hatte, fand Stefan Zweig den unvergesslichen und stets noch wirklichen Rhythmus Israels und des Judentums wieder, dessen Wirklichkeit Marrs Konstruktionen als das entlarven, was sie sind, eine schäbige Widerwärtigkeit, in der sich die Morddrohung versteckt. Zweig sah genau zu und erkannte: Wenn Feinde sich formieren, um Israel, um das Judentum zu vernichten und selbst die Erinnerung an es auszulöschen, so wird ihnen ein mächtiges Nein entgegengeschleudert, wie es damals Jeremia gegen Ende seines Laufes angesichts des übermächtigen Babylonischen Herrschers ekstatisch ausgerufen hatte: »Was seine Linke genommen, wird die Rechte uns heimgeben tausendfach, denn, ihr Brüder, ihr Brüder, eher mögen Berge stürzten und aufwärts fließen die Flüsse und verdunkeln des Himmels Gezelt, als daß Gott vergäße seines Bundes, daß er vergäße Israel, daß er versäumte Jerusalem!«67 Der Prophet hatte im Namen Gottes gesprochen, der die Vergeltung schon erweckt hatte.68 Um eine politische Wiederkehr geht es hier nicht, wenigstens nicht primär69, auch nicht um eine Heilung durch politische Pragmatik; es geht um eine Wiederkehr, die nicht am politischen, nicht am humanitären, auch nicht am ethischen Willen hängt, sondern an ganz klaren jüdisch-religiösen Geltungen, wie sie in Zweigs Bibelparaphrase deutlich werden, die mehrere Motive ineinander liest: Gott vergisst den Bund mit Israel nicht, er ist so stabil wie Tag und Nacht ( Jer 33,25 f); Zerstörung und Zerstreuung besiegeln nicht Israels Ende, sondern werden durch Gott aufgehoben, weil er Israel wieder aufbaut und sammelt ( Jer 24,6 und 42,10); weil der Bund unvergessen ist, darum wird er auch

67 Zweig Stefan, Tersites Ÿ Jeremias, 294. 68 Ebd., 293. 69 Im Jahr 1918 hatte man Zweigs Drama in zionistischen Bewegungen durchaus politisch gelesen. Mark H. Gelber zitiert Zweigs Ablehnung eines solchen Verständnisses aus einem Brief an Martin Buber, in dem Zweig »den gefährlichen Traum eines Judenstaates« (Stefan Zweig, zit. in: Gelber Mark H., Stefan Zweig und die Judenfrage heute, 173) anspricht, obwohl etwa Stellen wie die, welche knapp auf die eben Zitierte folgt, ein zionistisches Verständnis erwecken konnten: »Steh auf, Jerusalem, / Stehe auf, du Gekränkte, / Und fürchte dich nicht, / Denn ich erbarmte mich dein …« (Zweig Stefan, Tersites Ÿ Jeremias, 295). Gelber zitiert den Text nach der Fassung des Insel-Verlags von 1918 (Gelber Mark H., Stefan Zweig und die Judenfrage heute, 174); mir liegt die text- und seitengleiche Fassung dieser Dichtung im Erstdruck von 1917 vor, ebenfalls Insel-Verlag, der auf der ersten Seite von Stefan Zweig selbst signiert und Ernst Krausz gewidmet ist: »Ernst Krausz zur Erinnerung an drei Jahre guter Kameradschaft! Stefan Zweig, 7. Sept. 1917.«

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nicht gelöst werden ( Jer 14,21). Welche Gewalt auch immer nach Juden greifen wird – der gültige Segen Abrahams (Gen 18,18) reicht durch alle Zeiten. Damit hat Stefan Zweig eine ungeheure Perspektive geschaffen, geschöpft aus der jüdischen Überlieferung und aus »dem ›Land der Väter‹, mit dem er sich innerhalb seines Dichtens so gut verstand.«70 (Arnold Zweig). Diese Perspektive legt in seine Prophetengestalt eine unglaubliche Ahnung, die zwanzig Jahre später, wenn der Antisemitismus in seine fabrikmäßig konstruierte und erbaute Hölle absteigen wird, wie nie zuvor erprobt werden wird. Stefan Zweig konnte ihr entfliehen. Doch dem Weltmenschen, der ins Universale strebte, wurde die erlittene Fremde – Erbteil des Exils seit Jeremias Tagen – zum stummen Boten, der aus einem kleinem, späten Gedicht spricht, das der Sechzigjährige in seinem letzten Wohnort im brasilianischen Petropolis geschrieben hat: »Linder schwebt der Stunden Reigen Über schon ergrautem Haar, Denn erst an des Bechers Neige Wird der Grund, der gold’ne, klar. Vorgefühl des nahen Nachtens Es verstört nicht – es entschwert! Reine Lust des Weltbetrachtens Kennt nur, wer nichts mehr begehrt, Nicht mehr fragt, was er erreichte, Nicht mehr klagt, was er gemisst Und dem Altern nur der leichte Anfang seines Abschieds ist. Niemals glänzt der Ausblick freier Als im Glast des Scheidelichts, Nie liebt man das Leben treuer Als im Schatten des Verzichts.«71

Diese Zeilen hat ein Dichter72 formuliert, dem am Ende der Abschied etwas zugeflüstert hat, das ungesagt bleib. Gegen die Tragödien, seine eignen und die 70 Arnold Zweig, zit. in: Renoldner Klemens / Holl Hildemar / Karthuber Peter (Hg.), Stefan Zweig, 217. 71 Faksimile abgedruckt in: Bauer Arnold, Stefan Zweig, 79. 72 Die große Dichtkunst lässt sich in der dritten Strophe gut erkennen, v. a. in ihren beiden letzten Zeilen: Das Wort leichte am Ende der dritten Zeile hebt den Vers an, setzt sich dabei in seiner Bedeutung selbst und ganz unmittelbar ins Wort und intoniert das Schwebend-Leichte des Anfangs, der geschieht ohne Mühe und Plage, und von selbst durch die Zeit herbeigebracht wird. Gleichzeitig verbindet Zweig den Anfang direkt mit dem finalen Abschied. Zweig schlägt in dieser Strophe keinen Rhythmus, der in die Ewigkeit einbrechen will; ihm leuchtet das leichte Licht des Endes, das ihn befreit von all der Wirrnis, die ab 1914 sein Leben zerzogen und zerspannt hatte.

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seiner Welt, hielt er kein rhetorisch flammendes Vermächtnis mit kräftigen Imperativen. Ihm dämmerte das Licht des Friedens, der sich ihm gab, indem er alles losließ und im Verzicht seine Sehnsucht nach echtem, lebendigem Frieden stillen wollte. Das blieb widersprüchlich; doch dieser Widerspruch sprach nicht gegen ihn, sondern gegen eine Zeit, die den Judenhass zum Prinzip des Politischen gemacht und überall den Frieden zerschlagen und verbrannt hatte, wohin dieses Politische gereicht hatte.

2.

Lebens- und Schreibwege eines Weltenwanderers

Der am Schluss freiwillig gegangen war, hatte zunächst bessere Voraussetzungen fürs Leben gefunden. Am 28. November 1881 wurde Stefan Zweig in Wien am Schottenring 14 geboren, zwei Jahre nach seinem Bruder Alfred. Seine Eltern Moritz und Ida Zweig, geborene Brettauer und stammend aus Hohenems, waren gut situierte Unternehmer, die Textilien erzeugten und vertrieben. Die beiden Kinder fielen in die Obhut einer Erzieherin, durch deren Maßnahmen sich Stefan Zweig wie in einem Gefängnis fühlte. Offenbar hatte er durch die harte Hand der Gouvernante schon erfahren, welch ein Grauen es war, isoliert vom Alltagsleben Gleichaltriger und Gleichgesonnener aufzuwachsen und auf niemanden hoffen zu können, der vor der Zeit des Erwachsenwerdens diesen Kerker zerbrach. Was er damals als Bub erlitten hatte, ließ ein Zweifaches in ihm heranwachsen: den Wunsch, hinaus in die Welt zu ziehen und Verbindungen zu schaffen, die menschlich waren und trugen – und den Horror einer Vereinsamung, in der die Wände eines engen Zimmers aufeinander zurücken, den Verlorenen wahnsinnig machen und am Ende erdrücken73 oder ersticken, gleichviel. Allein die Kunst versprach ihm, was er erhoffte, und war ihm bis zum Ende jenes Movens, mit dem er gegen die zerstörende Vereinsamung angehen wollte. Nicht weit weg von der Elternwohnung lag das Gymnasium der Wasagasse, das sich heute am Eingang mit einem Gedenkschild schmückt und Stefan Zweig ab 1891 acht langweile Jahre lang festhielt.74 Kaum anders erging es ihm mit dem Philosophiestudium, das er gleichfalls in Wien und dann in Deutschland75 be73 Jean Améry, der auf seine Weise die Finsternisse kannte wie Stefan Zweig auch, hat dem Suizidanten eine ähnliche Grundvorstellung zugeschrieben. »Der Suizidant oder Suizidär … schlägt mit seinem Kopf den rasenden Trommelwirbel gegen die anrückenden Wände und stößt schließlich mit diesem dünn gewordenen und schon wunden Schädel durch die Mauer.« (Améry Jean, Hand an sich legen, 20). Hinter der Mauer ist nichts, der Durchbruch das Existenzende. 74 Zweig Stefan, Die Welt von Gestern, 46 75 Mark Gelber verweist darauf, dass vor allem die kurze Zeit in Berlin ihn das erste Mal echte Freiheit und Ungebundenheit hat fühlen lassen (Gelber Mark H., Autobiography and History).

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trieb. Die vier Jahre seines Studiums, so schreibt er, waren »wohl die einzige Sache, die ich meinen Eltern zuliebe tue und dem eignen Ich zum Trotz.«76 Davon nahm er kaum etwas in seine folgenden Jahre mit. In seinem gesamten literarischen Werk ging es nie um irgendwelche bedeutende Systemphilosophien oder Systemphilosophen, nicht einmal darum, irgendetwas von ihnen literarisch zu verwandeln; das behielt er anderen vor, politisch markanten Charakteren, Humanisten, Abenteurern, Randgestalten, Wahnsinnigen und vor allem Dichtern. Denn er misstraute gründlich den Denksystemen; sie spiegelten ihm die gleiche Gewalt, die seine Erziehung und die Schulzeit beherrscht hatten, die Gewalt der Vernichtung des Großen und Originellen, das sich deshalb meist außerhalb des Geordneten fand, jedoch die entscheidenden zivilisatorischen Schübe brachte.77 Am Beginn seines Studiums lernte er das Ostjudentum kennen, »das mir bisher in seiner Kraft, seinem zähen Fanatismus unbekannt gewesen«78 war und ihm Zeit seines Lebens fremd blieb in Sprache, Kleidung, Lebensform und Selbstausdruck. Jiddisch als Umgangssprache sagte ihm nichts, das Hebräische als Gebets- und Ritualsprache war ihm unlesbar, und zionistische Ideen, ein Staatsgebilde möglicherweise auf der Basis des Hebräischen hervorzubringen, widerstrebten ihm79, als wollte man etwas längst schon Abgelebtes künstlich wieder hervorbringen. Sein Weg wies in eine andere Richtung, zur Zeitung Die Neue Freie Presse. Für diese Zeitung arbeitete ab 1889 bis zu seinem Tod im Jahr 1904 Theodor Herzl, ein Mann, der viel reiste80, an technischen Neuerungen sehr interessiert war und zugleich die große Vision mit auf den Weg brachte, die sich auf ein selbstständiges Israel richtete, nachdem dieses, wie Nachman Krochmal in seinem Lebenswerk Führer der Verwirrten der Zeit geschrieben hat, am Ende der Hasmonäerzeit durch »ein verzehrendes Feuer« zerstört worden war, »das jeden brüderlichen Zusammenhalt zerbrach und eng verbundene Brüder auseinander dividierte.«81

76 77 78 79 80 81

Zweig Stefan, Briefe an Freunde, 8. Zweig Stefan, Die Welt von Gestern, 118. Ebd., 142. Prater Donald A., Stefan Zweig, 21. Herzl Theodor, Die treibende Kraft, 14. Krochmal Nachman, Führer der Verwirrten der Zeit. Band 1, 195; es ist mir unverständlich, warum sowohl für eines der Vorbilder Krochmals, nämlich Mosche ben Maimons moreh nevuchim, wie auch für die hier genannte Schrift Krochmals das hebräische Wort moreh ins Deutsche mit »Führer« übertragen wird, als trüge dieses Wort besonders in Bezug auf das Judentum keine Belastungen. Moreh bedeutet nicht Führer, sondern Lehrer. Mit Bedacht dürften Mosche ben Maimon und Nachman Krochmal dieses Wort verwendet haben, gilt doch Lehren und Lernen seit alters im Judentum als heilige Aufgabe (vgl. Heschel Abraham J., Kinder und Jugendliche, 36f).

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Es scheint, als habe Herzl in seinen letzten Jahren im orientalischen Leben seinen Lehrmeister gefunden. Im Feuilletonbericht nach einer Ägyptenreise 1903 ließen sich Realismus und Sehnsucht vernehmen. Als er beschrieb, wie Kamele neben einem Bahnsteig ihre Lasten trugen, »als ginge sie das neue Leben der Dampfzeit gar nichts an«, sprach ihn der geradezu melancholische Gestus dieser Tiere an. »Solch ein Kamel hat etwas Feierliches und Gefasstes; es scheint zu wissen, dass wir zum Leiden und Lastentragen auf der Erde sind, und so wandelt es geduldig seinen Weg bis an das Ziel, das glücklicherweise auch den Kamelen gesetzt ist.«82 Und am Ende dieses Berichts taucht das alles in orientalische Schönheit. »Im geschlossenen Wagen sitzen Damen in schwarzen Seidenhüllen. Stirn und Auge sind frei, den unteren Teil des Gesichtes decken rosenfarbene Schleier, die so undurchdringlich sind, dass man die Trägerinnen für bezaubernd hält. Dunkle Augen strahlen, und das Geheimnis duftet. Morgenland!«83 Diese Vision des Orient und eines dort errichteten freien jüdischen Staates zogen Stefan Zweig nie an, auch nicht in der Zeit, als der Nationalsozialismus Schritt für Schritt jüdischen Menschen das Leben entzog und Zweig selbst bereits die Macht dieser Entmenschung widerfahren war; im Jahr 1936 gab er wohl zu, dass Theodor Herzls politische Vision eines jüdischen Staates »ein gesegneter Augenblick« war, doch ließ er sie nicht für alle Juden gelten, denn: »zu eng ist diese Erde, um die ganze jüdische Nation zu erfassen, und zu fern sind viele von uns dieser Urheimat geworden, zu sehr eingeboren in andere Länder und Sprachen, als daß wir sie wieder verlassen wollten. Und während jene dort aufbauend erneuern, ist auch uns eine Aufgabe gestellt, die nicht minder schwierig ist, auch ohne eigene Erde, auch ohne jenen orthodoxen Glauben den Sinn unserer inneren Gemeinschaft zu erfüllen und uns in dieser schwersten Krise seelisch zu bewähren.«84

Nicht diese politische Haltung Herzls zog Stefan Zweig an, der ohnedies dem Politischen im Ganzen tief misstraute85, sondern der weltbürgerliche Geist, der 82 83 84 85

Herzl Theodor, Die treibende Kraft, 77. Ebd., 80. Zweig Stefan, Die schlaflose Welt, 218f. Unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg legitimierte er seine apolitische Haltung, weil Politik gegen die Menschlichkeit stand (ebd., 126). Als er 1939 durch die USA reiste, sprach er angewidert vom Politischen, das in Europa dominierte: »Wir sind heute in Europa Zeugen einer so systematischen Vergötterung der Lüge in der Form der Propaganda, wie sie niemals in den dreitausend Jahren der Geschichte bestanden hat. Wir sind Zeugen einer Glorifizierung des Krieges als des höchsten Sinns des Daseins, wie nicht einmal die Spartaner und nicht die barbarischsten Völkerschaften sie gewagt haben. Wir erleben eine Verfälschung der Geschichte im nationalen Sinn, die uns das Blut in den Adern vor Abscheu fiebern und uns schaudernd fürchten läßt, daß diese Art der Erziehung junger und ahnungsloser Menschen eine nächste Generation in ein noch viel grauenhafteres Blutbad hineinstoßen wird als das letzte.« (ebd., 235). Schließlich empfand er aus Eigenem den Terror einer universalistischen und totalitären Politik, die sich in alles hineindrängt und so eine »dämonische Übermacht über den Menschen gewonnen« (ebd., 273) hat. Politik ist Lüge.

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bei Herzl fühlbar war86 und sich, wie Zweig später schrieb, vor allem in Herzls wenig bekannter Schriftstellerei gezeigt hatte.87 Diese trieb den jungen Zweig an. In seinen ersten literarischen Veröffentlichungen dieser Zeit aber fanden sich weniger Weltumspannendes und Universales, sondern eher die Spannungen wieder, in denen der junge Mann sich befand. Sie tragen ekstatische Züge ebenso wie eine manchmal geradezu morbide Traurigkeit; und fast nirgendwo blitzte politisches Interesse auf. Seine Kontakte, die er knüpfte, brachten ihn nicht zu Politikern oder Ökonomen, sondern zu Literaten vor allem im frankophonen Raum. Er begann sie zu übersetzen und schulte daran seinen eigenen Stil. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, kam aus Stefan Zweig seine ganze Hilflosigkeit heraus, weil diesen Krieg plötzlich nationalistische Eruptionen anheizten, die Zweig zwangen, sich politisch zu deklarieren. Wo stand er, der Weltbürger, wenn nationalistische Segregationen begannen, Grenzen zu errichten und Länder abzuschotten, die gestern noch bereist werden konnten? Zwischen den deutschsprachigen Kaiserhäusern und romanischen Ländern starb jeder Verkehr ab, der nicht kriegerisch bedingt war. Blind machende Ideologien herrschten auf allen Seiten, geistleere Schlagworte zerhämmerten die Besinnung und riefen Pflichten auf, die von Dämonisierungen der Anderen diktiert waren. Von Stefan Zweig erwarteten Freunde aus Belgien die Fortsetzung seiner kosmopolitischen Haltung, doch ihnen schrieb ein furchtsamer Pazifist, dass er weder für sie sprechen noch auch der Kriegspropaganda widersprechen werde.88 Den nationalen Kolletivierungen setzte er in dieser Zeit nichts Grenzüberschrietendes entgegen; Zweigs weltbürgerliche Haltung staute sich hinter den Kriegsgrenzen und suchte dort nach einem Universalen. Er fand es im Judentum und in der gebildeten deutschsprachigen Kultur. Dafür ist ein Brief an Romain Rolland Zeuge, den Zweig am 25. März 1915 schrieb. Zwar war er mit seinem Judesein von außen behaftet worden durch den Antisemitismus, der ihm das »Schicksal« auferlegt hatte, »persönlich für eine Rasse gehaßt zu werden.«89 Doch er nahm das nun als zu ihm gehörig an. Dazu kam in dieser Kriegszeit, auch als »Deutscher«90 abgewiesen zu werden. Beides jedoch wollte er bewahren, die deutsche Kultur, die ihm zueigen war, und die jüdische Herkunft, die zu ihm gehörte. In dieses Jahr 1915 fiel schließlich der schon erwähnte Beginn der Arbeiten an seinem Dramas Jeremias, in dem sich Zweig, die sinnlose Katastrophe des Untergangs einer alten Welt vor Augen, intensiv mit bedrohtem Judesein befasste und gleichzeitig damit die Kriegskatastrophe zu deuten versuchte. 1917 schloss er 86 87 88 89 90

Zweig Stefan, Die Welt von Gestern, 124. Zweig Stefan, »Ich habe das Bedürfnis nach Freunden«, 442. Zweig Stefan, Die schlaflose Welt, 44. Zweig Stefan, Briefe an Freunde, 49. Ebd., 49.

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das Stück ab, in Zürich wurde es uraufgeführt. Auf dem Umschlag des Erstdrucks fand sich die klare Tradition, aus der gedeutet wurde: der siebenarmige Leuchter, den Kaiser Vespasian als Beute des Sieges des Titus über Jerusalem im Jahr 70 n. d. Z. in den Tempel der Friedensgöttin Pax in Rom91 hatte bringen lassen. Zwanzig Jahre später, im Jahr 1937, nahm Stefan Zweig nochmals den siebenarmigen Leuchter auf und erzählte in Der begrabene Leuchter die geheimnisvolle Geschichte von seiner unbekannten Beisetzung. Das alles lässt sich deuten als Zweigs Erinnerung an das eigene Judentum und seine Überlieferung und reicht damit über bloß pazifistische oder allgemein humanistische Hintergründe hinaus. Denn der Untergang, der sich 1915 schon abgezeichnet hatte und 1937 verschärft praktiziert wurde, galt dem Judentum und ließ Zweig nach jüdischen Traditionen fragen, die aus dem Untergang gesprochen hatten und deshalb über die Verzweiflung hinausreichten. Wenn Stefan Zweig sich an Jeremia in den Jahren der europäischen Selbstverwüstung wandte, so nicht, weil keine anderen Stoffe bereit gelegen wären; es hatte sie gegeben und er hatte sie auch bearbeitet, diese Leuchten eines Humanismus, der stärker blieb als das Geschrei der Agitatoren: Erasmus von Rotterdam, Sebastian Castellio, Michel de Montaigne. Doch keiner von ihnen reichte in die Tiefen menschheitlicher und göttlicher Erfahrungen hinein wie die Zeugen des Jahrtausende alten Judentums. Humanisten kamen und gingen und hinterließen Ideen, große Ideen, die weiter gereicht und neu geformt wurden; sie standen in Traditionen der Aufklärung und des Gewissens und widerstanden dem dumpfen Terror der Biertische, der kühlen Gewalt der formalen Rechtsvollstrecker oder sonst einem Zwang. Doch keine dieser großen Ideen hatte ein Volk herangebildet, das durch die Geschichte gezogen wäre und sich mit ihnen weiter überliefert hätte in einem ewigen Gedächtnis; dieses dürfte wohl Stefan Zweigs Urbewusstsein gewesen sein, das er jedes Mal in Katastrophenzeiten wieder hörte; und er hörte es bestimmter, mächtiger und eindeutiger als Erasmus von Rotterdam, dem am Sterbebett der große Humanismus nichts mehr sagte, da »in der Urangst der Kreatur … die erstarrenden Lippen plötzlich das kindgelernte heimatliche ›lieve God‹ (stammeln), das erste Wort und das letzte seines Lebens finden sich im gleichen niederdeutschen Laut.«92 In diesen letzten Augenblicken ließ sich aus Humanismus und philosophischer Bildung nichts mehr holen. Ihre Geltungen erstreckten sich nicht einmal bis an die Schwelle des Abschieds vom Leben, also gleichsam bis zur großen Havdala, die während der Lebenszeit Woche für Woche die Zäsur zwischen Schabbat und Wochenbeginn legt und grundlegend zwischen

91 Flavius Josephus, Der Jüdische Krieg, 496 (= B.J. 5,7); Brenner Michael, Kleine jüdische Geschichte, 60. 92 Zweig Stefan, Triumph und Tragik, 183.

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Heiligem und Nichtheiligem zu unterschieden lehrt.93 Davon weiß der Humanismus nichts und wusste auch Erasmus nichts. In seine letzten Augenblicke zog ein Zutrauen zu Gott ein, das der Humanismus weder geschaffen noch überliefert hatte. Stefan Zweig hatte diese religiöse Kraft in den großen Niedergängen seiner Zeit geahnt und zu seinem künstlerischen Antrieb werden lassen. Und so überspannt der Prophet des 7. und 6. Jhdts. v. d. Z. weit auseinanderliegende Zeiten der Katastrophen, wird von Stefan Zweig gehört und in diesen Kriegsjahren wieder zu dem, was einen prophetischen Menschen ausmacht: nicht die Zukunft vorauszusagen, sondern eindringlich zu mahnen und zu überzeugen, einen anderen Weg zu gehen94 als den katastrophalen des Krieges.95 Der Prophet Jeremia gab Zweig die Empfindsamkeit der Kompassion und der anklagenden Sympathie mit den geplagten, getretenen Menschen, die in der Sympathie für Gott wurzelt.96 Wäre Zweig nicht an eine solche Kompassion gebunden gewesen, die in seiner sehr feinsinnigen Aufmerksamkeit (in der Kewana, die als Grundhaltung zum Judentum gehört97) eingewurzelt war, er hätte die Zerstörung des Krieges als historisches Periodikum sehen können, das kommt und geht wie die großen Ideen auch. Der Krieg kommt, wenn es Zeit für ihn ist, und er endet nicht, weil Frieden gewollt wird, sondern weil sich seine Mittel erschöpfen: Menschen, Waffen, Rohstoffe. Was Zweig in Jeremias gestaltet hatte, blieb ihm bis ans Ende innerlich: die tief ins Judentum eingegrabene Erfahrung, dass kriegerische Katastrophen zum Verzweifeln sind und dennoch trotz des kollektiven Verwüstens und Mordens im Segen Gottes Wege über die Verzweiflung hinaus gegangen werden konnten; »ich fühlte dies beglückt, während ich an diesem Drama schrieb, dem ersten, das ich von meinen Büchern vor mir selbst gelten ließ.«98 So war das Drama Jeremias für Zweig also kein literarisches Zwischenspiel einer sonst schöngeistigen Welt mit ihrem manchmal etwas tragischen Melos, sondern bildete eines der Zentren seines Lebens und Schaffens; es war jüdisch eingegründet, stand in Konfrontation zum Kriegsgeheul und seiner blinden Zerstörungskraft, erinnerte an die große menschheitliche Botschaft des Friedens und zugleich und paradox an den Judenhass, der viele europäischen Katastrophen vorbereitet und nach ihnen zum Teil noch massiver nachgewirkt hat, weil er gegen diese Botschaft seine Ohren zugestopft hat, um agieren zu können, wie er will, in gewissenloser Selbstherrlichkeit, die den Sinai sprengt und selbst Gesetz gibt, nicht auf Gott hörend, sondern den eigenen dumpfen Affekten in fast 93 94 95 96 97 98

Siddur Schma Kolenu, 552f. Heschel Abraham J., The Prophets, 45. Zweig Stefan, Tersites Ÿ Jeremias, 145. Heschel Abraham J., The Prophets, 46. S. S. 117f. Zweig Stefan, Die Welt von Gestern, 289.

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dionysischem Rausch hörig. Anders hätte sich weder der Erste Weltkrieg noch die ihn übersteigernde Hetze von Faschismus und Nationalsozialismus danach hervorbringen und durchsetzen lassen. Zwei Jahre nach dem Krieg heiratete Stefan Zweig Friederike von Winternitz und zog mit ihr und deren beiden Kindern nach Salzburg, wo er bis 1934 wohnte. Dort arbeitete er in den Jahren ab 1920 mit immenser Energie und leuchtete weiterhin in Abgründe hinein, die sich ihm alltäglich zeigten, wenn er in die Stadt ging. Da sah er hohlgesichtige Menschen, die der Krieg hervorgebracht hatte: Aus ihnen blickten Hunger und Mangel.99 Er hütete diese und andere menschliche Geschichten, indem er sie in literarischer Verwandlung wieder erweckte. Das war Transformation, keine Konstruktion, die das Einzelne in ihre Formen zwingt; es war Transformation, bedingt durch das, was die Sinne zu halten vermochten, die Intuition hervorrief und in künstlerischer Potenz geschaffen werden konnte. Der Literat findet und erfindet hinzu, wo das Gefundene und Wahrgenommene über sich hinausweist, er steigert es dadurch über seine Grenzen hinaus und gerät selbst in den Sog solcher Transformation und Überwindung; das gilt besonders, wenn es um den Menschen geht. »Nicht die Psychologen, die Wissenschaftler, haben die moderne Seele in ihrer Tiefe erkannt, sondern die Maßlosen unter den Dichtern, die Überschreiter der Grenzen.«100 Mit all dem leuchtet der Literat in die Welt seiner Gestalten, um sie zu entdecken und zu verhüllen – wie auch das Leben selbst zwischen beidem pendelt. So konnte es kein Zufall gewesen sein, dass Stefan Zweig in Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewskij es mit gewaltigen Literaten aufnahm; jeder von ihnen hatte sich in menschliche Geschicke hineingebohrt und Schichten berührt, die tief unterhalb des lichten Alltagslebens lagern. In seiner Erzählung Amok bildete Zweig ein solches Geschick, das sich plötzlich abkehrt und das Unausrechenbare offenbart; dieses gehört dem Geheimnis eines Menschen, in dem Zwang und Freiheit nicht mehr zu sondern sind. Die Augen des ewigen Bruders blicken nach Indien und offenbaren einen Grund für Stefan Zweigs Vorbehalt gegen politische Macht: Ein Sklave, der sich der Augen seines gleichfalls versklavten Bruders erinnerte, stand vor dem König und wollte Einsicht in den Herrscher bringen, Einsicht in dessen Schuld, weil er im Zeichen seiner Macht Schicksale formt und bestimmt, aber nicht freigibt. Freiheit und Herrschaft widersprechen einander, weil Herrschaft stets knechtet und Besitzstände festhält. In der Novelle Angst verknotete Zweig Schuld und Erpressung; in den Sternstunden der Menschheit feierte er die Kultur menschlichen Schaffens als Gegenwelt zur kriegerischen Ordnung des Zerstörens, ohne auf die zu vergessen, die

99 Ebd., 330. 100 Zweig Stefan, Drei Meister, 180.

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im Verlauf solcher Anstrengungen ausgebeutet, verwundet oder zu Tode gekommen waren. 1928 kehrt er wieder ins Leiden ein und liest es in der Erzählung Rahel rechtet mit Gott aus der jüdischen Tradition: Den schweigenden Gott besiegt, die um ihrer Kinder willen, um Israels willen ihn bedrängt und niederringt. Rachel war – so wie mehr als zehn Jahre zuvor auch der Prophet Jeremia den heiligen Schriften des Judentums entnommen – das Gegenbild des furchtbaren Opportunisten Joseph Fouché, in dem Stefan Zweig lang vor den späteren Reflexionen der Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer101 den faschistischen Charakter gefunden hatte: Fouché diente sich, von allen innerlich unberührt, den Oppressoren an mit stets lauernder Witterung und der gespannten Bereitschaft, seinem Herrn in den Rücken zu fallen, das eigene hohle Selbst zu verraten und geschmeidig die Seite zu wechseln, als der Stern eines anderen aufstieg und siegte; er konnte alles verkörpern, den Royalisten, den Revolutionär, den Gefolgsmann Napoleons, und war ein Nichts der Menschlichkeit, das für jede Seite auftragsgemäß mordete. In dieser Figur sammelten sich bereits die Momente, auf denen der Nationalsozialismus sozialpsychologisch fußte und die er in sich wieder ausbildete und festigte. In diesen Kreisen las man Joseph Fouché, wie Stefan Zweig in der Erinnerung an die Bücherverbrennungen von 1933 schrieb, die auch sein Werk traf: »Meine Bücher hatten schon vordem die Ehre genossen, reichlich von den Nationalsozialisten gelesen zu werden; insbesondere war es der ›Fouché‹ gewesen, den sie als Vorbild politischer Unbedenklichkeit immer wieder studierten und diskutierten.«102 Nichts, was im Nationalsozialismus aufkam, hatte dieser erfunden, auch nicht die Inkarnation seiner Haltung. Fast alles jedoch hatte er in einem bis dahin nie so lückenlos geformten Terrorsystem an den Tiefpunkt des Menschenmöglichen getrieben. Stefan Zweig sah längst schon die Zeichen an den Wänden und hörte die stampfenden Wellen der Propaganda – ein Mann, der als Jude in deutscher Kultur denken und leben wollte und trotz seines publizistischen Erfolgs mit ansehen musste, wie der Glanz der Menschlichkeit, den der ethische Monotheismus des Judentums in die Welt gebracht hatte, mit Gebrüll und Häme niedergetreten wurde. Als er 1931 seinen fünfzigsten Geburtstag beging, fiel er in eine Krise, wie ein kurzer Tagebucheintrag am 28. 11. 1931 verrät: »Der dunkle Tag. 50. Jahre.«103 An der steigenden Zahl der Jahre litt er, doch nicht so sehr, weil das Alter daran gemahnt, dass der Mensch der Zeit gehört und nicht diese ihm104, sondern weil diese Jahre, in denen der Nationalsozialismus überall in Deutsch101 Horkheimer Max / Adorno Theodor W., Dialektik der Aufklärung, 164 und 188–196; Adorno Theodor W., Erziehung nach Auschwitz, 92ff. 102 Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, 425f. 103 Stefan Zweig, Tagebücher, 357. 104 Heschel Abraham J., Der Schabbat, 19 und 74–79.

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land und Österreich herausquoll, ihm zeigten, wie hilflos sein Schaffen angesichts der Gewalt dieser Ideologie und ihrer vielfältigen Joseph-Fouché-Figurationen geworden war, wie sinnlos seine Mühe, statt Krieg Kultur nahezubringen. Zwei Jahre späte verbrannten in zweiundzwanzig Universitätsstädten Deutschlands seine Bücher mit einer Unmenge anderer Schriften deutschsprachiger jüdischer Dichter und Schriftsteller. Was die Flammen verzehrten, war vorher schon liquidiert worden. Angesichts dieser Entwicklugnen glaubte Zweig eher an den Sinn innerer Immigration als an Rebellion. Er hielt es für widersinnig, »mit der Stirn gegen die Gefängniszelle zu rennen, sondern (wir sollten) lieber diese Stirn uns erhalten und nach dem Vorbild des Cervantes in diesem unsichtbaren Gefängnis gute Bücher schreiben.«105 Doch für wen? Hier scheiden sich die Geister der Dichter. Manch einer stellt sein Schreiben ein, wenn er nicht mehr weiß, wofür und für wen er noch schreiben soll, weil er entweder alles geschrieben hat, was zu schreiben war106, oder niemand mehr da ist, der das liest. Ein anderer hört auf zu schreiben, weil seine Kräfte geschwunden sind und er leer geworden ist. Wieder ein anderer endet damit, weil schlichtweg der Drang zu schreiben erloschen ist, so wie man mit einer Arbeit aufhört oder auch mit dem Leben, ohne Wehmut; davon hat Jean Améry gesprochen.107 Und dann gibt es noch die Schriftsteller, die nicht aufhören können zu schreiben, auch wenn die Welt um sie herum untergeht oder sie alles verlieren, was zu ihrem Schreiben gehört hat, die Luft, die sie geatmet haben, die Wälder und Wiesen, Straßen, Häuser und Brücken, die zu ihnen gehört haben, das Melos der Sprache, das von Kindheitstagen an sie umgeben hat, der Tisch, an dem sie gearbeitet haben, und die Bücher, mit denen sie gelebt haben, die Menschen, die sie ertragen und geliebt haben, die Verlage, die ihnen den Weg gebahnt hatten zwischen ihrem Arbeitszimmer und unbekannten Lesezimmern, das Publikum, das auf ein neues Buch gewartet hatten, das Bett, in dem sie geschlafen oder in unruhigen Nächten ihre Geschichten weitergeträumt haben – sie können nicht aufhören zu schreiben, selbst wenn sie die Vergeblichkeit immer drängender fühlen, die mit ihrem Schreiben von jetzt an und auf Dauer verbunden sein wird. 1934 hat Stefan Zweig alles das verloren, nachdem sein Haus in Salzburg wie das eines Verbrechers durchsucht worden war. Abschied von Salzburg, Trennung von seiner Frau, »Einkapselung«108 in sich, um sich wieder aufs Schreiben konzentrieren zu können, das jetzt um Geschichten von Konfrontation kreiste mit den historischen Großerzählungen Triumph und Tragik des Erasmus von Rot105 106 107 108

Zweig Stefan, Briefe an Freunde, 258. Philip Roth says »Nemesis« was his last novel. Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 147. Zweig Stefan, Briefe an Freunde, 275.

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terdam, Maria Stuart, Castellio gegen Calvin und Magellan; 1939 schließlich veröffentlichte er den Roman Ungeduld des Herzens, in dem Liebessehnsucht und Mitleid tragisch ineinander fallen. Im selben Jahr heiratete er Lotte Altmann ohne große Gesten109 und zog mit ihr nach London. Nach Monaten des Krieges gab er 1940 seine Londoner Unterkunft auf und zog in die USA und danach weiter nach Brasilien. Denn die Expansion der Nationalsozialisten drohte ihm auch im englischen Exil. Die Insel bot nur scheinbare Sicherheit, morgen schon konnte sie durch die deutsche Kriegsmaschine zertrümmert und erobert sein. Am 2. Juni 1940 schrieb Stefan Zweig in sein Tagebuch, »lebend möchte ich diesen Herren nicht in die Hände fallen. Zwischendurch immer wieder der Gedanke: wann gab es je solche Zeiten und noch dazu für jemanden, auf dem der Fluch lastet – denn es ist keine Schuld – Jude zu sein. Daß man, nahe seinem sechzigsten Jahr, wie ein Verbrecher gejagt werden könnte, hätte man sich in der Jugend und im Hochgefühl unseres Jahrhunderts auch nicht träumen lassen.«110

Wieder ist es sein Judesein, das er wie eine Tragödie erfasste. Tragisch war ihm sein Judesein nicht als solches, sondern tragisch war und wurde es ihm durch den Judenhass, der die jüdische Geschichte spätestens seit Jeremias Tagen begleitet hatte und nun, in diesen Tagen, sich wie zum letzten Schlag gegen das Judentum zusammenballte. Mochte Stefan Zweig seines Judeseins auch zu einem Gutteil von außen erinnert worden sein – er verließ es gerade in dieser vorläufig letzten tödlichen Konfrontation mit dem Feind nicht und kündigte es nicht auf, weder durch den Versuch einer Konversion noch durch irgendeine sonstige Preisgabe. Jenseits des Atlantiks fand Stefan Zweig wohl Frieden, aber keine Perspektiven mehr. All seinen Glauben fühlte er zerbrochen; Abschied, mehr zugefügt als erlernt, war ihm ganz innerlich geworden111 und hatte ihn todmüde gemacht, wie er am 30. Mai 1940 ins Tagebuch schreibt: »ich bin viel zu müde, noch einmal mit Sack und Pack zu übersiedeln, jene schicksalhafte Schwere ist in mir, die Oscar Wilde in der entscheidenden Stunde überwältigt hat.«112 Knapp zwei Wochen später: »Ich weiß, daß sich niemals diese(s) Leben mehr einrenken wird … auch literarisch ist alles, was ich noch unternehmen könnte, durch den Mangel an Concentration auf Jahre hinaus gehemmt und als Sechziger ist man ohnedies doch schon unterhöhlt und halb erledigt. Ich will nicht mehr und zögere nur, diesen Willen durchzusetzen, aber von

109 Am Tag seiner zweiten Heirat, dem 6. September 1939, schreibt er in sein Tagebuch: »Quick lunch and shaving, after the wedding without great formalities, just the formula that one declares to take L. A. to his lawful wedded wife.« (Zweig Stefan, Tagebücher, 422). 110 Zweig Stefan, Tagebücher, 464. 111 Zweig Stefan, Europäisches Erbe, 267. 112 Zweig Stefan, Tagebücher, 462.

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außen wird mir schon dazu geholfen werden; ich sehe so Schweres kommen, wie es die andern nicht ahnen. (…) Mein Gott, wie geht man mit Menschen um!«113

In diesen wenigen Jahren ergriff Stefan Zweig eine Enttäuschung, der er kaum noch in seinem Schreiben ausweichen konnte, das ihn ohnedies oft leer, erschöpft und dem Geschriebenen gegenüber misstrauisch zurückgelassen hatte.114 Mit einem müden Versuch warf er sich noch einmal auf gegen alles und schrieb auf das Land seines Exils ein Loblied in seinem Buch Brasilien, in dem ihm wenigstens geografisch die Hetzer nicht nahe gekommen waren. Doch Brasilien blieb ihm paradox und löste nichts mehr auf. Dort war er heimgekommen in die Fremde und in die Isolation eines Unzugehörigen, die an die bedrängendsten Züge seiner Schachnovelle erinnerte. Und so packte er sein Leben zusammen, schrieb Die Welt von Gestern, einen exilliterarischen Text, der seine »Selbstentfremdung«115 (Mark H. Gelber) manifestierte und sein verzweifeltes »Zeugnis« dafür, dass keine »Generation so geprüft, so gepeinigt worden wie die unsere. Sagen wir es den nächsten zur Warnung.«116 Und noch einmal kommen ihm biblische Erinnerungen zurück, diesmal die Erinnerung an Mose, als Gott den alten Mann auf den Berg Nebo sandte, um ihm das Kommende zu zeigen: »Schau auf das Land Kanaan, das ich den Israeliten als Grundbesitz geben werde.« (Dtn 32,49). Gleich danach wird ihm der Tod angekündigt, ins Land wird er nicht mehr ziehen, um etwa, wie es der Talmud deutete, dort die Tora in ihrem vollen Umfang zu leben oder den Lohn für seine Mühen zu erhalten.117 Doch diese Erinnerung verdeutlicht den immensen Abstand zu Mose, denn »gerade unsere Generation wird wie manche unter den Kindern Israels in der Wüste herumirrend sterben, ohne vom Berg Nebo den Ausblick in das gelobte Land gesehen zu haben. Wir sind falsch gestellt in jedem Sinne; man müßte heute entweder zwanzig sein oder achtzig, das Leben schon hinter sich haben oder noch ganz vor sich. Aber eines ist 113 Ebd., 467. 114 In einem Brief schrieb er: »Ich selbst bin immer, wenn ein Buch fertig ist, davon abgestoßen. Alles kommt mir dann falsch, ärgerlich, ungelungen vor und diese Depression hält einige Zeit unverändert an. Am liebsten möchte ich dann alle Exemplare aufkaufen und verbrennen. Es ist furchtbar schwer, wahr zu sein und gerecht; jede Darstellung ist mir deshalb eine nachherige Gewissensqual, ob ich die Gewicht nicht auch genug gewogen.« (Stefan Zweig, zit. in: Beck Knut, Nachbemerkungen des Herausgebers, 241). 115 Gelber Mark H., Die Welt von Gestern als Exilsliteratur, 160. 116 Brief an Max Hermann-Neiße vom 18. 5. 1940: Zweig Stefan, Briefe 1932–1942. Herausgegeben von Knut Beck und Jeffrey B. Berlin, Frankfurt/Main 2005, 275. 117 »R. Sˇimla trug vor: Weshalb begehrte Mosˇe in das Jisraélland zu kommen; brauchte er etwa von seinen Früchten zu essen, oder etwa sich von seinem Gute zu sättigen? Vielmehr sprach Mosˇe also: Viele Gebote sind den Jisraeliten auferlegt worden, die nur im Jisraéllande ausgeübt werden können, ich möchte daher in das Land kommen, damit sie alle durch mich ausgeübt werden können. Da sprach der Heilige, gepriesen sei er, zu ihm: Du möchtest ja nur die Belohnung erhalten, und ich rechne es dir an, als hättest du sie ausgeübt.« (bT Sota 14a).

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uns noch geblieben, die Arbeit, und selbst ohne ihre Wirkung hat sie ihre ablenkende Kraft bewahrt.«118

Diese Kraft trug nicht mehr weit. Am 18. Februar 1942 schrieb er seinen letzten Brief an seine erste Frau und fühlte sich endlich »ruhig und glücklich.«119 Vier Tage später erwachten er und seine zweite Frau nicht mehr am Morgen. Beide lagen im Bett, unbedeckt und angezogen mit üblichem Tagesgewand, Hemd, Hose, Krawatte, Kleid; Lotte an seiner Schulter, hielt ihre linke Hand entspannt seine rechte.120 Das stumme Bild dieses Morgens zeigte zwei weltabgewandte Menschen, an die nichts mehr rührte, kein Hoffen und keine Verzweiflung, vor allem keine Verzweiflung mehr. Nicht schön war dieser Tod, denn Stefan Zweig und seine Frau gaben sich ihm, nachdem die Verzweiflung sich unerträglich verdichtet hatte. Dieser »fliegende Salzburger«121 und »wirkliche Weltbürger, der in den Ländern des Exils zu Hause war, ehe es noch ein Exil gab«, und in dem der »uralte Hang des Juden zum Mittlertum«122 (Franz Werfel) geglüht hatte, brachte jedoch mit seinem Leben auch den Boden der Verzweiflung an, gegen die er jede ge-

118 Zweig Stefan / Zech Paul, Briefe, 110f. 119 Zweig Stefan, Briefe an Freunde, 350f. 120 Das Bett von Lotte Zweig war unbenutzt; offenbar hatte Lotte gewartet, bis Stefan Zweigs Atem erstarb, sich dann selbst vergiftet und zu ihm gelegt. Wie bei allen prominenten suizidären Akten, so versuchte man auch bei diesem, Dunkelheiten nach Möglichkeit aufzuhellen. Alberto Dines, selbst Brasilianer, belastet mit Suiziden in seiner Verwandtschaft und Sohn aushaltender jüdischer Eltern, »die den Weg bis zum Ende gingen« (Dines Alberto, Tod im Paradies, [3]), brachte in seiner epochalen Studien über Stefan Zweig, den er als Bub selbst einmal gesehen hatte (ebd., [13]), u. a. auch medizinische Interpretationen dieses Aktes ein, die im Wesentlichen auf schwere depressive Verstimmtheit abzielten (ebd., 650f), der er rettungslos preisgegeben war, nachdem er nicht mehr »Friederikes ruhige Vitalität« (ebd., 654), sondern die kranke Lotte an seiner Seite gehabt hatte. Das alles reicht nicht zu. Im finalen Akt der Selbstauslöschung kreuzen sich zum letzten Mal ein ans Gestern noch gebundener Wille und die fatale Ohnmacht, aus ihm noch Stärke für morgen zu ziehen. Ihn hätte dieser Wille der Erinnerung bewahren können, in dem ihm noch einmal der Stolz des Vaters auf ihn innewurde, der ihn hätte zurückzwingen können ins Leben. Alberto Dines: »Zurückzwingen bedeutet, sich zu schützen. Die Trauer war stärker, er gab sich ihr hin, der Tod verstand die Botschaft und kam, um ihn zu holen.« (ebd., 655). In den Maß, als die Trauer über die ihm endgültig verdorbene Zukunft anwuchs, erlosch auch das poetische Feuer, das ihn noch hätte tragen und halten können. Literatur war ihm, ähnlich wie später dann auch Jean Améry (Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 146f), nicht mehr Verwandlung der Tragödie und Kampf gegen sie, Aufschrei und Revolte (Zweig Stefan, Drei Meister, 111 und 163), sondern Manifestation des Untergangs. Solche literarischen Rebellen fand Zweig in seiner Nähe (Dines Alberto, Tod im Paradies, 657). Doch sie deuteten ihm nichts mehr. Ihm blieben Montaigne und dessen Weltabgewandtheit und Verneinung von Welt samt ihren Künsten (ebd., 651). 121 Kerschbaumer Gert, Der fliegende Salzburger, 260–267. 122 Werfel Franz, Stefan Zweig, 402.

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schriebene Zeile, jedes geformte Profil, jede Geschichte, jeden Gedanken gehalten hatte. Ein Jahr nach seiner Erzählung Rahel rechtet mit Gott, im Jahr 1929, veröffentlichte er die Erzählung Buchmendel. Buchmendel, »dieses unvergleichliche, dieses diamantene Buchgehirn«, »ein Titan des Gedächtnisses«123, war als junger Mann aus dem Osten nach Wien gekommen und hier in der Welt der Bücher aufgegangen, nicht ohne zwei Jahre »Konzentrationslager«124 erfahren zu haben, in denen er ohne Bücher hatte leben müssen. Dann war der schwer kurzsichtige und abgemagerte Mann alt geworden. Bedroht von der Delogierung, starb er an einer Lungenentzündung. Eine alte Putzkraft in einem Kaffeehaus hatte von ihm ein Buch zurückbehalten, das an einem Tisch liegen geblieben war und sie nun dem Icherzähler geben wollte. Er lehnte ab. »Und dann ging ich und schämte mich vor dieser braven alten Frau, die in einfältiger und doch menschlichster Art diesem Toten treu geblieben. Denn sie, die Unbelehrte, sie hatte wenigstens ein Buch bewahrt, um seiner besser zu gedenken, ich aber, ich hatte jahrelang Buchmendel vergessen, gerade ich, der ich doch wissen sollte, daß man Bücher nur schafft, um über den eigenen Atem hinaus sich Menschen zu verbinden und sich so zu verteidigen gegen den unerbittlichen Widerpart alles Lebens: Vergänglichkeit und Vergessensein.«125

Bücher blieben auch von Stefan Zweig zurück, Zeugen seiner Vergänglichkeit und Vergeblichkeiten, aber auch Zeugen einer Dauer und Zeugen der Verneinung von Verzweiflung und Sinnlosigkeit; denn jeder geschriebene Satz behauptet Sinn und Geltung, die nicht demoliert werden kann durch seine Herleitung oder dadurch, dass er zu seiner Zeit nicht (mehr) passte und von ihr ausgetrieben wurde. Mit seinem Schreiben lief Stefan Zweig an gegen die Wand der Ignoranz und Widermenschlichkeit. Als er sich nicht mehr bewegen konnte und nicht mehr gehört wurde, verstummte er, tragisch und freiwillig. Doch die Vernichtungskampagnen des Deutschen Reichs überdauerte sein Werk, mit ihm auch jüdische Geschichten und Gestalten fernerer und näherer Vergangenheit, an denen Stefan Zweig die drohende Vernichtung ebenso fand wie das Überdauern, den Gegnern zum Trotz: die Mutter Rachel, die mit Gott rechtete, der Prophet Jeremia, der im Namen des Bundesgottes Israels sprach, oder eine Synagogengemeinde des 14. Jahrhunderts, die in den Schnee floh und dort den Ort ihres Friedens fand.

123 Stefan Zweig, Buchmendel, 205. 124 Ebd., 220. 125 Ebd., 229.

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3.

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Als zwanzigjähriger Student, erstmals Juden ansichtig geworden, die aus dem Osten nach Wien gekommen waren, wandte sich Stefan Zweig einer jüdischen Geschichte zu, die von den dunklen Winterweiten des spätmittelalterlichen Polen handelte. Veröffentlicht wurde die Erzählung Im Schnee am 2. August 1901 in Die Welt. Mark H. Gelber deutet das als eine bewusste Nähe Zweigs zum zionistischen Gedanken, wie ihn Theodor Herzl vortrieb: »Zweig’s decision to publish these writings in a Zionist newspaper, in fact in the official organ and primary journalistic instrument of the Zionist organization, is an expression and corollary of his flirtation and sympathy with Zionism in 1901, when he was enrolled as a student at the University of Vienna, before he departed for a semester in Berlin.«126

Das war eine Affirmation des Judentums127, die auch in der Gestaltung dieser Erzählung sichtbar wird. Die literarischen Figuren tragen allesamt das Gepräge dieser Tage und werden mit Funktionen und Namen benannt, die im Zionismus durchaus üblich waren. Da gibt es den von Zweig sogenannten Vorbeter, also der Kantor oder Chasan der Gemeinde, dann den eilig heransprengenden jungen Reiter namens Josua, eine Reminiszenz an die biblische Landnahme, weiters Lea, die Tochter des Chasans und, wie sich herausstellt, die Braut Josuas, und schließlich die Synagogengemeinde, die sich versammelt hat mit angespannten Nerven. Denn die Zeiten, in denen sie sich findet, sind hoch aufgeladen mit antijüdischer Atmosphäre – auch das Signum von Zweigs damaliger Gegenwart. Die Zeit dieser Geschichte lässt sich aus einem Hinweis Josuas erschließen, der die Gemeinde schockt: »Die Flagellanten sind da!«128 Die Bewegung der Flagellanten war im 13. Jahrhundert in Italien entstanden; in apokalyptischem Wahn geißelten sich aus Bußgründen ihre Zugehörigen nicht nur selbst, was auch in Demonstrationszügen dargeboten wurden129; in den Jahren 1348/49 brach die Bewegung so epidemisch aus wie die Pest. Von Österreich ausgehend erfasste sie »alle Territorien des Römischen Reiches.«130 Diese Apokalyptiker schlugen auf sich selbst ein und hofften »durch ihre Selbstzüchtigung die Pest abzuwenden bzw. ihr Ende herbeizuflehen.«131 Stefan Zweig koppelte diesen religiös-apokalyptischen Selbsthass, der massive Zeichen der Raserei trug, mit dem in der Pestzeit gesteigerten Antisemitismus: Den schwarzen Tod hatte, wie Léon Poliakov in Bezug auf die antisemitische Denkart schreibt, Satan unters Volk gestreut 126 127 128 129 130 131

Gelber Mark H., Autobiography and History. Gelber Mark H., The Impact of Martin Buber on Stefan Zweig, 312–335. Zweig Stefan, Im Schnee, 101. Segl Peter, Art. Geißler, 162f. Ebd., 164. Ebd., 164.

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»mit Hilfe von Handlagern …, die die Gewässer verschmutzten und die Luft vergifteten. Und woher konnte Satan diese Handlager gewinnen, wenn nicht aus der Hefe der Menschheit, aus den Reihen der Elenden jeder Art, der Aussätzigen – und vor allem der Juden, die ja das Volk Gottes und das Volk des Teufels zugleich sind? Dadurch wird den Juden in einem weitgespannten Umfang die Rolle des Sündenbocks zugeschrieben.«132

So wie die Geißler auf sich einschlugen, weil sie ihre Sünden und die der Welt büßen wollten, so schwangen sie ihre Geißeln gegen andere Sünder; in ihrer Selbstzüchtigung lag ein anarchischer Gestus, der stark und gefährlich genug war, wirklich alles hinwegzufegen. Nicht nur Juden kamen unter die Zuchtruten, auch den Klerus versetzten die Flagellanten in Angst, der sich gegen sie mit Verboten wehrte.133 Doch zu einer solchen Gegenwehr fehlte jüdischen Gemeinden jede Möglichkeit; und den Klerus interessierte das Geschick derer nicht, die vor mehr als 250 Jahren aus Zentraleuropa nach Osten geflohen waren, weil besonders der Erste Kreuzzug 1095/96 jüdische Gemeinde ausgelöscht hatte. In diese für Juden wieder tödliche Zeit legte Stefan Zweig also seine Geschichte. Über allem liegt Furcht vor diesen apokalyptischen Anarchisten. Was die jüdische Gemeinde in diesen Wintertagen rituell beging, erweckte das genaue Gegenstück solcher Furcht: den siegreichen Aufstand der Hasmonäer gegen die Seleukiden in den Jahren 167–164 v. d. Z., der jährlich zu Chanukka acht Tage lang feierlich erinnert wird. Im Judenviertel einer polnischen Stadt, die Zweig nicht benannte, leuchtete vom Kampfesfeuer der Hasmonäer und von ihren Siegen nichts. In den schmucklosen Gassen standen ärmliche Häuser. »Einsam, wie verschüchterte Kinder, die sich vor den anderen fürchten, drücken sie sich zusammen in dem engen Komplex der Judenstadt.«134 Josua hatte die Botschaft von den Flagellanten in die Gemeinde gebracht, die verschreckt in einem Zimmer des Chasan Chanukka beging. Die Beklemmung, die sich ohnedies schon durch dunkle Ahnungen der Gemeindemitglieder zusammengezogen hatte, wurde durch einen mächtigen Schlag an die Haustür aufgereizt. Stefan Zweig erweckt mit wenigen Sätzen den Terror, den die Gemeinde plötzlich vor sich sah: »Ein furchtbarer Schrecken, der den Herzschlag hemmte, hat jeden erfaßt. Sie sahen schon wieder die blutgierigen Scharen mit den weinberauschten Gesichtern mit wilden Schritten in die Häuser stürmen, lodernde Fackeln in der Hand, in ihren Ohren klingt schon der erstickte Hilferuf ihrer Frauen, die die wilde Lust der Mörder büßen, sie fühlen schon die blitzenden Waffen. Alles ist wie im Traum, so deutlich und lebendig.«135

132 133 134 135

Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus II, 11. Segl Peter, Art. Geißler, 166. Zweig Stefan, Im Schnee, 97. Ebd., 99.

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Das waren Erinnerungen des Schreckens, der schon gewaltet hatte in anderen Gegenden und anderen Zeiten. Die Juden, von denen Zweig hier erzählte, trugen diese Schrecken mit sich von Generation zu Generation als eine feste Erfahrungsregel. Damit kehrte Zweig die Verheißungen um oder ergänzte sie wenigstens um ihre Nachseite, Verheißungen, die in der Tora auf dem Boden fester Regeln Generation um Generation betrafen.136 Den Terror, den diese Flagellanten seit ihrem ersten Auftreten ausstreuten, beschrieb Zweig drastisch real und historisch adäquat. »Die Flagellanten waren in Deutschland erschienen, die wilden gotteseifrigen Männer, die in korybantischer Lust und Verzückung ihren eigenen Leib mit Geißelhieben zerfleischten, trunkene, wahnsinnswütige Scharen, die Tausende von Juden hingeschlachtet und gemartert hatten, die ihnen ihr heiligstes Palladium, den alten Glauben der Väter gewaltsam entreißen wollten.«137

Aus der kalten Winternacht brachte Josua diese schrecklichen Bilder mit, als er davon erzählte, wie umliegende Städte von dieser apokalyptischen Horde geplündert und verwüstet worden waren, Städte, in denen jeder der Anwesenden Verwandte hatte. Tausende Juden hatten sie ermordet. In seiner Sprache, in der die Spuren traditioneller jüdischer Worte verloren waren – bis auf eine einzige Ausnahme, die allerdings nicht ganz richtig gesetzt war138 –, erzählte Zweig davon, dass in dieser Nacht vom Chasan das Kaddisch angestimmt wurde, die feierliche und öffentliche, also gottesdienstliche Heiligung des Gottesnamens im Angesicht des Todes139, die bereits in die Zeit des Zweiten Tempels zurückreicht, ein tief im jüdischen Bewusstsein ankerndes Gebet, das Gottes Größe der Welt des sinnlosen Sterbens und Todes entgegenhält. Stefan Zweig nannte das Kaddisch Totengebet, doch diese Zuschreibung trifft nur jene Seite, die Außenstehende an ihm wahrnehmen. Kaddisch kommt von der Wurzel q-d-sch, die die gleiche Wurzel für heilig (‫ – קדוש‬quadosch) ist. Kaddisch bedeutet deshalb die Heiligung des Ewigen, rezitiert bei der Beisetzung eines Toten oder am Jahrtag des Todes. Die tiefe Bewegung, die das Kaddisch im jüdischen Glauben wachruft, hat Stefan Zweig jedoch erwecken können, als er schrieb: »Und da beginnt der Vorbeter, dem Tränen in den silbernen Bart hinabrinnen und dem die spröde Stimme nicht gehorchen will, mit abgerissenen Worten das uralte feierliche Totengebet zu singen. Und alle stimmen ein. Sie wissen es selbst nicht, daß sie singen, sie wissen nichts von Wort und Melodie, die sie mechanisch nachsprechen, jeder denkt nur an seine Lieben. Und immer mächtiger wird der Gesang, immer tiefer die Atemzüge,

136 Beispiele dafür findet man in der Mitte der Tora, im Buch Levitikus, das ein Regelwerk tradierte, damit Israel im Land gut leben kann (bes. Lev 23,14.21.31.41 und Lev 24,3). 137 Zweig Stefan, Im Schnee, 98f. 138 S. S. 52. 139 Donin Hayim Halevy, To Pray as a Jew, 216f.

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immer mühsamer das Zurückdrängen der emporquellenden Gefühle, immer verworrener die Worte, und schließlich schluchzen alle in wildem fassungslosen Leid. Ein unendlicher Schmerz hat sie alle brüderlich umfangen, für den es keine Worte mehr gibt.«140

Ins lichte Fest von Chanukka fiel die Trauer über unzählige Ermordete. Es ist, als hätte sich in Zweigs Erzählung nicht nur die feste Regel und die ihr einwohnende Verheißung aus der Tora umgekehrt, sondern auch Chanukka. Statt des Sieges, einem erfolgreichen Kampf verdankt, steht die Gemeinde vor einer finalen Niederlage, die ihre Trauer über die Toten vertieft und verdoppelt durch die Trauer über die eigene Ohnmacht. Doch eine neue Aussicht blitzt auf: Flucht. In der jüdischen Geschichte so oft aufgezwungen, war nie von vornherein schon klar, ob Flucht Leben zurückschenken oder widerrufen wird. Flucht – eine neue Aussicht mit Jahrtausende alter Kraft und offenem Ausgang. Flucht Abrahams aus einer Götzenstadt, um leben zu können; Flucht Israels aus Ägypten hinein in die Wüste und dort zum Gottesvolk geformt; Flucht Davids vor Saul, um die Verheißung weiterzutragen; Flucht Elijahs vor heidnischem Taumel, um unbehelligt sterben zu können und dann doch am Leben erhalten zu werden; Flucht Zidkijahs aus Jerusalem, um der Gefangenschaft durch Babel zu entgehen und dann doch gestellt und geblendet zu werden – Fluchtgeschichten über Jahrtausende bis in die Tage Stefan Zweigs, der vor den Nazis floh, um weiter frei leben zu können und dann doch lebensmüde geworden war; Flucht Franz Kafkas vor der Härte des Gesetzes, die er beschrieb und deren Opfer er war; Flucht Franz Werfels übers iberische Gebirge, Kollaborateure an seinen Sohlen, um die Bitterkeit des Exils und der Fremde noch ein paar schwere Jahre bis zu seinem Tod auszutragen; Flucht Jean Amérys aus einem Leben, über dem der blanke Schrecken herrschte; Flucht Abraham Sutzkevers aus dem Wilner Ghetto, um den Partisanenkampf gegen die Besatzer zu unterstützen; Flucht des neunjährigen Buben Aharon Appelfeld aus dem Deportationslager, um in Israel anzukommen ähnlich wie der biblische Josua… Jüdische Fluchtgeschichten sind zwar kein Universale des Judentums, begleiten aber seine Geschichte seit den Anfängen. Das wusste Stefan Zweig schon in den Tagen, als ihn davon noch nichts unmittelbar erfasst hatte; er ging mit der polnischen Gemeinde den Weg hinaus in den Winter, in den Schnee. Rasch organisierte man Pferde und Wagen, um den Ort zu verlassen. Im Schutz der Winternacht ziehen die Juden aus der Stadt hinaus in die Ebene. Die Stadt schon weit im Rücken, hielt der Älteste den Flüchtlingszug an.

140 Zweig Stefan, Im Schnee, 102f.

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»Hier war alles glatt und weiß, wie die erstarrte Oberfläche eines Sees. Nur hie und da zeigten sich in einem abgegrenzten Baum kleine, gleichmäßige Erhöhungen, unter denen sie ihre Lieben wußten, die hier ausgestoßen und einsam, wie das ganze Volk, fern von ihrer Heimatstatt ein stilles, ewiges Bett gefunden hatten. Tiefe Stille, die nur das leise Schluchzen durchbricht. Und heiße Tränen rinnen über die erstarrten, leiderfahrenen Gesichter herab und werden im Schnee zu blanken Eistropfen. Vergangen und vergessen ist alle Todesfurcht, wie sie den tiefen stummen Frieden sehen. Und alle überkommt mit einemmale eine unendliche, tränenschwere, wilde Sehnsucht nach dieser ewigen, stillen Ruhe am ›guten Ort‹, zusammen mit ihren Lieben. Es schläft so viel von ihrer Kindheit unter dieser weißen Decke, so viel selige Erinnerungen, so unendlich viel Glück, wie sie es nie mehr wieder erleben werden. Das fühlt jeder und jeden faßt die Sehnsucht nach dem ›guten Ort‹.«141

Stefan Zweig wiederholt hier das Kaddisch-Motiv; als wäre Jahrtag des Totengedenkens, so hielt der Zug ein und gedachte seiner Toten; und auch in diesem Gedenken verbindet sich wieder die Erinnerung an die Toten in der Heiligung des Gottesnamens mit der Trauer über all das, was mit diesen Toten an Eigenem schon verloren war. Die hier im Frost der Toten gedenken, stehen im Verband von Generation um Generation und finden in den Toten das Eigene und im Eigenen die Toten wieder. Dieses Kaddisch-Motiv mit der Heiligung Gottes im Zentrum verbindet im Geflecht der Toten und der Trauernden die Erinnerung mit der Erwartung, das Gedenken mit der Sehnsucht. Die Sehnsucht geht auf den guten Ort. Er ist mehr als ein romantisches Motiv, in dem sich Kindheit verklärt und mit Farben leuchtet, die in der Kinderwirklichkeit so wohl kaum gespielt haben. Er ist mehr als ein Sentiment, das einen Alternden langsam überkommen mag, wenn er sich, geplagt von seinem Verfall, der Zeiten erinnert, da er frisch hatte ausschreiten können und die Tage ihm wie Ewigkeiten erschienen waren. Der gute Ort, auf den die Sehnsucht zielt, erhält durch das Kaddisch seine Bedeutung: »Groß gemacht und geheiligt sei Sein großer Name in der Welt, die Er Seinem Willen gemäß geschaffen hat.«142 Ihm gehört die Welt, ihm die Toten und ihr Platz; er ist mit ihnen, wie die Schechina, die allgegenwärtige Einwohung Gottes mit Israel143 es stets war und ist. Worauf Stefan Zweig hier wies, indem er die genannte Verbindung aus der jüdischen Tradition in diese Pogromgeschichte einbaute, lässt sich als Andeutung einer Zuschreibung an Gott verstehen, die in der jüdischen Tradition vorkommt: Gott ist hamakom (‫)המקום‬, der Ort, eben der gute Ort, weil er allgegenwärtig Gott ist. 141 Ebd., 106. 142 Donin Hayim Halevy, To Pray as a Jew, 219: »Magnified and sanctified be His great name in the world which He created according to His will.« 143 Kristianpoller Alexander, Art. Gottesnamen, 1239.

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So reicht die Erzählung über die Verzweiflung hinaus. Ein unendliches Versprechen bietet der gute Ort. Selbst die Finsternis der Toten ist an ihm durchlichtet. In der kalten Nacht sind diese fliehenden Jüdinnen und Juden, nachdem ihnen Chanukka nicht zur unmittelbaren Befreiung, sondern zur Flucht geworden ist, auf ihren Gott gestoßen. Was war und was kommt, wird nicht mehr über das hinausreichen, was sie in diesen Augenblicken gefunden haben. Ein zerstörtes Chanukka liegt hinter ihnen; zusammenbrechende Pferde, Vergeblichkeit der Flucht und schließlich ihr eigener Kältetod erwarten sie, überweht vom Schnee der Nacht, hineingestorben in eine gleichgültige, kalte Natur. »Schwere, lange Stunden ziehen vorbei, deren jede verzagte Seelen in die Ewigkeit trägt. – Der Sturm singt fröhlich und lacht in wildem Hohn über dieses Drama der Alltäglichkeit. Und achtlos streut der Mond sein Silber über Leben und Tod.«144 Die Natur bleibt, was sie ist, gleichgültig gegen das Geschick der Menschen. Doch jüdische Tradition bricht aus dieser Gleichgültigkeit aus und streitet gegen sie. Das nimmt Stefan Zweig gegen Ende der Erzählung dann auf, indem er zwei Motive aus der jüdischen Tradition verbindet: Chanukka, das wie widerlegt erscheint, und den Traum, der Israel von Anfang an getragen hat. So lässt er Josua, den Überbringer der Pogrombotschaft, am Ende seine schon tote Braut Lea immer noch im Arm halten – ein schönes und erschreckendes Vorausbild von Stefan und Lotte Zweigs Todesschlaf, das der Zwanzigjährige hier schuf – und in einen Traum gleiten, in dem der Frost aufgehört hat und hamakom sich im Freudenfest von Chanukka doch noch heiligt. Zweigs Josua zieht nicht nach Israel, sondern mit Lea an den guten Ort, von dem er sterbend träumt: »Er sitzt mit ihr in einem duftdurchwärmten Gemach; der goldene Leuchter flammt mit seinen sieben Kerzen145, und alle sitzen sie wieder beisammen wie einstmals. Der Abglanz des Freudenfestes ruht auf den lächelnden Gesichtern, die freundliche Worte und Gebete sprechen. Und längst gestorbene Personen kommen zur großen Tür herein, auch seine toten Eltern, aber es wundert ihn nicht mehr. Und sie küssen sich zärtlich und sprechen vertraute Worte. Und immer mehr nahen, Juden in altväterlichen, verblichenen Trachten und Gewändern, und es kommen die Helden, Juda Makkabi und all die anderen; sie setzen sich zu ihnen und sprechen und sind fröhlich. Und immer mehr nahen. Das Zimmer ist voll von Gestalten, seine Augen werden müde vom Wechsel der Personen, sein Ohr dröhnt von dem Wirren der Geräusche. Es hämmert und dröhnt in seinen Pulsen, heißer, immer heißer – Und plötzlich ist alles still, vorbei…«146

144 Zweig Stefan, Im Schnee, 109. 145 Hier erweist sich Stefan Zweigs Ferne zum jüdischen Feierbrauch von Chanukka. Er verwechselte die siebenarmige Menorah, die zum Tempelkult gehörte, mit der Chanukkia, die neun Kerzen trägt, acht für die einzelnen Tage von Chanukka und eine als Anzünder. 146 Zweig Stefan, Im Schnee, 109f.

»Im Schnee« (1901)

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Fast an den Schluss seiner Geschichte Im Schnee setzte Stefan Zweig einen großen Traum von hamakom, der sie alle wiederbringen wird, die gewaltigen Männer, die Chanukka feiert, unzählige Juden aus langen Zeiten, die eigenen Eltern – Wiederkehr Israels, in einem Traum Israels erzählt, der etwas von der Vision des Ezechiel wiederbringt, die die Gebeine der ermordeten Israeliten sich sammeln und wiederbeleben sieht (Ez 37,1–14). Auch die Lage war ähnlich, Verwüstung wurde zu Zeiten Ezechiels über Israel gebracht und in den Tagen der Pest. Zweigs Träumer sinkt in die Stille des Todes ein. Hoffnungslos ist das nicht, denn die Stille wurde beruhigt durch den Traum, der dem Schlaf vorausging und ihm den Segen gab. Und das wieder hängt mit dem Kaddisch zusammen, denn vom Segnen spricht auch das Kaddisch. Vom Segnen hat auch Zweig in seiner Erzählung geschrieben.147 Und all das geht mit den Zeiten mit und bleibt präsent. Erinnerung verbindet Gestern und Heute und ist nicht an historischen Distanzen und Analysen interessiert, sondern am lebendigen Fluss der Zeiten. Auch dies hat Stefan Zweig in seine kleine Erzählung geflochten: Sie ist durchwegs im Präsens gehalten. Gestern ist heute, heute ist gestern und morgen. Doppeldeutig bleibt das jedoch. Denn Flucht ist immer, wie auch Gott immer und überall ist – aber wie? Herr der Geschichte? Lenker des Weltengeschicks? Helfer Israels? Zweig hat in den Naturbildern dieser Geschichte die Gleichgültigkeit der Umwelt einfließen lassen. Ganz zum Schluss noch blitzt die Sonne über den Toten im Schnee auf, als zöge schon der Frühling herauf, und sie »wird das weiße Linnen nehmen von dem Grabe der armen, verirrten, erfrorenen Juden, die in ihrem Leben einen Frühling nie gekannt…«148 Keines der beiden großen Gestirne, die im Schöpfungs- und Schabbatlied Gen 1,16 genannt werden, kennt irgendein Erbarmen mit den Gejagten. Schöne Natur? Sie täuschte nicht nur im Jahr 1914 die Sinne. So bleibt wohl nur der Traum Jakobs, der Traum Israels, der von hamakom träumt und der Wiederkehr seines Volkes. Träume sind eine Weigerung, der Verzweiflung zu trauen. Josua träumte davon, wie Ezechiel geträumt hatte oder der biblische Jakob von der Leiter, die in den Himmel wies (Gen 28,12). Von dieser Geschichte aus gesehen mag auch Stefan Zweigs Ende einen Traum gefunden haben, der über all die Verzweiflung hinauswies, die ihn getrieben und verjagt hatte. So gesehen, spricht sein Tod nicht gegen dieses traumhafte Hoffen, das zu Israel gehört, sondern gegen eine Welt, in der solche Träume erstickt werden und nur unmittelbar an ihren Grenzen noch Zeit und Platz finden. Solche Träume sind, wenn sie geträumt werden, einmalig und unwiederholbar. Mit den Träumenden ziehen sie fort, dorthin, wohin ihnen kein Terror mehr nachsteigen 147 Ebd., 100: »Gott sei gelobt.« Das entspricht durchaus der jüdischen baruch-Formel. 148 Ebd., 110.

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Stefan Zweig – Sehnsucht nach Frieden und Glück des Letzten

kann. Das kann doch Trost sein, auch im schrecklichen Ende. Das ist etwas von Israels Trost, der allgegenwärtig bleibt und auch zu Stefan Zweig gehörte.

Franz Kafka – ein Mensch »ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach«

1.

Was für eine Welt…

Den Terror des Nationalsozialismus, der Stefan Zweig aus dem Leben getrieben hat, hatte Franz Kafka nicht mehr erlebt. Als man im Jahr 1923 in München einen Putsch versuchte, kämpfte Kafka schon mit dem Tod. Ab 1917 litt der erst 34jährige Mann an Kehlkopftuberkulose. Doch im Niedergang seines Körpers fand er keine blinde Tragödie, sondern das Substrat seiner eigenen Haltung und Wirksamkeit. Er hatte sich, wie er nach einem erfolglosen Sanatoriumsaufenthalt149 am 17. Oktober 1921 ins Tagebuch schrieb, »körperlich verfallen« lassen. »Ich wollte unabgelenkt bleiben, unabgelenkt durch die Lebensfreude eines nützlichen und gesunden Mannes.«150 Im atrophierten Körper steigerte sich schmerzhaft die Empfindsamkeit und mit ihr die Wahrnehmung des Geistes, der schutzlos geworden war. Diese fast dualistische Konzeption ließ ihn jedoch nicht ans Ziel finden. »Die systematische Zerstörung meiner selbst im Laufe der Jahre ist erstaunlich, es war wie ein langsam sich entwickelnder Dammbruch, eine Aktion voller Absicht. Der Geist, der das vollbracht hat, muß jetzt Triumphe feiern; warum läßt er mich nicht daran teilhaben? Aber vielleicht ist er mit seiner Arbeit noch nicht zuende und kann deshalb an nichts anderes denken.«151

Post festum denkt man leichter darüber nach. Franz Kafka kam mit nichts ans Ende. Sein physischer Niedergang forderte unbotmäßig hohe Aufmerksamkeit, und auch dieser ließ sich nicht vollenden. Triumphe feierten andere. Den schwer kranken Mann trug nichts mehr über den Abbruch hinweg, keine Tat, auch keine Geschichte, die er schrieb; in seinem Schreiben feierte er keinen Aufstieg in eine

149 Friedländer Saul, Franz Kafka, 216. 150 Kafka Franz, Tagebücher. Band 3, 188. 151 Ebd., 189.

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Franz Kafka – ein Mensch »ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach«

heitere, gelöste Klarheit, sondern schuf Friedhofslandschaften152, dramatische Verdichtungen seiner Welterfahrungen. Was ihm die Welt war, stand als eine immense Überwirklichkeit und Übermacht vor ihm, der er nicht gewachsen schien. Überall fand er sie, die übermächtigen Gestaltungen, die nicht mehr den Kavod Gottes153 offenbarten: große, schwere Menschen, Heroen der Gesellschaft, flinke Flexibilität, ermüdungsfreie Maschinen. Nichts davon wurde je Kafkas Anteil. Das rettete seinen Geist dann doch, wenn auch widersprüchlich: Weil er in dieses turbulente Getriebe übereifrigen Lebens nicht hineingeraten war, das den ideologischen Zwang zur Reproduktion des Immergleichen mythisch perpetuiert bis heute und auch morgen154, hatte er auch nicht seinen Verstand verloren. Der Außenseiter, den fast kindhaft diese hohlen Monumente der gesellschaftlichen Zugehörigkeit überraschten und faszinierten, konnte sich da nicht gemein machen. Eine seiner Geliebten, Milena Jesenská, hatte das treffend skizziert in einem Brief an Max Brod, dem man überhaupt verdankt, dass Franz Kafka heute bekannt ist155: »Ach nein, diese ganze Welt ist und bleibt ihm rätselhaft. Ein mystisches Geheimnis. Etwas, was er nicht zu leisten vermag und was er mit rührender reiner Naivität hochschätzt, weil es ›geschäftstüchtig‹ ist. Als ich ihm von meinem Mann erzählte, der mir hundertmal im Jahr untreu ist, der mich und viele andere Frauen in einer Art Bann hält, erhellte sich sein Gesicht in derselben Ehrfurcht wie damals, als er von seinem Direktor sprach, der so schnell Maschine schreibt und daher ein so vorzüglicher Mensch ist, und wie damals, als er von seiner Braut sprach, die so ›geschäftstüchtig‹ (sc. Felice Bauer) war. Das alles ist für ihn etwas Fremdes. Ein Mensch, der an der Schreibmaschine schnell ist, und einer, der vier Liebchen hat, ist ihm genauso unbegreiflich wie die Krone beim Postamt oder die Krone bei der Bettlerin, unbegreiflich deshalb, weil es lebendig ist. Aber Frank kann nicht leben. Frank hat nicht die Fähigkeit zu leben. Frank wird nie gesund werden. Frank wird bald sterben.

152 Adorno Theodor W., Ästhetische Theorie, 191: »Das Rätselhafte der Kunstwerke ist ihr Abgebrochensein. (…) Erst in jüngerer Vergangenheit ist das der Kunst thematisch geworden in Kafkas beschädigten Parabeln. Retrospektiv ähneln alle Kunstwerke jenen armseligen Allegorien auf Friedhöfen, den abgebrochenen Lebenssäulen. Kunstwerke, mögen sie noch so vollendet sich gerieren, sind gekappt.« 153 Krochmal Nachman, Führer der Verirrten der Zeit. Band 2, 693. 154 Adorno fand Kafkas entscheidendes »Apriori« für seine Literatur in dem, was er den gesellschaftlichen Bann nennt. »Ihn zu nennen hütet sich Kafka weislich, als würde sonst der Bann gebrochen, dessen unüberwindliche Allgegenwart den Raum des Kafkaschen Werks definiert und der, als sein Apriori, nicht thematisch werden kann. Seine Sprache ist das Organon jener Konfiguration von Positivismus und Mythos, die gesellschaftlich jetzt erst ganz durchschaubar wird. Verdinglichtes Bewußtsein, das die Unausweichlichkeit und Unabänderlichkeit des Seienden voraussetzt und bestätigt, ist als Erbe des alten Banns die neue Gestalt des Mythos des Immergleichen.« (Adorno Theodor W., Ästhetische Theorie, 342). 155 Brod Max, Über Franz Kafka, 347.

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Gewiß steht die Sache so, daß wir alle dem Augenschein nach fähig sind zu leben, weil wir irgendeinmal zur Lüge geflohen sind, zur Blindheit, zur Begeisterung, zum Optimismus, zu einer Überzeugung, zum Pessimismus oder zu sonst etwas. Aber er ist nie in ein schützendes Asyl geflohen, in keines. Er ist absolut unfähig zu lügen, so wie er unfähig ist, sich zu betrinken. Er ist ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach. Darum ist er allem ausgesetzt, wovor wir geschützt sind. Er ist wie ein Nackter unter Angekleideten. Es ist das alles nicht einmal Wahrheit, was er sagt, was er ist und lebt. Es ist solch ein determiniertes Sein an und für sich, von allen Zutaten entledigt, die ihm helfen könnten, das Leben zu verzeichnen – in Schönheit oder in Elend, einerlei. Und seine Askese ist durchaus unheroisch – hierdurch allerdings um so größer und höher. Jeder ›Heroismus‹ ist Lüge und Feigheit. Das ist kein Mensch, der sich seine Askese als Mittel zu einem Zweck konstruiert, das ist ein Mensch, der durch seine schreckliche Hellsichtigkeit, Reinheit und Unfähigkeit zum Kompromiß zur Askese gezwungen ist.«156 Kafkas Leben hatte eine Diastase, einen Hiatus in sich, der zwischen ihm und der Welt, also den Anderen und dem Anderen sich ausstreckte. In jeder seiner Erzählungen, in all seine Fragmenten und Selbstreflexionen klafft dieser Abgrund auf, der ihn abscheidet vom geschmeidigen, leichten Regelwerk des Alltagslebens. Mittun heißt leben, nichtmittun sterben. Dem Sterben kam er immer näher, auch wenn er schreibt, wahrscheinlich mit religiösem Hintergrund: »Man kann doch nicht nichtleben.«157 Seine spröde Unzulänglichkeit in allem, in Beruf, familiären Beziehungen, Liebschaften und in Bezug auf sich selbst, wandelten den Indikativ, nicht nichtleben zu können, zu einem vorübergehenden Imperativ, dessen Diktat Kafka mit zunehmendem Verfall umso weniger traute. Am Ende war dieser Imperativ sinnlos. Man wird nichtleben können, wenn auch die Zukunft erloschen sein wird. Eine zweite Diastase hat Milena Jesenská angesprochen, die Diastase zwischen Lebenslust und Lebensunfähigkeit. Sie hängt am hinschwindenden Imperativ und deutet ihn. In der großen Konfrontation mit dem gewaltigen Leben seines Vaters, die 1919 im Brief an den Vater sich manifestiert, treibt Franz Kafka immer wieder in die Tragödie der allseitigen Schuldlosigkeit eines für ihn lebensbedrohlichen Zusammenhangs mit dem Vater; dieser lebt fühllos seine Dominanz aus, die ihm Statur, Selbstüberzeugung und Urteilssprüche geben, wie sie ihm leicht und rasch über die Lippen kommen. Wie nun lebt der Aufwachsende angesichts der Lebenslust dieses Fleisch gewordenen Wollens und Herrschens? Die chronischen »Anpassungskämpfe«158 zerstören eigene Möglichkeiten; die Macht, die die Überlegenheit der Autorität auslebt, zersetzt die ohnedies geringe 156 Milena Jesenská, zit. in: Brod Max, Über Franz Kafka, 200. 157 Kafka Franz, Beim Bau der chinesischen Mauer, 219. 158 Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 67.

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Lebenskraft. In einem dunklen Eintrag Kafkas liest man: »Geringe Lebenskraft, mißverständliche Erziehung, Junggesellentum ergeben den Skeptiker, aber nicht notwendig, um die Skepsis zu retten heiratet mancher Skeptiker wenigstens ideell und wird gläubig.«159 Rettung der Skepsis durch Glauben – eine Paradoxie wie die von Lebensunfähigkeit und Lebenskraft, von schwachem Ich und Welt? Franz Kafka hat sich, wie sich noch zeigen wird, in den späten Jahren immer wieder mit dem Glauben der jüdischen Gemeinschaft befasst und gelernt. Von da aus lässt sich vielleicht diese Paradoxie ganz anders lösen. Glaube steht nicht für Sicherheiten, Festigkeiten, Autoritäten; Kafka lebte nicht mehr in geschlossenen jüdischen Kontexten und hatte von der Kraft des religiösen Judentums kaum etwas mitnehmen können.160 Aber er wusste immer noch oder ahnte wenigstens ein ganz Anderes, ein unaussprechliches Unbedingtes.161 Im dechiffrierenden Ansprechen und Erzählen des Ausgesprochenen162 wird dieses Angesprochene offenbar: als Unwahrheit und als Zerstörungskraft. Glaube, der für unaussprechliche Wahrheit steht, rettet die Skepsis gegen das Definierte, gegen das Fixierte, gegen eine absolute Dogmatik, die ihre Lüge – die Absolutheit ihrer Selbstvergötzung – hinter der Blendung von Verbindlichkeit und Wahrheit versteckt. Da hat Kafka den Zipfel prophetischer Götzenkritik erwischt und über die vielen Katastrophen, die er erzählt hat, den menschlichen Sinn von Askese vermittelt: Sie lebt permanent gegen die Hypertrophie des Behaupteten, Gedachten, Gelebten und Geforderten. Diese Askese bildet bei Kafka eine spezifische Haltung, in der er das Andere, das ihn abweist, ins Monströse steigert. Zu überrealen Übertreibungen bläst er seine Gestalten auf wie in Die Verwandlung, bis sie entweder einfach enden, weil nichts mehr zu sagen ist – das Fragment als Form (Das Schloss) –, oder hinter sich gelassen werden, weil das Hypertrophe an ihnen endlich kollabiert und zerfällt – die technische Prothese als Artefakt reiner Verdinglichung an einem namenlosen und unbeschreiblichen Ort (In der Strafkolonie). Das schärft das Profil des asketischen Menschen nochmals. Ihn widern die massigen Hervorbringungen an, 159 Ebd., 70. 160 Kafka Franz, Beim Bau der chinesischen Mauer, 215. 161 Im Unbedingten hat Adorno den Kern echter Kunst gefunden und ihrer eigentümlichen Objektivität: »Die Werke sprechen wie Feen im Märchen: du willst das Unbedingte, es soll dir werden, doch unkenntlich. Unverhüllt ist das Wahre in der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables. Kunstwerke sind, durch die Freiheit des Subjekts in ihnen, weniger subjektiv als die diskursive Erkenntnis.« (Adorno Theodor W., Ästhetische Theorie, 191). 162 Nochmals Adorno: Kunst ist Dechiffrierung. In allen festgewordenen Dingen haben sich Sedimente abgelagert, die in Kunst gehoben werden. »Kafka ist darin für den Gestus der Kunst exemplarisch, und zieht daraus seine Unwiderstehlichkeit, daß er solchen Ausdruck in das Geschehende zurückverwandelt, das darin sich chiffriert.« (Adorno Theodor W., Ästhetische Theorie, 170).

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denn sie künden alle von gigantomanischen Verkehrungen, deren Grundtrieb im Götzenhaften liegt, in der Vergrößerung von irgendetwas Alltäglichem oder Neuem, bis es das Übermaß des Göttlichen erreicht haben soll, dem seine Ministranten sich hingeben. Kafka erzählt von religiösen Potenzsteigerungen ins Maßlose, die sich in jeder kleinen Welt ereignen und diese so lange verdrehen, bis das Magische einzieht und der namenlose Ewige von den massigen Zauberbildern aufgesogen wird. Kafkas asketischer Habitus zerstört dieses Design und verletzt den Takt, der das Verkehrte schützt, er zieht die Masken ab, die Verkehrtes zu schauen geben, und schert sich nicht um Leitideologien, die die Faszination an Verkehrtem entzünden wollen. Max Brod hatte recht: Bei Kafka ging es stets um »religiöse Katharsis.«163 Mit dieser wirkte er antinarkotisch, den Propheten Israels verwandt.164 Dass diese niemand wollte, weder ein Verleger noch eine Leserschaft165, verwundert nicht. Kafka war kein Künstler des Prunks, irgendeines Establishments oder einer Lobby, er lebte nicht in schlossähnlichen Bauten und diente nicht den Großen seiner Zeit. Den obdachlosen Mann blendete nicht der Glanz von Fassaden, deren dahinterliegende Zimmer er nicht betrat. Und Religion gab ihm keine Fantasien eines besseren Lebens, das ihm das seine illusionär überlagert hätte. Darum spielte er auch nicht den Boten einer glücklich machenden religiösen Grundauffassung, auch nicht den Künder eines letzten heroischen Einsatzes. Seine Leiden verklärte er nicht, v. a. nicht christlich. In der Krankheit verfiel er ganz unheroisch, sie subtrahierte ihm Schicht um Schicht von der ohnedies schwachen Lebenskraft. Etwa zwei Jahre vor seinem Tod schrieb er lapidar: »mein Leben habe ich damit verbracht mich gegen die Lust zu wehren es zu beenden.«166 Wer so schreibt, bringt keine »Genußmittel höherer Ordnung«167 hervor. Die Rezeption eines Menschen, der in solch aufrichtigem Widerspruch zur Welt und zu sich lebte und starb, brauchte lange168 und lässt sich gewiss nicht über Klassikerleselisten für Sechszehnjährige vermitteln. Kafka zu lesen, setzt Brüche und vor allem deren Wahrnehmungen voraus, die gesellschaftlich manisch vermieden werden. Diesen Vermeidungszwang spiegeln die infantilen Apokalypsen wider, die aus jeder langweiligen Banalität geholt werden, während die echten totgeschwiegen werden. Wissenschaft, nicht nur als Einzelwissenschaft, dient dem gehorsam mit einem gefährlichen Positivismus, der Wesens- und Wahrheitsfragen ausmerzt und offenen oder geheimen Dogmen wie einem inappellablen Mantra dient. Kafka wurde selbst ihr Opfer. Eine »institutionalisierte Wissen163 164 165 166 167 168

Brod Max, Über Franz Kafka, 258. Heschel Abraham J., The Prophets, 450 und 464. Friedländer Saul, Franz Kafka, 196. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 159. Adorno Theodor W., Ästhetische Theorie, 27. Brod Max, Über Franz Kafka, 297.

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schaftsangst vor Ungesichertem und Strittigem«169 reiht ihn ein und domestiziert das Schreckliche an ihm, das Inkommensurable, von dem Theodor W. Adorno so oft gesprochen hat. Dieselbe Wissenschaftsangst ignoriert das Inkommensurable Jean Amérys, der stilistisch und thematisch in die Wissenschaftsgefüge nicht passt, doch gerade damit sein Nein allen Zwängen entgegengehalten hat; dieselbe Angst ignoriert auch Aharon Appelfeld, der von scheinbar kleinen Verhängnissen schreibt, die von deutschen Stiefeln zertreten wurden. Das alles passt nicht ins deutsche publizistische Geschäft. Was Kafka am Ende ausgestoßen und dadurch überwältigt hat – die magische Welt der bannenden großen Gestalten und ihre geölte Semantik –, spricht auch fürderhin gegen ihn. Seine Welt war nicht gut. Seine Nachwelt ist nicht gut, in der Erben einer Zeit herumjagen, deren technisch angetriebene Beschleunigung gestern wie heute wahnsinnig ist und wahnsinnig macht und den Wahnsinn im Bann festhält, den die gigantischen Bilder erzeugen, als wären sie Götter. Ohne sein Judentum hätte Kafka die erzählende Beschreibung solcher moderner Götzenbilder nicht angehen können. Durch sein Judentum war er Götzenkritiker wie Israels Propheten. Wie Jeremia, den später Franz Werfel als Träger des Widerstands und zum Boten des Niedergangs der Gewalttäter wieder erweckte, stand auch Kafka unter den Zerstörungskräften und wurde von ihnen aufgerieben. Und wie Jeremia schützte ihn kein eigenes Dach vor eigenen und fremden Miseren, weder in den Tagen seiner Selbstständigkeit noch in den Tagen seiner Jugend oder Kindheit. Obdachlos kam er zur Welt, obdachlos schrieb er in ihr und von ihr, und obdachlos fiel er aus ihr hinaus.

2.

Von Prag nach Klosterneuburg – mit Hoffnung auf Eretz Israel

Schon Franz Kafkas ersten Lebensjahren war etwas von der lebenslangen Misere zwischen ihm und seiner nächsten Umgebung zueigen. Innerhalb von wenigen Generationen hatten sich die Traditionen seiner Familie drastisch verschoben. Der Großvater seiner Mutter war angesehener jüdischer Gelehrter170, in der Folgegeneration ließ ein Onkel sowohl den religiösen als auch den geografischen Boden hinter sich und stieg in Spanien gesellschaftlich auf; ein anderer ging nach Afrika. Franz Amschel Kafka, geboren am 3. Juli 1883 in Prag in einem Wohnhaus am Wenzelplatz171, hatte vielleicht von ihnen seine Sehnsucht mitbekommen,

169 Adorno Theodor W., Ästhetische Theorie, 495. 170 Brod Max, Über Franz Kafka, 14f. 171 Wagenbach Klaus, Franz Kafka, 18.

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andere, ferne Länder zu bereisen172 und dadurch loszukommen aus einer Umgebung, die ihn meist niederdrückte und einsam machte.173 Das lag kaum an seiner Mutter Julie Kafka, geb. Löwy (1856–1934). Drückend dominant herrschte im Haus sein Vater Hermann Kafka (1852–1931), von dem Franz Kafka nie loskam. Man kann, was übertrieben sein dürfte, all die Gesetzesund Verwandlungs- und Herrschaftsgeschichten, auch noch die Grotesken und die wie mit einem Seziermesser präparierten Gestalten mancher seiner Beschreibungen als metaphorische Verdichtungen und Umkreisungen der Wirkungen seines Vaters lesen, dessen Macht und Schrecken geradezu mythischreligiöse Züge annehmen konnten. Was Religion darin war, wies nicht ins Jüdische, sondern ins Griechisch-Mythische und dessen vielfache Verknotungen, die allesamt unlösbar und unausweichlich zugleich blieben – Tragödie174 in einem ästhetisch ganz reinen Sinn. Franz Kafkas Verhältnis zu seinem Vater zeigt, wie Max Brod in seiner Biografie über Kafka schrieb, »das große, in seiner Großartigkeit von Franzens Ingenium gewiß übersteigerte Bild des Vaters.«175 War das Bild, das Kafka in seiner späten Prosa Brief an den Vater schuf, wirklich übersteigert? Vater zu sein bezieht sich auf eine einmalige Relation; ihr korrespondiert das Kindsein. Beides lässt sich nur an- und miteinander bestimmen, Kafka hat von diesem Verhältnis in seiner Brieffiktion geschrieben. Sie bot eine Innenschau und erzählte von Innenerfahrungen. Max Brods Einschätzung blieb außerhalb dieses Verhältnisses. Er mochte Hermann Kafka kennen – als dessen Nichtsohn. Das aber ist eine Relation, die von den alltäglichen Seiten des Zusammenlebens, wie es zwischen einem solchen Vater und seinem Sohn herrscht, keine Erfahrung hat. In der literarischen Verwandlung dieser einmaligen Konstellation, die wiederum wenig vergleichbar war mit dem Verhältnis des Vaters Hermann zu den beiden jüngeren Schwestern von Franz, Valerie und Ottilie, manifestiert sich eine Innenschau dieser Beziehung, in der die Vaterfigur nicht übersteigert, sondern das Verhältnis zwischen Franz und seinem Vater in seiner Tragödie schnörkellos, wirklichkeitsgetreu und befreit von den Deckschichten des Alltäglichen oder der Verklärung späterer Jahre entfaltet wird. Indem Kafka das Gewordene zurückerzählt in die Momente seiner Genese176 – also den Verlauf umkehrt durch dessen Verwandlung in Literatur177 –, legt er die tragischen Grundgegebenheiten frei, wie nur er sie kennen und erzählen kann. Erinnerungsarbeit ist das, zweifellos, nicht straffe Dokumentation unter der ohnedies fiktiven Vorgabe der Rekonstruktion 172 173 174 175 176 177

Brod Max, Über Franz Kafka, 15. Ebd., 17. Hirsch Walter, Art. Tragik/Tragödie, 751–754. Brod Max, Über Franz Kafka, 22. In etwas anderem Sinn: Adorno Theodor W., Ästhetische Theorie, 170f. Allemann Beda, Fragen an die judaistische Kafka-Deutung, 57f.

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eines Verhältnisses, wie es angeblich wirklich war ohne Beifügung des eigenen Erlebten. In dieser Erinnerungsarbeit leuchten grelle Blitze auf, die mit ihrem fast überirdischen Licht Szenen von Vergangenem einbrennen, das wie in Abbreviatur ganze Geschicke enthält. Solche Erinnerungen sind mächtig und entscheidend, weil sie Herkunft und Gegenwart verbinden und offene Identität leihen. Ihr Licht, heute gezündet und das Gestern ausleuchtend, ermöglicht Verstehen von Zusammenhängen, die bei Franz Kafka aus mythischem Grund auftauchen. Das Mythische lagert in der Tragödie dieser Beziehung zwischen Hermann und Franz. Indem Kafka von dieser tragischen Konstellation und ihren wesentlichen Momenten erzählt, klärt er sie nach und nach auf, um ihre mythisch bannende Kraft zu brechen. Das aber konnte Franz Kafka nur gelingen, indem er sich dem Vater entzog – lebensweltlich, beruflich, religiös –, und blieb widersprüchlich, weil es ihn in der Verneinung ans Gegenbild weist. Lebensweltlich: Franz Kafka begründete keine Familie, die seinen unmittelbaren und durchaus totalitären Herrschaftsbereich umriss. Beruflich: Er wurde kein Geschäftsmann, der, auch hier herrschend, zum Gönner werden konnte. Religiös: Gerade über das Judentum konnte er sich nicht wie fallweise sein Vater belustigten, denn dieses allein versprach, ihn aus den mythischen Zwängen zu holen. Mit seinem Vaterkonflikt stand Franz Kafka nicht allein. Diese Konflikte grassierten damals in vielen Familien und eben auch in jüdischen und assimilierten Familien.178 Doch sein Konflikt zog eine Entfremdung nach sich, die ihn tatsächlich zu einem Menschen »ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach« gemacht hatte. Ihm widerfuhr, was später von Jean Améry als Grundform der Folter erlebt worden ist: Man kann mit dir machen, was man will.179 Darin waltet die Maßlosigkeit des Götzen, dem der Unterlegene ausgeliefert ist, ob er will oder nicht.180 Dieses mythisch Gottgleiche seines Vaters leuchtete Franz Kafka in Erinnerungen an seine Kindheit auf, die ihm das Bild eines kleinen, schutzlos ausgelieferten Buben eingebrannt hatten.181 In der fatischen, undurchsichtigen Macht des Vaters hatte sich die Brutalität einer ganz bestimmten Haltung individualisiert182 und den Grundzug der kommenden faschistischen Diktaturen 178 179 180 181 182

Gassmann Arno A., Lieber Vater, lieber Gott? Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 55f. Treitler Wolfgang, Erlösung durch Platon-Christus? 210. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 14f. Lawrence L. Langer hat eine direkte Verbindung zwischen Kafkas Literatur und der Schoa bestritten. Denn Kafka lebte in seiner eigenen Welt, in die große politische Gewaltexzesse wie der Erste Weltkrieg nicht hineinreichten: »the mass-dying of those years had never penetrated his consciousness.« (Langer Lawrence L., Kafka as Holocaust Prophet, 121). Doch genau das kennzeichnet nach Lawrence Langer die Schoa-Literatur: In der Reduktion des Menschen auf den vor Hunger brennenden Magen (ebd., 117) zerbrach jede Individualisierung, im Hunger spürte der Unzugehörige die allen diesen Internierten bevorstehende Vernichtung unmittelbar. Und trotzdem: Die Struktur dieses durchwegs individuierten,

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vorausgebildet: die Haltung, die sich selbst zum absoluten Gesetz macht und kraft dieses absoluten Gesetzes gottgleich nach dem Grundsatz: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich«183 über Zuwendung und Demütigung entscheidet, über Annahme und Abweisung, über Zugehörigkeit und Ausstoßung, über Leben und Tod: Man kann mit dir machen, was man will. Und dieses Wollen entstammt der Willkür, die möglich und wirklich wird durch die primitive Ausübung physischer Kraft gegen einen Anderen. Man muss gar nicht in die Tiefe stoßen, um Franz Kafka als Seismografen künftiger Katstrophen lesen und verstehen zu können: Dem Kind widerfuhr schon der Terror, der sich später massenhysterisch ausbreiten wird. Seine Kindheitserfahrungen waren Miniaturen des Kommenden184, in ihnen lag etwas, das prophetische Wahrnehmungsgabe erwecken konnte – wie Propheten stets Menschen waren, in die massive Erfahrungen von Schädigung und Zerstörung gleichsam einschlugen, die sie zwangen, in ganz klaren Worten zu künden, zu schreien und sich an den Einzigen zu binden, der wirklich rettet, an den Gott Israels. In seinem Namen zerstörten sie dann die gottgleichen Bilder, die Menschen an den Abgrund führten.185 Die Willkür des Vaters als eines Gesetzgebers hatte eine Hinterseite: An seine Gesetze hielt er selbst sich nicht – Inbild eines autokratischen Tyrannen, dem sich alles zum Material seiner Willkür verwandelt, die im Einzelnen unbegreiflich bleibt. »Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihre Person, nicht auf dem Denken begründet ist. Wenigstens schien es mir so.«186 Franz Kafkas Vorsicht, die noch zwischen einer Vermutung und einer möglicherweise unbekannten Wirklichkeit des Vaters unterscheidet, mindert die Wirkung dieser autoritären Erscheinung überhaupt nicht. Was er aussprach, blieb eindeutig. Franz Kafka erinnerte sich, dass sein Vater über alle, die mit seiner Familie und vor allem mit seinem Sohn zu tun hatten, mit sehr markanten Worten befand. Mit ihnen schuf der Vater eine familiäre Hierarchie, die er allein dominierte. Die Köchin des Hauses nannte er »Vieh.«187 Freunde des Sohnes verachtete er, und den Schauspieler Isak Löwy (der nicht mit Kafkas Mutter verwandt war) bezeichnete er als »Ungeziefer.«188 Diese Zuschreibung, die hier

183 184 185 186 187 188

privaten Verhältnisses lag nicht autark vor, sondern war eingespannt in einen Bogen ausgeübter Gewalt und Vernichtungsabsicht, die später eskalierte. Diese spätere Eskalation allerdings entfaltete nicht nur, was schon eingeübt war, sondern brachte eine neue, ungeahnte Qualität der Entmenschung hervor durch die politische Totalität, die keinen Fluchtpunkt mehr zuließ. S. S. 11. Brod Max, Über Franz Kafka, 306. Heschel Abraham J., The Prophets, 36–42 und 132–135. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 17. Ebd., 19. Ebd., 18.

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noch streng individuell blieb und nicht wie später im Nationalsozialismus kollektiv verpasst wurde189, spiegelt die Abneigung des Vaters gegen diese Beziehung zwischen Franz Kafka und Isak Löwy: Der Schauspieler hatte Kafkas Interesse angestoßen, sich mit jüdischer Tradition genauer zu befassen190, über die sich der Vater weithin belustigte191, auch wenn er leitendes Gemeindemitglied der Prager Pinchas-Synagoge war. Saul Friedländer schloss aus diesem Umstand, dass es »keinen schweren Verstoß von Hermanns Seite«192 gegen den Sohn gegeben haben könne, sondern Franz Elemente in seinem Brief zusammentrug, die in Wirklichkeit so nicht zueinander passten.193 Doch vielleicht wurde in dieser Einschätzung übersehen, was Franz Kafka selbst durchaus kannte und in seinem Brief auch angedeutet hat: Es gab Momente der entspannten Glückseligkeit, die er bei seinem Vater sah194, und vor allem auch dessen Fähigkeit, ein öffentlich umgänglicher, hilfreicher und entscheidungsfreudiger Mann zu sein.195 Doch das schloss die Gefährlichkeit des Vaters im persönlichen und familiären Bereich gerade nicht aus. Franz Kafka ist nicht der einzige, der einen doppelgesichtigen Vater vor sich hatte, der im Raum der Familie ganz anders verfuhr als in der Öffentlichkeit. Sein Eindruck war daher konsistent, wenn er schrieb, der Vater wollte alles verderben, was seinem Sohn Leben versprach. Deshalb blieben ja auch die Freundlichkeiten, die sich am Vater dann und wann zeigten196, tief zweideutig. In ihnen lauerte etwas Gefährliches und Unausrechenbares, wie es zu jeder Tyrannei und ihrer Willkür gehört. Man weiß nie, wann der Sturm wieder losbricht und auf einen niederfährt. Franz Kafka absolvierte die für viele assimilierte jüdische Buben übliche Schullaufbahn. Er besuchte deutschsprachige Schulen in Prag und maturierte im Jahr 1901. Fünf Jahre später schloss er ohne Glanz sein Studium der Rechtswissenschaften ab. Als er vor der Berufswahl stand, meldeten sich in ihm Motive, die mit einem Beruf selbst wesentlicher weniger zu tun hatten als mit der Möglichkeit, nun endlich Wünsche zu verwirklichen, in denen die tragische unterdrückte Freiheit sich verwirklichen konnte. In der Sehnsucht nach fernen Ländern, gehärtet vom Wunsch, aus Prag endlich loszukommen, begehrte diese Freiheit auf. Prag, das war die Stadt seines Vaters, die zerstörerische Vaterstadt, vor der er jedoch gleichzeitig resignierte, indem er dort in eine Versicherungs-

189 190 191 192 193 194 195 196

Lawrence L. Langer, Kafka as Holocaust Prophet, 123. Brod Max, Über Franz Kafka, 99; Friedländer Saul, Franz Kafka, 75. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 42f. Friedländer Saul, Franz Kafka, 50. Ebd., 52. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 26f. Ebd., 31f. Ebd., 27.

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gesellschaft als Jurist eintrat197, ehe er ab 1908 in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt beschäftigt wurde. Deren herrschaftliche Fassade war der des etwas kleineren Gymnasiums nicht unähnlich198, diese wieder fand ihren verkleinerten Abdruck in Franz Kafkas Geburtshaus.199 So konnte er sich also auch optisch dem Herrschaftsbereich des Vaters nicht entziehen. Überall umgab ihn wie ein Fixstern das Schloss. Er blieb Trabant, auch wenn er dienstlich und privat immer wieder verreiste. So suchte er einen Ausweg in sich. In diesen Jahren begann er zu schreiben, meist in den Nächten. Schreiben wurde ihm Refugium, jedoch ein zweideutiges, wie er in seinem letzten Tagebucheintrag am 12. Juni 1923 vermerkte, als er über die Angst nachdachte, die ihn beim Schreiben immer stärker ergriffen hatte, und nun seine Summe zog: »Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung – wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht ob Du willst oder nicht. Und was Du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen.«200

Die Waffen aber, die ihm mehr als Trost, d. h. mehr als fatischer Zwang sein sollten, gehörten nicht mehr zum Arsenal des Literaten, sie lagen im Jenseits von Wort und Bild, dort, wo alles endet, das Geschick und das Leben, der Terror des Tyrannen und die blassen Hoffnungen auf ein anderes Leben: im Suizid, gegen den sich Kafka, wie oben schon erwähnt, sein Leben lang gewehrt hatte. Also: Auch diese Waffen waren stumpf und unbrauchbar geworden. Ihm blieben der genau beobachtende Blick und das sezierende Wort, von denen er, dieser unzugehörige Mann201, nicht loskam und die ihn eben an all das banden, was sein Leben so schwer gemacht hatte. Beides begleitete ihn auch bei seinen Begegnungen mit Frauen, selbst wenn sie möglicherweise danach seine Geliebten wurden wie Felice Bauer. Unmittelbarkeit war ihm unmöglich, Kafka existierte schreibend. Schreibend legte er bloß, wer er war und wer oder was ihn

197 198 199 200 201

Wagenbach Klaus, Franz Kafka, 47. Ebd., 25 und 65. Ebd., 19. Kafka Franz, Tagebücher. Band 3, 236. Nach Günther Anders kam Kafkas Affinität zur Wahrheit daher, »daß er nirgendwohin gehört habe, als Jude nicht zur christlichen Welt, als nichtreligiöser Jude nicht zu den Juden, als Deutschsprechender nicht zu den Tschechen, als deutschsprechender Jude nicht zu den Deutsch-Böhmen, als Böhme nicht zu den Österreichern, als Österreicher nicht zu den Deutschen – kurz: daß er ein absolut Wurzelloser gewesen sei und daß eben darin seine große Chance der ungetrübten Erkenntnis (und damit auch der ungetrübten Sprache) bestanden habe.« (Anders Günther, Ketzereien, 280).

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umgab – so auch, als er Felice Bauer am 13. August 1912 zum ersten Mal bei Max Brod sah und danach ins Tagebuch schrieb: »Frl. Felice Bauer. Als ich am 13. VIII zu Brod kam, saß sie bei Tisch und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor. Ich war auch gar nicht neugierig darauf, wer sie war, sondern fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges, leeres Gesicht, das seine Leere offen trug. Freier Hals. Übergeworfene Bluse. Sah ganz häuslich aus, trotzdem sie es, wie sich später zeigte, nicht war. (…) Fast zerbrochene Nase. Blondes, etwas steifes reizloses Haar, starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie zum erstenmal genauer an, als ich saß, hatte ich schon ein unerschütterliches Urteil.«202

Vor seiner ersten Verlobung mit Felice Bauer am 1. Juni 1914 musste sein unerschütterliches Urteil etwas verblasst sein, wenn er auch wenige Tage davor in einem Brief an Grete Bloch schrieb, die ihn in Bezug darauf gefragt haben dürfte, ob sich etwas bei ihm verändert habe: »dann muß ich allerdings eine etwas merkwürdige Antwort geben: Es hat sich nichts geändert. Äußerlich natürlich manches, innerlich nichts, wenigstens nichts wovon ich wüßte und was mir zur Deutung anvertraut worden wäre.«203 Wenn es wahr ist, was Erich Fromm von der Liebe geschrieben hat: »Liebe ist eine aktive Kraft im Menschen. Sie ist eine Kraft, welche die Wände niederreißt, die den Menschen von seinem Mitmenschen trennt, eine Kraft, die ihn mit anderen vereinigt«204 – wenn das wahr ist, dann hat Kafka keine Wände niedergerissen und ist bald wieder – wie auch später ein zweites Mal 1917 – in die Isolation seines Schreibrefugiums zurückgekehrt. Von Felice machte er sich wieder frei mit einem doppelten Gelöbnis: Erstens wird er nicht heiraten205, zweitens wird er literarisch arbeiten206, was ihn auf das »Absolute«207 ausrichtete. Beides hing er zusammen. Denn mit literarischer Arbeit, durch die er »nicht F.’s Bräutigam sondern F.’s Gefahr«208 war und blieb, sicherte er seine Welt als Junggeselle ab – und darin glich er einem andern Junggesellen, den er wohl ab dem Ausbruch seiner Tuberkuloseerkrankung gelesen hat:209 Søren Kierkegaard210, der sich mit Regine Olsen nicht verbinden konnte; diese Liebe zerplatzte gleichfalls an einem versessenen Schreiber, der seine Geliebte als verlorene nicht vergaß und sich daran hielt, »täglich mindes202 203 204 205 206 207

Kafka Franz, Tagebücher. Band 2, 79; Brod Max, Franz Kafka, 145. Kafka Franz, Die Briefe, 821. Fromm Erich, Die Kunst des Liebens, 31. Kafka Franz, Tagebücher. Band 2, 134. Ebd., 135. Die zweite Verlobung mit Felice Bauer löste er im Zug des Ausbruchs seiner Tuberkulose auf, weil er fürchtete, diese Verbindung könnte ihn von »der einen Blickrichtung aufs Absolute« (Brod Max, Franz Kafka, 144) ablenken. 208 Kafka Franz, Die Briefe, 837. 209 Kafka Franz, Tagebücher. Band 3, 236. 210 Diesen Zusammenhang hat jüngst Saul Friedländer ausgiebiger entfaltet: Friedländer Saul, Franz Kafka, 201–213.

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tens einmal für sie zu beten, oft zweimal, abgesehen davon, daß ich sonst an sie gedacht habe.«211 Drei Jahre später, als er dann die zweite Verlobung mit Felice löst, hat sich die 1914 noch undeutliche Gefahr physisch real manifestiert. Sie kam aus seinem Atem und legte eine Zäsur zwischen seinem bisherigen Leben und einem Neuanfang, der ihm geboten schien.212 Er war nicht einfach phsisch krank. In seiner Krankheit lagen Sinn und Widersinn und Ausweglosigkeit beinander; Sinn, sein Leben umzukehren, das bisher weithin isoliert, von drei Kriegsjahren unberüht geblieben213, aber von Krankheitssymptomen mehr und mehr umstellt214 und nun unheilbar geworden war; Widersinn, weil sein Leben keine nahe Liebe ertrug, sondern nur Brieffreundschaften215; Ausweglosigkeit, weil jede Rechtfertigung stilllegt, was bisher sich noch bewegen konnte: Ewigkeit im Horror des nunc stans.216 Doch frühere Verhängnisse liefen ihm in seine Gegenwart nach217, zerstörten diese218, flachten zwischenmenschliche Leidenschaft ab219, warfen ihn auf sich zurück und bestimmten Kafkas Haltungen immer deutlicher. Er übernahm es selbst, sich auszuschließen von lebendigen Zusammenhängen, um durch diesen Selbstausschluss sein Inneres mit all seinen Farben, Schatten, Furchtbarkeiten und schwachen Perspektiven zu schützen. Kafka war beinah ein modernes Realexperiment der leibnizschen Monade, die in sich eine ganze Welt darstellt220 und ohne »Fenster (ist), durch die etwas hinein- oder heraustreten kann«221, herkünftig von »Ausblitzungen der Gottheit«222 und dadurch in einer vorgefertigten Ordnung stehend223, die jedoch bei Kafka rein formal, autoritär und damit sinnleer geworden war. Das Selbst224 dieser Monade war verloren im Zwang von Konventionen, der v. a. familiär vermittelt war; dieser Zwang traf ihn ebenso wie die Unmöglichkeit der Befreiung von ihm, Armut ebenso wie die Tücken des Eros 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224

Søren Kierkegaard, zit. in: Rohde Peter P., Sören Kierkegaard, 58. Kafka Franz, Tagebücher. Band 3, 161. Lawrence L. Langer, Kafka as Holocaust Prophet, 121. Friedländer Saul, Franz Kafka, 180. Ebd., 62. Kafka Franz, Beim Bau der chinesischen Mauer, 208. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 22. Kafka Franz, Tagebücher. Band 3, 167. Friedländer Saul, Franz Kafka, 111. Leibniz Wilhelm, Monadologie, 28. Ebd., 14. Ebd., 24. Ebd., 27. Für Theodor W. Adorno war Kafka »ein Solipsist ohne ipse« (Adorno Theodor W., Minima Moralia, 299); damit deutete er aphoristisch die Geschlossenheit und Selbstbezogenheit – nicht als moralisch verwerfliche, sondern als konstitutive Haltung dieses Menschen ohne Obdach und Zugehörigkeit – in ihrer modernen Widersprüchlichkeit an.

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und seiner Folgen. Seit 1912 gingen diese Motive durch seine literarischen Arbeiten. 1917 schrieb er die Geschichte Der Verschollene; gleich an ihrem Anfang drängt er diese Motive zusammen: »Als der 17jährige Karl Rossmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.«225

Bald verschwindet die Attraktion der Göttin. Unter den Zwängen, denen der Emigrant verfällt, verkommt auch ihr Bild. Karl Rossmann kommt zwar in der neuen Welt an, aber dort nicht weiter.226 So bleibt nicht einmal eine traumhafte Fiktion von Freiheit zurück angesichts der drückenden Wirklichkeit, die Kafka beschrieb und in sich trug. Es war die Wirklichkeit seiner Familie und ihrer weitläufigen Ausbreitung. Amerika ergab sich nicht zufällig. Verwandte aus beiden Zweigen seiner Familie waren ausgewandert, unter ihnen fand sich auch Robert Kafka; schon als 14jähriger verführt, dürfte er das Vorbild für die verhängnisreiche Gestalt des Karl Rossmann gewesen sein.227 Die Tragödien früherer Geschichten variieren sich nur, aufgehoben werden sie nicht. Die im Jahr 1916 geschriebenen Erzählungen Das Urteil und In der Strafkolonie haben diesen Horizont schon aufgerissen, der auch im Roman Der Verschollene sich über das neue Land wölbt. Wohin die Protagonisten auch immer geraten, sie tragen die Welt mit sich, die in ihnen haust, ohne Fenster, ohne Licht. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die jeweils veränderten Orte, auch die andern Kontinente, ebenso wenig Veränderung bringen wie die namenlosen Gebiete, in die Kafkas Charaktere kommen. Nirgends ist überall, überall ist nirgends – alles ist im Ich da und dieses ist die Welt. Das hat mit dem hochfahrenden Idealismus von Johann Gottlieb Fichtes Ich als Selbstbestimmung oder Selbstsetzung228 nichts zu tun, der ohne Leibniz kaum möglich geworden wäre. Denn Fichte saugte in großer Geste das überhaupt Relevante aller Erscheinungen und Geltungen ins Ich, das den Übergang von der Welteroberung zum Weltbesitz vollendet. Dreihundert Jahre zuvor durchsegelten Abenteurer und Eroberer fremde Gewässer und landeten auf fremder Erde; Fichte und seine geistigen Nachfahren holen diese Eroberung ins Ich – und 225 Kafka Franz, Der Verschollene, 9. 226 Oron Michal, Kafka und Nachman von Bratzlaw, 118. 227 Athony Northey gab dafür einen interessanten Hinweis, der durchaus mit Kafkas Namenswahl für seine Protagonisten übereinstimmen kann: »Consciously or unconsciously, Franz Kafka seems to have used elements of his cousin’s name in that of his protagonist, by taking the first two letters of the first and last name and placing the two letters in reverse order: Robert Kafka / Karl Rossmann.« (Northey Anthony, Kafka’s Relatives, 52). 228 Fichte Johann Gottlieb, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, 61f und 74.

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Kafkas Ich bekommt Risse durchs Übermaß dessen, was es aushalten muss. Kafkas Ich ist das resignative Ich, das unter der Abschottung leben muss, darin noch einmal Sinn setzen möchte durchs Schreiben und diesem Sinn gleichzeitig tief misstraut, weil die Setzung nicht mehr gelingt. Was er schreibt, blieb meist unveröffentlicht und oftmals Fragment. Selbst ans Ende gebrachte Erzählungen tragen diese Unfertigkeit – oder wenn sie ein Ende zeigen, dann entweder ein katastrophales oder eines, in dem die Katastrophe sich zwar nicht vollzieht, doch Alternativen ebenso wenig sichtbar werden. Unfertigkeit, individuelle Katastrophen, Alternativlosigkeit – das zeigt sich an den meisten von Kafka selbst veröffentlichten Erzählungen. In den kleinen, unter dem Titel Betrachtung zusammengestellten literarischen Bildern aus den Jahren 1916/17, die er in seiner Unterkunft in der Prager Alchimistengasse geschrieben hatte229, finden sich solche letzten Bilder zwischen Katastrophe und Ausweglosigkeit. Da begann Kafka im Jahr 1917 ernsthaft mit dem Selbststudium der hebräischen Sprache, ohne jedoch zionistische oder literarische Interessen zu haben.230 Wie Alfred Bodenheimer schreibt, war dieses Studium, das sich in Hunderten von hebräisch geschriebenen Seiten niederschlug, aber eben kaum in seinem Werk, »in some way linked to his physical sickness.«231 Erst im Jahr vor seinem Tod trug er sich mit dem Gedanken, nach Eretz Israel auszuwandern, doch dafür war es dann schon zu spät. Die 1917 ausgebrochene Lungentuberkulose, die ihn »in einen geradezu heroischen Pessimismus«232 gebracht hatte, hatte ihn schon so geschwächt, dass er den langen Weg nicht überlebt hätte. In die Jahre 1919 und 1920 fallen seine letzte Verlobung und deren Auflösung, diesmal mit Julie Wohryzek; Franz Kafka glaubte daran, dass er diesmal die richtige Frau gefunden hatte233, doch seinem Vater schien deren Familie nicht standesgemäß zu sein. Julies Vater war Synagogendiener in Prag gewesen. Zwischen Franz und seinem Vater entzündeten sich deswegen schwere Auseinandersetzungen234, die sich lösten, als Franz das Verlöbnis löste, die aber gleichzeitig 229 Wagenbach Klaus, Franz Kafka, 104. 230 Zionistische Bezüge Kafkas brachte eher Max Brod ein, und zwar durchaus widersprüchlich; denn einerseits projizierte er seinen eigenen Diaspora-Zionismus in die literarische Figur Kafkas in Zauberreich der Liebe, andererseits wurde Brod diese Variante des Zionismus durch die doppelte Katastrophe des Todes Kafkas und des Untergangs des jüdischen Europa durch den Nationalsozialismus entzogen. Brod traf mit voller Wucht »the loss of Prague and Europe as his home, as well as the tragedy that befell the Jews there.« (Gelber Mark H., The Image of Kafka, 280). Das weist schon voraus auf den Schluss dieser Schrift: Europa ist als Lebensraum für Juden und Jüdinnen weithin zerstört worden. Vor allem die Literaten, die die Schoa durchgestanden und überlebt haben, zeigen das nachdrücklich. 231 Bodenheimer Alfred, A Sign of Sickness and a Symbol of Health, 269. 232 Hackermüller Rotraut, Kafkas letzte Jahre, 74. 233 Wagenbach Klaus, Franz Kafka, 116. 234 Ebd., 120.

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Anlass für seinen Brief an den Vater waren235; die Macht des Vaters wirkte unfehlbar: Franz konnte ihm nur schreiben, weil er ihm redend nicht standzuhalten vermochte, aber auch das Verhältnis zwischen beiden sich zu sehr verknoten hatte.236 Bald danach kam Franz Kafka mit Milena Jesenská in Kontakt. Anders als bei Felice denunzierte sein Blick nicht ihr Gesicht, sondern hielt es nicht einmal fest.237 Milenas Familie war streng antisemitisch gesinnt238 und hatte deren Ehe mit dem jüdischen Literaturkritiker Ernst Pollak abgelehnt.239 Diese Ehe war offenbar nicht glücklich gewesen und wurde später geschieden; Kafka bezog sich in einem Brief auch auf Andeutungen von Gewalt.240 Vor allem aber warnte er in demselben Brief Milena vor sich, da sich für ihn abzeichnete, diese Beziehung könnte enger und enger werden. Als Schwierigkeit stand diesmal ihm nicht das Schreiben vor Augen, sondern sein Judesein: »Vergißt Du nicht manchmal, wenn Du von der Zukunft sprichst, daß ich Jude bin? ( jasne¯, nezpletene¯) (klar, unverworren). Gefährlich bleibt es, das Judentum, selbst zu Deinen Füßen.«241 Milena war wie Franz Kafka familiärer Außenseiter; beide fühlten die Abweisung ihrer Väter massiv. Noch in den Nächten arbeitete das in Kafka nach. In einer Imagination, die zwischen Schlaf und Wachzustand in der Nacht gespielt hatte, tauchte Kafkas Vater auf, der wieder einmal eine Verbindung seines Sohnes zerstören wollte; Kafka hatte vor, mit Milena über den Vater zu sprechen, wenn sie einander in Gmünd treffen würden.242 Von diesem Halbtraum erzählte Kafka Milena in einem Brief: In ihm hatte ein Verwandter ironisch über Milena gesprochen. »Darauf ermordete ich ihn irgendwie, kam dann aufgeregt nachhause, die Mutter lief immerfort hinter mir, es war auch hier ein ähnliches Gespräch im Gang; schließlich schrie ich heiß vor Wut: ›Wenn jemand Milena im Bösen nennt, zum Beispiel der Vater (mein Vater), ermorde ich auch ihn oder mich.‹ Dann erwachte ich, aber es war kein Schlaf gewesen und kein Erwachen.«243

Wieder sah Kafka die Vaterfigur sein Leben blockieren. Knapp bevor die Beziehung zu Milena abbrach, schuf er jedoch eine Verbindung zu ihr, die ihn überleben sollte. Am 15. Oktober 1921 schrieb er in sein Tagebuch, er habe alle 235 236 237 238 239 240 241 242

Friedländer Saul, Franz Kafka, 112. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 10. Kafka Franz, Die Briefe, 947. Friedländer Saul, Franz Kafka, 112. Wagenbach Klaus, Franz Kafka, 123. Kafka Franz, Die Briefe, 1030f. Ebd., 1031. Ebd., 1048. Dieses Treffen hat auch stattgefunden, war jedoch »anscheinend ganz besonders katastrophal verlaufen.« (Friedländer Saul, Franz Kafka, 116). 243 Kafka Franz, Die Briefe, 1040.

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seine »Tagebücher, vor einer Woche etwa, M. gegeben«, denn er brauche sie nicht mehr, weil er nicht mehr vergesslich sei, »ich bin ein lebendig gewordenes Gedächtnis, daher auch die Schlaflosigkeit.«244 In der Qual der Schlaflosigkeit festigte sich genau das, was Kafka in seinem Halbtraum schon erlebt hatte: Das ständige arbeitende Bewusstsein wird begleitet von ständig wachem Selbstbewusstsein und einer Selbsterkenntnis, die genau wegen ihrer Gehalte den Schlaf zerstört. Gedächtnis und Erinnerung wurden ihm zum Fluch, sie trieben sich in ihm um wie in der schlaflosen Welt, die seit seinen Tagen zum Universale der technologisch durchsetzten Lebenswelten geworden ist: 168 Stunden in der Woche Geistesarbeit und keine Unterbrechung durch Schlafesruhe oder durch den Schabbat – eine antijüdische Weltkonstruktion, die den vielschichtigen kollektiven Antisemitismus perpetuiert. Etwas davon hat sich bei Kafka schon abgezeichnet. Auch darin war er ein Antizipator des mittlerweile Gekommenen. 1922 arbeitete er an Das Schloß und Ein Hungerkünstler, schwer geplagt von steigenden physischen Schmerzen und Atemnot. In seiner Welt hatte mit einer gotthaften Gewalt der Schmerz begonnen, alles zu dominieren. Und er wundert sich: »Merkwürdig, daß nicht der Gott des Schmerzes der Hauptgott der ersten Religionen war (sondern vielleicht erst der späteren) Jedem Kranken sein Hausgott, dem Lungenkranken der Gott des Erstickens.«245 Kafka leidet unter dem Gegenteil dessen, was der zeitweise schwere Raucher Franz Werfel in einer großen Ballade am Anfang des Ersten Weltkriegs als Freiheit und Freude beschrieben hat: Lächeln, Atmen, Schreiten – der Einklang dieser drei Momente bringt die »Bahn der Freiheit«246 hervor. Auf dieser Bahn zog Kafka nie, seine Wege waren gewunden wie die Wege derer, die den Sinai »umschleichen.«247 Keine großen Schritte kann er setzen, stockend nur kommt er voran, in diesen letzten Jahren von Atemnot gehemmt. Die Richtung seines Weges blieb unklar. 1923, als er wieder intensiver hebräisch übte, dachte er an die Alijah nach Eretz Israel, die, wie erwähnt, durch seinen physischen Zustand unmöglich geworden war. Da nimmt er den Weg nach Berlin248, wo er zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Frau, diesmal mit Dora 244 245 246 247 248

Kafka Franz, Tagebücher. Band 3, 187. Ebd., 215. Werfel Franz, Gedichte aus den Jahren 1908–1945, 52. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 171. Berlin und Prag bildeten schon früh einen Antagonismus. In einem Brief an Felice, den Kafka am 1. Jänner 1914 um Mitternacht geschrieben hat, nimmt dieser Antagonismus eine doppelte Form an, mit der er gleichzeitig Felice vor einer echten Verbindung mit ihm warnt, die einen gemeinsamen Haushalt mit einschließt: der Antagonismus der Städte Berlin und Prag und der Antagonismus der Wohnungs- und Arbeitsverhältnisse von Felice Bauer und Franz Kafka: Wenn sie Berlin verließe, verlöre sie viel und gewänne wenig. »Bei einfach kaltem Überblick verlierst Du gewiß. Du verlierst Berlin, Dein Bureau, die Arbeit, die Dich

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Diamant, einen gemeinsamen und anfänglich auch glücklichen Hausstand errichtet.249 Berlin war ihm bereits knapp vor dem Ersten Weltkrieg Fluchtort gewesen250, als er noch an die Möglichkeiten einer Auswanderung in die USA denken konnte oder eben nach Eretz Israel. Doch seine juristische Ausbildung, die ihm nicht innerlich, aber doch für den Lebensunterhalt notwendig geworden war, hatte ihn damals ebenso festgehalten wie seine deutsche Sprache. Und nun war er wieder in dieser Stadt. In den Monaten vor seinem Tod wird der dünne Mann noch ein wenig hohlwangiger, die Stimme verstummt in den letzten Wochen, nachdem die Tuberkulose den Kehlkopf unheilbar angegriffen hatte; doch das Schreiben erhält Kafka bis an die Grenze des Möglichen. In seiner letzten Geschichte arbeitete er sich ins stimmlose Piepsen ein, ins Pfeifen, und schreibt Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse. Josefines Intention, singen zu wollen, überwiegt ihre Unfähigkeit zu singen bei weitem. Allein die Pose bringt die anderen, unruhig und geschäftig hin und her schießenden Mäuse dazu, sich um Josefine zu sammeln. Die Unfähigkeit zum Gesang offenbart sich in diesem Volk – ein antizipatorisches Bild der ausgewachsenen und überalterten Europäischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts – durch den Untergang der Jugend zugunsten einer überlangen, uninspirierten und freudlosen Erwachsenenwelt. »Wir haben keine Jugend, wir sind gleich Erwachsene, und Erwachsene sind wir dann zu lange, eine gewisse Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit durchzieht von da aus mit breiter Spur das im ganzen doch so zähe und hoffnungsstarke Wesen unseres Volkes. Damit hängt wohl auch unsere Unmusikalität zusammen; wir sind zu alt für Musik, ihre Erregung, ihr Aufschwung paßt nicht für unsere Schwere, müde winken wir ihr ab; wir haben uns auf das Pfeifen zurückgezogen; ein wenig Pfeifen hie und da, das ist das Richtige für uns.«251

Am Ende aber wird Josefine »erlöst von der irdischen Plage«252 und ihrer Sinnleere. Nicht Erinnerung an die Sängerin, die keine war, blieb zurück, sondern sie

249 250 251 252

freut, ein fast gänzlich sorgenloses Leben, die besondere Art von Selbständigkeit, den geselligen Verkehr mit Menschen, die Dir entsprechen, das Leben mit Deiner Familie – und das sind nur die Verluste, von denen ich weiß. Dagegen kämst Du nach Prag in eine Provinzstadt mit einer Dir unbekannten Sprache, in den notwendigerweise kleinbürgerlichen Haushalt eines Beamten, der zum Überfluß nicht einmal ein vollwertiger Beamte[r] ist, Sorgen würden nicht fehlen, selbständig bliebest Du zwar, aber doch nicht ungehindert und statt des geselligen Verkehrs und statt Deiner Familie hättest Du einen Mann, der meistens (wenigstens jetzt meistens) trübsinnig und schweigsam ist und dessen persönliches seltenes Glück in einer Arbeit besteht, welche Dir als Arbeit notwendigerweise fremd bliebe.« (Kafka Franz, Die Briefe, 742f). Wagenbach Klaus, Franz Kafka, 133. Kafka Franz, Tagebücher, Band 2, 138. Kafka Franz, Ein Landarzt, 285. Ebd., 294.

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wird sich, so zeichnet Kafka ein letztes Hoffnungsbild angesichts des Unmöglichen und Widersprüchlichen, fröhlich »verlieren in der zahllosen Menge der Helden unseres Volkes, und bald, da wir keine Geschichte treiben, in gesteigerter Erlösung vergessen sein wie alle ihre Brüder.«253 Was in Franz Werfels Geschichte über den Propheten Jeremia Einschlag einer Verzweiflung war, nachdem ihm seine Familie wegen seiner prophetischen Aussonderung übers erträgliche Maß hinaus zugesetzt hat – »Mein Wunsch ist, … daß ihr meiner nicht mehr gedenken möget …«254 –, wurde in Kafkas Erzählung Form resignativer Hoffnung255, dass es endlich zu Ende sei und nichts mehr zurückbleibt, keine Geschichte, keine Memoria, vor allem keine memoria passionis Josephinae. Noch einmal taucht hier die Gefährlichkeit einer Rechtfertigung dessen auf, was ist. Justifikation des Menschen, in welchem Status auch immer, hält seine Hölle fest. Kafka wusste das besser als Denker des Religiösen, die unter dem Wort der Rechtfertigung die Ewigkeit des Menschen erzeugen, nachdem ihnen die Unsterblichkeit der Seele entglitten ist, die ihrerseits kaum mehr als fiktiver Nebel ist.256 Bevor Kafka am 3. Juni 1924 im Sanatorium Kierling257 nahe Wien verstarb, hatte er noch die Vernichtung seiner unpublizierten Schriften verfügt.258 Das passte zum Ausgang seiner letzten Geschichte: Erlösung durch Vergessen. Und auch: »Schreiben als Form des Gebetes.«259 Das heißt: Im Schreiben selbst liegt der Zweck, die Veröffentlichung setzt ihm nichts mehr hinzu. – Beigesetzt wurde Franz Kafka in Prag. Auf seine Weise hatte Kafka der Welt das Gericht gemacht und ist ihm gleichzeitig verfallen.260 Er sah sich selbst, beurteilte sich selbst und verurteilte sich manchmal, zersetzte sein Selbst, das ihm sein Ganzes war, bis es ihm zerrann. Einst hatte ihn sein Vater aus dem Haus getragen; diese Erfahrung von Ohnmacht blieb ihm eigen. Haus gab es fortan für ihn nicht mehr. In seiner Obdachlosigkeit empfand er alles unmittelbar: sich selbst in seinen Irrgängen, den eigenen Körper mit seinen echten oder eingebildeten Warnsignalen des Verfalls, die Mitmen253 254 255 256 257 258 259 260

Ebd., 294. Werfel Franz, Höret die Stimme, 99. Friedländer Saul, Franz Kafka, 232. Jean Paul, Siebenkäs, 295. Hackermüller Rotraut, Kafkas letzte Jahre, 128f. Wagenbach Klaus, Franz Kafka, 135. Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 171. Karl E. Grözinger hatte dieses Gerichtsuniversale bei Kafka aus der mystischen Tradition Israels interpretiert: Im Sohar wird das himmlische Gericht, so Max Brod, »zu einem Teil der Ontologie…, zu einem Teil des hin und her schwingenden Seins … Gericht ist jetzt nicht mehr spontane oder anberaumte Versammlung zu verschiedenen Terminen einer historischen Zeitlinie, sondern substantielles Glied der Gesamtheit allen Seins.« (Max Brod, zit. in: Grözinger Karl Erich, Himmlische Gerichte, 98).

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Franz Kafka – ein Mensch »ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach«

schen, die ihm chronisch gefährlich waren. Er war ein Seismograph, den kleinste Schwingungen erschüttern konnten. Ruhe fand er nicht. Das Haus, Versprechen des Judentums und seines Elterngebots261, blieb ihm fremd. Vor allem aber widerfuhr ihm, dem in sich geschlossenen Menschen, der gleichzeitig alles das in sich trug und austrug, was an die Wände seiner Monade schlug, wie kalt die Welt geworden war. In der Bewunderung der Gewalt, die den Gewalttätern fast zum Kompensat verschwindender Erotik wird, kündigte sich dunkel schon der kollektive Rausch an, den Kafka nicht mehr erleben musste: der Rausch, der sich in der Massenvernichtung des europäischen Judentum entlud. Da wurden der jüdische Mensch und mit ihm jeder als unzugehörig Deklarierte zum anonymen, wahllosen Fall der Exekution, die mit technischen Mitteln durchgeführt wurde. Diese Mittel erwiesen sich sowohl als effizient wie auch als unverzichtbar. Sie ersparten den Mördern, selbst Hand anlegen zu müssen. Zwischen den Mördern und den Ermordeten stand eine Apparatur. Man perfektionierte sie, um die vorgegebenen Ziele der Vernichtung zu beschleunigen. Das setzte organisierte Gewissenlosigkeit voraus, und diese wieder konnte durch gezielte Ablenkung erreicht werden: Angesichts der technischen Faszination des Machbaren erlischt der moralische Impuls der Verweigerung. Wo humaner Widerstand gefordert wäre, gibt der Faszinierte alles an die Welt der Apparate ab – und gibt sich danach selbst dem Artefakt hin, als wäre es ein Invariantes und Absolutes. Auch davon hat Kafka mit der ihm eigenen Scharfsichtigkeit erzählt.

3.

»In der Strafkolonie« (1916/1919)

Die Linien des gewalttätigen Eros zog Kafka in der Erzählung In der Strafkolonie262 aus. Die Maschinenwelt bildet das kaum entdeckbare Zentrum einer Insel, die geografischer Topos einer Monadenwelt ist. Isolation zieht sich über alles, über die Insel, über das abgeschlossene Tal, in der eine Folterapparatur betrieben wird, und über die Personen, die allesamt unwillig oder ungewollt aufeinander treffen; zwar reden sie, doch nicht miteinander.263 Monologe und desinteressierte Fragen beherrschen die Personen; ihr Gerede klappert genauso artifiziell wie die Apparatur; Sprache ist zum rein positivistischen Abdruck des Gegebenen und seiner zerfleischenden Konstanz geworden; Namen, durch die Menschen personifiziert und jüdische Menschen in ihre Tradition hineingenommen werden264, 261 Neusner Jacob, Ein Rabbi spricht mit Jesus, 54–75. 262 Kafka Franz, In der Strafkolonie, in: Ders., Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten, Frankfurt/Main 1994, 159–195. 263 Langer Lawrence L., Kafka as Holocaust Prophet, 112. 264 Loewe Heinrich, Art. Namen der Juden, 383–396.

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gibt es nicht, es gibt sie weder für die Personen noch für die Orte. Was ans Singuläre noch erinnern hätte können, ist getilgt und unhörbar geworden. Kafka machte in seiner Erzählung In der Strafkolonie das Furchtbare in den Gestalten, die er schuf, darum weniger sichtbar als hörbar265 und vernehmlich– durch die Abwesenheit des Menschlichen überhaupt. Selbst die handelnden Personen scheinen funktional zusammengesetzt und über ihre Zuständigkeiten definiert zu sein, einen persönlichen Hintergrund offenbaren sie nicht. Den Offizier führt Kafka als einen diensteifrigen Mann vor; er repräsentiert den alten, verstorbenen Kommandanten und sein Regime wie eine Kopie, in der sich nichts Eigenes findet, vor allem keine Selbstreflexion. Fraglos gehorsame Primitivität und ebenso fraglos ausgelebte Aggressivität zeigen weniger etwas von Kafkas Konflikt mit seinem Vater266 – die Veröffentlichung der Erzählung im Jahr 1919 erfolgte zwar in unmittelbarer Nähe zu Kafkas Brief an den Vater, war jedoch spätestens schon im Sommer 1916 publikationsreif 267 – als von der von ihm wahrgenommenen Verbindung von Gehorsam und Geistlosigkeit, die etwa 80 Jahre zuvor der jüdische Gelehrte Nachman Krochmal, der fast ebenso unbekannt war wie Kafka zu seinen Lebzeiten, als eine der zentralen Irrungen in Fragen des Glaubensdenkens gedeutet hat: Gehorsam schließt notwendig »die Entweihung des Denkens«268 ein. Gehorsam entheiligt den Menschen und kommt damit dem »Chillul HaSchem«269, der Entheiligung Gottes gleich. In Kafkas Offiziersfigur werden Gehorsam und Geistlosigkeit Fleisch. Auf die Furchtbarkeit dieses Ortes und dieses Offiziers trifft ein Reisender, ein Mann, der die Vorgänge auf der Insel untersuchen und für einen Bericht zusammenstellen soll. In diesem Mann der Bildung spiegelt sich die geistlose 265 Lawrence L. Langer beschrieb Kafka weniger als einen Seher als einen Hörer, der vernahm, wie die Gegenwart durch die Vergangenheit kontaminiert ist (Langer Lawrence L., Kafka as Holocaust Prophet, 118). 266 Saul Friedländer hat In der Strafkolonie als eine Variante des Vater-Sohn-Konflikts gelesen, in dem sich Kafka fand (Friedländer Saul, Franz Kafka, 62–67). 267 Bereits am 15. Oktober 1915 schrieb Kafka an den Verlag Kurt Wolff: »Mein Wunsch wäre es eigentlich gewesen, ein größeres Novellenbuch herauszugeben (etwa die Novelle aus der Arkadia, die Verwandlung und noch eine andere Novelle unter dem Titel ›Strafen‹)« (Kafka Franz, Die Briefe, 119). Am 28. Juni 1916 schreibt er wieder an den Verlag und erwähnt nun im Plural »die Erzählungen ›Strafen‹ (Das Urteil, die Verwandlung, In der Strafkolonie)« (ebd., 130), am 19. August 1916 einen »Novellenband ›Strafen‹ (Urteil – Verwandlung – Strafkolonie), dessen Herausgabe mir Herr Wolff schon vor langer Zeit in Aussicht gestellt hat« (ebd., 131), und fügt noch an, dass er für eine Einzelpublikation von In der Strafkolonie sei, weil diese Geschichte erstens genügend Umfang für eine solche habe und zweitens eine Veröffentlichung mit Das Urteil in einem Band »nach meinem Gefühl eine abscheuliche Verbindung ergeben« (ebd., 132) würde. Dass die Publikation erst im Jahr 1919 erfolgte, macht Kafkas bereits erwähnte Schwierigkeiten nochmals deutlich, seine Geschichten an die Öffentlichkeit zu bringen (S. S. 59; Saul Friedländer, Franz Kafka, 196). 268 Krochmal Nachman, Führer der Verwirrten der Zeit. Band 1, 32. 269 Lenzen Verena, Jüdisches Leben, 103.

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Niedertracht des Offiziers, denn ihn umgibt von Anfang bis zum Ende der Geschichte jene Gleichgültigkeit, die Jahrzehnte später Elie Wiesel270 vom Widerfahrnis der Schoa her als etwas beschrieben hat, das böser und verruchter ist als jedes Böse, weil es dieses noch durch völlige Distanz unterbietet und nicht einmal mehr die Differenz von Gut und Bös in irgendeiner Hinsicht anerkennt, sondern zum kalten Komplizen mit Hass und Mord geworden ist. Wenn manchmal doch den Reisenden ein Ekel erfasst, so ist auch dieser rein selbstbezogen (ihm graust) und diplomatisch gezügelt (er bleibt distanziert). Am Ende verlässt der Reisende diesen entsetzlichen Ort auch ohne merkbare Regung. Sein Besuch und Auftrag sind einfach zu Ende. Zwei weitere Militaristen hat Kafka noch eingeführt: Der erste Soldat, ein Delinquent, ist wie der Offizier ein gehorsamer Tölpel, der hinnimmt, was an ihm geschieht. Er kennt die Prozedur dieser Vollstreckung durch die Maschine; doch ihm ist lange das Faktum und bis zum Ende der Grund seiner Verurteilung unbekannt. Nie fragt er nach dem Grund, sondern er ergibt sich dem Folterverfahren. Bei diesem hilft dem Offizier der zweite Soldat, auch er eine Marionette des technischen Geschehens und seines tödlichen Verlaufs. Widerstand kommt von nirgendwoher. Selbst im alten Teehaus, in dem sich unter einem der Tische die Grabstätte des alten Kommandanten findet, herrscht ein dumpfer, niederdrückender Mythos, der Rebellion erstickt. Ein Grabstein, »niedrig genug, um unter einem Tisch verborgen werden zu können«271, trägt die Botschaft von der Auferstehung des Kommandanten »nach einer bestimmten Anzahl von Jahren«272 und der darauffolgenden Sammlung seiner Anhänger, um die Kolonie wieder zurückzuerobern. Ein stockdunkler Messianismus, der niemanden erlöst durch die Verklärung dieses Todes, steht am Ende dieser Geschichte, komplettiert durch die Abreise des Reisenden, der den Zurückbleibenden noch droht, damit keiner von ihnen zu ihm ins Boot springe und sich rette. Die Geschichte selbst hat wenig Handlungsbreite. Auf einen abrupten Anfang – »›Es ist ein eigentümlicher Apparat‹, sagte der Offizier zu dem Forschungseisenden«273 – folgen Beschreibungen und eine Reihe direkter Reden, und am Ende steht jene Drohung, die die Isolation der Insel – hier ein Pleonasmus – festigt. Abermals wirkt der mythische Messianismus der Auferstehung als Verfestigung der Ausweglosigkeit und so gerade nicht als Erlösung. Religiöses spielt überall mit – und mit ihm die Frage, ob über die festgerammte Verzweiflung dieser isolierten Apparatewelt noch etwas hinausreichen wird. Was 270 271 272 273

Wiesel Elie, Die Anatomie des Hasses, 84; Wiesel Elie, Krieg und Frieden, 125. Kafka Franz, In der Strafkolonie, 194. Ebd., 195. Ebd., 161.

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Kafka erzählte, hatte in seinem Kern die Beschreibung imaginierter Folter. Ein Soldat soll exekutiert werden, und zwar nicht durch einen glatten Schuss, sondern durch eine sonderbare Maschine, die dem Delinquenten vor seinem Tod noch das Urteil in die Haut ritzt. Technik, nämlich eine Maschine, die per definitionem Mittel ist, vermittelt somit zwischen dem Exekutor und dem Delinquenten, die beide durch diese Vermittlung gerade nicht eins sind, wie Saul Friedländer274 meinte, sondern zwei differente Agenten, auseinandergehalten durch die Maschine, die der eine bedient und die den andern langsam und grauenvoll umbringt. Den Mittelcharakter, durch den der Exekutor zu diesem armen Teufel jene Distanz einnimmt, die eine Identifizierung zwischen beiden unmöglich macht, spricht der Offizier auch selbst in seiner dummen Direktheit vor dem Reisenden aus: »Bis jetzt war noch Handarbeit nötig, von jetzt aber arbeitet der Apparat ganz allein.«275 Man muss nicht mehr mit der Hand und von Angesicht zu Angesicht morden, der Mord wird technisch fabriziert. Kafka erzählt von gegenwärtigen Keimen des Massenmordes der Schoa zwei Jahrzehnte später. Die technischen Details dieser Maschine werden als komplex beschrieben und schieben dadurch zwischen den Offizier und den Soldaten etwas derart Dichtes, dass Anteilnahme oder gar Widerruf des faktischen Todesurteils ausgeschlossen werden. Das Mittel spielt, einmal in Gang gesetzt, absolutes Fatum und emanzipiert sich selbst davon, bloßes Mittel zu sein: Es wird langsam zum Zweck seiner selbst, dem am Ende auch der Offizier verfällt ohne jede Dominanz, die er noch über die Maschine ausüben könnte276 – nicht allein wegen der Faszination, mit der die Maschine ihn bannt, sondern weil ihr Gang nach und nach jeden ergreift, der in ihren Umkreis gerät. Das subpersonale Mittel der Exekution wird zum transpersonalen Exekutor. Der zentrale Teil der Maschine ist die sogenannte Egge. Unter sie wird der Delinquent gelegt, wie der Offizier dem Reisenden erklärt: »Die Nadeln sind eggenartig angeordnet, auch wird das Ganze wie eine Egge geführt, wenn auch bloß auf einem Platz und viel kunstgemäßer. Sie werden es übrigens gleich verstehen. Hier auf das Bett wird der Verurteilte gelegt. (…) Also hier ist das Bett, wie ich sagte. Es ist ganz und gar mit einer Watteschichte bedeckt; den Zweck dessen werden Sie noch erfahren. Auf diese Watte wird der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich nackt; hier sind für die Hände, hier für die Füße, hier für den Hals Riemen, um ihn festzuschnallen. Hier am Kopfende des Bettes, wo der Mann, wie ich gesagt habe, zuerst mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, daß er dem Mann gerade in den Mund dringt. Er hat den Zweck, am Schreien und am

274 Friedländer Saul, Franz Kafka, 138. 275 Kafka Franz, In der Strafkolonie, 162. 276 Lawrence L. Langer, Kafka as Holocaust Prophet, 112f.

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Zerbeißen der Zunge zu hindern. Natürlich muß der Mann den Filz aufnehmen, da ihm sonst durch den Halsriemen das Genick gebrochen wird.«277

Da wird der Körper ganz zur Beute der Maschine gemacht; jede Spontaneität, und zwar nicht nur die, in der Freiheit sich regt, sondern auch die rein somatische Spontaneität, die noch im allerletzten Lebenswillen zuckt, wird erdrückt. Was die Egge schließlich vollführt, nimmt genau an der reinen Körperwerdung des Verurteilten ihr Maß: Sie tätowiert ihm das Urteil auf den Rücken. »›Diesem Verurteilten zum Beispiel‹ – der Offizier zeigte auf den Mann – ›wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten!‹«278 Hier wird das Urteil ins Fleisch getrieben. Die Fleischwerdung von Geistlosigkeit und Gehorsam des Offiziers schafft sich ihren Ausdruck in der Fleischwerdung des Massakrierten, diktiert vom Offizier und vermittelt durch die Maschine, dem Zentrum dieser isolierten Welt. Was die Maschine setzt, ist eine Einritzung wie eine Tätowierung. Sie aber gilt im Judentum als verboten.279 Kafka antizipiert jedoch nicht die künftige Tätowierung mit KZ-Nummern, sondern verbindet ein Zweifaches, nämlich die verbotene Tätowierung mit der Malträtierung des Körpers bis ans Ende – eine drastische Form, die Tätowierung und Folter ineins setzt. Zudem wird das Finale der Primitivität schon hörbar, wenn der Offizier auf die rein sachliche Frage des Reisenden, ob der Soldat sein Urteil kennt, ebenso sachlich und deshalb auch ein wenig überrascht antwortet: »›Nein‹, sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlangte er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte dann: ›Er wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.‹ Der Reisende wollte schon verstummen, da fühlte er, wie der Verurteilte seinen Blick auf ihn richtete; er schien zu fragen, ob er den geschilderten Vorgang billigen könne. Darum beugte sich der Reisende, der sich bereits zurückgelehnt hatte, wieder vor und fragte noch: ›Aber daß er überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch?‹ ›Auch nicht‹, sagte der Offizier und lächelte den Reisenden an, als erwarte er nun von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen.«280

Ganz zum Körper gemacht, mit dem Tattoo auf dem Rücken und seinem Schriftzug, den der Delinquent weder in seiner Bedeutung wahrnehmen noch auch irgendwie lesen kann, da er zum kotzenden, agonischen Schmerz gemacht 277 Kafka Franz, In der Strafkolonie, 164f. 278 Ebd., 166. 279 Diskutiert werden im Talmud zwar die Intentionen, aufgrund derer Einkratzungen (mit der Hand) oder Einritzungen (maschinell) vorgenommen werden. Doch wann immer solches vorgenommen wird im Namen eines Toten oder eines Götzen, wird es als strafbar qualifiziert (bT Makkoth 21a–21b). Der Konsens steht darum grundsätzlich auf dem Verbot von Tätowierungen. 280 Kafka Franz, In der Strafkolonie, 167.

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wird, verliert der Verurteilte alles Menschliche. Es mag sein, dass Kafka eine wenig verständliche Freude daran gefunden haben mag, »sich die raffiniertesten Folterszenen auszumalen«281, wie Saul Friedländer schreibt. Es mag auch sein, dass sich darin »seine sadomasochistischen Phantasien«282 offenbaren. Doch darüber hinaus traf Kafka in seiner Innenwelt auf den Schrecken, der genau dann sich manifestiert und auslebt, wenn zentrale Geltungen jüdischer Ethik suspendiert werden. Diese Geltungen sind Jahrtausende alt und bewährt. Wer gegen sie anläuft und sie pervertiert, zerstört den Menschen. Am unmittelbarsten trifft das das Verbot: Töte nicht! 283 Diese Voraussetzung jüdischer Ethik liegt nicht zufällig vor. Aharon Appelfeld, der wie Kafka aus einem assimilierten Elternhaus kommt, entdeckt zwischen Kafka und sich eine Entsprechung, die Kafkas Fremdheit gegenüber dem traditionellen Judentum gleichzeitig mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit, »a kind of tense curiosity about every Jewish phenomenon«284 verband. Das betraf politische und religiöse Bewegungen ebenso wie Fragen jüdischen Lebens. Kafka kannte sie und vertiefte sich in sie. Die jüdische Tradition hat der Menschheit das Ethos mitgegeben, Mitmenschen nicht töten zu dürfen. Genau das aber hat noch jede antisemitische Bewegung pervertiert; industrialisiert wurde diese Perversion durch die Nationalsozialisten, die damit eine »zentrale Säule der Zehn Gebote«285 umgestürzt haben. Der Mord, den Kafka nun beschreibt, ist ein zeitlich erstreckter Prozess. In ihm wird das reine Körperlichwerden des Menschen vollstreckt; dem Delinquenten wird langsam, über einen Tag hin gedehnt, alle Transzendenz ausgepresst, bis er, wie Jean Améry aus dem furchtbaren Selbsterleben geschrieben hat, »ganz zum Körper und wimmernder Todesbeute«286 geworden ist. Dieser Mordlust gegenüber, die sich in der Faszination der maschinellen Vermittlung verliert, ist das Urteil gleichgültig, das Grund der Verurteilung geworden war. Der Delinquent kennt es nicht, und was der Offizier benennt, spiegelt die Gleichgültigkeit in einer Bagatelle und ist bedeutungslos: Der arme Mann hat in einem schikanösen Wachtdienst, der von ihm unmenschliche Wachsamkeit forderte, ein einziges Mal zu einer vollen Stunde geschlafen. Dieses Vergehen rechtfertigt keine Hinrichtung und gewiss nicht diese grauenhafte. Die Gleichgültigkeit des Urteils fällt deshalb nicht in die Bedeutungslosigkeit von Urteilen überhaupt, sondern in seine völlige Inadäquatheit gegenüber dem ba281 282 283 284 285

Friedländer Saul, Franz Kafka, 137. Ebd., 136. Treitler Wolfgang, Menschenrecht und Menschenpflicht, 315–322. Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 63f. Ebd., 39: »A vile hand was raised against mankind: we do not have mysticism here, but a blow directed against the central pillar of the Ten Commandments.« 286 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 67.

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gatellisierbaren Delikt. Es hätte irgendein Delikt vorliegen können; der Todesspruch war das Ziel, um die Maschine anwerfen und ihre Erfindung durch den Gebrauch legitimieren zu können. Der Gebrauch ist maßlos, gewalttätig, tödlich. Das weist wieder auf die götzenhafte Maßlosigkeit solcher Artefakte, die der Mensch hervorgebracht und wie ein Göttliches über sich gesetzt hat, dem er erliegt, fasziniert und voller Hingabe. Daher liegt auch allein in der Wirksamkeit der Maschine der Zweck jedes Urteils wie eben auch dieses Urteils: Um sie am Laufen zu halten, braucht es Menschenmaterial, das gemordet werden kann – auch das wohl keine unmittelbare Antizipation den kommenden Terrors, sondern eine technische Spiegelung alter Geschichten, die in Europa umgingen. Jede Durchsetzung eines totalitären Anspruchs, der so umfassend ist wie die Maschinenwelt dieser isolierten Insel, hat Opfer gebraucht, um eben diesen Anspruch durch die Permanenz der Drohung aufrechtzuerhalten, die in ihm war. Am schärfsten wirkte sich das antisemitisch aus.287 Kafka, assimilierter, suchender Jude, lebte in dieser Atmosphäre, in der es nicht mehr um Recht und gewiss nicht um Gerechtigkeit, sondern um eine perverse Form erotischer Faszination am Gewaltfest ging, das man sich maschinell bereitet. So vertieft sich abermals der Graben zwischen dem Offizier und dem Verurteilten. Was dem Verurteilten der langsam heranrückende Tod ist, ist dem Hinrichtenden ein Spiel.288 Spiele leben von Regeln, von gedehnter Zeit, von Wiederholbarkeit und einer kindhaften Faszination, die verwandelt dem Erwachsenen im Eros wiederbegegnet. Der Eros bindet sich in der Maschinenwelt jedoch nicht an einen Mitmenschen, sondern ans Faszinosum einer Apparatur und verwandelt diese zum Zweck der Attraktion, die er ausstreut. Im Spiel des Offiziers, das er mit der Maschine treibt, gesteigert durch die Folter, die den Soldaten zu einem Haufen zerstörten Fleisches macht, manifestiert sich diese Umwertung des Eros ähnlich der erotischen Aufladung der Motorenwelt heute, die in gezielter Propaganda Maschinenmodell und Menschen-, d. h. vor allem Frauenmodell identifiziert. Zu beidem gehören das hohle Ornament und die banale Verzierung, in der das an sich Platte und Primitive, nämlich die einfache Hebelformation, die den Begriff jeder Maschine ausmacht, drapiert wird. Die Pri287 Ein geschichtliches Lehrstück dieses Zusammenhangs findet sich im 13. Jahrhundert. Der seiner selbst als Vicarius Christi bewusste Innozenz III. gab dem Vierten Laterankonzil weithin die Texte vor und schuf damit auch einen später wirksamen Zusammenhang zwischen der Erklärung der realen eucharistischen Transsubstantiation von Brot und Wein (can. 1; Josef Wohlmuth (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien. Band 2, 230) und der Aussonderung der Juden (can. 68–69; ebd., 266f), was dann rasch Verfolgungen und Massakrierungen nach sich zog, aufgetragen auf dem nie bewiesenen Vorwurf der jüdischen Hostienschändung (Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus I, 53–55). 288 Kafka Franz, In der Strafkolonie, 170.

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mitivität will nicht offenbar werden, weder die der Maschinenwelt noch die ihrer Exekutoren, sondern sich verstecken, um ihre ausweglose Immanenz zu kaschieren und gleichzeitig ihren totalitären Charakter abzusichern: Nichts fällt aus dieser Totalität hinaus – das ist die Botschaft des ästhetischen Scheins, der von der Verdinglichung ablenkt. Daher verschnörkeln Zierarten die Urteilsschrift und umkränzen sie mit einem Pseudogeheimnis, das nur der Geübte entschlüsseln kann, wie der Offizier in selbstsicherem Ton dem Reisenden erklärt: »›Ja‹, sagte der Offizier, lachte und steckte die Mappe wieder ein, ›es ist keine Schönschrift für Schulkinder. Man muß lange darin lesen. Auch sie würden es schließlich erkennen. Es darf natürlich keine einfache Schrift sein; sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden; für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet. Es müssen also viele, viele Zierarten die eigentliche Schrift umgeben; die wirkliche Schrift umzieht den Leib nur in einem schmalen Gürtel; der übrige Körper ist für Verzierungen bestimmt…‹«289

In dieser Geschichte Kafkas gibt sich das Inhumane – »nonhuman« (Lawrence L. Langer) 290 – sein horribles Fest. Die Folter wird als Terrorakt der Todesverzögerung erkennbar, wie die Schnörkel die Funktion der Erstreckung für die Entzifferung haben. Die Entzifferung des Urteils ist also nicht nur dem Delinquenten unmöglich, sondern auch für einen Uneingeweihten nur schwer erschließbar. Der primitive Kosmos hat seine eigenen Strukturen, die – durchaus platonisch291, aber nicht zur Höhe des Erkennens gebracht, sondern in einen geistlosen Abgrund getrieben – vor allem durch Verähnlichung mit ihm erkennbar werden. Das Sprichwort, wonach Übung den Meister macht, verliert seinen Bildungshorizont und zielt, ohne es als solches vorwegnehmen zu können, schon auf eben jenes unvorstellbar Inhumane, das Paul Celan als die Meisterschaft des Mordens im nationalsozialistischen Deutschland einprägte.292 Und doch stellt sich der Offizier vor, dass der Verurteilte sein Urteil zu lesen und zu verstehen beginnt, und zwar ab der sechsten Stunde. Auch diesen Moment hat Kafka konsequent ästhetisiert um der Wirksamkeit der ornamentalen Zentralformationen, der Zierschriften willen. »Erst um die sechste Stunde verliert er das Vergnügen am Essen. Ich knie dann gewöhnlich hier nieder und beobachte die Erscheinung. Der Mann schluckt den letzten Bissen selten, er dreht ihn nur im Mund. Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er

289 290 291 292

Ebd., 172. Lawrence L. Langer, Kafka as Holocaust Prophet, 113. Platon, Theätet, 176b. Celan Paul, Die Hand voller Stunden, 31f.

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spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.«293

Kafka bringt hier vage Anklänge an die Kreuzigung Jesu ein, die deren opfer- und kreuzestheologische Ästhetisierung (die auf Paulus zurückgeht, der das Kreuz Jesu nicht gesehen hat) mit wenigen Gedankenstrichen zur Kollaboration mit der Exekutionsmacht unter dem Vorwand göttlicher Fügung werden lassen können; doch diese Anklänge geben dem Ganzen keinen erlösenden Sinn über die Verzweiflung hinaus, die auf dieser abgeschiedenen Insel und ihrem isolierten Tal triumphiert. Alles bleibt geschlossen, auch die Vorstellungswelt des Offiziers. Er stellt die Projektionen der Täter dar, mit denen sie vermeinen, die Erfahrungen ihrer Opfer werten zu können – so wie manche Denker einer Kreuzestheologie vermeinen, die Erfahrung Jesu in seiner Agonie und seinem Ende mit dogmatischem Wissen ausdeuten zu können. Diese Projektionen entstehen auf der Basis primitiver Kausalitätsvorstellungen, die ihr Maß an der Maschine oder einer maschinenhaften Logik nimmt. Der Kreis der maschinellen Determination bleibt geschlossen, indem er in der Rezeption, die sich ihr unterstellt hat, vollständig affirmiert wird. Was darüber hinausweist, ist inkommensurabel in strengstem Sinn. Das zeigt Kafka, als am Ende dieser langen Beschreibung der Reisende kundgibt, er sei ein »Gegner dieses Verfahrens.«294 Doch werde er seine Erkenntnisse nicht in einer Sitzung, sondern nur unter vier Augen einbringen. »Es sah nicht so aus, als ob der Offizier zugehört hätte. ›Das Verfahren hat sie also nicht überzeugt‹, sagte er für sich und lächelte, wie ein Alter über den Unsinn eines Kindes lächelt und hinter dem Lächeln sein eigenes wirkliches Nachdenken behält. ›Dann ist es also Zeit‹, sagte er schließlich und blickte plötzlich mit hellen Augen, die irgendeine Aufforderung, irgendeinen Aufruf zur Beteiligung enthielten, den Reisenden an. ›Wozu ist es Zeit?‹ fragte der Reisende unruhig, bekam aber keine Antwort. ›Du bist frei‹, sagte der Offizier zum Verurteilten in dessen Sprache. Dieser glaubte es zuerst nicht. ›Nun, frei bist du‹, sagte der Offizier. Zum erstenmal bekam das Gesicht des Verurteilten wirkliches Leben. War es Wahrheit? War es nur eine Laune des Offiziers, die vorübergehen konnte? Hatte der fremde Reisende ihm Gnade erwirkt? Was war es? So schien sein Gesicht zu fragen. Aber nicht lange. Was immer es sein mochte, er wollte, wenn er durfte, wirklich frei sein und er begann zu rütteln, soweit es die Egge erlaubte. ›Du zerreißt mir die Riemen‹, schrie der Offizier, ›sei ruhig! Wir öffnen schon.‹«295

Die Freiheit liegt außerhalb dieses Kreises des maschinellen Zwangs und seiner Kausalitäten. Ihr Zwang kennt auch nur Sachgerechtigkeit und Gehorsam, und 293 Kafka Franz, In der Strafkolonie, 173. 294 Ebd., 185. 295 Ebd., 186.

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beides verneint Freiheit. So gibt sich der Offizier, der Sachlogik der Maschine folgend, nun dieser selbst hin. Er gehorcht einem aus seiner Ledertasche gezogenen Blatt mit der Aufschrift: »Sei gerecht!«296 und ergibt sich der Maschine ohne jedem ästhetischen Beiwerk, das unnötig geworden ist; denn der Offizier, der Mann der Maschine, kennt sie so, wie sie ist und wirkt; er braucht keine verlockende Einladung, sondern nimmt sie in ihrer blanken Primitivität, die Kafka durch den Zerfall der Maschine297 enthüllt. Keine Zierschrift, kein langer Zeitverlauf, kein Essen. »Die Egge schreibt nicht, sie stach nur, und das Bett wälzte den Körper nicht, sondern hob ihn nur zitternd in die Nadeln hinein. Der Reisende wollte eingreifen, möglicherweise das Ganze zum Stehen bringen, das war ja keine Folter, wie sie der Offizier erreichen wollte, das war unmittelbarer Mord.«298 Diese unsinnige Steigerung von Folter zum unmittelbaren Mord lässt sich wohl nur aus der Zäsur zwischen der vorherigen Beschreibung und der jetzigen Realität erfassen. Denn die Folter selbst, besonders wie sie durch die Maschine vollzogen wird, endet tödlich; doch ihr Gehalt liegt in der Erstreckung des Sterbens, die ein unmittelbarer Mord abkürzt und erlässt. Reale Folter, die nichts anderes verfügt als das langsame Krepieren vor den Augen gottgleicher Folterknechte – eine Erfahrung, die Jean Améry299 gemacht hatte –, ist das »furchtbarste aller Körperfeste« und wohl das schrecklichste der »Todesrituale.«300 Das Erschrecken des Reisenden ändert diesen jedoch nicht, es greift seine prinzipielle Gleichgültigkeit nicht an, »Panik«301 erfasst ihn nicht, auch kein Entsetzen. Doch etwas Panisches ist am Offizier zu sehen, wie er über der Grube an der Egge noch hängt. Üblicherweise lässt die Egge die Ermordeten in die Grube fallen, doch der Offizier bleibt an den Nadeln hängen. Der Reisende ruft den Verurteilten und den Soldaten, die beide entfernt stehen, zu Hilfe, damit sie den Offizier von der Egge lösen. Doch »der Reisende mußte zu ihnen hinübergehen und sie mit Gewalt zum Kopf des Offiziers drängen. Hiebei sah er fast gegen Willen das Gesicht der Leiche. Es war, wie es im Leben gewesen war; kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken; was alle anderen in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand es nicht; die Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen waren offen, hatten den Ausdruck des Lebens, der Blick war ruhig und überzeugt, durch die Stirn ging die Spitze des großen eisernen Stachels.«302

296 297 298 299 300 301 302

Ebd., 187. Ebd., 191f. Ebd., 192. Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 67. Ebd., 64. Friedländer Saul, Franz Kafka, 139. Kafka Franz, In der Strafkolonie, 193.

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Erlösung durch die Maschine – der Offizier hatte sie nicht gefunden. Woher aber konnte der Reisende wissen, dass die meisten anderen Erlösungen gefunden hätten? Vom Offizier? Er hatte dem Reisenden das Finale der Folter beschrieben: »Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht. Dann ist das Gericht zu Ende, und wir, ich und der Soldat, scharren ihn ein.«303 Und später sagte er, die Maschine stehe für sich und mache nach wie vor ihre Arbeit. »Und die Leiche fällt zum Schluß noch immer in dem unbegreiflich sanften Flug in die Grube.«304 Was ist daran Erlösung? 305 Der Erlösung widerspricht nicht nur die Trostlosigkeit, die in der Strafkolonie herrscht. Ihr widerspricht auch die reale Beziehungslosigkeit der Personen dieser Geschichte. Mitleiden gibt es nicht in dieser Monadenwelt306, sie kennt nur die isolierten Leiden der Einzelnen – und das macht Kafkas Geschichten dann auch deutlich unterscheidbar von allem, was danach in der Schoa wirklich geworden ist.307 Das war nicht vorwegzunehmen, auch wenn es aus unzähligen Linien, die man finden konnte, schließlich zusammenlief. In der Strafkolonie ist eine Geschichte der Verzweiflung, wie sie eine Geschichte isolierten Gestalten und Topografien ist. Max Brod hat in der menschlichen Isolation die Möglichkeit echter Verzweiflung entdeckt, wie sie Kafka kannte. »Verzweifeln kann nur der isolierte Mensch, der Junggeselle. Und nicht einmal er muß es, wie Kierkegaards Beispiel zeigt.«308 Das eine ist Kafka selbst, das andere sind seine Geschichten. Ihn trug in seinen letzten Lebensjahren vielleicht die Beschäftigung mit dem Judentum über die Verzweiflung hinaus, die in seinem Leben gewaltet hatte durch den Vater, die unmöglichen Liebschaften, die Unmöglichkeit zu schreiben und den Zwang, in 303 Ebd., 173f. 304 Ebd., 179. 305 Saul Friedländer ließ es offen, ob »die Selbstopferung nun zu Ekstase, zu Erlösung führt oder ob sie lediglich bereits bestehende Überzeugungen bekräftigt« (Friedländer Saul, Franz Kafka, 139). Ich sehe kein ekstatisches Moment, das von einem Selbstbetroffenen käme; die Verklärung der Folter zum Opfer und vielleicht auch zum Selbstopfer des Offiziers erfolgt stets von außerhalb der direkten Erfahrung und ist mit dieser nicht kongruent. Hier gilt das gleiche wie bei den Überlegungen zum Vater-Sohn-Konflikt Kafkas, an dessen eigenste Innenerfahrung eine Reflexion, die sich von außen mit verschiedenen methodischen Griffen annähert, nicht herankommt. So wenig, wie der Maschinenraum und die Maschinenwelt über ihre Immanenz hinausreichen, so wenig auch die Vollzüge und Erfahrungen, die durch sie determiniert sind. Daher reicht wohl auch die Bekräftigung bestehender Überzeugungen zu weit, weil die Affirmation jene Freiheit zum Nichtkonformen voraussetzt, die dem Denken als Verneinung und Unterbrechung eben des Konformen zukommt (Adorno Theodor W., Negative Dialektik, 232f). 306 Lawrence L. Langer, Kafka as Holocaust Prophet, 114. 307 Ebd., 119. 308 Brod Max, Über Franz Kafka, 242.

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einem wenig geliebten Beruf seinen Lebensunterhalt zu besorgen, durch die Bezogenheit auf sich selbst, durch die siebenjährige Todeserkrankung. Stefan Zweig hatte in den Träumen der erfrierenden Gemeinde letzte Funken von Hoffnung gefunden, die über die Verzweiflung hinaus leuchteten. Franz Kafka fand sie in der Strafkolonie nicht. Eine letzte gewaltsame Drohung schloss sie für den Verurteilten und den Soldaten aus. Isoliert blieben sie und eingekerkert in der Maschinenwelt mit ihren unüberwindlichen Grenzen. Im letzten Bild hat Kafka diese endgültig gesetzt. Denn als diese beiden, der Verurteilte und der Soldat, unten am Ufer ankamen, »war der Reisende schon im Boot, und der Schiffer löste es gerade vom Ufer. Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein schweres geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch vom Sprunge ab.«309 Über die Verzweiflung hinaus kommt man nicht durch Verbesserung der determinierten Verhältnisse, sondern nur über deren Bruch oder durch einen Sprung – über die Rettung des Nichtidentischen, das gegen das Identitätsregiment steht. Diesen Bruch verhindert der Reisende und vollendet damit praktisch seine Gleichgültigkeit. Sie ist es zuletzt, welche die armen, dumpfen Gesellen in der Todeswelt festsetzt und an ihnen die Folter mit andern Mitteln fortsetzt als mit maschinellen. Die Fortsetzung der Folter erfolgt in der Perpetuierung der Verzweiflung, wie sie jede Gleichgültigkeit verübt. Sie ist es, die das gesprochene Todesurteil vollzieht, indem sie das Maschinenverbrechen, das physisch manifest wurde, auf seelischem Weg virtualisiert und den isoliert Lebenden deutet: Jede Stunde, die noch kommt, werden sie ihren Tod kosten. Denn niemand wird nach ihnen fragen. Ob sie leben oder sterben, sie gehören dem Tod. In jedem Moment ihres Lebens fasst diese Qual nach ihnen und lässt sie nicht mehr los. Und der Reisende hat vielleicht ein paar Notizen mitgenommen, die nicht mehr bedeuten als den Nachweis, dass er amtsmäßig gewaltet hat. Das Ganze geht ad acta. Verwaltung ist die Maschinenwelt in der Virtualität; und weil alle Verwaltung, die Kafka umkreiste, das unbekannte Gesicht und Tun oder Nichttun des Herrn Klamm im Schloss trägt, definiert und sanktioniert sich dadurch die vergewaltigende Verwaltung der Gleichgültigkeit. Unterbrechung ist nur durch Bruch, durch den Sprung möglich. Das aber ist, jedenfalls für Kafka, areligiös wahrscheinlich nicht zu gewinnen. Für ihn war in dieser Hinsicht die Verbindung zu seinem Judentum so entscheidend und wie für Søren Kierkegaard die seine zum Christentum. Mit ihr rebellierte der Däne gegen totalitäres Denken, wie er es bei Hegel fand, und hielt diesem sowohl den Sprung in den Glauben als auch das Subjektivwerden der Wahrheit entgegen.310 Darin liegt großes Risiko, weil der Mensch ungesichert ist durch einen »langen Weg der 309 Kafka Franz, In der Strafkolonie, 195. 310 Kierkegaard Søren, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, 190–194.

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Franz Kafka – ein Mensch »ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach«

Approximation«311 und die offenen Aussichten dieses Wegs. Wer glaubt, riskiert; wer an Erlösung glaubt trotz allem und gegen alles, was sie unmöglich macht, riskiert noch mehr. Doch wem davon alles fehlt, der bleibt auf der Strafkolonie in Dauerhaft und gehört der dortigen, Verzweiflung der monadischen Maschinenwelt. Denn Maschinen werden ihn nicht retten, sondern zerstören. Das sah Franz Kafka kommen, dieser Mensch besonderer Aufmerksamkeit, der »ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach« war.

311 Ebd., 191.

Franz Werfel – Gottes Geheimnis und menschliche Heiligkeit

1.

Zeugnis gegen die Verzweiflung

Franz Werfel kam wie Franz Kafka aus Prag und lebte später in Wien, mehr als ein Jahrzehnt in relativer Nähe zu Stefan Zweigs Geburtshaus.312 Das schuf Begegnungsräume, die sich auch in literarische Motive und Ähnlichkeiten übersetzen konnten. Diese wiederum spiegelten in Bezug auf das eigene Zugehören zum Judentum zunächst gleichfalls auffallende Ähnlichkeiten. Wie Stefan Zweig, der während seines Studiums an der Universität Wien erstmals in Berührung kam mit osteuropäischen Juden und kaum eine Verbindung zwischen ihnen und sich fand, war es auch Franz Werfel, als er im Jahr 1920 über seine eigene Jugend nachdachte, unmöglich, sich mit ihnen innerlich verwandt zu fühlen: »Hatten wir die Gelegenheit, Ostjuden, polnische oder russische, zu sehen, so wäre es eine Lüge zu behaupten, daß ein organisches Gefühl der Stammesverwandtschaft in uns geschlagen hätte.«313 Doch wie Stefan Zweig berührte ihn dann das furchtbare Geschick vieler Juden aus dem Osten, das sie in den vergangenen Jahrhunderten getroffen hatte, in denen Pogrome viele heimatund familienlos gemacht hatten. Als junger Schriftsteller hatte Stefan Zweig etwas von der Beständigkeit Gottes angedeutet, als er die kämpferischen Hasmonäer (2. Jhdt. v. d. Z.) im Zeitrahmen des Auszugs einer kleinen, durch christliche Geißler bedrohten jüdischen Gemeinde mitkommen ließ, die in der Winternacht auf hamakom (‫ )המקום‬traf, von einem letzten Traum umfangen, in dem die goldene Menorah über die Liebenden leuchtete – eine Geschichte, die eingespannt ist zwischen Untergang und Hoffnungslicht, zwischen Verzweiflung und hamakom, dem guten, dem göttlichen Ort.

312 In den 1920er Jahren bewohnte Franz Werfel eine Wohnung in der Elisabethstraße 22; das Haus liegt etwas mehr als einen Kilometer entfernt vom Geburtshaus Stefan Zweigs am Schottenring 14. 313 Werfel Franz, Zwischen oben und unten, 695.

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Franz Werfel – Gottes Geheimnis und menschliche Heiligkeit

Ähnliches findet sich bei Franz Werfel, und zwar in seinen späten Tagen, als er in der amerikanischen Emigration des millionenfachen Mordens an seinem Volk gedachte und dabei auf eine Verzweiflung stieß, die sich im Bild eines ostjüdischen Mannes verdichtete: »Kein Weg! Und doch tut der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs in unserer Zeit an Israel ein Zeichen und Wunder, das die biblischen Vergeltungswunder überschattet. Während einer einzigen Generation hat er den Feind größer gemacht als Pharao, Nebukadnezar und Antiochus zusammengenommen, und ehe diese Generation noch den Tod verkostete, stürzte er den Erzfeind in den Abgrund von Schmach, Hohn und Schmutz wie noch keinen andern, damit sich die Verheißung an Abraham und seinem Samen zumindest im Negativen immer wieder erfülle. Welch ein Triumph, sollte man denken! Welch unermeßlicher Jubel im Herzen dessen, an dem sich die göttliche Verheißung so wunderbar wieder und wieder offenbart hat am heutigen Tage! Aber wie könnte Triumph und Jubel empfinden ein leeräugiger zerzauster Greis, der mit dem Grabscheit in der Hand einherwankt in der Podolischen Steppe, um seine Toten zu finden und zu bestatten?«314

Werfel kann hier wie auch an vielen anderen Stellen seiner Romane, Essays, Novellen, Gedichten und Reflexionen nicht anders als aus jüdischer Tradition zu schreiben, zu denken, zu dichten. Dieser Bezug ist es, der ihm verbot, den Jubel ohne Bitternis zu finden und zu feiern. Und der Greis, an den er erinnert, gehört zur Tradition gebeugter ostjüdischer Menschen, von denen Stefan Zweig in seiner Erzählung Im Schnee geschrieben hat. Auch Franz Kafkas Maschinenterror aus In der Strafkolonie fand eine Entsprechung bei Franz Werfel. Er kannte die Faszination der Geschwindigkeit, die motorengetriebene Fahrzeuge erzeugen;315 und deshalb warnte er auch davor, aus dieser Faszination einen Gottesersatz zu ziehen, der den Menschen zur geistlosen Existenz zwingt – an das hingegeben, was er die »Realgesinnung«316 nannte. Wenn man dieses Kritikelement isoliert betrachtet317, mag es in der Nähe 314 315 316 317

Werfel Franz, Theologumena, 248f. Werfel Franz, Realismus und Innerlichkeit, 81. Ebd., 82. Frank Joachim Eggers meint gar, bei Werfel einen »Antiintellektualismus« zu finden, der »strukturell« dem des Nationalsozialismus ähnlich wäre – wenngleich er auch Motive der Kritik entdeckt, die Werfel wiederum in die Nähe der Frankfurter Schule gebracht haben (Eggers Frank Joachim, »Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn«, 99). Das Problem dieser Einschätzung liegt zum einen darin, dass dieses Moment isoliert und dadurch eben als Moment verkannt wird, das erst im Prozess eines Ganzen seine Bedeutung gewinnt und als solches, eben also isoliertes, nicht nur missverständlich ist, sondern schlicht falsch verstanden wird. Zum andern zielt Werfel auf eine funktionale, technisch geformte und genormte Rationalität, die religiöse Transzendenz grundsätzlich löscht – methodisch, wenn sie wissenschaftlich verfährt, ideologisch, wenn sie zur Weltanschauung transformiert wurde. Und genau diesen ideologischen Überschritt bekämpft Werfel rhetorisch scharf. Das Zentralmotiv von Werfels massiver Kritik – die Zuschreibung des Konservativen durch Eggers

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derjenigen Kritik liegen, die in der Zuschreibung Werfels der nationalistischen und reaktionären Ideologie entwächst und »ein dunkel-riesenhafter Affekt (ist), in dem sich die kollektive Eitelkeit, der gereizte Geltungswille der Masse selbst befriedigt.«318 Doch genau diese Haltung erkennt Werfel als einen entscheidenden Selbstausdruck der geist- und gottlosen Naturalisierung und ihrer technische Übersetzung ins dominant Maschinelle. Weil diese Welt sich abgeschlossen hat gegen das Geistige und gegen das Göttliche, ist ihr der Selbstbetrug reiner Selbstbedingtheit möglich geworden: Man macht sich vor, sich selbst hervorzubringen, und verdammt den Menschen dazu, sich an seine primitiven Affekte zu verlieren, in denen die brutale Naturkraft sich feiert, als wäre sie ewig. Dagegen stemmte sich Werfel als religiöser Schriftsteller und Dichter. Doch seine Kunst war keine Programmkunst, in der er Literatur ideologisiert und damit beides zerstört hätte, die Dichtkunst und den Glauben. Er war kein Mann einer propaganda fidei, in der Schreibtechniken gezielt als Mittel eingesetzt würden, um religiöse oder religionspolitische Effekte hervorzubringen. Er schrieb nicht, um Religion hervorzubringen oder zu inszenieren, sondern weil er religiös war durch und durch, schrieb er. Er musste wieder und wieder schreiben, wie der Prophet Jeremia wieder und wieder hatte schreiben müssen ( Jer 36). Franz Werfels Religiosität war jüdisch bestimmt und gleichzeitig interessiert an einer Verbindung von Judentum und Christentum, und zwar an der einzigen, die er geschichtlich auffand und die weit vor dem langen Abtrennungsprozess des Christentums aus seinem Verband mit jüdischen Traditionen und dem Finale dieser Trennung auf dem Konzil von Nizäa im Jahr 325319 lag: am Urchristentum, denn damals »war der jüdische und der katholische Ethos in einer wundervollen Idee vereinigt.«320 Das unterscheidet Werfel deutlich von Stefan Zweig, dem die Frage der Religion und des Bekenntnisses nie zentral geworden war, aber auch von Franz Kafka, der zwar Kierkegaard gelesen, mit ihm aber nicht das Interesse am Christentum geteilt und vom Judentum kaum etwas mitgenommen hatte.321 Und es wird sich zeigen, dass dieser Unterschied auch die Differenz zwischen den drei Literaten nachvollziehbar macht: Auf der einen Seite finden sich Zweigs Verzweiflung, Trauer und agonischer Traum sowie Kafkas imaginierter, auswegloser Horror und seine geschlossene Welt, auf der andern Seite Werfels

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hat hier keinen Sinn – liegt völlig außerhalb des Nationalsozialismus – mehr noch: Es sollte durch die Vernichtung des Judentums auch völlig ausgerottet werden. Werfel Franz, Können wir ohne Gottesglauben leben? 122. Boyarin Daniel, Border Lines, 199f. Franz Werfel, zit. in: Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 193. Kafka Franz, Beim Bau der chinesischen Mauer, 215: »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden Gebetmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang.«

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permanenter Widerstand gegen geschlossene Welten und gegen die Verzweiflung in ihr, weil dieser Widerstand zur entscheidenden Wirksamkeit des Glaubens in diesen Zeiten gehört. Den Glauben an Gott aufzugeben oder ihn auch abzuschwächen, skeptisch, resignativ oder in der Verneinung, käme für Werfel der Selbstaufgabe als Mensch gleich. Denn er glaubte selbst noch, nachdem er die dumpfen Schläge seiner Verfolger, deren Vorankündigungen und deren Wirkungen vernommen hatte322, an den Menschen und seine Größe, wenn sie am göttlichen Geheimnis hing und in dieses einwies. Davon hat er im Vorwort zu seinem Roman Das Lied der Bernadette geschrieben, 1940 abgefasst und das erste belletristische Werk überhaupt, das innerhalb von sechs Monaten eine Auflage von 1 Million Exemplare überstieg. »Ich habe es gewagt, das Lied von Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude. Den Mut zu diesem Unternehmen gab mir ein weit älteres und viel unbewußteres Gelübde. Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir geschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit – des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres Lebens.«323

Diesen Roman schrieb ein Jude gegen die Verzweiflung seiner Zeit. Das Romansubjekt scheint erzkatholisch zu sein, Werfel wusste darum. Doch ihn interessierten nicht die kirchenrechtlichen, kirchenpolitischen oder dogmatischen Fragen nach der Authentizität von Visionen, sondern ihn fesselte die Widerstandskraft eines pubertären, armen Mädchens, das zwischen die Mahlsteine gewaltiger Institutionen und Interessen geriet, verfolgt, verlacht, denunziert und 322 In Cella oder Die Überwinder legte Werfel in wenigen und einfachen Linien die ebenso einfache Wirkung der Nationalsozialismus dar: Er funktionierte in Form »der modernen Tyrannei, die nicht aus der Herrschaft eines einzelnen, einer Clique, einer Klasse besteht, sondern aus der geschlossenen Despotie der Nutznießer« (Werfel Franz, Cella oder Die Überwinder, 124). »Alle Häuser Wiens besaßen Hausmeister. Die Hausmeister aller Häuser – einige hatten sich schon den Titel von ›Blockwarten‹ zugelegt – entschieden über den politischen Leumund aller Menschen, die in ihren Häusern wohnten, denn an sie und niemand anderen wandte sich der Nachrichtendienst der siegreichen Partei, um über die Wohlgesinnung der kleinen und großen Leute ins klare zu kommen.« (ebd., 129). Die Funktion des Blockwarts in seiner Zuordnung zum nationalsozialistischen Regime wurde später, im Jahr 1961, im Monolog Der Herr Karl von Carl Merz und Helmut Qualtinger in einer theatrisch pseudoreflexiven Form eingebracht, in der Faszination und Selbsterleichterung gemeinsam zugegen sind und damit die typischen Affekte der Mitläufer offenbar werden. Da heißt es über den Führer: »Der Führer hat geführt. – Aber a Persönlichkeit war er … vielleicht ein Dämon … aber man hat die Größe gespürt … – I maan, er war net groß. I bin ja vor ihm g’standen – beim Blockwartetreffen im Rathaus. So wie i jetzt vor ihnen sitz, bin i vor ihm g’standen … Er hat mi ang’schaut … mit seine blauen Augen … i hab eahm ang’schaut … hat er g’sagt: ›Jaja.‹ Da hab i alles g’wußt. Wir haben uns verstanden …« (Merz Carl / Qualtinger Helmut, Der Herr Karl, 174). 323 Werfel Franz, Das Lied von Bernadette, 12.

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am Ende weggesperrt wurde. Das Karmelitinnenkloster, in das Bernadette gesteckt wird, ist wie eine Ghettowelt, die seit dem Mittelalter auch dem Judentum da und dort zwangsweise verordnet worden ist, »ein enges Leben unter Ausschluß der Öffentlichkeit«324 (Léon Poliakov), wenn auch mit genau umgekehrtem Vorzeichen: Abschluss der christlichen Klöster von der Welt wegen seiner vorgeblichen Reinheit, Abschließung des jüdischen Ghettos wegen ihrer vorgeblichen Unreinheit.325 Selbst die Ghettoisierung zwingt also nicht in die Verzweiflung, auch dann nicht, wenn sie mit dem frühzeitigen Tod endet. Denn der Tod ist nichts Absolutes, er ist nicht Gott. Dieser Roman unterbricht Werfels jüdische Zugehörigkeit nicht, sondern zeigt sie sowohl in der eben kurz umrissenen Anlage wie in deren literarischer Komposition. Werfel war jüdischer Schriftsteller, der das Judentum nie preisgegeben hat und besonders in den letzten zehn Jahren seiner Glaubensgemeinschaft, seinem Volk Widerstand und Trost zusprach, und das in bewusster Beziehung zu prophetischen Trostbotschaften des biblischen Israel. Sowohl in seinem großen Prophetenroman über Jeremia Höret die Stimme aus dem Jahr 1937326 als auch in seinen späten Aphorismen ein Jahr vor seinem Tod wurde die Stimme des unbekannten Trostpropheten aus Deuterojesaja vernehmlich, die der Dichter in seine fürs Judentum trostlose Zeit hinein spricht: »Habe Trost, Israel! Märtyrer Du, nicht nur im Sinne der Folterung und Verfolgung Märtyrer, sondern mehr noch im Sinne der Dauer. Israel, der du dich des Martyriums der Dauer schämst und daher, um dein Herz zu verschleiern, den Snob der Aktualität, der Zeitgemäßheit spielst und ein fanatischer Anhänger aller leicht verweslichen Werte geworden bist! Israel, der du die tausendjährigen Leidenszüge in deinem Gesichte verwischen möchtest durch die Arroganz eines reinen diesseitigen Moralismus, habe Trost trotzdem. Gott kann eher seine Offenbarung zurücknehmen, ja seine Welt, als die Verheißung an dich. Was für ein lächerlicher Gott auch wäre das, der in seiner Allwissenheit ein Versprechen gäbe, das zu brechen er schon bereit sein müßte, während ers gibt? Glaube deinen Feinden nicht, wenn sie sagen, du bist entlassen wie ein untauglicher Sklave, ein Dienstbote alten Stils, den man Knall und Fall aus dem Hause jagt. Glaubs nicht, Israel! Zwischen deinem Gott und dir bleibt offene Rechnung, und sie wird beglichen werden zu deinen Gunsten, wenn die Gnade dereinst die Summe gezogen hat.«327

‫ – נחמו נחמו עמי יאמר אלהיכם‬nachamu nachamu ami jo’mar elohejchem – Tröstet, tröstet mein Volk, sprach euer Gott ( Jes 40,1). In diesen Auftrag war der spät324 Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus II, 64. 325 »Man könnte sagen, daß die Christenheit ganz von selbst die Geistlichen, die sich für den Dienst Gottes entschieden, und die Juden, die Luzifer als Herrn hatten, in eine ganz enge Beziehung brachte.« (ebd., 64). 326 Werfel Franz, Höret die Stimme, 409. 327 Werfel Franz, Theologumena, 250.

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exilische Prophet gestellt, der noch im Exil den Untergang des Exils kündete. Ähnlich Franz Werfel: Im amerikanischen Exil kündet er wie der Prophet den Untergang der Feinde an, wenn auch die Stunde schon später und die Last fast untragbar geworden ist. Im 6. Jhdt. v. d. Z. hatten sich die Leiden Israels noch nicht dermaßen akkumuliert wie im Jahr 1944, als täglich Zehntausende von Juden vernichtet wurden und dem Judesein ganz andere Gewichte auferlegt wurden. Da war es dem Dichter auch nicht mehr möglich wie Rabbi Akiva – den Werfel unter die »Riesengestalten«328 des Judentums zählte –, trotz der im 2. Jhdt. n. d. Z. verwüsteten Stadt Jerusalem zu lächeln, weil die eingetroffene Prophetie des Untergangs durch den Priester des Ersten Tempels, Urijah, zugleich die Weissagung des Propheten Zacharias bezeugen werde, dass »noch … Greise und Greisinnen auf den Plätzen Jerusˇalems sitzen«329 werden. Dem Willen zur vollständigen Vernichtung des Judentums, wie ihn Werfel in seinen Tagen mit einer grauenhaften Lückenlosigkeit sich vollziehen sah, konnte er nur noch den letzten Anker entgegenhalten, wie er im Glauben an den einzigen Gott und an Israels Ansprüche ihm gegenüber zu finden war. Israel, das erwählte Gottesvolk, ausgewählt und daher unzugehörig zu allen andern Völkern330, stammt von Jakob, und dieser hatte mit Gott oder seinem Engel gerungen: Israel hat in den späten Tagen Werfels eine Rechnung mit seinem Gott offen, die Gott begleichen wird. Vielleicht kann man doch in aller Tragödie ein wenig lächeln, weil selbst die Vernichtung nur das Vorletzte trifft, Israels Zeit, nicht aber seine Dauer und Ewigkeit, auch nicht sein endgültiges und schließlich ungefährdetes Ausschreiten in die Freiheit, in dem es stets Bild des Menschen war, Ebenbild Gottes.331 328 Werfel Franz, Das Geschenk Israels an die Menschheit, 55. 329 Die Geschichte erzählt, dass Rabbi Gamliel, Rabbi Eleazar ben Azarja, Rabbi Jehoschua und Rabbi Akiva über den Ölberg nach Jerusalem pilgerten; als sie, auf der Höhe des Ölbergs stehend, den verwüsteten Tempelberg sahen, weinten die drei Rabbis, Rabbi Akiva aber lächelte. Im Disput zwischen den drei Rabbis und ihm spricht Rabbi Akiva ausdrücklich von einer Abhängigkeit der beiden Vorankündigungen: »Vielmehr macht die Schrift die Weissagung Zakharias von der Weissagung Urijas abhängig: Urija weissagte: darum soll euretwegen Çijon zum Feld umgepflügt werden, und Zekharja weissagte: noch werden Greise und Greisinnen auf den Plätzen Jerusˇalems sitzen. Würde die Weissagung Urijas nicht in Erfüllung gegangen sein, so könnte ich fürchten, auch die Weissagung Zekharias werde nicht in Erfüllung gehen, jetzt aber, wo die Weissagung Urijas in Erfüllung gegangen ist, ist es sicher, daß auch die Weissagung Zekharjas in Erfüllung gehen werde. Hierauf sprachen sie zu ihm, wie folgt: Άqiba, du hast uns getröstet, Άqiba, du hast uns getröstet.« (bT Makhot 24b). 330 Werfel Franz, Theologumena, 244. 331 Ein Ahnung davon erweckte Werfel im ersten Kriegsjahr 1914/15, als der den Hymnus Lächeln Atmen Schreiten (Werfel Franz, Gedichte aus den Jahren 1908–1945, 51f) dichtete. Lächeln und Atmen geben freies Ausschreiten. »Im Schreiten der Menschen wird die Bahn der Freiheit geboren. / Mit dem Schreiten der Menschen tritt / Gottes Anmut und Wandel aus allen Herzen und Toren.« (ebd., 52). Freiheit bezeugt Gott, die endgültige Freiheit Israels nach allen Katastrophenzeiten wird den endgültigen Bund Gottes mit Israel bezeugen – und deshalb lebt Israel gegenwärtig schon im Anrecht darauf, dass dieser ewige Bund auch in den

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Deshalb konnte Werfel das Bühnenstück Jacobowsky und der Oberst, das er im Jahr 1942 schrieb, eine »Komödie einer Tragödie in drei Akten«332 nennen. In ihm bezeugen »Situationskomik«333 und mehr noch, wie Norbert Abels schreibt, der »Galgenhumor…, die alltäglich gewordene Lebensgefahr auszuhalten. Wendungen wie der letzte Autobus vor dem Jüngsten Gericht oder die Definition einer Carte d’Identité – sie beweist … daß man … mit sich selbst identisch bleibt – entstammen der Originalterminologie der Emigration.«334 So schrieb Werfel weder für sich noch unabhängig von seinem Geschick und seiner Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der über die Kontinente gejagten und in Europa faktisch vernichteten Juden. Sein Schreiben, ein starkes Zeugnis gegen die Verzweiflung, prophetisch durchwirkt, gehört und gehörte dem Judentum zu, seiner Geschichte und ihrem unbegreiflichen Rhythmus von Verfolgung und Wiederkehr, von Vernichtung und Überleben.

2.

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Franz Werfel selbst war zunächst von diesem Rhythmus noch nicht berührt. Er entstammte einer seit mehr als dreihundert Jahren in Böhmen ansässigen jüdischen Familie und kam am Mittwoch, dem 10. September 1890, in der Prager Neustadt zur Welt.335 Sein jüdisches Herkommen war trotz des v. a. in den deutschsprachigen Ländern massiv artikulierten und in allen gesellschaftlichen Bereichen praktizierten Antisemitismus im Wesentlichen noch nicht durch diese Atmosphäre bedrängt gewesen, obwohl auch in Böhmen noch vor der Jahrhundertwende der Antisemitismus deutlich zunahm.336 Seine Eltern Rudolf (21. 9. 1857 / Jungbunzlau-31. 7. 1941 / Marseille) und Albine Werfel, geb. Kussi (10. 3. 1870 / Zˇihle-1. 7. 1964 / New York), konnten auf dem langsam erarbeiteten Wohlstand der Vorfahren aufbauen und im Jahr 1882 eine Handschuhfabrik in Prag eröffnen337, die trotz der damals einsetzenden wirtschaftlichen Krise ertragreich war.338 Der kleine Bub kam jedoch in eine Welt, die religiös gesehen Spannungen mit seinem Judesein einbrachte. Denn ihn erzog ein traditionell katholisches Kin-

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Zeiten durch Gott eingelöst wird. Niemals zeigt sich das deutlicher als im Segen; um ihn hat Jakob Israel in jener geheimnisumwehten Nacht am Jabbok gekämpft (Gen 32,27). Das blieb Vermächtnis für Israel, zu dem auch Franz Werfel gehörte. Werfel Franz, Jacobowsky und der Oberst. Redaktion Kindlers Literaturlexikon, Art. JACOBOWSKY UND DER OBERST, 552. Abels Norbert, Franz Werfel, 133. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 11. Abels Norbert, Franz Werfel, 10f. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 12. Abels Norbert, Franz Werfel, 10.

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dermädchen, das auch im Haushalt die Küche führte, was jedenfalls eine koschere Küche wohl nicht zuließ. Diese Hausangestellte mit Namen Barbara Sˇimunkova, die insgesamt 43 Jahre im Haus Werfel gearbeitet hatte339, trug den kleinen Franz in die katholische Atmosphäre hinein, ohne dass jedoch die jüdische Tradition völlig verschwand.340 Auf gute Bildung für den Sohn – nach ihm waren noch die beiden Schwestern Hanna (1896) und Marianne (1899) 341 zur Welt gekommen – legten Werfels Eltern wert. Daher schickte man ihn in die Piaristenschule, in der trotz des katholischen Charakters eine große Anzahl jüdischer Kinder unterrichtet wurde. Später hatte er Erinnerungen an seinen ersten Schultag in ein Gedicht gefasst mit ihren doppeldeutigen Empfindungen von Größe, kindhafter Schwäche, Dauer und Heimweh. Im monastisch-militärischen Gefüge und seiner rauen Welt nagten vor allem die schutzlose Ausgesetztheit in der lauten Masse und die Herrschaftlichkeit des übermächtigen Lehrers am Schüler Franz Werfel, den, hunderte Kilometer von Wien entfernt, im Wesentlichen der gleiche Widerwille an der Schule erfasst hatte wie Stefan Zweig in der Kaiserstadt: Die Schule war eine Zwinganstalt der Uniformierung342 und gelenkten Vermassung, durchzogen von einem militärakademischen Drill; selbst den Erwachsenen verfolgten manchmal noch die »Kindgespenster«343 jener fernen, schweren Tage. Franz Werfels Schulerfolge blieben mäßig. Auch im deutschen K. u. K. Gymnasium in Prag, das er wie viele andere jüdische Buben in den Jahren 1900– 1909 besuchte und währenddessen auch im September 1903 Bar Mizwa in der neugotischen Maisel-Synagoge feierte344, mühte er sich, weil ihn die abstrakten 339 340 341 342

Ebd., 14. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 12f. Ebd., 14f. Die Uniformierung der Schüler des Gymnasiums zeigte sich genauso wie im Militär auch am Gewand. Am handschriftlichen Textblatt des Gedichts findet sich rechts eine Zeichnung Werfels, die den Schulbuben von hinten zeigt, eine matrosenähnliche Kappe auf dem Kopf, eine Jacke, eine knielange Hose und hochgezogene Stutzen; genormt waren auch die Schulbänke, die ganz real noch waren, was sie bezeichneten: lange, zusammengenagelte Bretter, auf denen mehrere Buben saßen (Faksimile des Gedichts Erster Schultag abgedruckt in: Franz Werfel zwischen Prag und Wien, 11). Solche Schulbänke fanden sich noch bis in die 1970er Jahre in Klosterschulen. Man hat es später noch erlebt, welche Befreiung es einem brachte, wenn man irgendwann einmal nach dem Sommer erstmals auf einem eigenen Sessel sitzen konnte, der sich sogar bewegen ließ. 343 Werfel Franz, Schlaf und Erwachen, 49. 344 Franz Werfel 1890–1945, 7f. Jungk vermerkt, dass diese Feier, die Franz Werfel nun als Erwachsenen unter die Erwachsenen der Synagoge stellte, ihn über das »Niederlagengefühl« ( Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 21) hinweggetröstet hatte, das ihm die Wiederholung der dritten Klasse des Gymnasiums zugefügt hatte. Auch war Werfel dem rituellen Judentum durchaus zugänglich, vor allem den Gesängen und einzelnen Ritualien, wie sie etwa mit dem Ausheben der Torarolle oder dem Blasen des Schofar verbunden sind. Und klar ist damit auch, dass Franz Werfel, der auf die Bar Mizwa-Feier »monatelang« (ebd., 21) vorbereitet

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Bildungsvorgänge nicht ansprachen; er hing an realen Eindrücken, die er aufsaugte, die er behielt und mit denen er seine Welt zusammenbaute; er las Abenteuergeschichten, in denen er schon etwas von den Spannungen aufnahm, die später seine Romane auszeichnen werden, und durfte mit seinen Eltern ins Theater gehen345, was ihm einen Zugang zur dramatischen Kunst einbrachte, die er, der heute völlig vergessene Dichter dramatischer Bühnenwerke, mit einer Reihe von Werken vorantrieb. Es ist kein Wunder, dass Werfels erstes Bühnenwerk, der Einakter Der Besuch aus dem Elysium (1910), ins Jahr nach seiner Matura fällt.346 Elysium, die mythologische Insel der Seligen, ist ein weltloser Traum wie die schulische Bildungswelt auch. Den Unterschied zwischen Schule und Elysium markiert der Eros, den Werfel als Jugendlicher nicht in der Schule, sondern neben ihr teils in Bordellen wie dem Gogo gesucht und erlebt hat.347 Noch später sind Erinnerungen an die dezente Atmosphäre literarisch zu finden, in der die erotischen Anfänge und manch spätere Unbeholfenheit und Scham geschützt waren.348 Unvermittelt mit dem Spiel elysischer Gedanken und ihrer schattenhaften Phantasien bleibt jedoch die Wirklichkeit, hart und fordernd wie sie ist. An der Stelle des erotischen Hochflugs hört man in der Nacht ein »Weinen klein und unbewußt. / Da schlägst du deine Decke um, / Nimmst ohne Glück und stumm / Das Kind an deine Brust.«349 Das Kind gehört Hedwig, die in der Rückblende des Dramas noch schwanger ist. Lukas, der Schatten aus Elysium, ein Abgeschiedener, der »durch die unbemerkten Schnee-Ebenen, Hügelländer und Teichgegenden Elysiums«350 taumelt, Lukas erinnert ein wenig an das Lebensdrama Franz Kafkas, dessen Liebe zu Felice Bauer mit ihrer Wirklichkeit eingetauscht

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worden war, zumindest so viel hebräisch gelernt haben musste, dass er die Texte lesen und singend darbieten konnte. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 18. Zum biografischen Hintergrund schreibt Jungk, dass das Drama dadurch ausgelöst worden war, dass Werfel die nun drastisch veränderte und verheiratete Mitzi Glaser gesehen und sich von ihr abgewandt hatte, dankbar darüber, dass ihm eine Verbindung mit Glaser erspart geblieben war (ebd., 42f). Ebd., 175; einen Spiegel dieser Erfahrungen bietet die folgende Erzählung: Werfel Franz, Das Trauerhaus, 142–199. In der Erzählung Das Trauerhaus aus dem Jahr 1927 ( Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 174f) hielt Werfel diesen Schutzraum für ein Zeichen gehobener Dezenz. »Es gehörte im Gegensatz zu einem vulgären Etablissement wie ›Napoleon‹ zu den guten Gepflogenheiten des Hauses, daß die Liebesverabredungen nicht schamlos vor allen Augen erfolgten. Die Herren empfahlen sich zum Schein von ihrer Gesellschaft, gaben unbemerkter Weise Edith die Dame ihrer Wahl kund, und die Wirtschafterin vermittelte unauffällig die Schäferstunde, nicht ohne vorher bei zweifelhaften oder unbekannten Gästen die übliche Geldsumme einverlangt zu haben.« (Werfel Franz, Das Trauerhaus, 164). Werfel Franz, Der Besuch aus dem Elysium, 13. Ebd., 20f.

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worden ist für das Schreiben und seine Möglichkeiten,351 und an Søren Kierkegaard, der schrieb, dass jemand »nicht Dichter (wurde) durch das Mädchen, das er bekam; denn durch sie wurde er nur Vater.«352 Erinnerte Sehnsucht hält ihn in der Spannung, ohne die nicht gedichtet werden kann. Auch Lukas spricht dasselbe aus: Die unerfüllte Liebe zu Hedwig setzte in ihm »die gewaltigste Kraft meiner Natur frei. Die Sehnsucht! (…) Schmerzbegierde.«353 Wird Dichtung bei Werfel das, was Hegel in der Philosophie des Religiösen als religionskritische Grundhaltung gescholten hat, ein subjektives, willkürliches »Linienziehen(s) ins Leere«354? Dichtung ein Schaffensakt phantastischer Projektionen, die aus dem Mangel geboren werden? Man wird in diesem frühen Drama schon Programmatisches für die Dichtung und Literatur Franz Werfels finden können. Dichtung erfindet nicht, sondern findet, und was sie findet, stößt ihr als Reales zu. In der brennenden Sehnsucht zelebriert der Dichter nicht den Mangel, der ihn in künstliche, manierierte Wortund Weltgebilde treibt, wie sie Mythologie und Schule hervorbrachten. Wenn auch Werfels Sprache dieses Dramas einen manchmal mehr künstlich als künstlerisch ekstatischen Zug trägt, so weist das Finale aufs Gegenteil: Lüge ist für Lukas die irreale Schattenwelt utopischer Sehnsucht, ihre Unermesslichkeit ist gezeichnet von einem rein selbstbezogenen Grundzug.355 »Und ich habe sie verloren und die Welt verloren und bin ein Gespenst.«356 Schon für den frühen Werfel offenbart sich also im Unwirklichen oder in der unerreichbaren Wirklichkeit nicht die Möglichkeit von Dichtung, sondern umgekehrt: Dichtung steigt nur aus der Wirklichkeit auf. Was Mangel an ihr ist, ist nicht nichts, sondern Depravation, Zerstörung, Untergang, reale Verzweiflung357 351 352 353 354 355

S. S. 65f. Søren Kierkegaard, zit. in: Wagenbach Klaus, Franz Kafka, 68. Werfel Franz, Der Besuch aus dem Elysium, 17. Hegel Georg Wilhelm Friedrich, Werke 16, 73. Lukas hält über seine Größe genau in dieser Hinsicht Gericht im tiefen Misstrauen gegen die elysische Schattenwelt und ihre angebliche Seligkeit: »O hätte ich, statt mich krankhaft ins Unermessene zu steigern, die Kraft dazu verwandt, dich zu erreichen. Ha, war meine Größe nichts anderes, als die Blödsinnigkeit eines zwölfjährigen Masturbanten? Wärst du jetzt mein, du dummes gewöhnliches Mädel, das ich hätte um den Finger wickeln können, ich lebte noch. Ich lebte noch in dieser angebeteten, perfiden Welt.« (Werfel Franz, Der Besuch aus dem Elysium, 23). 356 Werfel Franz, Der Besuch aus dem Elysium, 23. 357 Die Abwesenheit von Liebe hinterlässt eben nicht bloß Sehnsucht, die fiktiv wird, wenn sie nur im Zirkel des Selbst sich dreht, sondern sie wird als drückende und reale Verzweiflung des Liebesunfähigen gefühlt, der nicht ins Traumland Elysium entschwinden kann, wie Werfel im Gedicht Verzweiflung im Band Wir sind geschrieben hat: »Nacht kam herein. / Und morgen, wähnen wir, wird’s Tag. / Da gehn die Wagen wieder. / Und an den Türen läutet es. // Die Mutter mein sitzt da. / Ihr Antlitz ist nicht meins. / Sie redet viel an mich. / Ich denk an fremdes Nichts. // Die Schwester mein lacht auf. / Leicht könnte ich sie hassen. / In meiner Öde brodelt / Schon ein gemeines Wort. // Ich bin so zugebaut! / Und alles weint nach Liebe. /

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und Herrschaft des »Melech ha mowes«358, dem diese streitig gemacht werden muss. Insoweit mag ein Dichter aus dem Entzug leben und dichten, doch dies nicht, um als Mann ohne Eigenschaften (Robert Musil) im Wahrscheinlichen und Möglichen zu leben, sondern um immer nur vorwärts und hinein ins Wirkliche gelebten Lebens zu gelangen. Alle großen Romane Werfels sind aus der Wirklichkeit geschöpft, er erfand nichts, sondern transformierte, was er fand. Das war Werfels Zentrum, das er in diesem Drama Der Besuch aus Elysium ebenso pointiert hinsetzte – »Du bist auf der Welt«359 – wie im Titel seines zweiten Gedichtbandes Wir sind360 aus dem Jahr 1913. Ans Ende seiner Gymnasialzeit fügte sich, noch glanzloser, der Eintritt in die Handelshochschule, die er bald wieder verließ. Sein Vater wollte ihn daraufhin auf einem andern Weg ins ökonomische Feld bringen und zwang den 20jährigen Franz Werfel nach Hamburg, um dort bei einer Spedition kaufmännische Tätigkeiten zu erlernen. Den jungen Mann widerte an, was er dort sah: Legionen unverbrauchter Mädchen zogen an jedem frühen Morgen in die Firmengebäude ein und wurden um ihre Zukunft gebracht, ganz dem unterworfen, was er im Jahr 1931 in seiner Rede Realismus und Innerlichkeit die »alleinseligmachende Leistungsmoral«361 nannte, die mit Geld und Erfolg lockte, das »Ideal der Arbeit« ausrief und ihr Dogma installierte: »Extra pecuniam non est vita.«362 Norbert Abels beschrieb knapp und genau, was Werfel in der Spedition tat: »Unfähig, die Geschäftsbriefe für den Seegüterverkehr zu bearbeiten, beförderte er sie wütend durch die Wasserspülung ins Meer. Schon nach wenigen Wochen erteilt ihm sein Prinzipal das consilium abeundi.«363 Auf den jungen Mann, der vehement in die Literatur drängte, wurde Karl Kraus aufmerksam. Fünf Gedichte aus der noch nicht publizierten Sammlung Der Weltfreund sollten in Die Fackel veröffentlicht werden, die Karl Kraus ab 1899 bis zu seinem Tod im Jahr 1936 herausgab.364 Das galt als Ausnahme, weil Kraus in Die Fackel sein eigenes, literarisches und vor allem literaturkritisches Werk

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Ich auch nach Liebe weine, / Und hab doch keinen gern.« (Werfel Franz, Gedichte aus den Jahren 1908–1945, 39). Werfel Franz, Das Trauerhaus, 160. Werfel nennt den König des Todes, den »Todesengel«, mit einem jiddischen Ausdruck. Werfel Franz, Der Besuch aus dem Elysium, 22. Einige Gedichte der 127seitigen Erstausgabe sind aufgenommen in: Werfel Franz, Gedichte aus den Jahren 1908–1945, 29–47. Darin finden sich Dichtungen von Realgestalten wie einer alten Frau, die keuchend ihre Schritte setzt (ebd., 36f), Lebensreminiszenzen (ebd., 38, 45) und Todesdrohung, die das Leben untergräbt: »Augen blühten mir zu: Nicht vergeht unsere Zeit! / Und ich sah hängen im Schrank schon das leere Kleid…« (ebd., 42). Werfel Franz, Realismus und Innerlichkeit, 83. Ebd., 85. Abels Norbert, Franz Werfel, 21f. Joost Ulrich, Art. Kraus, Karl, 503.

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vorantrieb.365 Ein halbes Jahr später druckte Kraus nochmals fünf Gedichte derselben Sammlung ab, die diesmal bereits veröffentlicht war; Die Fackel wies darauf auch hin.366 Im Juli 1913 veröffentlichte Franz Werfel einen kleinen Text über Karl Kraus; darin findet sich die Szene eines Traumes, die geknüpft ist an einen Friedhofsgang am Tag zuvor und den Kopf von Karl Kraus beschreibt: »Man läßt einen deckellosen Sarg hinab, in dem ein ganz knabenhafter Mann liegt mit einer sehr zarten Brille vor den Augen. Er hat kurzes Haar und einen gar nicht zu verstehenden Mund. Ich liebe diesen Mund mit aller Schmerzlichkeit. Ich springe ins Grab und rufe mit besinnungsloser Ekstase (dennoch auch mit höchster schauspielerischer Lust)…: Wer ist der, des Schmerz hier voll Emphase tönt? Am Morgen weckte mich ein Brief von Karl Kraus, in dem er mir mitteilt, daß er meine von einem Freunde (ohne mein Wissen) eingesandten Gedichte in der ›Fackel‹ zu drucken beabsichtigt.«367

Doch ein halbes Jahre später kommt die abrupte Wendung: Kraus hielt, nachdem Werfel ihn mit Kurt Wolff (der sowohl seine Arbeiten wie auch weniges von Kafka und andern jüdisch-deutschsprachigen Literaten verlegte) bekannt gemacht und auf diese Weise für Kraus einen Publikationsvertrag vermittelt hatte, das Verlagshaus für eine »Umgebung … jenes fürchterlichsten Literaturmißwuchses, unter dessen hysterischer Annäherung und unruhvoller Befassung mit meinem Dasein meine Nerven seit Jahren … zu leiden haben.«368 Kraus fühlte sich eingeengt, auf Verlagslinie gebracht und brach aus. Zurück blieb ein Zerwürfnis mit Werfel, das einige Jahre später zu massiven Polemiken gereift war. Den Spott, den Kraus lyrisch gegen Werfel wandte, hielt Werfel für »eine menschliche Blamage, eine künstlerische Pleite.«369 Mit seiner Ablehnung durch Kraus stand Werfel nicht allein: Stefan Zweig wurde von Kraus unter die »widerlichen Leute«370 gezählt; von Franz Kafka hatte Max Brod den Satz notiert: »Karl Kraus sperrt die jüdischen Autoren in seine Hölle, gibt gut acht auf sie, hält strenge Zucht. Er vergißt nur, daß er in diese Hölle mit hineingehört.«371 Und dem Komponisten Ernst Krenek (23. 8. 1900–22. 12. 1991), der 1918 Franz Werfel372 und im Winter 1921/22 Anna Mahler kennengelernt und später geheiratet hatte373, blieb Karl Kraus als ein Schreiber in Erinnerung, der »mit der heiligen Raserei eines Religionsstifters«374 seine Gegner, die ihm schnell zu Feinden geworden waren, 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374

Abels Norbert, Franz Werfel, 40. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 45. Werfel Franz, Karl Kraus, 306. Karl Kraus, zit. in: Abels Norbert, Franz Werfel, 40. Franz Werfel, zit. in: Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 76. Zweig Stefan, Tagebücher, 303. Brod Max, Über Franz Kafka, 70. Krenek Ernst, Im Atem der Zeit, 357. Ebd., 278, 323–326. Ebd., 164.

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massiv einschüchtert hatte: »Das ganze Aufgebot seines beispiellosen Arsenals literarischer Sechszehnzollkanonen richtet sich massiert gegen einen Feind, der schnell mit schüchternen Erklärungen bei der Hand war, daß seine eigene Macht und Stärke völlig geringfügig und bedeutungslos sei.«375 Kreneks Metaphern waren nicht willkürlich gewählt. Im »Furor von Kraus«376 kochte chronische Unzufriedenheit. Sie gehörte nicht nur zu Kraus, sondern war ein kollektives Phänomen in der morschen österreichisch-ungarischen Monarchie, die am Ende fast nur noch die gegenseitigen Abneigungen der Sprachgruppen und chronisches Misstrauen zusammenhielt. Das war auch eine der Voraussetzungen, die schließlich aus einem Attentat in Serbien auf den Thronfolger Kaiser Franz Josephs den ersten weltumspannenden Krieg im Jahr 1914 hervorbrachte mit seinem massenhaften Abschlachten.377 Franz Werfel, zunächst für untauglich erklärt,378 versuchte, dem Militärdienst dauerhaft zu entkommen. Werfel gehörte grundsätzlich nicht zu den Kriegsbefürwortern und hielt den Krieg für ein bluttriefendes »Gespenst.«379 Ihm sprachen sein Getriebe und Gang noch weniger zu als die leere Arbeit in der Spedition einige Jahre zuvor. Auch in dieser Zeit befahl ihm die Literatur das Gefüge seines Lebens. Im Herbst 1915 wurde er dann doch zum Militärdienst eingezogen, wohnte aber nicht in einer Kaserne, sondern privat.380 1916 wurde seine Garnison an die Ostfront in Galizien gebracht; dort arbeitete Werfel als Telefonist – und fand ausreichend Zeit, weiterhin zu lesen, zu schreiben, zu dichten.381 Von den üblichen Schikanen blieb er jedoch nicht verschont. Auslöser von Sanktionen waren Kleinigkeit, Nachlässigkeit, Unachtsamkeit, die jener zwanghafte Corpsgeist hervorgebracht hatte, an dem die Österreichisch-Ungarische Monarchie seit Jahrzehnten litt. Franz Kafka hat die Sanktionslust in ihrer technisch vermittelten, pseudoerotischen Primitivität mit seiner Erzählung In der Strafkolonie literarisch geformt: Dem Delinquenten wird die Unachtsamkeit zum Todesschicksal, nicht jede Stunde in der Nacht vor der Tür des Hauptmannes salutiert zu haben.382 Appellationsmöglichkeiten gegen das Urteil bestehen nicht.383 Beides war keine Erfindung. Denn auch Franz Werfel war ähnliches unterlaufen: Er hatte, wie Peter Stephan Jungk erzählt, »einen Obersten 375 376 377 378 379 380 381 382 383

Ebd., 164. Ebd., 163. Ziemann Benjamin, Gewalt im Ersten Weltkrieg. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 65. Franz Werfel, zit. in: Rodlauer Hannelore, Buber, 208. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 69. Franz Werfel 1890–1945, 18. Kafka Franz, In der Strafkolonie, 168. Ebd., 167: »›Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen‹, sagte der Offizier und sah abseits, als rede er zu sich selbst und wolle den Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen.«

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übersehen, der an ihm vorübertritt, dies Nicht-Salutieren wurde seinem Regimentskommandanten gemeldet, der ihm die freien Tage sogleich wieder strich.«384 Noch bevor Werfel nach Galizien gekommen war, lernte er, am Knie verwundet und langsam genesend, Gertrud Spirk kennen, eine Krankenschwester des Prager Militärspitals, die wohl auch in Werfels Roman Barbara oder Die Frömmigkeit von 1929 der Gestalt der Beata die Konturen geliehen hat.385 Doch dieser Beziehung kam eine andere Frau dazwischen, die Werfel bis an sein Lebensende bestimmte: Alma Mahler-Gropius (31. 8. 1879–11. 12. 1964), eine Frau voller Spannungen, die seit ihren Anfängen in Künstlerkreisen verkehrte. Ihr Stiefvater Carl Moll gehörte zu den Mitbegründern der sog. Wiener Secession386, sie selbst zog es zur Musik387 und kam dadurch auch in Verbindung mit Alexander von Zemlinsky.388 Er zählte zu ihren engen Freunden, mit denen sich tiefere Beziehungen anbahnten. »Im Übrigen«, so schreibt sie im Frühjahr 1901 ins Tagebuch, »hat der Kerl Muth, mich zur Frau zu wollen. – Ich ließ ihn heute in die schwarzen Untiefen meiner Seele blicken, doch er schreckte nicht zurück. – Wenn er wüsste!…«389 »Krank vor Sehnsucht nach ihm«390, einem »Baum, an den ich mich klammere«391, liebt sie ihn und fühlt sich »so eins mit dem Menschen, ich kann mir eine Entfernung so absolut nicht vorstellen«392; doch meidet sie ihn zugleich und ist sich selbst »ein Räthsel!«393 Ihre Bedenken steigen aus zwei Quellen auf: Sie misstraut der Ehe grundsätzlich, denn die »Ehe ist das Grab der Liebe.«394 Und gegen Zemlinsky kommt ihr Vorbehalt aus einer antisemitisch durchtränkten Abneigung, wenn sie sich fragt: »Ob er zu den kleinen Halbjuden gehört, die ihr ganzes Leben nicht von ihrer Judenschaft loskommen? Und, dass er sich mit einem Burschen wie Wolff – ein ungewaschener Jude – hinsetzt und die Nacht verlumpt…«395 Als zuvor schon das Gerücht die Runde ging, Alma habe sich an einen Juden verloren, trägt sich ihr massiver antisemitischer Affekt in einer direkten Anrede aus, in dem ein weiteres Stereotyp eingebracht und zu384 385 386 387 388

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Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 77. Werfel Franz, Barbara, 337–339. Mahler-Werfel Alma, Tagebuch-Suiten, 762. Ebd., 673. Ebd., 649: Sie schreibt in ihr Tagebuch, dass sie Zemlinsky etwas von »meinen Sachen« gezeigt habe, Kompositionen aus ihrer Hand. Zemlinsky sagte, »wie schade es sei, dass ich nicht als Bub auf die Welt gekommen sei. Denn um mein Talent es direkt schade.« So stand es damals um die Möglichkeiten einer Frau, künstlerisch weiterzukommen. Ebd., 660. Ebd., 655. Ebd., 649. Ebd., 663f. Ebd., 663. Ebd., 655. Ebd., 665.

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gleich die Höhe der eigenen Herkunft hervorgehoben wird: »Ja glaubt ihr denn, ihr – krummnäsiges Trottelvolk – dass meine Blüthe euch zum Heile dienen wird? Ich blühe mir–meiner Kunst – und meinen Freunden. (…) Ich muss sagen, ich habe wirklich nie ans Heiraten gedacht. (…) Ich habe kein Gefühl der Liebe mehr für ihn. Wo es hin ist, das weiß ich nicht.«396 In diesen Tagebucheinträgen deutete die junge Alma sich selbst. Davon kannte Franz Werfel nichts. Doch die Frau, auf die er mehr als 15 Jahre nach diesen Aufzeichnungen traf, war sich selbst weithin gleich geblieben. Sie hatte nicht nur Aversionen gegen Juden und nahm für deren Darstellung zeitgenössische antisemitische Wortprägungen auf wie den Ausdruck »Halbjude«; er hat mit jüdischem Selbstverständnis397 nichts zu tun, sondern gehört in die Geschichte antisemitischer Erfindungen, auf deren Basis die Nationalsozialisten definierten, wer jüdisch ist und wie stark das Jüdische in ihm zugegen sein soll.398 Alma Mahler-Gropius war auch zerrissen von ehelichen und nichtehelichen Liebschaften, die sich zwischen ihrem Mann Gropius und den Freunden Werfel und Oskar Kokoschka aufspannten. Als Anfang August 1918 Alma ein Kind zur Welt brachte, blieb die Vaterschaft unklar, wenn auch der Gesichtsausdruck auf Werfel gewiesen haben mochte.399 Und Werfel selbst war in dieser Zeit von Alma ganz gebannt, wie er im Sommer 1918 in sein Tagebuch schrieb, das ihm wichtig war im Sinn von »Bemühungen gegen die Lügen, die mich verfolgen.«400 Ihm, der an der italienischen Musik und ihrem Gesang hing und gleichzeitig gegen Ende des Ersten Weltkriegs in der Schweiz vehement sozialistische Optionen und Aversionen gegen verbürgerlichte Haltungen in Reden kundgab401, wandelte sich die Welt rasch, wenn auch nicht tiefgreifend. Richard Wagner wurde plötzlich bewundert, die eigene Herkunft ihm fremd.402 Und mit dem Haus in Breitenstein, das Gustav Mahler erworben hatte und Alma besaß, bot sich ihm die Möglichkeit zurückgezogener Arbeit.403 In dieser einsamen Gebirgsgegend schuf er das Drama Der Spiegelmensch, dessen Protagonist Thamal »zur zweiten Schau«404 geboren wurde, d. h. zur echten 396 Ebd., 661f. 397 Im Judentum gibt es nur Juden/Jüdinnen und Nichtjuden/Nichtjüdinnen. Jüdisch wird ein Mensch durch Geburt oder Übertritt (Trepp Leo, Die Juden, 378), Abstufungen sind unbekannt. 398 Kershaw Ian, Hitler, 249–251. 399 Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 101f. 400 Werfel Franz, Zwischen oben und unten, 631. 401 Becher Peter, Der Sopran Gottes, 224–229. 402 Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 112f. 403 »Ende Jänner (1920) kehrte Franz Werfel nach Breitenstein, in die tief verschneite Einsamkeit zurück. ›In der Stadt bin ich nicht mehr fähig, die Feder in die Hand zu nehmen‹, hieß es im Tagebuch, ›nicht einmal zu einem Brief.‹« ( Jungk Peter Stefan, Franz Werfel, 121). 404 Werfel Franz, Der Spiegelmensch, 145.

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Selbsterkenntnis, dramatisch geladen durch Selbstverfolgung und Selbstflucht405 und bestimmt dazu, die »Spiegelwelt«406 versinken zu lassen; es geht um die biografisch gebundene Abkehr von Elternwünschen407 und vor allem um die Selbstentdeckung als »Instrument« des echten, tiefen Wortes, wie der Spiegelmensch dem Thamal zuspricht: »Was so die Dichter und Weisen schwatzen, Sind schwächer als Spatzen, Sie fliegen kaum auf die Dächer. Doch wo dein Wort seine Schwingen breitet, Ist ihm keine Grenze, kein Ende bereitet. – Du gleichst darin den berühmtesten Betern, Vor allem Mose, vor dessen Zetern Jehova selber sich mußte verstecken. Fühlst du nicht, wenn du sprichst unter Leuten Wind um die eigenen Schläfenecken? Die andern sind still, gedrückt und erschrecken. Und du weißt es nicht zu deuten?«408

Mit einem Gedicht zu Beginn hat Werfel das Stück »Alma Maria Mahler«409 gewidmet und die Selbsterkenntnis mit ihr verbunden. Damit war Werfel nun auf eine Bahn gekommen, die ihn immer weiter vorwärts trieb. In den kommenden Jahren war er immer wieder in der einsamen Welt Breitensteins, um unabgelenkt in »(w)ahnsinnige(r) Einsamkeit« wie ein »Mönch«410 zu arbeiten. In Wien lebte das Paar ab 1919 in einer Wohnung in der Elisabethstraße 22 und 1931–1937 in einem Palais auf der Hohen Warte im Westen der Stadt, unmittelbar neben Almas Mutter und ihrem Stiefvater.411 Die Beziehung zwischen beiden war teils höchst spannungsreich. Anna Mahler, Tochter aus Almas Ehe mit Gustav Mahler, lebte selbst in einer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und hatte das Verhältnis zwischen Alma und Franz Werfel miterlebt. Ihr Resümee ist, nicht nur weil es auf eine doch lange Zeit der Beziehung zurückblickt, ebenso spanungsreich: »›Werfel hat oft, schon in der Wiener Zeit, zu mir gesagt: »Ich weiß nicht, ob die Alma mein größtes Glück oder mein größtes Unglück ist«‹, erinnert sich Anna Mahler, ›ich glaube, er hat sich erst in Santa Barbara innerlich ganz von ihr gelöst. Ja: dort, in den letzten Jahren seines Lebens, während der »Stern der Ungeborenen« entstand, befreite

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Ebd., 174. Ebd., 250. Ebd., 165. Ebd., 154. Ebd., 135. Franz Werfel, zit. in: Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 115. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 196.

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er sich von ihrer Übermacht. Aber den Endsieg über ihn hat sie wahrscheinlich doch noch nach seinem Tode errungen: es gibt hartnäckige Gerüchte, daß sie gemeinsam mit ihrem Freund, Pater Georg Moenius, so etwas wie eine »Begierdetaufe« vorgenommen hat. Denn das war ihr ja unbedingt das Wichtigste: daß der Franzl nicht als Jude vor Gott hintrete.‹«412

Anna Mahler-Werfel bündelte hier vieles: Dass sie vom Endsieg spricht, bezieht den Gehalt aus der Schoa und lenkt ihn direkt auf die Auslöschung des Judesein Franz Werfels durch die Taufe eines Toten, mit der also der Endsieg vollstreckt werden soll – und zwar dauerhaft, eschatologisch. Das ist von Almas deutschnationaler Gesinnung und ihrem Zuspruch zur nationalsozialistischen Politik bestimmt, die zwischen beiden Partnern immer wieder zu heftigen Konflikten geführt hatten413, nicht zuletzt deshalb, weil eine solche Weltanschauung von selbst die prinzipielle Herabsetzung Werfels als eines Juden implizierte. Almas antisemitische Überzeugung wurde noch zusätzlich durch Johannes Hollnsteiner gestärkt, Ordenspriester aus dem Stift St. Florian, Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien414, politisch im Austrofaschismus zu Hause und einer der Geliebten Almas.415 Allerdings war Alma nach dem sog. Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 wegen der Barbarei und Gewalt bestürzt, mit der sich der Nationalsozialismus zeigte.416 Doch das minderte nicht, dass sich Alma am Judesein Franz Werfels ständig rieb. Jedenfalls fällt mit der Beziehung zu Alma auch Werfels gesteigerte und langsam auch ein wenig veränderte literarische Arbeit zusammen.417 1924 publizierte er seinen ersten Roman Verdi, in dem er seine kurzfristige Bewunderung Richard Wagners wieder ablegte. Zwei Jahre später, nach einer Reise, die ihn auch nach Jerusalem418 gebracht hatte, schrieb er das Drama Paulus unter den Juden. In Ihm legte Werfel seine eigene Auseinandersetzung mit dem Frühchristentum auseinander419; so entscheidende Konfrontationen wie die zwischen Jakobus und

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Anna Mahler, zit. in: ebd., 337f. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 238; Abels Norbert, Franz Werfel, 108. Dingel Irene, Der Abendlandgedanke im konfessionellen Spannungsfeld, 225. Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 210f, 220 und 245. Abels Norbert, Franz Werfel, 111; Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 251f. Ernst Krenek sah das sehr pragmatisch und mit polemischem Unterton, wenn er in seinen Erinnerungen schreibt, »Werfel wurde zur Hauptquelle ausgebildet« (Krenek Ernst, Im Atem der Zeit, 357) von Alma, damit ihr exzessiver Lebensstil auch finanziert werden konnte. Darum misstraute er der literarischen Produktion Werfels, obwohl er »außergewöhnliches Talent und Können besaß, die Möglichkeiten eines jeden literarischen Mediums so intensiv wie nur möglich zu nutzen. Leider habe ich zuviel über die verborgenen Beweggründe seiner künstlerischen Aktivitäten erfahren.« (ebd., 360f). 418 Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 164. 419 Langenhorst Georg, Die Apostel, 445.

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Paulus um die Bedeutung der Tora laufen ab420 oder eine andere zwischen Gamaliel und Paulus um die Frage der Gottheit Jesu.421 Werfel stellte die jüdischen Positionen nicht als unterlegen oder überholt dar. Gamaliel und Paulus ließen sich für ihn in kein Schema des Übergangs oder der Aufhebung bringen.422 Als wahren Helden dieses Dramas bezeichnete Werfel in einem offenen Brief nicht Paulus, sondern den Repräsentanten des Judentums, »die lichteste Gestalt, Gamaliel.«423 Und in einem Brief an Sigmund Freud hatte Werfel ausdrücklich betont, er habe dieses Drama »als Jude geschrieben«424, der auf den tragischen Augenblick hinschaute, der die beiden Möglichkeiten der Einheit von Judentum und der messianischen Gruppe eben verlor. 1929 wurde sein offizielles Judentum auf die Probe gestellt. Etwas mehr als eine Woche vor der Eheschließung mit Alma am 6. Juli trat Franz Werfel aus der 420 »PAULUS Jesus, der Christus, ist über dem Gesetz! – JAKOBUS springt auf. – SIMON PETRUS blickt sich scheu um Gott, der gerechte! Sprich leise! Du wirst viel Verwirrung bringen, Paulus. – JAKOBUS grimmig Nichts wirst du bringen, was der heiligen Gemeinde nicht dient. Hüte dich, Mann! Haben wir gelitten und geblutet, ja geblutet auch durch deine Schuld, damit du bekehrt werdest, unser Werk zu stören!? Mit Blut und Weisheit haben wir die Kirche des Christus geschaffen. Sie lebt im jüdischen Gesetz ewiglich. Denn der Herr selbst hat gesagt: Solang Erd und Himmel bestehn, wird kein Sätzlein der Thora verschwinden. – PAULUS Hat Er selbst denn das Geheimnis des Christus völlig erkannt? – JAKOBUS Hab ich dich nun, Rabbi, du!? Besserwisser unter den Besserwissern! Lästerst du den Herrn!? – PAULUS Erhärtet ist aus der Thora… – JAKOBUS Deine Hoffahrt ist erhärtet, die unbekehrte!« (Werfel Franz, Paulus unter den Juden, 491f). 421 »GAMALIEL erhebt sich Schaul! … Im Tempel bist du … Sterbehemden tragen wir … Dank der Versöhnung, die ich schaffen will am Tag der Versöhnung! Leise und fest Was hat die Liebe deines Jesus verwandelt? Nichts hat sie verwandelt, wie sein Zorn nichts verwandelt hat. Die Wechslertische im Tempel warf er um, und am nächsten Tag standen sie wieder. Nicht er und nicht ich können das Böse bannen, nur das Gesetz, das Geheimnisvolle, dem wir zum Leben dienen, die heilige Bindung der Menschen! – PAULUS Die Bindung ist morsch! Wie eine leere Haut liegt das Wort am Wege! – GAMALIEL mit mühsamer Fassung Das hat dieser Mensch Jesus nicht gesagt! – PAULUS Von einem Menschen spricht Rabbanu!? Ach, die Welt versinkt vor mir, Juden und Heiden! Und nur du bist da, du und er. Selber will ich fortgebannt sein von ihm, wenn du, Israels Held, jetzt, jetzt ihn erkennst. Ein Mensch!? Hat jemals ein Mensch den Tod und die Verwesung gemeistert!? Ist jemals ein Mensch leiblich auferstanden!? Das Licht, das mit mir sprach vor Damaskus, war’s ein Mensch!? Hat ein Mensch mich von mir selbst erlöst!? Kann ein Mensch Gottes erneuernde Gnade spenden!? Nein, Rabbanu! Das ist kein Mensch! Er zog an die Menschheit wie ein Kleid, wie du und ich dies Sterbegewand. Er selbst, Messias, die leibgewordene Schechina, Gottes Sohn, der war, ehe die Welt war! – GAMALIEL geht schwer atmend auf Paulus zu Schaul! Um dein und meinetwillen sag: Er war ein Mensch! – PAULUS Wie kann ich’s! Aus uns Menschen kommt die Erneuerung nicht! – GAMALIEL Aus uns Menschen kommt sie allein! Um dieses Tempels willen sag: Er war ein Mensch! – PAULUS Nicht im Tempel, am Kreuz ward des Sühnopfers Blut ausgesprengt. Nun ist die ganze Welt der Tempel des Opfers.« (Werfel Franz, Paulus unter den Juden, 528f). 422 Wallas Armin A., Das Volk Israel, 45f. 423 Werfel Franz, Zwischen oben und unten, 596. 424 Franz Werfel, zit. in: Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 168.

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jüdischen Gemeinde aus, kehrte jedoch ohne ihr Wissen am 5. November 1929 wieder in die Gemeinde zurück425 und verließ sie bis an sein Lebensende nicht mehr. Dieser Austritt war eine Ehebedingung, die dem Juden Franz Werfel gestellt worden war und zeigte, dass Alma ihre judenfeindliche Haltung niemals aufgegeben hatte. Unter dieser Bedingung also band sie sich an den Mann, der für ihren Lebensstil die »Hauptquelle«426 geworden war. Und Werfel schrieb weiter. Im selben Jahr veröffentlichte er Barbara oder die Frömmigkeit – einen Roman, der trotz der autobiografischen Einbindung einer der Hauptfiguren, Barbara Sˇimunkova, nur vage Anlehnungen an Werfels eigenes Leben zeigte427 – und begann mit den Arbeiten zum Roman Die Geschwister von Neapel, den er 1931428 publizierte. Dieser Roman ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Zum einen behielt sich Werfel eine besondere Nähe zu ihm429; zum andern – und das begründet wohl diese Nähe – brachte ihn dieser Roman sowohl thematisch als auch formal weiter vorwärts in seinem eigenen Judentum.430 Das Thema des Gesetzes, figuriert in der Vatergestalt (ein Konnex, der diametral der Kafkaschen Verbindung von Gesetz und Vater entgegensteht), kann als ebenbildliche Spiegelung Gottes gelesen werden – in aller Differenz, weil über das Ebenbild »viel Verderbnis«431 gekommen ist, wie Werfel später seinen Propheten Jeremia wird sagen lassen. Die formale Seite aber brachte Werfel tief ins biblische Geschehen hinein, weil sie etwas davon zeigt, was man biblisch Sendung nennen

425 Dieses Faktum ist am Matrikenamt der Israelitischen Kultusgemeinde dokumentiert und wurde mir in einem Email am 5.12. 2012 von Wolf-Erich Eckstein, dem Leiter des Matrikenamtes, bestätigt. Die Löschung des Kontos erfolgte wegen Werfels Emigration. Vgl. auch: Steiman Lionel B., Franz Werfel, 11. 426 Krenek Ernst, Im Atem der Zeit, 357. 427 Vor allem die Entsprechungen zwischen dem Protagonisten Ferdinand und dem Autor Franz Werfel sind gebrochen durch eine fundamentale Differenz: Während Werfel, ähnlich wie Stefan Zweig, Kriegsgegner und Pazifist war, kam Ferdinand der Krieg zupass, weil er ihn aus seiner misslichen studentischen Lage gelöst hatte. (Wagener Hans, Im Osten nichts Neues, 240). 428 Den zeitlichen Rahmen dieses Romans umspannen zwei Todesfälle, die Werfel getroffen hatten: 1929 starb Hugo von Hofmannsthal, ein Tod, der ihn traf, weil ein echter Dichter dahingegangen war (Werfel Franz, Hugo von Hofmannsthal, 303). – Im Jahr 1931 starb Arthur Schnitzler, mit dem Werfel mehr als ein Jahrzehnt eng befreundet war (Abels Norbert, Franz Werfel, 91); besonders seine »Unbestechlichkeit und seine Einsamkeit« (Werfel Franz, Arthur Schnitzler, 321) hatte Werfel an ihm geschätzt. 429 Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 197. 430 Norbert Abels ist in der Einschätzung zuzustimmen, dass der Roman Die Geschwister von Neapel, situiert im italienischen Faschismus und im Niedergang dieser jüdischen Kaufmannsfamilie um einen verwitweten Vater und seine sechs Kinder, weder seine endgültige Trennung vom Judentum, wie Peter Stephan Jungk meinte ( Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 181f), noch eine irgendwie angedeutete Überbietung des Judentums durchs Christentum nahelegt (Abels Norbert, Franz Werfel, 91). 431 Werfel Franz, Höret die Stimme, 243.

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kann: Was er schreibt, gehört nicht nur ihm, sondern dafür wird er Organ, mehr noch, er wird Zeuge dessen, was ihm schreibend und erfahrend widerfährt. »Wenn ich als Autor, was ja immer müßig ist, mein eigenes Gefühl verdeutlichen soll, das von den Figuren und Szenen dieses Werkes ausging, so hatte ich beim Schreiben immer die sonderbare Empfindung, daß hinter allen Worten andere, ungesagte Worte mitschwingen. Ich selbst war ganz erstaunt darüber, denn es lag ursprünglich gar nicht in meiner Absicht, meiner Dichtung die Gestalt zu geben, die sie heute besitzt. Von einem gewissen Augenblick an aber gewannen die Figuren ein diktatorisches Eigenleben und wählten ihren Weg, so daß ich in die glückliche Lage kam, sie gleichsam nur beobachten zu müssen. (…) Während ich aber bei anderen meiner Werke oft verstandesmäßig vorausgesehen habe, wohin sich der Keim entwickeln kann, so war es für mich überaus überraschend, daß diese Entwicklung bei den ›Geschwistern von Neapel‹ anderen Gesetzen zu unterliegen schien, als sonst. Ich müßte fast sagen, alle Worte, wie etwa Intuition, wären nicht richtig, weil all das Geschehen in diesem Roman mit einem Schlag außerhalb meiner Person real dastand, so voll eigenem Leben, daß ich gar keine andere Pflicht hatte, denn als teilnehmender Mensch diesem Geschehen aufzeichnend zu folgen.«432

Worte als Andeutung des Ungesagten, das den Worten überhaupt erst ihre Bedeutung schenkt, gehören ebenso zum biblischen und besonders zum prophetischen Gestus wie die Gewissheit zu bezeugen, was in vollem Sinn wirklich geworden ist, wirksam und wirkmächtig, gerade auch wenn es viele andere weder sehen noch hören (wollen). Das ist es, was Franz Werfel, und zwar nicht erst ab diesen Jahren, ganz klar als jüdischen Autor kenntlich macht. Diesem Stil und der Zeugenhaltung, die ihn hervorbrachte, blieb er treu. Während seiner zweiten Reise in den Orient war er wieder Zeuge geworden. Diesmal sah er grässliche Bilder aus den Jahren 1915–1917, die ab der Errichtung von Todeslagern im Deutschen Reich wieder und nochmals vermehrt Wirklichkeit wurden: verstümmelte Leichen, mit Haut überzogene, knochendürre Reste einst blühenden Lebens, Kindersklaven, zu Tausenden ermordet – Dokumente des nationaltürkischen Genozids an den Armeniern. Von ihm erzählte er nach ausführlichen Studien möglichst authentisch433 im Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, der 1933 erschien und den militärtechnischen Abstraktionen widerstand, weil er Zeuge geworden war.434 Armenische Christen halten ihm deshalb bis heute ein großes Andenken, nicht nur weil er eine Geschichte dieser Vernichtung zur Weltliteratur gemacht hat, sondern auch weil er mit diesem Zeugenblick das Kommende ahnte und heraufziehen sah.435 Diese Einschätzung ergibt sich nicht nur post festum. Denn 432 433 434 435

Werfel Franz, Zwischen oben und unten, 601–603. Franz Werfel 1890–1945, 46. Werfel Franz, Die vierzig Tage des Musa Dagh, 583. Krikorian Mesrob K., Franz Werfel und Komitas, 50.

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der Roman trägt deutliche Züge jüdischer Tradition, die mit den vierzig Tagen ebenso formativ wirkt wie mit dem Mose-Namen und der Entsprechung zwischen Mose und dem Romanprotagonisten Gabriel Bagradian. Wie Stefan Zweig, so traf auch Werfel die Bücherverbrennung im Mai 1933, wenn auch noch nicht diesen Roman, der im März 1933 abgeschlossen und im Herbst veröffentlicht worden war. Doch im Frühjahr 1934 wurde er in Deutschland von der nationalsozialistischen Administration als volksgefährdend verboten.436 Zur gleichen Zeit gab Alma noch große Bankette auf der Hohen Warte, an denen sich Werfel immer weniger beteiligte. Auch Stefan Zweig war zu Gast und gab ein Bild dieser Feste in einem Tagebucheintrag vom 5. Dezember: »Abends dann bei Werfel somptueuses Fest, eine peinlich luxurieuse Villa, ein peinlich gutes Essen mit Chamagnerströmen, alles, ein Prinz Schwarzenberg und Tandler, Coudenhove und Alban Berg, Moll und Salten, Auernheimer, Ernst Benedikt und Schönherr, Zsolnay und Czokor, alles was es nur gibt. Aber er selbst[,] Werfel, rundlich wie ein Schmierencomponist, altväterisch in seinem Smoking, ein Bäuchlein unter der Weste verbirgt hinter einem scurrilen Aussehen sein Genie – sie wiederum, weich und füllig, ganz Dame der Repräsentation und als solche bezaubernd. Wunderbar in solchem marmornen Käfig solche Dichtwerke zu schaffen.«437

1935 trafen ihn zwei Todesfälle: der Tod seiner Stieftochter Manon, die der Kinderlähmung erlag, und der Tod von Barbara Sˇimunkova438; zugleich engten die politischen Entwicklungen Franz Werfels Möglichkeiten immer stärker ein und ließen ihn gleichzeitig immer deutlicher sein Judesein fühlen; er legte es nicht ab, sondern nahm es ganz bewusst an, um es zu vertiefen, was seine Ehe nicht leichter machte. Im Drama Der Weg der Verheißung nahm er Israels Drangsal auf und sprach vom ewigen Bund, der nicht preisgegeben wird – eine Thematik, die Werfel bis in seine letzten Aufzeichnungen und in den letzten Roman Der Stern der Ungeborenen439 mitnehmen wird. »Der Engel der Endzeit Ihr Schläfer des Schmerzes! Kein Zeitengericht Kann Israel löschen und machen zunicht. Der ewige Bund, die Verheißung des Herrn Wird währen länger als Sonne und Stern. Seid dankbar dem Leid! Denn was auch geschieht, Ist göttliche Kraft, die euch höher zieht.«440

436 437 438 439

Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 213. Zweig Stefan, Tagebücher, 359. Abels Norbert, Franz Werfel, 102; Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 226f. Werfel Franz, Stern der Ungeborenen, 295. Bemerkenswert ist auch, dass der Roman in 26 Kapiteln gegliedert ist. Diese Zahl war Werfel gewiss nicht unbekannt, sie ist die Zahlensumme des unaussprechlichen Gottesnamens JHWH / ‫יהוה‬. 440 Werfel Franz, Der Weg der Verheißung, 175.

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In diesem Drama hatte sich der Jeremias-Stoff schon präformiert, wenn auch der Weg zum Prophetenroman dem Dichter noch nicht klar war. In den Jahren 1936 und 1937 schrieb er schließlich Höret die Stimme, »eine … uferlose, gefährliche, und wohl undankbare Arbeit«, die ihn aber fesselte, weil »das Epos des Propheten Jeremiah … dramatisch und geschehensmäßig am fruchtbarsten ist.«441 Ähnlich wie bei Die Geschwister von Neapel geriet Werfel in die Geschichte selbst hinein und wurde zum Künder und Zeugen des biblischen Künders und Zeugen. Diese Doppelung trägt den Roman selbst, den eine Rahmengeschichte umfasst, die Jeremia unmittelbar in die Gegenwart bringt und zur zeitgenössischen Warnung und Mahnung werden lässt. Den Sinn dieser Rahmengeschichte nicht erkannt oder abgewertet zu haben, weist den jeweiligen Interpreten in seiner religiösen Unkenntnis oder Ignoranz aus, die er von Alma Werfel übernehmen konnte. Denn sie hatte in einer posthumen Ausgabe dafür gesorgt, dass der Rahmen mit dem Protagonisten Clayton Jeeves, in dessen einmaliges Blackout an einem Nachmittag um 5:37 Uhr am Tempelberg die ganze Prophetengeschichte fällt, einfach gestrichen wurde, wie Wolfgang Paulsen schrieb. Er selbst hielt diesen Rahmen für ein »Schlinggewächs«442, für »etwas Künstliches«, gebaut mit »unbeholfene(n) Brücken«443, und mutmaßte, Werfel hätte sich im Grunde nur auf »ein jüdisches Amenti eingelassen, wie sein Jeremias sich auf ein ägyptisches: das Totenreich.«444 »Werfels kreatives Sich-Verlieren in diese dunkle Welt«445 eines alten Propheten ende schließlich mit einem Kollaps, weil »Werfel mit seinem Bemühen um eine Wiederfindung seines jüdischen Erbes, falls es um sie in diesem Roman gegangen sein sollte, gescheitert war.«446 An dieser Einschätzung Paulsens stimmt so gut wie nichts. Er verfehlt deshalb den Sinn der Rahmengeschichte wie auch die Substanz der in sie eingebetteten Prophetengeschichte, weil er sie ohne jede Bezugnahme auf jüdische Tradition deutet und deshalb nichts versteht, nichts von der Rahmenhandlung, nichts von der Prophetengeschichte und daher nichts von der Verbindung zwischen beidem. Paulsen vollzieht damit literaturtheoretisch Alma Werfels tiefgreifende Abneigung jüdischen Glaubens. Er hat keine Ahnung von der fortlaufenden Tora, die die Gesamtkonzeption des Romans begründet und bedingt, und zwar sowohl in seinem Titel, in dem das Schma Israel merkbar anklingt, wenn man es kennt, wie auch in seinem Drama, in dem es um die Auffindung der Tora und um die an sie gebundene Lehre447 geht, die den ganzen Bogen spannt bis ans Ende der Jeremia441 442 443 444 445 446 447

Werfel Franz, Zwischen oben und unten, 787. Paulsen Wolfgang, Franz Werfel, 161. Ebd., 157. Ebd., 174. Ebd., 177. Ebd., 192. Werfel Franz, Höret die Stimme, 177.

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Geschichte448 und Clayton Jeeves zu einer Praxis aus eben diesem religiösen Geist ruft. So läuft die Tora durch die Zeiten Israels, von ihren Anfängen, die mit Mose identifiziert werden, über Propheten wie Jeremia, die sie in ihrer Zeit lebten und zeitgerecht kündeten, über Dichter wie Franz Werfel, die die Tora ihrer Gegenwart ebenso zeitgerecht nahebringen wollten, Abraham Sutzkever und Elie Wiesel, deren Gesamtwerk durchwirkt ist von unzähligen Elementen der Tora, oder Aharon Appelfeld, dessen letzte beiden Romane Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen und Auf der Lichtung ohne den Klang und die Worte der Tora nicht hätten geschrieben werden können. Die Tora läuft weiter bis in die heutigen Tage und verknüpft teils entlegene Zeiten miteinander, jedes Mal eben auch, wenn Höret die Stimme wieder gelesen und neu belebt wird. Im Schma Israel, das in Höret die Stimme mitklingt, ist die Frage des Schabbat ebenso eingebaut wie die am Ende des Schma Israel erinnerte große Konfrontation mit Ägypten und den kommenden versklavenden Mächten. Paulsen hat das alles nicht gesehen. Darum ist auch seine Vermutung, dass Werfel den Gott des Romans in einer zeitgenössisch nicht mehr integrierbaren Form de facto »abschreiben«449, also aufgeben musste, nicht zuletzt, weil dieser Gott immer Gegenspieler, nie Partner war450, getragen von einem Überwindungsgedanken, wonach Judentum allenfalls als historische Vorbereitung der christlichen Vollendung gelten könne, die auch Werfel vollzogen hätte und darin bestünde, dass Gott zum Partner des Menschen geworden wäre – als wäre nicht eben das die Mitte der Prophetie Israels.451 Damit wird Judentum generell historisiert und zeitgenössisch irrelevant. Übersehen wird dabei, dass und wie Werfel den biblischen Gott Israels und seinen Künder sehr genau an der Vorlage des Prophetenbuches orientiert und so einen Gottesbezug entfaltet hat, der bis ins gegenwärtige Judentum fundamental ist; und übersehen wird dabei auch, dass mit solchen Interpretationen die Bestrebungen der Liquidation des Judentums nachträglich nochmals an einem Beispiel sanktioniert werden. Dem steht hier die Weigerung entgegen, aus der heraus auch Werfel seine Schriften bis zu seinem Tod verfasst hatte: Israel gehört nicht auf den verrottenden Haufen der Geschichte; denen, die Israels Untergang gewollt und organisiert haben von Tiglat-Pilesers und Nebukadnezars Herrschaft an bis heute, muss der Sieg streitig gemacht werden, wie es Emil Fackenheim452 als 614. Gebot der jüdischen Tradition formuliert hat – ein Gebot, das abermals den fortlaufenden Prozess der Tora und ihrer Lebendigkeit anzeigt. 448 449 450 451 452

Ebd., 620–629. Paulsen Wolfgang, Franz Werfel, 170. Ebd., 171. Heschel Abraham J., The Prophets, 285–298. Fackenheim Emil L., To Mend the World, 299.

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Höret die Stimme war Botschaft dieser Zeit, in der Werfel den Roman schrieb; diese Zeit war gefährlich dunkel, nicht der Gott Israels und die Konfrontation mit ihm. Den gefährlichen Charakter dieser Zeit gab nicht Gott vor, sondern seine Feinde, die mit dem Feuer des Hasses alles, was an Israels Gott erinnerte, einäschern wollten: Gebäude, Bücher, Torarollen, Jüdinnen und Juden. Als diese Feinde im März 1938 hoch offiziell nach Österreich kamen, wo schon Unzählige sogenannter Illegaler, also in Deutschland in die Führerpartei eingeschriebene Österreicher, lebten und dem Anschluss entgegenfieberten, weilte Werfel auf Capri. Nun begann die Zeit seiner Flucht. Erschwert wurde sie durch einen ersten Herzanfall im Juli 1938.453 London, Paris, Sanary-sur-mer, wo sich viele jüdische Flüchtlinge fanden, Bordeaux, Lourdes, Marseille, Narbonne, Barcelona, Madrid, Lissabon – Landkarte der Flucht mit Orten und Städten, in die er unfreiwillig kam. Überall dröhnte das Echo der peitschenden Demagogie des Führers. Im Herbst 1938 ergoss sich Werfels Zorn über dieses mörderische Deutsch in das Gedicht Der größte Deutsche aller Zeiten: »Des Teufels Kreuz am Rocke, Tief in der Stirn die Locke, Das Chaplin-Bärtchen wie ein Klecks: Das ist die Dämonie des Drecks. Dem ›Rassensumpf‹ entquollen Und früh schon giftgeschwollen, Bringts dieses trübe Irgendwas Mit Ach und Krach zur Vierten Klass. Was bürgerlich mißraten, Gerät zu Göttertaten. Ein niedres Nichts voll Niedertracht Sich selbst vermillionenfacht. Er eint die deutschen Stämme Zum Volk der Morchelschwämme. Zum Himmel stinkt, was er geeint, Das deutsche Wort verdorrt, versteint. Die Stimme gellt inbrünstig. Viel Ohren sind ihr günstig. Und wenn sie durch den Äther bellt, Wird sie zum Ohrenwurm der Welt. Wir trotzen ihrem Zeichen Als Lebende und Leichen. Im Innern weiß es dieser Grind, Das wir, das wir die Sieger sind. 453 Abels Norbert, Franz Werfel, 112.

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Die Welt wird Blut erbrechen. Das Reich bezahlt die Zechen. Dem Volk bleibt Fluch und Fron zum Lohn Und eine Hoffnung: Davids Sohn.«454

1939 hatte Werfel noch die erste Fassung des Romans Der veruntreute Himmel fertig bekommen455, eine traditionelle Geschichte katholischen Handels um den Himmel. Cella oder Die Überwinder, eine Fluchtgeschichte dieser Tage, blieb der »Versuch eines Romans«456 im Sturz der Ereignisse, da man Leute wie des Dichters alter Ego »Doktor Bodenheim«457 aus den Zügen holte; Dr. Bodenheim war sich sicher, dass solche Bestien, die nun walten, nur von der »Parteigesinnung«458 der Nationalsozialisten hervorgebracht werden konnten. Am vorläufigen Ende der gefährlichen, erschöpfenden und geglückten Flucht459 erreichte Werfel mit seiner Frau und vielen andern am 13. Oktober 1940 Hoboken (New Jersey).460 Hier, am neuen Kontinent, brachen schwere Vorwürfe aus Alma461, vor denen Werfel in die Arbeit floh. Er machte sich nun daran, nach seinem Entkommen ein Gelübde einzulösen. Im 1941 verfassten Roman Das Lied von Bernadette hielt er seiner »angstvolle(n) Zeit«462 »das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit (entgegen)«463 Kein katholischer Roman, keine indirekte Konversionsandeutung ist dieses Werk, sondern die komponierte Geschichte eines Menschen, der vom Heiligen gerührt worden ist und glaubte; am Ende, so sieht Werfel deutlich, lässt sich mit den festgerammten Formulierungen des Glaubens nichts mehr anfangen.464 Deutlich wird das besonders an der Inkommensurabilität zwischen Bernadettes Glauben und dem kirchlichen System, das sich mit seinen Formeln dieses ins Weite entkommenen Menschen bemächtigen wollte.465 Dieser Roman wurde in Los Angeles fertiggestellt, wo das Ehepaar Werfel 1941–1945 lebte. Geglückte Flucht, angekommen im Exil, wo nichts mehr nach 454 Werfel Franz, Gedichte aus den Jahren 1908–1945, 152. Mit dem Sohn Davids erinnerte Werfel daran, dass die Deutschen christlich waren und allein durch die Umkehr zu dieser Hoffnung ihre Humanität wieder finden können. Hellsichtig sah er die kommende Implosion dieser »Dämonie des Drecks«, die Israel trotz allem überstehen wird. 455 Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 266. 456 Werfel Franz, Cella oder Die Überwinder, [3]. 457 Ebd., 211. 458 Ebd., 221. 459 Unvorstellbar dramatische Szenen dieser Flucht sind beschrieben in: Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 279–282. 460 Ebd., 285. 461 Ebd., 293. 462 Werfel Franz, Das Lied von Bernadette, 11. 463 Ebd., 12. 464 Ebd., 518. 465 Ebd., 535 und 538.

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Hause, sondern alles nur nach vorn weist und zum peinigenden Widerfahrnis wird, das Zuhause endgültig verloren zu haben, wie Werfel in einem späten Aphorismus vermerkt hat: »Vielleicht ist es gottgewollte Erziehung durch das Exil, daß die unabänderlich Emigrierten Heimat nur mehr in der Form des Heimwehs besitzen dürfen. Aller Fortschritt ist eine Klimax von Losreißungen. Die Pflanze wurzelt unbeweglich in ihrem bißchen Erdreich, das Tier schweift in engem Umkreis umher, der Mensch verreist und kehrt zurück. Das Exil aber, als Gleichnis der Seele gesehn, ist ein Zustand, in dem es kein Zurück mehr gibt, denn der Wegweiser, auf dem geschrieben steht ›Nach Hause‹, weist immer nur vorwärts.«466

Immer nur vorwärts. Doch weit nach vorn ging es nicht mehr. Herzinfarkte warfen Werfel nieder und brachten ihn an seinen Lebensrand. In zwei späten Gedichten wurde dem Totentanz mit seinem wilden Kreisel und Eine(r) Stunde nach dem Totentanz467 nochmals nachgespürt: »Der Tod hat mich zum Tanz geschwenkt. Ich fiel zuerst nicht aus dem Trott Im Totentanz und steppte flott, Bis er das Tempo wilder lenkt. … Doch plötzlich ließ er fallen seine Beute, Denn in des Ersten Schweigens Alphabet Sprach Er zu ihm zwei Worte nur: Nicht heute!«468

Herr über Leben und Tod war für Werfel Gott allein. Der Tod, so glaubte er, nimmt den Menschen nicht ohne seine Einwilligung, wie er im Gedicht Der allerletzte Augenblick schrieb, das unmittelbar auf die beiden Totentanzgedichte folgte; da wird nicht der blanke Tod, sondern der Todesengel geschickt: »›Von allen Wesen‹, spricht er, ›die wir zählen, Starb keins, das nicht gewollt. Auch du darfst wählen.‹ Der Kranke langsam seine Lippe schleckt, Zu prüfen, wie das Leben wirklich schmeckt. Es schmeckt so angebrannt, so pickig-schal, Unmöglich, es zu schlucken noch einmal. Ja oder Nein? Der Engel fragend blickt. Dann lächelt er. Der Kranke hat genickt.«469

466 467 468 469

Werfel Franz, Theologumena, 286. Werfel Franz, Gedichte aus den Jahren 1908–1945, 181. Ebd., 180. Ebd., 182.

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So geht Werfel als Exilant auf seinen Tod zu. Ein bitteres Schicksal endet. Dieser Tod gehörte dann zu ihm, trotz allem. Unvergleichlich damit war das Sterben im Massenmord der Schoa, von dem Elie Wiesel in der Erinnerung des Todes seines Vaters geschrieben hat. Wie soll man eines solchen Todes jüdisch gedenken? »Sein Tod hat ihm nicht einmal gehört, und ich weiß auch nicht, auf was ich ihn zurückführen, in welches Buch ich ihn eintragen soll. Es besteht keine Verbindung zwischen seinem Tod und dem Leben, das er geführt hat. Sein Tod, verloren in der Masse, hat nichts gemeinsam mit der Persönlichkeit, die mein Vater darstellte. Er hätte ihn ebenso verschonen können. Der Tod hat ihn aus Versehen und Zerstreutheit geholt. Es war ein Irrtum, der Tod wußte nicht, daß er es war. Man hat ihm seinen Tod gestohlen.«470

Werfel hatte diese Massentode im Rücken, sein unmittelbares Geschick waren sie nicht. Angesichts der Entleertheit des Schoa-Todes471 nimmt sich Werfels Zugang ans Ende noch menschlich aus – ein Befreiungsweg durch das »kleine Loch, das Gott uns immer offen läßt«472, so dass letzte Flucht zu ihm hin möglich bleibt, wie Franz Werfel Jacobowksy in seinem 1944 geschriebenen Stück Jacobowsky und der Oberst sagen lässt. Doch Werfel hat sich nicht abgekapselt und mit seinem eigenen Leben jenseits der Katastrophe seines Volkes irgendwie ausgesöhnt. In seinen Theologumena von 1944 blieb Israel allgegenwärtig. Ihm war die »scheußlichste Entheiligung des Ichs seit Beginn vielleicht der Weltgeschichte«, die es zum Leibeigenen von Großsystemen gemacht hat, die Basis für den »Weltkrieg in Permanenz«473 und der christliche »Hass gegen Israel« ein Hass im Selbstwiderspruch, weil »die mechanisch getaufte, aber essentiell unbekehrte und unbeschnittene Natur ihren Messias, ihren Erlöser«474 hasst. Und in seinem letzten Roman Stern der Ungeborenen, – »kosmologisches Epos und Autobiographie der Seele zugleich«475, neun Tage vor seinem Tod abgeschlossen476 – legt er dem »Juden des Zeitalters«, König Saul, in den Mund, dass die Christen endlich »der Wahrheit wegen das Fundament neu zu legen« haben und nicht in »Selbstbetrug, der sich rechtfer-

470 Wiesel Elie, Gesang der Toten, 7. 471 Entleerung wird christlich als Kenosis interpretiert, Kenosis ist zentraler (heiden-)christologischer Topos; es gab Versuche, Schoa-Morde und Kreuzeskenosis Christi zusammenzudenken. Das aber betreibt die Sache der Mörder religiös und wirkt wie eine zweite Liquidation der Ermordeten, gegen die es keine Appellation mehr gibt, weil sie von höchster, göttlicher Stelle legitimiert werden soll – ein fruchtbarer Gedanke, der die ganze Theorie, die ihn trägt, desavouiert (Treitler Wolfgang, Mit Gott, gegen Gott, niemals ohne Gott, 212–216). 472 Werfel Franz, Jacobowsky und der Oberst, 159. 473 Werfel Franz, Theologeumena, 215. 474 Ebd., 238. 475 Abels Norbert, Franz Werfel, 139. 476 Ebd., 141.

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tigt,« um abergläubische Elemente »komplizierteste Stützgerüste«477 herumzubauen sollen. Wahrheit und Dauer gehören zu Israel, verdichtet im »Juden des Zeitalters.«478 So vergaß Werfel sein jüdisches Volk nicht und wurde schließlich zum Trostkünder seines Volkes Israel in diesen furchtbaren Zeiten.479 Es sind die gleichen Worte, die der Dichter seinen Propheten Jeremia in Höret die Stimme schon hatte sprechen lassen, die einzig gültigen: »›Tröstet, tröstet mein Volk…‹ – Aufrührend wie immer war diese Stimme, wenn ihre dunkle Kraft auch nur drei Worte sprach. Hunderte von Köpfen drehten sich sogleich nach dem Manne um, der Herr dieser Stimme war und die einzig richtige Mahnung gefunden hatte.«480 Am 26. August 1945 verstummte Werfels Stimme selbst, die Stimme eines Dichters, der leidenschaftlich gern gesungen hatte.481 Er hatte noch das Gedicht Der Dirigent redigiert482, als er in seinem Arbeitszimmer in Beverly Hills starb.483 Im Roman Höret die Stimme hat er beides hinterlassen – eine Stimme, die spricht, und die Dramatik von Exil, Zerstörung und Bewahrung Israels durch die Zeiten über alle Verzweiflung hinaus. Damit nahm er etwas vorweg, was bei Elie Wiesel, aber auch Abraham Sutzkever und Aharon Appelfeld zur Haltung des Überlebens gehört: »and yet – trotz allem.«484

477 478 479 480 481

Werfel Franz, Stern der Ungeborenen, 295. Ebd., 717. S. S. 91. Franz Werfel, Höret die Stimme, 409. »Am 25. August kommt der Dirigent Bruno Walter ins Haus, um mit Alma essen zu gehen. Während des Wartens spielt er auf dem Klavier aus Smetanas ›Verkaufter Braut‹. Vielleicht sitzt der Tod am Klavier als prüfender Stimmer, hat Werfel in einem seiner letzten Gedichte geschrieben. Was er jetzt hört, ist aber doch die Musik seiner Kindheit und der Heimat. Ein letztes Mal erklingt summend der weiche Tenor Werfels, der begeistert aus seinem Zimmer gekommen ist und sogar noch versucht, ein paar schüchterne Tanzschritte zu machen. – Am Sonntag, den 26. August 1945, arbeitet er nach der Nachmittagsruhe an der geplanten Auswahl seiner liebsten Gedichte, um hie und da etwas zu korrigieren. Mit Fäusten hält er fest den Schlußakkord, lautet ein Vers aus dem Sonett Der Dirigent, dem letzten Gedicht, an dem er feilt. Die Tinte ist noch feucht, als ihn seine Frau um sechs Uhr nachmittags mit ruhig lächelndem Gesicht tot auf dem Boden seines Arbeitsraumes findet.« (Abels Norbert, Franz Werfel, 141f). 482 Strelka Joseph P., Musik und Musikalität in Franz Werfels Exilgedichten, 214; der Dirigent Bruno Walter war Freund Franz Werfels. Das Gedicht ist abgedruckt in: Werfel Franz, Gedichte aus den Jahren 1908–1945, 150. 483 Alma Werfel hatte wohl zum letzten Mal versucht, ihren Mann zum Christen zu machen, was aus der Ansprache des Jesuitenpaters Moenius erschlossen ( Jungk Peter Stephan, Franz Werfel, 338f) und später auch von Alma Werfel selbst bestätigt wurde (ebd., 342f). Was bleibt, ist unbedeutend: Man hatte die Leiche eines jüdischen Dichters und Romanschriftstellers getauft und genau den Aberglauben praktiziert, der dem »Juden des Zeitalters« in Stern der Ungeborenen im Ganzen unzugänglich geblieben war – wie auch Werfel selbst. 484 Wiesel Elie, Carry Forward One Page Of Memory, 18f.

»Höret die Stimme« (1937)

3.

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»Höret die Stimme« (1937)

Der Roman Höret die Stimme gehört zu den kaum bekannten und nicht selten verkannten großen Werken Franz Werfels. In den Kurzdarstellungen in Kindlers Neues Literaturlexikon485 aus dem Jahr 1988 fehlt jeder Hinweis auf ihn; und wie schon erwähnt, mangelt dem Germanisten Wolfgang Paulsen, der sich kurz auch theologisch interessiert hatte486, in seiner stilistisch teils sehr gut gemachten Arbeit über Franz Werfel ganz grundlegend die Kenntnis jüdischer Traditionen, sodass er den Roman in seiner Bedeutung sowohl für Werfel selbst als auch für seine Zeit schlicht verkennt. Es ist seltsam, wenn er sich in fragwürdiger Sprache darüber wundert, warum der Dichter »sich aus der Fülle der biblischen Gestalten gerade diesen schwerblütigen Jeremias hatte aussuchen müssen.«487 Schwerblütig? Was soll das bedeuten? Warum die Anklänge ans Blut? Geheime Verbindung zum Boden? Soll das nahelegen, dass Werfel ein biblisches Blut-und-BodenDrama konstruiert hat mit durchsichtigen Anklängen ans damals Deutsche? 488 Paulsen schafft mehrfach solche angedeuteten Verbindungen, die ein Problem seiner Darstellung anzeigen, den Interessen Alma Mahler-Werfels folgen und deshalb, weil sie paradigmatisch für tendenziöse Darstellungen von Werfels Literaturschaffen und dessen religiöser Deutung im Ganzen sind, noch einmal klarzustellen sind: Von Werfels Judentum wie auch vom Judentum in seinen vielen Schichten und Variationen hat er nichts verstanden.489 Deshalb konnte er auch eine wichtige Figur in Höret die Stimme wie die der Mutter des Propheten nicht deuten.490 Gleichfalls wertete er auch die Rahmengeschichte trivialpsy-

485 486 487 488

Jens Walter (Hg.), Kindlers neue Literaturlexikon, 547–558. Paulsen Wolfgang, Franz Werfel, 8. Ebd., 170. Schmitz-Berning Cornelia, Vokabular des Nationalsozialismus, 110–112; Eidenbenz Mathias, »Blut und Boden«. 489 Zur Frage von Werfels Judentum als dem Movens dieses Romans vgl.: Treitler Wolfgang, Shma Yisrael, 345–387. 490 Paulsen schreibt, die Mutter ist dem Propheten eine menschliche Stütze, gestaltet von Werfels »Kunst der Charaktergestaltung«, eine Gestalt, »die an sich dem Leser fremd bleiben muß« (Paulsen Wolfgang, Franz Werfel, 172). Welchem Leser? Und warum dieses Müssen? Das eine ist eine literaturwissenschaftliche Fiktion, das andere eine geradezu klassische petitio principii, die viel über Paulsen und kaum etwas über Werfel verrät: Paulsen erfüllt sich selbst das Antijüdische, das er Werfel permanent zuschreibt, und verkennt dadurch völlig die jüdische Grundsubstanz des Romans. Er weiß nichts vom Name Abi im Roman, den Werfel sich ja nicht aus den Fingern oder der reinen Eingebung saugt, sondern aus seiner, aus der jüdischen Tradition empfängt (Treitler Wolfgang, Abi – Mutter des Jeremia, 272–282); dazu passt auch Paulsens seltsame Feststellung, dass diese Mutter »in ihrer geradezu unbedingten Mütterlichkeit« in der deutschen Literatur »wohl so ziemlich einzig dasteht« (Paulsen Wolfgang, Franz Werfel, 184); das ist richtig, denn ihre Kennzeichnung empfängt sie nicht durchs Mutterkreuz, sondern aus dem Judentum: Sie ist schlicht eine

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chologisch ab491, die für den Roman jedoch essentiell ist. Denn sie trägt etwas spezifisch Jüdisches ein: Judentum hat eine lange Tradition, ist aber keine historische oder historisierbare Religion, sondern lebt aus der gegenwärtigen Erinnerungen und zieht aus eben dieser Erinnerung die entscheidenden Motive für seine Praxis. Nicht ans Bild ist es gewandt, sondern ans Hören. Schon im Grundbekenntnis Israels, dem Schma Israel / Höre, Israel (Dtn 6,4–12), ist das paradigmatisch deutlich. Auch diese Verbindung hatte Paulsen nicht erfasst, weshalb ihm Alma Werfels Entscheidung für die Neuausgabe des Romans nach Franz Werfels Tod auch plausibel erschien, dass sie »für den Neudruck doch auf den einfachen Titel ›Jeremias‹ zurückgriff und den der Erstausgabe in den Untertitel steckte.«492 – Mit solchen Voraussetzungen und Resultaten lässt sich jüdische Mutter, weil sie zu Jerusalem gehört und zum dramatischen Datum der Stadt, zum 9. Av, an dem die Stadt und der Tempel zwei Mal zerstört worden ist (bT Taanith 26b). 491 Über die identifikatorische Bindung und Internalisierung des Jeremia durch Cheeves schreibt Paulsen: »Das mag ein überzeugender psychologischer Vorgang gewesen sein, dichterisch aber war es doch nur eine Notbrücke. Wie dichterisch unfruchtbar das Verfahren war, hat sich schon in der Sprache niedergeschlagen. Man denke nur an den hochgeschraubten Tonfall in den Sätzen, mit denen Jeeves sich selbst präsentiert: ›Mein kleiner Geist war durch die finstere Mauer des nordischen Meeres Gottes ansichtig geworden und verging. Damit begann meine Krankheit … Und nun habe ich nach einer Ewigkeit das furchtbare Meergefühl wiedergefunden, im Buche Jeremias.‹ (HS,34). Das ist literarischer Schwulst. Was hat man sich schon unter der leeren Phrase ›die finstere Mauer des nordischen Meeres‹ vorzustellen – das ›finstere‹ gegenüber dem ›Toten‹, an dem man jetzt in eifriger Unterhaltung bemüht sitzt? Und was ist ein ›furchtbares Meergefühl‹? Eine Redensart. Solche erkünstelten Metaphern konnte man sich noch im Expressionismus leisten. Wie verhält sich andererseits eine solche Gefühlsduselei mit den mitleidlosen Strafpredigten und der Flut düsterer Prophezeiungen des Propheten, dem wir auf den nun folgenden Seiten direkt gegenüberstehen?« (Paulsen Wolfgang, Franz Werfel, 167f). Zwei Bemerkungen dazu. Erstens: Das Nordische ist in dieser Zeit, da Werfel den Roman schreibt, zunächst eindeutig konnotiert und ruft die nationalsozialistischen Mythen auf, die im späten 19. Jhdt. entwickelt und gegen das fremde »Orientalische« der Juden gestellt wurden (Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VII, 34) – und gleichzeitig durchbricht Werfel mit der Zuschreibung Jeeves’, dieses Meer sei eine »ungeheuer bis zur Mitte des Himmels aufgetürmte Gottesmauer« (Werfel Franz, Höret die Stimme, 27), die ideologische Besetzung dieser schaudererregenden Massen durch die damalige Propaganda, die keineswegs nur propagandistisch-instrumentell, sondern aus echter Überzeugung der nationalsozialistischen Ideologen getragen war (Kershaw Ian, Hitler, 325). Werfel versucht durch den damaligen Zeitgenossen, in dessen Innenschau Jeremia erstehen wird, der nationalsozialistischen Propaganda diese ideologische Okkupation von Natur streitig zu machen. – Zweitens: Das furchtbare Meergefühl lässt sich wachrufen, wenn man aufs Meer hinaussieht, auf dem Meer sich bewegt oder das Meer überfliegt. Diesen gewaltigen Wassermassen ist der Mensch so gleichgültig wie dem gestirnten Himmel. Sterne am Himmel aber und Sand am Ufer des Meeres – beides Verheißungsbilder Israels (Gen 22,17) – sind geeignet, »Ehrfurcht« (Kant Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, 253 (= A 288); Kant hat das in Bezug auf den »bestirnte(n) Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir« geschrieben) zu erwecken. Dass sich das am Salzmeer nochmals verdichtet, hatte Werfel bei seinen Orientreisen erfahren. 492 Paulsen Wolfgang, Franz Werfel, 174.

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Werfels Höret die Stimme weder lesen noch verstehen.493 Man ist besser beraten, sich an Gerhard Langer494 und Armin Wallas495 zu halten, denn beide lesen Werfel von seinem Judentum her und von dessen Zentralgehalten. Ein solcher Zentralgehalt wird schon im Titel manifest: Mächtig donnert die Stimme des Herrn, die gehört werden muss. Wie das Schma Israel, so trägt auch den Titel ein bezwingender Imperativ, dem gleichwohl die Zeitgenossen von Clayton Jeeves wie auch die des Jeremia leichtfüßig ausweichen konnten. Die aber hören, sind getragen vom Größten, das der Mensch in Bezug auf Israels Gott finden, erhalten und vertiefen kann: Kewana / ‫ – כוונה‬Aufmerksamkeit, Hörsamkeit, Innerlichkeit.496 Der innerliche, aufmerksame Mensch versteht zu hören, weil er versteht zu beten – und der biblisch betende Mensch wird immer wieder aufgefordert zu hören (wie in Ps 78,1.21; 81,9; 95,7). Das Hören des innerlichen Menschen ist also der An-Spruch schon in der Titelwahl des Romans. Den Bezug des Titels zum Schma Israel wiederum kann man auch leicht über die hebräische Fassung finden: shma‘ jisrael – ‫– שמע ישראל‬ Höre Israel / shma’u et haqol – ‫ – שמעו את הקול‬Höret die Stimme Das Schriftzeichenbild ist mit Ausnahme des Pluralsuffixes identisch, das höret die Pluralform von höre. Doch eine Veränderung hat Werfel vorgenommen: Während das Schma Israel den Adressaten benennt, der hören soll, nämlich Israel, deutet Werfel das Subjekt der Stimme klar an, das sich ihrer bedient und spricht. Das ist Programm. Israel soll auf die Stimme des Ewigen hören, der in machtvoller Gegenwart spricht und sich zugleich nicht festhalten lässt, weil er der einzige und 493 Paulsen fehlte nicht nur ein wenig Kenntnis zeitgenössischen Judentums, sondern auch der biblischen Überlieferung und der Übersetzungsquelle, die Werfel benutzt haben wird. Daher auch sein Fehlschluss: »Die Bibel überliefert über Jeremias selbst wenig mehr als dessen Warn- und Strafreden, aber soweit ich sehe, wird keine von Werfel direkt übernommen; bei ihm ergeben sie sich immer wieder aus dem jeweiligen Geschehen heraus.« (ebd., 185) – Die krasse Fehleinschätzung dieser einfach hingesetzten Wendung wird durch eine eben erarbeitete Dissertation von Lukas Pallitsch minutiös widerlegt. 494 Langer Gerhard, Höret die Stimme, 95–108. 495 Wallas Armin A., Gesetz – Weisung – Weisheit, 318–357; Wallas Armin A., Der Gott Israels, 7–29; Wallas Armin A., Das Volk Israel, 30–52. 496 Es ist leicht nachzuvollziehen, dass Werfels Rede aus dem Jahr 1931 unter dem Titel Realismus und Innerlichkeit die jüdische Kewana (Heschel Abraham J., Der einzelne Jude und seine Pflichten, 166) in ihrem Kern enthielt und der empirischen Taubheit und geistigen Ödnis seiner Zeit entgegenstellte (Werfel Franz, Realismus und Innerlichkeit, 75–104). – Wie bei Paulsen generell, so fehlte auch bei Frank Joachim Eggers in der Interpretation dieser Rede der entscheidend jüdische Hintergrund von Werfels Überlegungen und Ansagen; Eggers endet deshalb auch reichlich schief mit der Feststellung, Werfel hätte sich »als Revolutionär (begriffen), und zwar in einem christlichen Sinn« (Eggers Frank Joachim: »Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn, 97). Er versucht, bei Werfel eine Reihe von Einflüssen zu entdecken, die sowohl wissenschaftlich als auch formal-argumentativ sind; dass Werfels alternative Grundthese von Realgesinnung und Innerlichkeit, d. h. auch von Gottlosigkeit und Gottesbezug, der jüdischen Tradition entnommen ist und die Voraussetzung eines jeden Satzes dieser Rede bildet, hat er nicht entdeckt.

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der einzig wirkliche Gott ist. Mit einer »wirkliche(n), ertönende(n) Stimme«497 spricht dieser »ausschließende Herr des Lebendigen«498, »den, trotz aller Namen, die er trägt, kein Name nennt«499 und auf den Jeremias Gehör »aufs äußerste gespannt«500 hört – Kewana in intensivster Form. Im Romantitel nennt Werfel nur indirekt den Gott Israels; dessen Geheimnisname wird erst in der letzten Jeremia-Szene im zerstörten Tempelareal vom Propheten als Hohepriester ausgesprochen.501 Dieser Gott allein lässt Israel leben; auf ihn allein zu hören, ist erste Aufgabe und Pflicht Israels. Ihn preiszugeben und zu überhören, führt rettungslos in die Katastrophe; mögen auch politische oder kulturelle, ökonomische oder wissenschaftliche Koalitionen gut paktiert sein, so werden sie alle Israel nicht retten oder vor dem Abgrund der Verzweiflung, dieser »größte(n) Häresie«502 (Abraham J. Heschel), bewahren. In der Kewana, in diesem Hören auf Israels Einzigen Gott, das in der Erinnerung lebt und sich ständig als Aufgabe Israels aktualisiert, wird Israel Zukunft finden. Dem Roman gibt Werfel durch seine jüdisch-religiöse Fassung genau diese zeitliche Klammer über Jahrtausende, und das nicht nur durch die Umfassung der biblischen Geschichte mit einem Rahmen seiner Tage, sondern auch durch den ständigen Einbau verschiedenster biblischer Textzeugnisse aus dem Prophetenbuch des Jeremia, aus den Chronikbüchern, den Klageliedern, dem Deuterojesaja oder der Schrift Baruchs, allesamt ums Zentrum herum gestellt, um die vom Hörenmüssen erweckte Kewana. Das Schma Israel erweckt also Kewana, Kewana lehrt, unterscheidend zu hören und – wie es Clayton Jeeves am Ende der Geschichte als Einsicht mitnehmen wird, die über die Verzweiflung hinausreicht – zu erfassen, »daß es Größe nur gegen die Welt gibt und niemals mit der Welt, daß die ewig Besiegten die ewigen Sieger sind und daß die Stimme wirklicher ist als der Lärm.«503 Dieser Grundsatz, der sich aus dem shma‘ jisrael – ‫ שמע ישראל‬/ shma’u et haqol – ‫ שמעו את הקול‬ergibt, findet auch zwei zentrale Orte seiner Geschichte, die, jeder schon für sich genommen, Orte der Kewana und der Unterscheidung (Hawdala / ‫ )הבדלה‬sind – gerade so wie der Schabbat als Tag des Ewigen Bundes sich von den übrigen Tagen durch seine Heiligkeit unterscheidet504, der Schabbat, der in der 497 498 499 500 501 502 503 504

Werfel Franz, Höret die Stimme, 54; ähnlich ebd., 82. Ebd., 61. Ebd., 48. Ebd., 82. Ebd., 627. Heschel Abraham J., Religion und Rasse, 83. Werfel Franz, Höret die Stimme, 635. Diese Unterscheidung wird in der jüdischen Tradition auch zum Schabbatende mit einem Gebet vollzogen, in dem Gott dafür gelobt wird, dass er »unterschiedet zwischen Heiligem und Nichtheiligem, zwischen Licht und Finsternis, zwischen Jisrael und den Völkern, zwischen dem siebten Tag und den sechs Tagen der Arbeit.« (Siddur Schma Kolenu, 553).

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Prophetengeschichte auch eine dramatische Rolle in der Frage der Rettung Jerusalems spielt.505 Diese beiden Orte sind »Mittelpunkt der Welt«506, das Salzmeer, gelegen in der tiefsten Eingrabung der Welt, und Jerusalem. Sie sind Orte der Unterscheidung. Unten, im Jordangraben, liegt eine träge, schlierenartige Wassermasse, umgeben vom gelben Sand der Wüste und aufragenden Wüstenbergen – eine Zone völlige Reduktion, in der die Einbildungen götzenhafter Größe untergehen und kein Lärm mehr betäubt. Dort, in dieser leeren Einsamkeit, in der Kewana gebildet wird, hört der Mensch die Stimme Gottes wie Mose in früheren Tagen am Sinai. Die Erinnerung an diesen Ort der Unterscheidung und an das Sprechen und Hören an ihm hat das Buch Numeri aufbewahrt, das in Werfels Überlieferung bemidbar / ‫ במדבר‬genannt wird, was »in der Wüste« heißt – und gleichzeitig träge das Wort Wüste dieselben Stammkonsonanten wie das Wort (ich) spreche: Wüste = ‫( מדבר‬midbar); (ich) spreche = ‫מדבר‬ (medaber). Das Schma Israel ist ein »Erfahrung der Wüste«507 (Friedrich Dürrenmatt). – Jerusalem wieder ist Zentrum der Welt und Israels, besungen in der lyrischen Klage des Ps 137 in der Exilszeit oder in dem Geburtslied auf den Zion (Ps 87), Stadt Gottes und seiner Herrlichkeit.508 So wie der Roman zwei Zentren der Welt kennt, die elliptisch zueinander gehören, so wird die Geschichte auch durch zwei Protagonisten getragen, die ebenso elliptisch zueinander gehören: Clayton Jeeves, ein »dreiunddreißigjähriger Mensch«509 mit jüdischer Herkunft510 und einem labilen Gesundheitszustand, und der biblische Prophet Jeremia aus dem 7./6. Jhdt. v. d. Z., den Werfel nicht mit seinem latinisierten, sondern stets mit seinem biblischen Namen Jirmijah oder Jirmejahu nennt, empfindsamer Sohn aus einem alten Priestergeschlecht511, den sein Weg härten und unbeugsam machen wird. Diese beiden Protagonisten gehören zueinander und verbinden die Zeiten nicht nur äußerlich oder motivlich, sondern innerlich – und genau das ist aus jüdischer Tradition geschöpft und schlüssig. Das wird deutlich, wenn man zwischen beiden Protagonisten die bis zur Identität reichenden Ähnlichkeiten vergleicht, wie sie Werfel im Übergang des 3. und 4. Kapitels einerseits und im fast direkten umgekehrten Übergang des 33. Kapitels und des Epilogs vollzogen hat.

505 506 507 508 509 510 511

Werfel Franz, Höret die Stimme, 124f, 317, 489f, 503–506 und 523f. Ebd., 11 und 21 in Verbindung mit 35f. Dürrenmatt Friedrich, Zusammenhänge, 127. bT Sukka 51b. Werfel Franz, Höret die Stimme, 25. Ebd., 30f. Ebd., 50 und 96.

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»Mitten im Satz bricht Clayton Jeeves mit einem stöhnenden Laut ab, als habe er seinen ganzen Atem aufgebraucht. Von seiner Säulenhalle starrt er auf die Stufen hinab, wo sich eben eine große Schar Weißgewandeter versammelt hat und mit wiegender Ruhe zum Gotteshause emporzuwandeln beginnt. Eine ängstliche Frage Dorothys erreicht noch sein Ohr. Die Rotglut der sinkenden Sonne nimmt einen neuen Aufschwung. Jeeves aber weiß, daß es jetzt unaufhaltsam kommt. Was kommt? Ist das schon dieses Schwindelgefühl wie immer, diese Angst, das eigene Ich zu verlieren? Hört er in sich selbst das Rauschen wie von ein- und ausströmendem Dampf ? Mit den weißen priesterlichen Gestalten, die sich langsam von unten nähern, kommt es heran. Und jetzt ist es da. Er reißt die Brille von den Augen, denn er denkt noch daran, daß sie beim Sturz zerbrechen könnte. Doch was ist das? Sein Bewußtsein schwindet nicht. Die Absence wirft ihn nicht zu Boden. Er steht fest auf den Füßen. Sein Herz schlägt ruhig weiter. Nur vor den nackten Augen schwimmt und verwandelt sich alles. Mit einem äußersten Bedürfnis nach Maß und Genauigkeit führt er sein Handgelenk mit der Armbanduhr dicht vor die schwachen Augen. Ehe die Zeit weicht, prägt sie sich seinem Geiste ein. Er sieht: Es ist fünf Uhr siebenunddreißig Minuten abends.

Viertes Kapitel Im Tempel Incipit vita Hieremiae prophetae Der Mann, der seine Hand an die Augen hält, um sie vor der blenden Abendsonne zu schützen, sieht nicht ohne Verwunderung an seinem Gelenk ein breites Lederband. In diesem Band ist eine Kapsel eingenäht, und die Kapsel enthält einen Pergamentstreifen mit einigen Schriftzeichen. Ein starker Segen Gottes. Eine Spanne lang hat er sich in den Anblick verloren und muß erst wieder zurückfinden in die Erinnerung seiner selbst. Noch immer schwebt ihm das Lederband mit dem Segensspruch vor Augen. Ja, seine Mutter, des Hilkijah Weib, knüpfte es am Morgen dieses Tages um sein Gelenk, ehe er aus Anathot ritt, um in den wahrhaften und einzigen Tempel des Herrn einzugehen.«512

_________________________ »Jirmijah birgt den Splitter an seiner Brust. Er wird nach Ägypten das unausschöpfbare Wort hinabbringen: ›Damit du lebest!‹ An seinem Herzen brennt die Scherbe mit verzehrender Glut, doch so herrlich, so wohlig, daß er gerne an ihr verbrennen will. Seine Augen überströmen vom Heil. In keiner der Verzückungen seines Lebens war er der Freude Gottes wirklich nahe. Das ahnt er jetzt, da er das erste und einzige Mal ihr nahe ist in Wahrheit. Noch einmal flutet die Sonne blendend auf, Jirmijah hält seine Hand vor die Augen, um sich vor dem Übermaß des Lichtes zu schützen, das alles ertränkt. Um sein Gelenk trägt er noch immer das Band mit dem Segen, das die Mutter ihm schenkte. War es heute? War’s vor undenklicher Zeit?

512 Ebd., 46f; Herv. W.T.

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Epilog Auf dem Tempelplatz (Incipit vita nova) Der Mann, der seine ARMBANDUHR dicht vor die Augen hält, sieht, daß es immer noch fünf Uhr siebenunddreißig Minuten ist und nicht eine Minute später. Die Sonne sinkt und überwältigt die Kuppel der Omarmoschee mit ihrem purpurnen Tumult. ›Warum starren Sie die ganze Zeit auf Ihre Uhr, Jeeves?‹ fragt eine Frauenstimme, deren Ton nicht ohne Besorgnis und Wärme ist. Jetzt erst bemerkt der kurzsichtige Clayton Jeeves, daß er seine Brille in der Furcht hinzustürzen abgenommen hat und in der Hand hält. Er setzt sie auf und ist ein anderer. Würdevolle Moslmes steigen die Stufen empor und wandeln an dem zierlichen Säulenbogen vorbei, vor dem Jeeves und Dorothy Cowell dicht nebeneinanderstehen. Die Frau ist blaß, während das Gesicht des Mannes von Sekunde zu Sekunde mehr Farbe gewinnt.«513

Was Werfel hier kunstvoll ineinander verwoben hat, verdichtet die ganze Intention dieser Prophetengeschichte in gegenläufigen Parallelismen, durch die der Rahmen der Geschichte die Prophetengeschichte bruchlos einfängt im hellwachen Tagbewusstsein von Clayton Jeeves. Bruchlos: Weder im Übergang vom 3. zum 4. Kapitel noch im Übergang vom 33. Kapitel zum Epilog kommt es zu Zäsuren oder literarischen Nahtstellen. Werfel hat ins formale Konzept dieser Verbindung etwas zu übertragen vermocht, was in einem sehr undeutlichen Traumbild des Propheten von einer Völkerversammlung, der er als Hohepriester vorsteht und den Goldenen Becher reicht, das Gewand einer dreizehnten Gestalt kennzeichnet: Es ist nahtlos gewoben.514 In diesem Traumbild nimmt Werfel schon das Finale des Propheten vorweg und fügt es nach Hunderten von Seiten ebenfalls nahtlos in die Geschichte: Am Ende wird Jeremia im verwüsteten Heiligtum als Hohepriester den höchsten Feiertag begehen, Yom Kippur, und den unaussprechlichen Gottesnamen ausrufen.515 Nahtlose Übergänge finden sich also an zwei markanten Stellen, die für den Romanverlauf und seine Botschaft von höchster Bedeutung sind. In genauerem Blick auf die beiden Übergänge zwischen Gegenwart und biblischer Wirklichkeit wird diese Nahtlosigkeit durch die einzelnen Glieder dieser Parallelismen nachvollziehbar, wie sie im Zitat oben auch mit unterschiedlichen Markierungen hervorgehoben sind. – Weißgewandete rahmen Anfang und Ende dieser Innenschau von Clayton Jeeves – gegenwärtige, religiös transponierte Anschauung und ferne Analogie des 7. Jhdt. Sie wecken die Erinnerung an den Tempel und seine Priesterschaft. 513 Ebd., 629–631; Herv. W.T. 514 Ebd., 165. 515 Ebd., 626f.

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– Die sinkenden Sonne, durchaus auch Erinnerung an den hereinsinkenden Schabbateingang, der Israel seit Jahrtausenden seinen Ewigen Bund zu feiern gibt, verwandelt das ganze architektonische Gefüge des Areals mit dem Felsendom516 in den Platz, auf den Jeremia kommt, zuerst als junger Mann, vom König zu Pessach gerufen, um aus der Tora vorzulesen und der Befreiung Israels zu gedenken – die massivste und zugleich zerstörte Ansage von Rettung und Erhaltung –, und dann als alter Prophet, der in den Trümmern, in denen die Ansage der Rettung vieltausendfach begraben liegt, den Feiertag der Versöhnung begeht, in dem alle Schabbatot des kommenden Jahres schon enthalten sind. – Der kurzsichtige Clayton Jeeves hat sich die Brille vom Gesicht genommen und hält sie in der Hand. So wie »die Stimme wirklicher ist als der Lärm«517, sieht die Kewana auch tiefer als das Okular. Motive der Kritik tragen diese Szene. Dem gierigen Entdecker- und Erobererblick, der die Wirklichkeit auf ihren Geldwert hin entleert518 und in dieser Hohlheit den »gereizte(n) Geltungswillen der Masse«519 ersatzreligiös befriedigt520, steht der für seine Zeitgenossen etwas befremdliche Mann gegenüber, der in einem innerlich höchst angespannten, aufmerksamen Augenblick mehr sieht, als alle Eindrücke um ihn herum bieten können. Diese Eindrücke sind nur Auslöser, nicht das Ganze seiner Kewana. – Für diesen Augenblick sind die optischen Auslöser nicht mehr als Markierungen hin zum Zentrum. Kewana ist wohl Haltung, Kewana ist Bereitschaft wahrzunehmen; doch ihre Kulmination kann gerade nicht künstlich hervorgebracht werden, sondern sie gibt sich in qualifizierter Zeit. 5:37 Uhr ist es, als die Kewana Jeeves’ ihren Augenblick findet. Dorothy, deren Frage jeweils zwischen dem Parallelismus der Weißgewandeten und der sinkenden Sonne gesetzt ist und damit selbst eine Parallelismusform hat, verbleibt wie in einem Vorhof der Kewana. In diesem bewusstseinshellen Augenblick der Kewana, der das Exil und 516 Werfel identifizerte die Omar-Moschee mit dem Felsendom. Der Grund liegt darin, dass die auf Omar zurückreichende Omaijaden-Dymastie Ende des 7. Jhdts. einen achteckigen Bau errichtete, in dem sich die wahre und endgültige Offenbarung Gottes darstellen sollte, der Isalm (Montefiori Simon Sebag, Jerusalem, 272). Deshalb ließ Abd al-Malik die Kuppel vergolden. Knapp 140 Jahre später wurde ihr Gold entfernt. »Erst in den 1960er Jahren bekam sie ihren Goldüberzug wieder.« (ebd., 283). – Zwei Anmerkungen dazu. Eine erste: Werfels Satz: »Die Sonne sinkt und überwältigt die Kuppel der Omarmoschee mit ihrem purpurnen Tumult« (Werfel Franz, Höret die Stimme, 631) konnte sich daher nicht auf die heute geläufigen Bilder der golden glänzenden Kuppel beziehen, sondern nur auf die graue Kuppel, die ins Abendlicht getaucht erglüht. Die zweite: Es gibt seit langem eine nach Omar benannte Moschee, die jedoch keine Kuppel, sondern ein Minarett hat, nicht am Tempelplatz, sondern unmittelbar neben der Grabeskirche steht und »zur Einschüchterung der Christen gebaut« (ebd., 729) worden war. Sie hat Werfel nicht gemeint. 517 Werfel Franz, Höret die Stimme, 635. 518 Werfel Franz, Realismus und Innerlichkeit, 80 und 85. 519 Werfel Franz, Können wir ohne Gottesglauben leben? 122. 520 Ebd., 117.

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sein Ende in der Innerlichkeit von Jeeves erweckt, ist Jeremias gesamte Geschichte eingefasst. Werfel ist hier ganz eines Sinnes mit den großen Einsichten Abraham J. Heschels über die Propheten: Prophetie hat mit psychotischen Formen nichts zu tun.521 Einem Propheten eignet vielmehr geistig hellste Klarheit, die ihn zur Kompromisslosigkeit zwingt, denn: »The prophet is a person who suffers from a profound maladjustment to the spirit of society, with its conventional lies, with its concessions to man’s weakness. Compromise is an attitude the prophet abhors.«522 – Nach und vor diesen vier direkten Parallelen der Geschichte des Clayton Jeeves finden sich in diesem bruchlosen Übergang als Formprinzip dieses Mannes noch zwei Parallelen des Propheten selbst: Die blendende Abendsonne, das Übermaß ihres Lichtes, legen eine zeitliche Deckung über Jeeves und Jeremia. Dieses Licht verdichtet damit nochmals den Augenblick der Kewana: Jetzt, in dieser Minute und ihrer hoch aufgeladenen Bedeutung, in der sich Gestern und Heute unmittelbar aneinander fügen und Jeeves zur Lebensaufgabe des Hörens und des aus dem Hören dann wohl hervorbrechenden Widerstandes findet, jetzt wird Jeeves als Mann des Ewigen Bundes seiner selbst gewahr und pflichtig, geradeso wie der Prophet es war und in ihm nun ist. Jeremias Gegenwart in Jeeves geschieht durch die Kewana, die Jeeves zur Deutung seiner selbst wird. Er wird stellig als Jude, wie Jeremia, der Prophet, Jude war. – Und das wird an dem für Israel entscheidenden Bekenntnis kenntlich, mit dem Werfel Anfang und Ende der Geschichte des Jeremia zusammenhält: Kapsel, Segensspruch Gottes, Splitter und die Botschaft, damit du lebest, gehören zueinander. Am Beginn war es die Mutter, die dem Propheten die Kapsel mit dem Segen gibt; am Ende ist es der Splitter der Tora, der den Segen als Botschaft in knappe Worte fasst. Beides ist Wirkung und Ausdruck des Schma Israel, für das der Prophet und Clayton Jeeves in höchster Aufmerksamkeit stehen. Das Schma Israel ist das Herz des Tempels gewesen, es ist das Herz der Familie. Die Mutter des Jeremia, der Werfel den Namen Abi gab, steht eben auch für den Tempel und die Erinnerung an seine Zerstörung.523 Daraus folgerte ein jüdisches Sprichwort: »Eine Mutter ist wie eine Mesusa.«524 Genau das aber bezieht sich auf die Glaubenstradition Israels, die durch das Schma Israel den Generationen weitergegeben wird und gleichzeitig bestimmt, dass Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Diese Linien laufen hier alle zusammen und machen das Schma Israel zum Kernelement dieses Romans.

521 522 523 524

Heschel Abraham J., The Prophets, 510. Ebd., 521. S. S. 115. Die ganze Welt steht auf der spitzen Zunge, 97.

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– Ein Stilelement unterbricht jedoch die Parallelismusstruktur: Das Segensband des Propheten, dem von der Haltung der Hand her die Armbanduhr von Jeeves entspricht, umfasst nicht das Übermaß des Lichts, sondern folgt ihm jeweils. Das hat zum einen damit zu tun, dass diese Handhaltung als Schutz gegen die Sonne eben stets eine Folge dieses Lichts ist; zum andern hat es aber auch damit zu tun, dass die beiden Männer, Jeremia und Jeeves, ihr unterschiedlichen Bänder um das Handgelenk aus unterschiedlichen Gründen tragen und gleichzeitig – und das scheint noch wichtiger zu sein – auch die weiblichen Bezugsfiguren dieser Geschichte qualitativ verschieden sind und sich daher nicht parallelisieren lassen. Armbanduhr und Segensband stehen für unterschiedliche Nähen: Der Prophet erhielt es von seiner Mutter, durch die er jüdisch ist; Jeeves hat sich die Uhr vermutlich selbst gekauft, und die Frau, die mit ihm zugegen ist, ist eine Freundin, keine Mutter. Jeremias Mutter begleitet im Segensband den ganzen Weg des Propheten durch das Bekenntnis, das in ihm geborgen ist, durch das Schma Israel. Dieses aber verinnerlicht sich Jeeves weder durch das Band, das die Uhr hält, auch wenn sie die entscheidende Zeit 5:37 Uhr anzeigt, noch durch die Frau, die bei ihm ist, sondern durch den großen Augenblick, in dem die ganze Geschichte des Propheten in ihm erwachte und zu seiner eigenen geworden ist, voller Ahnung und Aufgabe. Mit seiner Botschaft ist Franz Werfels Roman Höret die Stimme ein großes literarisches Werk gegen die Verzweiflung angesichts von Terror, Zerstörung, Verfolgung, Ermordung – ein großes Widerstandwerk, weil es realistisch der Drohungen gewahr ist, die das Bekenntnis zum einzigen Gott, zu Israels Gott getroffen haben. In der Geschichte des chronischen Judenhasses toben diese Drohungen durch die Zeiten. Ihre Ausbrüche sind konstant, die Mittel ändern sich. Als der Prophet Jeremia am Jom Kippur den »schwersten Weg all seiner Wege«525 geht und durch die Trümmerstadt Jerusalem steigt, sieht, hört und riecht er die Folgen der Gewalt, die Israel angetan wurde: Selektion und Trennung von den Angehörigen, Zwang, Unkoscheres essen zu müssen und damit den Bund mit Gott aufzugeben526, fortlaufende anarchische Gewalt im verwüsteten Land und Terror.527 Was übrig blieb von Jerusalem und Israel, der Rest, zu dem auch der Prophet gehörte, war die »Schlacke Israels.«528 In einer letzten »Unterredung mit Adonai«529 sind es die toten Kinder Israels, die als Fragen nachbrennen unter dem Schutt und seinen Glutresten. Und »Jirmijah nimmt all diese Fragen in die seinigen auf.«530 525 526 527 528 529 530

Werfel Franz, Höret die Stimme, 623. Ebd., 605f. Ebd., 610–612. Ebd., 617. Ebd., 625. Ebd., 623.

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Franz Werfel wusste, wie unmöglich und undenkbar es geworden war für Israel im Ganzen, sich naiv einer Erwartung auf bessere Tage hinzugeben. Das Einzige, was Israel bleibt, ist zugleich alles, was es ausmacht: sein unablässiger Glaube an Gott, täglich im Schma Israel bekannt. Allein dieses Bekenntnis weist über die ansonsten stündlich hereinbrechende Verzweiflung hinaus, der mit einem Trotzdem widersprochen wird: »Kein Weg! Und doch tut der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs in unserer Zeit an Israel ein Zeichen und Wunder, das die biblischen Vergeltungswunder überschattet. Während einer einzigen Generation hat er den Feind größer gemacht als Pharao, Nebukadnezar und Antiochus zusammengenommen, und ehe diese Generation noch den Tod verkostete, stürzte er den Erzfeind in den Abgrund von Schmach, Hohn und Schmutz wie noch keinen andern, damit sich die Verheißung an Abraham und seinem Samen zumindest im Negativen immer wieder erfülle. Welch ein Triumph, sollte man denken! Welch unermeßlicher Jubel im Herzen dessen, an dem sich die göttliche Verheißung so wunderbar wieder und wieder offenbart hat am heutigen Tage! Aber wie könnte Triumph und Jubel empfinden ein leeräugiger zerzauster Greis, der mit dem Grabscheit in der Hand einherwankt in der Podolischen Steppe, um seine Toten zu finden und zu bestatten?«531

In die großen Fragen Jeremias, vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden gestellt, wird auch diese Frage des Dichters aus dem Jahr 1944 aufgenommen sein, die ich schon am Anfang dieser Zeilen über ihn zitiert habe und hier wiederhole. Denn die Trostlosigkeit des Überlebenden lässt sich nicht stillen durch den absehbaren Sturz des Diktators. Sie gehört für Israel zum ungewollten Erbe seiner langen Geschichte. Das unterscheidet schließlich auch Jeremia von Hiob. Hiob gab nach, als er kompensiert wurde für den Verlust, obwohl die Kompensation niemanden von den Toten wiedergebracht hatte. Hiob konnte auch nachgeben, weil er keine reale Geschichte war, sondern die Erfindung eines Lehrbeispiels. Jeremia aber gab nicht nach, weil er wirkliche Geschichte war und diese Geschichte erinnerte; noch in der Freude Gottes klingen dunkel die schweren Fragen nach, die er eben gestellt hatte in der Trümmerstadt. Sie bleiben in der Erinnerung wie der Brandgeruch hängen. Wie im zweifachen Rechten, das der Prophet angestellt hatte, nachdem König Josiah532 und seine Mutter533 gestorben waren – beide gewaltsam –, nimmt er diese Frage mit und hält sie seinem Gott hin. Antwort auf diese Fragen kann Jeremia nicht geben. Doch die Verbindung zu seinem Gott kann und muss er benennen, weil ohne sie jeder Lebens- und Existenzgrund Israels dahin wäre. Und darum ruft er dem Rest der Verbliebenen auch noch

531 Werfel Franz, Theologumena, 248f. 532 Werfel Franz, Höret die Stimme, 201–212. 533 Ebd., 387f.

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Franz Werfel – Gottes Geheimnis und menschliche Heiligkeit

einmal zu: »Hört die Stimme!«534 »Euer Sieg wächst von Niederlage zu Niederlage. Damit ihr lebet! Du schöpfst die Verheißung nicht aus.«535 Damit wandelt sich auch der doppeldeutige Name Jeremias – »Gott baut, Gott zerstört«536 – zu einem Versprechen trotz allem, was dagegen spricht: »Rest dieses Volkes, wenn du im Lande bleibst, spricht Adonai, so will ich dich bauen und nicht einreißen.«537 Das wird gesagt nach der Zerstörung, die alles genommen hat, den Tempel, den König, die Stadt, das Land. Und Gott? Da er immer noch spricht, macht Werfel deutlich: All das Hoffen Israels, all sein Leben in vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Tagen hängt daran, dass Israel sich als Volk dieses Gottes bewahrt, den es im Schma Israel bekennt. Den Propheten hat dieses Bekenntnis zum Boten im 6. Jhdt. gemacht; im Augenblick eindringlicher Kewana bindet es Clayton Jeeves an den einzigen Gott, von dem Israel sein Leben empfängt; und auch morgen, so lässt sich von Werfel her schließen, wird es Lebensfrage Israels bleiben, dass in seiner Mitte das Schma Israel wohnt. Dieses Bekenntnis zwingt zur Konfrontation mit den vielen Gegengöttern; das erschwert Israels Leben manchmal übers tragbare Maß hinaus. Und doch gilt ihm gerade deshalb: Damit du lebst! Ohne das Schma Israel gehört Israel der Verzweiflung; das spricht direkt aus Werfels Prophetenroman. Über sie hinauszukommen, setzt spezifische Erinnerung voraus, nämlich die Erinnerung daran, dass in jeder Zeit, auch in den schwersten, finstersten Stunden, das Schma Israel die Verheißung des Lebens hütete: beim Gewalttod Rabbi Akivas538 ebenso wie beim Gastod in Treblinka539, von dem Werfel in seinen letzten Jahren gehört hat. Der Bezug zum Hören der Stimme hielt zwar noch kein Programm für Widerstand bereit; doch es wies auf ein erstes Fundament und einen letzten Anker, der Israel durch alle Zeiten hindurch erhalten hat. Das zu erinnern und damit das Schma Israel nicht nur zu bekennen, sondern zu leben, hat Werfels Prophetenroman in der Verschmelzung von Clayton Jeeves und Jeremia als Aufgabe und Existenzgrund Israels der andrängenden Verzweiflung entgegengehalten.

534 Ebd., 615. 535 Ebd., 629. 536 Ebd., 389; ähnlich ebd., 619 in einer Deutung, die Jeremia Baruch gibt, seinem Schüler, die am Ende von ihm fortzieht: »Was Er gebaut hat in vielen Geschlechtern, das zertritt Er.« 537 Ebd., 615. 538 bT Berachot 61b; Rabbi Akiva wird von Werfel als eines der großen Geschenke Israels an die Welt genannt, weil er mit andern »großen Rabbinen … die Schrift und das Gesetz aus dem Zusammenbruch nach der Zerstörung Jerusalems unter Titus« gerettet hatte (Werfel Franz, Das Geschenk Israels an die Menschheit, 55). 539 Lenzen Verena, Jüdisches Leben und Sterben, 161.

Jean Améry – Es gibt keine »Banalität des Bösen«

Ein isolierter »Katastrophenjude«540

1.

Von Franz Werfels religiösem Antrieb hatte Jean Améry nichts angerührt, wenn er auch dessen Gedicht Lächeln Atmen Schreiten hoch schätzte.541 Näher war ihm Stefan Zweig trotz aller stilistischen Differenzen: Zweig, so schrieb Améry einmal, »wühlt gleichsam in einem aufgehäuften adjektivischen Wortschatz«542 und hing damit einem Ästhetizismus nach, der Amérys radikal positivistischer und areligiöser Weltanschauung543 entgegenstand. Doch an einer entscheidenden Stelle fand Améry mit Stefan Zweig sich im Einklang: Beide waren durch die katastrophalen Umstürze, die der Nationalsozialismus brachte, in ihrer Existenz geschlagen; Zweig war Jude und fiel damit unter die Ausrottungspolitik des Nationalsozialismus; während er jedoch floh, geriet Jean Améry, der sich im Widerstand betätigte, in die Finsternis der Konzentrations- und Vernichtungslager. Beide entzogen sich schließlich, wenn auch in unterschiedlichen Zeiten, dem über sie verhängten Todesurteil durch einen Akt, der sie weit über Zu- und Widerrede hinweggehoben hat. In Amérys Einschätzung hatte Stefan Zweig den Akt einer inappellablen Freiheit gesetzt, das größte Werk, das ein aufgeklärter Mensch im Angesicht der Todesdrohung zu vollbringen imstande ist. »Klänge es nicht so vermessen, dann müßte man freilich sagen, daß das größte Meisterwerk Zweigs, des Erfolgreichen, Umworbenen, des Götterlieblings, sein Freitod im Jahre 1942 war. Hier war, zur letzten Höhe hinaufgesteigert, das ›ungewöhnliche Ereignis‹, dem keine Psychologie, keine kausale Erklärung überhaupt gerecht werden kann. Franz Werfel, der Freund und Landsmann, sprach über diesen Tod aus heiterem Himmel Brasiliens dies: ›(Das Argument der Feigheit vor dem Leben) ist billig und abgeleiert. (…) Ein Mann, vom Leben verwöhnt, der Schönheit hingegeben, noch immer jung genug, um sich nach allen Genüssen des Körpers und Geistes zu sehnen, 540 541 542 543

Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 147. Améry Jean, Der integrale Humanismus, 269. Améry Jean, Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts, 172. Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 36.

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Jean Améry – Es gibt keine »Banalität des Bösen«

hält ein Glas mit tödlichem Gift in der Hand. Er weiß, wenn er dieses Glas geleert hat, wird sein Blut sich zersetzen, der Atem röcheln, das liebe, gierige Herz gelähmt sein. Vor dem Manne stehen nicht mehr die Gründe, die ihn dazu getrieben haben, das Todesurteil über sich zu verhängen, vor dem Manne steht nun das nackte Todesurteil selbst und die Gehorsamspflicht, es zu vollstrecken.‹ Zweigs Freitod, ein Tod aus Gram über den Zerfall seiner ›Welt von gestern‹, hebt ihn hinaus über sein Werk und gibt auf geheimnisreiche Weise diesem oft unzugänglichen opus eine neue Dimension. Man hat den Lebenden oft, wie es so heißt, nicht ganz ernst genommen. Seine Antwort, auf die nun keinerlei Widerrede mehr statthaft ist, war der fürchterliche Ernst seines letzten Aktes.«544

»Klänge es nicht so vermessen« – eine rhetorische Einschränkung wie diese bezieht sich nicht auf eine relativierbare Beurteilung dieses finalen Aktes, sondern allein darauf, dass Améry selbst, als er diese Sätze schrieb, diesen Akt noch vor sich hatte, durch den er von allen Verhängnissen völlig loskommen wollte. Das hing nicht allein mit seiner »offensichtliche(n) Überflüssigkeit«545 nach 1945 zusammen, wie er in einem Brief knapp vor seinem Suizid im Oktober 1978 schrieb, sondern mit der Unmöglichkeit, noch einmal ein Haus zu finden in einer Welt, die ihn zum gefolterten Katastrophenjuden gemacht und damit ausgestoßen hatte. Denn wer »der Folter erlang, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen.«546 Frederic Morton hat erkannt, wie sehr Jean Amérys Katastrophenexistenz ihn selbst eingesperrt hat und gleichzeitig zu einem Existenzausdruck einer kranken, irre gewordenen Zivilisation geworden ist, der sich dieser Mensch hartnäckig entgegenstemmte. Jean Améry, dem Gefoltertem, blieben Folterkammer, Folterwerkzeuge und vor allem Folterknechte innerlicher als alles andere und isolierten ihn – dramatischer, widersprüchlicher und vor allem tragischer als die moderne Monadenexistenz Franz Kafkas. »Immer und überall schleppt er den Panzer der Folterkammer mit sich herum. Dieser Panzer umschließt schützend das weltlose Nichts im Inneren. Er widersteht selbst der Gemeinsamkeit von Historie und Erleiden. Deshalb kann Jean Améry auch nicht akzeptieren, daß sein Exil und seine Agonie, die er doch mit außerordentlicher Beredsamkeit ausdrückte, in vielerlei Hinsicht und zu unterschiedlichen Graden nur ein Teil eines tragischen, aber durchaus alltäglichen Geschichtsverlaufes ist. Sie ist Teil der permanenten Krise der Moderne, in der, wenn ich mich des Diktums von Karl Kraus recht entsinne, ›die Zivilisation Gott an die Maschine verraten‹ hat. Es geht hier um eine allumfassende, allgegenwärtige Krankheit, deren Symptome nicht nur das exponentiale Ansteigen des Bedarfs für immer mehr Gefängnisse, Irrenanstalten und Rauschgiftund Alkohol-Entzugskliniken ist. Die Krankheit spiegelt sich auch in Kunst und Wis544 Améry Jean, Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts, 174f. 545 Jean Améry, zit. in: Des Häftlings letzte Pflicht, 9. 546 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 73; vgl. dazu auch: Treitler Wolfgang, Erlösung durch Platon-Christus? 197–221.

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senschaft wieder (sic!), wo das Spektrum der Erscheinungen von den Dekonstruktivisten bis zur Chaos-Theorie reicht, aber auch bis zu jenen sensiblen Seismographen der Entfremdung und des Richtungsverlustes, den Dichtern. Sie waren es, die – schon sehr früh – mit den Worten von William Butler Yeats feststellten ›die Dinge klaffen auseinander, die Mitte wird nicht bestehen.‹«547

Améry half nichts hinweg über die Tragödie, am wenigstens die halbdramatischen, platonisch gedämpften Meditationen, die seit vielen Jahrhunderten im Christentum zugegen und von Augustinus geformt worden sind in dessen Confessiones: Platonisch-anamnetisch steigt das Göttliche im betrachtenden Geist fast bezwingend auf und beschenkt den alten Mann, der im Ganzen gut durchs Leben gekommen war, weil er nie zu den Ohnmächtigen gezählt hatte, mit »heiligen Wonnen«548, die ihm das »ewige Licht«549 vermachte. Solches Licht und solche Wonnen erstarben in Jean Amérys Gedächtnis. Während Augustinus auf die lateinisch-christliche Tradition mächtiger einwirkte als irgendein anderer Gelehrter dieser Tradition, eben dieses Christentum in der Zeit seines raschen Aufstiegs gestaltete, als es noch formbar war, und gleichzeitig mit dieser Gestaltung auch die chronische Abneigung gegen das Judentum vertiefte550, hat eben die Kulmination dieser Abneigung im religiösen und politischen Hass eineinhalb Jahrtausende später Jean Améry und alle Menschen der jüdischen Gemeinschaft in Europa zu Ohnmächtigen degradiert, die zur permanenten Beute der Todesdrohungen geworden sind. In Amérys Erinnerung leuchtet kein göttliches Licht mehr, sondern hat sich alles umgekehrt, das Licht zur Finsternis, die Tora zur Auschwitznummer, das Bleiberecht zur »Vertriebenheit« und das Ich zum »Identitätsverlust und dem allumfassenden Verlust des Ursprungs«551 (Frederic Morton). Sein Judesein bricht nicht mehr aus der Tragödie aus, verwandelt sich nicht mehr tragikomisch wie bei Franz Werfels Jacobowsky; es bleibt ein durch die Katastrophe determiniertes Judentum. »Für sie, für mich heißt Jude sein die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel jüdischer Existenz. Wenn ich mir und der Welt, ein547 548 549 550

Morton Frederic, Amérys zweite Fremde, 215. Augustinus, Bekenntnisse, 274. Ebd., 296. Augustinus von Hippo, Civitas Dei, in http://www.unifr.ch/bkv/kapitel1935–17.htm: »Und wer möchte noch die Vergeltung leugnen, wenn er die Juden nach Christi Tod und Auferstehung durch vernichtende Niederlage im Krieg von Grund aus entwurzelt sieht? Der von ihnen Getötete ist auferstanden und hat ihnen einstweilen mit zeitlicher Züchtigung vergolten, abgesehen von dem, was er für die Unverbesserlichen vorbehalten hat, wenn er die Lebendigen und die Toten richten wird.« 551 Morton Frederic, Amérys zweite Fremde, 216.

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schließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefassten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.«552

Als Jean Améry am 31. Oktober 1912 als Sohn seiner jüdischen Eltern Paul (21. 7. 1883–1.8.1917) und Valerie Maier (31. 8. 1879–1.7.1939) in Wien zur Welt kam553, lag Auschwitz als technische Massenvernichtung noch im Unvorstellbaren, trotz der Pogrome, die etwa im Zarenreich im ausgehenden 19. Jhdt. und frühen 20. Jhdt. Zehntausende von Jüdinnen und Juden das Leben gekostet hatten und v. a. durch Gerüchte über Ritualmorde oder politische Subversionen – Stichwort Zionismus – entfacht wurden.554 Doch bald brach der Erste Weltkrieg aus und mit ihm ein millionenfaches Sterben, dem auch Amérys Vater als Tiroler Kaiserjäger zum Opfer fiel. Zum Lebenserhalt zog die Mutter mit dem kleinen Buben nach Bad Ischl und betrieb dort eine Pension, die in den frühen 1920er Jahren in Konkurs ging. Die Not hielt die Familie fest auch nach dem notwendig gewordenen neuerlichen Umzug nach Wien und brachte das hervor, was Jean Améry seine »Entdinglichung« nannte, eine gesteigerte Form von Entfremdung, die den »Bruch mit dem Realitätsprinzip«555 bedeutete: »ein winziger Waldgeist unter anderen, größeren, lärmenderen, die aus allen Richtungen heranströmten zur Walpurgisnacht.«556 Die Größeren, das waren die aufgeputschten nationalistischen Horden und Hasser der 1920er und 1930er Jahre, aber auch die »hochstehenden Reflektierer«557, deren Geist versagte, weil er es vorzog, in der Walpurigswaldesnacht das irreale Sein zu suchen und ebenso irreale Geschichtsbögen zu konstruieren, anstatt die »Geschichte als pures Phänomen der Faktizität«558 zu nehmen. Diese Faktizität bot genug Drohendes und brachte auch eine Realität hervor, die das hervorgedachte Sein nicht tangierte. Dieses lichtete sich nicht und es lichtete nichts. Unberührt von ihm formierten sich »in den Städten … die Bataillone, marschierten weiter; alles fiel in Scherben. Er hörte nicht hin, als die anderen laut genug ›mal herhören‹ schrien. Die Geschichte, die nirgendwo überzeugender sich selbst darstellte als in den Schlagzeilen des ›Völkischen Beobachters‹, betraf ihn nicht, solange sie ihn nicht direkt traf und niederstreckte. Er lauschte nach dem Unhörbaren, während das Unerhörte schon im Begriffe war, sich zu ereignen. Was sprach die tiefe Mitternacht? Die Welt war tief und fiel immer tiefer. Die

552 553 554 555 556 557 558

Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 146. Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 265. Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VII, 105–162. Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 29. Ebd., 28. Ebd., 29. Ebd., 29.

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Glocke schlug 1933. Da war das Traumspiel schon zu Ende. Überaus leidvoll war das Erwachen.«559

In der Aufsatzsammlung Unmeisterliche Wanderjahre, in der Jean Améry, schillernd zwischen Ich und Er, so ähnlich wie Aharon Appelfeld in Geschichte eines Lebens Autobiografisches literarisiert hat, bezeugt er sein Leben, das durch den Aufstieg der Nationalsozialisten und ihr Mordprogramm entzweit worden war – in eine notvolle Zeit vor 1933, in der er auf Besseres hoffte, und in eine verlorene, für ihn wohl überflüssige Zeit nach 1945, in der er an einem Abend dann das »Geschäft der Selbstbestreitung« als das einzige, »das seine geistige Würde ihm noch salvierte«560, an sein Ende brachte. Noch knapp bevor Hitler an die Macht kam, versuchte sich Jean Améry Ende der 1920er Jahre in Berlin, wo sich schon eine Reihe von Österreichern fand, die aus der nationalistischen Enge Österreichs und Wiens entkommen und ein offeneres Leben beginnen wollten – ein tragischer Konkurs, wie sich bald zeigte, weil dort auch der Mann aus dem oberösterreichischen Braunau eben Karriere machte. In der Reihe dieser Auswanderer fand sich auch Anton Kuh, der schon Mitte der 1920er Jahre eine steigende und gehässige Aversion gegen alles Sozialistische in Wien diagnostizierte – gebrochenes Vermächtnis der Kaiserstadt und ihrer Melancholie: »Als solche war sie einmal ein Paradies der Resignation, Arkadien der Melancholie; ihre Luft gemischt aus dem Lebenshauch, der vom Zentralfriedhof, und aus dem Sterbehauch, der vom Prater über sie strich. Und hier, im Prater, an der Grenze von Ringelspiellärm und feudalem Huftrab, im grünsten Dickicht, lag auch ihr symbolischer Punkt: das ›Selbstmörderbankl‹. Heute ist ganz Wien ein solches Selbstmörderbankl geworden. Die Resignation ist schäbig, die Melancholie verschlissen; und Arkadiens Bewohner, ungewohnt, sich bei der Geschichte zu beklagen, plappern wie verzauberte Vögel, die das Verwandlungswort nicht mehr wissen, ihr Unglück in einem einzigen, ewig wiederholten Namen vor sich hin: ›Der Breitner!‹ – ›D’r Breittnaa!‹«561

Im Sozialdemokraten Hugo Breitner fanden die ökonomisch noch gut situierten Wiener, die Großteils den Christlich-Sozialen zugehörten, den Sündenbock, auf den sie allen Unbill abluden – den befürchteten, den herannahenden, den projizierten, sofern er sie betreffen konnte. In dieser dumpfen und aggressionsbereiten Atmosphäre verweste jede politische Alternative zu diesem gärenden Unwohlsein, das nichts so ablehnte wie die Veränderung des status quo. Jean Améry gehörte nie zu dieser Schicht. Er war ihr nichts schuldig und hatte auch nichts zu verteidigen. In Berlin lernte er neben Anton Kuh auch andere große Literaten seiner Zeit kennen. Um zu leben, nahm er Gelegenheitsarbeiten 559 Ebd., 31. 560 Ebd., 146. 561 Kuh Anton, Jetzt können wir schlafen gehen! 112f.

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an. Und wenn diese getan waren, »dann fuhr ich abends hinaus nach LichterfeldOst, wo ich in einem drittklassigen Nachtlokal viertklassig Klavier spielte, um mir ein paar Pfennige zu verdienen, und wo ein Mädchen neben meinem Piano stand und die Lieder der Tage zu meinem Geklimper sang: ›Ein spanischer Tango‹, ›Das gibt’s nur einmal…‹«562 Als er 1930 eine Buchhandelslehre begann und im Jahr darauf das Studium der Philosophie und Literatur, zu dem er wieder nach Wien zurückgekehrt war, um sich in die Philosophie des Positivismus zu vertiefen563, stand alles schon im Zeichen des Faschismus diesseits und jenseits der ideologisch längst schon durchlässig gewordenen deutsch-österreichischen Grenze. In seinen späteren Reflexionen sah Jean Améry mit der ihm eigenen hüllen- und schutzlosen Klarheit, wie sehr auch das intellektuelle Leben der primitiven Logik von Angebot und Nachfrage564 gehorchte und durch seine ästhetischen Chimären den Widerstand schon aufgegeben hatte, ehe er sich noch regen konnte. Er fragte: »Wie kam es…, daß du nicht zur Zeit begriffest, in welchem Ausmaß der schon damals altersmüde Singsang, in den du lesend einstimmtest, Opium war: Opium des Intellektuellen, des ästhetischen Menschen, der seiner kleinbürgerlich-proletarischen Kondition sich verweigerte?«565 Und dann, 1933, als die Glocke schlug und die letzten Fetzen einer Traumwelt zerrissen, ein Schritt des Mannes, der sich selbst als »Existential-Positivist und obstinater Atheist«566 beschrieben hatte: Austritt aus der jüdischen Kultusgemeinde.567 Sein Austritt war einer unter auffallend vielen, die in den Jahren 562 Améry Jean, Örtlichkeiten, 122. 563 Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 266. 564 »Der intellektuelle Markt gleicht schließlich aufs Haar dem Warenmarkt: der Produzent hat dieses Marktes Grenzen erkannt und weiß auch, daß nur eine beschränkte Anzahl von Gütern feilgeboten werden darf, soll die Nachfrage nicht erschlaffen. Es läuft zu schlechterletzt darauf hinaus, daß immer mehr Leute gleichzeitig von immer weniger geistigen Phänomenen reden und schreiben. Und das ist die ganze triste Herrlichkeit intellektuellen Treibens in der kapitalistischen Gesellschaft. Ein unsichtbarer Bogen spannt sich hinüber zu den eingestandenen repressiven Staatsmaschinen, denn ob der Gedanke von einem für Ideologie verantwortlichen Gremium vorgeschrieben wird oder vom Marktgesetz, macht kaum einen Unterschied.« (Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 21f). 565 Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 11. 566 Améry Jean, Weiterleben – aber wie? 162. 567 Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 266. Pfäfflin fügt an diesen Austrittsvermerk an: »Katholische Taufe?« Das scheint mir äußerst unwahrscheinlich. Améry studierte in diesen Jahren Philosophie bei den Wiener Positivisten; ihnen war Religion ein Phänomen, das auf seine empirisch-psychischen Grundlagen zurückzuführen und demgemäß mit seinen Ansprüchen aufzulösen war. Améry blieb diesem Denken bis an sein Ende verbunden. Eine Taufe hätte das, was er studiert und gedacht hatte, direkt widerrufen – auch wenn man berücksichtigt, dass die Zuwendung zum katholischen Christentum von nicht wenigen Juden vollzogen worden ist, weil man sich aufgrund der institutionellen Stärke dieser Kirche erhoffte, durch eine solche Taufe geschützt zu sein.

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zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gesetzt wurden.568 Erst später wurde ihm die Zugehörigkeit zum Judentum zu einer Pflicht, die er nicht aufgeben wollte und nicht aufgeben konnte. »Ich muß Jude sein und werde es sein, ob mit oder ohne Religion, innerhalb oder außerhalb einer Tradition, ob Jean, Hans oder Jochanaan«569, schrieb er in Erinnerung an 1935, als er »die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte. Ich brauchte sie nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellschaft, sinnenfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den durchaus die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht, beziehungsweise sie hatte meinem früher schon vorhandenen, aber damals nicht folgenschweren Wissen, daß ich Jude sei, eine neue Dimension gegeben. Welch eine? Keine aufs erste auslotbare. Ich war, als ich die Nürnberger Rassengesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor. Meine Gesichtszüge waren nicht mediterran-semitischer geworden, mein Assoziationsbereich war nicht plötzlich durch Zauberkraft aufgefüllt mit hebräischen Referenzen, der Weihnachtsbaum hatte sich nicht magisch verwandelt in den siebenarmigen Leuchter. Wenn das von der Gesellschaft über mich verhängte Urteil einen greifbaren Sinn hatte, konnte es nur bedeuten, ich sei fürderhin dem Tode ausgesetzt. Dem Tode. Nun, dem gehören wir alle an, über kurz oder lang. Aber der Jude, als der ich durch Gesetzes- und Gesellschaftsbeschluß jetzt dastand, der war ihm enger versprochen schon mitten im Leben, dessen Tage waren eine zu jeder Sekunde widerrufbare Ungnadenfrist.«570

Was damals politische Realität geworden war, bildete auch Hintergrund und Panorama seines posthum publizierten Romanerstlings Die Schiffbrüchigen, den er in dieser Jahren schrieb. Die spätere Ableitung der Tortur aus dem Verrenktwerden571, wie Améry es 1943 erfahren hatte, nahm der Roman schon vorweg: Angst hat den Körper Eugen Althagers gelähmt, der sich gegen die politischen Entwicklungen stemmte, schutzlos ist er dem Kontrahenten ausgeliefert, ein schwerer Schlag macht ihn fast ohnmächtig, ehe ihn »ein unerträglicher Schmerz in der rechten Schulter (weckte). Sein Arm lag, als gehörte er nicht zu ihm, am Boden. Die Kugel war aus dem Gelenk gesprungen.«572 Auch die Frage der Zugehörigkeit zum arischen Geblüt573, an der sich alles entschied, findet sich im Roman, ebenso die sichere Ahnung, dass der eruptive Aggressionscharakter, der in Österreich im Februaraufstand und seiner Niederschlagung von 1934 wie nie zuvor ausgebrochen war, sich erst im Krieg befriedigen werde:

568 569 570 571 572 573

Lichtblau Albert, Integration, 503 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 133. Ebd., 134. Ebd., 62f. Améry Jean, Die Schiffbrüchigen, 265f. Ebd., 207f.

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»Was kam, war Krieg. Das wußte Eugen. Ein letztes Mal ließ er ein einzelnes Geschehen als Symbol gelten: den Februar: für ihn das Auftaktzeichen zum Untergang. In allen Ländern saß am Steuer die Macht. Hier war man aufgestanden wider sie und zu Boden geschlagen worden. Aufgestanden wider sie waren mit tausend zufälligen Armen und Rechtlosen die alten zerschabten Ideen: Freiheit, Menschlichkeit, Demokratie. Am Boden lagen sie hier und vorbereitet wurden unparierbare Schläge gegen sie in aller Welt. Kolonnenweise marschierte die uniformierte Macht über die Erde, die Einzelnen in ihre Reihen verschluckend, schweigsam und kriegerisch. Was kam, war Krieg! (…) Kein Zweifel, daß er ehrlich litt unter dem unaufhaltsamen Anmarsch kriegbringender Mächte, unter der nahen Aussicht auf einen neuen Weltbrei aus zerrissenen Bäuchen, Darmschläuchen und zerstampften Beinen.«574

Der junge Jean Améry, als Positivist dem Einzelnen und Empirischen verbunden, hatte sich nicht an Abstraktionen verloren, hinter denen sich die grauenhaften Einzelheiten verstecken ließen. Dem Einzelnen zugewandt waren aber auch die Dichter. Beide, Dichter und Positivist, schützten das Einzelne und die Einzelnen vor großflächigen Egalitäten, wie sie nie die Leidenden, sondern stets die Buchhalter der Gewalt und die Systemträger hervorbringen. So erinnern diese Zeilen Amérys auch an Franz Werfels Widerstand gegen die großen Begriffe, als er in Die vierzig Tage des Musa Dagh einige Jahre vor Amérys Roman die »Gesichter ohne Nasen und Augen, Kinnladen wie blutiger Brei, von Dumdumgeschossen zermörste Leiber, ächzende Menschen mit Bauchschüssen«575 genannt hat. Aufmerksamkeit für Einzelne – das bestimmte den Blick und die Wahrnehmung der Dichter im Ganzen und besonders dieses Positivisten. Im Dezember 1937 heiratete Jean Améry Regine Berger-Baumgarten, Ende 1938 flohen beide nach Antwerpen. Dort ließ sich noch ein wenig leben, weil die ansässigen Juden für das Auskommen der Vertriebenen sorgten.576 In Antwerpen arbeitete Améry als Sprachlehrer und frankisierte seinen Namen, eher aus pragmatischen als aus prinzipiellen Gründen,577 die jedoch später entscheidend wurden, den Namen beizubehalten. Als am 28. Mai 1940 Belgien von Deutschland überfallen wurde, begann die getrennte Flucht der beiden Eheleute. Regine Améry versteckte sich in Belgien bis 1945 in verschiedenen Gegenden und starb, diesem Leben nicht mehr gewachsen, knapp vor dem Zusammenbruch des Nationalsozialistischen Regimes am 24. April 1945. Jean Améry wurde mehrfach aufgegriffen und am 29. Oktober 1940 in das Lager Gurs verschleppt. Gurs zeigte ihm nicht nur, wie real die Todesdrohung geworden war; als er später die Gegend des Lagers noch einmal aufsuchen wollte, wusste er, dass diese Todesdrohung in

574 575 576 577

Ebd., 239f. Werfel Franz, Die vierzig Tage des Musa Dagh, 583 (S. S. 106). Améry Jean, Örtlichkeiten, 40. Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 267.

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unheimlicher Weise am Überlebenden realisiert worden ist: Ihn und seine Geschichte hat man einfach übertüncht, als wäre weder sie noch er je gewesen. »Die Hand weist energisch und bewegt sich dabei, als messe sie die Weite ab. Hier, sagt die Frau, hier lag das Camp de Gurs. Die Spuren sind alle erloschen. Nicht ohne Entsetzen und eine tiefe Todesangst denkt der Besucher: Gras ist gewachsen über meine Vergangenheit; es ist wirklich Gras gewachsen, ich dachte immer, das sei nur eine Redensart. Gras. (…) Und noch ein flüchtiger Blick auf die Pyrenäen, an deren Fuß Lourdes liegen mußte, wüßte man nur genau wo, die Pfaffen wären vielleicht hilfsbereit. Ein anderer schrieb ihnen zu Ehren das ›Lied von Bernadette‹, ungefähr zur selben Zeit. Zähneknirschen. Ich werde mich nicht vor den Soubirous in den Lehm werfen. Ich werde nicht, auf keinen Fall. Was werde ich?«578

Geglücktes Versteck und Flucht Franz Werfels – er entkam dem, was in diesen Jahren Jean Améry terrorisierte. Eine Flucht gelang zwar auch Améry, doch seine Flucht aus Gurs war eine Flucht aus einem Deportationslager und weiter hinein in den Widerstand, denn weder Haft noch Flucht hatten ihn gebrochen. Statt abzutauchen, engagierte er sich in der Österreichischen Einheitsfront in Belgien; diese Verbindung versuchte, mit Flugblättern »die deutschen Soldaten vom grausamen Wahnwitz Hitlers und seines Krieges zu überzeugen.«579 Am 23. Juli 1943 dann die letzte Wende, die Jean Améry zum isolierten Katastrophenjuden machte: »Ich wurde im Juli 1943 von der Gestapo verhaftet. Flugzettel-Affäre. Die Gruppe, der ich angehörte, eine kleine deutschsprachige Gruppe der belgischen Widerstandsbewegung, bemühte sich um antinazistische Propaganda unter den Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht. Wir stellten ziemlich primitives Agitationsmaterial her, von dem wir uns einbildeten, es könne die deutschen Soldaten vom grausamen Wahnwitz Hitlers und seines Krieges überzeugen. (…) Auf einem der Flugblätter, die ich im Augenblick meiner Festnahme bei mir trug, stand ebenso bündig wie propagandistisch ungeschickt: ›Tod den SS-Banditen und Gestapohenkern!‹ Wer mit Schriftzeug solcher Art von den Männern in Ledermänteln mit vorgehaltenen Pistolen angehalten wurde, der konnte sich keinerlei Illusionen machen.«580

Und nun greift kein abstraktes, allgemeines System nach Jean Améry, wie auch er sich nie als allgemeines, transzendentales Subjekt mit zufälliger empirischer Realität begriffen hatte; es sind Einzelne, die agieren und dem Ungeist seine Wirklichkeit geben – Einzelne, die in der unmittelbaren Erfahrung ganz anders wirken als in der reflexiven Distanz, die nicht nur allgemeine Bezüge aufsucht, um zu beschreiben, was geschehen sein dürfte, sondern sich mit den Allge-

578 Améry Jean, Örtlichkeiten, 51 und 56. 579 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 50. 580 Ebd., 50f.

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Jean Améry – Es gibt keine »Banalität des Bösen«

meinheiten alles Unausweichliche vom Hals schafft, das ein einzelnes Opfer ergreift. Diesem widerfährt eine bis dahin unbekannte Ernüchterung, denn jetzt »eröffnet sich fast verblüffend die Einsicht, daß die Kerle nicht nur Ledermäntel und Pistolen haben, sondern auch Gesichter: keine ›Gestapogesichter‹ mit verdrehten Nasen, hypertrophen Kinnpartien, Pocken- und Messerstichnarben, wie sie im Buche stehen könnten. Vielmehr: Gesichter wie irgendwer. Duzendgesichter. Und die ungeheure, wieder jede abstrahierende Vorstellung zerstörende Erkenntnis eines späteren Stadiums macht uns deutlich, wie die Duzendgesichter dann doch zu Gestapogesichtern werden und wie das Böse die Banalität überlagert und überhöht. Es gibt keine ›Banalität des Bösen‹, und Hannah Arendt, die in ihrem Eichmann-Buch davon schrieb, kannte den Menschenfeind nur vom Hörensagen und sah ihn nur durch den gläsernen Käfig. Wo ein Ereignis uns bis zum äußersten herausfordert, dort sollte nicht von Banalität gesprochen werden, denn an diesem Punkt gibt es keine Abstraktion mehr und niemals eine der Realität sich auch nur annähernde Einbildungskraft. Daß jemand im Auto gefesselt weggeführt wird, ist ›selbstverständlich‹ nur, wenn man davon in der Zeitung liest und sich dann, während man gerade Flugzettel verpackt, vernünftig sagt: Nun ja, und was weiter? So kann es, so wird es auch mir eines Tages ergehen. Aber das Auto ist anders, und der Druck der Fesseln wurde nicht vorgespürt, und die Straßen sind fremd, und das Tor des Gestapohauptquartiers, man mochte vordem unzählige Male daran vorübergeschritten sein, hat andere Perspektiven, andere Ornamente, andere Quadern, wenn man als Häftling über seine Schwelle tritt. Alles versteht sich von selbst, und nichts ist selbstverständlich, sobald wir hineingestoßen werden in eine Wirklichkeit, deren Licht uns blind macht und bis ins Mark versehrt.«581

Jean Améry war nicht in eine Horrormaskerade geraten, deren Inszenierung optisch schon die Rollen verteilt; er verstand sich weder auf einen objektiven, fast klinisch-neutralen Standpunkt, dem das ganze Geschehen der Festnahme zu etwas Trivialem wurde582, noch auf die fast spielerische Dialektik Hannah Arendts, wonach nur das Gute seine Tiefe hätte, das Böse aber oberflächlich und banal wäre.583 Ihn traf ein im Letzten Inkommensurables, dem sich kein Denken adäquat nähern kann, sondern das nur hingenommen werden kann als etwas, das ein durch Schlag- und Kommandoworte, durch Schläge und Folter unmittelbar Getroffener berichtet und bedenkt. Für Améry zog sich hier, in dieser Festnahme, das Finale seiner eigenen Existenz schon zusammen, von dem Beobachter nichts wissen können, weil ihnen genau das fehlt, was Franz Werfels Clayton Jeeves durch sein JeremiaWiderfahrnis zugekommen ist: Kewana. Das Finale seiner Existenz war die auf die Festnahme folgende Folter, die alles Folgende schon in sich enthielt, das Vernichtungslager Auschwitz, in das Améry im Jänner 1944 verbracht wurde,

581 Ebd., 52f. 582 Fackenheim Emil L., To Mend the World, 26. 583 Ebd., 262.

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dann Gleiwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen.584 Diese Etappen schrieben sich Amérys Körper ein – dem nicht unähnlich, was Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie zeigte: Fleischwerdung des Wortes, da wie dort ohne Schuld des Opfers, das systematisch zerstört wird. Auf diesen Etappen sammelte Jean Amérys Körper viele Namen der Todeslager ein, die heute in der Gedenkhalle der Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem585 im Westen Jerusalems weitläufiger und in drückender Enge in der Holocaust Chamber in unmittelbarer Nähe des Jerusalemer Zionstores zu lesen sind. Was von Améry im April 1945 noch übrig war, war nicht mehr als ein Todesschatten586 und gehörte nirgends mehr hin. Die Schoa hatte nämlich eine Folgegeschichte hervorgebracht, die sich im Antisemitismus nach 1945 festbiss: Auch die Überlebenden sollten verschwinden. Man wollte nicht mehr an sie erinnert werden. Durch keinen von ihnen. Dem hielt Jean Améry seine literarische Selbstdokumentation entgegen, wie Imre Kértesz schreibt, nachdem alle andern Möglichkeiten der Rückkehr versagt waren: »Aus der Kultur fand er keinen Ausweg, er schritt aus der Kultur nach Auschwitz und aus Auschwitz in die Kultur, wie aus einem Lager in das andere, und die sprachliche und geistige Welt der gegebenen Kultur sperrt ihn ein, wie der Stacheldrahtzaun von Auschwitz. Er überlebte Auschwitz; und wenn er sein Überleben überleben wollte, wenn er es mit Sinn, oder sagen wir eher: mit Inhalt versehen wollte, dann sah er, vielmehr war er gezwungen, als Schriftsteller die alleinige Chance in der Selbstdokumentierung, in der Selbstuntersuchung, in der Objektivierung, das heißt, in der Kultur zu sehen. ›>Wie ein Hund!< sagte K., es war, als sollte die Scham ihn überleben.‹ Wenn er aber wirklich wollte, daß ihn die Scham überlebe, dann mußte er die Scham richtig darstellen und das Dargestellte in eine bleibende Form gießen, das heißt, er mußte ein guter Schriftsteller werden.«587

2.

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In dieser Form von Literatur, autobiografisch durchzogen und dadurch beschämend für Täter und Kollaborateure, versuchte Jean Améry seine Existenzbehauptung nach 1945 durchzusetzen, als man in den Verwaltungen Österreichs und Deutschlands588 sich bemühte, die Existenzen der Überlebenden zu übersehen und zu übertünchen. Im deutschen Wirtschaftswunder wucherte eine verdächtige Emsigkeit, Genauigkeit und Gründlichkeit, durch die man den eigenen Schatten zu entkommen hoffte. Die dienstfertigen Täter von gestern 584 585 586 587 588

Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 270. Zeugnisse des Holocaust, 288f. Améry Jean, Ressentiments, 13. Kertész Imre, Die Panne, 17. Kos Wolfgang, Zur Entnazifizierung der Bürokratie, 52–72.

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dienten nun ebenso gehorsam und untertan mit ihrem Einsatz dem Aufbau des neuen Deutschland. Dagegen stemmte sich Jean Améry mit der ihm eigenen Konsequenz. »Hartnäckig trug ich Deutschland seine zwölf Jahre Hitler nach, trug sie hinein in das industrielle Idyll des neuen Europa und die majestätischen Hallen des Abendlandes.«589 Doch er erkannte sofort, wie es um seine eigenen Möglichkeiten stand. War er vor 1945 den Folterknechten ausgeliefert, vor denen ihm nichts blieb, was sich noch hätte schützen lassen können, so zwang ihn nach 1945 das blanke Überleben auf den Markt, in dem er wieder schutzlos preisgegeben war. Nicht das, was er diesem schreibend einverleiben musste, stand zur Wahl; nur die Adressaten konnte er sich aussuchen. Es waren nicht die Deutschen. »Ich habe 1945, als es darum ging, mein Brot zu verdienen, gleich begonnen zu schreiben, und zwar das, was der Markt erforderte und für einen Markt, für den ich bereit war zu schreiben. Das war nicht die Bundesrepublik.«590 Er wohnte in Brüssel, hatte Kontakt gefunden im französisch- und englischsprachigen Raum, Verbindungen nach Wien, beteiligte sich an Hilfsaktionen – und blieb dem treu, was er Ressentiment nannte und in seiner Bedeutung gegen Nietzsche hielt. Nietzsche hatte dem Ressentiment eine gefährliche Impotenz zugeschrieben, die sich nur durch eine »imaginäre Rache«591 ausdrückt, nicht durch eine Tat; der imaginären Rache entspricht die Konstruktion eines bösen Feindes, den es gar nicht gibt;592 als Fundament dieser Konstruktion machte Nietzsche eine »Klugheit niedrigsten Ranges« aus, »welche selbst Insekten haben (die sich wohl totstellen, um nicht ›zuviel‹ zu tun, bei großer Gefahr)«593: Die kapitale Ohnmacht wird in den stets priesterlich durchtränkten »Prunk der entsagenden, stillen, abwartenden Tugend gekleidet.«594 Nietzsche war diese Verbindung von Ressentiment und Priestertum wichtig, weil das Priestertum auf dem Boden seiner gehorsamen Sklavenhaltung zugleich den Aufstand der Sklaven anzettelt, durch den alle natürlichen Geltungen umgewertet werden. Die Priester tun das in der Kraft ihres Hasses gegen das Bestehende. Die paradigmatische Priesterschaft, aufgeladen mit dem Ressentiment der Schwachen, ist für Nietzsche das historische Priestervolk der Juden. »Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser: – gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist: – 589 590 591 592 593 594

Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 109. Jean Améry, zit. in: Steiner Stephan (Hg.), Jean Améry (Hans Maier), 136. Nietzsche Friedrich, Zur Genealogie der Moral, 294. Ebd., 296. Ebd., 298. Ebd., 298.

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nehmen wir sofort das größte Beispiel. Alles, was auf Erden gegen ›die Vornehmen‹, ›die Gewaltigen‹, ›die Herren‹, ›die Machthaber‹ getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was die Juden getan haben, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch den Akt der geistigsten Rache, Genugtuung zu schaffen wußte.«595

Für Nietzsche zog dieses real gewordene Ressentiment seine hassende Kraft aus »dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen«, die dadurch ausgelöst worden sein soll, dass »mit den Juden der Sklavenaufstand in der Moral beginnt: jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist…«596 Durchs Ressentiment sieht Nietzsche die Größe zersetzt, das Starke, das raubtierhaft Aristokratische, »die prachtvolle, nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie.«597 Jean Améry hatte die horriblen Jahre dieser blonden, arischen Bestien nicht nur geschaut, er trug den Horror in seinem Körper davon und überall hin, wohin er noch kam. Von ihm nährten sich seine Ressentiments, von denen Nietzsche, in seiner teils antiaufklärerischen, triebdurchsetzten Rebellion von antisemitischem Dunst umnebelt598, nichts ahnte. Denn Nietzsches Ende kam nicht aus 595 596 597 598

Ebd., 292. Ebd., 293. Ebd., 297. Es ist darauf hinzuweisen, um klarzustellen, dass auch Nietzsche sein Denken teils von Gassenideologien nährte, durch die er direkt antisemitische Motive aufnahm und festigte. Hetzerische Antisemiten wie der schon erwähnte Journalist Wilhelm Marr, der protestantische Geistliche Adolf Stoecker und der Agitator Georg Schönerer waren Nietzsches deutschsprachige Zeitgenossen; sie artikulierten und verschärften, was an antijüdischen Affekten längst schon bereit stand. Nietzsche dachte und lebte da mit. Das zeigt sich auch dadurch, dass ihm viel an der Verbindung mit Richard Wagner lag (Fleischer Margot, Art. Nietzsche, 507f), um den sich ein antisemitischer Kreis gebildet hatte, zu dem auch der Autor ideologischer, antisemitischer Werke wie Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899) oder Arische Weltanschauung (1905) gehörte, Houston Steward Chamberlain. In Arische Weltanschauung beschwor Chamberlain im Ton gelehrt-pädagogischer Anrede auch die entscheidende Differenz zwischen dem Arischen oder, wie er schon im Vorwort hervorhebt, Altarischen einerseits und dem Jüdischen andererseits, weil nur das Altarische, das sich im Indischen finde – als einer Grundformation des Indogermanischen –, vom Jüdischen unberührt und rein geblieben sei; und das habe sich nur deshalb bewahrt, weil Vorsehung am Werk gewesen sei: »Die erste Eigenschaft – die Reinheit – entströmt freilich nicht eigener Kraft, sondern ist das Ergebnis geschichtlicher Vorsehung; doch sie betrifft den Kern des Denkens: einzig in der gesamten Geschichte indoeuropäischen Geisteslebens ist das altindische Denken und Dichten von jeglicher – auch entfernter – Berührung mit semitischem Geiste frei und daher rein, lauter, echt, eigen. Wer möchte sich nicht auf die Knie werfen und in solch seltenen Fluß dankbare Lippen tauchen? Das sage ich nicht aus blutgieriger antisemitischer Gesinnung, sondern weil mir bekannt ist, daß diese merkwürdige Menschenart – der Semit –, der über die ganze Welt hin sich verbreitet und die erstaunliche Fähigkeit besitzt, sich alles anzueignen, nichts berührt, ohne es tief innerlich

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einer Nacht, in der millionenfache Todesurteile vollstreckt wurden, weil ein arisch-priesterlicher Hass Gesetze erfunden und mit steigender Intensität durchgesetzt hatte; Nietzsche Ende kam wohl aus einer Nacht syphilitischer Infektion599, die nicht kollektives Programm, sondern individuelles Verhängnis war. Jean Améry aber musste mit einem paradoxen Makel nach seinem Überleben weiterleben und umgab ihn, schützend und kräftigend, mit seinem Ressentiment, das langsam sich vertiefte, wie er 1966 sagte: »Die Ressentiments als existentielle Dominante von meinesgleichen sind das Ergebnis einer langen persönlichen und historischen Entwicklung. Sie waren noch keineswegs manifest an dem Tage, da ich aus dem letzten meiner Konzentrationslager, BergenBelsen, heimkehrte nach Brüssel, wo ich aber keine Heimat hatte. Wir Auferstandene sahen alle ungefähr so aus, wie die in Archiven aufbewahrten Fotos aus den April- und Maitagen von 1945 uns zeigen: Skelette, die man belebt hatte mit anglo-amerikanischen Cornedbeef-Konserven, kahlgeschorene, zahnlose Gespenster, gerade noch brauchbar, geschwind Zeugnis abzulegen und sich dann dorthin davonzumachen, wohin sie eiumzuwandeln.« (Chamberlain Houston Steward, Arische Weltanschauung, 37). Hier hat man alles beisammen, was den politischen Rassismus der Nationalsozialisten bestimmen wird: Reinheit des Geblüts und Vorsehung, (Selbst-)Anbetung der arischen Grunddisposition sowie Zurüstung und Verstärkung des Gerüchts, dass Juden, die selbst nichts Eigenes hervorbringen konnten, sich alles assimilierten und von innen her damit zerstörten. Mit Bezug auf Nietzsche lässt sich unschwer entdecken, dass hier das Ressentiment in seiner Wirksamkeit und Durchsetzung beschrieben werden soll. – Über diese Zusammenhänge kann auch kein Widerstand Nietzsches hinwegtäuschen, den er gegen (propagandistische) Antisemiten hatte (Fleischer Margot, Art. Nietzsche, 508). Zu ambivalent waren seine Sätze, Aphorismen und philosophischen Schriften, sobald sie an das Judentum kamen, gespannt zwischen einer nicht untypischen Bewunderung für die Juden zugesprochenen »fast übermenschliche(n) Fähigkeiten« und einer »Art von deutscher Besessenheit« (Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VII, 21), in der die eigenen imperialistischen Träume auf ein diffuses jüdisches Kollektiv übertragen und an ihm – auch aus massiven Konkurrenzgründen – martialisch bekämpft werden. – Chamberlain steht auch für ein wörtlich verstandenes, reaktionäres Denken: Rückwendung in die idealisierten Anfänge soll Klarheit, Wahrheit, Reinheit bringen. Genau dieses Verfahren trieb Martin Heidegger mit seinem durchaus deutschen Denken, wenn er in Sein und Zeit das Programm verfolgt, bei den Griechen eine Klarheit und Reinheit des Denkens zu finden, wie sie nachher sukzessive entstellt wurden (Heidegger Martin, Sein und Zeit, 3, 21 u. ö.). Sein Engagement für das nationalsozialistische Regime hängt, wie immer man sein Denken herumwenden möchte, genau mit diesem Motiv zusammen und sollte nicht nur auf die »Diskreditierung seines Denkstils« (Gethmann-Siefert Annemarie, Art. Heidegger, 564) hinführen, sondern auch auf eine Abkehr von seinem Denken. Dass sein Denken sich wie kaum ein anderes so tief in Theologie eingewurzelt hat, mag mit der Differenzierbarkeit von Gott und Sein zu tun haben (ebd., 564), die der mittelalterlichen Gleichung entsagte. Doch mehr noch bindet beide – jedenfalls dort, wo Heidegger philosophischer Pate theologischen Denkens ist – ihre grundlegende Ferne und Abkehr vom Judentum aneinander. Insofern scheint mir, wo Heidegger nicht als Exponent einer toten Zeit und ihrer seltsam gestochenen Rhetorik mitsamt dem dazugehörigen pseudomythischen Geschwätz erfasst wird, theologisch affirmative Heidegger-Rezeption als Warnsignal, keinen Schritt mehr weiter zu gehen. 599 Fleischer Margot, Art. Nietzsche, 508f.

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gentlich gehörten. Aber wir waren ›Helden‹, sofern wir nämlich den über unsere Straßen gespannten Spruchbändern glauben durften, auf denen zu lesen stand: Gloire aux Prisonniers Politiques! Nur verwelkten die Bänder schnell, und die hübschen Sozialfürsorgerinnen und Rotkreuzschwestern, die sich in den ersten Tagen mit amerikanischen Zigaretten eingestellt hatten, wurden der Mühe müd.«600

Und dann war Améry Zeuge geworden, »wie die deutschen Politiker, von denen sich, wenn ich recht unterrichtet war, nur wenige im Widerstandskampf ausgezeichnet hatten, eiligst und enthusiastisch den Anschluß an Europa suchten: Sie knüpften mühelos das neue an jenes andere Europa, dessen Neuordnung Hitler in seinem Sinne bereits zwischen 1940 und 1944 erfolgreich begonnen hatte. Es war auf einmal guter Boden für Ressentiments, da brauchten nicht erst in deutschen Kleinstädten jüdische Friedhöfe und Mahnmäler für Widerstandskämpfer geschändet werden. Es genügten Gespräche wie eines, das ich mit einem süddeutschen Kaufmann 1958 beim Frühstück im Hotel geführt hatte. Der Mann versuchte mich, nicht ohne vorherige höfliche Erkundigung, ob ich Israelit sei, davon zu überzeugen, daß es Rassenhaß in seinem Lande nicht mehr gebe. Das deutsche Volk trage dem jüdischen nichts nach … Vae Victoribus! Die wir geglaubt hatten, der Sieg von 1945 sei wenigstens zu einem geringen Teil auch unser gewesen, wurden genötigt, ihn zurückzunehmen. Die Deutschen trugen den Widerstandskämpfern und Juden nichts mehr nach.«601

Améry war beides, jüdisch und deutschsprechend, und mit beidem wurde er egalisiert. Das reizt sein Ressentiment auf, des Paradoxons inne, »daß das Ressentiment nicht nur ein widernatürlicher, sondern auch ein logisch widersprüchlicher Zustand ist. Es nagelt jeden von uns fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit.«602 Doch er begibt sich in dieses Paradox deshalb, weil die Propaganda des nach vorn gereckten Blicks es den Täter zu leicht macht und ihm zu schwer, mit dem Geschehenen weiterzuleben. Zwischen ihm und seinen Peinigern gibt es keine zeitliche Parität, weder gestern noch morgen, auch nicht heute. »Unmöglich kann ich einen Parallelismus akzeptieren, der meinen Weg nebenher laufen ließe mit dem der Kerls, die mich mit dem Ochsenziemer züchtigten. Ich will nicht zum Komplizen meiner Quäler werden, verlange vielmehr, daß diese sich selbst negieren und in der Negation sich mir beiordnen. Nicht im Prozeß der Interiorisation, so scheint mir, sind die zwischen ihnen und mir liegenden Leichenhaufen abzutragen, sondern, im Gegenteil, durch Aktualisierung, schärfer gesagt: durch Austragung des ungelösten Konflikts im Wirkungsfeld der geschichtlichen Praxis.«603

Im Ressentiment verteidigt Jean Améry seine Existenz und sein Überleben gegen die zukunftsgewandten Täter, denen er nachgeht, um deren Illusionen über sich 600 601 602 603

Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 105. Ebd., 108f. Ebd., 111. Ebd., 112.

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selbst zu bestreiten, und gegen die Tatplätze, die im Wirtschaftswunder rasch beseitigt wurden. Ihm, dem zerstörten Menschen, schützt das Ressentiment das kümmerliche Leben, das ihm verblieben war. Da wird nichts umgewertet und keine Sklavenmoral zum Leitmotiv, wie Nietzsche meinte; in Amérys Ressentiment rebelliert das verbliebene Humane; es rebelliert gegen eine Gesellschaft, die mit ihren verschiedenen Entledigungen das Gestrige, das sie nicht gefühlt, sondern verübt hat, anbringen möchte und damit Hitlers Werk vollendet: Juden gibt es nicht mehr, nicht in der Gegenwart, vor allem aber nicht in der Vergangenheit, in der Erinnerung; diese ist ebenso gesäubert wie die Länder, in denen Hitler gewirkt hatte. Dieses Ressentiment zehrt von der Kraft des Überlebens angesichts der Schergen, die die Juden zertrümmern wollten. Damals galt schon: »Nur des Zerbrochenen starrste Haltung konnte noch dieser Welt widerstehn.«604 Diese Haltung bleibt. Wenn Améry die Komplizen und Täter behaften will und vor sein eigenes Tribunal bringt, in dem das Ressentiment Gericht hält und heute, 1966, Jahre danach, die Negationen der Täter auskämpfen will, damit ihre Taten nicht die kommenden Zeiten kontaminieren, dann revoltiert die ungebeugte Haltung aufgeklärter Humanität gegen das ideologische Geschäft einer Demokratie, die durch die Negation ihres immanenten Zusammenhangs mit dem Vernichtungsregime der Nationalsozialisten, der rein empirisch durch die gesellschaftlichen Subjekte gegeben ist, sich selbst zu dessen bereitwilligem Erben gemacht hat. Durch den chronischen Antisemitismus Europas, das Hitler auf seine Weise geordnet hat, bekommt posthum Amérys Ressentiment Recht, ebenso wie sein Fazit aus den frühen 1970er Jahren: »Der Nazismus, Apotheose und reinste Ausprägung faschistischer Bestialität, war geschlagen. Aber faschistische Niedertracht machte sich breit in den bürgerlichen Demokratien.«605 Im Jahr 1955 heiratet Jean Améry die Wienerin Maria Leitner, beide wohnen in Brüssel.606 Die Arbeiten in der Journalistik und im Rundfunk weiten sich in den kommenden Jahren aus. In all diesen Arbeiten führt das Ressentiment das Zepter. Seinem Paradox entkommt Améry nicht. Angenagelt nicht nur an die Vergangenheit des Terrors, sondern auch an die deutsche Sprache, die ihm die Braunhemden »gestohlen«607 hatten, umkreist er, was ihm sein Leben verdorben hatte; er muss es umkreisen – wovon sonst konnte er leben? Da taucht ein weiteres Paradox auf, in dem sich das Paradox des Ressentiments steigert. Die öffentlichen Rundfunkanstalten Deutschlands kaufen ihm seine Texte ab608, und 604 605 606 607 608

Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 77. Ebd., 99. Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 273. Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 65. »Bücherschreiben ist für einen Autor, der nicht der kleinen Gruppe ökonomisch erfolgreicher Schriftsteller angehört, ein Luxus. Unsereins ist angewiesen auf das Wohlwollen von

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Améry erkennt: »Was mich entmenscht hatte, ist Ware geworden, die ich feilhalte.«609 Aus diesen Texten entsteht 1966 die Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne, das Werk einer »unerbittlichen Selbstbefragung«610, in Entsprechung und Widerspruch angelehnt an Fjodor Dostojewskijs Roman Schuld und Sühne und an Nietzsches Schrift Jenseits von Gut und Böse.611 In dieser Sammlung bohren sich seine Ressentiments immer tiefer in die brüchigen Fundamente seiner Existenz: Die einstige Heimat, »das Kindheits- und Jugendland«612, ist endgültig verloren; über die Zäsur, die die Tortur bewirkte613, sah er nicht mehr hinaus; und als Agnostiker, dem Gott kein Schild und Schutz war, konnte er sich über die »Gewalt«614 nicht täuschen, zu der ihm die Wirklichkeit seit den KZ-Tagen geworden war, und auch nicht über die Ohnmacht von Geist und Wort615; und schließlich hat er sich als Mensch nicht finden können, indem er sich in einer Wesensspekulation denkend erschuf, sondern nur »indem ich mich in der gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit als revoltierender Jude auffand und ganz realisierte«616 – im Ressentiment gegen die Fremddefinition des Judeseins durch die Nationalsozialisten. Diese Definition von außen jagte einem Todesangst ein, hat späterhin die Angst »in Zorn verwandelt« und einen alten religiösen Imperativ durch einen neuen, zornigen Imperativ abgelöst: »›Höre Israel‹ geht mich nichts mehr an. Nur ein ›Höre Welt‹ möchte zornig aus mir dringen. So will es die sechsstellige Nummer auf meinem Unterarm. So fordert es das Katastrophengefühl, Dominante meiner Existenz.«617 Zorn – das war für Jean Améry kein Affekt des Missmuts, sondern Haltung der Resistenz, die in seinem letzten Lebensjahrzehnt immer klarere Konturen annahm. An den Titeln seiner Publikationen lässt sich das ablesen: 1968 publizierte er die Schrift Über das Altern. Revolte und Resignation; ab diesem Band veröffentlichte er im Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag – unter der Voraussetzung, dass die Einzelteile des jeweiligen Bandes durch Rundfunkaus-

609 610 611 612 613 614 615 616 617

Verlegern, die willens und kräftens sind, auch eine Niete hinzunehmen; und sind mehr noch darauf gestellt, von der mäzenatischen Funktion der Funkanstalten zu profitieren. Wir haben nicht eigentlich einen Markt. Wären wir völlig anhängig von diesem, wir müßten alle Hoffnung fahren lassen und – wie einstens ein Dehmel – Versicherungsbeamte werden.« (Améry Jean, Lefeu, 176). Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 128. Rosenfeld Sydney, Über Auschwitz sprechen, 39. Treitler Wolfgang, Die Fragen der Toten, 63. Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 84. Ebd., 55f. Ebd., 36. Ebd., 45. Ebd., 142. Ebd., 155.

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strahlung schon bekannt waren.618 Zweiter Teil also seiner bitteren Einsicht: »Was mich entmenscht hatte, ist Ware geworden, die ich feilhalte.«619 Das schlug nicht nur aufs Gemüt, es schlug sich auch aufs Herz. Unmittelbar nach dem Erscheinen dieses traurig-bitteren Bandes erleidet Jean Améry einen Herzinfarkt; »Lebensund Todesangst vereinigten sich zu einem dumpfen Gefühl des Überdrusses, Kampfesmüdigkeit«620, schreibt er in einem Brief an seinen Freund Ernst Mayer. Doch er muss weiter: Um die Absatzmöglichkeiten zu steigern, hält Améry Lesungen und knüpft Kontakte. Das hilft augenscheinlich. 1970 nimmt ihn die Akademie der Künste in Berlin als Mitglied auf, 1972 der bundesdeutsche PENClub621; 1977 erhält er noch den Preis der Stadt Wien für Publizistik und den Hamburger Lessing-Preis.622 Man ehrt ihn, fast zwangsläufig. Doch seinen Habitus der Revolte lässt er sich nicht abkaufen, er stumpft durch diese späte Anerkennung nicht ab. Das zeigt sich an seinen autobiografischen Reflexionen in Unmeisterliche Wanderjahre von 1971. Mit dem Titel spielte Jean Améry in Entsprechung und Widerspruch nun auf Goethe an und setzte eine ganz bestimmte Umkehrung der Andeutung: Amérys ganz bestimmte Negation des Überkommenen zog er aus seinem Geschick, vor allem aus der Tortur und aus der Fremdheit, die ihm blieb. Deshalb konnte er nicht einfach Nein sagen zu den Vorgaben und sie abschaffen; er sagte Nein zu diesen Vorgaben, indem er darstellte, erzählte und reflektierte, was den Bruch bedingt hat. Man wird von fern an Hegel und seine bestimmte Negation erinnert; Hegel hatte in seiner Wissenschaft der Logik die bestimmte Negation bezeichnet als »die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist und daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besonderen Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist.«623

Den Inhalt bewahrt die bestimmte Negation als einen verneinten. Was sich bei Hegel logisch geistreich ausnimmt, ist existentiell katastrophal: Eben weil Améry die kulturellen und literarischen Vorgaben wegen des erlebten Horrors verneinen muss – hier herrscht existentieller Zwang, furchtbarer als ihn je Logik dialektisch vermitteln kann –, bleibt er sowohl am affirmativen Gehalt der Folter als auch an der Konstante der Entwurzelung hängen. Heimatlosigkeit 618 619 620 621 622 623

Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 275. Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 128. Jean Améry, zit. in: Heidelberger-Leonard Irene, Jean Améry, 249. Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 275f. Ebd., 279. Hegel Georg Wilhelm Friedrich, Werke 5, 49.

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und Ressentiment bleiben ihm innerlich. Hier verknoten sich die beiden schon zitierten Texte Amérys: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.«624 Und: Das Ressentiment »nagelt jeden von uns fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit.«625 Das macht die Tragödie seiner bestimmten Negation aus, die ihm jede logische Aufhebung im Absoluten verdorben hat: »Befreit und doch nicht frei – dies ist das Paradox der Juden«626 (Abraham Klausner), dem auch Jean Améry gehörte. Von dieser Tragödie gab die Schrift Unmeisterliche Wanderjahre Zeugnis. Formal wie Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre in spannungsreiche »Bezirke«627 gegliedert, schied ihn die Unmöglichkeit, irgendwo wenigstens noch so etwas wie »kosmozentrische Unschuld«628 zu erfahren. Ihm war real geworden, was Goethe zwar nicht erfahren hatte, aber auch nicht übersehen konnte: »Die Natur verstummt auf der Folter.«629 Literarische Mühe zielt daher nicht mehr aufs Uranfängliche630, sondern dient der Revolte, die in der Demaskierung von Verbrechern und Verbrechen sich aufreibt.631 Das ist ihr Widerspruch bei Jean Améry, den er durchstand, solange er konnte. Denn die Revolte schafft gegen das Erbe der Verbrecher keine humane Zukunft und lässt sich auch nicht durch irgendwelche mythischen Anfänge täuschen. Uranfänge gibt es nicht mehr; was war und ist und sein wird, das ist die katastrophale Tragödie. Die daraus folgende Einsicht fasste Améry in die 624 625 626 627 628 629 630

Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 73. Ebd., 111. Abraham Klausner, zit. in: Zeugnisse des Holocaust, 254. Verweyen Theodor, Art. Johann Wolfgang von Goethe, 532f. Hans Blumenberg, zit. in: ebd., 534. Johann Wolfgang von Goethe, zit. in: Blumenberg Hans, Die Lesbarkeit der Welt, 215. Ebd., 227 wird nochmals Goethe zitiert: »Wenn man von Uranfängen spricht, so sollte man uranfänglich reden, das heißt dichterisch; denn was unsrer tagtäglichen Sprache anheimfällt: Erfahrung, Verstand, Urteil, alles reicht nicht hin. Als ich mich in diese wüsten Felsklüfte vertiefte, war es das erstemal, daß ich die Poeten beneidete.« 631 Die traditionelle Unterscheidung zwischen Täter und Tat, also zwischen Verbrecher und Verbrechen, wie sie Dennis B. Klein in seinem Essay über Ressentiment und Anerkennung gegen Ende aufgreift, teile ich in dieser Form nicht: »This distinction between the offense and the offenders … unsettled the idée fixe of closure embedded in conceptions of forgiveness that he declared in binomial formulations ›to forgive and forget.‹ Améry helped make it possible to forgive and remember – to forgive criminals and remember their crimes.« (Klein Dennis B., Resentment and Recognition, 103f). Diese Unterscheidung, mit der es sich die Nachfahren der Verbrecher bequem machen, gehört zu jenen Abstraktionen, die durch das Übermaß an Gewalt und Vernichtung, wie sie in der Schoa durch Menschen mit Namen und Geschichte verrichtet worden sind, überholt sind und auch im jüdischen Widerstand vor, während und nach der Schoa irrelevant waren. In der Personifizierung des Verbrechens durch den Verbrecher fand eine Identifizierung statt, wie sie auch in den nachfolgenden Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg 1946 deutlich geworden ist. Und Jean Améry selbst hat auch nicht darauf verzichtet, den Namen des Leutnants festzuhalten, der als Spezialist für Folterungen in Breendonk galt: »Der Herr Leutnant … hieß Praust – P-R-A-U-S-T.« (Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 62).

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Schlusspassagen von Unmeisterliche Wanderjahre, in denen er die Umwertungen durch Negationen zuspitzte. »Geschäft der Selbstbestreitung, einziges, das seine geistige Würde noch salvierte, es wurde so langweilig wie die je angefochtenen Gegenstände. Auch entriß er sich der intellektuellen Parästhesie nicht, wenn er (über) die politischen Verläufe nachdachte. Einst, da hatte es das Wahre und das Falsche gegeben, das Gute und das Böse. Er würde es nicht wieder so bequem haben wie damals in des Dritten Reiches Verliesen. Nichts war als wahr zu erhärten; nirgendwo fand er im Guten oder auch nur Richtigen Obdach. (…) Aber an so vielen Orten drohten so vielen die apokalyptischen Reiter, da wurde er am Ende unsicher. Ging ihn an, was ihn anging? Oder verflüchtigte auch das Angehende sich in der gespenstischen Fülle durch- und abgelebter Erscheinungen? Was da herauftauchte, Foltern in Brasilien, Artillerieduelle am Suezkanal, neue Lyrik und straffe soziologische Analyse, es starrte ihn an wie die Masken James Ensors. Non, rien ne valait la peine. Man peinigte sich dennoch. Aus sehr alter Gewohnheit und weil man nichts Besseres zu tun fand. The walls stand speechless and cold. Vier Wände eines Arbeitszimmer(s). Strukturen. Wer als Fremdling ihnen ausgeliefert ist, wird tiefes Verlangen verspüren, stumm sein zu dürfen. Nicht jedem ist’s gewährt. Schreiben ist ein Metier wie irgendeines.«632

Die Erinnerung an Milena Jesenská drängt sich auf, die Kafka einen Menschen »ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach« genannt hat. Jean Améry ist der Mann, der wie Kafka hinausgestoßen wurde in eine unlebbare Welt. Die Ausstoßung Kafkas trug eher individuellen Charakter, die Ausstoßung Amérys war systemisch und führte vor sich formalistische Gesetze und eine Vernichtungsmaschinerie her. Kafka ahnte den Druck der Maschinenwelt, in der es ein Leichtes sein wird, den Menschen auszulöschen; Améry erlebte faktisch furchtbarer, was Kafka mit In der Strafkolonie noch erzählt hatte. Es war zum Erbrechen, zum Ausspeien des Lebens. 1974 veröffentlichte er seinen Romanessay Lefeu oder Der Abbruch, formal eine überraschende Kombination von erzählerischen und reflexiven Elementen633, die Marcel Reich-Ranicki nervös machte und zu einem »Verriß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung«634 verführte, ganz der Selbsteinschätzung Jean Amérys zuwider laufend, der dieses Buch, das sich nicht gut verkaufen sollte, für sein bisher bestes hielt. Essayistische Reflexion dominierte635, und das nicht 632 Améry Jean, Unmeisterliche Wanderjahre, 146f. 633 »The difficulty that Lefeu oder Der Abbruch seemed to pose for many critics and later, for literary scholars, … was that with it Améry had ventured into stylistically new terrain that was different from his previous essayistic writings. Unlike the essay collections Jenseits von Schuld und Sühne and Unmeisterliche Wanderjahre, Lefeu oder Der Abbruch was to include a distinct narrative and fictional dimension even while still privileging essayistic reflection.« (Zisselberger Markus, Aufbrechen / Abbrechen, 154). 634 Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 277. 635 Schneider Sarah, Das verzerrte Selbstportrait, 5f.

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zufällig. Wie die Titel und Gehalte seiner Schriften in seinem letzten Lebensjahrzehnt fundamentale Kritik und Aufstand nicht nur anzeigten, sondern auch anzetteln wollten, so auch die essayistische Form: Sie entsagt bewusst der Täuschung, eine systematische Schöpfung aus dem Nichts hervorzudenken, und verneint im Zeichen der alles angreifenden Kritik des Gewordenen und Erfahrenen jede Totalität, gerade auch die eigene. Gewissheit lässt sich nicht mehr finden oder erkaufen, nicht mehr erdichten oder erwarten; Negationen werden dominant636, nicht nur als gedachte, sondern auch als getane.637 Amérys Negationen wandten sich in diesem Jahr merkbar gegen sich selbst. Zum ersten Mal versuchte er sich das Leben zu nehmen. Das misslang. »Noch weiß ich ja, wie es war, als ich erwachte nach einem, wie man mir später berichtete, 30stündigen Koma. Ein Gefesselter, von Röhren durchbohrt, schmerzende Geräte, mir angetan zum Zwecke meiner künstlichen Ernährung, an beiden Handgelenken. Ausgeliefert, preisgegeben ein paar Krankenschwestern, die kamen und gingen, mich wuschen, mein Bett säuberten, mir Thermometer in den Mund einführten, und alles ganz sachlich, als wäre ich schon ein Ding, une chose. Die Erde hatte mich noch nicht: Die Welt hatte mich wieder, und ich hatte eine Welt, in die ich mich pro-jektieren sollte, um selber wieder ganz Welt zu sein. Eine tiefe Bitternis erfüllte mich gegen alle Gutmeinenden, die mir die Schmach angetan. Ich wurde aggressiv. Ich haßte. Und wußte, ich, der ich vordem intimen Umgang gehabt hatte mit dem Tod und dessen Sonderform, dem Freitod, besser als je zuvor, daß ich dem Tode zugeneigt war und daß die Rettung, deren der Arzt sich rühmte, zum Schlimmsten gehörte, das man mir je zugefügt – und das war nicht wenig.«638

In diesen Erinnerungen dämmerte nichts mehr von den »hübschen Sozialfürsorgerinnen und Rotkreuzschwestern«639 aus dem Jahr 1945 nach, die den Überlebenden geholfen hatten. Dreißig Jahre später waren die Hoffnungen, über die Katastrophe hinauszukommen, längst vorbei. Durch den Erfolg der notfallsund intensivmedizinischen Interventionen war er zurückgekommen in ein Leben, das er, gäbe es eine Steigerung nach unten, nicht mehr und immer weniger noch leben wollte. Annäherungen an den eigenen Abgang mit all seiner Ambivalenz, die ihm das Ressentiment eingestiftet hat, waren seit Lefeu oder Der Abbruch nicht mehr zu überhören. Ein Beispiel ist die Imagination des Suizids von Irene jenseits von Pharmazie und Medizin, jenseits von Lust und Anstand, 636 Adorno Theodor W., Noten zur Literatur, 28. 637 Die der Arbeitsteilung entsprechende Trennung verschiedener literarischer Formen sowie dieser Formen vom Leben war Amérys Sache nie. In seinen knappen Analysen hat Markus Kleinert gezeigt, dass und wie im schriftstellerischen Bereich Améry einzelne stilistische und methodische Formationen v. a. durch Assoziationen als Weisen offener Verbindung in ein Ganzes fügen konnte (Kleinert Markus, Suiziddiskurs bei Jean Améry und Hermann Burger, 19) – auch das ein Signum einer nicht geschlossenen Reflexionsform, wie sie der Essay ist. 638 Améry Jean, Hand an sich legen, 85f. 639 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 105.

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jenseits von Urteil und Selbstentzug, jenseits von Friede und Unfriede, jenseits und diesseits gesteigerter Erwartung – hinein ins Ende: »Da waren doch so viele Pülverchen und Kapseln, mit denen ich dich zu beruhigen pflegte, wenn lüsterner Lachwehlaut als Koloratur aus deinem Munde schwingend in die Lüfte stieg, Pülverchen, die dich meist schnell befriedeten, so daß wir niemals wirklichen Ärger bekamen mit den Nachbarn …: Du hast sie gesammelt, ein halbleeres Wasserglas steht auf deinem Nachttisch, du bist entblößt, die leicht vom Marmorgeäst der Kapillargefäße gezeichneten Schenkel sind geöffnet, aber reglos, und die von Todesscham erfaßten, in dein Zimmer eingedrungenen Irgendwers, die immer und in jeder Situation sich einfinden, bedecken sie mit halbabgewandten Gesichtern: wo der Tod ist, hat die Lust ihr Recht verloren, die Leute sind keine Nekrophilen, sie betten dich anständig und nüchtern und achten nicht des Lächelns, des Schlangenlächelns auf deinen Lippen, die anmutig die mots orduriers zu formen wußten. Suicide. Der herbeigerufene Arzt überblickt den Tatbestand mit einem einzigen, kalten Blick. Die war immer schon. Eine halb verrückte Person, freundlich, aber verschlossen (…) Du hast es vollbracht, Irene, und liegst nun da in einem Zustand, den man friedlich nennt, wo er doch in Tat und Wahrheit jenseits ist von Fried und Unfried dank eines Pülverchens, das Nichts anzeigt und das Nein, die meine Sache waren, die meine, hörst du? – und in der du mir zuvorkamst. (…) Leb wohl, Irene, stirb wohl. Ich trage schon so viel Tod mit mir, wohin immer meine Schwingen mich bringen, da sei auch der deine mitgeführt, ich sagte immer, es würde nicht gut ausgehen, nun aber habe ich die Gewißheit, es werde besser enden als ich zu hoffen gewagt hatte.«640

Im Folgejahr 1975 stellte Améry das Manuskript Hand an sich legen fertig, in dem er nun direkt auf den Suizid zuging. Auch hier galt das eherne verlagsökonomische Prinzip: zuerst die Rundfunkarbeit, dann die Publikation. Diese erfolgte im Juli 1976. Auch durch Hand an sich legen zogen Zorn und Resistenz; besonders gegen die religiöse Lüge ging er an, die das Leben tabuisierte und aus dem Suizidär einen Mörder seiner selbst machte.641 Sein Widerstand galt der Berufung auf einen Gott, »der uns ›mit unendlicher Weisheit liebt‹, indem er uns dem zertretenden Stiefel oder dem Feuerofen ausliefert«; solches zerstört »die humane Dignität des Freitods« und ist »in meinen Augen wahrhaft blasphemisch.«642 Die ganze verrenkte, verdummende, menschenfeindliche Leidensmystik christlicher Geschichte, die so nie im Judentum zu Hause war, räumte Améry von seinem Endblick her ab – und darin hatte er Recht, ohne jeden Abstrich. Im Gekreuzigten sah und hörte er nicht das Vorbild fürs duldende, gottgefällige Leiden, zu dem dieser seit zwei Jahrtausenden gemacht wird – auch das eine ans Blasphemische grenzende mystische Groteske. Dieser deutete ihm dagegen mit 640 Améry Jean, Lefeu, 155f. 641 Améry Jean, Hand an sich legen, 100–102 und 106. 642 Ebd., 101.

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seinem »Haupt, am Kreuz der Erde zugeneigt…: Laßt gut sein, schlecht sein, geht dahin, es ist alles einerlei.«643 Mehr ist da nicht zu erkennen. Denn bei all dem soll man Gott aus dem Spiel lassen; man hat seiner ja auch nicht bedurft, um den Terror anzurichten, und gegen den Terror ließ sich mit Gott gar nichts ausrichten. Auf Gott wird Jean Améry auch nicht im Hingang zum Suizid treffen: »Nicht mit Gott habe ich es zu tun im Prozeß der Bereitung, sondern mit einer Waffe, einem Strick, graugrünen Fluten, in denen mein Auge sich verliert, oder dem Asphalt, auf den ich aus dem 16. Stockwerk starre«644, schrieb er in der ihm eigenen essayistisch-analytischen Weise. Dem »Schicksalswort«645 des misslichen Lebens, dem échec646 ausgeliefert, der Katastrophe von einst – Auschwitz – und der heranziehenden Katastrophe des Alters jetzt mit seiner unheimlichen und definitiven Ausweglosigkeit in steigender »Sterbensangst«647 immer deutlicher gewahr werdend, begleitet den Zorn und die Revolte zusehends eine Resignation. In ihr offenbart sich nochmals die Dialektik der Negation, die im Ressentiment liegt: Fertig wird die Revolte nicht, sie kommt nicht über das hinaus, wogegen sie aufbegehrt. Denn am Ende geht sie zugrunde, die Zeit reißt sie nieder. Der Tod, der »niemals natürlich (ist), vor allem für den Bedrohten nicht«648, macht auch dem Suizidär klar, wenn er es ernst meint: »tödlich wird die Befreiung sein, und die Freiheit wird mit dem gewalttägigen Ausbruch aus dem Zwang verschwinden.«649 Der Zwang ist dahin, und die Angst, die seit der Folter Améry nicht mehr verließ, wird im Suizid ihr Substrat verlieren. Mit ihr aber wird auch alles ausgelöscht sein, was zum Leben gehörte. Schade darum? Da wird Resignation blank erkennbar: »Ich weiß, wohin mein Sterben führt, ist niemals meine Freiheit, nur Resignation.«650 Resignation als vollkommener Rückzug von allem, von Améry ganz bewusst wie jedes seiner Worte gesetzt, trifft die Existenz im Ganzen. Aus allem nimmt der Suizidär sich heraus, weil alles katastrophisch durchwachsen war; zu allem sagt er definitiv: Nein! Dieser Rückzug lässt sich nicht halben Herzens versuchen, nur ganz oder gar nicht kann er getan werden. »Der Weg ins Freie ist Weg dann und nur dann, wenn ich ihn ernsthaft einschlage, führt aber in diesem Falle nirgendwohin.«651 Es war kein Widerspruch dazu, wenn Jean Améry im selben Jahr im Frühling auf einer Vortragsreise durch Israel davon sprach, 643 644 645 646 647 648 649 650 651

Ebd., 90. Ebd., 144. Ebd., 51. Ebd., 56. Améry Jean, Über das Altern, 124. Améry Jean, Hand an sich legen, 43. Ebd., 144. Ebd., 128. Ebd., 144.

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»Israel hat im Guten und im Schlechten ein neues Judenbild realisiert und damit den Juden davon erlöst, daß er sich seine Eigenvorstellung vom Antisemiten vorschreiben lassen muß, wie dies seit der Emanzipation der Fall war. Kurz gesagt: Die Existenz Israels hat auch jenen Juden, die mit diesem Land beziehungsweise mit dem jüdischen Glauben und der jüdischen Kultur gar nichts zu tun haben, ihre Selbstachtung zurückgegeben.«652

Israel als Staat stellte die jüdische Selbstachtung auch für Jean Améry dadurch her, dass er die nationalsozialistische Deklaration von 1935, die ihn »in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht«653 hat, verneinte und ihn der jüdischen Autonomie wiedergab. Genau diese Autonomie brachte Selbstachtung zurück und die Klarheit, sie auch zu realisieren. Nicht wenige der Schoa-Überlebenden verließen so bald als möglich Europa und gingen nach Israel wie Abraham Sutzkever oder Aharon Appelfeld, andere wanderten in die USA aus wie Elie Wiesel. Doch Jean Améry blieb an Zentraleuropa hängen und verstand schließlich die eigene Selbstachtung von seinem finalen Befreiungsakt her, in dem er einzig und allein und völlig unvertretbar und autonom war, ganz ohne jede »neue Mystifikation.«654 Im Jahr 1978 wetterleuchtete die Revolte zum letzten Mal schriftstellerisch. In Charles Bovary, Landarzt zog Jean Améry den Schöpfer des Romans Madame Bovary, Gustave Flaubert, vor sein literarisches Tribunal. Ihn widerte an, dass Flaubert ein gefeiertes Werk hervorgebracht hatte, in dessen Zentrum die Unterwerfung des kleinbürgerlichen Schwächlings Charles Bovary stand, der ein literarischer Zynismus seine widerliche Form gab: finanziell abhängig, von dürrer Gestalt und ein Gesicht voller Eiterpickel, heiratete er Heloise, eine Frau, die ihm sofort Zügel anlegt und ihn zum Lakaien macht. Améry begehrte im Namen des Charles Bovary gegen den Großbürger Flaubert auf, der ruhig in seinem Arbeitszimmer saß, arbeitete und eine armselige Welt konstruierte, die er in keinem Augenblick mit Empathie berührt haben konnte. Améry hielt ihm die drei großen Losung der politischen Aufklärung durch die Französische Revolution entgegen: »Ich führe Klage, weil Sie in Ihrer stupiden Eremitage nur Ihre Wörter und deren Wohllaut abhorchten, nicht aber mich sahen mit den Augen des mitfühlenden Menschen. Liberté: Sie verweigerten sie mir. Égalité: Sie duldeten nicht, daß ich, der Kleinstbürger, ein Gleicher sei mit dem Großbürger Gustave Flaubert. Fraternité: Sie wollten nicht mein Bruder sein im Elend, gefielen sich vielmehr in der Rolle des toleranten Richters. Meine Klage erhebe ich vor dem Tribunal der Welt gegen 652 Aus einem Brief Jean Amérys vom 24. Juni 1976, zit. in: Pfäfflin Friedrich, Jean Améry, 279. 653 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 134. 654 Améry Jean, Hand an sich legen, 151.

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die verabscheuenswürdige Gleichgültigkeit, mit der sie mich am Ende wegwarfen, wie Emma das mit ihren schnell abgelegten Kleidern tat, die ihr gut waren für den Misthaufen oder die komplizierte Magd Félicité.«655

Flaubert repräsentierte für Améry die Repression, die sich nachaufklärerisch bis in die eigene Gegenwart zog: »Flaubert, dieser Pionier eines neuen Romans, war zugleich einer der Verantwortlichen der Gegenaufklärung des XIX. und XX. Jahrhunderts«, der ineins damit die Geschichte als »Sinngebung des Sinnlosen«656 verwarf. Dieser Hinweis auf die Geschichte als »Sinngebung des Sinnlosen« fand sich genauso schon in Hand an sich legen657, wenn auch mit umgekehrter Ausrichtung: Gegen Flaubert wird diese Sinngebung mit einem aufklärerischen Kampf und der Revolte zugunsten der stets angegriffenen Humanität mobilisiert – Geschichte als Erinnerung von humanisierenden Potentialen –, in den späteren Etappen des Suizid-Diskurses fand Améry sich schon jenseits dieser Revolte, hatte die Sinnlosigkeit erkannt und dachte »nicht mehr oft an den Menschenfeind, man muß mich schon herausfordern, daß ich mich rühre.«658 In Charles Bovary, Landarzt regen sich also noch einmal das Ressentiment, der Zorn, Resistenz und Revolte, ihrer Limits, aber auch ihrer Notwendigkeit inne.659 Der Widerstand galt der Gleichgültigkeit, dem tödlichen Gift aller Mitmenschlichkeit, gegen das Elie Wiesel seit sechs Jahrzehnten aufbegehrt.660 Am 16. Oktober 1978 nahm sich Jean Améry während einer Vortragsreise in einem Salzburger Hotel das Leben.661 Die Dialektik der Resistenz nahm er vorweg und ließ sie zurück: 655 656 657 658 659 660 661

Améry Jean, Charles Bovary, 152. Ebd., 70. Améry Jean, Hand an sich legen, 146. Ebd., 146. Klein Dennis B., Resentment and Recognition, 95. Wiesel Elie, Den Frieden feiern, 29. Die Regisseurin Ruth Beckermann denkt an einen echten, durchdachten Entschluss Jean Amérys, zumindest was den Ort, dadurch aber auch was die Zeit seines Suizids betrifft: »Weil die Reisen nirgendwo hinführen, fährt er in das Salzkammergut, die einzige Landschaft, in der er vielleicht einmal zu Hause war, um seinem Leben zum selbstgewählten Zeitpunkt ein Ende zu setzen. Er inszeniert seinen Tod wohlüberlegt in Salzburg, in einem Hotel mit dem Namen ›Österreichischer Hof‹.« (Beckermann Ruth, Unter der Bank gelesen, 180). An diesem Entschluss zweifle ich nicht, auch nicht an seiner dezidierten Wahl. Zweifel befallen mich jedoch in Bezug auf die Inszenierung. Inszenierungen zielen auf ein Publikum. Dem Suizidär Jean Améry war in diesem letzten Hinweg gewiss jedes Publikum unwichtig geworden. Es stimmt zwar, »daß wir selbst im Moment des letzten Übertritts … mit einem Teil unserer Person immer noch und bis zum letzten Aufflackern des Bewußtseins es mit Anderen zu tun haben« (Améry Jean, Hand an sich legen, 112); doch der Suizidär ist im Wesentlichen ein »entschlossener, nur sich selbst gehörender Kontrahent alles dessen, was man in der Alltagssprache wie mit der wissenschaftlichen Ausdrucksweise Wirklichkeit nennt.« (ebd., 116) Denn im Suizid vollendet sich die Einsamkeit des Suizidanten, die »Ipseität« (ebd., 141), die nicht mehr nach den Andern schaut, sondern in der der Suizidant

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»Es steht nicht gut um den Suizidär, stand nicht zum besten für den Suizidanten. Wir sollten ihnen Respekt vor ihrem Tun und Lassen, sollten ihnen Anteilnahme nicht versagen, zumal ja wir selber keine glänzende Figur machen. Beklagenswert nehmen wir uns aus, das kann ein jeder sehen. So wollen wir gedämpft und in ordentlicher Haltung, gesenkten Kopfes den beklagen, der uns in Freiheit verließ.«662

Jean Améry verließ die Welt nicht, weil ihn Langeweile erfasst hatte; er verließ die Welt auch nicht wie Stefan Zweig, der in erleichternder Melancholie, »ruhig und glücklich«663 aus einer Welt ging, die er nicht mehr als die seine erkennen konnte. Jean Améry wandte sich in einer letzten, widersprüchlichen Revolte gegen die Welt, in der er gefoltert und malträtiert wurde und die ihm dadurch bedeutet hatte, dass er zu ihr und ihrem Betrieb nicht gehörte. Die Folter war es, die ihn hinauswarf, die Folter war es, der er sich aufbegehrend entgegenwarf, und »der Freitod ist da und nimmt uns heraus, erlöst uns vom Sein, das zur Last ward, und vom ex-sistere, das nur noch Angst ist.«664 In der Angst gehörten er und Stefan Zweig am Ende zusammen; den Unterschied, wie sie mit ihr lebten und mit ihr zugrunde gingen, machte die Folter aus, dieses unvergesslichste und »furchtbarste aller Körperfeste«665, das nur in dem Körper brennt, dem es widerfuhr, und diesen Körper bis ans Ende abquält. Der Unterschied spiegelte sich zuletzt eben auch im jeweils letzten Werk der beiden: Stefan Zweig wandte sich am Schluss Michel Eyquem de Montaigne zu, der sich ausgiebig mit dem Tod beschäftigt hatte, um ihn annehmen zu können in aller Freiheit.666 Zweig rühmte an Montaigne, was er für sich selbst erhoffte: »Montaigne hat das schwerste Ding auf Erden versucht: sich selbst zu leben, frei zu sein und immer freier zu werden.«667 Und am Ende hat Montaigne, der letzte seines Geschlechts, »nur eines mehr zu wissen, der das Leben studiert und jede Erfahrung darin, noch die letzte seines Lebens: den Tod. Er ist weise gestorben, wie er weise gelebt hat.«668 Diesen traurig-schönen Untergang hat Stefan Zweig gesucht in einer Welt, die sich ihm versagte und der er so wenig wie Montaigne Nachkommen hinterlassen hatte – außer seinen Büchern, von denen er wohl gehofft hatte, dass Nachkommende in Leidenschaft nach ihnen greifen werden wie die junge Marie de Gournay, die in den letzten Monaten an Montaignes Seite

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in einer unnachahmlich intensiven Weise »mit seinem Körper, seinem Kopf, seinem Ich den großen Dialog« (ebd., 74) hält. Und dann wird trotz allen Vorhabens der endgültige Entschluss und seine Durchsetzung wahrscheinlich etwas Überraschendes mit sich bringen, das sich weder planen noch inszenieren ließ. Améry Jean, Hand an sich legen, 155. Zweig Stefan, Briefe an Freunde, 350f. Ebd., 131. Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 64 Abel Günter, Art. Montaigne, 265. Zweig Stefan, Montaigne, 83. Ebd., 93.

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war und von ihm mit der Herausgabe seiner Essais nach seinem Tod betraut worden war. Diesem Wunschbild eines Todes, der zur Heimat werden kann – Wunschbild, das dem jungen Stefan Zweig in seiner Erzählung Im Schnee schon die Idee und den Verlauf dieser Geschichte eingab –, konnte nur die Hoffnung auf den guten Ort, auf hamakom (‫)המקום‬, entsprechen. Davon fand Jean Améry nichts. Im Nachhall seines Aufheulens, das die Folter aus ihm herauspresste, baute er sich keine montaignesche Welt zusammen mit ihrer monadischen Utopie669, sondern griff in seinem letzten Werk Charles Bovary, Landarzt mit dem bezeichnenden Untertitel Porträt eines einfachen Mannes die großbürgerliche Komplizenschaft Flauberts frontal an, die dem Beschädigten seine Würde bewusst vorenthielt und in geistloser, antiaufklärerischer Niedertracht mit einem armen Teufel über Hunderte von Seiten ein böses Spiel treibt. Der gefolterte Jean Améry konnte sich keine eigene Welt mehr bauen, sondern blieb angenagelt an einen Schrecken, dem er sich in einem letzten suizidären Widerstandsakt entzog.

3.

»Die Tortur« (1966)

»Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.«670 Seit Menschengedenken werden grausigste Phantasien in der Folter verwirklicht671, sie reichen bis in Jean Amérys späte Tage und darüber hinaus. In seinem Essay Die Tortur erinnerte Jean Améry an die Folterpraxis im 20. Jhdt. mit ein paar Hinweisen auf Vietnam, Algerien, Russland, Ungarn, Spanien, Polen, Rumänien, Jugoslawien. Kein Land war in der Geschichte frei davon, Menschen zu verstümmeln, indem von ihnen erwartete Geständnisse herausgepresst werden sollten. Selbst in einfachen Kulturen, in denen es kaum noch technische Werkzeuge gab, erfand man grausame Methoden der Folter. Der Geburtshelfer: Hass. Seine Ermöglichung: Gleichgültigkeit. Irgendwo abseits, hinter Erdhügeln oder in Erdkellnern, liegen die furchtbaren Lokale. Der gedrungene Weg dahin, das Portal, unwirtliche Gelasse, ein Gang, 669 Stefan Zweig hat die paradigmatischen Sätze Montaignes zitiert: »Er sagt sich dasselbe wie wir alle so oft in ähnlichen Zeiten des Irrwitzes: kümmere dich nicht um die Welt. Du kannst sie nicht ändern, sie nicht verbessern. Kümmere dich um dich, rette in dir, was zu retten ist. Baue auf, während die anderen zerstören, versuche vernünftig zu sein für dich inmitten des Wahnsinns. Schließ dich ab. Bau dir eine eigene Welt.« (ebd., 69). 670 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 48. 671 Das umstrittene Kompendium des Sozialwissenschaftlers Horst Herrmann, Die Folter, führt als Gegenbild zu den von Stefan Zweig erzählten großen menschlichen Kulturleistungen in Sternstunden der Menschheit vor Augen, welch grausiger Erfindungsgeist zu allen Epochen die Folter fortentwickelt und zu einer Konstante entlang der menschlichen Geschichte bis in die Gegenwart gemacht hat.

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und die gespielte oder schon eingelernte Lässigkeit der Folterknechte prägen sich einem ein und brennen in der Erinnerung ein Leben lang nach. Die Augen, die Gesichter, die Körper und deren Bekleidung, Frisuren und Haarfarbe, Schuhe, Gangart, Mimik – das alles sieht das Opfer ein Leben lang mit höchster Klarheit vor und in sich. Das Lokal: Jean Améry wurde in die »Festung Breendonk«672 verbracht, um dort gefoltert zu werden. Mehr als zwanzig Jahre nach seiner Folterung hat Améry Breendonk besucht, es war zu einem Museum geworden, in dem man alles so belassen hatte, wie es in den Jahren zwischen 1940 und 1944 gewesen war. »Man tritt durchs Haupttor und befindet sich bald in einem Raum, der damals mysteriöserweise ›Geschäftszimmer‹ hieß. Ein Bild Heinrich Himmlers an der Wand, eine Hakenkreuzfahne als Tuch über den langen Tisch gelegt, ein paar kahle Stühle. Geschäftszimmer. Jeder ging an sein Geschäft, und ihres war der Mord. Dann die feuchten, kellerigen Korridore, schwach erhellt von den gleichen dünn und rötlich leuchtenden Glühbirnen, wie sie damals schon dort hingen. Gefängniszellen, von zolldicken Holztüren verschlossen. Schwere Gittertore sind immer wieder zu durchschreiten, bis man sich schließlich in einem fensterlosen Gewölbe befindet, in dem mancherlei befremdliches Eisenwerkzeug herumliegt. Von dort drang kein Schrei nach draußen. Dort geschah es mir: die Tortur.«673

Amérys Folter hat einen ganz bestimmten Ort; sie hat auch eine ganz bestimmte Zeit: 23. Juli 1943.674 In diesen Realkategorien, an einem bestimmten Ort und zu bestimmter Zeit, geschieht unmittelbar, was angesagt wird. Und das Angesagte legt einen Weg, der wie alles im Nationalsozialismus von einer drastischen Weise der Über- und Unterordnung gekennzeichnet war: Das Wort des Folterers wird im Gefolterten Fleisch. Boden der Grausamkeit ist der Sadismus, und dieser hat weniger mit irgendwelchen brutalen Sexualpraktiken675 als vielmehr damit zu tun, dass er eine »im eigentlichen Wortverstande ver-rückte Weltbetrachtung«676 ist, »wobei er sich abzeichnet als die radikale Negation des anderen, als die Verneinung zugleich des Sozialprinzips und des Realitätsprinzips. Eine Welt, in der Marter, Zerstörung und Tod triumphieren, kann nicht bestehen, das ist offenbar. Aber es schert sich der Sadist nicht um den Fortbestand der Welt. Im Gegenteil: Er will diese Welt aufheben, und er will in der Negation des Mitmenschen, der für ihn auch in einem ganz bestimmten Sinne die ›Hölle‹ ist, seine eigene totale Souveränität wirklich machen.«677

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Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 46. Ebd., 47. Ebd., 50. Schröder Winfried, Moralischer Nihilismus, 125–156. Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 65. Ebd., 66.

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Was Jean Améry den Sadismus genannt hat, trägt bei Elie Wiesel die Zuschreibung: Hass. Der Hass ist es also, der demütigt, er »führt zu Verfolgung und legitimiert den Tod.«678 Vielleicht ist der Sadismus die Form des Hasses, seine Präsenz und Realisierung. Denn der Hass zerstört alle Sozialkontrakte, sie werden gleichgültig und damit ungültig. Dem Hass wie dem Sadismus als seiner tätigen Offenbarung kommt etwas Anarchisches zu: Geltungen werden rein willkürlich hergestellt und durchgesetzt. Und damit gehört zum Hass eben auch die Verneinung der Wirklichkeit eines ausgesuchten Anderen. Gestern hat man ihn geduldet, heute foltert und mordet man ihn. Franz Werfel hatte die nationalistischen Sadisten kommen sehen. »(N)icht irgendeine erdachte Theorie…, sondern ein dunkel-riesenhafter Affekt, in dem sich die kollektive Eitelkeit, der gereizte Geltungswille der Masse selbst befriedigt«679, führt sie. »Die Phrase, die Beschwörungsformel … setzt Wirklichkeiten in die Welt, die es nicht gibt. All dergleichen bedeutet eine frech-lästerliche Hypostasierung des Körpers zur einzigen Gottheit und verbirgt hinter gespreizten und aufgeblasenen Wortenden sumpfigen Abgrund verlorener Seelenund Geistesgesundheit.«680 Kein Zufall, dass dieses pathologische Banausentum Intelligenz für gefährlich hielt und denunzierte, wie Thomas Mann im März 1935 in Nizza sagte: »Ganz auf eigene Hand erfand der denkerisch wildgewordene Kleinbürger das Wort ›Intelligenzbestie‹, eine blödsinnige Vokabel, aber autorisiert gewissermaßen aus der oberen Sphäre des antigeistigen Geistes und effektvoll in ihrer inferioren Schmissigkeit, – eine Totschlagformel.«681 Die Hinterseite dieses arischen Körperkultes, dem seine Führer optisch direkt widersprachen – doch diese Einsicht, diese ganz unmittelbare Wahr-Nehmung war vom Massensadismus überlagert –, wurde verdichtet im Ereignis der Tortur, die für Jean Améry die »Essenz des Nationalsozialismus« und seine »Apotheose«682 war. In der Folter setzte sich ein Absolutes, Gottgleiches durch, in der Folter vergöttlichte sich der Folterknecht: »Der Hitlergefolgsmann gelangte noch nicht zu seiner vollen Identität, wenn er nur flink war wie ein Wiesel, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. Kein goldenes Parteiabzeichen machte ihn zum vollgültigen Repräsentanten seines Führers und seiner Ideologie, kein Blutorden und kein Ritterkreuz. Er mußte foltern, vernichten, um ›groß zu sein im Ertragen von Leiden anderer.‹ Folterwerkzeug mußte er handhaben können, daß Himmler ihm das geschichtliche Maturitätszeugnis ausstelle, es würden spätere Generationen ihn bewundern um seiner Austilgung der eigenen Barmherzigkeit willen.«683 678 679 680 681 682 683

Wiesel Elie, Die Anatomie des Hasses, 82. Werfel Franz, Können wir ohne Gottesglauben leben? 122. Ebd., 124. Mann Thomas, Achtung, Europa! 155f. Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 59. Ebd., 59f.

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Die Apotheose stand unter der Vorgabe des Sadismus. Dieser war das Vehikel zur Vergöttlichung und erstickte jede Empathie. Erprobt wurde die Theosis in der Verstümmelung eines Opfers. Nicht wenige haben sich in diese Apotheose hineingehoben, indem sie heldenhaft den Anruf der Opfer erschlugen, wie es René Chevalier berichtet hat, ein französischer Kriegsgefangener und Zeuge einer solchen Apotheose in Osteuropa: Man hatte jüdische Frauen anstelle von Tieren eingesetzt, die Erntewagen zu ziehen, weil es keine Tiere mehr gab. Diese Frauen brachten auch ihre Kinder mit. »Der Deutsche, der sie bewachte, konnte ihr Geschrei nicht ertragen. Jedes Mal, wenn es ihm auf die Nerven ging, griff er ein Kleines und schlug es gegen einen Wagen. Am Abend gab es nur noch die Frauen, die Wagen und das Getreide.«684 Vielen, die Götter werden wollten, fiel dieses Morden schwer, bei dem man selbst Hand anlegen musste.685 Durch die Industrialisierung des Mordens ab dem Winter 1941 kamen die Mörder endlich vom Anblick ihrer Opfer los und fühlten sich gleich besser.686 Doch der Folterknecht war stellig, er musste sich beweisen, indem er das Opfer Schritt für Schritt zuschanden machte. In der direkten Auseinandersetzung vollzieht er die Theosis und macht sich zum Gott des Gefolterten. »Denn ist nicht, wer einen Menschen so ganz zum Körper und wimmernder Todesbeute machen darf, ein Gott oder zumindest ein Halbgott?«687 In diesem Abgrund drängten sich Jean Améry christliche Metaphern auf, v. a. Gott und Fleischwerdung und, mit ihr verbunden, Character indelebilis.688 Sie besagen genau, was im Nationalsozialismus real geworden ist. Er hatte nichts von utopischer Befreiung aus dem Religiösen an sich, wie Ernst Bloch es für den Marxismus als der Vollendung des Christentums beanspruchte689, sondern er lebte aus einer erfundenen, tödlichen Mythe ohne jede humane Perspektive. Der Tod des Opfers ist es, in dem sich dieser Mythos von der Gottgleichheit wahr machte. Eritis sicut dii (Gen 3,5) – niemals zuvor wurde diese Lüge derart praktiziert wie in Hitlers Deutschland. Um diese Lüge in ihrer Gewalt zu kennzeichnen, reichten für Jean Améry nur die stärksten Zuschreibungen hin, die die Religionsgeschichte kennt – und diese fand er im Christentum, denn keine andere Religion hatte eine dermaßen strenge Verbindung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen hervorgebracht, wie sie im Christentum leitend gewor684 Desbois Patrick, Der vergessene Holocaust, 48. 685 Auch hier stehen die Zeugnisse Desbois’ für viele andere, wenn er schreibt: »In der Ukraine haben wir es mit einem Gemetzel zu tun. Die Menschen werden auf einem Marktplatz erschossen, am Rande einer Klippe wie in Jalta, eingemauert wie in Sataniw, oder sie werden nachts unter einem Kissen erstickt.« (ebd., 274). 686 Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 232f. 687 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 67. 688 Treitler Wolfgang, Erlösung durch Platon-Christus? 197–221. 689 Bloch Ernst, Atheismus im Christentum, 348–354.

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den ist. Aber ist nicht, wer ein Ereignis wie den Nationalsozialismus und seine Apotheose in der Folter mit christlichen Zentralmetaphern beschreiben musste, ein Aufklärer, der die Hochfahrt christlicher Theorie von ihrer Wirkung her, die sie im christlichen Abendland entfaltet hat, tief in Frage stellen muss? Jean Améry spricht nicht über Folter im Allgemeinen. Ihm sind Abstraktionsmöglichkeiten verschlossen. Theorien tragen ihn hier so wenig wie in seiner Frage nach dem Suizid. Was er ausspricht, ist ein bezeugtes, reflektiertes, aber nicht abstrahiertes oder verallgemeinerbares Widerfahrnis. Er beschrieb als Positivist690, was der Fall war, was sein Fall war, 1943. Gewiss wurde er damit auch in allgemeine Gegebenheiten hineingezogen und ihnen unterworfen; denn der Folter als Wort entspricht etwas, das als ein Widerfahrnis im Hier und Jetzt allgemeine Konturen aufweist, weil sie sonst gar nicht zu benennen wäre.691 Doch 690 Améry Jean, Weiterleben – aber wie? 162. 691 Diese Zusammenhänge sind nicht mit den Bemerkungen identisch, die sich in Hegels Phänomenologie des Geistes finden; in ihren ersten Passagen nach der Vorrede setzt Hegel beim Bewusstsein an und seiner ersten Form, der sinnlichen Gewissheit, die als einzelne Unmittelbarkeit angesichts der Sprache und ihrer (begrifflichen) Allgemeinheit in einen Widerspruch gerät. Er schreibt dazu, nachdem er erklärt hat, dass die Sprache gegenüber der bloßen Meinung als des nur Meinigen ein Allgemeines ausspricht und darin das Wahre sich findet: »Es wird derselbe Fall sein mit der anderen Form des Dieses, mit dem Hier. Das Hier ist z. B. der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit verschwunden und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus. Das Hier selbst aber verschwindet nicht: sondern es ist bleibend im Verschwinden des Hauses, Baumes usf. und gleichgültig, Haus, Baum zu sein. Das Dieses zeigt sich also wieder als vermittelte Einfachheit oder als Allgemeinheit.« (Hegel Georg Wilhelm Friedrich, Werke 3, 85). Das wird im Bereich der bloßen Perzeption und geistigen Rezeption gelten, nicht aber dann, wenn die Perzeption sich auf den eigenen, hier, in Breendonk, und jetzt, im Sommer 1943, malträtierten Körper richten muss. Darin waltet Zwang, der den Gefolterten nicht wieder loslässt, wenn er sich umdreht oder deportiert wird, also diesen Keller verlässt. Nicht das Hier ist die allgemeine Konstante, sondern dieses einzelne, inkommensurable Widerfahrnis ist zur Invariante geworden. Davon hat Hegel nichts verstanden; das lässt sich nachweisen an der Einflechtung, mit der er sich zur Stützung seiner Überlegungen auf einen Gewaltakt richtet, der den Kopf des Menschen betrifft, auf die Ohrfeige und auf die Zertrümmerung des Schädels. Zunächst zitierte er Lichtenberg; dieser verneinte so wie Hegel die reale Bedeutung physiognomischer Besonderheiten für das Wesen eines Menschen. Wer einen Menschen an ihnen behaftet, indem er etwa einen aufrichtigen Mann aufgrund einer besonderen physiognomischen Form für einen »Schelm im Herzen« hält – »fürwahr eine solche Anrede wird bis ans Ende der Welt von jedem braven Kerl mit einer Ohrfeige erwidert.« (ebd., 242). In späteren Überlegungen über den Schädelknochen, der »für sich … ein so gleichgültiges, unbefangenes Ding (ist), daß an ihm unmittelbar nichts anderes zu sehen und zu meinen ist als nur er selbst« (ebd., 251), steigert Hegel Lichtenbergs Reaktionsgedanken, in dem sich Freiheit und nicht Äußerlichkeit geltend machen will, und schreibt, dass äußere Veränderungen durch Gewalteinwirkung nichts am Wesen ändern werden. »Die bei der Physiognomik erwähnte Erwiderung eines solchen Urteils durch die Ohrfeige bringt zunächst die weichen Teile aus ihrem Ansehen und Lage und erweist nur, daß diese kein wahres Ansich, nicht die Wirklichkeit des Geistes sind; – hier müßte die Erwiderung eigentlich so weit gehen, einem, der so urteilt, den Schädel einzuschlagen, um gerade so

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ihr Geschehen selbst trifft einen Einzelnen und vereinzelt ihn vollständig und unaufhebbar. Diese Vereinzelung, die in der völligen Desolidarisierung der Folterknechte mit ihrem Opfer sich vor den Augen und Ohren dieses Opfers manifestiert – die Folterknechte sind ja die einzigen, die jetzt und hier noch mit ihm in Kontakt stehen –, diese Vereinzelung hat Jean Améry im ersten Schlag, der auf ihn niederging, unmittelbar gefühlt. Denn der »erste Schlag bringt dem Inhaftierten zu Bewußtsein, daß er hilflos ist – und damit enthält er alles Spätere schon im Keime.«692 In diesem Keim steckte die Auslöschung durch Folter, ein über bestimmte Etappen erstreckter Mord. In Jean Amérys erster Erfahrung, die unmittelbar vor Breendonk lag, steigerte sich, was sich Franz Kafka als Kind in einer Nacht eingebrannt hatte, als der Vater gekommen war und ihn, den um Wasser wimmernden Buben, einfach aus dem Schlafzimmer getragen hatte; das »Schreckliche dieses Hinausgetragenwerdens« erschütterte Franz Kafka deshalb, weil »der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein solches Nichts für ihn war.«693 Hilflos wie ein Kind, so war auch Améry in diesem Augenblick; denn er erfuhr wie der kleine Franz Kafka die strenge Hierarchisierung in rein körperlicher Vermittlung: Er war nur ein leichtgewichtiges Nichts, einem sadistischen Prozess überliefert. Darin liegt eine Konstante der Gewalt: In jeder Gewaltanwendung wird Hierarchisierung vollstreckt, weil sie dem Opfer dessen Ohnmacht nicht nur bewusst macht, sondern ins Fleisch treibt. Doch im Unterschied zu Kafka hatte Améry nicht den Vater vor sich, sondern unbekannte Leute, deren eindeutige Absichten ihm von Anfang an nicht verborgen waren. Und diese Leute repräsentierten ein inappellables System, das mit dem ersten Schlag ins Gesicht zu walten begann und sich Stufe um Stufe auf die Tortur zubewegte. Dem ersten Schlag kam eine Qualität zu, die nur das Opfer kennt, nicht die Schläger. Für sie war das Schlagen eine Arbeit, die zu ihnen gehörte. Sie schlagen, um das Geständnis, Namen, Aktionen zu hören. Doch Améry kann ihnen nichts greiflich, als seine Weisheit ist, zu erweisen, daß ein Knochen für den Menschen nichts an sich, viel weniger seine wahre Wirklichkeit ist.« (ebd., 256). Hegel hatte Glück: Seine erdachte Gewaltmanifestation hat ihn nie physisch berührt und blieb – mit Hegel gesagt – ein Ansich seines Denkens, ein bloß Gedachtes, das nie für ihn wurde und ihm nie ein Denken aufzwang, das an einem solchen Fürsich ohne die absolute Vermittlung in einem Anundfürsich strandete. Er vermischt und verdreht Physiognomisches und Gewalteinwirkung auf das Caput des Menschen, mit der er dialektisch, aber nicht real zurechtkam und darin einen gewalthaften Grundzug seines Denkens entfaltet, der ihn auch zu seinen Vorbehalten geführt hat, »nicht so zärtlich mit der Materie (zu) sein.« (Hegel Georg Wilhelm Friedrich, Werke 9, 138). 692 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 55. 693 Kafka Franz, Zur Frage der Gesetze, 15.

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benennen, weil die Widerstandsorganisationen auch intern mit verdeckten Namen und Adressen arbeiteten, damit sie nicht ausgehoben werden können, wenn man, womit zu rechnen war, einen von ihnen aufgriff. Das Schlagen der Folterknechte also »führte sie zu nichts, und sie wurden der Faustschläge leid. Ich wiederholte nur, daß ich nichts wisse, und darum ging es alsbald, wie man es mir angedroht hatte, nicht in das von der Wehrmacht verwaltete Gefängnis von Brüssel, sondern nach dem ›Auffanglager Breendonk‹, über das die SS herrschte.«694 Die SS repräsentierte das Zentrum der Gewalt, war direkt mit dem Führer verbunden und bildete ein paramilitärisches Geflecht, das den gesamten Raum nationalsozialistischer Dominanz überzog. Wer ihr in die Hände fiel, konnte sich keine Illusionen mehr machen. Dort konzentrierte sich »die Herrschaft des Gegenmenschen«695, die im Nationalsozialismus »nicht nur praktiziert, … sondern ausdrücklich als Prinzip statuiert« wurde. »Die Nazis folterten, so wie andere, weil sie sich mittels der Tortur in den Besitz staatspolitisch wichtiger Informationen setzen wollten. Daneben aber folterten sie mit dem guten Gewissen der Schlechtigkeit. Sie marterten ihre Häftlinge zu bestimmten, jeweils genau spezifizierten Zwecken. Aber sie folterten vor allem deshalb, weil sie Folterknechte waren. Sie bedienten sich der Folter. Inbrünstiger aber noch dienten sie ihr.«696

Im bereits erwähnten Sadismus fand Améry den Wesensausdruck der Nationalsozialisten, die ihm ganz ergeben waren. Erotik der Gewalt, die über die erotische Hingabe an die Maschine in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie hinausgeht, zelebrierten die SS-Leute mit einer Hingabe, die die Rede von der Apotheose schauderhaft real macht. Das Gottspiel erotisiert die Folterknechte in dem Maß steigend, als sie ihrem Opfer immer mehr die Gleichung aufpressen: »Körper = Schmerz = Tod.«697 Das geschah Jean Améry im Bunker von Breendonk. »Im Bunker hing von der Gewölbedecke eine oben in der Rolle laufende Kette, die am unteren Ende einen starken, geschwungenen Eisenhaken trug. Man führte mich an das Gerät. Der Haken griff in die Fessel, die hinter meinem Rücken meine Hände zusammenhielt. Dann zog man die Kette mit mir auf, bis ich etwa einen Meter hoch über dem Boden hing. Man kann sich in solcher Stellung oder solcher Hängung an den hinterm Rücken gefesselten Händen eine sehr kurze Weile mit Muskelkraft in der Halbschräge halten. Man wird, während dieser wenigen Minuten, wenn man bereits die äußerste Kraft verausgabt, wenn schon der Schweiß auf Stirn und Lippen steht und der Atem keucht, keine Fragen beantworten. Komplizen? Adressen? Treffpunkte? Das vernimmt man kaum. Das in einem einzigen, engbegrenzten Körperbereich, nämlich in den 694 695 696 697

Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 58. Ebd., 61. Ebd., 61. Ebd., 64.

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Schultergelenken, gesammelte Leben reagiert nicht, denn es erschöpft sich ganz und gar im Kraftaufwand. Nur kann dieser auch bei physisch kräftig konstituierten Leuten nicht lange währen. Was mich betrifft, so mußte ich ziemlich schnell aufgeben. Und nun gab es ein von meinem Körper bis zu dieser Stunde nicht vergessenes Krachen und Splittern in den Schultern. Die Kugel sprangen aus den Pfannen. Das eigene Körpergewicht bewirkte die Luxation, ich fiel ins Leere und hing nun an den ausgerenkten, von hinten hochgerissenen und über dem Kopf nunmehr verdreht geschlossenen Armen. Tortur, vom lateinischen torquere, verrenken: Welch ein etymologischer Anschauungsunterricht! Dazu prasselten Hiebe mit dem Ochsenziemer auf meinen Körper, und mancher schnitt glatt die dünne Sommerhose durch, die ich an diesem 23. Juli 1943 trug.«698

Die völlige Sinnleere der Befragung während der Folter und mit ihr die unausdenkbare Lust der Folternden – sie blieben draußen, außerhalb seines Körpers. Sein Körper aber wurde für einen Augenblick unerträglicher Schmerz, der nie mehr aus ihm schwand. Dieser Schmerz mündete in die körperlich vollkommene »Selbstnegation.«699 Vollkommen körperlich ist diese Selbstnegation, weil in der Tortur die »Verfleischlichung des Menschen vollständig«700 wird, jenes furchtbare verbum caro factum est, das jeden sogenannten Heilssinn, im Christentum geläufig, verdreht: Dem Gefolterten ist sein Körper verrenkt und auch die Welt aus den Angeln gesprungen; und die religiöse Heilsbotschaft, die ohnedies faktisch nie real war, hatte sie doch in ihrem empirischen Kern einen Gemarterten, der auch an der Welt zerbrochen war, hatte im Geheul der Heilrufe nichts mehr an sinnvoller Botschaft parat und wurde endgültig verdreht. Verbum caro factum est, et habitavit in nobis; et vidimus horrorem eius.701 »Es war für einmal vorbei. Es ist noch immer nicht vorbei. Ich baumle noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich. Da gibt es kein ›Verdrängen‹. Verdrängt man denn ein Feuermal? … Man wird die Folter so wenig los wie die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Widerstandskraft.«702

Mit seiner Frage gab Jean Améry nicht den Mitläufern Recht; wenn er nach den Grenzen des Widerstands fragte, so fragte nach den körperlichen Möglichkeiten eines solchen Widerstandes. Wie weit wird man ihn tragen können? Wann und wie wird er zerbrechen? Das ist nicht primär eine Frage nach den geistigen Potentialitäten, sondern umgekehrt: Es ist eine Frage nach der geistigen Kapitulation, die einem Menschen im Widerstand körperlich aufgezwungen wird. Die Ketten, die dem frei Geborenen nichts anhaben sollten, wenn es nach Schiller703 698 699 700 701 702 703

Ebd., 62f. Ebd., 63. Ebd., 64. Treitler Wolfgang, Erlösung durch Platon-Christus? 197–221. Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 68. Schiller hielt den Menschen für wertlos, wenn ihm die Freiheit fehlt. Im Gedicht Die Worte

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geht, fassten alles Leben und Denken und Untergehen in den Schultergelenken zusammen. Was blieb, war etwas anderes als idealisierte Freiheit des Geistes: »Fremdheit in der Welt«704, durch triviales Heimweh705 verstärkt, verlorenes Weltvertrauen, körperliche Imprägnierung des Schreckens, Angst, Ressentiment, Zorn, »Rachedurst«706 ohne Möglichkeit seiner Stillung – und unmittelbar nach der Tortur ein seltsamer, unbekannter Friede. »Es zieht nämlich in den, der die Folter überstanden hat und dessen Schmerzen abklingen (bevor sie später wieder aufflammen), ein ephemerer Friede ein, der dem Denken förderlich ist. Einerseits ist der Gefolterte es zufrieden, daß er nur noch Körper war und damit, so meint er, aller politischen Sorge ledig wurde. Ihr seid da draußen, sagt er sich ungefähr, und ich bin hier in der Zelle, und das gibt mir eine große Überlegenheit über euch. Ich habe das Unaussprechliche erfahren, damit bin ich ganz erfüllt, und ihr seht selber zu, wie ihr mit euch, der Welt und meinem Verschwinden abkommt. Andererseits ist aber auch die Verflüchtigung der Körperlichkeit, die sich in Schmerz und Tortur enthüllte, das Ende des im Leibe ausgebrochenen Tumultes, der Wiedergewinn einer nichtigen Stabilität, befriedend und beschwichtigend.«707

Kurz ist die Spanne, in der der Gefolterte über die Verzweiflung hinauskommt; es ist ihm fast so zumute, wie es Stefan Zweig beschrieben hatte, als er, wenn auch etwas übersteigert und allzu enthusiastisch, vom Durchbruch Magellans über Feuerland in den Pazifischen Ozean nach unsicheren, lebensgefährlichen Wochen erzählte: »Diese eine Minute ist Megallans großer Augenblick, jener Augenblick äußerster und unüberbietbarer Entzückung, wie ihn jeder Mensch in seinem Leben nur einmal erlebt.«708 In diesem beinah narkotisch-taumelhaften Augenblick der Befriedung, wie ihn in anderer Form körperliche Traumata bei schwersten Unfällen herbeibringen können, blitzt auch kurz etwas Berechtigtes

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des Glaubens fasste er sein Freiheitspathos in wenigen Versen zusammen: »Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, / Und würd’ er in Ketten geboren, / Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei, / Nicht den Mißbrauch rasender Thoren! / Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, / Vor dem freien Menschen erzittert nicht!« (Schillers sämmtliche Werke, 234). Die körperhafte Verneinung von Freiheit, die den Gefolterten im Zustand äußerster Anspannung trifft, soll ihn tatsächlich wertlos machen und zuschanden, und das auch vor sich selbst. Der Gefolterte erfährt sich als Nichts, geschaffene Freiheit, ein religiöser Apell, dringt nicht mehr durch und klärt nichts mehr auf. Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne 72. Améry Jean, Hand an sich legen, 94f: »Ein Schluck Bier, das Brennen in der ausgetrockneten Kehle zu löschen nach einer Bergtour. Bei feuchtem Wetter startete der Wagen so schlecht, welcher war es? Der kleine, rote, Modell Anglia, Baujahr 1967. Und nun der dringende Wunsch, zurückzuspringen nach eben diesem Jahr. Es sind gerade die kleinen Ereignisse, die, ganz wie im Traum, ein unbegreifliches Gewicht und zeitliche Ordnung annehmen, jetzt, wo der Prozeß der temporalen Kompression als Last, Geisteslast, Körperlast von Sekunde zu Sekunde unerträglicher wird.« Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 73. Ebd., 71. Zweig Stefan, Magellan, 197.

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des Idealismus und seiner Geisthuldigung hervor: Noch ehe der malträtierte Körper ihn wieder in den Schmerz zurückholt, ist es, als sprengte sich der Geist kurz vom körperlichen Geschehen ab. Diesen Zustand des Extremen, den idealistische Geistphilosophie in ihrer chronischen Fluchtbewegung fort aus dem verfallenden Körperhaus zum Denkzentrum gemacht hat, erfährt der Mensch als unmittelbare Folge des schwersten körperlichen Traumas in einer Helligkeit des Denkens, die nur ihm gehört und für diesen Augenblick mindestens so inappellabel ist, wie die Folterknechte es kurz davor waren und bald wieder sein werden. Améry schreibt lapidar, diese kurze Spanne zwischen der Tortur und den wieder aufflammenden Schmerzen sei »dem Denken förderlich« gewesen. Denn in diesem Augenblick erstaunt das Opfer: »Erstaunen darüber, daß man es durchgestanden hat, daß der Tumult nicht gleich auch zur Explosion des Körpers führte, daß noch eine Stirn da ist, über die man mit den gefesselten Händen streichen kann, ein Auge, das sich öffnen und schließen läßt, ein Mund, der die gewohnte Linienführung zeigen würde, könnte man ihn jetzt in einem Spiegel sehen. Wie? fragt man sich: der eines Zahnwehs wegen mit den Familienangehörigen unwirsch war, der konnte da an ausgerenkten Armen hängen und weiterleben? Den eine leichte Fingerverbrennung mit der Zigarette stundenlang mit übler Laube erfüllte, dem hat man hier mit dem Ochsenziemer Platzwunden zugefügt, die jetzt, nachdem alles vorüber ist, kaum verspürt werden?«709

Aristoteles hat in seiner Metaphysik davon geschrieben, dass seit jeher philosophisches Denken mit der Verwunderung beginne, denn schon seine Vorgänger »wunderten sich anfangs über das Unerklärliche, das ihnen entgegentrat.«710 Franz Werfel hatte in seiner Rede vom 5. März 1932 Können wir ohne Gottesglauben leben? das »Thaumazein des Aristoteles« ausdrücklich genannt als das »Urerstaunen«, das in der Großstadt, einem »Ort der »Weltflucht«711, erlischt. Bis in Jean Amérys Tage löste sich dieses Erstaunen durchs gewaltig Schöne und überwältigend Herrliche aus; Theologen wie Hans Urs von Balthasar haben diesen Zusammenhang mühelos über den Abgrund der Schoa hinweggetragen und diesen bagatellisiert durch den Hinweis auf das »bißchen momentane Trübsal.«712 Doch Jean Améry wertet auch hier um, was bisher Konsens war. Im Staunen gibt sich nicht mehr das Gute oder Schöne der Wirklichkeit und auch nichts von der Herrlichkeit Gottes. Ens et bonum convertunter – das ist nicht mehr. Nur noch die Unbegreiflichkeit, den totalen Angriff auf die eigene Existenz überlebt zu haben, leuchtet im Staunen auf. Kein metaphysischer Horizont tut sich auf, 709 710 711 712

Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 71f. Aristoteles, Metaphysik, 21f (= 982b). Werfel Franz, Können wir ohne Gottesglauben leben? 127. Balthasar Hans Urs von, Theodramatik, 455.

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keine religiöser, sondern nur der enge einer isolierten Existenz in einem verriegelten Gelass. Daher enthält diese staunenswerte Unbegreiflichkeit, in der das Inkommensurable713 des Angriffs ebenso verwahrt bleibt wie das Unbegreifliche des Überlebens, auch eine Perspektive, die in völliger Klarheit erschaut und gedacht und durch die wiederkehrenden Schmerzen zur leiblicher Gewissheit wird: »Staunend hat der Gefolterte erlebt, daß es in dieser Welt den anderen als absoluten Herrscher geben kann, wobei Herrschaft sich enthüllte als die Macht, Leid zuzufügen und zu vernichten.«714 Erstaunen auch darüber, dass das Göttliche trotz der Proklamation von Nietzsches tollem Menschen715 nicht tot, sondern zur irdischen Totalität geworden ist. Das war nicht ableitbar und auch so nicht absehbar. Jean Améry spricht in diesem Zusammenhängen nicht zufällig von der Enthüllung, die der Offenbarung sachlich entspricht. Als es zur Folter ging, stand das Totalitäre dieser absoluten Herrschaft hüllenlos vor ihm. Das Vermächtnis ist irreversibel: »Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht.«716 Jean Améry blickte auch nicht hinaus in eine Welt, in der Gott noch eine Bedeutung hätte. Um Gott war es geschehen, um Gott ist es geschehen auf Dauer. Améry war nicht mehr »geborgen in der Illusion eines Gottes«717 und nicht mehr heimisch in der Welt.718 Über die Verzweiflung, die ihm die Folter zugefügt und die Folgezeit nach 1945 erhalten hatte, kam er nicht mehr hinaus. Zwar blieb ihm der kurze, friedvolle Augenblick in der Erinnerung festgebrannt, der sich zwischen der Folter und den wiederkehrenden Schmerzen aufgespannt hatte; doch dieser gab ihm keinen Blick in eine Ewigkeit oder Seligkeit dereinst, sondern hielt ihn in dem fest, worauf die Folter eingewirkt hatte: in seinem jüdischen Körper, mit dem er Widerstand geleistet hatte. Dem geschundenen Körper noch wohltätig zu sein, ließ Améry nicht mehr los. Doch wann? Und wie? Eine letzte Perspektive über die Verzweiflung hinaus tat sich noch auf, doch auch sie endete widersprüchlich wie die ganze Körper- und Selbsterfahrung Jean Amérys: Hand an sich zu legen, und das im Versuch einer »Zärtlichkeit zum

713 Jean Améry markierte die Grenze der Mitteilbarkeit durch die Qualität des Schmerzes, die sich nicht ins Wort heben lässt. »Wer seinen Körperschmerz mit-teilen wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen und damit selbst zum Folterknecht zu werden.« (Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 63). 714 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 72. 715 Nietzsche Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, 61f; vgl. dazu auch Améry Jean, Weiterleben – aber wie? 245f. 716 Améry Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, 73. 717 Ebd., 137. 718 Ebd., 73.

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eigenen Körper, dem man schon abgeschworen hatte.«719 Hand an sich legt der Mensch in Masturbation, Geschlechtsakt und Suizid – doch die »Linien, die nach außen führten, auf Gegenstände trafen, auf andere Leiber, ihre Finalität hatten, sind alle rundgebogen und münden ineinander in sinnlosem Kreise, der sinnloser Tat entspricht.«720 Jean Améry blieb lebenslang im Verließ von Breendonk. Seine letzte resignative Revolte brachte ihn nicht mehr über seine Verzweiflung hinaus, sondern tötete mit ihr sich selbst. Immerhin: Er hatte sich nicht töten lassen721, sondern hatte überlebt. Er war im Widerstand und blieb im Widerstand bis an sein Lebensende. Er hatte nicht zu den armen Juden gehört, die die Dichter Abba Kovner und Abraham Sutzkever im Wilnaer Ghetto aufforderten, sich nicht »wie Lämmer zur Schlachtbank führen zu lassen.«722 Diese Dichter lebten aus religiösen Traditionen des Judentums. Vielleicht war das ja die tiefste Tragödie Amérys, die am Grund seines Lebens lag und die Verzweiflung über seinem Leben erhielt: Ihn trugen weder religiöse noch politische, weder soziale noch berufliche, weder künstlerische noch stilistische Traditionen und Zugehörigkeiten. Er war ein Solitär, den die Wucht der Ausstoßung ungeschützt traf. Sein Widerstand war so isoliert wie seine Existenz, seine Verzweiflung so einsam wie sein Tod, trotz aller Verbindungen, die er gehabt hatte; mit Ausnahme seiner ersten Frau, Opfer des Regimes, hatte ihn niemand im Innern erreicht. Jean Améry wurde in Breendonk ermordet und geisterte danach dreieinhalb Jahrzehnte durch eine ihm fremde Welt. Vielleicht fand er nicht nach Hause, weil er nicht zur Widerstandgruppe an Kains Grab gefunden hatte, wie Abraham Sutzkever in einem Gedicht aus dem Jahr 1951 geschrieben hat: »Auf Kains Grab Es blüht ein Oleander auf Kains Grab – Sein Schauderzeichen steht in Blut beim Garten Eden. Kamele bringen Menschen her auf Pilgerschaft, und diese schütten all ihr Leid aus und beten. Ich habe mich versteckt im Schatten der Kamele, und heftig pocht mein Herz, fragt immer wieder: Warum verneigt die Menge sich vor einem Sünder, warum sagt man zu Kain Gebete und kniet nieder?

719 Améry Jean, Hand an sich legen, 75; zum Suizidär gehört eine »nekrophile Zärtlichkeit zum Todeskörper« (ebd., 97), die aber ihrer Gegebenheit nach widersprüchlich bleibt; denn als Zärtlichkeit kann sie leicht umschlagen in die Bejahung eben dieses Körpers und seines Lebens, die die suizidale Absicht wiederum suspendiert. 720 Ebd., 75. 721 Ebd., 89. 722 Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 237.

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Und wo das Grab des Abel ist, weiß keiner, Kamele gibt es nicht, die ihre Dienste böten. Und wüsste man den Ort, man würfe Steine: ›Nichts als ein Feigling war er, ließ sich töten.‹«723

Niemand von den hier in diesem Buch dargestellten jüdischen Literaten blieb so tief in der Finsternis wie Jean Améry, und keiner von ihnen war so ausweglos und trostlos an seinen eigenen Körper gebunden wie er. In der von ihm genau beobachteten Hinfälligkeit des Alterns splitterten im échec wieder die Schultergelenke wie in Breendonk, diesmal jedoch tat das Werk der physische Verfall. Die Welt – ein einziger Terror? Eine einzige Tortur? Jean Améry stellte in fast jeder Zeile diese Existenzfrage. Und er hat sie als Suizidär beantwortet, ohne am Ende weiter zu diskutieren: »Er sagt ja und amen: zu sich selber und seines Ich äußerster Selbstherrlichkeit und zur Welt, die ihn aburteilt mit ihrem arterhaltend notwendigen Gerede.«724 Diese Antwort hat er mitgenommen, die Frage nach einem Leben trotz der Verzweiflung und gegen sie aber zurückgelassen.

723 Sutzkever Abraham, Geh über Wörter wie über ein Minenfeld, 143. 724 Améry Jean, Hand an sich legen, 126.

Abraham Sutzkever – »Juden, verschwört euch gegen den Tod!«

1.

Widerstand ohne Ergebung

Mitten ins Leben von Abraham Sutzkever schlug, ähnlich wie bei Jean Améry, die Katastrophe der Judenvernichtung ein. Eine Generation nach Stefan Zweig, Franz Kafka und Franz Werfel wurden auch die getroffen, die den Stamm und die Zukunft des Judentums bildeten. Doch der Schlag traf Abraham Sutzkever anders als Jean Améry. Denn Sutzkever war ein religiöser Mann, mit der jüdischen Tradition vertraut und ihr tief verbunden. Er nahm sie auf und wandelte sie als lebendige Botschaft in seinen Tagen ab, wie sein Gedicht Auf Kains Grab zeigt. Diese Botschaften verdichteten sich ihm zu einem Imperativ: Widerstand. Widerstand gegen die Judenmörder. Schon Franz Werfels Widerstand war aus der Tradition Israels gehoben. Im Schma Israel fand er den Kern seiner Existenz, die Mitte seiner literarischen Botschaft und die Zukunft des Judentums über die Katastrophe hinaus. Dieses Bekenntnis kollidierte mit seiner Zeit frontal und deutete ihm klar, »daß es Größe nur gegen die Welt gibt und niemals mit der Welt, daß die ewig Besiegten die ewigen Sieger sind und daß die Stimme wirklicher ist als der Lärm.«725 Doch Werfel war kaum ein Mann des tätigen Widerstands. Dazu war er in den Tagen, als sich der Nationalsozialismus aufschwang, durch seine Lebensumstände allzu sehr gebunden und auch nicht mehr in den Jahren, in denen man sich mit voller Kraft einer politischen Widerstandsaktion verschreibt. Zudem stellten sich ihm religiöse Identitätsfragen, wie sie Abraham Sutzkever nicht kannte. Denn Sutzkever lebte aus den Wurzeln des osteuropäischen Judentums, und zwar in jeder Hinsicht: religiös, politisch und sprachlich. Seine Muttersprache war Jiddisch. In einer Welt, die damit beschäftigt war, das Judentum auszulöschen und die Auslöschung späterhin als vollzogen zu akzeptieren, ja da und dort sich manchmal still, manchmal auch hörbar darüber zu freuen, dass der Führer wenigstens mit diesem politischen Programm sich durchgesetzt hatte – jedenfalls 725 Werfel Franz, Höret die Stimme, 635.

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was Europa betraf –, in einer solchen Welt hatte Jiddisch keine Bedeutung mehr. Das kam einer Tragödie gleich, die den jiddischen Dichter Sutzkever zweifach einholte. Zum einen waren seine und andere jiddische Zeugnisse der Schoa, die zu den allerersten zählten, die publiziert wurden, für die Welt danach irrelevant, ein Relikt aus untergegangenen Tagen, das man schlichtweg ignorierte.726 Zum Zweiten war Jiddisch mit der osteuropäisch-jüdischen Tradition so stark verbunden, dass dem Jiddisch auch im neuen Israel stark opponiert wurde727 und es eine abgegrenzte Sprache der streng religiösen osteuropäischen Traditionen blieb. Wenige waren und sind es, die wie Aharon Appelfeld im Jiddisch den Charakter einer heiligen Sprache fanden, weil es das (billige) Schlagwort nicht kennt.728 Zu einer streng religiösen Bewegung hatte Sutzkever nie gehört; doch sein Judentum hatte ihm das eigepflanzt, was ihn zu einem Mann des tätigen Widerstands gemacht hatte und auch bei Werfel zentral für die Wahrnehmung und die ihr entsprechenden Imperative war: Kewana, gesteigerte Aufmerksamkeit für das, was die jeweilige Stunde einem Menschen jüdischer Herkunft gebietet. Das Gebot der Kewana rief Sutzkever vor allem in den Jahren des Wilnaer Ghettos täglich an. In diesem Ghetto herrschten Mörder; Sutzkever sah, was diese uniformierten Männer anrichteten, und mobilisierte gegen sie Widerstand ohne Ergebung. Zum Widerstand, der anhielt über die unmittelbare Ghettozeit hinaus, gehörte es auch, diese Mörder zu benennen. Denn die sich an Juden und Jüdinnen im Ghetto mit allen Formen der Brutalität vergingen, waren nicht anonyme Herren, ihre Namen waren genannt und bekannt, ihre Namen deklarierten bewusst den Terror: Horst Schweinenberg, Martin Weiß, Franz Murer, Bruno Kittel. Die schon bei Jean Améry irreale Unterscheidung von Täter und Tat729 war auch Sutzkever unmöglich. Er, einer der größten jiddischen Lyriker des 20. Jahrhunderts, umgab diese Namen auch niemals mit schwer durchdringlichen Symbolen, sondern benannte mit ihnen die reale Gewalt, die sie ausübten 726 Rozier Gilles, Im Palast der Erinnerung, 137: »So ist die Welt, in der ich lebe: Was die Menschheit angeblich erst entdeckt, als sie die Massengräber öffnet, haben die Meinigen schon vor sechzig Jahren beschrieben. Man sagt, die Zeugen hätten geschwiegen, aber das ist eine Lüge. Allenfalls kann man sagen, sie wollten nicht in der Sprache der anderen Zeugnis ablegen: auf Französisch, Deutsch, Polnisch.« Ein paar Seiten davor kommt es zu einer geradezu paradigmatischen Feststellung für die Einschätzung der Bedeutung des Jiddisch in Bezug auf die Zeugnisse: »Was ist aus den Erinnerungsbüchern geworden, die die Überlebenden in den dreißig Jahren nach der Vernichtung auf Jiddisch verfasst haben? Ach ja, natürlich, da hätte man zugeben müssen, dass Jiddisch eine Sprache ist.« (ebd., 134). 727 Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk, 45. 728 Appelfeld Aharon, Laila we’od laila, 8: Der gelehrte Dichter Seidl sagt: »… Du übst dich in einer Sprache des Schlagwortes. Jiddisch ist eine heilige Sprache, und jeder, der sie missbraucht, wird bestraft.« ».‫ וכל מי מתעמר בה ייענש‬,‫ יידיש היא שפה קדשה‬.‫«… אתה נוהג בלשון כסייס‬ 729 Klein Dennis B., Resentment and Recognition, 103f.

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und die auf die Juden im Ghetto hereinbrach und ganz unsymbolisches, reales und sinnlosen Leiden über sie brachte. Denn, so Abraham J. Heschel, wir »leiden nicht symbolisch, wir leiden buchstäblich, echt, tief.«730 In seinem Bericht Wilner Getto 1941–1944 hat Sutzkever die Wirklichkeit des Ghettos an diesen und anderen Namen dargestellt. Einer unter ihnen war Franz Murer; er war 1946 wegen Kriegsverbrechen angeklagt, wurde 1948 in die UdSSR gebracht, um dort 25 Jahre Zwangsarbeit zu verrichten, 1955 anlässlich des Österreichischen Staatsvertrags nach Österreich entlassen, hier nach einem Prozess im Jahr 1962 freigesprochen und war Mitglied und Bauernbundvertreter der Österreichischen Volkspartei bis zu an sein Lebensende.731 Sutzkever kannte den SS-Führer gut. »Murer, der Referent für jüdische Angelegenheiten beim Gebietskommissar Hingst, war alles in allem 24 Jahre alt. Ein Offizier. Sein Vater war ein Henker in einer fernen deutschen Provinz. Der Sohn hielt auf Tradition und schämte sich seiner Taten nicht. Er war bei der Hitlerjugend in Nürnberg erzogen worden. Dort hatte er ›Juden-Kunde‹ studiert. Murer liebte es, mit ›seinen‹ Juden zu spielen. Er kam unangekündigt zum Gettotor gefahren und kontrollierte jeden einzelnen, der von der Arbeit zurückkehrte. Fand er Nahrungsmittel, brachte er in der Regel den Betreffenden selbst ins Gefängnis. Ein andermal betastete er die Flicken, und wenn eine Spitze des Flickens abgerissen war, ließ er das Opfer nicht mehr aus den Händen. Wenn er Geld fand, oder Blumen, befahl er der Torpolizei, den Verbrecher auszupeitschen. Besonders gern sah er zu, wenn man junge Mädchen schlug. Er stellte sich an die Seite und schrie: ›Stärker! Stärker!‹ Einmal begegnete er einer Gruppe Juden. Er kontrollierte sie und fand bei einem ein Kilo Mehl. Er hat alle 20 verhaftet und war selbst dabei, als sie in Ponar exekutiert wurden. Ins Getto ging er oft. Er hatte einen eigenen Schlüssel zum Tor, und wenn es ihn gelüstete, kam er. Er liebte es, im Bad der Straschun-Straße 6 Zeit zu verbringe; dort pflegte er mit verschränkten Händen auf die nackten Frauen zu schauen. Einmal ging er näher heran, betatschte sie und rief: ›Ihr seid zu fett, ich werde dafür sorgen, daß ihr magerer werdet!‹ Wenn er die Werkstätten im Getto besuchte, befahl er, man sollte unter die Tische kriechen und wie Hunde heulen.«732

Der Grundsatz des Schma Israel, der die Weitergabe des Glaubens an den einzigen Gott vom Vater fordert, fand sich pervertiert bei den Judenhassern. Vom Vater erlernt der Sohn den Mord als Handwerk; er spricht dessen deutsche Sprache, in der bis heute das Wort Jude einen denunziatorischen Missklang hat; er spricht die deutsche Sprache, in der philosemitische Anwandlungen ein verdächtiger Unterton begleitet, der besonders in der deutschsprachigen Theologie 730 Heschel Abraham J., Der Mensch fragt nach Gott, 104. 731 Franz Murer, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Murer. 732 Sutzkever Abraham, Wilner Getto, 82f.

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der Gegenwart vernehmbar wird, indem man sich dem Judentum mit allerhand semantischen und gedanklichen Kunstgriffen nähert, in denen eine Nähe zum Judentum nur vorgespiegelt wird, weil die alten Linien der Überhöhung, Vollendung und damit der faktischen Liquidation des Judentums durchs Christentum unverändert fortbestehen733; er spricht die deutsche Sprache, die nach wie vor aus Judas Iskariot und einer zwar neutestamentlich verbürgten, trotzdem recht zweifelhaften Mythenbildung734 das Bild des Juden ableitet, der die Wahrheit für ein paar Geldstücke verkauft; dieses theologische Machwerk, an dem von höchst prominenten Mentoren735 festgehalten wird, verrät nicht nur inhaltlich einen basalen antijüdischen Affekt, der tiefer sitzt als der offene Bildungswille; sondern es ist auch formal katastrophal, weil es einen Habitus offenbart, der zum Kern christlicher Systematik gehören dürfte: Sie lernt nur durch sich selbst und ihre Wahrheit, das Judentum ist ihm seit zwei Jahrtausenden lästiger Begleiter, den man mit Phrasen beruhigt und gleichzeitig im Internum liquidiert. Wäre dem nicht so, hätte man Judas und seinem Kuss nicht bis in die 733 Ein Beispiel dafür, in dem sich auch eine Reihe einschlägiger Referenzen findet, sind die neueren Schriften von Klaus W. Hälbig, Der Baum des Lebens und Das Alphabet der Offenbarung. Dieser Vollendungsanspruch zieht sich nicht nur durch beide Bücher in einer manchmal geradezu aufdringlichen Weise, in der Reflexions- und hymnische Sprache eigentümlich vermischt werden, sondern er manifestiert sich auch im Untertitel der zweiten Schrift Neubuchstabierung des Glaubens im Licht jüdischer Mystik: Glaube braucht nicht näher bestimmt zu werden, es ist der christliche als der alles vollendende Glaube. 734 Klauck Hans-Josef, Judas. 735 Zwei Beispiele katholischen Christentums: Im Interviewband Gott und seine Geschichte legt Gerhard Ludwig Müller im Jahr 2005 die Evangelien wie ein historisches Protokoll aus und liest die ganze Passion als eine Angelegenheit, in der die Hohepriester Pilatus bedroht und in eine Falle gelockt hätten (Müller Gerhard Ludwig, Gott und seine Geschichte, 218); der Name des Judas Iskariot wird im Zusammenhang der Gefangennahme Jesu im Ölgarten von ihm gar nicht in den Mund genommen, sein Kuss aber in der traditionellen Weise als Verrat interpretiert (ebd., 209), dessen diesbezügliche Sinnlosigkeit jüdische und christliche Gelehrte, die sich nicht an der Oberfläche von ein paar Sätzen aufhielten, aufklären konnten (Ben-Chorin Schalom, Bruder Jesus 134f; Cohn Chaim, Der Prozeß und Tod Jesu in jüdischer Sicht, 120–126; Klauck Hans-Josef, Judas, 64–70). – Joseph Ratzinger stellt beim selben Thema des Ölgartens fest: »Hier ist ihm (sc. Jesus) der Abgrund der Sünde und alles Bösen ins Innerste der Seele gedrungen. Hier ist er von der Erschütterung des nahe Todes berührt worden. Hier hat ihn der Verräter geküsst. Hier haben ihn alle Jünger verlassen. Hier hat er auch um mich gerungen.« (Ratzinger Joseph / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil, 169). Der Verräter trägt so wenig einen Namen, wie der Kuss erklärt werden muss – beides versteht sich von selbst. Ratzinger wie Müller stehen auf dem Fundament einer eingefahrenen christlichen Idee, der es nicht nur an Stichhaltigkeit gebricht, sondern die von ihren Anfängen im ersten Jahrhundert an bis in die Gegenwart einen der wirksamsten Gehalte lieferte, alte antijüdische Gerüchte warmzuhalten und sie im Kern christlichen Selbstverständnisses zu bewahren wie einen intimen, unveräußerlichen Schatz. Seine Bedeutung ist klar: Ein solches Christentum trägt in seiner Lehrausprägung einen so unverlierbaren wie unverzichtbaren antijüdischen Affekt, ohne den so gedachte christliche Lehre nicht vermittelt werden kann.

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Gegenwart die Projektionen einer Abscheulichkeit nachgetragen, die im NT vorbereitet und von hassenden oder ignoranten Geistern, angefangen in der sog. Väterzeit und über das Mittelalter bis ins 21. Jhdt. vermittelt, spitzfindig aus- und weitergedacht worden sind – auch das ohne Rücksicht aufs Judentum und damit in einer Haltung, die schon so tut, als wäre das Judentum endgültig am Ende und vernichtet. Es gibt so etwas wie eine systematisch-theologische Schoa, die nach wie vor am Laufen ist und systematisch die Beseitigung des Judentums betreibt – je zentraler die christlichen Lehrgehalte, umso lückenloser.736 Die jüdischen Quellen hätten vom Judaskuss etwas anderes gelehrt; christlicherseits hat man sie bis heute weithin ignoriert – und mit ihnen das Judentum. Damit schließt sich der furchtbare Kreis, in dem auch Abraham Sutzkever eingesperrt war. Leute wie Murer, bekennende Christen, die Gott ihren Dank im Herbst abstatteten für die Früchte des Feldes und das Gedeihen der Herden, hat diese vielschichte Grundbotschaft mitbestimmt und begleitet. Worin liegt denn noch der Unterschied, wenn man wie Murer Juden und Jüdinnen misshandelt und dann massenweise ermordet und ermorden lässt, wenn in christlicher Verkündigung weithin klar gemacht worden ist, dass die Juden Verbrecher am Erlöser waren und deshalb in keiner christlichen Selbstbegründung und Weltauslegung mehr vorkommen dürften? Was Murer exekutierte, hatte er davor und auch danach in christlichen Deutungen gehört. Der Konnex ist manifest. In der christlich motivierten Erschütterung darüber, dass Täter wie er zu keiner Schuldeinsicht fähig waren, versteckt sich genauso viel Unwahrheit und Heuchelei, wie man in der Judasfigur angesammelt hat und breit tradiert. Abraham Sutzkever hat die Exekutoren dieses Verbrechergeistes also benannt. Murer hatte Juden zu Tieren gemacht, schikaniert, prügeln, auspeitschen und ermorden lassen; er hatte ihnen das Bewusstsein eingebläut, das Jean Améry noch vor dem letzten Absprung so beschrieben hat: »Wir sind allemal vor dem Suizid das ohren- und herzzerreißend quäkende Ferkel, das man zur Schlachtbank zerrt.«737 Dazu wurde man gemacht durch Leute, die in der Erniedrigung der Andern als Halbgötter sich erhoben. Dem Österreicher Murer entsprach in Sutzkevers Erfahrung der Deutsche Otto Bruno Kittel, kein Gebirgsgrobian, sondern ein moderner Städter seiner Tage, scheinbar gebildet, vor allem aber eiskalt im tödlichen Spiel, dessen Plan er im Wilner Ghetto stets vorgab und das er immer als leichtfüßiger Sieger überstand. »Kittel ist ein Schauspieler. Ein Sänger. Er absolvierte eine Theaterschule in Berlin und eine Mordschule in Frankfurt. Die Lehren beider Schulen hat er ›harmonisch‹ vereinigt. Jeden Sonntag pflegt er im Wilner Radio aufzutreten, spielt auf seinem silbernen Sa736 Marquardt Wilhelm-Friedrich, Von Elend und Heimsuchung der Theologie, 96. 737 Améry Jean, Hand an sich legen, 78.

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xophon und singt Lieder dazu. Jung, geboren 1922. Er ist der jüngste von all seinen Kollegen, und, man muß zugeben, von allen der flinkste. (…) Auf den ersten Blick ist es unvorstellbar, daß Kittel Kittel ist. Schon wie er lächelt. Seine weißen Zähne blenden von weitem. Ständig umschwebt ihn ein Duft von Parfum. Er ist elegant und höflich, modern und ›wohlerzogen‹. Wenn er in die Provinz aufbricht, um ein Blutbad anzurichten, nimmt er das Saxophon mit… (…) Zu seinem Debüt (sc. im Wilner Ghetto) fuhr Kittel mit Weiß ins jüdische Arbeitslager Besdan, ging in die Verwaltung und rief den jüdischen Barbier, er solle ihn rasieren. Als die Rasur beendet war, bot Kittel dem Barbier eine Zigarette an. Dabei fragte er höflich: ›Brauchst du Feuer?‹ ›Ja‹, antwortete der Jude und hielt dem Kunden die Zigarette hin. Kittel zog den Revolver: ›Da hast du Feuer!‹ Und er erschoß ihn auf der Stelle. Der Schuß war gleichzeitig das Signal für Weiß und seine Horde, das Gemetzel zu beginnen.«738

Kittel stellte den nationalsozialistischen Furor in deutscher Reinheit dar: theatralischer Stil der genau inszenierten Selbstdarbietung und maßlose Selbstverliebtheit, die von sich aus die Herabsetzung aller andern nicht nur schafft, sondern auch braucht. Ohne Leichen läuft da nichts. Tod und Selbstvergottung sind identisch. Kittel repräsentiert die Figur eines Mannes in der Wirklichkeit, von der Elie Wiesel in seinem Roman Der fünfte Sohn erzählt hat: Dort ruft sich der SSMann Richard Lander über zweihundert Tote mit dem Satz aus: »Seht, ich habe recht gehabt, als ich euch erklärte: Ich bin der Tod und bin euer Gott.«739 Man mag fragen, woher Sutzkever diese Begebenheit gewusst hatte. War er dabei? Das ausbrechende Gemetzel blieb nicht verborgen, nichts blieb geheim in diesen Todesbezirken. Durch solche Mordaktionen ließ der Terror nicht nach; um ihn zu erhalten, übte die SS ihn öffentlich aus. Zudem waren die Leute, die sich dann als Widerstandskämpfer geheim formierten, in den Ghettos mitsammen verbunden. Jedem von ihnen brannten sich die Ereignisse ins Gedächtnis ein. Für ihre Konteraktionen brauchten sie Klarheit in Bezug auf die Tatsachen, keine Gerüchte. Deshalb kannten die Widerstandskämpfer auch bald das tödliche Ziel dieses Terrors: Ponar. Ponar lag zehn Kilometer von Wilna entfernt. Dort hatte die SS die Juden gezwungen, große Gruben auszuheben, in denen dann die Juden erschossen wurden. Siebzigtausend Menschen, überwiegend Juden, wurden in den Jahren 1941–1944 in Ponar ermordet.740

738 Sutzkever Abraham, Wilner Getto, 153f. 739 Wiesel Elie, Der fünfte Sohn, 130. 740 Zeugnisse des Holocaust, 130.

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Rasch hatte im Ghetto viele eine erdrückende Verzweiflung erfasst, die der jiddische Dichter und Partisan Shmerl Kaczerginsky, Freund Abraham Sutzkevers und Abba Kovners, im April 1943 in ein Gedicht gefasst hat: »Ponar Still, still, mein Sohn, sei leise! Hier wachsen Gräber, Die, die uns hassen, haben sie gepflanzt, Sie blühen und gedeihen. Nach Ponar führen viele Wege, Keiner führt von dort zurück. Vater ist dort verschwunden, und mit ihm All unsere Freude.«741

Diesem Druck, der jeden Widerstand zermürben sollte, stemmte sich Abraham Sutzkever entgegen. Er wurde zu einem Kämpfer, der genau die Sabotageakte und Angriffe auf die Aggressoren ausführte, von denen Jean Améry vergeltungsdurstig geträumt haben wird. Sutzkever ergab sich nicht dem Schicksal und ließ sich nicht zum Opfer machen, das die SS irgendwann einmal liquidieren konnte, widerstandslos. Der religiöse Mann Sutzkever ergab sich nicht. Denn was die Nationalsozialisten anrichteten, hatte in keiner Weise mit einem Holocaust zu tun, es war kein irgendwie religiöses Opfer. Dem subtilen Konnex von Opfer als sacrifice und Opfer als victim, wie ihn die deutsche Sprache, die Sprache der Nationalsozialisten und der christlichen Kirchen in deutschen Sprachzonen, permanent nahelegte, entzog sich die Vereinigte Partisanenorganisation im Wilner Getto, deren Kopf Abba Kovner war und zu der auch Sutzkever von Anfang an gehörte. Was von der SS im Ghetto vorbereitet und ausgeführt wurde, hatte für ihn überhaupt keine Dignität, die hinzunehmen war. Als die ersten Nachrichten von einem Massaker in Ponar ins Ghetto drangen, und zwar »von einem verletzten Mädchen, das dem Blutbad entronnen war«742, wussten die Partisanen, hier geht es – schon Monate vor der Wannsee-Konferenz im Jänner 1942743 – längst um die systematische Vernichtung von Juden. Abba Kovner verfasste ein Flugblatt, in dem er sowohl über die Absichten der Nationalsozialisten wie auch über den entschlossenen Widerstand der Partisanen aufklärte. Sutzkever hat diesen Aufruf in seinem Zeugnis Wilner Getto 1941–1944 wie-

741 Shmerl Kaczerginsky, zit. in: ebd., 131. 742 Ebd., 170. 743 Bereits am 1. September 1941 wurden aus Wilna einige Tausende von Juden in Ponar umgebracht. »Tagelang hörten wir von dort die Maschinengewehrsalven, denen in der Regel ein einziger Schuss voranging«, wird Arieh Wilner zitiert (ebd., 130). Das bestätigt auch wieder Abraham Sutzkevers Darstellung von Otto Kittel: Ein Schuss eröffnet ein Massaker.

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dergegeben, den Abba Kovner vor der jüdischen Jugendbewegung Haschomer Haza’ir im Ghetto verlesen hatte: »Laßt uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen! Jüdische Jugend, glaube nicht den Verführern. Von den 80 000 Juden im Jerusalem de Lite (sc. Vilna) sind nur 20 000 übriggeblieben. Vor unseren Augen hat man unsere Eltern, Brüder und Schwestern hinweggerissen. (…) Wen man aus dem Getto hinausgeführt hat, der wird nicht mehr wiederkehren. Weil alle Weg der Gestapo nach Ponar führen. Und Ponar ist der Tod! Löst euch von der Illusion der Verzweifelten: Eure Kinder, Frauen und Männer sind nicht mehr! Ponar ist kein Lager! Man hat sie alle erschossen. Hitler hat sich ein System ausgedacht, alle Juden in Europa umzubringen. An uns kam die Reihe zuerst. Laßt uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen! Es ist wahr, wir sind schwach und haben keine Hilfe. Aber die einzige würdige Antwort an unsere Feinde ist – Widerstand! Brüder! Besser als freie Kämpfer fallen, statt in der Gnade der Mörder zu leben. Sich wehren bis zum letzten Atemzug! 1. Januar 1942. Wilne. Im Getto.«744

In Ponar lag die »Grube des Grauens« (Ps 40,3), wie die Bildzeugnisse aus jenen Tagen zeigen:745 Menschen mit nackten Oberkörpern, die, knapp hintereinander stehend, über ihre Köpfe Obergewandteile hatten ziehen müssen, nichts mehr sehen konnten und einander an den Hüften fassen mussten; dienstbereite Uniformierte, die die Opfer bewachten und umstanden, als wären sie fluchtbereite Schwerverbrecher. In Ponar war das Ende, aber kein Gott, der die Juden aus der Grube des Grauens holte. Wenn Jean Améry als Suizidär im Widerstand am Ende seines Lebens »ja und amen« sagte »zu sich selber und seines Ich äußerster Selbstherrlichkeit«746, so sprachen Sutzkever und die Partisanen dieses ja und amen zur jüdischen Existenz in den Gruben des Grauens, am Ort der in die Tiefe gebauten Anti-Altäre des Todesdienstes. Sie sprachen es als Juden, denen die religiöse Lämmer-Ideologie, auf die sich v. a. das Christentum mit der kultischen Idee des Lammes Gottes gut verstand und versteht, das Falsche bedeutete. Ihr Nein sprachen sie als religiöse Juden, die ihre Traditionen gut kannten. Sie sprachen es als religiöse Juden, denen das tägliche Grauen die Abwesenheit Gottes und seiner wirksamen Gnade offenbarte. Das Blut unzähliger Morde an ihren Volksgenossinnen und Volksgenossen schrie zum Himmel und verlangte Vergeltung, mehr noch: Rache. Die Widerstandskämpfer verlangten nach dem Gott der Rache, den die Gebetsliteratur stellig machen wollte als den Rächer »des seinem Volke Israel von den Feinden angetanen Unrechts.«747 Im Herbst 1943, nachdem Sutzkever, seiner Frau und einigen anderen die Flucht aus dem Ghetto 744 745 746 747

Sutzkever Abraham, Wilner Getto, 159. Zeugnisse des Holocaust, 130f. Améry Jean, Hand an sich legen, 126. Sandler Aron / Kirschner Bruno, Art. Gott der Rache, 1226.

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gelungen war knapp vor dessen Liquidierung durch die Nationalsozialisten, schlossen sie sich schließlich einer jüdischen Partisaneneinheit an, die sich den Namen nekome, Rache, gegeben hatte.748 Diese Wahl entsprach genau dem Auftakt von Psalm 94: ‫ – אל נקמות יי אל נקמות הופיע‬el neqamot hashem el neqamot hofia – Gott der Rachen, Ewiger, Gott der Rachen erscheine!

Wie es Sutzkever im Ghetto widerfuhr, so ähnlich war auch die Lage, die dieser Psalm beschreibt: In der Abwesenheit Gottes begann das böse Spiel der Gottabgewandten. Doch wie wird Gott die bewahren, die auf ihn setzen (Ps 94,13)? Sutzkevers Antwort war eindeutig: Im entschlossenen Widerstand, der vor dem Gott der Vergeltungen in dem Maß gefordert ist, als dieser unerfahrbar geworden ist, liegt allein die Hoffnung auf Rettung. Deutsche christliche Übersetzungen wie die offizielle der Einheitsübersetzung haben die Härte dieses Gebetseingangs von Ps 94 gleich zweimal getilgt: In ihnen ist sowohl die Pluralform gelöscht und damit auf die Emphase verzichtet, die auf die Eminenz der berechtigten menschlichen Racheforderung Gott gegenüber weist, als auch das Wort Rache durch Vergeltung749 weich gemacht worden, die jedoch deutlich an das hebräische Schalom750 angelehnt ist. Offenbar wollte man den christlich Gläubigen diesen Text nicht zumuten und glättete ihn durch einen »salbungsvollen Reklameton«751, der einer öden und schwach gewordenen Eindeutigkeit entstammte, wie Franz Werfel schon in den 1940er Jahren erkannt hatte. Die Zurückhaltung schien geboten, denn solche Texte hätten wohl den antijüdischen Geist im Christentum wieder angeheizt und mit ihm das billige und falsche Argument, das bis heute den Zusammenhang von Israels Gottesglaube und Gewalt breit durchspielt:752 Der jüdische Gott wäre ein rachsüchtiger El, der 748 Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Lyrik, 37. 749 Wenigstens wurde die Doppelung erhalten; diese ist in der Übersetzung der Guten Nachricht getilgt. Dort liest man (http://www.bibleserver.com/text/GNB/Psalm94; Abfrage 27. 9. 2013): »Gott, bei dir liegt die Vergeltung! Komm endlich, Herr, zeige dich!« 750 Klein Ernest, A Comprehensive Etymological Dictionary, 660. 751 Werfel Franz, Theologumena, 279. 752 Schieder Rolf (Hg.), Die Monotheismusthese, 15–35; im Zusammenhang dieser Debatte hat Jan Assmann seine frühere sog. mosaische Unterscheidung zwischen wahr und falsch (Assmann Jan, Mose der Ägypter, 22) zugleich relativiert und verschärft durch die Unterscheidung von »Treue und Abfall« (Assmann Jan, Monotheismus der Treue, 255), die er bei Esra sich mit »in anderen antiken Religionen beispielloser Brutalität« (ebd., 257) durchsetzen sieht (Scheidung von Mischehen). Die Verschärfung, die er hier meinte, vollzog Assmann zwar thematisch ganz klar, doch hielt er sich sprachlich noch zurück. Sprachlich eindeutig wurde er in seinem Abendvortrag im Rahmen des dies facultatis der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Wien am 15. Oktober 2013. Da sagte er: »Nachdem sie (sc. die Israeliten) in Ägypten Opfer geworden waren, war ihnen durch den Exodusmythos die heilige Pflicht auferlegt worden, zu Tätern zu werden.« Wer so spricht, auch wenn er es historisch meint und von rabbinischer Entwicklung absetzt (ebd., 258), spielt bewusst auf

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christliche jedoch ein ganz von Liebe bestimmter Abba753, wie auch die weithin antijüdischen johanneischen Schriften754 nicht müde werden zu deklamieren. Doch auch hier könnte Jean Amérys Einsicht weiterhelfen, wie er in Bezug auf den Suizidär schrieb: Anstatt diesen gesellschaftlich abzuurteilen als Selbstmörder, geht es darum, die furchtbaren Bedingungen zu benennen und anzuerkennen, die einen dazu treiben, mit dem Einsatz seines Lebens irreversibel und absolut zu protestieren. Umgelegt auf den Gott der Rache und Sutzkevers Rachehaltung heißt dies, gerade nicht den antijüdischen und antisemitischen Reflex zu beleben, sondern die Bedingungen zu benennen und wahrzunehmen, die die Flucht zum Gott der Rachen (Plural!) provozieren. Noch dramatischer als bei Werfel ist es also bei Sutzkevers Waffengang gegen die SS: Ohne jüdische Traditionen, in denen Erwählung und Rettung als Hoffnung, aber auch das Verstummen Gottes als Abgrund sich vergegenwärtigen, versagen die stärksten Kräfte des Aufstands irgendwann. Diese Tradition bindet Gott und Israel aneinander, und das keineswegs in affirmativen Gleichungen, durch die Gottes (Nicht-)Handeln und menschliches (Nicht-)Handeln einander zu entsprechen hätte. Denn besonders in der Abwesenheit der Wucht Gottes, des Kabod des Ewigen, wird der jüdische Mensch pflichtig zu handeln, um das Ebenbild Gottes, das er ist, nicht preiszugeben. Der Imperativ, wie ihn Heschel formuliert hat: »Behandle dich als ein Ebenbild Gottes!«755, war in Sutzkevers Widerstand tägliche Praxis. Jude zu sein, heißt für ihn, sich gegen den Tod zu verschwören. Jude zu sein heißt für ihn, sich durch die Weigerung, wie Schafe abschlachten zu lassen, gleichzeitig einen Widerstand zu entwickeln, der Jahrtausende alte Vorbilder hat und auch eine Gedenkwoche im jüdischen Jahreslauf, das Chanukka-Fest: Die Hasmonäer hatten mit ihrem wenig aussichtsreichen Aufstand gegen die Seleukiden im 2. Jhdt. v. d. Z. dann doch die Freiheit und Selbstständigkeit Israels hervorgebracht. Dem mag man nicht durchwegs zustimmen; Elie Wiesel hat sich mit diesen Kämpfern nicht anfreunden können, weil sie sehr mächtig waren und bei ihnen die stille Suche nach den Menschen und dem Gott Israels kaum eine Bedeutung

zentrale Interpretamente der Schoa an, verkehrt sie ebenso bewusst, spiegelt sie damit in die Gegenwart und widerspricht auf diese Weise direkt seiner Versicherung, seine Überlegungen wären »nicht antisemitisch, sondern antifundamentalistisch motiviert.« (ebd., 264). Seinem Vortrag in Wien, dem mehr als zweihundert Menschen zuhörten, in der Mehrzahl Theologinnen und Theologen, folgte lang anhaltender Applaus. 753 So hat es Georg Baudler in einer Art telelogischem Dreischichten-Modell gedacht, das Oliver Reis sehr gut und kompakt dargestellt hat; Reis hat jedoch in seiner Kritik die Problematik eines mehr als nur impliziten Antijudaismus dieser theologischen Konstruktion nicht einmal angedeutet (Reis Oliver, Gott denken, 203–206). 754 Galambush Julia, The Reluctant Parting, 271f, 277 und 285f. 755 Heschel Abraham J., Der Mensch – ein heiliges Bild, 129.

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hatte.756 Doch Elie Wiesel ist fast eine Generation jünger als Sutzkever und war in den Jahren der Schoa noch ein Jugendlicher; ihm fehlten sowohl die Kräfte als auch die Lebensvergleiche, wie sie der dreißigjährige Sutzkever hatte. Dem ghettoisierten, kampfbereiten Sutzkever hatten die Nazis das erstgeborene Kind ermordet; Elie Wiesel sah als Sohn, völlig fühllos und zum reinen Hunger geworden, wie sein Vater im KZ starb.757 Die sechszehn Jahre, die zwischen beiden liegen, waren keine unbedeutende Frist. Sie entschieden mit darüber, welche Motive der jüdischen Tradition leitend werden konnten. Beide verschworen sich gegen den Tod; Wiesel schreibt, dichtet, lehrt und kämpft seit Jahrzehnten auf seine Weise gegen eine fühllose Welt, die den Mord gleichgültig hinnimmt, sei es den vergangenen wie in den Tagen der Schoa, sei es den heute überall gegenwärtigen. Sutzkever schrieb, dichtete und kämpfte im jüdischen Widerstand gegen die Mörder, die die Juden, wo sie diese ergriffen, eingehürdet, an die Todesstätten verfrachtet und dort einfach abgeschlachtet hatten. Sein Leben stand im Zeichen der Verschwörung gegen den Tod damals und gab diese Verschwörung mit seinen Schriften und seinem langen Leben dem 21. Jahrhundert weiter.

2.

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Abraham Sutzkever wurde am 15. Juli 1913 in Smorgon (damals Russland) in eine gelehrte jüdische Familie hineingeboren, die ihm all das mitgab, was ihn später begleitet hat: chassidische Traditionen, jüdische Aufklärung (Haskala) und sozialistische Bewegungen. Das alles bildete die jüdisch-geistigen Atmosphäre in diesem nordosteuropäischen Raum, verschmolz im Jiddisch und trug zu seiner Herausbildung als literarischer Sprache bei.758 Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, verstärkten sich in Russland die seit Jahrzehnten festsitzenden antisemitischen Agitationen, an deren Basis meist der Verdacht jüdischer Illoyalität stand.759 Unterstellte Verbindungen nach Deutschland wurden denunziatorisch eingesetzt und aufgetragen auf früheren Zuschreibungen, die selbst bei Fjodor Dostojewskij sich finden: Ihn hat bei einem Kuraufenthalt im westdeutschen Bad Ems im Jahr 1879 irritiert, wie er in einem Brief an seinen Freund Konstantin Pobedonoszew schrieb, dass die Hälfte der dort Befindlichen Juden seien und er überhaupt feststellen müsse, »daß sich Deutschland, zu756 Wiesel Elie, Carry Forward One Page Of Memory, 37 und 63. 757 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 142–147; Wiesel Elie, Der Tod meines Vaters, 10; Wiesel Elie, Die Nacht zu begraben, Elischa, 117–122. 758 Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Lyrik, 20–22. 759 Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 210.

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Abraham Sutzkever – »Juden, verschwört euch gegen den Tod!«

mindest aber Berlin, verjudet.«760 Pobedonoszew, orthodoxer Christ mit judenfeindlicher Haltung, antwortete ihm: »Was Sie über die Jiden schreiben, ist vollkommen richtig … Sie haben alles überfallen, alles untergraben, der Geist des Jahrhunderts arbeitet ja für sie. Sie sind der treibende Hintergrund für die sozialdemokratische und zarenmordende Bewegung, sie sind die Herren der Presse, der Finanzmarkt befindet sich in ihren Händen, sie versetzen die Volkmassen in eine finanzielle Sklaverei und sie bestimmen die Grundsätze der zeitgenössischen Wissenschaft, die dazu neigt, sich außerhalb des Christentums zu stellen.«761

Zwei Jahre später, nicht zufällig in der Karwoche 1881, brachen gezielt geplante antijüdische Pogrome aus.762 Unter dem hohen Druck auf jüdische Gemeinden, der in den Folgejahren nicht mehr nachließ, gingen zwei Alternativen auf: Einwanderung nach Eretz Israel oder Konversion zum orthodoxen Christentum.763 Beides, der Verdacht, Juden hätten Deutschland unterminiert und seien verdeckte Deutsche, und die Bemühungen um eine starke russische Einheit764 erzeugten über Jahrzehnte hindurch massive atmosphärische Aversionen gegen Juden, die in den vielen aufeinanderfolgenden Krisen immer wieder eruptiv hervorbrachen, so auch 1914. Im Jahr darauf musste die Familie Sutzkevers aus Smorgon fliehen, nachdem Juden generell der Spionage verdächtigt wurden, wobei hier wie auch sonst stets bildungsunwilliger Unverstand und bössinnig Zusammengereimtes den antisemitischen Hintergrund hervorbrachten.765 Die Familie Sutzkever floh nach Osten, nach Sibirien, damals ebenso berüchtigt wie in den Stalin-Jahren nach 1945. Sibirien lag am dunklen, endlosen Ende der Welt.766

760 761 762 763 764 765

Fjodor Dostojewskij, zit. in: Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VII, 108. Konstantin Pobedonoszew, zit. in ebd., 108. Ebd., 110f. Ebd., 120–123. Ebd., 136f. Léon Poliakov zitiert einen längeren Abschnitt aus den Dokumenten über die Verfolgung der Juden, der das zeigt: Ein jüdischer Wächter hatte mit einem langen Seil vor Schabbat einen Eruv markieren wollen, einen jüdischen Schabbatbezirk, innerhalb dessen man sich torakonform am Schabbat bewegen kann. Die Polizei ergriff ihn, weil man sich dachte, dieses Seil sei zum Telefonieren mit dem Feind bestimmt; der Mann wurde zum Tod verurteilt und konnte sich aufgrund seiner mangelnden Russischkenntnisse auch gar nicht verteidigen. Ein Duma-Abgeordneter, der den Sinn des Seils kannte, hatte diesen Vorfall beobachtet und dem alten Mann sein Leben gerettet. »In den Fällen, in denen ein derartiges Eingreifen nicht möglich war, wurden die Angeklagten gehängt, und ihre Hinrichtung festigte die Überzeugung, daß die Juden Verräter seien und daß ihre unheilvollen, in den Synagogen aufbewahrten Drähte eine verbrecherische Bestimmung hätten.« (Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus VIII, 35f). 766 S. dazu das Gedicht Derkentenish / Erkenntnis: Sutzkever Abraham, Geh über Wörter wie über ein Minenfeld, 76–79.

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Die fünf Jahre, welche die Familie dort zubrachte, waren folgenreich. Gezeichnet waren die Eltern und die Kinder, wie Heather Valencia schreibt, von »Armut, Hunger und Kälte. Typhus wütete – der kleine Awrom selbst erkrankte daran. Sein Vater, der damals schon herzkrank war und die Familie durch Nachhilfestunden kläglich ernähren musste, starb in Sibirien im Alter von 30 Jahren.« In Valencias Einschätzung habe Sutzkever diese »Erlebnisse der frühen Kinderjahre … später völlig verwandelt und verklärt.«767 Sibirien erstand in helleren Farben und gab einem Gedichtzyklus von 1936 den Titel. Verwandlung fand gewiss statt – Verwandlung durch den Dichter, der später, wie Franz Werfel in seinem Gedicht Gebet um Sprache768 schrieb, als die »Sprache Macht über mich« gewann, durch die Katastrophen hindurch stieg und Verwandlung erschaute, die ihn fortzog. Mit unglaublicher Einfühlsamkeit stellte Sutzkever im Gedicht Tsum tatn / Zum Vater noch einmal das siebenjährige Kind vor, das seinem toten Vater nachläuft, ihn halten möchte, ganz bei ihm sein, mit ihm tot sein will und dabei gleichzeitig über diesen Tod hinausfliegt, wie ein Kind und nur ein Kind eben laufen und fliegen kann: »Vater, als der Schlitten fuhr mit deinem Sarg darauf, bin ich dir noch nachgerannt, um irgendwie zu erjagen die Erinnerung an dich im Lauf, eine Taube an der Brust, weiß wie der Schnee. Als dir eine Hütte, eine neue, ausgemeißelt, pochend wie ein Herz, ein Eisenstab, und die Tiefe schlang dich bald danach hinab, wo du funkelst unter Eis bis heute, hab ich dort hineinfallen gewollt. Da jedoch ist meine Taube aufgeflogen, Abendsonne wie gekrönt mit weißem Gold, und sie hat hinauf zum Leben mich gezogen …«769

Im Todesjahr des Vaters, 1920, ziehen die Mutter und drei Kinder nach Wilna, dem »Jerusholajim d’Lite, das Jerusalem von Litauen«770, weil ihre Wohnung in Smorgon zerstört war. Unterstützung erhält die Familie durch einen Verwandten, der in Amerika lebt. Fünf Jahre später traf Sutzkever den jiddischen Literaten Lejzer Wolf, ein Mitglied der jiddischen Künstlervereinigung »Jung-Wilna«771, der Sutzkever in Kontakt mit jiddischer Literatur brachte. Dieser entscheidenden Begegnung folgte 1928 eine zweite ebenso entscheidende: Sutzkever lernte das erst 12jährige Mädchen Frejdke Levitan kennen; im Jahr 1939 heiratete er sie und 767 768 769 770 771

Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Lyrik, 27. Franz Werfel, Schlaf und Wachen, 94. Sutzkever Abraham, Geh über Wörter wie über ein Minenfeld, 85. Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Lyrik, 27. Ebd., 25.

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ging mit ihr ab da seine Wege durch all die grauenvollen kommenden Jahre der Nationalsozialistischen Herrschaft und des Kampfes gegen sie, an dem eben auch seine Frau teilnahm, dann durch die schweren Jahre danach, die beide in Europa herumtrieben und schließlich nach Israel brachten. Im Rahmen der jiddischen Pfadfinderjugendorganisation Bin trug Sutzkever seien ersten Gedichte vor.772 Wenig später begann er in Zeitschriften zu publizieren, 1937 erschien sein erster Gedichtband Lider, zwei Jahre später der Band Waldiges / Waldiks. Die Veröffentlichung der Lider verdankte Sutzkever einer Begegnung mit dem weltweit bekannten und schon schwer alkoholkranken Joseph Roth. In diesem Band findet sich das Gedicht Die Ghetto-Tore, in dem die kommenden Tragödien des Wilner Ghettos sich schon wie angedeutet finden – mit Motiven, die auch später wiederkehren werden. Markant ist das Feuer, das »die Ghetto-Tore aufgerissen«773 hat und nicht vom Opfer spricht, auch nicht von jüdischer Tradition – oder wenn, dann von jüdischer Tradition, wie sie dem Judentum durch die Pogromgeschichte eingetragen worden ist. Denn der achte der sieben »im Pogrom« ermordeten Brüder »fiel beim Tor.«774 Überall zerbrochene Scheiben, verkommene Geräte, ein kleiner »Wasserträger, / der sein Gebet trägt in einem lecken Kübel.«775 Melancholie und Resignation ziehen durch das Gedicht, werden aber in einem entschlossenen Widerstand aufgefangen und umgewertet – auch das gehörte bis zum Ende zu Sutzkevers lyrischem und biografischem Proprium. Im Gedicht gibt noch eine Vision den Aufruhr mit; später, wenn das abgesperrte Ghetto zu seiner eigenen Realität geworden sein wird, wird er genau geplant vonstattengehen. »In Hemdsärmeln, Fäuste geballt, die Getreuen: ›Wir wollen das Volk aus dem Ghetto befreien!‹ Es donnert ihr Echo auf Häuserdächer nieder, die Stadttore mustern sich, wieder und wieder. Ein Blitz und ein Blenden. Es heben sich Blicke, es wölben sich Klänge als leuchtende Brücke. Die Gassen, geduckt, wo nur Grau sich an Grau reiht, erschauen das Blut von der Liebe und Freiheit. Ein Blitz und ein Blenden. Und fort sind die Jungen. Die goldne Vision, sie ist wieder verschwunden.«776

772 773 774 775 776

Ebd., 30. Sutzkever Abraham, Geh über Wörter wie über ein Minenfeld, 102. Ebd., 103. Ebd., 103. Ebd., 103.

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Die Vision eines Kommenden als politisches, nicht als mystisch-innerliches Motiv – das ist biblisch vielfach bezeugt und Sutzkever bekannt. Die gesamte prophetische Tradition war davon gekennzeichnet, auf der Basis klarer Gegenwartsdiagnose zu erschauen, was kommen wird. Nicht anders Sutzkever: Die Jahrhunderte des jüdischen Ghettos mit ihrem zusammengepferchten Leben überall in Europa, das jüdische Gemeinschaften wegen des chronischen Drucks von außen und im Sinn einer Abschottung daher zunächst unfreiwillig suchten777, dann aber als von außen auferlegte Reglementierung und Bedrängung ihres Leben manchmal bis jenseits der Grenzen des Ertragbaren erfuhren778, verband Sutzkever mit dem manifesten Judenhass, der fast alle Gemeinwesen erfasst hatte, und sah das Kommende. Als es 1941 mit der Besetzung Litauens durch die Deutschen wirklich hereinbrach, versuchte er noch, für seine Frau und für sich ein Visum für Palästina zu bekommen. Doch der rasche Umsturz in Wilna zerstörte diese Möglichkeit. Innerhalb nur eines halben Jahres wurden Dreiviertel der jüdischen Bevölkerung von Wilna in Ponar exekutiert, der Rest in einem Ghetto zusammengedrängt. Als die Aktion der gelben Arbeitsscheine gesetzt wurde – eine Selektionsaktion, weil alle diejenigen, die keinen solchen Schein erhalten hatten, für Ponar ausgesondert wurden779 –, floh Sutzkever. Zurückgekehrt, »erfuhr er, dass seine Mutter inzwischen von den Nazis erschossen worden war. Kurz danach, noch im Dezember 1941, brachte seine Frau einen Sohn zur Welt, der sofort im Krankenhaus vergiftet wurde, einer Bestimmung zufolge, dass im Wilnaer Ghetto keine jüdischen Kinder geboren werden durften.«780 Angesichts des Terrors hielt sich Sutzkever am Schreiben fest und durchs Schreiben aufrecht, schreibend bot er der Katastrophe, die ihn von allen Seiten umfing, seine Stirn. Er schrieb u. a. im Juli 1942 das Gedicht Dos kewer-kind (Das Grabkind) und gedachte seines ermordeten Erstgeborenen nochmals am 18. Jänner 1943, ein gutes Jahr nach dieser Tat, im Gedicht An mein Kind: Unvergesslich waren die Augenblicke, als das Leben aus dem eben Geborenen wich, in dem seine Frau und er einander verbunden waren, unvergesslich die aufsteigende Finsternis der Schöpfung, in der die Zukunft so leicht zerstört und das Vertrauen so leicht missbraucht werden konnte, dass der Tod sein leichtes Spiel hatte. »Ob aus Hunger, ob aus großer Liebe – nur deine Mutter ist mir Zeuge:

777 Poliakov Léon, Geschichte des Antisemitismus II, 56–66. 778 Schreckenberg Heinz, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte, 631–635; Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 126. 779 Wilna: http://www.lexikon-drittes-reich.de/Wilna. 780 Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Lyrik, 35.

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Ich wollte dich einschlingen, mein Kind, als ich fühlte, wie dein Körperchen kühl wurde in meinen Händen, so als drückte ich ein warmes Glas Tee und spürte den Übergang zur Kälte. Denn du bist kein Fremder, kein Gast, du, wie kein andrer auf unsre Erde geboren – sich selber gebiert man wie einen Ring, und Ringe schließen sich zu Ketten. Mein Kind, in Worten heißt du: Liebe, und wortlos bist du es selber, du – die Mitte meines jeden Traums, verborgener Dritter, du aus den Winkeln der Welt hast mit dem Wunder eines nie gesehenen Sturms zwei zusammengebracht und verschmolzen – damit sie dich erschufen und dich erfreuen – warum hast du die Schöpfung verdunkelt, die Augen schließend, und ließest mich wie einen Bettler draußen zusammen mit einer Welt, hinweggeschnitten und abgeschüttelt von dir? Dich hat nie eine Wiege erfreut, wo jeder Schwung den Rhythmus der Sterne in sich birgt. Mag die Sonne wie Glas zersplittern – Denn nie sahst du ihr Licht… Ein Tropfen Gift hat dein Vertrauen ausgebrannt, du meintest, es wäre süße warme Milch. -–-Ich wollte dich einschlingen, mein Kind. Wollte den Geschmack einer erhofften Zukunft spüren. Vielleicht blühst du wie einst Im meinem Blut. Doch ich bin nicht würdig, dein Grab zu sein, und werd dich wegschenken an den rufenden Schnee, den Schnee, der mein frühestes Fest war, und du wirst versinken

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wie ein Splitter des Sonnenuntergangs in die stillen Tiefen und bringst einen Gruß von mir für die erfrorenen Gräber – - – «781

Ein aus dem Generationenlauf ausgeschlossener Bettler – das hat der Kindesmord aus dem verwaisten Vater gemacht. Das Schma Israel wird der tote Nachkomme nicht mehr hören. Jerusalem, die Trümmerstadt des Propheten Jeremia mit ihren Toten unter dem Schutt und mit dem verwüsteten Heiligtum, in das Werfel seinen Propheten als den Letzten aus Israel steigen ließ, um noch einmal seine Stimme hörbar zu machen und nach Gott zu rufen, dieses zerstörte Jerusalem findet sich im Innern des Dichters, auch der Sonnenuntergang und der Splitter, den Werfel an das Ende der Tempelszene gesetzt hatte, ist ins Innere des Dichters gefallen. Den »Geschmack einer erhofften Zukunft« konnte er nicht bewahren. Indem er sein Kind an den Frost weggibt, schmeckt er die Vergangenheit seines Vaters: Wo »du funkelst unter Eis bis heute, hab ich dort hineinfallen gewollt«; doch an seiner Stelle, als er selbst Kind war, wird nun sein Kind dem Eis gegeben. Und er, der Dichter, bleibt zurück. Zwischen ihm und seinem Vater, zwischen ihm und seinem Kind klafft ein Abgrund, über den er nicht hinwegkommt. In der Welt dieser Toten ist er selbst der Abgrund. Innerhalb von drei Generationen hat sich die Tragik gesteigert. Sutzkevers Vaters starb durch einen Herzschlag, das Leben unter Flucht und Armut war ihm zu viel geworden. Sutzkevers Kind starb durch Gift. Diese Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart gehört zu dem, was Heather Valencia in anderem Zusammenhang bei Sutzkever als die »Verwandlung und Integration des Vergangenen«782 beschrieben hat, eine Verwandlung und Integration, die hier jedoch vom Furchtbaren in den Abgrund weist. Denn der Vater war erwachsen, das Kind aber ausgeliefert einem seiner selbst gar nicht bewussten Vertrauen, dass es ernährt und nicht ermordet wird. Statt Milch wird ihm Gift eingeflößt. Diese Todesmilch wird nicht mehr abends und morgens getrunken, wie Paul Celan in seiner Todesfuge783 den formalen Rhythmus des Schöpfungsliedes von Gen 1,1– 2,3 aufnimmt und vom verhängten Tod her liest, sie ist auch nicht mit der Asche der Ermordeten versetzt. Die Todesmilch wird mit dem Mord an Sutzkevers Kind erst erzeugt, ihre Hervorbringung kennt keine Erstreckung, sondern nur den glatten, augenblicklichen Tod. Dieser Tod gehörte zu Sutzkevers Kind so wenig wie der Tod von Elie Wiesels Vater, dem man »seinen Tod gestohlen«784 hatte.

781 782 783 784

Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 33f. Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Lyrik, 62. Celan Paul, Die Hand voller Stunden, 31f. Wiesel Elie, Der Tod meines Vaters, 7.

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Das Grabmal im Schnee erinnert über das Zusammenkommen von Großvater und Enkel hinaus an Sibiriens Winternatur, auch an die langen Fröste Nordosteuropas und die seltsame Verheißung, die in ihrer Winterstille liegen konnte – trotz aller Gewalt, ja als Kontrast zur Gewalt. Sutzkever hat sein totes Kind beigesetzt und angesprochen: Du »bringst einen Gruß von mir / für die erfrorenen Gräber.« Es ist, als ginge sein Kind nicht nur zu seinem Großvater, sondern zu den vielen, die im Eis begraben liegen und wenigstens dort, am guten Ort, den Frieden fanden. Vom guten Ort, an dem alle Gewalt enden muss und der als hamakom (‫ )המקום‬mit dem Göttlichen irgendetwas zu tun haben muss, hat schon Stefan Zweig in seiner Geschichte übers polnische Judentum im Spätmittelalter, Im Schnee, erzählt. Dieses Motiv taucht hier wieder auf – gewiss ohne direkte literarische Verbindung, doch geschöpft aus den gleichen Zonen und den anhaltenden, sich steigernden Katastrophen, die das Judentum getroffen haben. Doch Sutzkever gab nicht auf; es ist, als triebe ihn die Verheißung von Werfels Jeremia: »Damit du lebest!«785 weiter. Sutzkever hat den Roman nicht gekannt. Doch das besagt für die Ähnlichkeit des Motivs auch nichts. Denn Werfels Roman bezog sich auf einen Weg, der dem Judentum gehört: auf den Weg des Lebens gegen alle Anschläge, Vernichtungen und Katastrophen, denen die jüdischen Gemeinschaften seit Jahrtausenden ausgesetzt waren. Und so doppelt sich Sutzkevers Widerstand: Zum einen schrieb er und förderte nach allen Möglichkeiten auch innerhalb des besetzten Ghettos Kulturarbeit, um Horizonte zu öffnen, die über den täglichen Kampf gegen den Tod hinauswiesen; auch als er selbst wieder einmal an der Schwelle des Todes stand und eine Grube ausheben musste, in die man ihn hineinschießen würde, hat er seinen Widerstand geformt, poetisch erinnert und daraus gelebt.786 »Exekution Grub ich mein Grab, wie man mir gebot, und suchte dabei einen Trost vor dem Tod. Ich grabe: ein kleiner Wurm, ein Schnitt, es zuckt da unten – mein Herz leidet mit. Zertrennt ihn mein Spaten. Ein Wunder dabei: Zerschnitten wird er bald zwei, dann drei. Ein weiterer Schnitt, erst drei, dann vier. Und aller Leben – erschaffen von mir? Ins dunkle Gemüt kommt wieder ein Licht. Ein Glaube stärkt mich seither:

785 Werfel Franz, Höret die Stimme, 628. 786 Witt Hubert, Nachwort, 182.

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So ein kleiner Wurm ergibt sich nicht. Willst du weniger sein als er?«787

Zum andern beteiligte sich Sutzkever an Sabotageaktionen gegen die Besetzer und half, als die Zustände immer unerträglicher und die Aussichten auf Überleben faktisch vernichtet waren, im September 1943 bei der Organisation einer Flucht aus dem Ghetto mit, die ihm, seiner Frau und einigen anderen auch glückte. Mit sich nahm er auch einige Gedichte, die er im Ghetto geschrieben hatte, unter anderem das Gedicht Kol Nidre. Kol Nidre ist das erste, sehr feierliche Gebet des Jom Kippur in der Synagoge, des höchsten jüdischen Feiertags zehn Tage nach dem Neujahrsfest im Herbst. Verbunden mit seiner Melodie, erweckt es den Ernst und die Bedeutung des Versöhnungstages788, der mit der Auslösung aus allen Verbindlichkeiten beginnt, die einem jüdischen Menschen nicht geglückt sind im vergangenen Jahr, und die Versöhnung mit den Menschen und mit Gott im Zentrum hat. Sutzkever änderte in seiner Dichtung Kol Nidre, die er am 6. Feburar 1943 im Ghetto vollendet hatte, die ganze Atmosphäre durch ein lyrisches Zeugnis, das ihm ein »hiobhafte(r) Jude«789 vermacht hat. Keine Feiergemeinde versammelt sich und singt, sondern der Tod ist seit 1941 durchs Ghetto gestiegen und hat viele genommen, wenige gelassen. Auf diese Ausrottung weist Sutzkevers Untertitel seiner Kol NidreDichtung: Erzählung eines Überlebenden. Ein Zeugnis ist diese heilige Dichtung, ein Zeugnis der Vernichtung vom Beginn der Dichtung an: »1 … trieb man uns in einen Käfig aus zwei-drei Gassen und schleppte uns hinaus zu Hundert und Tausend wie fiebriges rohes Fleisch, und warf uns vor die Bestien.«790

Über allem hängt tödlicher Zwang; was geschieht, wird den Juden angetan: Die zusammengepferchten Versammelten haben sich in diesem Ghetto nicht freiwillig eingefunden, sie wurden dorthin getrieben; und ihren Weg gehen sie nicht hinaus an ein Gewässer, um dort ihre Sünden loszuwerden, sondern sie werden verschleppt – nach Ponar. Doch Sutzkever ergibt sich nicht, sowenig wie die Juden, die er verwandelt sieht: »Es versammelten sich pergamentene Juden von den Spinnweb-Böden, aus Kellern, wie Brunnen tief, im leuchtenden Bethaus des Wilner Gaons, 787 788 789 790

Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 17. Jarecki Julius, Art. Kol Nidre, 764f. Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 67. Ebd., 46.

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versammelten sich zum Kol Nidre wie zu einem Aufstand. Und zwischen der gedrängten Festgemeinde, siebenfarbig umflammt, von den Gebetslichtern, war auch ich, ich, der Letzte meiner Familie. Doch nicht ich schlug mir reuevoll ans Herz, nicht ich erbettelte Stückchen Tage und Brückchen Glück – weil ich schon nichts mehr brauche, ein Beschützer ist überflüssig…«791

Sutzkever kannte die biblische Überlieferung ebenso wie die talmudische. Die pergamentenen Juden erwecken die Erinnerung an Rabbi Chanina ben Teradion. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels hatte Hadrian verboten, dass Tora weiter gelehrt werde. Der Rabbi hielt sich nicht daran und lehrte – nicht im Geheimen, sondern öffentlich. Nach der Überlieferung des Babylonischen Talmud wurde er durch die Römer von einer solchen öffentlichen Lehrversammlung weg verhaftet, in die Torarolle, die er eben auf seinem Schoß gehalten hat, einwickelt, mit Weidenzweigen eingeschnürt und schließlich angezündet. Sein Sterben hatten sie zur Tortur gedehnt: In den Brand warfen sie nasse Wolle »und legten sie ihm aufs Herz, damit seine Seele nicht schnell ausfahre. Da sprach seine Tochter zu ihm: Vater, so muß ich dich sehen! Er erwiderte ihr: Würde ich allein verbrannt worden sein, so würde mir dies schwer gefallen sein, da ich aber zusammen mit der Torarolle verbrannt werde, so wird derjenige, der die Mißhandlung der Torarolle ahnden wird, auch meine Mißhandlung ahnden. Seine Schüler sprachen zu ihm: Meister, was siehst du? Er erwiderte ihnen: Die Pergamentrollen verbrennen und die Buchstaben fliegen [in die Höhe].«792

Das zweite Jahrhundert und der Februar 1943. Durch alle Ähnlichkeit schneiden scharf Kontraste: Nicht ein Mann wird verbrannt, sondern Tausende werden ermordet. Die Tora erhebt sich nicht, um in den Himmel heimzufliegen, sondern sie erhebt sich »wie zu einem Aufstand.« Der Richter im Himmel schenkt keinen Trost mehr, sondern gerät selbst unter Anklage, mindestens so zornig und wild wie in Jeremias Tagen, von denen Franz Werfel im Finale seines Prophetenromans793 erzählt hat. Und die Anklage glüht trotz aller Ohnmacht wie ein ver-

791 Ebd., 46f. 792 bT Avoda zara 18a. 793 S. S. 124.

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ewigter Zorn794, weil kein Kind mehr da ist wie bei Rabbi Chanina, das weiterleben wird. »Je schärfer die Wunden, je weniger hab ich gelitten – du selbst hast dich, Gott, in meinen Wunden gespiegelt. Warum bin ich geboren, wider meinen Willen? Wes Weinen tränte mich ins Maß, ins menschlich-blinde? Wenn wahr ist, daß du es so brauchst – wer braucht deine Wahrheit? Nicht ich schlag mich reuig ans Herz – der Sünder bist du. Was kann ich noch verlieren, was kann ich gewinnen, wenn mein erloschnes Auge nicht mehr tränt noch glänzt. Oh, ich bin blind geworden, kann meinen Tod nicht finden und nicht meinen ältesten Sohn, den seit zwanzig Jahren verschollnen.«795

In einem späteren Prosastück wird die Blindheit noch einmal zum flammenden Licht eines Widerstands, der in den Himmel lodert. Auch hier und jetzt wehrt sich Sutzkever gegen Gott, dem der Ankläger, weil Glassplitter seine Zunge zerschnitten haben, sein »stilles Wehgeschrei« entgegenschleudert und ihm droht, wenn er sich nicht endlich zukehrt zu den Gemarterten und sich verkleidet ins Ghetto schleicht: »Meine zerborstne Trauer wird dich sonst verfluchen. // Ich recke die Faust hochauf zu den Planeten: / Du bist ein Schurke, deine Güte, deine Gnade – Lüge!«796 Sutzkever wehrt sich gegen den Tod, und mit der Kraft seines Widerstands will er auch die anstecken, die wie gelähmt und tot sind am Jom Kippur im (imaginierten?) Synagogenraum. »Wer brachte sie in die Nacht des Kol Nidre? Wer kann ihnen helfen, den Arm hinzustrecken? Mir schien, ein Erdstoß auf einem Friedhof hat sie aus wurmigen Gräbern geworfen. Sind das Leichen? Sie reden doch, lächeln im eisigen Milchstraßenlicht, und im Winkel zittert ein Säugling, drängt sich hin zur Milch seiner Mutter. Wenn es nicht Leichen sind – was warten sie ruhig auf Schädelsplittern, verhängte Vernichtung? Wie Spinnweben sind die Eisenwände – Juden, verschwört euch gegen den Tod!«797

794 795 796 797

Langer Lawrence L., Cultural Resistance to Genocide, 62. Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 48. Ebd., 61. Ebd., 52f.

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Wieder ist die Milch da. Diesem Säugling wird noch kein Gift eingeflößt wie seinem Sohn, aber er trinkt schon den Tod der Resignation und wird sich wie die andern schlagen lassen von peitschenschwingenden Herren, seine Zunge verlieren, erschossen werden. Einer jedoch erhebt sich gegen den Herrn, der König spielt und laut seine Huldigung verlangt, ein Jude verschwört sich gegen den Tod, wie dieser Herr es nicht kennt.798 Und während der Gewaltmann auf Folter sinnt, nimmt er sich zusammen, so wie bei Elie Wiesels SS-Mann Richard Lander der »Schauspieler … die Oberhand«799 gewinnt, und händigt dem hiobhaften Juden den Dolch aus: »Tu es du, / es wird dein Kopf dafür mit nichts bezahlen!«800 »Und ich erblickte im metallnen Spiegel die Augen meines Sohnes, blutverschmiert. Ach, kein Erlöser kam. Und keine Flügel wuchsen. Die blutigen Glieder sah ich zittern, zucken. Und ihm zukopfe, lächelnd, stand der Henker und pfiff sich was – ein Vogel in den Zweigen. Bald wird er meinem Sohn die Haare teeren, und mit Skalpellen wird er ihn zerschneiden… Gott hat mir all mein Beten nicht erhört, er macht gemeine Sache mit dem Schinder. Abfasten wolln sie nach dem Schlußgebet. Vier meiner Söhne, und er ist nicht satt… Mit einem Sprung stieß ich das blanke Eisen dem lieben letzten Sohn in seine Brust: Das kann dein Vater tun. Das kann er zeigen vor ihm, der so voll Gier ist, dich zu quälen.«801

Der Jom Kippur dreht sich um. Welche Versöhnung soll er noch anzeigen, welche feiern? In dieser Unterwelt der Gewalt ist Versöhnung die falsche Botschaft. Und dann: Versöhnung mit wem? Mit den Mördern, die die Zukunft umbringen, ist sie ausgeschlossen – damals wie heute.802 Und mit einem Gott, der dieses Morden 798 799 800 801 802

Ebd., 64. Wiesel Elie, Der fünfte Sohn, 129. Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 65. Ebd., 65f. Leon Klenicki stellte sich die Frage, ob eine Vergebung am Jom Kippur für einen Juden Pflicht sein kann oder darf, wenn es um einen Nationalsozialisten, um einen Terroristen geht. Die Frage wiegt schwer, denn Israel ist keine Gesellschaft atomisierter Subjekte, die sich alles mit sich allein ausmachen; Israel ist ein Volk, in dem einer zum andern gehört und der Terror gegen einen Juden alle andern auch betrifft. Klenicki meint, im Gebet wende sich das Problem und wird zur Bitte, »daß sich der Terrorist, der Folterer und der Nazi bekehren, Vergebung erlangen und zu wahrhaft besseren Menschen werden.« (Klenicki Leon, Jom Kippur, 275). Die Frage ließ er offen, wie das möglich sein soll, wenn diese Bekehrung nicht real wird. Und er berührte auch die Frage nicht, dass am Jom Kippur trotz aller Gebetsordnung auch ein Kol Nidre angestimmt werden kann, das aus dem Abgrund kommt und

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zulässt und, wie es scheint, unwidersprochen hin- und also annimmt, mit einem Gott, der ein grausames Fasten zulässt, das die kommende Generation einfach frisst, ist Versöhnung unmöglich, so unmöglich wie Versöhnung mit einer festgehaltenen Lüge. Und mit der Erde, diesem duldsamen Planeten, der niemanden schützt und alles zulässt, manchmal explodiert, aber stets zur falschen Zeit, mit dieser sogenannten Schöpfung, die genauso gefräßig scheint wie ihr Schöpfer, ist Versöhnung ebenso unmöglich. Denn »was geschah? Die Erde, sie zerbarst nicht. Die Sonne stürzte nicht herab, den Kopf aufs Pflaster. Nur Totenwagen haben uns wie Wolken eingeschlossen, eingeschlungen, und fuhren uns dorthin, wo sich Krähen mit Abscheu erhoben und sich wie schwarze Früchte an die gelben Zweigen hängten in Erwartung des neuen, reichen Festmahls.«803

Mit dem Gedicht Kol Nidre steht man im Zentrum der Dichtung Sutzkevers wie im Zentrum des Judentums. Um Leben und Tod geht es, um Gott, Israel und die Welt und vor allem um deren Beziehung zueinander, die an diesem Tag restituiert werden muss. Sutzkevers Kol Nidre ist ein Gebet des Widerstands, ein Gebet der Anklage und des Rechtens im tödlich verengten, durch die SS hervorgebrachten Kosmos des Ghettos – eine Gegenwelt zur Gebetswelt des jüdischen Siddur. Beides, Kosmos und Siddur, heißt Ordnung, das eine Ordnung der Welt, das andere Ordnung des Gebets. In diesen Jahren gehören sie im Bewusstsein Sutzkevers nicht mehr zueinander. Der geordnete Weltlauf ist entgleist, denn Terror herrscht in ihr. Deshalb kann der Auftrag einer Restitution, wie der Jom Kippur sie verlangt, nur bedeuten: Diesem Terror muss bis aufs äußerste widerstanden werden – Restitution durch Verneinung, die unbedingt getan werden muss. Knapp vier Wochen vor dem Jom Kippur 1943, am 12. September, nahm Sutzkevers Widerstand eine Wendung. Ihm, seine Frau und einigen anderen glückte, wie bereits erwähnt, die Flucht aus dem Ghetto nach Moskau.804 Man

ein schmetterndes Nein gegen die Versöhnung spricht. Immerhin: Es ist noch Gebet, aber keines, das den Widerstand begräbt, sondern eines, das ihn schürt und befeuert. 803 Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 66. 804 Auch die Flucht verlief unter kaum vorstellbaren Gefahren, wie Valencia Heather unter Berufung auf Sutzkevers Zeugnisse schreibt: »Am 12. März 1944 überflog ein kleines Flugzeug die Front, mit der Absicht, auf einem eingefrorenen Teich zu landen und die Sutzkevers aufzunehmen, die diesen Ort nach einem langen Marsch durch gefährliches, teilweise sogar vermintes Gebiet erreicht hatten. Dieses Flugzeug wurde von deutschen Scharfschützen in Brand geschossen und stürzte ab, wobei, laut Sutzkever, elf Flüchtlinge, die sich in einer Scheune aufhielten, ums Leben kamen. Zwei Stunden später landete ein

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schloss sich der jüdischen Partisaneneinheit Nekome an und kämpfte, unterstützt durch die anrückende russische Armee, gegen deutsche Soldaten und SSLeute. Am 13. Juli 1944 wurde das entleerte Wilner Ghetto befreit. Wenige hunderte Juden kamen noch einmal zurück nach Wilna, unter ihnen auch die Widerstandskämpfer um Abba Kovner und Abraham Sutzkever. Sie bargen die im Ghetto versteckten Manuskripte und jüdischen Schriftstücke.805 Kurz nur war die Rückkehr. Fast alle Überlebenden zogen weiter. Die sog. Endlösung hatte Wilnas Juden voll getroffen. Jüdisches Leben war ausgelöscht. Sutzkever ging wieder nach Moskau und traf dort auf eine Reihe wichtiger Gestalten jüdischer Kultur. »Schwarze Jahre unter Stalin«806 brachte ihnen bald neue Verfolgung, die in der Ausrottung führender jiddischer Persönlichkeiten kulminierte.807 Doch davor schrieb Sutzkever dort seinen Bericht Wilner geto, eines der ersten Dokumente über diese Zeit, das Tatsachen brachte und sie zugleich so formte, dass diese wieder erweckt und beinah zur Nach-Erfahrung der Lesenden wurden.808 Literatur, wie er sie verstand, war damit zum Zeugnis geworden – nicht nur weil sie adäquater war als jede distanzierte, scheinbar objektive Dokumentation, die zwischen sich und den Ereignissen die Distanz der Unbetroffenheit legte, sondern auch weil sie ihm, der von Kindheit an der Dichtung zuneigte809, in den Katastrophenjahren des Ghettos das Überleben dadurch gesichert hatte810, dass mit ihrer Kraft er sich der Verzweiflung entgegenstemmte, die stündlich aus allen Ritzen und Poren sickerte. Geladen mit diesen Zeugnissen, sagte Sutzkever am 27. Februar 1946 im Rahmen der Nürnberger Prozesse aus.811 1947 kamen seine Frau und er mit gefälschten Pässen nach Eretz Israel812 und wohnten ab 1948 in Tel Aviv. Nach Israel brachten die beiden ein kleines Wunder mit: Vier Jahre nach der Vergiftung seines Sohnes im Ghetto wurde im Jahr 1945 seine erste Tochter Rina in Moskau geboren, drei Jahre später kam in Israel seine Tochter Mire zur Welt813, in deren Namen er wohl eine Ghettolehrerin erinnerte, die in den Ruinen und im Hunger, verschärft durch die Peitschenhiebe der Ghettoaufseher, das »Buch zum Brot« machte und den »Bleistift … (zum) Licht.«814 Wie den Vater, so zog es auch

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zweites Flugzeug und diesmal glückte die Flucht nach Moskau.« (Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Lyrik, 40). Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk, 39f. Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 246f. Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk, 42. Ebd., 41. Witt Hubert, Nachwort, 181f. Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk, 54 und 42. Ebd., 41f; Witt Hubert, Vorwort, 6. Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk, 44. Ebd., 44f. Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 70.

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Rina in die Kunst; doch sie wurde nicht Schriftstellerin, sondern Malerin, möglicherweise mitinspiriert durch Sutzkevers jahrzehntelange Freundschaft mit Marc Chagall. Eine auffallende Entsprechung zwischen Vater und Kind lässt sich an dieser Stelle zwischen Sutzkever und Appelfeld entdecken: Wie Abraham Sutzkever Dichter und Schriftsteller war und seine Tochter Rina sich der Malerei verschrieb, so ist auch Aharon Appelfelds Sohn Meir Maler geworden.815 Im Erbe der Kunst, unabhängig von ihrer Form, vermittelt sich spezifische jüdische Tradition. Doch dieser wurde in Israel eine neue und, wie man hoffte, integrative Fassung gegeben, die vorwiegend über die hebräische Sprache lief. Das bedingte eine klare Abgrenzung gegen die vorwiegend osteuropäische jiddische Kultur und Sprache.816 Sutzkever versuchte, u. a. mit der Gründung der jiddischen Zeitschrift Di goldene kejt (Die goldene Kette817), im neuen Staat dem Jiddisch Geltung zu bewahren. Weithin jedoch blieben diese und andere Versuche vergeblich. Jiddisch war zwar schon seit dem 14. Jhdt. im slawischen Raum als selbstständige Sprache jüdischer Gemeinschaften in Gebrauch818 und ab dem 19. Jhdt. durch wichtige Literaten wie Jitzchak Lejb Perec, Scholem Alejchem, Scholem Asch oder Chaim Nachman Bialik819 auch als Sprache der Kunst bekannt und eingeführt; einiges war auch aus dem (Ritual-)Hebräischen genommen820; zudem schrieb man Jiddisch mit hebräischen Buchstaben; ein Beispiel: ‫ – טאטע‬tate / Vater, Papa. Doch das alles galt im neuen Israel als überholt, das sich ganz anders verstehen wollte: als Aufhebung aller Entfremdung, damit auch als »Eliminierung der Diaspora«821, deren Sprache das Jiddisch war. Jacob Allerhand zog die Summe, die wiederum auf die Tragödie zurückwies, der Sutzkever entkommen war: »Die Geschichte gab dem Hebräischen Recht. Das zeigt sich daran, dass das Schicksal des Jiddischen allein durch die Nachkriegskonstellation entschieden

815 Appelfeld Aharon / Appelfeld Meir, A Table for One. 816 Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 224. 817 Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk, 45; Kette als Symbol seiner literarischen Tätigkeit im Jiddischen: Kette verbindet mit Tradition, deren eines Glied man ist, um die nächsten Kettenglieder an sich zu binden, das sind die Kinder – gemäß dem Schma Israel. 818 Allerhand Jacob, Jiddisch, 36–52. 819 Bialik beherrschte beides auf literarischem hohem Niveau, Jiddisch und Hebräisch. Von Gustav Karpeles her schreibt Allerhand über diese Koexistenz: Das Hebräische entspricht mit seinen strengen Regeln der strengen Halacha, das Jiddische mit seinem gefühlsbetonten Manierismus hingegen der lieblichen Haggada. Beide bilden den Talmud, ein Werk(,) das Einheit und Kohärenz demonstriert.« (Allerhand Jacob, Jiddisch, 100). Dass der Talmud hauptsächlich in Aramäisch verfasst ist, zeigt zudem, dass die jahrhundertelange Dominanz des Aramäischen im Judentum das Hebräische so wenig bedroht hat, wie es durch die Entfaltung des Jiddisch bedroht werden konnte. 820 Jacob Allerhand, Jiddisch, 29f. 821 Segev Tom, Die ersten Israelis, 155.

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wurde – die meisten der sechs Millionen Opfer des Holocaust waren Angehörige der jiddischsprachigen Gruppe.«822 Sutzkever schrieb weiter in Jiddisch und blieb damit den Umgebrachten nahe; den Klang ihrer Sprache ließ er in Israel hören mit mehreren Gedichtbänden und Prosastücken wie Ode an die Taube, Elefanten in der Nacht, Grünes Aquarium (1955), In der Wüste Sinai (1957), Die Fiedelrose (1974) 823, Zwillingsbruder (1986) oder Erschütterte Wände (1996). Ihm ging es dabei im Ganzen um die »Verwandlung und Integration des Vergangenen«824 (Valencia Heather). 1985 ehrte man ihn mit dem Israel-Preis. Jiddisch bleib Sutzkevers Umgangssprache, das Hebräisch hingegen eine notwendige, aber ungeübte Sprache bis zu seinem Tod. Er arbeitete sich nicht mehr wie Aharon Appelfeld, der eine Generation nach ihm geboren wurde, ins Hebräische hinein, bis in der für ihn neuen Sprache sich endlich der Klang seiner Kindheit erschloss.825 Ihm blieb seine Muttersprache, das Jiddisch, die geläufige Sprache, hebräisch aber eine im Erwachsenenalter erlernte Sprache. In Israel traf er auf viele Menschen, die in ihren Erinnerungen ihre Toten ins Land gebracht haben. Ihnen sah er die Toten an, sie hatten in diesen oftmals armen Menschen Platz gefunden und machten sie manchmal zu ihren Totenhäusern826 ohne Kraft, geradeso wie es in einem Gedichtabschnitt aus Erschütterte Wände, seinem vorletzten Lyrikband, zu lesen ist: »Wer ist jene Bettlerin, die mundlos murmelt: ›Nein, keine Tränen, aus den Augen fallen tote Kinder.‹ Welche Münzen du auch immer wirfst in ihren Teller, nicht überklingen werden sie das Schauder-Murmeln. Jetzt wär es recht und billig, in den Staub zu fallen, um jedem Kind von meinem Atem etwas einzuhauchen. Ihre Füße küssen sollte ich für alle Sünder, wenn aus ihren Augenhöhlen fallen tote Kinder…«827 822 Jacob Allerhand, Jiddisch, 107; Sutzkever hat diesem Umstand selbst ein lyrisches Denkmal in seinem Gedicht Erinnerung von andern gesetzt (S. S. 205f.). 823 Die Geige ist ein Musikinstrument, das in Sutzkevers Lyrik häufig vorkommt (Treitler Wolfgang, »Juden, verschwört euch gegen den Tod!«, 2–10), weil es auch in der jüdischen Kunst seinen festen Ort hat. 824 Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk, 62. 825 Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 278. 826 Der Friedhof wird im Hebräischen ‫ – בית קברות‬beit qerot genannt, Gräberhaus. Das hat eine Beziehung zum Ort, zum guten Ort besonders: Da ahnt man wieder Gott als ‫ – המקום‬hamakom, wie er in Stefan Zweigs Erzählung Im Schnee zu erkennen war. Doch nach der Schoa hat sich auch dieser Ort gewandelt. Bei Sutzkever findet sich eine Bettlergestalt, die, ähnlich wie in Elie Wiesels Roman Der Bettler von Jerusalem, den Toten verbunden ist und nur noch für sie steht (Wiesel Elie, Der Bettler von Jerusalem, 69–79). 827 Sutzkever Abraham, Geh über Wörter wie über ein Minenfeld, 242.

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Wie fast immer, so auch hier: Sutzkevers Gedicht wird getragen vom Rhythmus eines Widerstands, dem biblische und jüdische Bilder seine Kraft geben, und das meist in der Umkehr des Traditionellen, wie auch die Wirklichkeit sich verkehrt hat. Der 83jährige Abraham Sutzkever ließ in diesem Gedichtteil die zweite biblische Schöpfungsgeschichte nachklingen und brach sich durch die Erfahrungen, die mehr als zweieinhalb Jahrtausende jüdisches Leben geformt haben. In der zweiten Schöpfungsgeschichte heißt es: »Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerboden bestellte; aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens. Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.« (Gen 2,4b–7).

Aus den Gegenüberstellungen der Motive springt die konträre Welterfahrung auf: Gott, der es noch nicht hat regnen lassen, sitzt die Bettlerin gegenüber, aus deren Augen tote Kinder tröpfeln. Gott, der mächtige Akteur im Wort, vom ersten Schöpfungslied her bekannt, verstummt durch ein Gemurmel diesseits des gesprochenen Wortes, ein Gemurmel, das mit dem Mund nichts mehr zu tun hat. Im Anfang ließ sich aus feuchter Erde der Mensch schaffen, jetzt aber verwandelten die abgetropften toten Kinder den Staub nicht mehr, der schaffende Odem hat sich verflüchtigt und ist irreal geworden, entsprechend dem Konjunktiv: »Jetzt wär es recht und billig…«. Wenn schließlich der Beginn der zweiten biblischen Schöpfungsgeschichte noch trunken ist von der Güte der Hervorbringung, dem sorgsam schaffenden Gott, der sich zum Menschen beugt und ihm so nahe wie im Kuss kommt, um ihm den Atem zu schenken und seinen Rhythmus, so küsst der Mensch nun anders, mindestens in tiefem Zweifel die Füße der Bettlerin, die Füße des Gräberhauses und seiner vom Tod vollen, vielleicht auch erblindeten Augen: Wie kann er noch erwecken, die ermordet wurden? Dem Unmenschen war es beinah gelungen, das Endspiel der Schöpfung zu inszenieren. In der Umkehr wichtiger Motive der Schöpfungsgeschichte, die in den jüdischen Bethäusern im ersten Toraabschnitt eines jeden Jahres rezitiert wird, hielt Sutzkever seinen Widerstand bis in seine letzten Lebenstage wach. Der Widerstand war zuerst gegen die Unmenschen gerichtet, verschworen dem Gott der Rachen (Ps 94,1); er galt jedoch auch dem abwesenden Gott, von dem aber immerhin entscheidende Reminiszenzen zurückgeblieben sind, vor allem im Wort. Die Tragödie der Bettlerin greift deshalb so tief, weil ihr beinah auch das Wort erloschen ist. Beinahe. Den Dichter zwang dieses Gemurmel, das Wort zu hüten und mit ihm die Erinnerung an die Toten. Schaffend wiederzubringen vermag er sie nicht; aber in seinem poetischen Wort wird er den Gegensinn hüten

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können, wie er in der Schöpfungsgeschichte zu finden sein wird, wenn aus ihr gelebt, gedacht und gedichtet wird in dieser Schreckenszeit und ihrem Erbe. In den Umkehrungen, die Sutzkever nicht atheistisch wie Améry setzt, sondern aufgrund der Zeitgerechtigkeit jüdischer Überlieferung, liegt es auch, dass die Verwahrung des Wortes mitunter am eindringlichsten im Schweigen geschieht, das nicht nur in Sutzkevers Dichtung alle Worte begleitet828, sondern zur Dichtung im Ganzen gehört. Das Schweigen drang sich nach der Schoa wohl deutlicher auf als zuvor und wird sich auch bei Elie Wiesel ebenso finden wie bei Aharon Appelfeld. Im Jahr 2000 erschien Sutzkevers letzter Gedichtband ‫ – כינוס דומיות‬kinuss dumiot. Zwei Jahre später starb seine Frau, Sutzkever gab die gemeinsame Wohnung auf und zog in ein Elternheim um, wo er fast 97jährig am 19. Jänner 2010 starb. Als er starb, ging mehr als ein Mensch ins Schweigen. Dory Manor, Künstler aus Tel Aviv und in den letzten Lebensjahren mit Sutzkever befreundet, sah eine Epoche an ihr Ende gekommen, die etwas Göttliches bei sich hatte: »It feels to me as if a divine providence has been removed – a period that ended long ago and now comes its final wax seal. As long as Sutzkever lived among us, something of the great world spirit lived here. Now that he has gone that too has gone. (…) I have no doubt that he was the greatest poet who ever lived in Israel. The obscure life that Sutzkever led in Tel Aviv over the past few decades is a melancholy metaphor for the oblivion to which the great Yiddish culture has been consigned.«829

Außerhalb der streng orthodoxen Gemeinschaften in Israel wird Jiddisch im Wesentlichen nicht mehr gesprochen. Als Alltagssprache ist das Jiddisch fast völlig verschwunden, als poetische Sprache in Druckwerken noch zugegen. In Sutzkevers Werk verdichtete sich eine ungeheure Kraft, die vom Willen zum Leben und Weiterleben selbst dann noch bestimmt war, wenn in einem allerletzten Einsatz der eigenen Existenz an den Gott gerührt wurde, der Israels Existenz hervorgebracht hatte, erhielt und seit Jahrtausenden verbürgen soll.

3.

»Frau Hiob« (1954)

Israels Recht auf Leben und Israels Forderungen an den einen Gott hat Sutzkever durch vielen Gedichte und Prosastücke getrieben. In keinem seiner Werke stockt die Bewegung. Es geht immer forwerts – ‫פארווערטס‬, wie eine seit fast einem Jahrhundert in New York erscheinende jiddische Zeitung heißt.830 In dieser Bewegung kommt das Geschehene immer mit. Wenn Sutzkevers Gestalten nach 828 Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk, 70. 829 Dory Manor, zit. in: Mer Benny, »A divine providence has been removed.«, A4. 830 ‫פארווערטס‬. The Yiddish Daily Forward.

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vorn ziehen, so fliehen sie aus den tödlichen Zonen, nehmen die Vergangenheit in ihre Gegenwart mit und verwandeln sie. Diese Vorwärtsbewegung kannte auch Werfel. Doch Sutzkevers Vorwärts endet nicht im Exil, sondern geht mit ihm fort aus der Todeszone. Verlieren wird er das Exil nicht, denn es bleibt ihm innerlich als Vergangenheit, die sich ablagert. Und diese Vergangenheit ist doppelschichtig. Sie ist die Vergangenheit der Schoa und sie ist das über sie wachsende Gras. Die Vergangenheit der Schoa ist wie ein riesiger Krater, den ein Impact schlug. Täter und Kollaborateure, die danach ruhig schlafen wollen, glätteten sie und ließen, wie Améry mit Entsetzen die Realität des Sprichworts in Gurs vor sich gesehen hatte, Gras darüber wachsen.831 Sutzkever jedoch wertete das nachwachsende Grün um: »Die Düfte von Grünem riefen zur Freiheit. In einem einfachen Zweig war der Frühling konzentriert«832, schrieb er in seinem Bericht über das Wilner Ghetto, in dem er von der Feier des 1. Mai 1943 kurz erzählte. Zwanzig Jahre nach seinem Bericht wird ihm im Gedicht Lesen, Schreiben das Gras Antrieb fürs Lesen und Schreiben als Formen der Erinnerung, ihrer Verwandlung und des ungebrochenen Widerstands zugunsten des Lebens: »1 (…) Ich will der Leser deiner Tränen sein… Ich will der Leser deiner Adern, deines Nabels sein. Ich will dein Leser sein, der allein dich versteht. So versteht der Wolf das tote Geheul der Wölfin, von einer Kugel ward sie durchbohrt hinter dem Abendschleier des Schnees, inmitten von warmer Freude. 2 Statt Papier ein Blatt dünner Frühlingsluft. Ich schreib, ununterbrochen, mit Zähnen statt mit Blei, wie Feuer das Wasser fürchtend, nicht das Feuer. Ich schreib eine Sekunde für die Ewigkeit. Ich schreib für den Bettler, eine Münze für ihn. Ich schreib für den Klang, daß er nicht vergeblich sei. Ich schreib für meine Kindheit im beflügelten Schnee. Ich schreib für das Gras, das aus mir wachsen wird, grün.«833

Und nochmals später, im Jahr 1974, fragt er im Gedicht Was wird bleiben? »Wer wird bleiben, was wird bleiben? Bleiben wird ein Wort, Schöpfungsgras, hervorzukeimen heut und immerfort. 831 S. S. 135. 832 Sutzkever Abraham, Wilner Getto, 192. 833 Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 161.

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Bleiben wird die Fiedelrose – ehrenfest und schön, sieben Gräser all der Gräser werden sie verstehn. Mehr als die vielen Sterne über dieser Welt jener Stern wird bleiben, der in eine Träne fällt. Auch ein Tropfen Wein wird bleiben, hier in seinem Krug. Wer wird bleiben? Gott wird bleiben. Ist dir’s nicht genug? 834

Gras wächst auch in verwüsteten Zonen – trotz der Zerstörung, die es nicht versiegelt und nicht vergessen macht. Gras steht für gesteigerte Wahrnehmung des Testaments, das die Kunst im Widerstand gebildet und hinterlassen haben wird. Es bleibt so lang wie der Tropfen Wein »hier in seinem Krug«, der an den Schabbat erinnert und an den Schabbatsegen über den Wein, gesprochen vor dem »König der Welt, Schöpfer der Frucht des Weinstocks – melech ha’olam bore‘ pri hagafen – ‫מלך העולם בורא פרי הגפן‬.«835 Wie der Schabbat alle Zeiten durchmisst, so auch das Schöpfungsgras und der gestirnte Himmel, den Sutzkever jedoch nicht mehr wegen seiner imposanten und Ehrfurcht abringenden Unermesslichkeit836 einträgt, sondern daran misst, ob ein Stern in der Nacht als Licht in die Tränen der Überlebenden fällt, in denen die toten Kinder sind. Damit erweckt und verwandelt Sutzkever auch das Versprechen Gottes an Abraham, seine Nachkommen so zahlreich wie Sterne am Himmel werden zu lassen (Gen 22,17; 26,4). Das Versprechen ist brüchig geworden, die Sterne funkeln kalt und fern, ihre Masse bedeutet nichts. Nur den Stern, der einer Träne gehört, einem toten Kind, bewahrt Sutzever als Zeuge göttlichen Versprechens. Das ist nichts Sentimentales, sondern wiederum etwas tief ins Judentum Eingewurzeltes: Sind die Kinder tot, geht das Schma Israel zugrunde – genau das Problem von Werfels Jeremia und seiner Botschaft vor der Katastrophe. Sutzkevers große Kunst bestand in dieser Verbindung, Brechung, Umkehr, Verwandlung, Verdichtung jüdischer Überlieferung, um aus ihr zu schöpfen, was Israel am Anfang schon zum Volk werden ließ und seinen Weg gewiesen hat: Widerstand gegen Oppressoren, Neinsage zum Terror der Diktatoren und Weltherrscher, gekräftigt durch die lange Tradition seines Volkes, das ihm die Kraft gab, die er in den Bettlern, Tränen, Sternen, im Gras, Wein und in den Schabbatfeiern finden konnte; sie alle gehören mit »Schnee und Eis, Vater, Fiedel, Taube und Nordstern, zusammen mit dem Feuer und Tanz der Kirgisen«837 zu Sutzkevers dichterischen Zentralmotiven. 834 Ebd., 173. 835 Siddur Schma Kolenu, 274f. 836 Deshalb lässt sich Kants ehrfurchtsvolles Erstaunen im »Beschluß« der Kritik der praktischen Vernunft auch schwerlich wiederholen (Kant Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, 253). Zwischen ihm und Sutzkever liegt eine verminte Welt mit Erfahrungen, die Kant nicht ahnen konnte. 837 Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Werk 53.

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Diese Verbindungen finden sich auch im Prosatext Frau Hiob; in ihm hat Sutzkever Elemente der jüdischen Tradition und die jüngste Vergangenheit der Schoa miteinander verbunden. Er findet sich im Band Grünes Aquarium / Griner Akwarium, dem ersten Prosaband, den Sutzkever veröffentlicht hat.838 In Frau Hiob bringt schon der Titel eine Umkehr biblischer Verhältnisse und zugleich eine tiefer liegende genaue Entsprechung. Denn nach der biblischen Hiobgeschichte überlebte Hiobs Frau als einzige die Katastrophen der Familie; als ihr Mann an einem bösartigen Geschwür erkrankte und nach traditionellem Schema für die Sünde, wie sie die Krankheit offenbarte, Buße tat, trat seine Frau zu ihm, die nicht mehr verstand, wie sich nach all dem noch an Gott glauben ließ. »Da sagte seine Frau zu ihm: Hältst du immer noch fest an deiner Frömmigkeit? Lästere Gott und stirb! Er aber sprach zu ihr: Wie eine Törin redet, so redest du. Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen? Bei all dem sündigte Ijob nicht mit seinen Lippen.« (Ijob 2,9f). Hiobs Frau wurde biblisch nicht nur als Verführerin gezeichnet, die den Weg ihres Mannes in diesen entscheidenden Phasen abkürzen und beenden wollte, sondern sie erhielt auch Züge des Tratschweibes, dessen Interesse glühte, wenn es um Neuigkeiten aus des Nachbarn Haus ging (Ijob 31,9). Sutzkever wendet die ganze Geschichte um und taucht sie ins Apokalyptische. Diese Umwendung geschieht schon formal. Sutzkever ließ den märchenhaften Rahmen des biblischen Buchs fallen. In Frau Hiob lässt Gott sich nicht mit Satan ein, um die Gerechtigkeit eines Menschen bis an die Neige auszumessen. Denn die Zeit steht ganz anders. Nun ist Satan völlig entfesselt, sein Terror ist kollektiviert: Er trifft nicht mehr einen braven, reichen Mann im Orient, sondern Millionen jüdischer Frauen, Männer, Kinder, die lang schon unter Ausschlüssen, Verdächtigungen und einer Reihe von Pogromen gelitten haben und in der Schoa endgültig ausgerottet werden sollten. Und es ging auch nicht mehr nur um die Frommen allein. Der Terror hat alle Juden getroffen, die Frommen, die Atheisten, die Konvertierten, die Verarmten, die gut Situierten. Wie immer sie sich Gott gegenüber verhalten haben mochten, was immer er einem einzelnen jüdischen Menschen sagte oder nicht – alle waren zusammengeschweißt in der gleichen Todesdrohung, die Schritt für Schritt umgesetzt wurde. Deshalb trägt der biblische Rahmen nicht mehr und auch nicht seine Szene. Den Rahmen für Frau Hiob geben also nicht mehr Gott und der Teufel, sondern der Maler Jankl Scher, mit dem Sutzkever seinen Freund Jankl Adler portraitiert hat.839 Er sah, was auch andere Internierte sehen mussten und Sutzkever 838 Blum Jost G., Notizen zu Autor und Werk, 139. 839 Harshav Benjamin, Sutzkever, 28. Das jiddische Scher hat mit dem hebräischen nescher – ‫נשר‬ zu tun, – nescher bedeutet Adler. Jankl Adler (1895–1949) hat ein Portrait des jungen Sutzkever geschaffen, das sich am Umschlag von Sutzkevers 1937 veröffentlichtem Ge-

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an den Beginn dieser Hiobs-Geschichte stellte: »Aus zerfallenen Lehmhütten, aus kleinen Gitterfenstern und verzogenen Türen schweben brennende Blätter heiliger Bücher zum Sonnenuntergang – Kinder mit ausgestreckten Händen –, als hätte die Sonne sie auf dem Synagogenhof geboren, und jetzt flattern sie zurück zu ihrer Mutter.«840 In diesem Auftakt kann man die schon erwähnte Geschichte von Rabbi Chanina ben Teradions Martyrium mithören, der im letzten Blick vor seinem Untergang im Feuer das Entscheidende gesehen hatte: »Die Pergamentrollen verbrennen und die Buchstaben [fliegen in die Höhe].«841 Doch dieser Bezug ist neben dem gegengelesenen Bibelbezug zur Hiobsgeschichte nicht der einzige. Zwei weitere seien erwähnt: – Sutzkever identifizierte die Thorarollen lyrisch mit den jüdischen Kindern, die einzelnen Blätter mit ihren Armen. Der Hintergrund dieser Identifikation lässt sich gut ausmachen: Kern religiöser jüdischer Existenz ist das Bekenntnis des Schma Israel. In die zentrale Erinnerung des Loskommens aus Ägyptens eingebettet, die gleichzeitig die Erinnerung an die entscheidende Etappe der Hervorbringung des Volkes Israel ist, das am Sinai dann geformt wird, spricht das Sahma Israel von der Zukunft des Volkes Israel. Sie ist dadurch bestimmt, dass es nicht vergisst, wovon es loskommen konnte und was es erhalten hat: Zisternen, Städte, Weinberge, die das Volk leben lassen. Formal aber ist die Dauerhaftigkeit Israels dadurch bestimmt, dass auch künftig Erben erstehen werden, denen das Bekenntnis weitergesagt werden kann. Werden die Kinder, diese künftigen Erben des Überlieferten, massakriert, ermordet, zu Asche, dann endet auch das Bekenntnis, in dem sich die Überlieferung der Tora zusammenfasst. Deshalb sind sie eins mit den Thorarollen und jedes Kind eine ganze Tora mit ihrem Kern des Schma Israel. – Die Heiligkeit der Thorarollen ist verbürgt dadurch, dass sie den unaussprechlichen Gottesnamen tragen. Träger dieses unaussprechlichen Namens sind nicht ausschließlich, aber eben auch die Kinder, die im Schma Israel verhüllt und umschrieben vom Gottesnamen hören. Diese Heiligkeit ist so unzerstörbar, wie der Gottesname unaussprechlich ist. Wird Hand an ihn gelegt, so zieht er in den Himmel sich zurück. Bei Rabbi Chanina war es der Himmel oben; in Frau Hiob ist es der Himmel am Westhorizont. Dort versinkt im Abendfeuer die Sonne. Doch auch in der Welt, in der die Sonne untergeht, bleibt ein letzter Fluchtpunkt, von dem das Heilige und die Geheiligten im Ende angezogen werden. Diese Hoffnung fand literarische Entsprechungen schon bei Franz Kafka und Franz Werfel. Kafka schrieb einen Aphorismus über das Allerheiligste und dichtband Lider findet (Valencia Heather, Sutzkevers Leben und Lyrik, 33; vgl. auch: The Mendele Review: Yiddish Literature and Language). 840 Sutzkever Abraham, Grünes Aquarium / Griner Akwarium, 37. 841 bT Avoda zara 18a.

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die Annäherung des Menschen an dieses. Am Ende und als letzter Fluchtpunkt, wenn alles ganz zum Feuer geworden sein wird, können das Allerheiligste und der zu ihm kommende Mensch einander nicht mehr widerstehen842, ziehen einander an und werden eins – geradeso wie die Torakinder in das Feuer der Sonne ziehen. Werfel wiederum ließ seinen Jacobowksy sagen: »Zwischen einem Leben, das schlimmer ist als Tod, und einem Tod, der schlimmer ist als dieses Leben, flieg ich davon durch das kleine Loch, das Gott uns immer offen läßt…«843 – Abermals bricht Sutzkever diese Szene um, indem er unmittelbar ans Zurückflattern der Kinder zu ihrer Mutter, der Sonne, anfügt: »Wenn die Sonne ihre Kinder hinter einer Wolke verbirgt, lassen sie ihre schwarzen Tränen – ausgeglühter Ruß – auf der Galerie der Synagoge zurück.«844 Von Rabbi Chanina blieben keine solchen Tränen zurück; unter den Römern ließ sich, trotz aller Verfolgungen, irgendwie noch jüdisch leben. Unter den Nationalsozialisten aber bilden Substrat und Vermächtnis des Judentums die toten Kinder. Das erinnert an Sutzkevers Gedicht über die Bettlerin in Jerusalem: Tote Kinder fallen als Tränen aus ihren Augen in den Staub; zu reiner Erinnerung an die toten Kinder ist die verarmte Frau geworden und die Kinder zum Staub, der nicht mehr zum Leben erweckt werden kann. Sutzkever nannte in seinem Gedicht ausdrücklich die Sünden: »Ihre Füße küssen sollte ich für alle Sünder, / wenn aus ihren Augenhöhlen fallen tote Kinder…«845 In den Sünden versteckt sich ein einziger Kern: Theosis des Menschen, im Christentum aufgebaut als Zielbild menschlicher Existenz von Kirchenvätern wie Hippolyt von Rom846, die es lang schon vor Nietzsche847, der das alles umstürzte, nicht aushielten, kein Gott zu sein oder kein Gott werden zu können. In der fromm drapierten Sünde milderte sich ihre Gewalt nicht. Zwar hatte das Christentum die Idee der Gottwerdung des Menschen nicht erfunden und auch nicht die der Menschwerdung Gottes, die ihr korrespondiert; es hatte sie gefunden in den mythologischen Gebilden vorwiegend griechischer und römischer Religionen und der dazugehörigen Mysterienkulte.848 Doch das Christentum hat diese Idee tradiert, ausgebaut und universalisiert und so die Tödlichkeit der Sünde, der Theosis, versteckt – und wo sie in ihrer Tödlichkeit hervorbrach, ließ sich diese leicht als Zuchtrute gegen Ungläubige schwingen: ein Strafgericht Gottes eben. Hier besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen jener Idee der Theosis und ihrer nationalsozialistischen Ausübung. Man

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Kafka Franz, Beim Bau der chinesischen Mauer, 198. Werfel Franz, Jacobowsky und der Oberst, 159. Sutzkever Abraham, Grünes Aquarium / Griner Akwarium, 37. Sutzkever Abraham, Geh über Wörter wie über ein Minenfeld, 242. Treitler Wolfgang, Kein Diener zweier Herren! 122f. Nietzsche Friedrich, Also sprach Zarathustra, 360. Heiler Friedrich, Die Religionen der Menschheit, 332f und 418–430.

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konnte sich einig sein.849 In Berlin war ein Mensch Gott geworden, mitten in christlicher Kultur, und ließ seine Herrlichkeit aufleuchten. Auf seinem glänzenden Gesicht spiegelte sich das verzehrende Geflacker, in dem Bücher, Kinder, Menschen verbrannten, die dem Glauben an ihn widerstanden und diesen Sünde nannten. Die Füße der Bettlerin in der Trauer über diese Sünde zu küssen und den Aschenstaub auf der Empore der Synagoge zu sehen, kündet genau davon. Die Asche ist Zeugnis der Auslöschung und Vermächtnis zugleich. Als Vermächtnis aber befeuert die Asche der toten Kinder den Widerstand. Die Sonne, die die Kinder verbirgt, und das Substrat der Sünde – die toten Kinder – stehen hier wie im ganzen Werk Sutzkevers nicht für Resignation, sondern für Rebellion und Revolte. In einem späten Gedicht aus dem Jahr 1987, Erinnerungen von andern, werden Sonne und Widerstand zur weiterlaufenden Tradition und entsprechen damit dem Schma Israel und seiner Forderung nach Tradierung des Gottesbekenntnisses: »Die Sonne soll auf meinen Saiten zimbeln / für alle, die jetzt sonnig-rebellisch geboren werden.«850 In dieser Erinnerung des apokalyptischen Mordens von Kindern, in denen Israels Zukunft verwahrt war, und in der aus ihr aufgerührten vielschichtigen Rebellion (in der Praxis, im Dichten, im Gebet) werden die jetzt und künftig Geborenen zu Boten und Akteuren einer Zukunft, beladen mit einem Jahrtausende zurückreichenden Gedenken an tödliche Momente und Fristen und an das oftmals unerwartete Überleben der jüdischen Gemeinschaften. Dieses Gedenken hat Sutzkever in seiner Dichtung getragen und so auch in Frau Hiob, dessen Textgefüge über eine direkte Anspielung an das biblische Buch Hiob also weit hinausgeht. In Frau Hiob ließ Sutzkever nämlich biblisch-apokalyptische Elemente anklingen, von denen die biblische Hiobgeschichte ganz unberührt ist, die jedoch im Buch Daniel gefunden werden können. Im Grauen, das sich schon in den ersten Zeilen von Frau Hiob aufgebaut hat, wuchsen auch die Maße der Synagogengalerie. »Die zweistöckige Galerie, über den überhängenden Ruinen der Gassen und Gäßchen zur Pyramide erhoben, sieht nicht mehr aus, wie sie immer ausgesehen hat. – Jetzt ist sie verwandelt in einen Adler über einem Adler!«851 In der Pyramide kommen zwei Momente zusammen: der Schutthaufen der Ruinen, den die völlige Zerstörung aufgetürmt und der die Synagoge zu einem Gebilde gemacht hat, das dem verwüsteten Jerusalem und dem zerstörten Tempel gleicht, in das am Ende Werfel seinen Jeremia den »schwersten Weg all seiner Wege«852 gehen sieht – und im Anblick der Pyramide die große, geschichtliche Macht und Gegenmacht Israels, Ägypten, das sowohl für die massive Unter849 Schmaus Michael, Begegnungen zwischen katholischem Christentum und nationalsozialistischer Weltanschauung; s. auch Treitler Wolfgang, Kein Diener zweier Herren! 193. 850 Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 178. 851 Sutzkever Abraham, Grünes Aquarium / Griner Akwarium, 37. 852 Werfel Franz, Höret die Stimme, 623.

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drückung bis hin zur Lebensunmöglichkeit steht als auch für windige Koalitionen, die Israel und Juda in der Geschichte kein Glück gebracht haben.853 Dem Adler hat die Überlieferung der Tora eine besondere Transparenz auf Gottes Geleit für Israel zugesprochen: Gott hat Israel auf »Adlerflügeln getragen« (Ex 19,4) und zum Sinai gebracht; für Israel ist er so »wie der Adler, der sein Nest beschützt« (Dtn 32,11); und wer an Gott hängt, dem wird, so sagt es ein biblisches Gebet, »wie dem Adler … die Jugend erneuert« (Ps 103,5). In der Weisheitsliteratur wird deshalb der kraftvolle Adler zu den unbegreiflichen, geheimnishaften Erscheinungen gezählt: »Drei Dinge sind mir unbegreiflich, vier vermag ich nicht zu fassen: den Weg des Adlers am Himmel, den Weg der Schlange über den Felsen, den Weg des Schiffes auf hoher See, den Weg des Mannes bei der jungen Frau.« (Spr 3,18f). Dreimal geht es um die Richtung des Weges und um die Unklarheit in Bezug auf die Fortbewegung als solche, einmal wohl um die Unbegreiflichkeit der Liebe und ihrer geheimnishaften Folgen. Majestätisches und Schöpferisches, Erhabenes und Geheimnisvolles offenbaren sich im Adler und dem, was ihm ähnlich scheint. Doch diese tradierten biblischen Zuschreibungen werden durch das Buch Daniel umgekehrt. In beiden Kontexten, in denen der Adler, oder genauer: Adlerhaftes, erwähnt wird, ist dieses ans Gegenbild des biblischen Gottes gebunden, und zwar weil es Drohung ist, die als furchtbare Chimäre aus dem Meer aufsteigt (Dan 7,4), und weil es doch aus seiner Allgewalt gefallen und zu einer hässlichen, herabgekommenen, massigen, aber kraftlosen Chimäre geworden ist (Dan 4,30). Im Adler repräsentieren sich Usurpation des Göttlichen und Fall zugleich. In Daniels apokalyptischen Szenen war dieses Adlerhafte Nebukadnezar, in dem Antiochus IV. chiffriert wurde. Beides, die Toratradition und die Apokalyptik, brachte Sutzkever in Frau Hiob zueinander und ruft hüllenloses Entsetzen hervor, als der Dichter auf die Pyramide blickt: »Jetzt ist sie verwandelt in einen Adler über einem Adler!«854 Der Adler über dem Adler ist der Nebukadnezar aus Sutzkevers Tagen: die machttrunkene arische Chimäre in Berlin, die aus Österreich kam und alles in ihrem Umkreis in Trümmer legte. Der Adler unter dem Adler kann Gott oder eine Variation einer Erscheinung Gottes sein, der Israel zum Schutz und zum Geleit die Tora gegeben hat. »Der obere Adler, mit dem Kopf eines wilden Tieres und einer blauen Brust zwischen purpurnen Flügeln, wie eine Quelle zwischen Rosen, ist mit den Fängen seiner vier bronzenen Füße in den unteren verkrallt. Und der untere Adler, mit dem Kopf eines Engels und einer glänzenden Schlange um den Hals – seine Flügel, zwei einander gegenüberstehende Felsen über dem Abgrund –, 853 Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 4 und 24. 854 Sutzkever Abraham, Grünes Aquarium / Griner Akwarium, 37.

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steht gebeugt über der Hauptsynagoge. Seine zehn Beine – Säulen, aus Salz gehauen – schwanken unter den schweren Flügeln. Oben, zwischen den bronzenen Beinen des oberen Adlers, vor dem Hintergrund der blauen Brust, sehe ich einen Menschen, der sich versteckt hält. - Mensch, wer bist du? - Ich bin der Maler Jankl Scher, der Maler dieser Gassen…«855

In Dan 4,17–24 finden sich nun Metalle, die Sutzkever aufnimmt: Wie bei Daniel die Fesseln aus Eisen und Bronze sind, die in diesem apokalyptischen Bild den Weltherrscher schließlich binden, so hat bei Sutzkever der obere Adler sich mit seinen vier bronzenen Füßen in den unteren verkrallt – eine Beute- und Gewaltszene. Dazu kommt die Gleichzahl der vier Beine: In Daniels apokalyptischen Visionen gab es vier Reiche, die den Weltkreis abfolgend beherrschten (Dan 7,3– 7), und dann eine Löserfigur, eine Art messianischer Gestalt, die in einer Gerichtsszene auftritt. Auf dem Gerichtsthron hat der Alte, Hochbetagte (aram.: ‘atic – ‫ )עתיק‬Platz genommen. Gegen das letzte Tier, das die vorigen überwunden und die Weltherrschaft vollendet hat, wird das Endgericht vollzogen. Durch einen Jungen, der wie ein Mensch (aram.: kvar enasch – ‫ )כבר אנש‬ist und vor den Alten hintritt, bringt der Hochbetagte alle Gewaltherrschaft ans Ende und setzt den jungen Menschen an die Stelle der Oppressoren (Dan 7, 8.13). Dieser Junge ist ein Mensch856, kein Halbgott und kein Götze, kein realisierte Blasphemie und kein Gottesmörder. Er ist Mensch, also das Gegenteil eines Gewaltmenschen und Diktators, der immer noch gemordet hat in der Geschichte. Daniels Visionen haben eine Wendung erschaut, die im 2. Jhdt. v. d. Z. tatsächlich kam, jedoch bald durch Intrigen, Kämpfe und v. a. durch die unaufhaltsame römische Expansion verloren wurde.857 Da war trotz allem noch der Glaube wach, dass Gott das Geschick wenden und ein Mensch Bote und Agent der Befriedung sein werde. Sutzkever überlebte inmitten einer lückenlos gewordenen, technisierten Gewalt; der wie ein Mensch war, konnte nicht mehr siegreicher Agent eines Friedensreiches sein, das nach dem göttlichen Gericht ersteht. Aber er ist Zeuge, wie ein Mensch Zeuge sein kann, wenn er genau schaut und erinnert, ein Zeuge durch Kewana, intensive, gott- und menschbezogene Aufmerksamkeit und Empathie. Er sah: Apokalyptisch waren die Zeiten des Ghetto; in seinem eigenen Morden schließlich versunken, hat der blasphemische Götze doch in seinem eigenen Untergang alle mitgerissen, die am Leben und auch am Glauben hatten bleiben wollen – und niemand kehrte aus den Gruben zurück, in denen sie verscharrt worden. Aber geblieben sind ein paar Zeugen, und einer sah inmitten 855 Ebd., 37–39; Herv. W.T. 856 Ich lasse bewusst die Diskussionen der letzten Zeit beiseite, die sich zwischen jüdischen und christlichen Rezeptionen spannt und verweise nur auf folgende zwei Schriften: Boyarin Daniel, The Jewish Gospel; Schäfer Peter, The Jewish Jesus. 857 Schalit Abraham, König Herodes, 1–24.

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des Apokalyptischen die Ereignisse und nahm sie mit: Jankl Scher, revoltierender Zeuge des Untergangs, den er festhält, denn er fügt sich nicht und gibt nicht auf; er hatte über Daniels vier Tiere hinaus das fünfte Tier erschaut, das nicht im Orient, sondern in der heutigen Ukraine wütete und aus dem Westen gekommen war. Dieses Tier versuchte endgültig den Himmel zu versperren und ließ von dort in die tödlich geschlossene Welt den Ruß der Toten herabwehen. Jankl Scher ist Zeuge des Terrors, der Mensch, »der sich versteckt hält« zwischen den Beinen des oberen Adlers, und dieser Zeuge heißt selbst Adler, Scher; er ist also der dritte Adler, den Sutzkever in die Szene bringt, der Adler, der den ersten und den zweiten verbindet und unterscheidet, Zeuge inmitten des apokalyptischen Kampfes, in dem es keinen Punkt der ruhevollen Betrachtung gibt. Inmitten des apokalyptischen Kampfes zwischen dem fünften Tier, also dem Tausendjährigen Deutschen Reich, und Israel sowie seinem Gott ist Jankl Scher/ Adler hineingerissener Zeuge dieses apokalyptischen Kampfes. Er, der Maler, ist Künstler mit genauer Wahrnehmung, er ist kein Registrator, kein Dokumentator, kein Buchhalter des Todes, er ist kein Beobachter wie Kafkas Reisender in der Erzählung In der Strafkolonie. Er ist Zeuge und er ist ein Rebell, ein Partisan Gottes und der Menschen. Daher revoltierte er gegen die Mörder und die Verzweiflung, die ihre Hinterlassenschaft sein sollte, mit Hiobs Frau, der nun 80jährigen; Modus seiner Revolte ist die Erinnerung durch Malerei, in der diese Frau lebendig wird: Kunst als Verwandlung der Toten, und das bei Sutzkever nicht säkular, als brächte Kunst nur ein Als-ob: als ob sie Leben schaffe, als ob Frau Hiob wiederkehrte. Nein, Kunst schafft Leben, bringt es zurück und weiter und ist dadurch mit dem Glauben Israels verwandt – mehr noch: Bei Sutzkever wird Kunst mit Israels Glauben deckungsgleich. Denn seine Kunst ist durchwirkt mit Motiven des Glaubens Israels und daher eine seiner wesentlichsten Seiten der Sichtbarkeit, Hörbarkeit, also der Erfahrung. Daher malt der Zeuge Jankl Frau Hiob: »So hat sie ausgesehen, die Achtzigjährige. Jetzt lebt sie wieder, lebt wieder! Ein schwarzes Schabbeskleid mit Knöpfen aus Kristall. Das Haar weiß, blendend weiß, wie gefrorene Milch. Das Gesicht – ein Knäul silberner Falten. In ihnen zittern Frühlingsbäche. In den Bächen tanzt die Sonne und wirft helle Reflexe auf kalte Bajonette. Und die alte Frau, leicht gebeugt, trägt huckepack ein blondes Mädchen – - (…) Die Alte ging … mit einem Schel-Rosch auf der Stirn … Den Schel-Rosch hat sie von der Erde aufgehoben, aus dem Rinnstein… - Jankl, du bist ein Maler, male den Schel-Rosch! Er tunkt den Pinsel in die gefallenen Tränen (sc. von ihm), in einen Spritzer Rot, und schon schreitet die Alte, das blonde Mädchen huckepack, unter dem klaffenden Torbogen zwischen Bajonetten, und auf der Stirn trägt sie eine kleine Kammer, in der Gott wohnt. - Frau Hiob, so wird das Bild heißen… Ein Zittern ergreift die Galerie. Die beiden Adler erheben sich. Zwei Paar rauschender

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Flügel. Zusammen mit dem Maler Jankl Scher, zusammen mit Frau Hiob, zusammen mit dem knienden Fenster, mit der Gasse, verschwinden die Adler in einer blitzenden Wolke.«858

Hiobs Frau kann in der Bibel als eine klar denkende Gestalt gelesen werden: Gott stützt ihren Mann im unverschuldeten Niedergang nicht und hat deshalb die Glaubwürdigkeit verloren. Gott wird helfen? Er wird helfen, wenn man zu ihm eindringlich betet? Dies Gerücht hielt sich so hartnäckig wie seine Widerlegungen dauerhaft geworden waren über die Jahrhunderte hinweg. Wenn der Maler Jankl Scher das Bild der 80jährigen Frau Hiob nennt, so brechen auch hier wie im ganzen Verlauf von Frau Hiob und in vielen lyrischen Kompositionen Sutzkevers die tradierten Sinnbilder um: – Hiobs Frau ist nun allein angekommen. Von der Erhebung des biblischen Hiob am Ende seiner Leiden ist nichts geblieben, nicht der Reichtum, nicht die unirdische Schönheit der Töchter (Ijob 42, 15a). Sutzkevers Frau Hiob sieht eher aus wie ein von Franz Werfel beschriebener »zerzauster Greis, der mit dem Grabscheit in der Hand einherwankt in der Podolischen Steppe, um seine Toten zu finden und zu bestatten.«859 – Was im Buch Hiob irgendwo außerhalb Israels spielt, setzt Sutzkever mitten ins Zentrum des Judentums. Hiobs Frau ist eine Schabbatgestalt, eine Frau, die im Ewigen Bund einhergeht. Mag Gott auch abgezogen sein, so hält sie den Bund aufrecht und damit die Zugehörigkeit zu Israel Gott. – Anders als im Buch Hiob wendet sich die Geschichte ohne jede gewaltige Kundgabe. Kleine und fast unscheinbare Zeichen, dem Maler und Dichter in ihrer Kewana zugänglich, wie die Tausende silberner Gesichtsfalten, in denen Frühlingsbäche zittern, offenbaren einen Glanz jenseits der blanken Verzweiflung. In ihnen spielt die Sonne, sichtbares Urlicht des Geschaffenen, in das schon vorher die toten Kinder wie zu einer Mutter zurückgeflogen sind. Genau in diesem Licht der Kinder und ihrer Ewigkeit geht Frau Hiob mit ihren silbernen Falten. Nicht golden sind sie, sondern silbern: Auf ihrem Gesicht trägt Frau Hiob den Glanz des Schabbat und seiner Gefäße, denn das Silber gehört zum Schabbat. Wie der Schabbat das Leben heiligt, so auch der Frühling. Frühling ist es, wenn es Pessach ist; Frühling ist es, wenn in den Zonen um Wilna erstmals die lebendige Kraft der Natur wieder zu fühlen ist.860 – Im Blitz der Strahlen leuchtet das große Endzeitbild des Propheten Jesaja verwandelt auf: Alle Völker werden am Ende der Tage zum Berg Zion ziehen, um dort die Wege Gottes zu erkennen – und das Ziel dieser weltumfassenden Bewegung wird der Friede sein, durch den die metallischen Kriegsgegenstände 858 Sutzkever Abraham, Grünes Aquarium / Griner Akwarium, 41–45. 859 Werfel Franz, Theologumena, 248f. 860 S. S. 195.

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endgültig umgeformt werden in nutzbare Gegenstände menschlichen Lebens und seines Erhalts ( Jes 2,1–5). Von diesem großen Bild ist in Sutzkevers Frau Hiob eine Miniatur geblieben, eine verdichtete: Als Frau Hiob durch die Reihen der Waffenträger hindurchgeht, fällt nicht nur ein Blitz auf die kalten Kriegseisen, sondern diese werden nicht einmal gegen sie erhoben. – Frau Hiob wird zur Hoffnungsgestalt Israels, da sie eine Gebetskapsel auf der Stirn trägt: Als Jüdin ist sie erkennbar – und wird doch nicht niedergemetzelt. Die Gebetskapsel hob sie aus dem Rinnsal, ein weggeworfenes Überbleibsel eines ermordeten Juden. Dadurch trägt die Gebetskapsel der Frau Hiob eine doppelte Erinnerung: die an den Gott Israels, erinnert durch das Schma Israel, das in der Kapsel eingerollt steckt, und die an einen Ermordeten. Beide Erinnerungen gehören seither zusammen. Sutzkever selbst widerfuhr ja die Auslöschung der nachkommenden Generation wie auch die Ermordung seiner Mutter im Ghetto. Und trotzdem: Er und seine Frau bringen nach den Todesjahren noch zwei Kinder zur Welt, Träger dieses so bitter aufgeladenen Schma Israel und zugleich seiner Zukunft, die auch die Mörder überdauert.861 – Die Zukunft trägt Frau Hiob auf ihrem Rücken, ein kleines, blondes Mädchen. Ihre Enkeltochter? Ein Waisenkind also? Blond erinnert ans Deutsche, doch das ist nationalsozialistische Ideologie, die Sutzkever in keiner Form annahm oder dichterisch verarbeitete. Sie blieb das ausschließliche und ausschließende Gegenüber des Judentums. Keine Brücke zwischen beiden. Das blonde Mädchen wird ein jüdisches Mädchen sein, das seine Haare gerettet haben werden. Das lässt sich aus zwei Gründen so deuten. Ein Grund bietet sich aus einem der vielen Gespräche an, die ich mit Aharon Appelfeld im Beit Ticho in Jerusalem hatte. Er hat von seiner Kindheit erzählt und von seiner Flucht durch die Wälder. Was hat ihn gerettet? Sein blondes Haar, seine blauen Augen und seine deutsche Muttersprache, wie sie die meisten Juden in Czernowitz sprachen. Wenn er allein an einen der Bauernhöfe kam und um Essen bat, konnte man ihm glauben, dass seine Eltern im Krieg gefallen waren und er Waise sei. Den jüdischen Buben retteten seine blonden Haare. Das blonde, jüdische Mädchen auf dem Buckel von Frau Hiob, ein Waisenkind durch Ausrottung, konnte phänotypisch dem arischen Ideal entsprechen. – Einen zweiten Grund für die jüdische Identität dieser blonden Mädchengestalt hat Sutzkever in der Schlussstrophe des oben er861 Das »Trotzdem« gehört zu Sutzkevers Grundgestus im Leben und Schreiben und ging über in die Enkelgeneration: Die israelische Künstlerin Hadas Kalderon, seine Enkeltochter, geboren von Rina Kalderon-Sutzkever, wird in einer kurzen Selbstbeschreibung genau mit einem Trotzdem zitiert: Sie verstehe sich als »a memorial candle, in spite of itself«. (Hickman Pamela, »The Twin Sisters«). Das Trotzdem ist nur auf den ersten, oberflächlichen Blick von dem Abraham Sutzkevers verschieden. Denn tatsächlich nimmt es an Sutzkevers Widerstand teil und trägt ihn weiter, als Haltung, die das Zeugenvermächtnis mitnimmt in die Zukunft.

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wähnten Gedichts Erinnerung von andern angedeutet, in dem er die Szene in Frau Hiob, die auf den beiden Gestalten der alten 80-jährigen und des blonden Mädchens aufruht, in ein Ich-Subjekt zusammenschmilzt, in diesem das Volk Israel bildet und zum Andenken formt für die Toten und ihre ermordete Sprache, das Jiddisch: »Ich selbst bin mein Volk und trage mich auf den Schultern. Beginnen wir eine wiedergeborene Stille zu Ehren einer Sprache und ihrer fächelnden Wärme. Zwischen meinen Erinnerungen von andern, zwischen hingemetzelten Klängen und ihrer Familie.«862

– Wie eine Schabbatbraut in der Welt der Toten geht Frau Hiob in die Rettung ein, mehr noch: Sie ist Gestalt der Rettung und repräsentiert damit auch in der finstersten Zeit Israels die Erlösung durch den Schabbat. Schon in den ersten Tagen der Schöpfung, nachdem Adam gesündigt hatte, war es, wie die jüdischen Geschichten erzählen, der Schabbat, der die Menschen vor dem Untergang und dem vernichtenden Strafgericht gerettet hatte, indem er mit seiner Heiligkeit den Zorn Gottes besänftigt hatte.863 – Frau Hiob ist eine alte Frau. Man kann in dieser Zuschreibung nochmals den Klang von Dan 7 hören und auch dessen markante Veränderung: Damals, in Daniels Zeiten, kam vor den Alten, den Hochbetagter ein Junger wie ein Mensch, der die Zeiten friedlich beherrschen werde. Jetzt, in Sutzkevers Tagen – 1954 – hat sich das Genus verwandelt: Statt zweier männlicher Gestalten stehen nun zwei weibliche in apokalyptischer Zeit. Friede herrscht in beiden Kontexten: Bei Daniel ist der Friede erwartetes Ziel des ganzen Umsturzes, bei Sutzkever ist die Szene auch hier eine Art verdichteter Miniatur: nicht mehr transzendent und vom Himmel kommend, sondern in der Ghettowelt geschieht der Umbruch, kaum merkbar, aber eindeutig. Die Alte trägt durch das Spalier der Waffenträger die Zukunft Israels hindurch und davon, ein Mädchen, das als Mutter dereinst die Religion weitergeben wird. Die Oppressoren haben die Mutter, das generationale Zwischenglied, ausgelöscht, doch nicht die Zukunft zerstören können. 862 Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 179. 863 »Aber in der Zeit, da der Herr trauerte, kam der Schabbat und nahm die Strafe vom Menschen. Sprach der Herr: Was ich gemacht habe, der Schabbat hat’s vollendet. Als Adam die Sünde getan hatte, kam der Schabbattag und ward dem Menschen ein Fürsprech und sprach vor dem Herrn: Herr der Welten! Es ist kein Schlag gefallen an sechs Schöpfungstagen, willst du nun mit mir einen Anfang machen? Die soll meine Heiligkeit sein und dies mein Segen? Heißt es doch: Und der Herr segnete den Schabbattag und heiligte ihn. Und richtig, dem Schabbat ist’s zu danken, dass Adam nicht in das Gericht der Hölle kam. Und der Mensch erkannte auch die Nacht des Schabbattages und sprach: Nicht umsonst segnete der Herr den Schabbat und heiligte ihn. Er fing an, den Schabbat zu preisen mit Liedern und mit Lobgesängen und sprach das Psalmlied auf den Schabbattag.« (Sagen der Juden, 88.)

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Diese Zukunft ist so ewig wie der Schabbat und der Bund Gottes mit Israel, mag davon auch nichts erfahrbar sein. Sichtbar und hörbar sind beide, der Schabbat und der Bund, dennoch in dieser Alten, die Israels Zukunft und Überdauern aus den Todeszonen hinausträgt. – Am Ende hebt Sutzkever die ganze Szene auf und lässt sie fortfliegen mit den beiden Adlern. Sie verschwinden »in einer blitzenden Wolke.« Dort wird Gericht gehalten, wie sich aus einer Sequenz des biblischen Hiob-Buches deuten lässt: Elihu, der motivlich die Rede Gottes vorbereitet, spricht zu Hiob von den Geheimnissen der Schöpfung und mahnt ihn zum Standhalten in der Gottgehörigkeit: »Wer gar versteht der Wolke Schweben, den Donnerhall aus seinem Zelt? Sieh, darüber breitet er sein Licht und deckt des Meeres Wurzeln zu. Denn damit richtet er die Völker, gibt Speise in reicher Fülle. Mit leuchtenden Blitzen füllt er beide Hände, bietet sie auf gegen den, der angreift. Ihn kündigt an sein Donnerhall, wenn er im Zorn gegen den Frevel eifert.« (Ijob 36,29–33).

Blitz der Wolke und Donner – Metaphern des Gerichts, die den Adler der Gewalt vernichtet und Israels Schutz erneuert, so dass es wieder leben kann. Als Sutzkever diese Geschichte veröffentlichte, war Israel seit sechs Jahren ein selbstständiger Staat, in Kriege verwickelt und mit inneren Schwierigkeiten kämpfend, weil die generelle Versorgungslage durch die große Zahl an Einwanderern chronisch gespannt war. Spannungen gab es auch zwischen verschiedenen politischen, religiösen und sprachlichen Interessen. Sutzkever sah, dass seine Muttersprache, das Jiddisch, im neuen Staat Israel rasch an Bedeutung verlor, und doch blieb er bis an sein Lebensende am 19. Jänner 2010 dem Jiddisch als seiner Sprache verbunden und treu. Darin bewahrte er auch die phonetische Erinnerung an die ausgelöschte ostjüdische Welt. Mit dieser Erinnerung, die er selbst wie Frau Hiob aus dem Ghetto hinaus getragen hatte, verneinte er die Verzweiflung, in die die Nationalsozialisten selbst noch die Überlebenden allzu oft getrieben haben. Wie Jean Améry bot er den Tätern die Stirn; doch anders als er suchte er die Befreiung nicht in einem letzten autonomen und irreversiblen Akt, sondern in Israel, seiner Tradition, die trotz allem ohne Menschen, die Jiddisch von Kind auf sprachen, nicht wirklich geworden wäre, und in einer durch den Horror der Schoa zwar verdunkelten, aber hellwachen Ahnung, dass Israel ohne die Tradition Gottes verloren wäre. Der Gott Israels, geschichtlich als Adler Israels vom Feind des 20. Jhdts. geradezu vergewaltigt, überragt selbst seine geschichtlichen Katastrophen und schafft Israel sein Recht, trotz allem, was verloren und zerstört wurde. Abraham Sutzkever war Zeuge, »wie ein Zündholz / ein Bethaus von Greisen und Kindern auslöschte, / Schneller / als im Sonnenuntergang eine Schwalbe erlischt.« Seither konnte er »kein Gebetshaus mehr betreten. / Es schein mir:

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Abraham Sutzkever – »Juden, verschwört euch gegen den Tod!«

Mich, den Zeugen, wird die Asche / erkennen.«864 Doch den Gott Israel gab er nicht preis, mochten auch traditionelle Institutionen tief zweideutig geworden sein. Wenn Israel seinen Gott verliert, versickert es in den Katastrophen, die es in vielen Jahrhunderten durchlebt hatte und die im Nationalsozialismus ihre Klimax erreicht haben. Darum also wird der Gott Israels bleiben und mit ihm das Licht der Toten und der Schabbat. Das hebt Israel über die Verzweiflung hinaus. »Mehr als all die vielen Sterne über dieser Welt jener Stern wird bleiben, der in eine Träne fällt. Auch ein Tropfen Wein wird bleiben, hier in seinem Krug. Wer wird bleiben? Gott wird bleiben. Ist dir’s nicht genug?«865

864 Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 169. 865 Ebd., 173.

Elie Wiesel – »Ich, der ich dabei war«

1.

Verstehen wollen und nicht verstehen können

Elie Wiesel schreibt und schreibt seit mehr als sechs Jahrzehnten. Durch seinen Einsatz im Bereich der Erinnerungsarbeit der Schoa, der Menschenrechte und dadurch auch des Politischen widerfuhr ihm, wie er in seiner Autobiografie schreibt, dass die Zeit, die zum Schreiben verbleibt, sich ausdünnt; um sie dennoch zu erhalten, fordert er von sich strenge Disziplin, weil Schreiben für seine Existenz unerlässlich (geworden) ist. »Mit den Jahren nehmen mich meine außerliterarischen Tätigkeiten immer mehr in Beschlag, rauben mir zuviel von meiner Zeit, aber das ist einfach unvermeidbar. Wie schaffe ich es, meinen gewohnten Zeitplan einzuhalten und vier Stunden pro Tag dem Schreiben zu widmen, das für mich eine vorrangige Pflicht ist? Ich nutze jede freie Minute und auferlege mir eine noch strengere Disziplin. Der Ekklesiast glaubt nicht an Bücher, aber für mich sind sie lebensnotwendig. Was würde aus mir werden, wenn ich aufhörte zu schreiben? Ich habe noch so viele Geschichten zu erzählen, so viele Themen zu erforschen, so viele Personen und Figuren zu erfinden oder ans Licht zu bringen. Dabei treibt mich immer dieselbe Angst: Zwar habe ich schon einiges geschrieben, aber eigentlich habe ich noch gar nicht richtig begonnen. Warum ich dann meine Bücher geschrieben habe, könnte man jetzt fragen. Um zu verstehen und verstanden zu werden.«866

Bücher zu schreiben gehört zu Elie Wiesels Lebensweise. »Ich schreibe, weil ich nicht anders kann – und weil ich nichts anderes kann. Sing oder stirb, sagte Heine. Wenn du aufgibst, gehst du unter. Man schreibt oder man verschwindet.«867 Schreiben als Selbstkonstitution? Gewiss, aber das wäre zu wenig. Elie Wiesel ging es nie um sich selbst und auch nicht um die ästhetische Ausmessung seiner

866 Wiesel Elie, … und das Meer wird nicht voll, 538. 867 Ebd., 520.

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Elie Wiesel – »Ich, der ich dabei war«

Möglichkeiten und Wirklichkeiten. Er schreibt nicht, um ein Werk aufzubauen, das ihn als seinen Schöpfer beweist und bezeugt. Er schreibt, weil er Überlebender ist. Das galt in dieser Weise nicht von Stefan Zweig und Franz Kafka. Franz Kafka starb vor der Diktatur des Nationalsozialismus. Ihm drohten zwar die Schatten des Kommenden, wie sie in der Technisierung von Exekutionen und in dem ihr eigenen Faszinosum schon geworfen wurden, das diese auf primitive, gehorsamsabhängige Männer ausübt. Doch ihn selbst erfasste davon noch wenig. Stefan Zweigs letztes Lebensjahrzehnt hingegen fiel unter diese Diktatur; ihm wurde durch sie alles genommen, was ihn leben hatte lassen, vor allem die Kultur und der Friede, den er gesucht hatte. Geschrieben hatte er nicht als Überlebender, sondern als Zeuge von Kultur, von der er gehofft hatte, dass sie mit all ihren Widrigkeiten doch dem Menschlichen verbunden war. Noch seine beinah fantastische Beschwörung Brasiliens holt ihre Kraft aus dieser Hoffnung und Zeugenschaft humaner Kultur und lässt den Terror hinter sich, sperrt ihn von seinem Leben aus – und als dies nicht mehr möglich war, gab er sich selbst weg, um kein Leben ertragen zu müssen, in dem alles zerfressen wurde von diesem menschenmordenen Ungeist. Franz Werfel hörte als Exilant aus der Ferne vom Massenmord, der dem Judentum in Europa mit unerhörter Geschwindigkeit das Ende bereitet hatte. In einigen Abschnitten seiner späten Reflexionen in Theologumena und in späten Gedichten sieht man den Dichter ungläubig und beinah verzweifelt die Hand vor das Gesicht schlagen über das Unbeschreibliche, das Menschen organisiert haben, die in seiner Sprache die Voraussetzungen dazu geschaffen und durch ein System absoluter Befehle auch durchgesetzt haben. Franz Werfel hatte geschrieben, weil er Dichter war und als Dichter schreiben musste; und als Dichter gehorchte er dem, was ihn anging: der Tradition und Gegenwart Israels. Eine Generation später lebten Jean Améry und Abraham Sutzkever, zwei Überlebende, die vor und nach der Schoa geschrieben hatten – nach der Schoa mit gehärtetem Wort, das Vergeltung forderte. Es ließ sich nicht mehr schreiben und nicht mehr leben, als wäre die Schoa nur eine schreckliche Unterbrechung gewesen, die der Humanisierung Europas unterlaufen war, aber mit ihr grundsätzlich nichts zu tun gehabt hätte. Die Herrn, die danach bei Kriegsverbrecherprozessen lachten, wenn ihre Schuld Thema wurde868, markierten genau die Haltung vieler, die mitgemacht hatten und ihre Kollaboration stumm der kommenden Generation weitergaben. Améry erlebte das in den 33 Jahren, die er nach 1945 noch lebte, und hielt es seinen Zeitgenossen vor. Sutzkever hörte und sah späterhin, dass Tränen, Trauer, »entsetzliches Stilleben«869 und leere Gassen 868 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 140. 869 Sutzkever Abraham, Gesänge vom Meer des Todes, 166.

Verstehen wollen und nicht verstehen können

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zurückgeblieben sind aus jenen Tagen, die sie unvergessen machen; er musste fortan sein totes, jiddisches Volk870 mit seinen dichterischen Worten tragen, weil sonst kaum noch etwas oder jemand an sie erinnerte. Das war Protest gegen die rasche Normalisierung der Verhältnisse in Zentral- und Osteuropa, wo die Generationen des sog. Wiederaufbaus nur noch nach vorn wollten und gleichzeitig in die Zukunft die alten Haltungen hineintrugen, deren Determinante der Judenhass war, den sie sich als Schüler durch stramme Verse und Vaterlandstreue angeeignet hatten. Das war eine Zukunft, die kontaminiert blieb von den Jahren, da man es unternommen hatte, das europäische Judentum auszutilgen. Dem junge Elie Wiesel, der knapp eine Generation jünger ist als Jean Améry und Abraham Sutzkever, wurde unvorbereitet und an der Schwelle zum Erwachsensein sein ganzes Lebensgefüge durch eben diesen Judenhass zerrissen. Er lebte in einem frommen Judentum – und plötzlich waren sie da, die motorisierten Besatzer in SS-Uniformen; schneller als die Gerüchte waren sie gekommen. Und was danach geschah, unvorstellbar wie es war, auch nicht glaubhaft in Bezug selbst nur auf seine Möglichkeiten hin, zwang ihn später durch alle seine Jahre, dieses Unaussprechliche zu verstehen. Denn es war ja irgendwie verwoben mit einer langen Tradition von Verfolgungen, Vertreibungen, Massakern und Pogromen, in denen der Judenhass seine Geschichte geschrieben hat – und war doch etwas ganz anderes als bloß ihre Verlängerung oder Wiederkehr. Denn diesmal gab es überhaupt keine Alternative mehr zum Todesurteil. Und wenn man auf Helfer gehofft hatte, die dem Horror die Stirn geboten hätten, auf Machthaber, die es mit dem Diktat aufgenommen hätten, das gesetzlich beschlossen und mit dafür eigens entwickelten technischen Anlagen durchgeführt wurde, traf man auf Schweigen, Ignoranz, auf nichts. Niemanden auf der Welt schien das jüdische Geschick irgendetwas anzugehen, dem die Nationalsozialisten nicht im Geheimen, sondern mit öffentlichen Beschlüssen sein definitives Ende bereiten wollten. Nicht nur an der Massenvernichtung der Schoa, sondern auch an der flächendeckenden Gleichgültigkeit schlägt das Verstehen-Wollen Elie Wiesels immer wieder an und prallt zurück. Es mag trösten: Dieses Verstehen-Wollen und Nicht-Verstehen-Können kannten viele jüdische Zeugen vor ihm auch; deshalb wendet sich Elie Wiesel auch um und leiht sich die Worte eines andern großen Zeugen einer Katastrophe, die das Judentum auf Jahrzehnte hinaus an den Abgrund gebracht hatte: die Worte des Propheten Jeremia, von dem er auch ein sehr feinsinnigen Portrait geschrieben hat.871

870 Ebd., 179. 871 Wiesel Elie, Von Gott gepackt, 91–117.

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Elie Wiesel – »Ich, der ich dabei war«

»In den Worten des Jeremiah: ›Ani hagever‹, Ich, der dabei war – ich begreife noch immer nicht: Warum gedenkt unser Volk seiner Niederlagen, indes andere Nationen ihre Siege feiern? Und wie ist das alles geschehen? Wie konnten hochgebildeten Menschen, unter ihnen Doktoren der Philosophie, der Medizin, der Theologie, zu Kindermördern werden? Wie konnte im Zentrum europäischer Zivilisation und Christlichkeit eine Theorie des institutionalisierten Mordes entwickelt und in die Tat umgesetzt werden? Warum waren die Mörder so perfekt als Mörder, und warum waren die Opfer so perfekte Opfer? Und was war mit unseren Freunden in der freien Welt? Sie wußten – und taten so, als wüßten sie nicht. Roosevelt und Churchill weigerten sich, die Bahnlinien nach Auschwitz zu bombardieren. Papst Pius XII und sein Schweigen. Und – warum sollte ich es nicht sagen – was ist mit der Haltung unserer damaligen jüdischen Ältesten? Wie viele von ihnen riefen zum Hungerstreik auf ? Wie können wir verstehen, daß sie so wenig Solidarität mit denen aufbrachten, die sie am dringendsten gebraucht hätten? Wie sollten wir die weltweite Gleichgültigkeit gegenüber den jüdischen Opfern verstehen? Und wie können wir andererseits außer Acht lassen, wie viel Mut die wenigen – erschreckend wenigen – heroischen Christen aufbrachten, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um ein jüdisches Kind, eine jüdische Frau, eine jüdische Familie zu retten? Sie lieferten den Beweis dafür, daß es möglich war, dem Henker Einhalt zu gebieten – auch wenn es nur in Einzelfällen gelang. Aber da es überhaupt möglich war, warum blieben sie allein?«872

Was Stefan Zweig in der europäischen Zivilisation gesucht hatte – das humane Ethos, durch das nationale Grenzen verschwinden, Friede den Krieg überwindet und alle, auch die Juden, ihr Leben finden können – versank im Feuer des Nationalsozialismus; dieses hatte die humanistischen Hoffnungen niedergebrannt und Menschlichkeit pervertiert. In den Worten Elie Wiesels schwingt ein einziges, furchtbares Echo: Alle Geltungen und Ansprüche sind verkehrt worden. Gelitten haben unter dieser Verkehrung vor allem die Juden. Als sie in den Konzentrationslagern zu Tausenden und Abertausenden täglich umgebracht wurden, ging das unter den Augen der Kriegsmächte und der großen christlichen Institutionen einfach hin. Man wusste es, man hatte es gehört und gesehen, was an den Juden und Zugehörigen anderer zum Mord auserwählten Volksgruppen verübt wurde. Man hatte die Mittel bei der Hand, dies zu beenden, doch man ließ das alles laufen. In seiner Autobiografie, die Elie Wiesel bereits in der Mitte der

872 Wiesel Elie, Ethics and Memory, 41f; ganz ähnlich auch in Wiesel Elie, Zalmen, 169f, hier im Mund eines überlegenen Gegners, der die Sowjetmacht darstellt und mit einem alten Rabbi eine letzte, leise Abrechnung vollzieht, weil er schon (scheinbar) gewonnen hat. WarumFragen sind massiv auch in: Wiesel Elie, Der fünfte Sohn, 96. Zur Frage der kirchlichen Haltung vgl.: Missalla Heinrich, Die deutschen Katholiken im Dritten Reich, 91 und 95. – Auch von christlicher Seite werden heute öffentliche Anfragen ans Eigene gerichtet, die im Sinn Elie Wiesels überhaupt keinen rhetorischen Charakter mehr haben, weil nichts zu begreifen ist (Thierse Wolfgang, »Hinabgestiegen in das Reich des Todes«, 294).

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1990er Jahre schrieb873, hat Elie Wiesel diese offensichtliche Irrelevanz der jüdischen Vernichtung nochmals in unnachgiebige Fragen gefasst: »Warum hat man sie ungestört nach Polen fahren lassen? Warum hat man die Bahngleise, die nach Birkenau führten, nicht bombardiert? (…) Daß kein einziger Bomber versucht hat, die Gleisanlagen um Auschwitz zu zerstören, bleibt für mich empörend und unbegreiflich. Damals wurden in Birkenau zehntausend Juden ›behandelt‹. Wie viele Kinder hätten länger leben können, wenn ein Zug nur eine Nacht, eine einzige Nacht, vielleicht sogar nur einige Stunden Verspätung gehabt hätte? Es wäre zumindest eine Warnung an die Deutschen gewesen: ›Achtung! Das Leben der Juden ist uns etwas wert!‹ Doch der freien Welt war es gleichgültig, ob die Juden lebten oder starben, ob sie heute oder morgen verschwanden.«874

»The Train to Hell.«875 Diese Todesbahnen hat, abgesehen von jüdischen Partisanen, von denen Aharon Appelfeld in einem seiner letzten Romane Auf der Lichtung876 erzählt, kein sonstiger Sabotageakt unterbrochen. Was hier offenbar wurde, zeigte eine Haltung grundsätzlicher Ignoranz gegenüber Juden, und diese Haltung hat das Jahr 1945 ungebrochen überstanden. Von radikaler Desolidarisierung ausgeschieden, wurden Juden massenweise in den Tod geführt – und man tat so, als wäre das nicht nur normal, sondern als fehlten sie gar nicht. Wie lässt sich das anders verstehen denn als die Wirkung der Liquidation des Judentums in jahrelanger Rhetorik? Schon über Jahrhunderte hinweg waren die Gehirne der meisten Nichtjuden mit antisemitischen Phrasen so lange durchgeknetet worden, bis sie nicht nur nachgegeben, sondern sich den öffentlichen Hass zur eigenen Angelegenheit gemacht hatten. Dieses Werk, das die Nationalsozialisten übernahmen und auf die Spitze trieben, war in seiner Weise erfolgreich, weil es aus dem Innern des Volksgeistes kam, aus seiner Jahrhunderte alten christlichen Aversion gegen das Judentum im Ganzen, in Deutschland durch die zwei Flügeln kräftiger antiker katholischer Tradition und lutherischer Reformation allgegenwärtig und wirksam, die über alle Differenzen hinweg im antijüdischen Affekt ihre christliche Einheit gefunden haben. So different sich die beiden Flügel in manchen Fragen gaben, so einig standen sie gegen das, was in ihrem Denken jüdischer Anachronismus war: Man hatte den Erlöser bei sich und immer noch ein Volk vor sich, das dieser Botschaft nicht glaubte; man hatte das 873 Darauf, dass er sich als noch nicht einmal 70jähriger an seine Autobiografie machte, reagierte seine Umgebung erstaunt. Doch er sah die Zeit gekommen: »Ich gehöre einer Generation an, die von der Aufgabe besessen ist, alles festzuhalten, alles weiterzugeben. Für keine andere Generation ist das Gebot: ›Sachor, erinnere dich!‹ so wichtig und so bedeutsam. Warum also sollte ich mich nicht laut und deutlich erinnern? Gibt es denn ein Alter, in dem man warten, und ein anderes, in dem man sprechen soll?« (Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 28). 874 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 113. 875 Dakers Diane, Elie Wiesel, 27. 876 Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 160f, 197–200 und 230ff.

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Evangelium in seinem Innern und draußen das tote Gesetz mit seinen toten Buchstaben. Man hatte den Christen kirchlich streng kontrollierte Freiheiten gegeben und reformatorisch auch diese dem Einzelnen vermacht, damit Christentum lebendig sein könne, und fand in den eng umzirkelten Ghettos ungebeugtes Leben, dessen Untergang man erwartete. Trotz aller Differenz, die sich zwischen die christliche Tradition und die nationalsozialistische Vernichtungspolitik legen lässt, hat diese im Wesentlichen traditionelle christliche Grundlagen verschärft exekutiert.877 Daher hat der Hinweis auf die rhetorische Einwirkung der nationalsozialistischen Propaganda auch nichts mit dem Lamento zu tun, das Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch in Auschwitz am 28. Mai 2006 angestimmt hatte, als er, reichlich verbrämt, der Sache nach vom Opferstatus des deutschen Volkes sprach, »über das eine Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen, mit der Verheißung der Größe, des Wiedererstehens der Ehre der Nation und ihrer Bedeutung, mit der Verheißung des Wohlergehens und auch mit Terror und Einschüchterung Macht gewonnen hatte, so daß unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und mißbraucht werden konnte.«878

Schwerlich hat die Werkzeugmetapher in der Relation von Gott und Menschen einen Sinn; in der politischen Relation von Herrschern, die nach biblischem Verstehen nichts Göttliches sind, und Beherrschten wird sie nicht nur sinnlos, sondern nimmt den dumpfen Gestus einer Selbstentschuldigung angesichts eines Genozids an, als wären Unmündige in eine Falle geraten. Dem Repräsentanten der Katholischen Kirche, der ihrem sündelosen Wesen anhängt, fehlten Mut und theologische Voraussetzungen gleichermaßen, klar zu sehen und eindeutig zu sprechen. So war auch diese Stellungnahme ein Nachweis für die Fortwirkung christlicher Prinzipien, die ins 21. Jahrhundert reichen und an entscheidenden Stellen weder tatsächliche Schuldeinsicht noch Schuldzusammenhänge zugeben wollen, die sich aus der tradierten christlichen Lehre in Moral und Dogma ergeben, aber so wenig wahr sein dürfen, wie das Dogma wahr sein muss. Genau diese Konnexe machen die wirklich durchgreifende und aufrichtige Zukehr zum Judentum mitunter so zweideutig, schief und im Grunde täuschend. Dem schlechten Gewissen879, das sich immerhin bemerken lässt, gerade in dem Maß als dieses versteckt werden soll in einer starken Rhetorik des Entsetzens, ist die Umkehr nicht gefolgt, geschweige denn eine »Theologie des Entsetzens«880, 877 Grabner-Haider Anton / Strasser Peter, Hitlers mythische Religion, 137–198. 878 Ansprache von Benedikt XVI. im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. 879 Abraham J. Heschel hat das schlechte Gewissen als »[e]ines der kostbarsten Geschenke (bezeichnet), die die Menschheit von der Bibel empfangen hat.« (Heschel Abraham J., Tiefentheologie, 104). 880 Heschel Abraham Joshua, Der Mensch – ein heiliges Bild, 136.

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die ihre Fundamente neu legte, anstatt »die kompliziertesten Stützgerüste«881 um einen schwankenden Bau herum aufzustellen. Auf derselben Linie solch kirchlicher Schwachsichtigkeit und Verdrängung lag Joseph Ratzingers Rehabilitation von einigen Bischöfen der Bruderschaft Pius X. am 21. Jänner 2009, unter denen sich auch Richard Williamson befand, der die Schoa leugnet. Wiesel war entsetzt. »Damit habe Benedikt ›der vulgärsten Erscheinung des Antisemitismus‹ Glaubwürdigkeit verliehen«, sagte Elie Wiesel in einem Interview.882 Ihm war auch klar, dass eine solche Maßnahme kein Lapsus, sondern ein bewusst gesetzter Akt war, der die hohe Ambivalenz dieses Papstes in seiner Beziehung zum zeitgenössischen Judentum offenbart. Daher schloss Elie Wiesel auch »[e]ine unwissentliche Entscheidung des Papstes … aus: ›Oh nein! Die Kirche weiß, was sie tut, besonders auf der Ebene des Papstes, diesen Mann wieder aufzunehmen. Sie wissen, was sie tun, und sie taten es absichtlich. Ihre Absichten kenne ich aber nicht.‹«883 Dieses Beispiel des mittlerweile resignierten Papstes zeigt ganz offensichtlich eine dogmatisch erzeugte Gleichgültigkeit gegenüber dem Judentum und damit zugleich gegenüber dem Juden aus Nazareth, ohne den das Christentum niemals wirklich geworden wäre. So verdoppelt sich die Gleichgültigkeit, indem sie Wider-Spruch, d. h. überwindende Gegenrede gegen das Judentum ist, das angesichts des dogmatischen Christentums jedenfalls in einer nachchristlichen Form völlig bedeutungslos geworden ist, und zugleich zum Widerspruch gegen das eigene Fundament geworden ist, und das seit etwa 1700 Jahren dogmatisch manifest. Doch durch die Entwurzelung des Nazareners aus dem Judentum und seine semantische Transponierung in eine ganz andere Denkweise, Sprache und religionspolitische Welt verdeckt das Christentum bis heute diesen Selbstwiderspruch. Um ihn effektiv zu entfernen, brachte man die Verpflichtung auf absolut gültige Satzwahrheiten samt den dazugehörigen Verwerfungssätzen hervor, wie sie die christlogische Dogmatik ab dem 4. Jhdt. vorstellt – ein de facto und de mente vom Judentum gereinigtes Christentum, das auch nach der Schoa unverändert anhält. Das jedoch lässt eine Erschütterung bei all den Christen und Christinnen zurück, denen wie Wilhelm-Friedrich Marquardt die manifest gewordene Untragbarkeit christlicher Selbstdeutung aufgegangen ist, die nach 1945 »ungehemmter als zuvor« »ein geläufiges christliches Verständnis von Judentum

881 Werfel Franz, Stern der Ungeborenen, 295; Werfel lässt Saul zu F. W. in Bezug auf die Christenheit sprechen: »Ich will ihnen sagen, Doktur, was das Schlimmste ist: Der Selbstbetrug, der sich rechtfertigt, anstatt sich zu berichtigen. Jene bauen von Anfang an die kompliziertesten Stützgerüste um ihren Glauben, anstatt der Wahrheit wegen das Fundament neu zu legen.« 882 Nobelpreisträger greift Papst an. 883 Ebd.

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mit einer Sprache der Vernichtung assoziiert«884 und diese auch kirchenpolitisch setzt885. Die Bedrohlichkeit solch christlicher Haltungen und Aussagen ist nicht mehr zu beweisen, sie hat sich in der Geschichte gegen das Judentum von früh weg praktisch ausgelegt und in der rabbinischen Tradition auch ihren Reflex gefunden. Das zeigt sich an der Frage der Konversion zum Judentum. Die Redaktoren des Babylonischen Talmud fassten den Konsens der Rabbinen zusammen: »Wenn jemand in der Jetztzeit Proselyt werden will, so spreche man zu ihm: Was veranlaßt dich, Proselyt zu werden; weißt du denn nicht, daß die Jisraéliten in der Jetztzeit gequält, gestoßen, gedemütigt und gerupft werden und Leiden über sie kommen!? Wenn er sagt, er wisse dies, und sei dessen gar nicht würdig, so nehme man ihn sofort auf und mache ihn mit manchen der leichteren und manchen der strengeren Gebote bekannt.«886

884 Marquardt Friedrich-Wilhelm, Von Elend und Heimsuchung der Theologie, 96. 885 Der Vollständigkeit halber sei angeführt, dass die Frankfurter Rundschau in ihrem Artikel (S. S. 215) auch vermerkt, dass es kirchliche Gegenreaktionen nach dieser Rehabilitation gegeben hat: Der Regensburger Bischof habe daraufhin Williamson mit Hausverbot belegt – wobei sich doch die Frage erhebt, ob Williamson die Absicht hatte, je nach Regensburg zu kommen, und daher dieses Verbot eines war, das de facto nichts gefordert und nichts verändert hat. – Das Vatikanische Staatssekretariat veröffentlichte am 9. Februar 2009 eine Note zu den vier rehabilitierten Pius-Brüdern (Note des Staatssekretariats). Die Reihenfolge der drei angesprochenen Punkte ist interessant: 1. Aufhebung der Exkommunikation; 2. Tradition, Lehre und Zweites Vatikanisches Konzil; 3. Stellungnahme zur Schoa. Im dritten Punkt wird von Williamson eine eindeutige Distanzierung von seiner Position hinsichtlich der Schoa gefordert und betont, dass diese zum Zeitpunkt der Aufhebung der Exkommunikation dem Heiligen Vater nicht bekannt gewesen sei. Verwiesen wird auf eine Generalaudienz Benedikts XVI. am 28. Jänner 2009. Da aber erwähnt Benedikt Williamson mit keinem Wort, bezieht sich auch nicht auf diese Vorkommnisse und spricht in allgemeiner Art vom sog. Ersten Bund und davon, dass die Schoa Anlass sein soll, um über die unheimliche Macht des Bösen nachzudenken, damit man nicht vergisst und verleugnet (Benedict XVI, General Audience). Von Entschuldigung sprach er nicht, sondern deckte sich hinter Redewendungen, die bekannt sind, weithin akzeptiert und viel eher auf den 27. Jänner als den Tag der Befreiung von Auschwitz passen als auf Probleme rund um die Rehabilitation Williamsons. Dass Elie Wiesel diese Ereignisse provozierten, liegt wohl nicht nur an diesem isolierten kirchenpolitischen Akt und seinen direkten und indirekten Botschaften, sondern in der nachvollziehbaren Ambivalenz dieses Papstes, der sowohl in Bezug auf Juden wie in Bezug auf Muslime mehrmals die Form praktizierte, sie im Zeichen christlicher Vollendung zu degradieren – manchmal recht eindeutig, manchmal zweideutig – und hernach dann allgemeine Vermerke anzugeben, die beruhigen sollten, aber in der Sache nichts änderten, weil sie nichts zurücknahmen. Relativiert wurde nichts. Das verbot die Angst vor jeder Form des Relativismus, die diesen Papst festhielt. 886 bT Jabmuth 47a. Interessant sind die nicht unähnlichen Aussagen in der Benediktsregel zur Aufnahme von Brüdern (RB 58). Das deutet wohl nicht nur darauf hin, dass beide Texte wahrscheinlich in ähnlicher Zeit entstanden sind, sondern vielleicht auch darauf, dass Benedikts Herkunft etwas mit dem Judentum zu tun hat.

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Jüdische Existenz war weithin exponierte Existenz, selten geschützt, meist verdächtigt, oft verfolgt, ausgestoßen und getötet. Der Mann, der seit unzähligen Generationen den Untergang geschaut hat wie der Prophet Jeremia und in ihm alle, die mit seinen Augen sahen bis zu Stefan Zweig, Franz Werfel und eben auch Elie Wiesel – dieser Mann ist 1945 nicht nur Zeuge einer prekären Befreiung gewesen, die en passent passiert ist; denn die »Konzentrationslager gehörten in keinem Generalstab der Alliierten zu den festgelegten Kriegszielen. Es gab keine einzige Anweisung, in der ihre Befreiung vorrangiges Ziel gewesen wäre. Sie geschah nebenbei, sozusagen zufällig.«887 Er ist als Zeuge auch Bote einer Zukunft, die nicht nur für das Judentum, sondern für die Menschheit im Ganzen hoch gefährdet ist. Die Gefährdung offenbart sich in einer tiefen Angst Elie Wiesels, sein »Ich, der ich dabei war«, zu verlieren, indem er im Vergessen endet888 und auch die Menschheit ins Vergessen fällt. Wenn es keine Zeugen mehr gibt und auch die Zeugen der Zeugen aufgeben oder verschwinden, dann siegt das Vergessen und beginnt die Barbarei. Darum ist für Elie Wiesel das Schreiben ein Existenzial, von dem er nicht lassen wird. Er schreibt bis heute, seine beiden letzten Bücher aus den Jahren 2010 und 2012, The Hostage, das hier interpretiert wird, und Open Heart sind Zeugnis dafür. In ihnen regt sich sein »›Ani hagever‹, Ich, der dabei war« – als Forderung an die Zukunft der nachkommenden Generationen, Zeugen seines Zeugnisses der Finsternis, der Nacht und des gefährdeten Wiederbeginns zu werden.

2.

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Eliezer Wiesel ist das dritte von vier Kindern889 und der einzige Sohn seiner Eltern Shlomo und Sarah Wiesel. Geboren am 30. September 1928, umgaben ihn die Karpaten, die auch Aharon Appelfeld in seiner Kindheit sah, wenn er bei den Großeltern zu Besuch war, eine jüdische Gemeinde, die dreihundert Jahre Tradition in sich trug, und das Jiddisch als Muttersprache.890 Sighet und Auschwitz bilden in seinem Werk die beiden Brennpunkte891, aus denen das Feuer der 887 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 142. 888 Wiesel Elie, … und das Meer wird nicht voll, 599f. 889 Hilda und Bea waren die beiden älteren Schwestern, Zippuka die jüngere (Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 43). 890 Dakers Diane, Elie Wiesel, 15. 891 Boschki Reinhold, Zum Autor: Elie Wiesel im Spiegel seiner Autobiographien, 34. Den Titel dieses erhellenden Aufsatzes halte ich nicht für besonders treffend. Er insinuiert, dass Literatur direkte autobiografische Einheiten bringt, was bei Die Nacht zu begraben, Elischa aufgrund der literarischen Dichte, die dieser Roman hat, sich fast aufdrängen mag. Doch ein Vergleich mit Wiesels zweibändiger Autobiografie, die wiederum mit literarischen und reflexiven Motiven durchwirkt und insofern selbst auch eine literarische Komposition ist,

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Vernichtung ebenso schlug wie das Licht der Erinnerung. Sighet, das Stetl und seine jiddische Sprache, wurden zerstört und werden in Wiesels Erinnerung bezeugt. Das wieder verbindet Wiesel mit Abraham Sutzkever, der ebenso die zerstörte jiddische Welt weitertrug und in der Erinnerung gewandelt bewahrte. Sutzkever blieb dem Jiddisch verbunden bis in seine letzten Zeilen; er sprach nicht nur jiddisch, sondern dichtete ungebrochen in seiner Sprache und hielt diese Sprache hinein in die Jahrzehnte, in denen sie aus ihrem lebendigen osteuropäischen Boden längst schon entwurzelt war. Jiddisch zu dichten war die Sprachform seiner Erinnerung und seines Widerstands. In die Welt, die die Auslöschung des Jiddisch nicht einmal hinnahm, sondern schlicht übersah und übersehen wollte, sprach er diese Sprache hinein, solange er atmete. Elie Wiesel bewahrte das Jiddisch auf andere Weise, und zwar in seiner eigenen Intimität, die Sprache seiner publizistischen Öffentlichkeit wurde es nicht; diese war und ist das Französische. Als Literatursprache hatte Wiesel das Jiddisch nicht kultiviert, abgesehen von seinen allerersten Anfängen. Vielleicht war es ihm als Muttersprache zu nah, vielleicht war es ihm auch durch den Bruch der Schoa, die seiner Mutter und ihrer Sprache das Leben genommen hat, genau die Sprache, die er nur noch in der eigenen, fast geheimen Innerlichkeit seines Lebens gebrauchen wollte, so dass ihr öffentlicher Klang ihr Geheimnis verraten hätte. In diesem Geheimnis findet sich sein jüdisches Leben, denn in ihm ist er verbunden mit einer langen Tradition europäischen Judentums und mit dessen Leidensgeschichte und Auslöschung. Dieses Judentum ist seine religiöse Welt, das Jiddisch die Sprache dieser Welt und ihr Klang, ihre Stimmung, ihr Puls, ihre Seele. So braucht er »das Jiddisch, um zu lachen und zu weinen, um zu feiern und zu trauern. Und mich zu erinnern. Gibt es eine Sprache, die besser dazu geeignet wäre, die Vergangenheit mit ihren Schrecken zu beschwören? Ohne sie hätte die Literatur des Holocaust keine Seele. Vielleicht liegt das daran, daß diese Sprache in einer Tradition verwurzelt ist, die in ihrer Chronik das schwindelerregende Schicksal unseres Volkes trägt. Eines weiß ich jedenfalls: Wenn ich meine erste Erzählung nicht auf jiddisch geschrieben hätte, wären die folgenden Bücher stumm geblieben.«892

Einmal also publizierte Wiesel in Jiddisch. Diese erste Erzählung schrieb er im Jahr 1956: Un Di Velt Hot Geshvign893. Zehn Jahre zuvor hatte Abraham Sutzkever seine Erinnerungen an das Wilner Ghetto veröffentlicht. Das macht nochmals weist deutliche Differenzen auf, und das einfach deshalb, weil alles autobiografisch Geschöpfte, das in jeder Literatur zugegen ist – selbst bei Stefan Zweigs Im Schnee oder Franz Werfels Höret die Stimme – durch den Prozess der Literarisierung transformiert wird. Am Ende findet sich keine literarisch verbrämte Autobiografie, sondern Literatur, die, stets autobiografisch ausgelöst, so wie Musik eine Komposition geworden ist. 892 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 442. 893 Dakers Diane, Elie Wiesel, 69.

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deutlich, wie schwer der Abstand von Jahren zwischen zwei Menschen wie Abraham Sutzkever und Elie Wiesel wiegt und wie dieser Unterschied den Umgang mit dem eigenen Herkommen deutlich verändert. Sutzkever sprach Jiddisch als Erwachsener, übersetzte seine Muttersprache in die Sprache seiner Bildung und Poesie und verdoppelte damit ihren Gebrauch. Für Elie Wiesel blieb das Jiddisch die Sprache seiner Kindheit und frühen Jugend in Sighet und seines ersten literarischen Ausdrucks; danach aber war es wieder zurückgenommen. Jiddisch blieb die Sprache der verlorenen Kindheit, die Sprache des Heimwehs, wie Wiesel in seiner Autobiografie schreibt: »Ich habe immer noch Heimweh nach dem Jiddischen, heute vielleicht mehr denn je.«894 Und Sighet, aus dem er deportiert worden ist, und das Haus, in dem später neue Bewohner lebten, die seinen Namen nicht kannten, aber mit einer Ausnahme895 alles so belassen haben, wie es war – »Sighet läßt mich nicht los.«896 Seine traditionelle jüdische Erziehung und gute Bildung897 mündete im Jahr 1940 in die Bar Mizwa-Feier. »Ein neues Leben beginnt. Auf der Suche nach Gott vergesse ich seine Schöpfung. Der Satz stammt, glaube ich, von Renan. Den Griechen die Vernunft, den Römern die Macht, den Juden die Gottgefälligkeit. Ich suche Gott überall, lauere ihm überall auf, besonders an geheiligten Orten, als ob Er sich dort versteckte. Hatte Giordano Bruno recht, als er sagte, das Licht sei der Schatten Gottes? Ich suche Ihn, um Ihn stärker zu lieben, suche Ihn überall, um Seiner Gaben teilhaftig zu werden, um Sein Leben in unserem Exil zu 894 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 442. 895 »In unserem Haus wohnen jetzt Fremde. Sie haben meinen Namen nie gehört. Nichts wurde verändert. Es sind dieselben Möbel, derselbe Kachelofen, den mein Vater mit einem Darlehen gekauft hatte. Die Betten, die Tische, die Stühle, es sind unsere, sie stehen am alten Platz. (…) [E]ine Veränderung hatte es gegeben, die einzige. An der Wand über meinem Bett hing das Foto des alten Meisters, den ich so sehr bewunderte: Rabbi Israel von Wischnitz. Ich erinnere mich, daß ich es an seinem Todestag, am zweiten Tag im Monat Siwan, dort angebracht habe. Ich sehe noch, wie ich einen Nagel mit dem schweren Hammer einschlage und den Rahmen daran aufhänge. Während ich dies schreibe, wird mir plötzlich bewußt, daß meine Mutter, meine kleine Schwester und auch Großmutter Nissel am selben Tag acht Jahre später starben. Als ich das Bild des verstorbenen Rabbis an der Wand über meinem Bett befestige, standen mir Tränen in den Augen. Der Nagel ist noch immer da. Aber jetzt hängt ein großes Kreuz daran.« (ebd., 110f). – Ähnliches erzählt Aharon Appelfeld in seinem Roman Auf der Lichtung: Edmund, ein siebzehnjähriger jüdischer Partisan, träumte eines Nachts von der Rückkehr ins Elternhaus; er öffnete die Tür. »Vorsichtig ging ich weiter. Das Wohnzimmer hatte sich verändert. Statt der Zeichnungen des berühmten Malers Rosenberg hingen drei Ikonen an der Wand. Diese Überraschung ängstigte mich jedoch nicht. Die Möbel standen alle an ihrem Platz, sogar der Plattenspieler war da, wo er hingehörte. Auch im Schlafzimmer meiner Eltern hingen Ikonen, doch das Bett mit dem Überwurf und den Kissen sah aus wie immer. In meinem Zimmer gab es keine Ikonen, alles war, wie ich es zurückgelassen hatte, und neben dem Schreibtisch lag meine Schultasche.« (Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 251). 896 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 55. 897 Ebd., 42.

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teilen: Ich suche Ihn in den Gebetsräumen der Schneider und der Schuhmacher wie in der großen Synagoge der Reichen und in den Lehrhäusern der Armen.«898

Wiesel erinnert sich nicht zufällig an Giordano Bruno. Ähnlich wie in der chassidischen Bewegung, die mit ihrer Mystik die gesamte Wirklichkeit als ein Lebendiges durchdrang899, dachte auch der Dominikanermönch an eine Einheit von Welt, Gott und Mensch, die in steter Bewegung lebte, und war daher antimechanistisch eingestellt. Und ähnlich wie die Juden in Wiesels Tagen fiel Bruno der Denunziation zum Opfer, wurde verurteilt, durchlebte sieben Jahre der Haft und wurde am 17. Februar 1600 schließlich in Rom verbrannt.900 Wiesels Welt war also in diesen Tagen durchweht vom göttlichen Geheimnis und Glanz. Deren Tiefe und Abgrund offenbarte sie im Gebet, das der junge Mann nicht einfach betete, sondern das ihn manchmal geradezu ergriff. Davon hat Elie Wiesel in seinem Roman Die Nacht zu begraben, Elischa etwas erzählt: Eines Abends betet der junge Elischa in der Synagoge von Sighet. Der alte Küster Mosche »hatte mich eines Abends beobachtet, als ich in der Abenddämmerung betete. ›Warum weinst du beim Beten?‹ fragte er mich, als kenne er mich seit langem. ›Ich weiß nicht‹, erwiderte ich verstört. Die Frage war mir nie gekommen. Ich weinte, weil … weil etwas in mir weinen wollte. Ich konnte dazu nichts sagen. ›Warum betest du?‹ fragte er mich eine Weile später. ›Ich weiß nicht‹, antwortete ich noch verwirrter und befangener. ›Ich weiß es wirklich nicht.‹ Von diesem Tag an sah ich ihn häufig. Er versuchte mir eindringlich zu erklären, daß jede Frage eine Kraft besitzt, welche die Antwort nicht mehr enthält.«901

Diese Geschichte spielt im Roman vor der Deportation; doch das Kommende mit seinem Feuer und Menschen, die verrückt werden, mit der Ankunft in der Todeswelt und den Etappen der Entmenschung dort – dieses Kommende drückt schon auf die Szene und presst die jüdische Substanz des Betens heraus. In den Tränen, die Elischa in die Augen steigen, und in seinem Beten wird die innerlichste Verbindung zwischen dem jüdischen Menschen und dem Gott Israels offenbar, die der Küster zu deuten weiß, weil er in derselben Atmosphäre lebt. Tränen gehören nicht zum Wesen des jüdischen Menschen im Chassidismus, das vom Geheimnis umfasst ist, sondern zu seinem Leben und seinen Erfahrungen und können dann auch bei Gott gefunden und ausgesagt werden in Metaphern,

898 Ebd., 56. 899 Müller Ernst, Art. Chassidim, 1340. 900 Ulianich Boris, Art. Bruno, Giordano, 242–246; Feldmann Christian, Kämpfer – Träumer – Lebenskünstler, 81f. 901 Elie Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa, 18.

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in denen sich – nicht wesenhaft, sondern in actu902 – Gott und Mensch verbinden. »Vielleicht hat Gott mehr als zwei Tränen vergossen, als Er die Tragödie Seines Volkes in unserem Jahrhundert erblickte.«903 Das hat Elie Wiesel in seiner Autobiografie geschrieben und damit eine Verbindung der Tränen Gottes und der Tränen seiner Romangestalt Elischa über den Bruch der Schoa geschaffen. Eine andere Verbindung, über den gleichen Bruch gespannt, bildet die Frage mit ihrer Kraft, die größer als die Antwort sein wird. Den betenden Elischa zieht diese Kraft in einen heiligen Abgrund, den der Küster kennt. Unfassbar ist dieser Abgrund, in den der betende und fassungslose Mensch hineinstürzt, banal und falsch sind Antworten und Aussagen, die ihn ausdeuten wollten. In dieser Unfassbarkeit und Fassungslosigkeit verbinden sich die Erfahrungen des Elischa mit der geerbten Tragödie der Schoa. Vor allem die Schoa ist eine große, unfassbare Frage und ohne Antwort. Nach 1945 hat Elie Wiesel prinzipiell jede Antwort auf sie abgewiesen, selbst wenn Gott sie gäbe.904 So verdichtete Elie Wiesel in dieser kurzen Romansequenz seine religiöse Herkunft, die ihm eine gottdurchgeistete, geheimnishafte Welt schenkte, mit dem nahenden Untergang über zwei Motive seiner eigenen religiösen Erziehung und Tradition, die ihn auch später begleiten werden. Dreieinhalb Jahre nach seiner Bar Mizwa-Feier feierte die Gemeinde von Sighet Purim, das Freudenfest, an dem das Judentum seiner Rettung durch Esther gedenkt, der es gelungen war, eine für das persische Judentum tödliche Intrige durch den politischen Ehrgeizling Haman aufzulösen. Das ist also die Geschichte eines verhinderten lokalen Genozids. Genau an diesem Tag starben plötzlich alle Illusionen, die man sich in Sighet angesichts der Gerüchte machte, die langsam eingesickert waren. Man konnte sich nicht mehr täuschen: »Wie im Ersten Weltkrieg« war es nun gerade nicht mehr, es war Illusion zu glauben: »Das Volk Goethes und Schillers wird doch wohl nicht in die Barbarei zurückfallen!«905 Purim wurde zerrissen und zum Fluch, statt Freude befiel Elie Wiesel die hellsichtige Angst vor dem Kommenden. »19. März 1944: ›Verdammt sei dieser Tag‹, hätten Jeremia und Ijob gesagt. Warum hat es diesen Tags des Fluchs, der Strafe und der Trauer gegeben? Wer hat ihn erschaffen? Warum stand er unter einem Stern aus Asche? Von diesem Tag an wurde unser Leben von unseren Feinden bestimmt und von ihrem Lärmen, von ihren Flammen überschüttet. Um es in der biblischen Sprache auszudrücken: Am Abend werdet ihr auf die Wiederkunft der Sonne warten, am Morgen werdet ihr für die Rückkehr der Nacht

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Heschel Abraham Joshua, Der Mensch – ein heiliges Bild, 133. Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 158. Treitler Wolfgang, Mit Gott, gegen Gott, niemals ohne Gott, 219. Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 91.

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beten. Von diesem Tag an habe ich alles gesehen wie jemand, der weiß, daß er blind werden wird, ich habe alles in mich aufgenommen, damit ich es nie vergesse.«906

Elie Wiesel deutet einen ganz spezifischen Kontext der Tora an, die Drohung des Moses, des Mundes Gottes, in seiner literarisierten Testamentsrede vor Israel, dass die Folgen furchtbar sein werden, wenn Israel seinem Gott die Gefolgschaft verweigert. »So wie der Herr seine Freude daran hatte, euch Gutes zu tun und euch zahlreich zu machen, so wird der Herr seine Freude daran haben, euch auszutilgen und euch zu vernichten. Ihr werdet aus dem Land, in das du nun hineinziehst, um es in Besitz zu nehmen, herausgerissen werden. Der Herr wird dich unter alle Völker verstreuen, vom einen Ende der Erde bis zum anderen Ende der Erde. Dort musst du anderen Göttern dienen, die du und deine Väter vorher nicht einmal gekannt haben, Göttern aus Holz und Stein. Unter diesen Nationen wirst du keine Ruhe finden. Es wird keine Stelle geben, wohin du deinen Fuß setzen kannst. Der Herr wird dir dort das Herz erzittern, die Augen verlöschen und den Atem stocken lassen. Du wirst in Lebensgefahr schweben, bei Nacht und bei Tag erschrecken und deines Lebens nicht mehr sicher sein. Am Morgen wirst du sagen: Wenn es doch schon Abend wäre!, und am Abend: Wenn es doch schon Morgen wäre! – um dem Schrecken zu entfliehen, der dein Herz befällt, und dem Anblick, der sich deinen Augen bietet. Der Herr wird dich auf Schiffen nach Ägypten zurückbringen, auf einem Weg, von dem ich dir gesagt hatte: Du sollst ihn niemals wieder sehen. Dort werdet ihr euch deinen Feinden als Sklaven und Sklavinnen zum Verkauf anbieten, aber niemand wird euch kaufen.« (Dtn 28,63–68).

Die Erwartungen der jüdischen Gemeinde nach Purim, wie Elie Wiesel sie beschreibt, gleichen der biblischen Drohung. Fremdherrschaft und erzwungene Götzendienerei907, Ruhelosigkeit und die Unmöglichkeit, irgendwo noch eine freie Stelle finden zu können, Todesdrohung, Deportation, Zwangsarbeit und die Flucht vor der bleiernen Zeit: Zu Purim 1944 wurde das alles in Kraft gesetzt. Einen entscheidenden Unterschied allerdings kann man nicht übersehen: Während Dtn diese Drohungen mit einem göttlichen Gericht rahmt, findet sich im ganzen Werk Elie Wiesels kein solcher Zusammenhang. Wenn auch von einigen radikal orthodoxen jüdischen Denkern die Schoa als Gottesgericht gegen das assimilierte Judentum interpretiert worden ist908, so reicht eine solche Antwort für Elie Wiesel nirgendwohin. Sie ist falsch. Hier endet die biblische Bezugnahme – und zwar wegen eines entscheidenden Unterschieds: Die Worte des Moses sind zu lesen als eine Drohung, die sich an die Zukunft wenden – als Möglichkeit, vor der sich Israel hüten und durch Umkehr schützen soll909; Elie

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Ebd., 83. Ebd., 128. Thoma Clemens, Jüdische Versuche, Auschwitz zu deuten, 249–258. Das hat eine Beziehung zur biblischen Prophetie, die von der drohenden Zukunft warnt, um

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Wiesel setzt seine Referenz, indem er seine Vergangenheit erinnert und aus religiösen Gründen in diesem Zusammenhang die künftige Möglichkeit des Dtn nicht mit der geschehenen Faktizität der Schoa identifizieren kann. Denn dazu müsste er die Gedanken Gottes kennen, also selbst Gott sein910 – und das ist nichts anderes als die Beschreibung eines zentralen blasphemischen Aktes. Zwei Monate später. Wie Purim, so verkehrten die Invasoren auch den Schabbat. »Der schwarze Samstag kam im Mai. Ich habe oft erzählt, was an diesem Tag geschehen ist, und werde es wieder erzählen und niemals aufhören, die Erinnerung daran wach zu halten, in der Hoffnung, irgendeine verborgene Wahrheit darin zu finden, eine leise Hoffnung auf Errettung. Der Gang der Ereignisse beschleunigt sich. Indem der Feind uns seinen Rhythmus aufzwingt, wird er Herr über die Zeit. Und uns wird die Zeit selbst zum Feind. Zwei Stabsoffiziere von der Gestapo kommen nach Sighet – später sagte man uns, der eine sei Eichmann gewesen. Deshalb meine ich, ihn während seines Prozesses in Jerusalem wiederzuerkennen. Der Judenrat tritt zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Banges Warten auf die Rückkehr meines Vaters, der unterwegs ist, um Neuigkeiten zu erfahren. Die Nachbarn versammeln sich. Ein Gerücht verbreitet sich wie ein Lauffeuer: Die Juden sollen abtransportiert werden.«911

Der Schabbat wird zerstört, dieser »Palast der Zeit«912, wie Abraham J. Heschel schreibt, ein »Exodus aus Spannungen, die Befreiung des Menschen aus seiner eigenen Verwirklichung, die Einsetzung des Menschen zum Herrscher in der Welt der Zeit.«913 Einmal in der Woche rührt der Mensch in der Zeit an den Ewigen, der, wie die mystische Tradition des Judentums es deutet, den Schabbat als seinen Namen trägt.914 Genau an diesem Punkte setzten die Gegengötter an und entwanden dem Judentum sein Geheimnis des Schabbat, indem sie es im peitschenden Rhythmus der Hast und Hetze zerstießen. Was bleibt den Juden, wenn ihnen der Schabbat genommen wird? Wie immer religionsgeschichtliche Entscheidungen auch fallen – der Schabbat hat Israels Existenz über die Babylonische Zerstörung Jerusalems und die Deportation der Gebildeten ins Zweistromland hinaus erhalten915 und wurde für Israel, auch wenn der Prophet Ezechiel von einer großen Vision des wiedererrichteten Heiligtums als Bundeszeichen erzählt hatte (Ez 37,27), doch ein wenig zum Heiligtum selbst an den entlegenen Plätzen der Galuth: »Auch wenn ich sie weit weg unter die

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ihr zu entkommen durch Umkehr, aber auch das Verhängnis des zwangsläufigen Schicksals kennt (Marks Herbert, Der Geist Samuels, 104f und 119f). Wiesel Elie, Carry Forward One Page Of Memory, 22 und 45. Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 103. Heschel Abraham J., Der Schabbat, 11. Ebd., 26. Ebd., 19. Die Lehren des Judentums nach den Quellen III, 29–31.

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Völker geführt und in alle Länder zerstreut habe, so bin ich doch in den Ländern, wohin sie gekommen sind, beinahe zum Heiligtum für sie geworden.« (Ez 11,16; Herv. W. T.). Im hebräischen Text ist das Wort ‫ – מעט‬me‘at (beinahe, fast) dem Wort ‫ – מקדש‬miqdash (Heiligtum) nachgestellt; es ist also angefügt an die geschlossen lesbare Sequenz und keine Vorgabe. Das macht einen Unterschied gegenüber der eben zitierten, geläufigen Übersetzung: Ich bin für sie zum Heiligtum geworden, beinahe. Denn die durch diese Satzstellung gebildete Struktur hebt zwar das beinahe heraus, indem dieses abgesetzt ist, doch wird eben dieses Wort für den ohne es geschlossenen Satz zugleich eine nur periphere Einschränkung bedeuten. Das heißt also: Der Schabbat in der Galuth ist zwar nicht das gleiche wie das prächtige Tempelheiligtum in Jerusalem; doch die Exilierten hatten dieses in ihrer Erinnerung mitgenommen und fanden es im wiederkehrenden Schabbat. Und im Schabbat fanden sie zugleich ein Gesetz alles Geschaffenen, das diesem von Anfang an mitgegeben war – als geheiligtes Finale des Schaffens (Gen 2,2f), das den Schabbat nicht berührt, sondern an ihm ruht. Der Schabbat war es, der nicht nur Adam916, sondern Israel gerettet hat seit jeher. Und diesen Tag besetzt jetzt der Besatzer und zwingt ihm wohl am 13. Mai 1944 seinen Rhythmus auf. Damit wird es noch nicht enden. Im Roman Der fünfte Sohn hat Elie Wiesel auch von der Besetzung des höchsten jüdischen Feiertags erzählt, des Jom Kippur. Statt Versöhnung zu vollziehen und zu feiern, will ein SS-Mann seine Anerkennung als Gott erzwingen, indem er zweihundert Juden seine Anbetung abverlangt. Am Ende werden sie alle erschossen.917 Die SS-Maschinerie hatte neben den Täuschungen, die sie ausstreute, auch eine genaue Zeitkonzeption entwickelt, durch die sie den Juden ihre Zeit entwendete. Das hatte zwar auch pragmatische Gründe, denn an jüdischen Feiertagen waren die versammelten Juden leicht greifbar. Es hatte aber tiefere programmatische Gründe. Indem die Zeit der jüdischen Feiertage okkupiert wird, wird die Besetzung lückenlos und der jüdische Mensch aus seiner Zeit vertrieben. Ein jüdischer Mensch aber, der ohne seine Zeit lebt, ist zeitlos geworden und tot. In der Besetzung des Schabbat fiel der Auftakt der Vernichtung wie ein Schuss, der in all dem Maschinengeheul und Kommandogebrüll fast unhörbar blieb. Tags darauf der erste Transport aus dem ghettoisierten Sighet. Vier Tage später wird Elie Wiesel mit seinem Vater, seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Zipora aus Sighet in Viehwaggons abtransportiert, nachdem man sie aus den Häusern getrieben hatte. »Am Dienstag, den 16. Mai, sind wir an der Reihe. ›Juden raus!‹ brüllten die Gendarmen. Schon stehen wir auf der Straße. Die Hitzewelle liegt immer noch über der Stadt. Meine kleine Schwester ist durstig, Großmutter auch. Sie beklagen sich nicht. Aber ich jam916 Die Sagen der Juden, 88. 917 Wiesel Elie, Der fünfte Sohn, 128–130.

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mere, nicht laut, aber das ist egal. Ich fühle mich elend, ich bin krank. Ich leide und weiß nicht, woran. Unsagbare Traurigkeit überkommt mich. Wie in einem Sterbezimmer wage ich nicht, die Stimme zu erheben. Darauf lief also alles hinaus: meine Kindheit, meine Jugend, meine Gebete, meine Studien, meine Fasttage.«918

Die beiden älteren Schwestern Hilda und Bea919 trifft die Deportation nicht, sie befinden sich zu dieser Zeit bei einer alten Verwandten in den Bergen. An diesem Tag sieht Elie seine Schwester Zipora zum letzten Mal, das Bild brennt sich ihm ein. »Ich nehme die Bilder in mich auf. Ich sehe meine kleine Schwester mit dem Rucksack, der so voll und schwer ist. Ich betrachte sie, und eine unermeßliche Zärtlichkeit erfüllt mich. Niemals wird ihr melancholisches und unschuldiges Lächeln in meiner Seele erlöschen. Ihr Blick wird mich mein Leben lang aufwühlen. Ich möchte ihr helfen, aber sie wehrt ab. Niemals wird ihre Stimme in meinem Herzen verklingen. Die kleine Zippuka ist durstig. Ihre Lippen sind halb geöffnet. Auf ihrer blanken Stirn bilden sich Schweißperlen. Ich reiche ihr etwas Wasser. Lächelnd sagt sie: ›Ich halte es noch aus.‹ Meine kleine Schwester will tapfer sein. Hätte ich doch nur für sie in den Tod gehen können!«920

In den Bergen hatte sich auch für die vier Deportierten Zuflucht geboten. Maria, die im Haus der Familie mitlebte und alltägliche Arbeiten erledigte, war eine einfache Frau, »tapfer, mutig, treu, gläubig und immer mit ihrem Schicksal zufrieden.«921 Der Familie hatte sie angeboten, in einem kleinen Haus in den Bergen, das ihr gehörte, die Zeit zu überdauern; doch weil man den Ankündigungen glaubte, die Züge mit den Juden führen ins Landesinnere, blieb man; zudem wollte Elies Vater sich nicht von der jüdischen Gemeinde entfernen, die sich Tag für Tag beträchtlich dezimierte. Diese einfache Christin, ein »menschliche(s) Wunder«922, wuchs in ihrer moralischen Stärke gegen die vielen Großen und Einflussreichen auf, die schwiegen. Der Mann, der dabei war, hielt ihr Andenken hoch. »Gute Maria. Wenn andere Christen wie sie gehandelt hätten, wären die Züge ins Unbekannte nicht so überfüllt gewesen. Hätten Priester und Pastoren ihre Stimme erhoben, hätte der Vatikan sein Schweigen gebrochen, hätte der Feind nicht so feie Hand gehabt…«923

918 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 107. 919 wollheim memorial: Elie Wiesel (*1928). 920 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 108. Nach Zipora hat Elie Wiesel im Rahmen der Elie Wiesel Foundation for Humanity die beiden gemeinsam mit seiner Frau Marion begründeten Beit Zipora Centers in Israel genannt, die sich v. a. der Erziehung und Schulung äthiopischer Kinder verschrieben haben, Opfer des Krieges in Äthiopien (The Elie Wiesel Foundation for Humanity). 921 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 105. 922 Ebd., 105. 923 Ebd., 106.

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Elie Wiesels Konjunktive holen etwas Irreales heran, eine reine Möglichkeit, die zu setzen gewesen wäre, aber nichts in Wirklichkeit wurde. Hier enthüllt sich ein furchtbarer Sinn der scholastischen privatio boni924, die von Boethius’ These lebt, das Böse sei inexistent und die Bösen daher auch in Wahrheit ohnmächtig.925 Die Gewalt als »aktive Wirklichkeitsgestaltung«926 realisiert das Nichts der privatio als ihre eigene Voraussetzung, und zudem setzt die Gewalt die Unterworfenen diesem Nichts aus. Der Hunger im KZ ist nicht nichts, sondern jener horror vacui927, durch den von selbst die privatio boni entweder als gelehrte, aber wirklichkeitsferne logische Kontemplation von antiken und mittelalterlichen Denkern928 enttarnt wird, denen ihr Priester- oder Ordensamt die Not der Massen erspart hatte, oder als Versuch wie bei Boethius929, dem Terror durch philosophischen Trost zu entkommen. Und später wird Wiesel in seinem bisher letzten Roman Hostage das Nichts einer Kellerhaft930, in der Finsternis und Schweigen alles erfüllen, in seiner zerstörerischen Kraft entfalten: Die völlige Ohnmacht angesichts des Terrors fühlt das Opfer physisch, indem in diesem unterirdischen Gelass ihm der ätzende Geruch von Urin und Erbrochenem die Sinne vernebeln, und geistig, indem durch den Hunger und den chronischen Schlafentzug die Reste der Erinnerung an seine Familie, an seine Frau, an sich selbst verkommen.931 Davon wird später noch die Rede sein. Jedenfalls hat die Schoa die privatio boni, dieses Nichts des Bösen in einer christlichen Gottes- und Menschenkontemplation, so drastisch zu zerstörender Kraft und dem gebannten, realen Schrecken vor ihr verwandelt, dass von ihrer Gedankenverflüchtigung nichts mehr zurückblieb – außer der schale Geschmack einer von vielen christlichen Setzungen, die entwickelt wurden, weil die nicht biblisch, sondern griechisch-philosophisch gefügten Transformationen seines eigenes apokalyptischen Herkommens Fehlgänge erzeugt haben, die umso problematischer geworden sind, je mehr man an ihnen bis heute festhielt. Das schuf verdächtige Affirmationen, die der waltenden Negativität keine Hoffnungsgeschichte auf den biblischen Gott, sondern einen »antiken Siegermythos« ( Johann Baptist Metz) 932 entgegenhielten. Diese privatio erweckte in Elie Wiesel eine fast maßlose Angst. Der letzte Halt wurde beinahe zerstört, der Glauben an den biblischen Gott. An seine Stelle 924 925 926 927 928 929 930 931 932

Treitler Wolfgang, Erlösung durch Platon-Christus? 107f. Pozzi Lorenzo, Art. Boethius, 23. Hygen Johan B., Art. Böse, 9. Treitler Wolfgang, Erlösung durch Platon-Christus? 243. Anselm von Canterbury, Monologion, 10: Das Monologion beschrieb Anselm als ein Werk eines Menschen, »der still mit sich überlegend nach dem forscht, was er nicht weiß.« Hygen Johan B., Art. Böse, 18f. Wiesel Elie, The Hostage, 24. Ebd., 102f. Metz Johann Baptist, Mystik der offenen Augen, 159.

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setzten die SS-Leute die Gewaltanwendung, die den Körper traf und Gott vertreiben sollte. »Die Angst vor Schlägen ist größer als die Furcht vor himmlischer Strafe. Hier siegte der Feind: Die SS und nicht Gott regiert unsere Welt, ihr Schatten ist auf uns gefallen. Der SS-Mann will von seinem Opfer nicht als überlegener Mensch, sondern als Gott anerkannt werden. Er führt sich wie ein unantastbarer, allmächtiger Gott auf.«933

Diese Erfahrung blieb Wiesel gegenwärtig; die grammatische Gegenwart, die er hier verwendet, ist kein literarisches Stilmittel, sondern sprachlich adäquater Ausdruck dessen, was Jean Améry den character indelebilis des Gefolterten934 genannt hatte. Unverlierbar ist diese Angst, Kennmal des KZ-Häftlings. Und sie beherrscht Elie Wiesel auch, da der Vater im Jänner 1945 stirbt und er selbst sich wie ein Nichts fühlt, leer und tot, fühllos und ohne Tränen, gebannt durch Angst. »Mein Vater stöhnt, mein Vater windet sich vor Schmerzen, mein Vater stirbt, und ich bin bei ihm, doch nicht nahe genug. Mein Vater ruft nach mir, und ich bin nicht schnell genug an seiner Seite, um ihm die Hand zu halten. Was tun, um seine Schmerzen zu lindern? Was tun, damit er nicht so einsam ist? (…) Als mein Vater stirbt, bin ich sechszehn Jahre alt. Nachdem er gestorben ist, fühle ich keinen Schmerz mehr. Ich fühle überhaupt nichts mehr: In mir ist jemand gestorben, und dieser jemand bin ich. Ich habe nicht geweint. Mein Körper war ein einziges Schluchzen, doch ich hatte keine Tränen mehr. Ich habe mich aus meinem Leben zurückgezogen, und Tote weinen nicht. Es war nicht üblich, daß im Lager jemand weinte, als fürchtete man, nie mehr aufhören zu können. Freiheit würde für uns zuallererst bedeuten, weinen zu können.«935

Doch die Befreiung des KZ Buchenwald am 11. April 1945 brachte noch nicht diese Freiheit zurück. Für den knapp 17jährigen dauerte es noch Jahre, bis er die Tränen wieder fand und sich langsam ans Leben gewöhnte. Mehr als ein Jahrzehnt nach 1945 musste sich Elie Wiesel damit beschäftigen, wie er überhaupt noch weiterleben konnte. Als staatenlose displaced person kam er auf der Suche nach seiner Mutter und seiner Schwester nach Frankreich936, studierte dort unter anderem bei dem jüdischen Gelehrten Mordechai Schoschani937 (bei dem auch Emanuel Lévinas lernte938), und wurde Journalist, was ihn oft in Verbindung mit dem neuen Staat Israel brachte, den er immer wieder bereiste. In seiner Autobiografie erinnert er sich genau an die Stunde der Deklaration der Unabhängigkeit Israels, eine Stunde, die es unternahm, die Zeitverkehrungen der Nationalsozialisten aufzuheben und dem Schabbat sein Geheimnis und seine öffent933 934 935 936 937 938

Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 128. S. S. 156. Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 145f. Dakers Diane, Elie Wiesel, 61. Ebd., 63. Feldmann Christian, Elie Wiesel, 45.

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Elie Wiesel – »Ich, der ich dabei war«

liche Geltung wieder zu geben – und das fast auf den Jahrtag genau nach dem Einmarsch der SS in Sighet vier Jahre zuvor. »Der ersehnte Augenblick ist gekommen. An einem Freitag bricht die Morgenröte unserer Träume an. Wir schreiben den 14. Mai 1948. Alle Rundfunksender der Welt übertragen die Rede David Ben Gurions. Wenige Stunden vor Beginn des Sabbat, dessen Ruhe nicht verletzt werden soll, verliest er in einem Museum in Tel Aviv die Unabhängigkeitserklärung. Ich höre ihm zu, ich lese sie (ich werde sie immer wieder lesen) und kann die Tränen nicht zurückhalten. Wann habe ich das letzte Mal geweint? Mit einer inneren Sammlung, die fast schmerzlich ist, erwarte ich den schönsten, den strahlendsten Sabbat meines Lebens. Sabbat, du sollst nicht für Israel geopfert werden! Nein, heute will Israel sich dir zum Opfer bringen. Die Welt hält teils bewundernd, teils beunruhigt den Atem an: Wird das jüdische Volk jetzt, wo es seinen alten Traum verwirklicht, sein Gesicht verändern oder gar sein Schicksal umkehren? Von unsichtbaren Flügeln getragen eile ich bei Sonnenuntergang in die Synagoge, um die Königin Sabbat zu empfangen. Ich suche nicht das Gebet, sondern die lebendige Gemeinde.«939

Dass Israel lebt nach der Auslöschung in der Schoa, dass auch in der französischen Gemeinde an diesem Schabbat genügend Juden zusammenkommen, um den Schabbat zu begehen, und dass der Staat Israel zur Zukehr für Juden und Jüdinnen aus aller Welt geworden ist, stellt keine Wiedergutmachung für die Schoa dar. Wiesel lehnt diesen Zusammenhang ab, weil das eine »zu einfache, an Blasphemie grenzende Erklärung« wäre. »Das eine hat mit dem anderen nur die Menschen gemeinsam, die beides miterlebt haben.«940 An diesem Schabbat fühlte Wiesel die Einheit der Juden, und er wusste gleichzeitig um deren Fragilität. Angeregt durch einen zornigen Artikel von Azriel Carlebach über die Kämpfe nach der Unabhängigkeitserklärung, schrieb Elie Wiesel unter dem Pseudonym Ben Schlomo eine kleine tragische Geschichte, in der ein Soldat der Palmach (aus dieser 1941 begründeten Einheit geht das israelische Militär hervor941) einen Kämpfer des Irgun tötete (eine paramilitärische jüdische Kampfeinheit, die u. a. mit Anschlägen auf die Briten in der Mandatszeit agierte942): ein Bruder gegen einen Bruder, und unter ihnen Überlebende, die dem Tod entkommen waren und für die Unabhängigkeit Israels wieder ihr Leben einsetzten.943

939 940 941 942 943

Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 246. Ebd., 247. Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 232 und 242. Segev Tom, Die ersten Israelis, 329. In dem von Yad Vashem publizierten Dokumentationsband der Schoa findet sich eine Fotografie, die in einer Kampfpause einer Gruppe der zur Palmach gehörenden JiftachBrigade auch einen Mann zeigt, der an seinem Unterarm eine Auschwitznummer trägt. Etwa

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»Wenn ich darüber nachdenke, finde ich es schon merkwürdig, daß mein erster Text den Finger auf eine Wunde legt, die in der Geschichte meines Volkes immer wieder aufbrach und bis heute schmerzt. Ist es Zufall, daß Kain und Abel, das erste Brüderpaar, von dem in der Bibel die Rede ist, ein Mörder und sein Opfer sind? Und daß die Kinder unserer Patriarchen so miteinander in Streit gerieten? Es gibt keine Generation von Juden, die keine Spaltung erlebt hätte, es gibt kein Jahrhundert, das nicht durch einen jüdischen Glaubenskampf, durch Teilungen und Brüche gekennzeichnet war. Isaak gegen Ismael; Jakob gegen Esau; Juden gegen Israel, Pharisäer gegen Sadduzäer, Talmudisten gegen Chassidim, Bundisten gegen Zionisten und Kommunisten gegen alle … Wo ist da die jüdische Einheit und Solidarität, die in unserer Literatur so häufig gerühmt und von der Propaganda unserer Feinde so sehr geschmäht wird?«944

Als die systematische Judenvernichtung945 etwa ein Jahr vor ihrer technischen Perfektionierung im Todeslager Chelmno stand946, beschwor Franz Werfel im Dezember 1940 in New York die Einheit der Juden, deren Weg nicht zu Ende gehen dürfe. Denn »[w]ir Juden kämpfen heute (um) mehr als um den Bestand unserer Gemeinden in der Diaspora, um mehr als um das Aufbauwerk Palästinas, ja, um mehr als um unser Leben. Wir kämpfen den Gotteskampf um das Heil der Welt.«947 Dieses Kämpfen macht die Einheit des Judentums aus, die trotzdem fragil blieb und immer wieder zerrüttet wurde. Wo also ist die Einheit des Judentums zu finden? Sind es die Gegner und Feinde, die sie mit hervorbringen? Oder bildet die Einheit eine Sehnsucht, die sich erst finden wird, wenn die Erlösung kommen wird? Für Werfel lag die Einheit im Kampf um die Humanisierung der Welt im Namen des Gottes Israels; für Wiesel bildet genau dies den Kern des Judentums, der doch mit seinen Verwirklichungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft umstritten blieb. Wiesel trifft also auf eine an internen Konflikten reiche jüdische Geschichte, die bis in die Gegenwart anhält und auch bei ihm selbst zum Austrag kommt. Er, dem sich dieser Nachmittag vor dem Schabbat am 14. Mai 1948 im Gedächtnis

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die Hälfte der jungen israelischen Armee bildeten Schoa-Überlebende (Zeugnisse des Holocaust, 274f). Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 250. Emil L. Fackenheim hat die Nachfrage nach der tatsächlichen Umsetzung der sog. Endlösung in historischer Hinsicht den Historikern überlassen, jedoch festgehalten: »Hitler planned the Final Solution from the start, so that the whole process was ultimately the execution of but one man’s plan (…) Clearly, the genocidal impulse was in the ›movement‹ from the start, but it also took decisions on the road for it to be accelerated and intensified.« (Fackenheim Emil L., To Mend the World, 185). Die Endlösung war an nichts als ans Judesein gebunden, ihr konnte der jüdische Mensch nicht ausweichen; daher zielte die Schoa auch auf das definitive Ende des Judentums als eines solchen ab (ebd., 12). Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 228f und 233; Kershaw Ian, Hitler, 18 und 255f; Zeugnisse des Holocaust, 144–146. In Chelmno erprobte man, was in Sobibor, Auschwitz, Treblinka, Majdanek als technisierte Massenvernichtung durchgeführt wurde. Werfel Franz, Unser Weg geht weiter, 72.

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festgesetzt hat, verließ Anfang der 1960er Jahre Frankreich, ging aber nicht nach Israel, sondern in die USA. Den Eichmann-Prozess verfolgte er wohl in Israel mit; dort sah er den Angeklagten, der sich »unerschütterlich«948 Notizen machte, kam, wie bereits vermerkt, an vage Erinnerungen heran, ihn in Sighet gesehen zu haben, als der SS-Mann den Verlauf der Deportationen kontrolliert hatte, und traf mit Hannah Arendt zusammen, deren »Kälte in den Augen«949 ihn irritierte; und später begegnete er in Birkenau einem Mann aus Israel, es war ein stiller »Mann mit einem durchdringenden Blick aus meiner Gegend, der auch deportiert und später in Israel Polizeibeamter wurde. Wir sprachen zusammen das Kaddisch. Er war der Mann, der Eichmann hingerichtet hat.«950 Doch Israel zog Wiesel nicht so an, dass er schließlich dorthin einwandern wollte. Wird er einmal in Israel leben? Seine Antwort auf diese Frage im Jahr 2003: »No, no. I’ve been to Israel in 1949 as a war correspondent of all things, but to live there, no. It’s … I don’t know really why. Israel, you know, asks me this question, they are even angry with me: Why don’t you come to live with us? But I really don’t know why I don’t live there yet. I think if I went, I could find a position at some university there, too, but for some reason I am not ready for it yet. I don’t know…«951

1958 veröffentlichte Wiesel seine erste Erzählung über die Schoa, Die Nacht, die drei Jahre später den ersten Teil der Trilogie Die Nacht zu begraben, Elischa bildete. François Mauriac, ein bekannter französischer Schriftsteller, entschiedener Katholik952 und Literaturnobelpreisträger953, half mit seinen Kontakten 948 949 950 951 952

Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 542. Ebd., 543. Ebd., 545. Wiesel Elie, Carry Forward One Page Of Memory, 25f. Das trug von Anfang an Spannung in die Beziehung der beiden. Mauriac stand in der üblichen christlichen Tradition, wonach das Leiden Christi universal wäre und dadurch alle erlöst hätte, weil, wie Hans Urs von Balthasar schrieb, »der ganze Abgrund des menschlichen Nein wider Gottes Liebe durchlitten wurde.« (Balthasar Hans Urs von, Theologie der drei Tage, 133). Das kulminiere in einem »Plus an Tödlichkeit« (Hans Urs von Balthasar, zit. in: Treitler Wolfgang, Gotteswort im Menschenwort, 228). Solche Steigerungen entstammen einer Theologisierung, dominiert von superlativem Denken, durch dessen Logik reales Leiden verblasst. Elie Wiesel widerstand dem leidenschaftlich, gezeichnet von mehrmonatigem Leiden am Abgrund des Todes, den er unzählige Male selbst gesehen hatte in einer ganz entfremdenden Form (Wiesel Elie, Der Tod meines Vaters, 7). Da Mauriac auf jede Frage, die ihm Elie Wiesel damals im Zusammenhang mit seinen Erfahrungen und seiner Erzählung Nacht stellte, auf das Leiden Christi rekurrierte, konterte ihm der jungen Mann: »Mr. Mauriac, 10 years or so ago I saw children, hundres of Jewish children, who suffered more than Jesus did on the cross, and we do not speak about it.« (Elie Wiesel, zit. in: Dakers Diane, Elie Wiesel, 65). Elie Wiesel hat recht – theologisch gesprochen: Hier endet definitiv jede Kreuzestheologie der Überbietung. Angesichts der Schoa ist man auch als Christ gefordert zu erkennen, dass das Kreuzesleiden Jesu das Maß menschlichen Todesleidens weder erschöpft hat und noch auch dessen Sitze bildet. Es weigert sich alles, hier überhaupt Vergleiche anzustellen; doch da nun einmal dieser christologische Superlativ ins Denken

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Elie Wiesel, diese Geschichte zu veröffentlichen, die einen Prozess massiver Kürzungen hinter sich hatte, der sich zwischen Wiesels jiddischer Fassung und der französischen Version erstreckte954 und schließlich zur heute vorliegenden Fassung geronnen ist. Elie Wiesel beschreibt den Stil dieser Trilogie als einen »atemlosen und bewußt kargen Stil.«955 Dieser hat nicht nur damit zu tun, dass er die Form einer Geschichte ist, die keine Schnörkel, keine Schönheit, keinen Herrlichkeit mehr kennt, sondern adäquate Form ist für das Zusammenschrumpfen der Juden auf heulende Alarmsirenen956, Hunger957 und Schrecken958, Erschöpfung959, Frost960, Hinrichtungen961, tödliches Siechtum962 und eine unglaubliche Fassungslosigkeit angesichts Gottes963, und das in der Unterwelt des KZ ebenso wie an deren Ende im 60 Kilometer langen Todesmarsch, den Elie Wiesel noch mitmachen musste.964 Der Stil bringt aber auch die mitunter karg eindringlichen Formen biblischer Sprache zu Gehör, von der Aharon Appelfeld in einem seiner letzten Romane erzählt: »Die Worte der Geschichte (sc. Samuels) waren einfach, aber ihre Melodie war mir neu. Es war die Sprache dieser Berge, wortkarg und schnörkellos.«965 Elie Wiesels erste Erzählung ist die Erzählung eines jüdischen Literaten, geschlagen mit einer Erfahrung, die bis heute Schweigen aufzwingt966, aber auch eingebunden in eine viertausendjährige Tradition, die ihm das Maß der Worte gibt. Mit der Erzählung Die Nacht, die heute zu den bedeutendsten Büchern über die Schoa zählt967 und in dreißig Sprachen übersetzt wurde968, begann Elie Wie-

953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966 967 968

eingebracht wurde, ist ihm zu widerstehen – im Namen unzähliger Juden und Jüdinnen, die zur gleichen Gemeinschaft gehören wie der Mann aus Nazareth auch. Und darüber kann auch nicht vergessen werden, was Albert Friedlander geschrieben hat: »Moriah bedeutet Gnade für uns, sagt Elie Wiesel; Golgotha hingegen steht zu häufig für den Angriff gegen unser Volk mit Feuer und Schwert, wenn Christen die christliche Lehre von der Liebe verneinten.« (Friedlander Albert H., Biblische und talmudische Dimensionen bei Elie Wiesel, 201). Dakers Diane, Elie Wiesel, 5. Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 486; Dakers Diane, Elie Wiesel, 64–71. Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 493. Wiesel Elie, Die Nacht zu begraben, Elischa 71, 115. Ebd., 124. Ebd., 72. Ebd., 113. Ebd., 89, 96. Ebd., 76f. Ebd., 115 und 121. Ebd., 88. Dakers Diane, Elie Wiesel, 47. Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 81. Wiesel Elie, A Mad Desire to Dance, 20 und 224; Bergida Ruth, Die Sprache des Schweigens, 72–80. Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 282. Dakers Diane, Elie Wiesel, 12.

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sels literarisches Schreiben, und mit diesem vertiefte sich der Verdacht gegen Worte, »die ich nicht verwenden kann, weil ihre zweite Bedeutung lähmend auf mich wirkt. Wenn ich ›Konzentration‹ schreibe, ›Nacht und Nebel‹, ›Selektion‹ oder ›Transport‹, bleibt immer das Gefühl, ein Sakrileg begangen zu haben.«969 Das ist die Falle der Sprache: Sie rekapituliert Bedeutungsgehalte, die alltäglich vor allem im Deutschen auftauchen, durch deren Verweigerung jedoch sich der Literat selbst der entferntesten Komplizenschaft mit den Tätern entzieht. Elie Wiesel ist ein jüdischer Literat, der vor allem dem deutschen Sprachgebrauch heute eine dauerhafte Vorsicht einschreiben wird. Denn besonders in Redewendungen verbirgt sich die reale Drohung von gestern. In ihrer scheinbar anonymen und wertfreien Übermittlung, in ihrer angeblichen Normalisierung liegt ihre Gefahr. Das gilt der theologischen Sprache genauso. Wenn ich »Heil« schreibe, »Neuer und Ewiger Bund«, »Vollendung« oder »Gottmensch«, erhebt sich das religiös ganz entschiedene Gefühl, wiederum Juden zu verraten und von ihrem Untergang zu reden. In den USA lebte sich Elie Wiesel ab 1963 ein. Eine markante Erfahrung hatte er mit dem Land schon 1960 gemacht: An der Ecke 7th Avenue / 45th Street erlitt er einen schweren Unfall und brauchte längere Zeit Rollstuhl und Krücken.970 In den USA wurde er schließlich eingebürgert, während in Frankreich die Einbürgerung offensichtlich nur für reiche Menschen möglich war971; deshalb lehnte Wiesel sie im Jahr 1981 auch ab, als man ihm die französische Staatsbürgerschaft antrug.972 Mit dem amerikanischen Pass bekam Wiesel bürgerliche Rechte, auf die er nun erstmals in seinem Leben auch bestehen konnte. 1969 heiratete er seine Frau Marion, in Wien geboren, drei Jahre später geschah ein Wunder, das noch in den Turbulenzen seiner Figur Doriel Waldmann im 2006 veröffentlichten Roman A Mad Desire to Dance973 und in der Umkehrung eines Motivs der Geiselgeschichte des Shaltiel Feigenberg in Hostage974(2010) nachschwingt: Ein Kind wird ihnen geboren, Elisha. Diese Geburt gibt seinem Leben neue Kraft, so innerlich wie das Jiddisch es als Sprache der Erinnerung ist. »Gibt es eine tiefergehende, ernsthaftere, menschlichere Zärtlichkeit als die zwischen den Überlebenden und ihren Kindern? Was denkt ein Sohn, wenn er seinen Vater heimlich beim Beten beobachtet, wenn er die Leere erfaßt, in die er starrt? Was fühlt eine Tochter, die den Schmerz ihrer Mutter ermißt, der die Henker zwei ältere Kinder im

969 970 971 972 973 974

Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 493. Ebd., 445–453. Ebd., 456f. Ebd., 458. Wiesel Elie, A Mad Desire to Dance, 244ff. Wiesel Elie, The Hostage, 138 und 174.

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jüngsten Alter genommen haben? Ist man sich darüber im klaren, daß die Kinder an einem bestimmten Punkt die Eltern ihrer Eltern werden?«975

Damit hat Elie Wiesels Leben als Jude, geformt durch das Schma Israel, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Im Nachkommen verwirklicht sich das alles. Mit dem Nachkommen zieht er über die Katastrophe der Schoa hinaus. Diese Vertiefung seines Lebens gab er auch seinen Romanen mit: Neben den Alten mit ihren langen Erinnerungen und den Verrückten, die etwas manchmal geradezu prophetisch Hellsichtiges bieten, ist es das Kind, das in Wiesels Romanen das »menschliche Band«976 zwischen den Generationen erhält, selbst wenn es zu zerreißen droht. Hier kommen Abraham Sutzkever und Elie Wiesel zusammen, hier findet auch Franz Werfels Aufforderung des Jeremia zu hören ihre Mitte. Die mühsamen Resistenzen von Stefan Zweig, Franz Kafka und Jean Améry, jeder auf seine Weise gepeinigt und niedergeworfen, brachen zusammen, nachdem sich die jeweils eigene Zukunft erschöpft hatte. Ohne Kinder erschöpft sich die Gegenwart, verschwindet die Vergangenheit und reißt die Zukunft ab. Ins Jahr 1972 fällt auch Wiesels Ernennung zum Professor für Judaistik an der New York City University, seit 1978 ist er Professor in Boston an der Harvard University.977 In diesen Jahren schrieb Elie Wiesel nach und nach Bücher in verschiedenen Formen, Romane, Betrachtungen, kurze Geschichten, Reden. In ihnen umkreist er die Geheimnisse des Lebens: nicht nur die Finsternis von Auschwitz, wenngleich sie das Zentrum seiner Zeugenschaft ist, sondern immer wieder auch die religiösen Traditionen, die ihn berührt haben, und die Erbschaften, die beides, die Schoa und das Judentum, ihm übergeben haben. Unter den Erbschaften der Schoa finden sich Romane wie der im Umkreis des SechsTage-Kriegs geschriebene Roman Der Bettler von Jerusalem, in dem das Trauma des Bösen, in der jüdischen Tradition seit biblischen Tagen immer wieder bedacht und gewendet978, weitertreibt, der Krieg einen Menschen gespenstisch verwandelt979, aber auch Gegenwart und biblische Zeiten verbunden werden.980 Drei Jahre später kommen die Bettler von anderer Seite wieder vor: Im Buch Chassidismus – ein Fest für das Leben schreibt er gleich am Anfang, dass »die Bettler Fürsten und die Stummen Weise«981 sind, und porträtiert chassidische Gestalten, die Großen des Anfangs ebenso wie tragische Visionäre (Rabbi Israel 975 Wiesel Elie, … und das Meer wird nicht voll, 39. 976 Langer Lawrence L., Leichname im Spiegel, 99. 977 An der Universität befindet sich nun das Elie Wiesel Center for Judaic Studies (http://www. bu.edu/judaicstudies/; Abfrage 27. 11. 2013) und eine Zeitschrift, die mit ihm verbunden ist, Modern Judaism (http://muse.jhu.edu/journals/modern_judaism/; Abfrage 27. 11. 2013). 978 Oberhänsli-Widmer Gabrielle, Bilder vom Bösen im Judentum. 979 Wiesel Elie, Der Bettler von Jerusalem, 59. 980 Wiesel Elie, … und das Meer wird nicht voll, 28. 981 Wiesel Elie, Chassidismus, 9.

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von Rizˇin), Gleichniserzähler in Jiddisch (Rabbi Nachman) 982 und Rebellen (Rabbi Menachem-Mendel von Kozk). Am Beginn dieses Buchs stellte er in Art einer Widmung sich selbst in einen größeren familiären Zusammenhang: »Mein Vater, ein Aufgeklärter, glaubte an den Menschen. Mein Großvater, ein begeisterter Chassid, glaubte an Gott. Der eine lehrte mich sprechen, der andere singen. Beide liebten sie Geschichten. Oft, wenn ich selbst erzähle, höre ich ihre Stimmen. Ihr Flüstern ist nichts anderes als ihr Versuch, den Überlebenden zu bewegen, an ihre Erinnerung anzuknüpfen, über die Zeit der Qualen hinweg.«983

Portraits von großen biblischen Gestalten brachte Wiesel in den Büchern Adam oder das Geheimnis des Anfangs (1975) 984, Von Gott gepackt (1981) und Noah oder die Verwandlung der Angst (1991). Sein lebenslanges Talmudstudium spiegelt sich im Band Die Weisheit des Talmud (1992), seine Einkehr in die zerstörte Hochzeit des aschkenasischen Mittelalters im Buch Rashi (2009), in dem er auf diesen Gelehrten in der Zeit des ersten Kreuzzugs 1095–1099 trifft, also in der Zeit der Vernichtung jüdischer Gemeinden. In Mehr am Rhein lieferte das Stadtoberhaupt die Juden an die Kreuzritter aus. Und diese handelten nach ihrer christlichen Auffassung. »Threatened with ugly humiliation, torture, and death, so Jews let themselves be baptized. Others were slaughtered.« Und dann gab es Shmaya, der anderen Juden zur Flucht verhalf und denunziert wurde. »The holy man, in his last breath, refused to exchange what was great and eternal for what was not…«985 Das Kreuz war und ist Juden eben kein Erlösungssymbol, sondern »allzu oft das Erkennungsmerkmal ihrer Peiniger und Mörder.«986 (Christian Feldmann). Diese religiösen Schriften bilden das Gerüst Elie Wiesels und seinen Lebenskern, um den herum seine Romane gebaut sind wie Der Schwur von Kolvillág (1973), »die bedrückendste romanhafte Erzählung gegen das Vergessen«987, die ihn niedergedrückt hat, Der fünfte Sohn (1985), Der Vergessene (1989), The Time of the Uprooted (2003), A Mad Desire to Dance (2006) oder Hostage (2010), in denen Wiesel Fragmente der Nacht literarisch formt und weiterträgt988, damit 982 Ebd., 176. 983 Ebd., 6. 984 Dem Übersetzer ist ein schwerer Lapsus unterlaufen, als er das Portrait von Mose überschrieb: »Moses: Porträt eines Führers« (Wiesel Elie, Adam, 172). Als ich im April 2003 Elie Wiesel in Paris zu einem Gespräch traf und ihm von dieser Übersetzung erzählte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Oh, how insensitive…« 985 Wiesel Elie, Rashi, 83. 986 Feldmann Christian, Elie Wiesel, 142. 987 Wiesel Elie, … und das Meer wird nicht voll, 79. 988 A Mad Desire to Dance hat Wiesel seinen beiden Enkeln gewidmet; Doriel Waise, der Protagonist der Geschichte, war selbst nicht im KZ; seine Eltern haben Schoa überlebt und sind bei einem Autounfall gestorben. Als er sich daraufhin vertieft ins Judentum, erleichtert

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man nicht vergisst. Denn Vergessen bedroht die Humanität, doch »Erinnerung bringt die Erlösung näher.«989 Deshalb geriet Wiesel im Roman Der Vergessene auch in etwas Unlösbares hinein: Alles Gewesene und Erinnerte, alle Geschichten von gestern zersetzt die Alzheimererkrankung Elchanans, auch ihn selbst zerstört die Krankheit. Die Lösung? »Irgendwann erreicht man ein Alter, in dem man an bestimmten Worten mehr hängt als an anderen. Ich liebe jetzt das Wort ›Übertragung‹.«990 Das ist keine Lösung, Elchanan verschwindet in seinem Vergessen; doch er überträgt noch seinem geistigen Exitus seine Erinnerungen Malkiel, seinem Sohn. Erinnerungen werden übertragen, und so wird das Lebensgeheimnis Israels erhalten, das im Schma Israel offenbar wird: Du »sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.« (Dtn 6,7). Wenn der Geist der Zeugen Israels im Alter nachlässt, soll die Generation der zweiten, der sekundären Zeugen bereit sein. In der zeitlichen und literarischen Spanne zwischen religiösen Schriften und Romanen schrieb Elie Wiesel seine in deutscher Übersetzung fast 1300 Seiten umfassende Autobiografie, die von einem Satz Kohelets aus Koh 1,7 die Titel nahm: Alle Flüsse fließen ins Meer (1. Band, 1994) sowie … und das Meer wird nicht voll (2. Band, 1996). Der knapp 70jährige Mann erzählt von seinem Aufwachsen, seinen religiösen Traditionen, der Nacht der Schoa und den Anläufen, danach ein Leben führen zu können, das nicht von dieser Nacht erstickt wird; er erzählt von vielen Begegnungen mit religiösen Menschen, Lehrern, Politikern, Künstlern, von Freundschaften und Brüchen und immer wieder von einem unbeschreiblich tiefen Zusammengehörigkeitsgefühl mit seiner Familie vor ihm, mit ihm und nach ihm, mit den Großeltern und den Enkeln. Er denkt nach über religiöse Fragen, die ihm Zeit und Erfahrungen aufdrängten und selten Antworten finden ließen, sondern neue Fragen wurden.991 Und er erzählt auch von der Überraschung, die ihn im Umkreis der hohen jüdischen Feiertage im Herbst 1986 traf: die Mitteilung, dass er den Friedensnobelpreis des Jahres erhalten wird. Das intensivierte nochmals seine Verbindung zu den Toten, deren Leben mit

ihn das nicht, sondern verfinstert ihm alles, weil er mit Geschichten verbunden wird, die ihn verfolgen. Ein Psychiater versucht ihm zu helfen, damit die Bilder von gestern ihren Terror verlieren. »The fear of line-ups, the lump in one’s throat, resignation, terror, blows, death inside the barbed-wired fences – images, words found in the narratives of survivors. Thus, every now and then I smell the acrid, sickly sweet, repellent odor of burned flesh. And I feel nauseous. But when I think of the people’s jubilation on victory day, I feel like dancing in the street.« (Wiesel Elie, A Mad Desire to Dance, 11). 989 Wiesel Elie, … und das Meer wird nicht voll, 183. 990 Ebd., 587f. 991 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 158.

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seinem geradezu verkittet ist.992 Und so sprach er in Oslo im Rahmen seiner Rede von den Toten, die in ihm, in seiner Erinnerung wohnen. »Ich erinnere mich: Es geschah gestern oder vor Ewigkeiten. Ein junger jüdischer Knabe entdeckte das Königreich der Nacht. Ich erinnere mich an seine Bestürzung, ich erinnere mich an seine Angst. Es ging alles so schnell. Das Getto. Die Deportation. Der versiegelte Viehwaggon. Der Brandaltar, auf dem die Geschichte unseres Volkes und die Zukunft der Menschheit zum Opfer gebracht werden sollte. Ich erinnere mich: Der junge jüdische Knabe fragte seinen Vater: ›Kann das wahr sein? Dies ist doch das zwanzigste Jahrhundert, nicht das Mittelalter. Wer kann erlauben, daß solche Verbrechen begangen werden? Wie kann die Welt dazu schweigen? Und jetzt wendet sich der Junge mir zu: ›Sag mir‹, fragt er, ›was hast du mit deiner Zukunft angefangen? Was hast du aus deinem Leben gemacht?‹ Und ich erzähle ihm, daß ich es versucht habe. Daß ich versucht habe, die Erinnerung am Leben zu erhalten, daß ich versucht habe, die zu bekämpfen, die vergessen wollten. Denn wenn wir vergessen, sind wir schuldig, dann sind wir Komplizen. Und dann habe ich ihm erklärt, wie naiv wir waren. Daß die Welt sehr wohl Bescheid wußte und trotzdem schwieg. Und das ist der Grund, warum ich geschworen habe, nie zu schweigen, wann immer und wo auch immer menschliche Wesen leiden und Erniedrigung aushalten müssen. Wir müssen immer Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Schweigen ermutigt die Folterknechte, niemals den Gefolterten.«993

In dieser Rede komprimierte Wiesel seine vielen Leben – das Leben in Sighet, in Auschwitz-Birkenau994, das Leben der Toten, das Leben als Journalist in Frankreich, als Lehrer in den USA, das Leben als Zeuge und als Schriftsteller, das Leben als Gründer von humanitären Einrichtungen und Institutionen der Erinnerung, das Leben als Mann und als Vater, das Leben als Weltreisender, das Leben als Streiter und als Verletzter, das Leben unter der ewigen Frage, das Leben im Gebet und wie der Prophet Jeremia995 in der Rebellion gegen Gott, von dem er nie abgelassen hat. Und er benennt gleichzeitig auch die Aufgaben, die er aus seinen vielen Leben angenommen hat: Widerstand gegen die Gleichgültigkeit, die stets kollaboriert; Einsatz für die Kewana, für gesteigerte Aufmerksamkeit, ein jüdischer Einsatz, der gleichzeitig Einsatz eines jeden Menschen sein soll; Ringen um das Kind, das er war und das viele waren wie er, schutzlos dem Terror ausgesetzt und aus der Gesellschaft entfernt; und seine Auflehnung gegen die Verzweiflung, eine Auflehnung, die unmittelbar gegen das Vergessen und die Vergessenden rebelliert. Denn die Zeiten sind gefährlich geblieben und geben den Kindern eine

992 993 994 995

Wiesel Elie, … und das Meer wird nicht voll, 414. Wiesel Elie, Ein Schutzschild gegen den Krieg, 108f. Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 131–138. Wiesel Elie, Open Heart, 68; Wiesel Elie, Carry Forward One Page Of Memory, 21 und 44.

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drückende Erbschaft mit: »Anstatt absoluter Wahrheit haben wir absolute Waffen hervorgebracht.«996 Werden sie damit umgehen können? »Ich habe wenig Vertrauen in Erwachsene. Mehr denn je gilt: Unsere Kinder werden uns retten.«997 Als Elie Wiesel im späten Frühling 2011 in eine lebensbedrohende Krise geriet und akut am Herzen operiert werden musste, wurde im Verlauf seiner Erkrankung und der langsamen Genesung, die das bisherige Tempo seiner vielen Leben nicht mehr fortsetzen lässt, dieser Satz aus der Höhe seiner Tage zur Gewissheit des Rekonvaleszenten. Die Kinder werden die Erwachsenen retten, trotz allem Niedergang, den Wiesel in diesen Monaten erlitten hat. Und so schreibt er in Open Heart: »Illness may diminish me, but it will not destroy me. The body is not eternal, but the idea of the soul is. The brain will be buried, but memory will survive it. – Such is the miracle: A tale about despair becomes a tale against despair.«998

In der literarischen Verwandlung der Verzweiflung wird die Verzweiflung verneint – nicht so, als ob Verzweiflung am Ende doch nur eine Fiktion wäre, sondern anders: Elie Wiesel kommt über die Verzweiflung hinaus, indem er – wieder einmal – ihr begegnet und ihr widersteht. Damals, vor fast 70 Jahren, war er es als Jugendlicher, der die Erinnerung an die Nacht mitgenommen und all die kommenden Lebensjahre hindurch gehütet hat als Refugium der Toten; nun, da ihn auch ein Jahr nach seiner Herzoperation alles müde macht und er sich dennoch weigert aufzugeben999, nehmen ihn seine beiden Enkelkinder in die kommende Zeit mit. Er will noch die entscheidenden Übergänge dieser beiden Kinder miterleben, durch die sie zu selbstständigen Hütern jüdischer Geschichten und Erinnerungen werden. »My two grandchildren continue to be a constant source of strength and joy. As I watch them grow, I desperately want to keep my promise to my son, Elisha: to be present at Elijah’s bar mitzvah and perhaps even at Shira’s bat mitzvah. I have already been the beneficiary of so many miracles, which I know I owe to my ancestors. All I have achieved has been and continues to be dedicated to their murdered dreams – and hopes. I am definitely grateful to them. My life? I go on breathing from minute to minute, from prayer to prayer.«1000

Elie Wiesel war nicht allein, als er in Sighet zur Welt gekommen war; in einer jüdischen Familie war er aufgewachsen, umgeben von jüdischen Traditionen, die 996 Wiesel Elie, Unsere Kinder werden uns retten, 130. 997 Ebd., 131. 998 Wiesel Elie, Open Heart, 73. Diese Aussichten hat Wiesel unmittelbar an sein Bekenntnis angefügt, dass er als Jude an das Kommen des Messias glaubt; das Messianische wird die Welt nicht jüdisch, sondern menschlicher machen. 999 Ebd., 77: »Now, everything makes me tired. – But I refuse to give in. I have started to travel again in an effort to fulfill my commitments. I try not to cancel engagements, conferences, except if they entail long trips. I listen to Marion: no more impulsive promises.« 1000 Ebd., 79.

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sich ihm verwandelt haben und die er geformt hat. Damals war er das Kind, das die Geschichten und Geschicke der Eltern und Großeltern aufnahm, später weitertrug und so mit ihnen verbunden blieb. Jetzt ist er Großvater. Im Blick auf die Enkelkinder, die Funken messianischer Hoffnung tragen, bleibt er am Beten, und das Beten lebt bei ihm aus jüdischen Traditionen und aus Erinnerungen, die er vom Einschlag in Auschwitz her mitnehmen musste. Und in all dem ist Elie Wiesel eine herausragende Gestalt in der langen Kette des Schma Israel, das Generation um Generation die Erinnerung an Ägypten und an den Exodus wachhält, weitergibt und Horizonte über die Verzweiflung hinaus schafft.

3.

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Israels Weg geht weiter, von Generation zu Generation. Das weist über die Katastrophen hinaus. Tödlich ist deshalb jede Aktion gegen die jüdische Gemeinschaft, die sie aus dem großen Konnex der Zeit hinauswirft. Die Nationalsozialisten wussten und praktizierten das, indem sie gezielt den Zeitzusammenhang zerbrachen und die Juden nicht mehr in den Schabbat finden ließen. Wenn also der Schabbat zerstört wird, wird jüdisches Leben zeitlos. Zeitlos heißt: tot. Die Ruhe der Schöpfung wird aufgelöst, die Dauerjagd an ihre Stelle gesetzt – der Schöpfer wird abgesetzt durch die Herren, die der Zeit ihr Diktat eingeschlagen haben. Ungebrochen zieht ihr Takt voran, ohne die rettende Zäsur des Schabbat wird die Zeit gleichgültig, fassungslos und sinnleer. In ihr ist alles möglich und nichts mehr gültig, daher räumt der Tod alles ab, zuerst die, welche sich am Schabbat anhielten in den vielen Verbannungen und noch in den Konzentrationslagern einmal in der Woche in diesem »Palast der Zeit«1001 sich sammeln wollten, dann aber auch die, die ihrer eigenen rastlosen Raserei verfallen waren wie Süchtige. Der Kampf um den Schabbat, dieses zentrale Zeichen des Ewigen Bundes Gottes mit Israel, hat im Judentum immer wieder die Geister des Widerstands geweckt. Schon im Umkreis des niedergeschlagenen Bar Kochba-Aufstandes des 2. Jhdt. u. Z. starben Juden für die Heiligung des Schabbat.1002 Damals wie in Elie Wiesels Tagen der KZ-Unterwelt trug der Schabbat die Verheißung, die Zeit zu unterbrechen, den Werken und den Untaten in ihr Grenzen zu setzen – eine Gegenzeit zum chronischen Zeitdiktat, eine Zäsur des mörderischen Taktes. Denn der Schabbat nimmt durch seine dauerhafte Wiederkehr die Hoffnung der gegenwärtigen und künftigen Generationen auf, wie sie im Schma Israel sich ausdrückt: Noch die Kinder werden das Bekenntnis zum einzig-einen Gott 1001 Heschel Abraham J., Der Schabbat, 11. 1002 Lenzen Verena, Jüdisches Leben, 99.

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sprechen. Darum ist der Zerstörer des Schabbat ein Mörder und der Mörder eine Realisation Kains, von dem Elie Wiesel geschrieben hat, dass dessen Strafe darin bestand, dass er »verlernte, was der Sabbat ist.«1003 Genau das lag in seiner Untat, die ihn durch die Zeit trieb, Städte erbauen ließ Tag und Nacht und aus ihm einen Gigantomanen machte, in dem sich Mord und Schabbatverlust verketteten. Und was er schuf, dem zwang er seinen ruhelosen Rhythmus auf. Kain figuriert die hitzigen Mörder zu jeder Zeit, die Babylonischen Zwingherren, die griechischen Herrscher, die römischen Imperatoren, die Kreuzzügler, die Flagellanten, die Zaren der russischen Verfallszeit, die Technikerotiker im Umkreis des Ersten Weltkriegs, die Nationalsozialisten und die Terroristen der Gegenwart. Von Kain und seiner gefährlichen Unrast gezeichnet, bauen sie sich ihre Welt jenseits der Besinnung, die der Schabbat schenkt, und haben es deshalb darauf abgesehen, diesen Tag und sein Volk zu löschen. Das ist eine geschichtliche Konstante, die immer wieder das Judentum verwüstet hat und die antisemitischen Realdrohungen zu einer Geschichte zusammenfügt, die mit ihren Splittern in jeder Angst, Todesdrohung und Verzweiflung jüdischer Menschen von neuem aufleuchtet, so auch in der Geschichte Hostage, in der Elie Wiesel von einem weltgeschichtlich und politisch ganz unbedeutenden Geschichtenerzähler namens Shaltiel Feigenberg erzählt, einem Mann aus New York. Er kennt nur eine große Leidenschaft: »fantasy«1004 und die Worte, in die sie sich fassen lässt. Von dieser einzigen Fähigkeit lebt er1005 auch: »Words are my only possession«1006, sagt Shaltiel einmal Ahmed, einem der beiden Terroristen, die ihn im Jahr 1975, in einer Zeit massiver Terrorakte gegen Juden und Israelis1007, in einen Keller in Brooklyn1008 verschleppt haben. Dorthin wurde Shaltiel mit einem Auto gebracht. Das Stakkato der Entführung, ihren unheimlichen Takt, dessen Rhythmus die Terroristen so

1003 1004 1005 1006 1007

Wiesel Elie, Adam, 74. Wiesel Elie, Hostage, 21. Ebd., 37. Ebd., 159. Vier Daten zeigen das: 1972 wurde im Rahmen der Olympischen Sommerspiele in München ein Anschlag auf die israelischen Sportler verübt, der, von der Terrorgruppe »Schwarzer September« ausgeführt, elf Mitgliedern der israelischen Delegation im Zug einer Geiselnahme das Leben kostete – eine Aktion neben vielen anderen in diesem Jahr (Naor Mordecai, Eretz Israel, 422). – 1976 wird eine ELAL-Maschine entführt, in Entebbe, der Hauptstadt Ugandas, wo mit Idi Amin ein wahnsinniger Diktator regierte, kommt es zu seiner Befreiungsaktion durch eine israelische Einheit, die Yoni Netanyahu unterstand und bis heute einmalig ist: Sie kostete nur einem einzigen Menschen das Leben, dem Kopf dieser Einheit (Netanyahu Iddo, Yoni’s Last Battle). – 1987–1993 setzte die Erste Intifada Israel zu, ihren Höhepunkt erreicht sie 1993 nach dem Abkommen zwischen Israel und der PLO im September 1993 (Naor Mordecai, Eretz Israel, 554–556). – Sieben Jahre später setzte die zweite Intifada massiven Terror in Israel ein. 1008 Wiesel Elie, Hostage, 206f.

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vorgeben, wie die Nationalsozialisten es gestern taten, hat Elie Wiesel in den äußerst knappen Sätzen eines inneren Monologs Shaltiels literarisch erstehen lassen: »The buzzing in the ears. The taste of ash. The turmoil in my chest, the knot in my throat. The heartrending feelings and thoughts. Like before? In a different way, possibly worse. Before, over there, the danger threatened us all. Here it feels like I’m the only target.«1009

Dreißig Jahre nach dem Ende von Auschwitz wird Shaltiel in die Erinnerung daran hineingeworfen. Im Aschengeruch und im plötzlichem Gedanken: So wie früher? verbindet sich, was auch in Elie Wiesels Leben und Geschichtenerzählen immer beieinander geblieben ist. Und es vertieft sich – wenn das überhaupt noch möglich ist – durch etwas, das jüdische Existenz über die Grenze des Abgrunds treibt: durch die völlige Isolation, abgeschnitten von jedem anderen jüdischen Menschen. Ein Jude ganz allein kann nicht leben. Jüdisch zu sein, bedeutet gerade nicht, dem modernen und fallweise auch christlichen Experiment der isolierten Existenz zu folgen. Ein Jude kann nicht Jude sein ohne seine reale und vollziehbare Zugehörigkeit zu seiner Glaubensgemeinschaft, zu Israel, zu seiner Familie.1010 Letzte Reste davon gab es in den Ghettos, selbst noch in den Vernichtungslagern, auch wenn das nur noch als zusammengetriebene Gemeinschaft fühlbar war, die heute oder morgen vernichtet wird. Die Kidnapper Shaltiels sind zwei New Yorker Studenten, die sich als Revolutionäre für eine bessere Welt verstehen: der Italiener Luigi, der auf Angstverbreitung setzt, um seine Welt zu bauen1011, und mit Shaltiel im Lauf des Kidnappings immer länger spricht. Ihm ist der Krieg das Geschehen einer permanenten Revolution, die deshalb ihre eigene Gerechtigkeit haben muss, damit sie sich durchsetzen kann.1012 Der zweite ist der Araber Ahmed, ein verschlossener Mann, in seiner Intellektualität undurchsichtig; aus jedem seiner Sätze und Satzfetzen spricht einsilbige Gewaltrhetorik, in der er Shaltiel »a dirty Jew«1013 und »stupid moron«1014 nennt und die er häufig mit Prügeln bestärkt und beendet.1015 Diese beiden Terroristen treten erst langsam aus ihrer Anonymität hervor. Zum Terror gehört seine todernste Maskerade durch die Verhüllung des Gesichts des Terroristen oder die Verbindung der Augen der Geisel. So wird ein ganz bestimmtes, geplantes und durch Gewalt vollstrecktes Schicksal aufgeführt, 1009 1010 1011 1012 1013 1014 1015

Ebd., 6. Neusner Jacob, Ein Rabbi spricht mit Jesus, 54–75. Wiesel Elie, Hostage, 136. Ebd., 144f. Ebd., 149. Ebd., 175. Ebd., 89.

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gegen das keine Appellationsmöglichkeit besteht. Schicksal sperrt seit jeher ein. Man kann allenfalls etwas von seinen dunklen Wegen erahnen, vielleicht auch ein wenig erkennen; aber man bleibt gezwungen, es anzuerkennen. Wenn der waltende Zwang in alten religiösen Traditionen vielleicht noch etwas löchrig war, weil die Schicksalskräfte unterschiedlich eingeschätzt und gelebt wurden1016, und wenn er dann durch die historische Aufklärung und ihr Freiheitsdenken in den Hintergrund gedrängt wurde, so fand er bei Heidegger seine ontologische Fundierung in der Identifikation von geschichtlichem Dasein und Schicksal.1017 Dem Philosophen, der mit dieser Identifikation auch die Erscheinung des Führers legitimieren konnte, wurde das Schicksal zur großen Dominante von Existenz überhaupt und damit zur Suspendierung von Verantwortung, mochte er das auch wortreich bestritten haben. Heideggers Denken zog um den Menschen die lückenlose Schicksalsdeterminante, die ihm selbst half, über seine Führerhuldigung getrost hinwegzukommen und den Terror als schicksalsbedingt zu legitimieren, den der Führer ausgelöst hatte und der eben auch in den 1970er Jahren Israel traf. Terroristen agieren als absolutes Geschick. Wer leben und wer sterben wird, hängt allein an ihrer fatischen Vorsehung.1018 Das machen die Terroristen Luigi und Ahmed in einem ersten Gespräch mit Shaltiel deutlich, der eine Frage stellt, da er sich in einem ihm unbekannten Raum befindet: »›Where am I?‹ ›Far away,‹ said a singsong voice. ›Who are you?‹ ›Your fate,‹ said the same voice.«1019

Im Lauf der Zeit, die Shaltiel mit den verbundenen Augen überhaupt nicht mehr abschätzen kann, wird er sich selbst in seinem Kellergelass immer fremder, kommt sich immer schmutziger und schmieriger vor, umnebelt von Körper- und Fäkalgestank. Da kehrt durch den Terrorakt wieder, was in der KZ-Welt ebenso zugegen war: Selbstverachtung, Selbsthass des Opfers soll erzeugt werden, an dessen Ende der jüdische Mensch dem Vernichtungsurteil, das ihn als schmutziges, nicht mehr menschliches Wesen trifft, geradezu zuspricht, auf jeden Fall aber – und das war in diesem System wichtiger, weil der Jude mit seinen Einstellungen ohnedies bedeutungslos war – vor den Augen der Anderen diese Morde als Taten der Reinigung dastehen ließ, als Rassenhygiene in unmittelbarem Sinn. Es war dieser Zusammenhang, den Elie Wiesel in seiner Autobiografie

1016 1017 1018 1019

Ahn Gregor, Art. Schicksal I, 103. Schulz Heiko, Art. Schicksal IV, 118f. Wiesel Elie, Der fünfte Sohn, 130. Wiesel Elie, Hostage, 6.

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angesprochen und dem er gleichzeitig die Solidarität mit den entstellten Juden entgegengehalten hat. »Der Feind … hat sie in den Dreck gezogen und ihnen dann vorgeworfen, sie seien schmutzig. Er ließ sie hungern und machte sich dann über ihre Schwäche lustig. Er entstellte ihre Züge und verhöhnte sie dann für ihr Aussehen. Er quälte sie, bis sie vor Einsamkeit und Hunger krank wurden, und dann behandelte er sie wie verkommenes Gesindel, wie Geisteskranke. Für mich sind die Juden aus Sighet weder häßlich noch abstoßend. Entblößt, blutverschmiert, gebeugt, zermalmt und verstümmelt, verkörpern sie in meinen Augen die Würde Israels und die Ewigkeit Gottes, während in ihrem Feind – der zugleich der Feind jedes Menschen ist – das Allerniedrigste im Menschen Gestalt angenommen hat.«1020

Der Körper, den scharfe Dämpfe ätzen, verschmilzt mit dem Geist und macht ihn nieder. Das letzte Reservat, in dem der Geist sich hätte halten und auf Widerstand sinnen können, verschwindet in einer Ohnmacht, die der physischen Unkontrollierbarkeit einfachster Bedürfnisse entspricht und von ihr hervorgerufen wurde. »Worse than the physical suffering is the powerlessness in the face of humiliation. Still, it’s his body that’s subjecting him to humiliation. The penetrating stench of the urine and the vomit. He is like a child again, unable to control himself.«1021 Im entführten Shaltiel Feigenberg, der im Keller sitzt, geschlagen wird und einer leeren Zeit und drohenden Kommandosprache ausgesetzt ist, realisiert sich die Körperdeterminiertheit, die Jean Améry in der Tortur in Breendonk gefühlt hat. Wer den Körper eines Menschen schlägt, malträtiert auch seinen Geist unmittelbar. In Breendonk zersplitterten Amérys Schultergelenke; Transzendenz, anthropologisch oder gar theologisch, wurde durch dieses Krachen ausgelöscht. Darüber sah Améry nicht mehr hinaus. Seine Tortur war total, wie der Terror der SS total war. In ihm verkamen die Opfer ganz. In ihnen fand niemand von den Oppressoren einen Rest, mit dem sich Geschäfte machen ließen. Im nationalsozialistischen System war der jüdische Mensch ein ganz abstraktes Nichts. Man konnte darauf rechnen, dass sich niemand für sie finden und einsetzen werde. Wiesels Unverständnis darüber, dass von den Kriegsgegnern Deutschlands niemand der Schoa auch nur das Geringste entgegengehalten hat, machte die Perspektiven aller Juden so ausweglos und den Terror und die Folter so totalitär. Auf wen hätte Améry noch zählen können? Gewiss, er hatte wohl von den Aufständen im Warschauer Ghetto gehört, vielleicht auch etwas von anderen Aufständen wie denen in Wilna. Doch die dort kämpften, trieb die letzte humane Weigerung an, sich nicht wie Vieh einfach abschlachten zu lassen. Loyale Verbündete hatten sie nicht, allenfalls einen zeitweilig gemeinsamen Feind. Wie es 1020 Wiesel Elie, Alle Flüsse fließen ins Meer, 102f. 1021 Wiesel Elie, Hostage, 103.

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Juden erging, als dieser weggefallen war, zeigte sich bald im stalinistischen Russland. Dort gerieten Juden wieder unter den Terror eines Regimes. Auch dieses produzierte das im Nationalsozialismus schon wirksame Stereotyp des gefährlichen Juden, der kosmopolitisch sei, also internationale Verbindungen habe und deshalb das Staatsgebilde unterminiere. »Schwarze Jahre unter Stalin«1022 waren das, in denen Terrorwellen jüdische Gemeinschaften und Intellektuelle heimsuchten. Doch etwas Entscheidendes hatte sich gegenüber dem nationalsozialistischen Terror und Stalins Wüten geändert: Diesmal kannten Juden einen Fluchtpunkt, der zwar politisch nicht ganz gesichert war, aber allen Juden ein Heimkommen versprach: den Staat Israel.1023 Dieser Staat änderte die Lage aller jüdischen Menschen. Deshalb findet sich hier nun trotz allem auch der Unterschied zwischen Jean Amérys Tortur in Breendonk und den folgenden eineinhalb Jahren im Konzentrationslager einerseits und der Geiselnahme Shaltiels andererseits. Shaltiel war nicht nur nicht Zeuge der Schoa, deren Zeit seine Eltern getroffen hatte und die sie durch einen spielverliebten Mann des Systems überlebt hatten1024, sondern er war ein Jude, dessen Geiselnahme in die Zeit nach dem letzten großen und für Israels Existenz gefährlichen Krieg gefallen war. Israel stand fest. So wurde gegen Israel in diesen Jahren der Terror mobilisiert – vorwiegend mit der Begründung, die auch Luigi Shaltiel gegenüber vertritt, dass der Staat Israel auf der Verzweiflung der Palästinenser begründet sei.1025 Shaltiel fiel diesem Terror zum Opfer. Doch konnte dieser die allumfassende Totalität des nationalsozialistischen Terrors nicht mehr erreichen – dank des Staates Israel, auch wenn dieser nun zum Angriffspunkt des Terrors geworden war. Denn Israel zerbrach nicht, sondern blieb bestehen. Améry erlitt in Breendonk den Terror der Tortur ohne jede Hoffnungsperspektive. Shaltiel erleidet den Terror als ein Mann, der für den existierenden Staat in sehr undurchsichtiger Form verantwortlich gemacht wird. Das, was ihn stellig macht, bildet zugleich auch einen Hintergrund, der ihn anders in diese Demütigung geraten lässt. Er ist zwar wohl auch der, der zur Auslöschung bestimmt ist wie Jean Améry; doch mit Shaltiel steht es anders, weil Israel da ist und die Entführer mit ihm ein Geschäft machen wollen, ein politisches Geschäft, wie es mit jeder Erpressung im Zug von Geiselnahmen verbunden ist. Shaltiel ist ein Nichts, ein Nichts in den Augen seiner Entführer, aber ist kein absolutes Nichts, er ist etwas wert, weil es Israel gibt und damit die Feinde Israels dazu verdammt sind, ihrem Opfer einen Wert zumessen zu müssen. Diesen verwerten sie terro1022 1023 1024 1025

Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 246. Wiesel Elie, Hostage, 133. Ebd., 55f. Ebd., 134.

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ristisch: Gewalt, Tortur, Erpressung, Täuschung – das alles muss nun aufgeboten werden. Der Weg der unmittelbaren Liquidation ist zwar immer noch möglich und wurde auch vielfach geübt bei Anschlägen auf Bussen, Reisegruppen, Hotels, Hochzeitsfeiern, Botschaften; doch der Terror musste den dialektischen Wert seines Opfers entdecken, aufgedrungen durch die von ihm abgelehnte Existenz Israels. Das schafft für das Opfer doch noch eine Möglichkeit der Transzendenz, wie sie Améry nicht gekannt hatte. Daher sucht Shaltiel in den delirischen Zuständen, in denen er sich findet, seine Frau Blanca1026, die ihm Leben, jüdisches Leben, d. h. auch Nachkommen und Zukunft versprach. Shaltiel kann sich gegen die beiden Terroristen halten, weil er über Blanca mit einer sehr realen Gegenwart verbunden ist und mit der Zukunft. Politisch steht dafür Israel. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Jean Améry und Shaltiel Feigenberg liegt schließlich darin, dass der eine wirklich gelebt, der andere jedoch seinen Weg durch einen Roman gemacht hat. Doch dieser Unterschied ist gleichzeitig peripher. Denn in seiner Literatur erfindet Wiesel bewusst nichts1027, sondern schöpft aus der jüdischen Überlieferung und aus jüdischem Leben. Jede seiner Gestalten repräsentiert Wirklichkeit. Shaltiel Feigenberg ist, was die Rekapitulation und die Repräsentation jüdischer Wirklichkeit im 20. Jahrhundert betrifft, beinahe so real wie Jean Améry in seinen eigenen Schriften. In ihm spielgelt sich jüdisches Leben nach der Schoa in wiederkehrender Gefahr, Leben unter Terror, der so wahllos zugreift, wie es der Nationalsozialismus getan hat, jedoch nicht mehr so totalitär sein kann wie jener, eben weil es Israel gibt. Damit ist die Verzweiflung, wie sie Améry erfasst und beherrscht hatte, nicht mehr der absolut tödliche Meister über Shaltiel. Ihr ist Shaltiel nicht ganz waffenlos ausgeliefert, wenn auch in seiner Geschichte der Abgrund, der Auschwitz bleibt, immer wieder durchdringt. Diese Spannung zwischen Verzweiflung und dem Widerstand gegen sie soll anhand einiger Motive gezeigt werden. – Keller, Schach, Erinnerung. Im Keller verliert Shaltiel das Zeitmaß – eine jüdische Katastrophe, wie schon erwähnt. Die einzige Möglichkeit, der Annullierung von Zeit, Geschehen und Existenz zu trotzen, entdeckt Shaltiel darin, dass er in sich die Zeit findet, die Zeit als Erinnerung, die ähnlich dem, was Marcel Proust von der Erinnerung an Albertine erzählt hat1028, ein eigenes Zeitgefüge 1026 Ebd., 137. 1027 Treitler Wolfgang, Die Fragen der Toten, 129. 1028 Proust kannte am eigenen Leib die Folter und den modernen Terror nicht, aber er kannte die leere Einsamkeit, füllte sie langsam durch bewusste Erinnerungsakte auf und qualifizierte den physikalischen Zeitverlauf durch Erinnerungen und Erwartungen, die sich auf Albertine richteten; daraus wurde eine »Art von Seelenjahr, in dem die Stunden nicht durch die Stellung der Sonne bedingt wurden, sondern durch die Erwartung einer Begegnung mit ihr, in dem die Länge der Tage oder die Fortschritte der Temperatur gemessen wurden

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schafft, in dem der Chronos innerlich und beseelt wird. Das macht ihn frei, trotz der Haft, die ihm Bewegungsfreiheit und Kommunikationsfreiheit geraubt hat. Erinnerung hebt ihn über die triste Faktizität dieser endlosen Kellernacht hinaus: »In prison you cling to memory. It’s a form of freedom.«1029 In seiner Erinnerung findet er Zeit, die durch Menschen und Perioden jüdischer Überlieferung qualifiziert ist und seiner leeren, endlosen Zeit einen Rhythmus gibt. Er betet Psalmen, die seit Jahrtausenden Israels Gebet erhalten; er erinnert sich an das, was er gelernt hat, an die Bindung Isaaks auf Moriah und die Kommentare jüdischer Gelehrten dazu, an das große Werke Schulchan Aruch von Josef Karo, der damit dem Judentum einen »autoritativen Kodex«1030 gegeben hat; Shaltiel fallen Überlegungen von Moses Maimonides zum Problem der Geiselnahme ein und Miltons Roman Paradise Lost, Antigone und die ÄsopFabeln.1031 Und er erinnert sich an einen Jom Kippur in seiner Kindheit. Damals hatte er seinen Vater gefragt, ob Gott auch diejenigen ins Gericht ziehen werde, die so viele Juden eingesperrt und misshandelt haben. Sein Vater hatte gesagt, Gott ist die Quelle aller Wahrheit, und weiter: »His truth is the reward of good people and the punishment of the impious.«1032 In einer anderen Geschichte Wiesels war der Jom Kippur der Tag, an dem der SS-Offizier Richard Lander zweihundert Juden erschießen hatte lassen, weil sie ihm die Anbetung verweigert hatten.1033 Trotzdem: Über allem Terror steht Gott, die Quelle der Wahrheit. Scharf fällt der Kontrast aus, der zwischen Gott und Terror liegt, ein Hiatus, vom dem niemand auch nur das Geringste ahnt, wenn er Monotheismus und Gewalt zusammenschaut.1034

1029 1030 1031 1032 1033 1034

einzig an der Beschwingtheit meiner Hoffnungen, dem Fortschreiten unserer Freundschaft, der zunehmenden Verwandlung ihres Gesichts, den Reisen, die sie gemacht hatte, der Häufigkeit und dem Stile der Briefe, die sie mir geschickt, wenn sie fern von mir war, ihrem mehr oder weniger großen Eifer, mich bei der Rückkehr wiederzusehen.« (Proust Marcel, Die Entflohene, 100f) Was Proust als Möglichkeit rettender Erinnerung andeutet, um »der Asche der Jahreszeiten« (ebd., 100) – bei Proust dem verwehenden Rest der verstorbenen Albertine – das eigene Leben entgegenzusetzen, wird für Shaltiel der einzige Weg, um zu überleben. Wiesel Elie, Hostage, 154. Barnavi Eli, Universalgeschichte der Juden, 130. Wiesel Elie, Hostage, 84f. Ebd., 157. Wiesel Elie, Der fünfte Sohn, 130. Assmann Jan, Monotheismus und die Sprache der Gewalt; Thonhauser Johannes, Das Unbehagen am Monotheismus; Zenger Erich, Der Mosaische Monotheismus, 39–73. – In der Unmenge der Literatur zu diesem Fragenkreis fällt auf, dass v. a. christliche Theologie hier eine Chance sehen, die Trinität befriedend einzubringen. Sie aber bietet keinen Ausweg, der über den jüdischen Monotheismus hinauswiese, der keineswegs mit den Entfaltungslinien der Hebräischen Bibel schon abgeschlossen ist. Der Mangel dieser weitläufigen Diskussionen ist leicht erkannt, wenn man den monotheistischen Grundsatz, wie er schon im Dekalog vorliegt und etwa bei Deuterojesaja ( Jes 55,8f) oder Jeremia ( Jer

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Im zeitlichen Umkreis von Rosch ha-Schanah und Jom Kippur sammelt nicht nur Shaltiel seine jüdischen Gefährten aus so vielen Jahrhunderten und unterschiedlichen Richtungen in seinem Kellerloch; schon Jahre vor der Geiselnahme waren, wie es Wiesel mit der eingeflochtenen Geschichte um einen jüdischen Kommunisten namens Pavel erzählt hat, der im Umkreis Stalins gelebt und auch politisch agiert hatte, viele Juden in der russischen Synagoge in Davarowsk zusammengekommen, nahe und ferne, bedeutungsvolle und namenlose, und hatten in der Synagoge kaum Platz gefunden. »The crowd has filled the great synagogue on Arkhipova Street, suddenly too small and norrow to accomodate it. It is Rosh Hashana. For believers, it is the day when the Judge of peoples examines their behavior and dispenses His approval or disapproval from on high. Whose stature will be elevated and whose will be lowered? Who will live and who will die? Rosh Hashanah is devoted to meditation and prayer, on other words, to everything that belongs to the spiritual in human beings. But this crowd is not here for that reason. It is here to welcome Jews from a faraway, sunfilled country. For the first and only time, the official representative of the new state of Israel, Mrs. Golda Meirson (changed to Meir) has decided to come to the synagogue with her circle of advisers. She comes not as a practicing Jew, but simply because she is Jewish. She wants to meet her formerly invisible brothers and sisters.«1035

Golda Meir bringt Israel in die Synagoge, das Land und den Staat. Damit wird Shaltiels unterirdischer Raum zu einer beschädigten Synagoge der Erinnerung, in der Israels reale politische Existenz zentrale Bedeutung gewinnt. Weil es diesen Staat gibt, haben die Juden einen Halt gefunden, der es ihnen erlaubt, aus ihren Unterschlüpfen hervorzukommen und freier leben zu können. Das ist die eine Seite. Die andere Seite zeigt eine Dialektik, die das Judentum seit 1948 nicht verloren hat und auch die Grundlinie von Hostage kennzeichnet: Juden sind wieder angreifbarer geworden, anvisierbares Ziel von Terror, sie tragen Namen, sind öf23,23f) ganz ähnlich sich findet, bedenkt und entfaltet: Kein Mensch kann mit Gott gemeinsame Sache machen, selbst nicht über die Brücke des Wortes, weil kein Mensch Gott ist und menschliches Vernehmen auch eines göttlichen Wortes menschlich gebunden und gebrochen bleibt. Diese absolute Wesensdifferenz entscheidet über monotheistisch vollziehbare Gewaltnegationen; sie ist in der Tradition Israels bis heute klarer gehütet als in den beiden monotheistischen Folgereligionen. Und sie ist zugleich durch die Geschichte Israels auch klarer bezeugt. Wenigstens durch zwei Jahrtausende gehörte das Judentum als Religion nicht zu den Mächten, die vernichtende Gewalt gegen andere verübt haben. Und selbst wenn man, was richtig ist, darauf verweist, dass das Judentum in zwei Jahrtausenden bis vor kurzem gar nicht in der Lage gewesen war, solche Gewalt auszuüben, bestätigt das die genannte These. Und nochmals bestätigt sie sich durch den Blick auf das heutige Israel und seine Kriegsgeschichte. Jeder der Konflikte wurde entweder als Verteidigungskrieg oder als Präventivkrieg geführt – und keiner von ihnen wurde im Namen des Ewigen geführt oder ausgerufen. 1035 Wiesel Elie, Hostage, 199.

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fentlich zugegen, und ihre Geiselnahme zahlt sich aus. Prekärer Wert jüdischer Menschen, aber immerhin nicht mehr einfach Nichts. Und sie kommen zusammen, füllen ein Gebetshaus. In Shaltiels Keller formiert sich die Zehnzahl, der Minjan, der den Synagogengottesdienst erst möglich macht, in seinem Geist allein, kraft des Eingedenkens. Verflochten mit solchen Erinnerungen hat Wiesel Shaltiels Schachspiel. Schach spielt Shaltiel vor allem in der ersten Kellerhaft, in der zweiten erstickt es im Dreck. »He says to himself whereas in the first basement he used to pass the time by playing chess in his head, here, in the second one, he feels even dirtier and more diminished, virtually repudiated by life, and the only meager comfort is talking to the shadows.«1036 So ist auch das Schachspiel etwas, das allein in Shaltiels Geist abläuft, »he plays mental chess against an imaginary opponent.«1037 Und auch im Schachspiel sammelt sich reale Tradition, jedoch hoch dialektisch. Es zeigt die Kunst geistiger Planung und Voraussicht ebenso wie die Aufmerksamkeit für Täuschungen, die Fähigkeit, sich ganz in seinem Innern zu sammeln, ebenso wie die reale Erwartung von Sieg oder Niederlage. Vor allem zwingt es den Menschen, sich auf ein Brett mit vierundsechzig Quadraten zu reduzieren; alles um dieses Brett herum wird undeutlich und irreal. In dieser knappen Welt des Schachspiels ließ sich wie in der Erinnerung, die im Einzelnen lebt, ein rettender Zusammenhang finden, als bilde dieser eben eine ganze Welt. Erinnerung und Schach können einen isolierten Menschen vor dem völligen Absturz und Zusammenbruch schützen. So hat das Schachspiel einige jüdische Leben und Geschichten des 20. Jahrhunderts durchzogen und literarische Kunst mitgeformt. Stefan Zweig hatte in seiner Schachnovelle, die posthum 1943 erschien, eine ähnliche Situation völliger Isolation geschildert. Dr. B. schildert dem Ich-Erzähler von seiner Festnahme durch SS-Leute, noch bevor der Führer in Wien einmarschiert war. »Sie vermuten nun wahrscheinlich, daß ich Ihnen jetzt vom Konzentrationslager erzählen werde, in das doch all jene überführt wurden, die unserem alten Österreich die Treue gehalten, von den Erniedrigungen, Martern, Torturen, die ich dort erlitten. Aber nichts dergleichen geschah.«1038 Denn er hatte Geld, dadurch war er für die Nationalsozialisten eben etwas wert, und dieses Geld sollte aus ihm »herausgepresst« werden. So wurde Dr. B. mit anderen »unter scheinbarer Bevorzugung in ein Hotel, in das Hotel Metropole, das zugleich Hauptquartier der Gestapo war,

1036 Ebd., 24. 1037 Ebd., 37. 1038 Zweig Stefan, Schachnovelle, 54.

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überführt, wo jeder ein abgesondertes Zimmer erhielt.«1039 Isolationshaft also mit prächtiger Kulisse. »Man tat uns nichts – man stellte uns nur in das vollkommene Nichts, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts. Indem man uns jeden einzeln in ein völliges Vakuum sperrte, in ein Zimmer, das hermetisch von der Außenwelt abgeschlossen war, sollte, statt von außen durch Prügel und Kälte, jener Druck von innen erzeugt werden, der uns schließlich die Lippen aufsprengte.«1040

Vier Monate dieses Zustands1041 hinter sich, wird er zu einer Befragung geholt und entdeckt, da er zwei Stunden stehend gewartet hatte, in einem der hängenden Mäntel ein Buch.1042 Ihm gelingt es tatsächlich, dieses Buch mit sich zu nehmen. Doch der »erste Blick war eine Enttäuschung und sogar eine Art erbitterter Ärger: dieses mit so ungeheurer Gefahr erbeutete, mit so glühender Erwartung aufgesparte Buch war nichts anderes als ein Schachrepetitorium, eine Sammlung von hundertfünfzig Meisterpartien.«1043 Genau das aber rettete ihn. »Denn ich hatte mit einem Male eine Tätigkeit – eine sinnlose, eine zwecklose, wenn Sie wollen, aber doch eine, die das Nichts um mich zunichte machte, ich besaß mit den hundertfünfzig Turnierpartien eine wunderbare Waffe gegen die erdrückende Monotonie des Raumes und der Zeit.«1044 Und so strukturierte Dr. B. diese leere Zeit durch das Schachspiel, das er geistig in sich austrug, und gewann einen neuen Rhythmus. Die Ähnlichkeit zwischen Dr. B. und Shaltiel Feigenberg ist frappant – auch deshalb, weil Shaltiels Spiel gegen den Irrsinn solange möglich war, als er physisch noch halbwegs intakt blieb. Im geistigen Widerstand dagegen, psychisch durch das Nichts zugrunde gerichtet zu werden, erhebt sich der isolierte Mensch gegen seine Oppressoren zumindest eine gewisse Zeit lang. Beiden, Dr. B. und Shaltiel Feigenberg, hängt keine Fiktion im Sinn des Irrealen an; beide, Stefan Zweig und Elie Wiesel, so unterschiedlich sie gelebt und gelitten haben, kennen die verderbende Kraft des Nichts aus eigenen Widerfahrnissen ganz genau. Diese Kraft des Nichts, die Kraft der privatio, ist nicht leer, sie ist erdrückend. Sie kannte Franz Kafka in seiner unerfüllten, leeren Obdachlosigkeit ebenso wie Franz Werfel angesichts des zerstörten Jerusalem, Jean Améry in der Hilflosigkeit des Gefolterten ebenso wie Abraham Sutzkever im abgeriegelten Ghetto oder Aharon Appelfeld, der im Roman The Conversion von der tödlichen Fremdheit

1039 1040 1041 1042 1043 1044

Ebd., 55. Ebd., 56. Ebd., 62f. Ebd., 67f. Ebd., 71. Ebd., 74.

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und gesellschaftlichen Isolation jüdischer Menschen erzählte, selbst wenn sie zum Christentum übertraten1045, und auch davon, wie diese Fremdheit auf christliche Menschen wie Katerina abfärbte, die Jahre in einem jüdischen Haushalt verbrachten, »a kind of secret affinity«1046 entwickelten und die damit verbundene radikale Ausgrenzung erfuhren. Die gefährliche Kraft der privatio erfahren zu haben, hat sich tief in die jüdische Geschichte eingetragen und bricht eben auch bei Shaltiel auf, und zwar in einer zusätzliche Form, die ihn jetzt, in diesen Momenten des Schachspiels, in einen furchtbaren Generationenzusammenhang mit seinem Vater stellt. Denn das Schachspiel hat nicht nur ihm hinweggeholfen über die ersten Phasen der Isolation, um sie zu ertragen und nicht wahnsinnig zu werden; in der Kellerisolation entfaltet sich eine ganz bestimmte Erinnerung an seinen Vater. Auch seinen Vater hat das Schachspiel gerettet in den Tagen der Schoa. Vor mehr als drei Jahrzehnten hatte Friedrich Waldensohn, ein Graf, in der Nähe der jüdischen Siedlung von Dawarowsk Wohnung genommen. Eines Tages holte er die Familie Feigenberg ab – nicht jedoch zur Vernichtung. Waldensohn suchte einen Schachspieler und hatte ihn mit Shaltiels Vater Haskel gefunden. Er versprach, die Familie zu schützen, und stieg dadurch zum »benefactor«1047 der Familie auf. Doch so wie der Familie Feigenberg erging es den anderen Juden nicht. Haskel ahnte das zwar, doch was die Ghettoisierung und die Vernichtung der dort lebenden Juden betraf, so wurde er vom Grafen schamlos1048 belogen. Ein bohrender Verdacht erhob sich: »He was such a good liar. Was it because everything was like chess to him?«1049 Schach lebt von bewussten Täuschungen, die die Kontrahenten sich nicht anmerken lassen. Damit jedoch zeigt sich am Schachspiel in ganz unvermuteter Weise die Differenz von Opfer und Täter. Dem Täter bleibt es ein Spiel, wie immer es läuft. Das Opfer spielt um sein Leben, todernst ist das Spiel für das Opfer. An ihm hängt jede kommenden Minute, an ihm hängt das Überleben. Shaltiel erinnert sich: »We were saved. – We were the only survivors.«1050 Auch Shaltiel selbst spielt geistig Schach, um im Keller nicht Opfer des Irrsinns zu werden – ein Spiel auf Leben und Tod. Erinnernd entdeckt er jedoch nicht nur die Gleichheit des Spielmotivs, sondern auch die Ähnlichkeit der Lokalität: Die Familie Feigenberg hauste in einem Keller, nur zum Spiel holte Waldensohn den Vater in sein eigenes Haus.

1045 1046 1047 1048 1049 1050

Treitler Wolfgang, Vom Geheimnis des Judeseins, 114–122. Appelfeld Aharon, The Conversion, 76. Wiesel Elie, Hostage, 59. Ebd., 56. Ebd., 65. Ebd., 56.

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»The count housed us in the basement of a building next to his, which he owned. No one would have dared to enter without permission, or without being accompanied by the owner or his servant, Dorothea. (…) Once or twice a week, in the evening, he came downstairs to check that everything was in order. Then he would bring me to his house and into his study, where we would play our chess games that sometimes lasted for several sittings. Sometimes he won. Often I let myself be beaten because, in spite of his warnings, something told me that it was better not to have to many victories. And life continued.«1051

Doch dann rückte die Rote Armee näher und zwang Waldensohn zur Flucht; auch Haskel floh in eine Winternacht hinaus – und wieder wird man an Stefan Zweig und seine frühe Erzählung Im Schnee erinnert, wenn Elie Wiesel Shaltiels Erinnerungen an seinen Vater erzählt: »Machine guns shoot into the night and its ghosts. Snow is a cemetery. Haskel passes out. But he doesn’t die.«1052 Bei einem Bombenangriff der Roten Armee suchte Haskel Zuflucht in einem Punker. Aus Dawarowsk strömten alle Bewohner dorthin. Haskel erzählt in Shaltiels Erinnerung: »The sensation was strange: I was the only young descendant of Abraham, Isaac and Jacob, the last disciple of Moses and Rabbi Akiba, in a dark, condemned world, about to reawaken on the ruins of its memory and hope.«1053 Und er sprach als Letzter der Nachkommen der Väter die Sprache der Vernichteten, Jiddisch, »the language that had almost been silenced forever by Hitler’s madness.«1054 Als schließlich die Russen, die Haskel entdeckt und seine KZ-Nummer1055 gesehen hatten, mit ihm in das Haus Waldensohn kamen, trafen sie dort nur Dorothea an, seine Haushälterin. Der Graf hatte sich im Keller versteckt, von dort holte man ihn herauf. Vor den Russen verteidigte er sich mit Worten, die in allen Prozessen nach 1945 und in Selbstentschuldigungen bis in die Gegenwart von den NS- und SS- und SA-Leuten zu hören waren: Er habe nur seine Pflicht getan. Bevor er der russischen Militärbehörde übergeben wurde, sagte man Haskel, es liege an ihm, Zeugnis für Waldensohn zu geben. Waldensohn wandte sich mit einem kalten, stechenden Blick Haskel zu und erinnert ihn an ein Wort, das er zu ihm gesprochen hatte, bevor er sich abgesetzt hatte: »No doubt you’ll be questioned about me. Remember the fact that you’re still alive and more or less free. You owe it to me.«1056 Da hatte Haskel noch nicht widersprochen. Jetzt aber, da es ums Zeugnis geht, schweigt Haskel nicht mehr, als der Graf ihn mit dem Namen seines Sohnes anredet: 1051 1052 1053 1054 1055 1056

Ebd., 57. Ebd., 95. Ebd., 67. Ebd., 97. Ebd., 78. Ebd., 66.

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»›Shaltiel, do you remember what I said to you when we separated? I told you to remember that you owed me your life, do you remember?‹ ›Yes, I remember. And I replied that I owed my life to chess.‹ ›But you played it with me!‹ ›No. Not with you, with Death.‹«1057

Es war ein Spiel auf Leben und Tod. Solange es anhielt, lebte Haskel weiter. Was Ingmar Bergman 1957 in seinem Film Das siebente Siegel im Umkreis von Kreuzzug und Flagellanten dramatisch ausgebaut hat, als er das Schachspiel als Spiel zwischen Leben und Tod inszenierte, das der Tod gegen einen Ritter spielt, hat in Wiesels Roman beinah die Zeiten überdauert – mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Spiel auf Leben und Tod in Das siebente Siegel zwischen zwei Männern gespielt wird, von denen jeder für sich steht, dasselbe Spiel aber zwischen Waldensohn und Haskel ein Spiel war, in dessen Hintergrund der Massenmord vollstreckt wurde. Beide Male ist der Tod ein verkleideter Mann, in Bergmans Film ein kahlköpfiger Schwarzgekleideter, in Wiesels Roman ein NSUniformierter. Als Uniformierter ist er die Inkarnation des Massenmordes, als Uniformierter ist er das Gegenteil des Einzelnen, als Uniformierter ist er die Massengestalt des Massenmordes, der etwas Unteilbares, in seiner Gewalt und Durchführung Unvergleichliches war.1058 – Terror und Schoa. Dass die Schoa etwas Maßloses und Unvergleichliches war, weiß auch Shaltiel in seiner Erinnerung im Keller. Und doch erkennt er zwischen dem Terror, dem er ausgeliefert ist, und der Schoa eine Ähnlichkeit, die sich ganz unvermutet einstellt, als Luigi länger mit ihm spricht. Denn da blitzt plötzlich eine Art Verlängerung der Schoa auf, als Shaltiel versucht, Luigis terroristische Grundsätze zusammenzufassen: »›In other words, if I understand you correctly, sir, you’d like to see all of us vanish from the face of the earth and then you’d show us respect, affection and gratitude. That’s the meaning of your remarks and your conclusion? Well, you should know that others before you have tried to exclude us, diminish us and wipe us out using this method. The most recent such person was Adolf Hitler.‹ ›That was then, this is now,‹ said the Italian, eliding the argument. ›The man who now holds your fate in his hand is a Muslim. And I believe in the benefits of the Revolution.‹«1059

Diese Entsprechung zwischen der Schoa und dem Terror, die sich hier in ihrer Aufteilung auf zwei Personen andeutet, zieht Wiesel jedoch nicht weiter, sondern er lässt sie offen. Denn sie ist (noch) nicht ausgemacht. Dem widerstreitet sowohl die Singularität der Schoa wie das Faktum des Bestandes Israels als eines Staates, 1057 Ebd., 82. 1058 Ebd., 47. 1059 Ebd., 147.

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der zwar auf Landkarten, wie sie in wenigen Ländern und in einigen Bildungsorganisationen des Mittleren Osten im Unterricht verwendet werden, bis heute nicht vorkommt, aber eine politische Realität ist. Doch eine andere Linie wird gezogen, die eine Nähe zwischen diesem Terrorakt und der Schoa zeigt – als wäre Luigi in die Schule der Massenmörder gegangen. Es ist das die Ähnlichkeit in der blanken Lust der Auslöschung derer, die man für die Misslichkeiten verantwortlich macht, auf die man trifft – ein altes antisemitisches Prinzip. Ahmed hält die Juden für die Unterdrücker der Araber und für ein Volk, das durch seine Geschichte allen anderen Völkern Schuldkomplexe aufdrängt.1060 Er bindet Shaltiel in seine Ideologie ein und sagt ihm: »›Whether you admit it or not, from the fact of being Jewish, you’ve got Muslim blood in your hands,‹ he says to his prisoner. ›What the Jews are doing at home, they’re doing in your name too.‹ ›No, no, no!‹ protests Shaltiel, who has not yet understood the meaning of this accusation. ›I’am Jewish, but I’ve never humiliated anyone. I’ve never committed a crime! You’ve made a mistake about me. I’m not the person you’re looking for. I’m not your enemy! I’m against all humiliation, all persecution; I’m opposed to violence in every form, for violence includes violation. The Jew that I am, the storyteller I am, repudiates it with all my heart and soul.‹ Ahmed isn’t listening to him (…) His role is not to listen but to be listened to.«1061

Terror ist taub, der Antipode der Kewana, das Gegenstück des Schma Israel und seiner Generationen. Wenn im Terror Generationen Thema werden, so als unmittelbares Anathema, das dem strikten, inappellablen Dogma von seiner einzigen Wahrheit unmittelbar entspricht. Wie in allen ideologisierten Großsystemen auch, so kennt und vollstreckt der Terror das Anathema durch Auslöschung. Das Anathema bildet den terroristischen Kern. Ahmeds Figuration repräsentiert diesen Konnex. Luigi wiederum will wie ein Inquisitor die Unwahrheit der Welt bekämpfen und gesteht: »I liked to think of myself as inquisitor and irascible judge.«1062 So sagt er einmal Shaltiel, er halte es für legitim, unschuldige Juden zu ermorden, um die Leute zu denunzieren, die für den Hunger verantwortlich sind. Aber nicht nur das. Luigi versteigt sich zu einer Ansicht, die den Abgrund der Schoa plötzlich aufreißt: Solche Morde sind auch »a way of exposing the weakness, fragility and uselessness of innocence. You, my unfortunate storyteller, as a Jew, you should be able to understand that.«1063 Shaltiel kann seinen Zorn nicht mehr bändigen. »›(…) Go away, get the hell out, and for the love of God, stop using my

1060 1061 1062 1063

Ebd., 146. Ebd., 41. Ebd., 167. Ebd., 170.

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people in your ideological arguments – their slow death as they walked to the fires and common graves under your father’s scrutiny, if not under his orders. There are limits even to blasphemy!‹ – Luigi is unmoved.«1064 Hier verschränkt sich geradezu paradox die Geschichte Luigis und seines Vaters: Ihm, dem Luigi Korruption vorhält, weil er für Mussolini und Hitler gegangen war, ihm, dem er zur Last legt, dass er, Luigi, auf Ruinen leben muss – »I am living on the ruins of so many cultures destroyed by so many crimes«1065 –, ihm folgt er wie einem Abbild im Habitus der Vernichtung jüdischer Menschen, obwohl er seinen Vater radikal ablehnt. Von ihm hat er sich nicht befreien können. Das wird am Ende der Geiselnahme nochmals deutlich, als Luigi, der sich der von Ahmed vorgeschlagenen Exekution Shaltiels widersetzt hatte1066, ihn zum Ausgang des Gelasses bringt. »Luigi opens it, checks outside and says in a low voice: ›Careful on the stairs. Above, go to the right. You’ll see an avenue. At this time of day, it’s busy. You’ll be safe.‹ ›But why … how come? What about Ahmed?‹ Shaltiel asks foolishly. ›What’s he going to do? And you? You’ll be punished…‹ ›Don’t worry about me.‹ ›All this is for your father,‹ he said, and walked off into the night.«1067

Noch einmal öffnet Wiesel eine gegenläufige Entsprechung. Sie liegt in einer formal gedoppelten Entsprechung zwischen Luigis Vater, der gemeinsam mit Waldensohn das NS-Regime repräsentiert, und Luigi auf der einen Seite, Haskel und Shaltiel auf der anderen Seite. So sind Schoa und Terror auf der Täterseite miteinander verbunden, wie Vater und Sohn verbunden sind. Von Generation zu Generation wird das Erbe weitergegeben; das Erbe der Schoa geht in den Kindern auf – als fortdauernde Verneinung des Schma Israel und als Zerstörungstat, die sich gegen Israel richtet – terroristisch, sprachlich, kulturell, religiös –, wenn nicht dieser Zusammenhang bewusst unterbrochen wird. Elie Wiesel favorisiert in Hostage so wenig wie in anderen Romanen und Essays die These von einem fatischen Generationenzusammenhang. Dieser wird ja gerade durch Shaltiels massive Bestreitung der Aussage Ahmeds verneint, wonach Shaltiel als Jude arabisches Blut an seinen Händen hätte; doch ist ihm klar, was sich beobachten lässt: Die Generationen nach 1945 sind in den ehemals faschistischen Ländern Erben dieser Ideologien, die sich in Politik, Kultur, Lebensweisen, Gestiken und vor allem in den Sprachen abgesetzt haben. Es liegt nicht an Israel und nicht an jüdischen Menschen, das zu ändern; es liegt allein an den betroffenen Erben dieser Ideologien. 1064 1065 1066 1067

Ebd., 171. Ebd., 166. Ebd., 205. Ebd., 212f.

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Elie Wiesel – »Ich, der ich dabei war«

Dafür, das zu ändern, sind sie aber nicht allein. Sie können Zeugen finden, die ihnen glaubhaft erzählen, was gewesen ist und was weiter anhält. Elie Wiesel hat, um es nochmals zu erinnern, in seiner Autobiografie1068 vermerkt, dass er bestimmte Worte, die das Deutsche hervorgebracht hat, nicht mehr verwenden kann. Worte und Reden haben die Kraft zu töten, sie können aber auch zur Kraft werden, die Einhalt gebietet und das Schweigen ermöglicht, um feinsinnig und aufmerksam zu hören wie Shaltiel Feigenberg, der Geschichtenerzähler.1069 Dann sprechen Worte Zeugnis aus. Hier verbinden sich am Ende der jüdische Vater Haskel und der jüdische Sohn Shaltiel zur Generationenkette des Zeugnisses. So wie Haskel bezeugte, wer Waldensohn war, so verspricht auch Shaltiel, im kommenden Prozess zu bezeugen, wer die Terroristen waren: »Shaltiel takes a deep breath and says, ›I’d like to attend the trial.‹ ›Of course,‹ says Saul. ›You’re the most important witness in the case.‹ Shaltiel nods his head. ›Yes, I will testify. I want to express my gratitude.‹ Blanca is the only one to smile at him.«1070

Mit der Dankbarkeit endet der Roman. Diese Dankbarkeit hat mehrere Gründe: Israel ist stärker als die, die es auslöschen wollen – dank der jüdischen Gemeinschaften, die in all ihrer Disparatheit zusammengehören und zusammenstehen. Darin vollzieht sich der reale Sinn des Schma Israel, der fortlaufenden Generationen von Abraham her in alle kommenden Zeiten hinein. Wenn auch undeutlich, so hat Shaltiel das von seiner Elterngeneration mitbekommen. Schließlich hängt die Dankbarkeit an Blanca, denn mit ihr lässt sich in die Zukunft blicken und auf Zukunft hin leben, trotz allem. Beide nämlich, Blanca und Shaltiel, wurden tief versehrt, Blanca durch eine zurückliegende Vergewaltigung, Shaltiel durch die Geiselnahme; beides blieb in den Körpern hängen. In der Geiselhaft hatte Shaltiel sich gefragt, als er sich an ein Gespräch mit Blanca erinnerte, in dem sie gehofft hatte, dass sie Kinder haben wird: »Why give life to children when the destiny of men is in the hands of executioners?«1071 Jetzt ahnen Blanca und er die Antwort. Blanca hat gelächelt.

1068 1069 1070 1071

S. S. 232. Wiesel Elie, Hostage, 192f. Ebd., 214. Ebd., 174.

Aharon Appelfeld – »Ich habe das Tor gesprengt«1072

1.

Der Mensch und seine Sprache – der Mensch und seine Welt

Die Jaffa-Straße ist einer der großen Straßen Jerusalems, die den westlichen Teil der Stadt mit der Altstadt verbindet. Vor einigen Jahren stockte zwischen der Altstadt und der zentralen Bußstation, die einige Kilometer entfernt in der JaffaStraße liegt, morgens und nachmittags der Verkehr; heute fährt hier nur noch die Straßenbahn, und am Schabbat verwandelt sich diese Verkehrsfläche in eine Zone, die Fußgängern gehört und ein paar Radfahrern. Im unteren Teil der JaffaStraße zieht die Fußgängerzone der Ben Yehuda-Straße Menschen aller Lebensalter und Interessen an. Straßenmusiker spielen meist bekannte Nummern amerikanischer Jazz- und Unterhaltungsmusik, vor den Geschäften liegen und hängen Verkaufsstücke zu Rabattpreisen, die Tische der Straßencafés sind meist gut besetzt. Der Ben Yehuda-Straße gegenüber liegt die schmale Rav Kook-Straße, seit kurzem dominiert von einer großen Wohnhausanlage, die ein altes Haus deckt, das Beit Ticho. Vom Augenarzt Abraham Ticho im Jahr 1912 gekauft, als er von Wien nach Jerusalem kam und dort mit seiner Frau lebte, die Malerin war, trafen sich in diesem Haus Immigranten verschiedenster Herkunft und Profession, jüdische Gelehrte, Schriftsteller, Maler, Musiker, Historiker. Heute finden sich im ersten Stock ein Museum, das einen kleinen Ausschnitt der ChanukkiaSammlung Tichos und einige Bilder Anna Tichos zeigt, und im Erdgeschoß ein Restaurant. Seit Jahrzehnten kehrt im Ticho-Haus auch Aharon Appelfeld immer wieder zu, um zu lesen, zu schreiben und Leute zu treffen, mit denen er sich verabredet hat, Journalisten, die von ihm hören wollen, was sie und ihre Re-

1072 Aharon Appelfeld kenne ich seit einigen Jahren persönlich, und wir haben einander mehrmals getroffen. Einige biografische Elemente, die hier erwähnt werden und entweder nicht in der Sekundärliteratur vorliegen oder in ihr nicht ganz zutreffend überliefert sind, kenne ich von ihm selbst und habe sie daher auch im Folgenden eingearbeitet.

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Aharon Appelfeld – »Ich habe das Tor gesprengt«

daktionen sich über Israel denken, Menschen, die sich mit ihm und seinem Werk beschäftigen, Literaten, manchmal auch religiöse Menschen. Einmal geschah es, dass eines dieser Treffen in die Weltliteratur einging. In seiner Doppelgängergeschichte Operation Shylock baute nämlich der amerikanische Autor Philip Roth das Ticho-Haus und Aharon Appelfeld direkt ein, ohne die Namen zu ändern. Roth selbst war in Jerusalem, wo ein wesentlicher Teil des Romans lokalisiert ist, und hat Appelfeld, der Roth als jüdischen Autor schätzt1073 in allem Unterschied, der zwischen beiden thematisch und stilistisch besteht, tatsächlich mehrmals getroffen.1074 »Obwohl ich über eine Stunde zu spät zu unserer Verabredung kam, fand ich bei meinem Eintreffen Aharon vor, der immer noch im Café des Ticho-Hauses wartete. Er hatte sich gedacht, ich sei durch einen Wolkenbruch aufgehalten worden, und so saß er allein an einem Tisch mit einem Glas Wasser und las geduldig in einem Buch. Während der nächsten eineinhalb Stunden aßen wir unsere Mittagsmahlzeit und sprachen über seinen Roman Tzili, wobei wir damit begannen, daß für mein Empfinden das Bewußtsein des Kindes die verborgene Perspektive bildete, aus der nicht nur dieser Roman erzählt wurde, sondern auch andere seiner Romane. Über etwas anderes sprach ich nicht.«1075

Die Kindheit bildet eines der Zentren Appelfelds. In sie fallen alle wichtigen Ereignisse, die sich tief in die Erinnerung einsenken: das Elternaus und seine Umgebung, die Bäume, die Wiesen, Teiche und Flüsse, markante und alltägliche Formen des Lebens der Familie, die Freunde der Eltern, die Festtage und der Schabbat mit seinen Vorbereitungen und seiner stillen Feierlichkeit, der Geruch von Mutter und Vater, erfahrbare Unterschiede zwischen den Eltern, die Sprache der Mutter, ihre Stimme und Melodie, der Ton des Vaters. Aus der Kindheit stammen auch wichtige topografische Erinnerungen. Appelfeld haben sich besonders zwei Flüsse mit ihren Verzweigungen und Tümpeln eingeprägt, der Prut1076 und der Bug, über den sein Vater, der sich beruflich mit 1073 Cohen Joseph, Voices of Israel, 139: »As for Jewish writers in America I love to read Bellow, Malamud, Philip Roth. Even if they define themselves as American writers, I define them as Jewish writers. (…) At the bottom all of them are Jewish, very Jewish. You cannot write a book like Herzog, a book like The Assistant, a book like Goodbye Columbus without a deep and profound Jewish experience.« 1074 Aharon Appelfeld hat im Band Beyond Despair die Aufnahme eines Gesprächs abgedruckt, das beide mitsammen gehalten haben und das dem Inhalt nach hohe Deckung mit dem aufweist, was sich in Roths Operation Shylock findet (Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 57–80). Beyond Despair erschien zwei Jahre vor Operation Shylock. 1075 Roth Philip, Operation Shylock, 91. 1076 Appelfeld Aharon, To the Land of Cattails, 2, 21, 26f, 81; ders., Unto the Soul, 97, 197, 204f, 211; ders., Katerina, 3, 99, 144, 173, 208; ders., Geschichte eines Lebens, 17; Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 78, 109; schließlich gibt der Pruth dem Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen seinen Rahmen (Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 13 und 267).

Der Mensch und seine Sprache – der Mensch und seine Welt

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dem Umbau von windbetriebenen in mechanische Mühlen beschäftigte, eine Brücke gebaut hat, wie Appelfeld in der Widmung des Romans Die Eismine1077 schreibt. Die Umgebung von Czernowitz, der Stadt seiner Kindheit1078, gehört zu ihm als Elternland, wie ein deutschsprachiger Titel eines Romans aus 2005 heißt, der im hebräischen Original den doppeldeutigen Titel trägt ‫ – פולין ארץ ירוקה‬polin eretz jeruqa / Polen, ein grünes Land. Grün wie das Czernowitzer Umland ist dieses Land, grün und gefährlich für Juden: Das Elternland Czernowitz wurde durch die Nationalsozialisten ausgelöscht; Polen aber, ein grünes Land, lässt die Erinnerung daran nicht los, da das grüne Elternland nicht mehr wiederzugewinnen ist. Allein in Polen wurden in der nationalsozialistischen Besatzungszeit so viele Juden umgebracht wie in allen anderen Gebieten zusammen, die derselben Herrschaft unterstanden. Und selbst ein Jahr nach dem Ende des Nationalsozialismus, im Sommer 1946, vollführten in der polnischen Stadt Kielce die Leute ein Pogrom gegen polnische Juden, die die Schoa überlebt hatten und zurückgekehrt waren. Nach 1945 also für Juden kein Weg mehr zurück ins grüne Land Polen. Mit den verlorenen Topografien, die nur noch im Innern zu finden und zu beleben waren, verbindet sich bei Appelfeld eine Erinnerung, die all den anderen Erinnerungen überhaupt erst ihr Leben bewahren konnte: die Erinnerung an seine Eltern und besonders an seine Mutter und ihre Sprache. Die Mutter ist im Gesamtwerk zugegen, sie und der Vater leben in Appelfelds Schreiben weiter, in dem er die vergangenen Generationen mit der kommenden verbindet.1079 Die Eltern leben weiter in der Kultur des Jerusalemer Kaffeehauses, wie es das Beit Ticho ist, in dem viele jüdische Menschen mit unterschiedlichen Geschichten und Traditionen aufeinandertreffen seit Jahrzehnten. Die Eltern beleben in Appelfelds Erinnerungen aber auch das Kaffeehaus, schenken ihm eine Atmosphäre, die aus dem Elternland und aus dem Elternhaus kommt, bringen etwas von den Stimmen, den Düften und Gerüchen herbei, die einst die Kindheit umwehnten, und verbergen gleichzeitig nicht den Bruch, der zwischen damals und heute klafft. Schon der junge Aharon Appelfeld fand im Kaffeehaus gleichsam nach Hause, damals im Café Peter, das es heute nicht mehr gibt. »Café Peter was my home.«1080 Dort sammelten sich die Entwurzelten und ihre Zeiten, dort traf der junge hebräische Schriftsteller The Time of the Uprooted, wie ein Roman Elie Wiesels 1077 Appelfeld Aharon, Die Eismine, [5]; im Roman Blumen der Finsternis wird er auch erwähnt (Appelfeld Aharon, Blumen der Finsternis, 165). 1078 Häufige Bezüge auf Czernowitz finden sich im folgenden Roman: Appelfeld Aharon, Alles, was ich liebte, 17, 29–31, 40, 47, 82, 121, 123–136, 146, 150, 159, 161, 166, 169–174, 178f, 182, 186, 201, 210, 225, 244, 251, 257, 261, 264, 268, 27, 276, 278, 280, 286. 1079 Appelfeld Aharon / Appelfeld Meir, A Table for One, 105. 1080 Ebd., 47.

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heißt; und der junge Schriftsteller schrieb in hebräisch, einer Sprache, die Jahrtausende alt ist und doch nicht abgenutzt und verbraucht, dissonant und irrlichternd wie das Deutsche, das die Sprache der Galut, die Sprache des Exils war und nach der Schoa ihren Exilscharakter nicht verloren, sondern gefestigt hatte. Denn von ihrem bewussten Missbrauch kommt sie bis heute nicht los. Dieser bildet ihre Mentalität, die umso gefährlicher ist, je ungenierter man ihrer sich bedient. Wiesel hat Recht: Konzentration, Asche, Nacht und Nebel bleiben stecken; in derben Wendungen der Dialekte schwingt die antisemitische Todesdrohung der Nazis nach wie vor mit; und der deutschen Theologensprache, die ohnedies an der allgemeinen theologischen Deutungsproblematik der Wirklichkeit teilnimmt, gehören die christologischen Worte Heil und endgültiger Sieg ebenso zu, wie sie den Zwang der Überbietung des Jüdischen perpetuiert. Darum gibt es eine besondere Verantwortung für alle, die schreiben und reden, und dies besonders in deutscher Sprache, die ihre Worte und deren Zusammenhänge ins Exil getrieben und vernichtet hat. Nochmals Elie Wiesel: »Rebbe Zusya often spoke of Galut hadibur, the exile of the word. ›When words lose their way, when they wander off and lose their meaning, when they become lies,‹ he would say, ›those who speak or write them are the most uprooted of people. And surely the most to be pitied.‹«1081 Die deutsche Sprache bildet kein Haus mehr, in dem sich wohnen lässt; sie hängt in Fetzen von morschen Gerüsten, besudelt vom demagogischen Speichel der Diktatoren und ihrer atmosphärischen Ausdünstung, die viele Worte umgibt. In Deutsch zu sprechen, hat sich daher für Menschen wie Aharon Appelfeld bald erübrigt. Im Café Peter traf er die entwurzelten Juden in einer ganz anderen, in einer stillen Atmosphäre. Vor allem ihr versehrtes Judentum hatten sie mitgebracht nach Israel. Dieses Judentum war gewachsen in der Österreich-Ungarischen Monarchie, war seit dem 18. Jahrhundert schon ungesichert und fiel im Sturm der Schoa.1082 Diese Entwurzelten ziehen durch Aharon Appelfelds Werke.1083 Was an ihnen gewirkt hatte, findet in Appelfelds Romanen indirekte Andeutungen; das Unvorstellbare, aber doch Wirkliche lässt sich als solches nicht in Sprache übertragen1084, sie reicht dazu bei weitem nicht aus. Appelfeld hat es umkreist, und zwar so wie in Zeit der Wunder: Die beiden Teile des Romans stehen um eine leere Mitte herum.1085 Das Böse, der Terror, der Massenmord – alles abstrakte

1081 1082 1083 1084 1085

Wiesel Elie, The Time of the Uprooted, 227. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 142. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 27. Howe Irving, Writing and the Holocaust, 195. Treitler Wolfgang, Vom Geheimnis des Judeseins, 115f; Cohen Joseph, Voices of Israel, 117. Deshalb ist auch einsichtig, dass Appelfeld die Zuschreibung, ein Schoa-Autor zu sein, scharf zurückgewiesen hat (Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Ficiton, XIX).

Der Mensch und seine Sprache – der Mensch und seine Welt

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Worte, heute modriger als vor einhundert Jahren1086 – haben bei Appelfeld den Charakter der »absence or privation.«1087 Literarisch taucht bei ihm die privatio auf, der wie beinah allen christlich-theologischen Bestimmungen Jean Améry ihre Gegenlese gegeben hat durch seine Erfahrungen in der Schoa: In der privatio lässt sich kein Mangel mehr verhandeln und bagatellisieren1088 wie in der christlichen Gelehrtenschaft des Mittelalters, die gegen die Not der Massen meist gut abgesichert war. Privatio ist nicht einfach ein Weniger mit der Tendenz zum Nichts, ein Mangel, der sich reduziert. Privatio ist der systematische und inappellable Entzug des Lebens geworden, der so grausam ist, dass Wortgebilde ihn verraten und sie die Entwurzelten ansiedelten in einer stilisierten Welt, die es nicht gibt. Doch diese Welt, die erfundene, zurechtgerichtete erfüllt die in der Schoa angerichtete privatio nicht, diese aus dem Mittelalter herangeholte Welt, deren Erfahrungen die Wirkungen und Nachwirkungen der Schoa weder erreichen noch deuten helfen. Denn im Mittelalter hatte die christliche Sprache noch ein lateinisches Haus, heute hängt sie in Fetzen von morschen Gerüsten und besagt das Falsche. Die Bruch ist radikal: Die Schoa reißt einen Hiatus auf zwischen der Zeit davor und der Zeit danach – genau so wie Aharon Appelfelds Roman Zeit der Wunder es mehr andeutet als darstellt. Über diesen Hiatus reichen wohl nur noch die biblischen Kunden und die Traditionen ihrer offenen jüdischen Lesart, nicht der dicht verschweißte, konservierte christliche Logos, dessen Gehalte, die von Erlösung sprachen und vom Erlöser, der sie getan und als Gottmensch die Welt gerettet hätte, durch die fortlaufende Geschichte, vor allem aber durch die Schoa kompromittiert sind. Appelfelds privatio manifestiert ohne jedes direkte oder religiöse Interesse, dass die Frage, die Rolf Rendtorff von Elie Wiesel her gestellt hat: »Ist in Auschwitz das Christentum gestorben?«1089 in Elie Wiesels Sinn zu beantworten ist: In Auschwitz wurden Juden ermordet und ist das Christentum gestorben. Der Zusammenhang ist direkt und er ist erkennbar1090: Enteignung und Überbietung des Judentums, die beiden zentralen Stilmale christlichen Glaubens und Denkens spätestens vom Johannesevangelium weg bis in die heutigen Tage, haben die privatio aus der mittelalterlichen Welt geholt und zur tödlichen Waffe gegen die jüdische Gemeinschaft umgeschmiedet. Jesajas Vision des Friedens, in der jüdischen Pessach-Liturgie gelesen, spiegelte sich in der Erkenntnis des Herrn, von der die Erde voll ist ( Jes 11,6–9);1091 sie setzte voraus, was in Jes 2,3 zu lesen ist: Die Nationen machen sich auf den Weg zum Zion, weil 1086 1087 1088 1089 1090 1091

Hofmannsthal Hugo von, Ein Brief, 51. Lang Berel, Introduction, 3. Treitler Wolfgang, Erlösung durch Platon-Christus? 107f und 132. Rendtorff Rolf, Ist in Auschwitz das Christentum gestorben? 168–180. Ebd., 173. Oberhänsli-Widmer Gabrielle, Bilder vom Bösen im Judentum, 203f.

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von dort die Weisung kommt, die Gerechtigkeit und der Friede (Ps 85); und dann werden Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet und Lanzen zu Winzermessern. Diese Erkenntnis ist im Christentum noch nicht leitend geworden, seine Lehre stilisiert seit dem 4. Jahrhundert eine Absolutheit, die zwangsläufig in die moderne, tödliche privatio des Jüdischen treibt – eben Enteignung, Überbietung und theologische Zerstörung der jüdischen Gemeinschaft auf allen Linien. Sie entspricht der wörtlich verstandenen, antisymbolisch-realen Herauslösung, also der Exkommunikation des Nazareners aus dem Judentum; anders war das alles nicht zu machen. Insofern stellt Jesus womöglich den ersten einschneidenden Fall christlicher Lehrgeschichte dar, an dem die Enteignung des Jüdischen durch dessen Überbietung vollzogen wurde – hinter der Deckung der Abweisung eines allzu offenen Antijudaismus des Markion, eines Antijudaismus, der nun in der Lehre als getarnter Antijudaismus verwinkelt und in hochkomplexer Sprache umso lückenloser und systemisch geschlossen betrieben wurde. Nachweise können hier nicht gebracht werden, sie sind einer späteren Arbeit aufbehalten. Aharon Appelfelds Werke umkreisen diese privatio, die Auslöschung und Vernichtung der jüdischen Gemeinschaften in Europa, die ihn selbst getroffen hat. Er war zwar um einige Jahre jünger als Elie Wiesel und nahm auch einen anderen Weg angesichts der Schoa; doch ähnlich wie bei Wiesel haben auch Appelfelds Geschichten einen autobiografischen Hintergrund, der jedoch nie direkt, sondern in fiktionalisierter, d. h. literarisch verwandelter Form eingetragen wird. Das gilt nicht nur für die Romane, sondern ebenso für seine Geschichte eines Lebens, die eben keine Autobiografie ist.1092 Doch gibt es deutliche Differenzen zwischen Wiesel und Appelfeld zu beobachten. Sie finden sich sowohl in der Sprachform und im Stil als auch in Bezug auf leitende Gestalten:1093 »Appelfeld, almost unique on the scene of Israeli fiction, added the subject of the refugee survivor.«1094 Das hat autobiografische Zusammenhänge. Appelfeld floh als Neunjähriger aus dem Lager und lebte und überlebte über die kommenden Jahre hinweg als Flüchtling. Zum Flüchtling jener Tage und Jahre gehört eine eigene Welt1095, von der Schoa tief gezeichnet; sie ist es, die auch über ihm ihr Zepter schwingt, ihm ständig im Rücken droht und nach vorn hin die Wege vermint. Ziellos gejagt ist der Flüchtling, bis er, oft genug, erliegt. Überall lauert ihm der Feind auf, der undeutlich bleibt, jeder und niemand sein kann und deshalb so gefährlich ist. Was in die Kindheit fiel, bringt der Erwachsene nicht mehr an, die Sprache der Eltern, die Düfte der Kindheit, das Elternhaus, die feierlichen Augenblicke – und das Trauma der Flucht. Deshalb 1092 1093 1094 1095

Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Ficiton, 12. Cohen Joseph, Voices of Israel, 108. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Ficiton, XII. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 104.

Der Mensch und seine Sprache – der Mensch und seine Welt

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hat Aharon Appelfelds Literatur ihren Anfang und ihre Mitte in den überlebenden Kindern1096, wie das Überleben selbst Zentrum seiner Literatur seit den Anfängen ist.1097 Der Blick der Überlebenden, ihre Erfahrungen, ihre Vermächtnisse, ihre Geschichten, die nur sie durchgestanden haben und von Appelfeld nie zu einem Modell gemacht werden, auch nicht zu einem Schema seiner Romane, ihre Niederlagen und ihre kleinen Siege, vor allem aber ihre Kraft, weiter leben zu wollen, bilden den subjektzentrierten Kern seiner Geschichten.1098 Die Kraft, leben zu wollen, gehört den Überlebenden, wie Appelfeld sagt: »Though the tree has been chopped down, the root has not withered – despite everything we continue living.«1099 In dieser Kraft, das Leben nach der Vernichtung fortzusetzen, fasst sich ein Widerstand zusammen, der Wiesels and yet gleicht und den Emil Fackenheim als das 614. Gebot formuliert hat, die »gebietende Stimme von Auschwitz«: »It is unthinkable that the twofold rupture should win out. It is unthinkable that the ageold fidelity of the religious Jews, having persisted through countless persecutions and against impossible odds – Yehuda Halevi expressed it best – should be destroyed forever. It is unthinkable that the far less ancient, no less noble fidelity of the secular Jew – he holds fast, not to God, but to the ›divine spark in man‹ – should be smashed beyond repair. It is unthinkable that the gulf between Jews and Gentiles, created and legislated since 1933, should be unbridgeable from the Jewish side so that the few but heroic, saintly attemps to bridge it from the Gentile side – we shall never forget such as Lichtenberg and Huber –should come to naught. It is this unthinkability that caused in my own mind, on first confronting it, the perception of a ›614th commandment,‹ or a ›commanding Voice of Auschwitz.‹«1100

Der jüdische Mensch lebt nach der Schoa weiter, doch direkte Anknüpfungen an die Welt von gestern sind ihm bei Appelfeld nicht mehr möglich. Ohne die Katastrophe und die in ihr bohrende Verzweiflung kann er sich nicht mehr erfassen und finden, kein Cogito rettet ihn davor: nicht die Gewissheit der eigenen Existenz im Zweifel an allem, die René Descartes zu sagen erlaubt: »Ich bin, Ich existiere, das ist gewiß«1101, noch die analytische Einsicht Kants, dass das »Ich denke«1102 allen empirischen Wahrnehmungen und ihrer Einheit zugrunde liegen müsse. Denn das Ich ist zerstört, und was der Überlebende denkt, das muss er denken, ohne es bewältigen oder in eine Einheit bringen zu können. In Appelfelds Roman The Iron Tracks wird das auch manifest, wie es Emily Miller Budick 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102

Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 28. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 54. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 11. Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 79. Fackenheim Emil L., To Mend the World, 299. Descartes René, Meditationes de Prima, 83. Kant Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, 141 (B 140).

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komprimiert hat: »I think, therefore I am destroyed.«1103 Denken ist Äußerung des zerstörten Menschen und der Einsicht in seine Wirklichkeit. Man kann möglicherweise schließen: »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, wie Theodor W. Adorno seine Minima Moralia im Untertitel genannt hat, verweigeren sich der Ideologie eines Lebens, »die darüber betrügt, daß es keines mehr gibt«1104, und macht Literatur als doppelten Gestus notwendig, der, was bei Adorno selbst stilistisch als Negative Dialektik der Literatur nicht unverwandt ist, die Destruktion enthüllt und zugleich ihrer Vernotwendigung sich entzieht, vor und nach dem Terror – also die Katastrophe durch literarische Verwandlung erinnert und verneint. Dazu braucht es die starken Charaktere Appelfelds. Keiner seiner Protagonisten gehört zu denen, die sich ohnmächtig zur Schlachtbank führen ließen, gerade auch nicht die weiblichen unter ihnen oder Versehrte wie in seinem 2014 ins Deutsche übersetzten Roman Auf der Lichtung.1105 Tzili, das pubertierende Mädchen auf der Flucht, steht mitten in der Katastrophe und behauptet darin, dass sie ihr widersteht, ihr Leben, wie nochmals Emily Miller Budick es fasst: »I stand therefore I exist.«1106 Tzili ging nicht unter, sondern wuchs in der Kraft, wie auch ihr Dichter Aharon Appelfeld: »She was grown stronger and will survive to live, just as Appelfeld has done, rather than merely exist as the shell of what once was a human being.«1107 Die Schoa forderte eine spezifische Kraft, die bei Appelfeld zur Literatur wird, die Kraft der Imagination. Sie erfindet nichts, sondern entdeckt Latenzen, die – mit Ernst Bloch1108 gedacht – morgen an der Front der Wirklichkeit stehen werden, wenn man ihrem jetzt noch utopischen Gehalt folgt. Damit hat es, wie Bloch auch wusste, Religion, die die »Setzung eines spirituell Wahren«1109 betreibt, nie gehalten, sondern sich in »Kunstfeindschaft«1110 eingeübt – einer der Gründe, warum es innerhalb der geschlossenen Systeme des Christentums keine kraftvolle, nach vorn weisende Literatur gibt: Der latente Utopos wird durch absolute Wahrheit niedergehalten und unterdrückt. Dagegen ist »Kunst … ein Laboratorium und ebenso ein Fest ausgeführter Möglichkeiten, mitsamt den durcherfahrenen Alternativen darin«1111, so aber, dass ihre Möglichkeiten Realität und Existenz annehmen. Ohne solche utopische Imagination wäre faktisches 1103 1104 1105 1106 1107 1108 1109 1110 1111

Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 80. Adorno Theodor W., Minima Moralia, 7. Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 7. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction 127. Cohen Joseph, Voices of Israel, 122. Bloch Ernst, Das Prinzip Hoffnung. Erster Teil, 179f, 222f, 225–235 u. ö. Ebd., 244. Ebd., 245. Ebd., 249.

Der Mensch und seine Sprache – der Mensch und seine Welt

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Überleben weder für Appelfeld noch für seine Romangestalten möglich gewesen.1112 In der literarischen Gestaltung bleibt, wie verwandelt auch immer, die Destruktion präsent. Ihr Widerfahrnis, das er bezeugt1113, spürt Appelfeld seit der Kindheit in seinen Knochen, eine bis ins Mark reichende Wunde, die ihn mit Israel verbindet und zugleich eine umfassende Bedeutung hat: »Here, in the domain of horror, and only here, occurs the encounter between man and the metaphysical sphere. Here, and only here, is created the deep connection between the individual and the tribe.«1114 Israel ist dadurch als eine religiöse Geschichte entstanden und in Folgegeschichten des sinnlosen Leidens durch die Zeiten gegangen. Das nimmt jeder jüdische Mensch mit, der es von Geburt an oder durch Konversion ist. Bei einem unserer Gespräche im Beit Ticho sagte Aharon Appelfeld: »Weißt du, was einer gefragt wird, wenn er Jude werden will? Er wird gefragt, ob er diese Geschichte mittragen will.«1115 Der Staat Israel hat die Wunden nicht geheilt, auch wenn in ihm Juden eine neue Lebensmöglichkeit und im Lauf der Jahre auch ihre Heimat gefunden haben. Appelfeld blickt darauf dankbar und eher pragmatisch zu; religiösen Thesen, wonach Israels Staatsgründung die Wirklichkeit eines göttlichen Versprechens sei1116, folgt Appelfeld nicht. »I can’t claim to have thoughts of this height – I can’t pretend to understand God’s thoughts.«1117 Das ist erfrischend unplatonisch und undogmatisch, ein Satz aus dem Kern des Judentums ge1112 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 162. 1113 Der israelische Literaturwissenschafter Gershon Shaked schreibt, Appelfeld und andern Überlebenden gehe es darum, »to present testimony about what happened to them and to their protagonists, not to resolve historical issues and not to embody history in a symbol that comprehends the entire experience.« (Shaked Gershon, Afterword, 287). Zeugnis lässt sich mit Verstehen nicht identifizieren, bei Aharon Appelfeld so wenig wie bei Elie Wiesel, Abraham Sutzkever oder Jean Améry, bei Franz Werfel, Franz Kafka oder Stefan Zweig. Das Nichtverstehen bleibt nicht nur als Rest, sondern durchzieht das Gesamtwerk; es ist Teil des Schriftstellers ebenso wie Teil der Protagonisten, wenn auch in unterschiedlicher Fassung. Eine Realisationsweise des Nichtverstehens liegt in Appelfelds Ironie (Cohen Joseph, Voices of Israel, 108), die mehr atmosphärisch als punktuell zugegen ist und in der Groteske eine bestimmten Szenerie aufleuchtet, weniger in einzelnen Worten und Sätzen. 1114 Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 141. 1115 Das gehört in die Besprechungen mit dem zuständigen Rabbiner, die einem Übertritt vorausgehen (Trepp Leo, Die Juden, 378f). 1116 Auf dem schmalen Zuweg zum Beit Ticho fand sich bis in den Herbst 2014 das kleine Museum der Psalmen. Es gehörte Moshe Tzvi HaLevi Berger, der dort einige seiner 150 Bilder zu den 150 Psalmen in einer Dauerausstellung zeigte. In einem Buchband finden sich alle Psalmenbilder abgedruckt, einige Verse des betreffenden Psalms werden von ihm zitiert und kommentiert. Auch er wurde durch die Schoa entwurzelt, zur Flucht gezwungen und kam 1992 nach Jerusalem. Jerusalem und Israel sind für ihn das Wunder, das mit dem Königtum des Himmels direkt zusammenhängt (Berger Moshe Tzvi HaLevi, Visions of the Psalms, IX). 1117 Appelfeld Aharon / Appelfeld Meir, A Table for One, 97.

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sprochen, das die Differenz zwischen Gott und den Menschen in jedem Gedanken und Tun wahrt und sich mit Elie Wiesels Verneinung trifft, irgendetwas von Gott, seinen Absichten und seinen Entscheidungen begreifen zu können.1118 Appelfeld interessieren solche gedanklichen Fahrten ins Unklare nicht, wenn er auch, besonders im Zusammenhang des Umgangs mit der Schoa durch Überlebende, respektiert, dass es viele jüdische Menschen gab und gibt, die über diese Auslöschung zum Glauben fanden – etwas, das er für paradox, für widersprüchlich hält. In Reflexionen über seinen Roman Der unsterbliche Bartfuss sagte Appelfeld: »Paradoxically, as a gesture towards their murdered parents, not a few survivors have adopted religious faith. I know what inner struggles that paradoxical stance entails, and I respect it. But the stance is born of despair. I won’t deny the truth of despair. But it’s a suffocating position, a kind of Jewish monasticism and indirect self-punishment. My book offers its survivor neither Zionist nor religious consolation. The survivor, Bartfuss, has swallowed the Holocaust whole, and he walks about with it in all his limbs. He drinks the ›black milk‹ of the poet Paul Celan, morning, noon, and night. He has no advantage over anyone else, but he still hasn’t lost his human face. That is not a great deal, but it’s something.«1119

Bartfuss sitzt die Schoa im Körper; in seinem offensiven Charakter findet sich kein Motiv eines jüdischen Monastizismus, wie Appelfeld sagt, eine Zurückgezogenheit ins Innerliche und Kontemplative, ins Spirituelle und Weltabgewandte – und deshalb auch nichts von indirekter Selbstbestrafung, in der der jüdische Mensch genau jenen Ausschluss affirmiert, der ihm über die Jahrhunderte hindurch von den Feinden eingehämmert worden ist und in der Schoa mit dem Willen zum endgültigen und irreversiblen Ausschluss durchgesetzt werden sollte. In einem solchen Monastizismus würde das 614. Gebot, das Emil Fackenheim formuliert hat, faktisch bestritten und grundsätzlich aufgegeben. Solch ein Monastizismus mag christlich möglich sein, Weltflucht gehört zu ihm, Suche des Heiligen durch Abschottung und Preisgabe der sogenannten Welt in einer Sehnsucht nach einem ganz anderen Himmel. Doch das ist eher platonisch als biblisch. Denn in einer solchen Haltung wird Leben nicht bewahrt oder wiedererrungen, wie es Bartfuss in allen Schwierigkeiten versucht und Israel seit vier Jahrtausende gelebt hat, sondern Schicht für Schicht aufgegeben und abgetötet. So wird man durch Appelfelds Aussage an Franz Kafka erinnert, der diesen Zusammenhang in einem Aphorismus klar erkannt hat: »Coelibat und Selbstmord stehn auf ähnlicher Erkenntnisstufe, Selbstmord und Märtyrertod keineswegs, vielleicht Ehe und Märtyrertod.«1120 Zölibat, als lebenslange Haltung 1118 Wiesel Elie, Carry Forward One Page Of Memory, 22 und 45. 1119 Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 80. 1120 Kafka Franz, Beim Bau der chinesischen Mauer, 178.

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asketisch gelebt, ist schleichender Suizid; denn er ist Selbstauslöschung durch die Aufgabe des Gebots, das im Schma Israel und im Dekalog vorausgesetzt und genannt ist, nämlich Kinder hervorzubringen und mit ihnen dem Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes, das man von den Eltern überliefert erhielt, Gegenwart und Zukunft zu geben in der Zeit. Der Zölibat wendet sich von diesem Leben ab und löscht es aus, das höchste Leben, das es biblisch und jüdisch gibt. Appelfelds Bartfuss hingegen versucht sich in der Zeit einzuleben, in Tel Aviv, durchaus gepeinigt von seiner Familie, die ihn nicht versteht; doch er gibt nicht auf, er verteidigt seine Würde1121, sein menschliches Antlitz. Appelfeld sagt, das sei nicht viel, aber es ist doch etwas. Das ist ein eher bescheidenes Statement. Denn nach der Schoa, in der jüdisches Leben in Europa annulliert wurde, bietet die Würdebehauptung den größten Widerstand, einen kämpferischen Widerstand, den Bartfuss bis zur Ermüdung zeigt und der auch Appelfeld bis heute antreibt, literarisch bis zu seinen jüngsten Romanen wie Auf der Lichtung1122 reicht und deshalb zwar wesentlich dezenter ist, als wenn er politisch geäußert würde, aber trotzdem unerbittlich und unnachgiebig bleibt. Das Motiv und die Form seiner Kraft und seines Widerstandes leben in Appelfelds Sprache, die selbst die Geschichte einer unglaublichen Umwälzung ist. Zwar schreibt er heute so wenig wie Elie Wiesel in seiner Muttersprache; doch während Elie Wiesels Jiddisch immer noch den sprachlichen Grundton seiner französisch geschriebenen Romane bildet, baut Aharon Appelfeld seit seinen literarischen Anfängen alles auf dem Hebräischen auf, der später erst erlernten Sprache, die in seiner Familie nur den religiösen Großeltern aus der Liturgie geläufig war. Im Hebräischen konnte er zwar auch den Ton einer Sprache finden, die ihm nahe war und ist, den Ton der Sprache Kafkas; doch diese bedeutet ihm Nähe nicht nur wegen des Deutschen, das Kafka nutzt, der deutschen Sprache des assimilierten europäischen Judentums, die auch Appelfelds Eltern gesprochen haben; die Nähe findet er vor allem darin, dass Kafka die Sprache des Absurden1123 sprach und kultivierte, und diese Sprache lässt sich dann doch leichter in eine andere übertragen als der Ton, die Stimmung, die Schwingung der Muttersprache selbst. Den Verlust der Muttersprache hat Appelfeld in Kafkas Sprache des Absurden bald hebräisch zu vermitteln versucht. Die frühe Erzählung Bertha1124 gibt davon ein drückendes Beispiel, in der es um eine kindhafte Behinderte geht, die ihr Leben ihrem Freund verdankt, solange dieser sie schützen kann. Das Timbre der 1121 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 117. 1122 In Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 14 sagt der jüdische Partisanenkommandant Kamil zu seinen Kämpfern: »Werft den Geist der Niedergeschlagenheit ab. Ein geschändetes Volk kann sich solch einen Luxus nicht leisten.« 1123 Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 63. 1124 Appelfeld Aharon, Bertha, 17–28.

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eigenen Muttersprache im Hebräischen irgendwie vernehmen zu können oder gar vernehmbar zu machen – das war eine ungeheure Aufgabe, weil ihr Zentrum der schon erwähnte Hiatus, der Bruch zwischen davor und danach bildete, der ihm nicht nur die Mutter und ihre Sprache nahm, sondern in Eretz Israel auch die Sprache seiner Herkunft verbannte. Fremd und entfremdet war der junge Appelfeld. Fremde und Entfremdung lösten sich nach seiner Ankunft in Eretz Israel im Jahr 1946 nicht, sondern verstärkten sich zunächst mit jedem Tag. »Die Anstrengung, die Sprache meiner Mutter in einer Umwelt zu bewahren, die mir eine andere Sprache aufzwang, fruchtete nicht. Von Woche zu Woche wurde die Sprache meiner Mutter weniger, und am Ende des ersten Jahres blieb kaum noch etwas von ihr übrig. Es war kein eindeutiger Schmerz. Meine Mutter war am Anfang des Krieges ermordet worden, und den ganzen Krieg über trug ich ihr Bild in mir, in dem Glauben, sie am Ende des Krieges wiederzutreffen. Dann, dachte ich, würde unser Leben wieder werden wie früher. Die Sprache meiner Mutter und meine Mutter wurden eins. Als nun ihre Sprache in mir verlosch, spürte ich, dass meine Mutter ein zweites Mal starb. Dieser Schmerz drang wie eine Droge in mich ein, nicht nur im Wachen, sondern auch im Schlaf. Im Schlaf zog ich mit Kolonnen von Flüchtlingen herum, alle stotterten, und nur die Tiere, die Pferde, Kühe und Hunde am Wegrand, sprachen ihre Sprache fließend, als hätte sich alles verkehrt. Die Mühen, das Hebräische anzunehmen und zur neuen Muttersprache zu machen, dauerten einige Jahre.«1125

Ein zweiter Grund dafür, dass die Muttersprache nicht zu halten war, lag darin, dass sie dieselbe Sprache war, die auch ihre Mörder sprachen, fließend, klar in der Diktion und eindeutig. »Ich möchte vorausschicken: Die formale Sprache habe ich schnell und ziemlich leicht erworben, am Ende des ersten Jahres lasen wir schon Zeitung, doch dieser Spracherwerb war mit keiner Freude verbunden. (…) Und natürlich gab es noch ein anderes Dilemma: Die Sprache meiner Mutter war die Sprache ihrer Mörder. Wie konnte man weiter eine Sprache sprechen, die mit dem Blut von Juden getränkt war? Dieses furchtbare Dilemma konnte dem Gefühl aber nichts anhaben, dass mein Deutsch nicht die Sprache der Deutschen war, sondern die meiner Mutter, und ich war mir sicher, wenn ich Mutter wiederfände, würde ich mit ihr in der Sprache weiterreden, in der wir immer miteinander gesprochen hatten.«1126 1125 Aharon Appelfeld, Geschichte eines Lebens, 116. 1126 Aharon Appelfeld, Geschichte eines Lebens, 117f. Das hebräische Original spricht das Dilemma härter aus als seine Übertragung als Die Sprache meiner Mutter war die Sprache ihrer Mörder: ».‫ שפתם של רוצחי אמי‬,‫ הייתה גרמנית‬,‫ כאמור‬,‫ – «שפת אמי‬safat imi, ce’amur, hajetah germanit, saftam schel rozchei imi. / Wie schon erwähnt, war die Sprache meiner Mutter deutsch, die Sprache der Mörder meiner Mutter. (Appelfeld Aharon, Sippur Chajim, 103). Hier zeigt sich wie an vielen andern Stellen auch, was Emily Miller Budick Appelfelds einmaliges »flavor« (Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Ficiton, XIV) nennt, den spezifischen Ton, der sich in seiner reduzierten und zugleich vielschichtigen Form nicht adäquat übersetzen lässt. Dafür steht der Roman Badenheim im Ganzen (ebd., 39), aber auch ein Wort wie ‫ – לשמור‬lischmor, das beobachten, behalten, aber auch retten (ebd., 123)

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Was Appelfeld blieb, war seine Muttersprache, die er im Innern verwahrte, aber nicht mehr weiter bildete oder öffentlich gebrauchte. Mit dem Hebräischen, das er ab 1946 lernte, ging er in eine ganz andere Sprach- und Lebenswelt ein, die viel älter war als die Muttersprache, ganz andere Traditionen angesammelt hat und ihn mit ihrem Rhythmus und der dem Hebräischen eigenen Verknappung ins Judentum gebracht hat, das sich erstreckte zwischen den biblischen Geschichten und den zeitgenössischen Literaten, die hebräisch schrieben. »I learnt Hebrew by dint of much effort. It is a difficult language, severe and ascetic. Its ancient basis is the proverb from the Mishna: ›Silence is a fence for wisdom.‹ The Hebrew language taught me how to think, to be sparing with words, not to use too many adjectives, not to intervene too much, and not to interpret. I said that it ›taught me.‹ In fact, those are the demands it makes. If it weren’t for Hebrew, I doubt whether I would have found my way to Judaism. Hebrew offered me the heart of the Jewish myth, its ways of thinking and its beliefs, from the days of the Bible to Agnon. This is a thick strand of five thousand years of Jewish creativity, with all its rises and its falls: the poetic language of the Bible, the juridical language of the Talmud, the mystical language of the Kabala. The richness is sometimes difficult to cope with. Sometimes one is stifled by too many associations, by the multitude of worlds hidden in a single word. But never mind, those are marvelous resources. Ultimately you can find in them even more than you were looking for.«1127

Diese Sätze hat Appelfeld im Gespräch mit Philip Roth gesagt, der nie ins Hebräische gefunden hat1128, sondern sprachlich, stilistisch und thematisch ein urbaner amerikanischer Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln ist, und sich auch nicht von Talmudtraditionen hat leiten lassen wie Appelfeld doch manchmal. Sein Hinweis auf die Mischna bringt ein Zitat aus dem talmudischen Traktat Avot, in dem Sprüche der Gelehrten gesammelt sind, die sich kommentierend und verdichtend auf die Mischna beziehen, den Codex jüdischen Lebens nach rabbinischer Tradition. Da liest man: »R. Aqiba sagte: Scherz und Ausgelassenheit verleiten den Menschen zur Unsittlichkeit. Die Überlieferung ist ein Zaun für die Tora, die Zehntabgaben sind ein Zaun für den Reichtum, Gelübde sind ein Zaun für die Enthaltsamkeit, und Schweigen ist ein Zaun für die Weisheit.«1129 Die Zäune begrenzen und zügeln. Ausgelassenheit bedeutet, den Fokus zu verlieren. Zäune sind keine Disziplinarwerkzeug, durch die die Freude ausgetrieben werden soll, sondern sie dienen als eine Methode, die gesteigerte Aufmerksamkeit ermöglicht, also Kewana, wie sie die gesamte hier angesprochene jüdische Libedeuten kann und in die biblische Urgeschichte zurückreichende Gehalte annimmt (vgl. Gen 4,9: Da fragt Kain Gott, nachdem dieser nach Abel gefragt hatte, ob er denn »‫– השמר אחי‬ haschomer achi / der Hüter meines Bruders« sei). 1127 Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 72. 1128 Pinsker Sanford, A long fictional Trail of Tears. 1129 bT Abot III, XVII.

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teratur kennzeichnet. Schweigen löst das Ohr aus dem Lärm und bringt zurück, dass, wie Franz Werfel gegen Ende seines Romans Höret die Stimme geschrieben hat, »die Stimme wirklicher ist als der Lärm.«1130 Im Schweigen geht es deshalb auch um Reduktion auf das entscheidende Wort, auf das notwendige Sprechen, auf ein Sprechen und auf ein literarisches Schreiben, das nach der Schoa noch entschiedener die Bedeutung der kargen und hochpoetischen Sprache der Bibel1131 hebt und mit ihr die Unsagbarkeit des Grauens und der Opfer verteidigt, wie es Appelfeld in seiner Umkreisung der Schoa zeigt. Er schreibt schweigend und vollzieht schreibend die Begrenztheit und Ohnmacht der Sprache.1132 Dies machen zu können, setzte bei ihm voraus, dass er sich über Jahre hinweg in das Hebräische hineingebohrt hat mit all der Mühe, die das abverlangte. In den ersten Jahren versetzten ihm Berufskritiker in Verlagen und Zeitungen einige Tiefschläge. Appelfelds erinnert sich: »ALLESWISSER WIMMELN wie Geister in jeder Ecke. Als ich zu schreiben begann, lauerten sie mir überall auf. Die Manuskripte, die ich an Zeitungen schickte, kamen mit giftigen Bemerkungen zurück. Einige Lektoren bestellten mich zu einem Gespräch, um mir in väterlichem Ton klar zu machen, dass ich keinerlei Begabung hätte. Sie wollten unbedingt, dass ich meine Unfähigkeit eingestand und mir in Zukunft keine Illusionen machte.«1133

Doch er gab so wenig auf wie seine Romangestalten und fand ins Hebräische hinein. »But then, when you became familiar with it, it warms up. Yes, otherwise it’s a stone language, a metal language.«1134 Das Hebräische wurde ihm nicht nur gesprochene Sprache des Alltags, er erarbeitete es sich als Sprache seiner Kunst. Und in dieser Sprache suchte Appelfeld dann danach, die Sprache seines Herkommens wieder hören zu können, die Sprache seiner jüdischen Herkunft, die trotz aller Assimilation zu ihm und seinem Elternhaus gehörte, das er in sich trägt und mit seinen Werten nach Israel bringen und dort behalten, beobachten, retten wollte – als Schomer1135 seiner Herkunft. »Every home has its unique value. It’s a matter of perception. I’ve mentioned the Ba’al Shem Tov and the Carpathians. I’m no less linked to Jews such as Kafka, Franz Werfel, Paul Celan – all of them came

1130 Werfel Franz, Höret die Stimme, 635. 1131 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 15. 1132 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 81: »for Appelfeld a primary issue … is how we speak or write mutely so as simultaneously to respect the impossibility of language to say anything about an experience that itself bypassed language, and yet so as not, at the same time, to forfeit the saying of what can, and indeed must, be said.« 1133 Appelfeld Aharon, Geschichte eines Lebens, 162. 1134 Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 54. 1135 S. S. 256f.

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from the region that I came from. They nourished my soul with a different kind of Jewish food.«1136 Dem aufmerksamen Schomer Aharon Appelfeld fügen sich trotz der Brüche sein Herkommen aus Czernowitz und sein Leben in Israel zusammen – über die Brücke der Sprache, die die Nazis zwar in die Luft gejagt haben, Appelfeld jedoch in widerständiger Erinnerung langsam bauen konnte wie sein Vater die Brücke über den Bug. So verbindet er die Welt seiner Mutter, die, ganz verloren in ein Buch von Franz Werfel, las und gar nicht hörte, als der kleine Erwin sie ansprach1137, und die Welt Israels, die ihre Sprache aus der hebräischen Bibel und der hebräischen Überlieferung empfangen und weitergebildet hat – genauso wie Appelfeld selbst seit 1946. »I am trying to make the past – present; perhaps the future, too.«1138 Die Kunst Appelfelds nimmt die Rezipienten mit und zieht sie in die Geschichten hinein. In dieser Grundausrichtung ist Appelfeld Franz Werfel viel ähnlicher als Franz Kafka, der in seinen Geschichten durch Verfremdungen oder durch deren fiktiv-dokumentarischen Charakter wie In der Strafkolonie Distanzen schafft. Appelfelds Geschichten werden zur Erfahrung in ihrer Direktheit, wie Emily Miller Budick schreibt: »The story told is the story told – no more, no less. There is no way to understand anything except by experiencing everything the text says and does and is.«1139 Damit hebt Appelfeld neben der Nähe zur biblischen Sprache noch etwas Wichtiges, das zur Bibel gehört: Auch die Bibel erzählt Geschichten, die zur Erfahrung werden sollen. Sie informieren nicht, sie belehren nicht, sondern sie werden zum Geschehen, das Rezipienten trifft. Literatur als doppelschichtige Erfahrung: Aus dem Widerfahrnis eines meist Unbegreiflichen gestaltet, wird sie zum Widerfahrnis der Lesenden. Dadurch gehen all diese Geschichten weiter, ziehen durch die Jahrhunderte, wandeln sie und scheitern an ihnen, hinterlassen Spuren und werden doch häufig durch Eisenstangen niedergedrückt, durch Iron Tracks. Auch die Welt der Eisengeleise ist nicht eindeutig, sondern doppelschichtig: Sie können einen Menschen im rasenden Tempo der Züge zurückbringen an wichtige Stellzonen seines Lebens, und sie erinnern ihn dann in Appelfelds Werk stets auch daran, dass Züge Vorboten und Fahrzeuge des Todes waren.1140 »To travel the tracks is to affectively

1136 Appelfeld Aharon / Appelfeld Meir, A Table for One, 96. 1137 »The bookcase was open. I could have put a hand on the thin books but they seemed to tremble at the thought. A dark self-created aura enveloped them. Mother sat reading a book by Franz Werfel. She read with great concentration, even when I stood by her side and said, ›Mother.‹ (Appelfeld Aharon, As an Apple of the Eye, 6). 1138 Appelfeld Aharon / Appelfeld Meir, A Table for One, 53. 1139 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 16. 1140 Cohen Joseph, Voices of Israel, 116.

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experience and acknowledge rather than to translate and interpret our lives and the lives of others.«1141 Hier schließt sich der Bogen mit der biblischen Erfahrung und ihren Geschichten. Gewaltdurchzogen blieben die Wege Israels, bedrängt von Anfang an bis heute. Im Ruf nach Rache regt sich einzig der Lebenswille, der sich an das Versprechen vollen Lebens erinnert (Ps 16,11); diesen Lebenswillen hat Abraham Sutzkever kämpferisch realisiert. Wer durch die Hölle gegangen ist und sich an sie erinnert, der bringt immer etwas von ihr in die Gegenwart mit – als Erinnerung. Das macht die Bibel so, dem entzieht sich auch Aharon Appelfeld nicht. Er kann es nicht, weil der Horror in ihm nachlebt.1142 Wie der Flüchtling ein Flüchtling bleibt, auch wenn er sich verwandelt und so über die Katastrophe hinauskommen kann, so lässt der Horror im Überlebenden gesteigerte, manchmal quälende Verletzlichkeit zurück1143, in der die Wunden der Schoa zu etwas Chronischem geworden sind. Daher bringen Appelfelds Romane auch keinen glücklichen oder einfach guten Ausgang. Durch sie erschafft Appelfeld keine Sonderwelt, sondern bringt den Widersinn der ausgeübten Gewalt herauf und die Bedeutung des kräftigen, aber durch und durch menschlichen Widerstands gegen sie – in der Grundspannung zwischen »the inevitable factuality of the Holocaust and the poetic attempt to go beyond it.«1144 Deshalb schreibt Appelfeld auch keine einfach gefälligen Romane. Nicht nur darum ist es unmöglich, sie als Unterhaltung und Zeitvertreib zu lesen, weil sie Erfahrungen manchmal geradezu aufnötigen, sondern vor allem auch deswegen, weil sie erwartbaren Schemen nicht folgen. Sie fangen selten mit einem markanten Auftakt an und haben auch keinen Plot, der nach einem Viertel des Umfangs kommen sollte; wenn es einen Plot gibt, so meist gegen das Ende einer Geschichte – und da ist er selten die Spitze, sondern oft eher der selbst wieder doppeldeutige Tiefpunkt der Geschichte, die Ermattung, die Müdigkeit wie in Der unsterbliche Bartfuss oder der erlösende Schlag Brunos in Brums Gesicht in Zeit der Wunder. Appelfeld ist, wie Gila Ramras-Rauch es formuliert hat, ein 1141 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 77. 1142 »I am of the opinion that Appelfeld has produced major achievements in his short stories, such as ›On the Saint George Islands‹, ›Bertha,‹ or ›Another attempt,‹ stories of survivors who bear the past with them like a hump on their backs and cannot escape it. Better than most other writers known to me, Appelfeld has presented the survivor who has not survived, and will never survive, because he bears his memories with him like a can of worms. (…) Anyone who has passed through the seven circles of hell brings hell with him. Even the land of our fathers in ›The Burning Light‹ seems ›to the survivors‹ as if it were another version of death and detention camp. The horrors have been internalized, and one cannot free oneself from them, and those who survived physical death create situations of horror and suffocation for themselves wherever they go. Time does not heal the wounds, but does it soothe them.« (Shaked Gershon, Afterword, 287). 1143 Shaked Gershon, Afterword, 288. 1144 Ramras-Rauch Gila, Introduction, 16.

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»master of modern anti-tales«1145, darin formal Kafka verwandt, und ein Literat, der vorwiegend die »disfiguration«1146 der Wirklichkeit (Lawrence L. Langer) betreibt. Denn die Welt darf nicht dominiert bleiben durch die Sprache, die getötet hat, durch die systematische Geschlossenheit, die konstruiert und lebensgefährlich ist, und durch unveränderliche Gestaltungen, die Zukunft vernichten. Aharon Appelfelds Weg verneint die Welt des Todes, der Abgeschlossenheit und Unbeweglichkeit. Er ergab sich ihr nie. Sein Weg vom Deutschen zum Hebräischen ist deshalb ein Lebens- und Dichterweg vom zerstörten Herkommen aus Czernowitz zur lebbaren Gegenwart und Zukunft in Jerusalem.

2.

Von Czernowitz nach Jerusalem

Begonnen hat sein Leben am 16. Februar 1932 in Czernowitz, Bukowina, und zwar in der Maserikstraße, in der auch Paul Celan lebte.1147 Seine Eltern gaben ihm den Namen Erwin1148, den Appelfeld in seinem Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen aus dem Jahr 2010 als Name des Protagonisten gewählt hat. Dazu erhielt er auch den Namen seines Großvaters mütterlicherseits, Urceg. Das jüdische Czernowitz hatte weithin deutsch1149 zu seiner Sprache gemacht ähnlich den Juden etwa in Prag oder in anderen großen Städten der ehemaligen Habsburger Monarchie; deutsch wurde vor allem unter den assimilierten und den zionistischen Juden gesprochen. Neben ihnen fand sich in Czernowitz auch eine große Gruppe chassidischer Juden1150, die vorwiegend jiddisch sprach. Sein Vater Michael, geboren 1898, und seine Mutter Bonyah, geboren 1905 als Bonyah Sternfeld, gehörten zum assimilierten Judentum, hatte mit Erwin ihr einziges Kind und für den Buben, aber auch für Haushaltsarbeiten ein ukrainisches Kindermädchen. Dieses Czernowitz, in dem damals etwa die Hälfte seiner 120.000 Einwohner jüdisch war, hat Aharon Appelfeld überall hin mitgenommen – vor allem auch die von daher kommende Sehnsucht nach dem Judentum1151, das Appelfeld nie versteckt oder verleugnet hat. In den Sommermonaten der 1930er Jahre verbrachte er längere Zeiten bei den Großeltern mütterlicherseits in den Karpaten und lernte dort religiöse Praxis kennen, die aus der Tiefe jüdischer Tradition stammte. Beide Großväter hatten 1145 1146 1147 1148 1149

Ramras-Rauch Gila, Introduction, 16. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 1 und 5. Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 47. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, XVII. Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 45; Cohen Joseph, Voices of Israel, 131. 1150 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 3f. 1151 Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 56.

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jeweils eine kleine Synagoge, in der die Frommen der nächsten Umgebung zum Gebet zusammenkamen. Wenn die Familie bei den Eltern seiner Mutter war, dann verwandelte sich auch Erwins Mutter ein wenig und lebte in geübter Selbstverständlichkeit in der religiösen Tradition ihrer Eltern mit. Von all dem ziehen durch Appelfelds Gesamtwerk immer wieder ein paar Elemente, meist als verhaltene Sehnsucht nach einer verlorenen Welt, die sowohl durch die Assimilation als auch durch die Schoa verschwunden ist – und doch hat Appelfeld, anders als Kafka, etwas vom »letzten Zipfel des davonfliegenden Gebetmantels noch gefangen«1152, der ihn später nach Eretz Israel brachte. Später – das war nach dem Einschlag des Sommers 1941, des letzten Sommers, den Erwin bei den Großeltern verbringen konnte. Deutsche und großrumänische Kollaborateure dringen in jüdische Häuser ein und ermorden im Garten des großelterlichen Hauses seine Mutter1153 und seine Großmutter. Erwin und sein Vater können fliehen. Dann sofort der nächste Schlag: Alle Jude aus dem Gebiet zwischen Prut und Siret1154 werden evakuiert und in Czernowitz ghettoisiert. Aus dem Ghetto werden ab dem 11. Oktober 1941 – wie bei Elie Wiesels Deportation aus Sighet am 13. Mai 1944 ebenfalls sein Schabbat – 75.000 Juden nach Transnistiren und von da im Winter in ukrainische Arbeitslager deportiert. Von dort können Erwin und sein Vater entkommen, jeder für sich, nachdem die beiden im Arbeitslager getrennt worden sind. Erst mehr als fünfzehn Jahre später fanden sie einander wieder. 1152 Kafka Franz, Beim Bau der chinesischen Mauer, 215. 1153 Samuel Bak, ein Jahr nach Aharon Appelfeld geboren, hat sich in seiner Malerei mehrfach mit der Schoa befasst. Zwei Bilder sind es besonders, auf die ich hinweisen möchte, weil sie mit Appelfelds Erfahrungen unmittelbar verbunden sind: Im Ölbild von 1978 Du sollst nicht töten (Zeugnisse des Holocaust, 195) hat er das zerbrochene Heiligtum gemalt und in ihm Reste der Bundestafeln; auf diesen Resten sind nur noch Teile zu lesen, und diese Teile haben die ursprünglichen Imperative verkehrt. So liest man auf einer Tafel den Befehl ‫תרצח‬ – tirzeach! / Töte! Man wird erinnert an Jeremias letzte Erfahrung im zerstörten Tempel, wie sie Franz Werfel komponiert hat: Auch ihn zog nur ein Splitter der Bundestafeln an, nicht mehr. Was darauf stand, hat Werfel nicht verraten, es genügte, dass der Splitter zu den Tafeln gehörte. So mag auch bei Samuel Bak das Faktum, dass die Bundestafeln von Mördern zerbrochen wurden, die ihren Mord zum Imperativ verwandelt haben, darauf zielen, die Verneinung ‫ – לא‬lo / nicht dieses neuen Gebots in Erinnerung zu bewahren und sie nie zu vergessen. – Bereits 1946 hat Bak das Gouache-Bild Mutter ist nicht mehr gemacht (ebd., 254). Gelbes Licht fällt von rechts auf Gesicht und Körper der Mutter, die tot am Boden liegt, das Haar wie vom Sturz auf den Rücken geworfen. Ein kleines Mädchen, dessen kurzes Kleid dieselbe bräunliche Gewandfarbe wie das der Mutter zeigt, steht abgewandt, die Mutter in ihrem Rücken, Augen geschlossen, die rechte Hand am Mund, in der linken zwei rote Schuhe und genau vor sich sein langer Schatten. Die schmalen Körper der beiden berühren sich nicht, auch nicht ihre Schatten. Vom Betrachter aus gesehen deckt das Mädchen die Mitte des Körpers der Mutter ab. Allein und alleinstehend nach dem Mord an der Mutter – wahrscheinlich das furchtbarste Trauma, das ein Kind in sich bewahren kann. 1154 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 6.

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Von dieser Zeit an bis ins Jahr 1944 war Erwin Appelfeld auf der Flucht, schloss sich Flüchtlingstrecks an, in denen sich auch immer wieder Kriminelle fanden, die jedoch Kinder schonten, lernte zu überleben1155 und blieb mit seiner Frage allein, was ihn von den Kindern unterschied, die er aus dem Wald beobachtend zur Schule gehen sah, ohne dass sie vor irgendjemandem hätten davonlaufen oder sich verstecken müssen. Vieles hat ihn überleben lassen, auch körperliche Merkmale, die die Deutschen zu den Kennmalen des Arischen gerechnet hatte. Der junge Erwin war ein blonder, blauäugige Bub und hatte rasch verstanden, dass sein verlassenes Herumziehen in fremder Gegend ihn gefährdete. Das konnte er nur dadurch etwas mindern, dass er die Geschichte erzählte, seine Eltern seien im Krieg ums Leben gekommen und er ein Waisenkind, ein blondes, blauäugiges Waisenkind… In diesen drei Jahren drückten sich all die Härten und Zerrüttungen ein, die in Appelfelds Werk ihre Spuren ziehen bis heute: die Härten der Flucht und der Verfolgung, die keinen Ruheplatz gewährte, furchtbare Gegenden, vom Wind gepeitscht, vom Regen durchweicht, betäubender Modergeruch, listige Bauern, die sich auf Ausbeutung verstanden und individuelle Gewalt ausübten1156 wie die Deutschen die militärische, Fremdheit mit allem und jedem1157 und doch eine geheime, rettende Verknüpfung mit dem Judesein, die bei Kindern anders wog als bei den Erwachsenen, denen der Bruch zwischen Gestern und Heute viel mehr wegriss als den Kindern, die gleichwohl intensiver von Erfahrungen getroffen wurden als Erwachsene. »The Jew suddenly had to confront, against his will, not only the full horror of his existence but also the desintegration of the beliefs which just the day before had given support, structure, and meaning to his life. We discuss the Holocaust in terms of physical suffering without seeing that the spiritual suffering was no less extreme. If from the outside we were assailed by accusations, from within they seethed with spiritual agony. Who and what is a Jew? In the penal colony that distress was their daily bread and water. Suffering of that sort was not the children’s lot, although they absorbed it all in their cells, as only children can absorb things. In that turmoil there was no place for words and questions. Therefore they quickly learned not to ask. From silent expressions they learnt how to imprison fear. They will never forget their parents’ expressions on the empty lots where tens of thousands of people were crowded together.«1158

1155 Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 48. 1156 Nicht selten sind die Bauern in Appelfelds Geschichten auch betrunken – ein Motiv, das auch Chaim Nachman Bialik kannte und mit dem gewalttätigen Gegenspieler Israels, mit Esau, identifizierte (Oberhänsli-Widmer Gabrielle, Bilder vom Bösen im Judentum, 190). 1157 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 60. 1158 Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 9.

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Aharon Appelfeld – »Ich habe das Tor gesprengt«

Auf der Flucht verwandelten sich die elternlosen Kinder rasch und wurden also ihres Jüdischsein gewahr, nicht nur durch die tödliche Gefährdung, die sie fühlten, sondern auch dadurch, dass ihnen ihr Jüdischsein trotz allem den einzigen, den letzten wirklichen Fluchtpunkt bieten konnte. Denn von überall sonst waren sie ausgestoßen und verjagt, nirgendwo mehr Zugehörige. »Thus, with no parents, in enemy fields, isolated from humanity, we grew up like animals: crowded and oppressed by fear. The life instinct guided us, and we obeyed it. In the forests and villages we felt the secret of our Jewishness. It was then, apparently, that the knots were tied which bound us to the flickering flame of the Jewish secret. We knew that that secret made us fair game for every hand and axe, but without it our existence would be more eager. That secret was our only shelter from all our misery.«1159

Das hat der Bub damals schon gefühlt, und der Schriftsteller Appelfeld hat in den Jahren seines literarischen Schaffens versucht zu verstehen, was in das fliehende und ausgestoßene Kind gefallen war1160, in seine grauenvollen Tage, deren jeder ihm von neuem deutete, dass er keinen Platz zum Leben hatte und der gute Ort, hamakom (‫)המקום‬, irgendwo anders liegen musste, nicht hier in den Zonen, die von fern noch ans Elternland grenzten. 1944 rückte die Rote Armee in die Ukraine vor. Der nun 12jährige Erwin Appelfeld schloss sich ihr an, wurde in einer Division Küchengehilfe und kam mit der Armee weiter Richtung Südosten. Bald aber setzte er sich mit acht anderen Burschen wieder ab, schlug sich über Jugoslawien nach Italien durch und erreichte so einen Fluchtpunkt, den viele Überlebende angesteuert hatten: Neapel. In der Hafenstadt, von der viele Schiffe abgingen, einige auch nach Eretz Israel, überfüllt, wenn auch in etwas besserem Zustand wie heutige Flüchtlingsschiffe auch, die sich von Nordafrika Richtung Italien bewegen und häufig Opfer von gezielten Blockaden der Grenzpolizei, widrigen Meeresbedingungen und schlechten Materials werden – in dieser Hafenstadt traf Appelfeld also nicht nur auf Überlebende verschiedener Lebensalter, sondern auch auf eine ganz spezifische Gruppe von Kriegsgewinnern, auf Klosterleute, die einige Jugendliche aufnahmen, unter ihnen auch Appelfeld, und gemäß ihrer Überzeugung von der Wahrheit und Vollendung der Welt durch Christus diese Burschen konvertieren wollten. Gila Ramras-Rauch schreibt: »Near Naples they encountered a monk, who took them in. For the first time in years they had sufficient food and rest. They were taught Italian and French. Appelfeld is certain that an attempt was made to convert the boys to Catholicism. Strangely, despite the calm and the rest, this experience too became a nightmare. Near the monastery the

1159 Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 11. 1160 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 90.

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boys met a soldier from the Palestine Jewish Brigade. In Naples they encountered Throngs of displaced persons.«1161

Es war noch keine vier Jahre her, als mitten im Krieg und mitten in der industriellen Vernichtung von Juden Papst Pius XII. in der Weihnachtsansprache 1942 vor dem Kardinalskollegium davon gesprochen hat, dass Jerusalem, das für das Judentum stand, der göttlichen »Einladung und Gnade mit starrer Verblendung und hartnäckiger Verleugnung entgegentrat, die es auf dem Wege der Schuld bis hin zum Gottesmord geführt hat.«1162 Und nun also kamen die Kinder und Kindeskinder dieser Schuldigen aus der Totenwelt hervor und sammelten sich wieder, von Hunger und Verkommenheit gezeichnete Gestalten, die jahrelang wie Tiere aufgewachsen waren und leben mussten; die Beschuldigung blieb bestehen. Doch die Methode der Liquidation sollte sich wandeln. Das Pogrom von Kielce 1946, im katholischen Polen verübt, bot sich daher schwerlich als Modell in Italien an; zudem hatte man in Italien den Duce gestürzt und verhaftet und so die politischen Bedingungen verändert – ein Umstand, den Pius XII. in »großer Sorge«1163 ablehnte, weil er, der deutschen Propaganda stets empfänglich, Freimaurer und Kommunisten in ganz Italien am Werk sah, die das Land in eine politische Richtung bringen konnten, die »das Schlimmste« für den Fall befürchten ließ, »falls sich Deutschland veranlaßt sähe, diese Gebiete zu räumen.«1164 Doch Konversion war möglich, sie war geradezu ein missionarisches Gebot der Stunde, die letzten Reste des europäischen Judentums der christlichen Wahrheit zuzuführen und so auszumerzen. Appelfeld hatte diese Bemühungen selbst erlebt. Für den Burschen, der ohne irgendeinen Verwandten in Neapel angekommen war, wirkte diese Konversionsbemühung wie der letzte Akt der Auslöschung, der mit sanften Verlockungen inszeniert war und nichts anderes bot als eine gezielte Verführung, um die letzten Beziehungen Appelfelds zu seinem eigenen Herkommen zu zerstören. Wie tief das in ihn eingedrungen ist, wird klar, wenn man Passagen aus A Table for One liest, in denen Appelfeld ein Interview mit einem christlichen Mönch namens Bruder Raphael bringt, das er diesem im Jahr 1973 gegeben hat. Deutlich war Appelfelds Vorbehalt, deutlich durch dessen Mehrdeutigkeit: »I don’t like to pontificate.«1165 Doch dann entwickelte sich ein knappes, sehr dichtes Gespräch über die Frage des Christentums, auch das unter dem Vorbehalt des Unpassenden:

1161 1162 1163 1164 1165

Ebd., 7. Pius XII. zit. in: Friedlander Saul, Pius XII, 225. Pius XII. zit. in: ebd., 187. Pius XII. zit. in: ebd., 187. Appelfeld Aharon / Appelfeld Meir, A Table for One, 95.

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»›This is not a question that should be put to me. From the very outset, Christianity had a negative attitude to Jews and to the Jewish faith. This negativity only deepened with the years and it’s well known how it assumed various faces and forms. It filtered down from the priesthood to the common people. Jews were perceived as the murderers of God, not as an allegory, but quite literally. This was mainly expressed in the image of Jesus crucified in the cross. Every believing Christian sees this before him every week in church. That, it seems to me, is a fair summary of the relationship between Christianity and the Jews. Because this was one-sided, since the Jews in this narrative played a passive role, it’s hard for me to say anything. Christianity, it seems to me, has to face up to this.‹ ›Are you angry at Christianity?‹ ›I do not feel anger at abstract things. There were Christians who took me into their home during the war and helped me, and there were those who put obstacles in my path. Once I heard a Ukrainian peasant woman saying to herself, »If the Jews hadn’t murdered Jesus, our Jesus would still be alive.« Of course she did not realize that I was a Jewish child. Imagine what would have happened had she known.‹«1166

Dazu fünf Anmerkungen: Erstens: Appelfeld hat nicht übertrieben, wenn er vom Vorwurf des Gottesmordes sprach, der Juden generell trifft; Übertreibungen sind auch nicht möglich. Der Gottesmord wurde im Christentum wörtlich genommen – ein genauer Hinweis auf eine deutlich monophysitische Grundkonstruktion1167 der Christusfigur, die seit siebzehn Jahrhunderten für orthodox gehalten wird und im Wesentlichen die Verneinung des jüdischen Jesus aus Nazareth erwirkt hat, seine Herauslösung aus dem Judentum. Darüber täuscht auch keine dogmatische Interpretation hinweg, die sich in diesem Sinn orthodox gibt. Solche monophysitisch gestimmte Orthodoxie ist antijüdisch und sie ist antijesuanisch. Aus solchem Monophysitismus entzündet sich bis heute indirekter oder direkter antijüdischer Affekt; er ist in dem Maß unausweichlich, als Jesus unmittelbar als Gott identifiziert wird. Um das zu erkennen, braucht es keine theologisch geschulte Dialektik, sondern einen geraden Sinn fürs Verständnis von Worten, von deren Bedeutungen und von deren Wirkungen – also hermeneutische Klarheit. Zweitens: Appelfeld unterschätzt auch keineswegs die Macht des Klerus. Über Jahrhunderte hinweg war er die religiöse Bildungsinstanz; was er aussprach, galt als unumstößliche Wahrheit dem Volk, das über die Basistexte des Christentums nichts befinden konnte. Denn es verstand deren Sprache nicht. Große Rhetoren und Prediger über die Jahrhunderte hinweg sind Beispiele für diese von Appelfeld angesprochene Vermittlungsarbeit der Priesterschaft in Bezug auf den Volks1166 Ebd., 97. 1167 Monophysitismus bedeutet die Auflösung der Spannung von Gott und Mensch in Jesus, und zwar in dem hier gemeinten Sinn als Auflösung zugunsten Gottes, so dass die Göttlichkeit Jesu entscheidend wird. In (fast) allen Aussagen über Jesus, denen im Christentum große Bedeutung zugemessen wird, geht es um die Betonung seiner Göttlichkeit. Das aber hat mit jüdischen Traditionen und jüdischem Verstehen im Grundsatz nichts mehr zu tun.

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glauben und seine antijüdische Bildung: Justin der Märtyrer, Ambrosius von Mailand, Johannes Chrysostomos, Konzilsversammlung wie die 17. Versammlung in Toledo im Jahr 6941168 oder das Vierte Konzil im Lateran von 12151169, mittelalterliche Kreuzzugsprediger wie Bernhard von Clairvaux, der späte Martin Luther oder der Barockprediger Abraham a Sancta Clara, der Gründer der Wiener Kirchenzeitung Sebastian Brunner und viele andere wirkten in dieser Weise auf die Bildung des christlichen Glaubens ein. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten zwar etwas verändert, die Bastionen des Klerus haben Risse bekommen; ihr letzter Mann hat mittlerweile resigniert und Papst Franziskus weist in eine ganz andere Richtung, in der es um die Mündigkeit und Aufrichtigkeit geht, und das vor allem in der Wahrnehmung von Armut und dem Kampf gegen sie – ohne dass sich das wieder ins Mystische einer geistlichen Armut drehen lässt. Doch ebenso manifest ist die Persistenz der antijüdischen Atmosphäre im Christentum. Sie trägt ein Nachleben, das hartnäckig und ungebeugt aus den langen Jahrhunderten seiner Bildung und Durchsetzung kommt, trotz der mittlerweile recht leicht sitzenden Bereitschaft zur Entschuldigung. Drittens: Die Primitivität des Bekenntnisses der ukrainischen Bäuerin ist vielleicht erloschen – in ihrer direkten Form. Subtil lebt sie heute fort in den Beschwörungen der Präsenz des Christus, der trotz des Kreuzes und trotz der Juden ewig da ist. Er wird angebetet, als hätte die aus dem Judentum kommende absolute Wesensdifferenz zwischen Gott und den Menschen keinerlei Bedeutung mehr; er wird sakramental herbeiereignet, als könnte man über ihn verfügen wie in magischen Mysterienreligionen; er ist das Zentrum christlichen Glaubens, als hätte er den biblischen Gott in sich absorbiert; er überspringt den Graben, den selbst der Heidenchrist Lukas klaffen sah zwischen denen, die bei Gott endgültig gerettet sind, und denen, die in der Zeit leben (Lk 16,19–31). Er lebt, obwohl man ihn getötet hat, jetzt und hier, gerade so wie die ukrainische Bäuerin es gewollt hatte, und er lebt mit einem klar nichtjüdischen Profil. Viertens: Einzelne Christen haben geholfen. In ihrem Risiko, selbst ausgeliefert und umgebracht zu werden, folgten sie nicht der christlichen Dogmatik, sondern dem Antlitz von Juden und dem Gewissen, das sich wecken ließ. Unter ihnen war auch mancher Mönch. Doch im Wesentlichen, so Appelfeld, war von diesen grauenvollen Jahren das Klosterwesen wenig berührt, verglichen mit der Todesnot der Juden oder der Kriegsnot in Europa. In Klöstern konnte man weiter leben und fand alles, was man zum Leben brauchte; da und dort konnte man auch Renovierungen durchführen1170, obwohl rundherum vieles in Schutt lag. Diesen

1168 Stemberger Günter (Hg.), 2000 Jahre Christentum, 274f. 1169 Wohlmuth Josef (Hg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien. Band 2, 265–267. 1170 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 56.

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Kontrast hat Appelfeld nicht nur in die Erzählung In the Fertile Valley von 1963 eingebaut; Klöster sind in seiner Literatur immer wieder präsent.1171 Fünftens: Die bewusst hervorgebrachte und geschichtlich gewachsene Fremdheit zwischen Christen und Juden hat einen der bemerkenswertesten Reflexe in Appelfelds Elternland gefunden. In diesem Roman kommt Wanda vor, eine Christin, die Juden zugeneigt war und viele der jiddisch sprechenden Schidowzer Juden gekannt hatte. Wenn sie nach der Schoa von diesen Juden sprach, strahlte sie, und sie sprach so von ihnen, »als spreche sie von Fabelwesen, die aufgrund eines entsetzlichen Missverständnisses ausgestorben waren. Wäre dieses Missverständnis nicht gewesen, lebten sie und ihre Nachkommen bis heute hier. ‚Ich sage dir noch etwas, was dich vielleicht erstaunen wird. Als ich jung war, kamen mir die Juden vor wie die ersten Christen. Die waren in der Minderheit und haben unter allen anderen gelitten, sie hatten einen demütigen, schmucklosen Glauben, ohne Pracht. Ich war mir sicher, dass sich die Juden uns eines Tages anschließen und das Geheimnis der ersten Christen eröffnen werden.‹«1172

Wanda repräsentiert eine religiös-christliche Auffassung, geladen mit Sehnsucht nach einer Zeit, in der die Abtrennung des Christentums vom Judentum noch nicht vollzogen war – eine Sehnsucht, die sich auch bei Franz Werfel findet1173, der diese jedoch von der jüdischen Seite aus thematisierte, das heißt von der Seite der religionsgeschichtlich und religionspolitisch unterlegenen Gemeinschaft, die endlich die Oppression loswerden wollte. Daher dachte er auch nicht an die Auflösung des Judentums im Christentum, weil das keine Vollendung, sondern den Untergang jüdischer Überlieferung nach sich zöge, ohne die jedoch das Christentum zu einem mythologischen Artefakt einschrumpft. Das Artifizielle, die Fiktion des faktisch judentumsfrei gewordenen Christentums, das seinen Christus ganz ohne Israel ins Dogma gehoben und also das Jüdische des Nazareners unter die Häresie gestellt hat, bildet bis heute den Kern seiner dadurch zwangsläufig antijüdischen Grundhaltung. Dieser hält bis heute an. Ein Beispiel dafür ist das Dokument Dominus Iesus, am 6. August 2000 durch den damaligen Präfekt der Glaubenskongregation und späteren Papst erlassen, das viele Seiten macht und auf keiner einzigen das Herkommen Jesu aus Israel und dem Judentum, geschweige denn seine lebenslange und ewige Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft auch nur angesprochen hat. Eine ähnliche Haltung repräsentiert Wanda auch mit ihrem Wunsch, dass die Juden den Christen ihre ursprüngliche Form zeigen und so im Christentum ein-, auf- und untergehen werden. So spricht eine Siegerreligiöse, also eine Christin, keine Jüdin. Wanda ist 1171 Ebd., 148f. 1172 Appelfeld Aharon, Elternland, 204. 1173 S. S. 89.

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in dieser Hinsicht dann doch eine Anti-Werfel-Figur, weil sie von der konträren Richtung her anmarschiert. Appelfeld hat das sehr genau in wenigen Sätzen dargestellt. Trotz der immer wiederkehrenden Erzählungen aus dem Geflecht von Christentum und Judentum und trotz der eigenen Erfahrungen vor allem aus dem Jahr 1946 in Italien hat Appelfeld in seiner Literatur nie religiös ideologisiert.1174 Er wurde jüdischer Schriftsteller, aber kein religiöser Schriftsteller.1175 Das heißt: Er ist Jude seiner ganzen Existenz nach mit all den eigenen Erfahrungen, die mit jüdischen Erfahrungen über Jahrtausende hindurch verbunden sind; doch er schreibt nicht als Apologet des Judentums, auch nicht als Apologet seines Judentums, sondern als Schriftsteller, der aus dem Judentum kommt und ihm zugehört. Appelfelds Einwanderung nach Eretz Israel im Rahmen der »Youth Aliyah«1176 hat sein Judesein vertieft. Die Schiffe der Hagana jedoch – auf einem von ihnen befand sich Appelfeld – wurden von den Engländern aufgrund der restriktiven Zuwanderungsbestimmungen nach Eretz Israel abgefangen und die Überlebenden entweder in Eretz Israel oder auf Zypern hinter Stacheldraht in Lagern interniert – eine geschichtliche Perversion, der man sich widersetzte: Auf einem der Schiffe der Hagana brachte man neben einer hebräischen Tafel auch eine in lateinischer Schrift gefasste, gut lesbare Tafel mit dem Text an: »Greece, Rome, Spain, Germany. England?«1177 Damit erinnerten Aktivisten auf dem Schiff an große geschichtliche Katastrophen des Judentums: an die Seleukiden, die unter Antiochus IV., dem ersten Imperator im Mittelmeerraum, der sich als »der geoffenbarte Gott«1178 selbst verklärt hatte, den Jerusalemer Tempel entweiht und den Kult unmöglich gemacht hatten; an die römischen Imperatoren Titus, der den Tempel zerstört hatte, und Hadrian, der nach dem Bar Kochba-Aufstand ein langfristiges Betretungsverbot Jerusalems für Juden bei Todesdrohung angeordnet hatte; an die elfjährigen Untersuchungen der spanischen Inquisition, die 1492 mit der Vertreibung aller Juden von der Iberischen Halbinsel endete und zum ersten Mal in der europäischen Geschichte Rassegesetze erließ, die die Reinheit des Blutes der Christen, die »limpieza de sangre«1179, zum Ziel hatten; schließlich an das eben zu Ende gegangenen Massenmorden der Nationalsozialisten und ihrer Kollaborateure. So kam Appelfeld im Jahr 1946 in Eretz Israel zunächst in das Lager Atlit, auch dieses umgeben von undurchdringlichem Stacheldraht, und dann von dort nach 1174 1175 1176 1177 1178 1179

Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 32. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 42. Ramras-Rauch Gila, Introduction, 8. Naor Mordecai, Eretz Israel, 249. Soloweitschik Max, Art. Antiochus, 329f. Brenner Michael, Kleine jüdische Geschichte, 122–125.

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Jerusalem, wo ein Verband einer Versuchslandwirtschaftsschule sich mit harter Arbeit und strenger hebräischsprachiger Lernerziehung um die Einwurzelung der jungen Überlebenden kümmerte. Sein ganzes Leben änderte sich dadurch. Man gab ihm einen neuen Namen, Aharon. Ihm schien dieser zu groß, weil Aharon der Mund des Moses war und Erwin das nicht ausfüllen wollte; zudem war er mit der Wahl seines Namens durch seine Eltern zufrieden gewesen.1180 Doch der 14jährige, der aus der jahrelangen Flucht kam und gelernt hatte, unauffällig zu leben und gleichzeitig zu wissen, wann es Zeit ist zu kämpfen, widersprach nicht und nahm seinen neuen Namen hin. Mit diesem Namen wuchs er ins Land hinein, und heute sagt er, der Name gefällt ihm, er ist wie der des Mose ägyptisch, nicht hebräisch. In den zwei Jahren bis 1948 verrichtete Appelfeld vier oder fünf Stunden landwirtschaftlicher Arbeit täglich in Jerusalem, dazu kamen zwei Stunden des Studiums von Sprache, Schrift, Kultur, Religion Israels. Vor allem im Studium der Sprache fand er seine Aufgabe und traf damit nochmals auf eine Entsprechung zu Franz Kafka, der gleichfalls hebräisch gelernt und geübt hatte und ebenso aus einem assimilierten Elternhaus kam, das mit dem Hebräischen nicht verbunden war.1181 14. Mai 1948. Deklaration des unabhängigen Staates Israel durch David ben Gurion in Tel Aviv.1182 Noch in der Nacht darauf – wieder ist es Schabbat – erfolgt der Angriff von fünf arabischen Staaten auf Israel. Aharon Appelfelds Gruppe sollte daraufhin in den Westen Jerusalems verlegt werden, nach Ein Kerem, eine Siedlung, in der sich dann später ebenfalls eine Landwirtschaftsschule befinden wird. Um dahin zu gelangen, wurde ein Angriff geplant, denn das Dorf war überwiegend arabisch bewohnt. Doch als die Truppe Ein Kerem erreichte, herrschte dort Totenstille. Alle Häuser verlassen. Nur ein paar Schafe und Ziegen trieben sich herum. 1950–1952 wird er zur Israelischen Armee eingezogen, und gegen Ende dieser Zeit öffnete ihm seine Zukunft das, was auch, wie oben schon gezeigt, bei Stefan Zweig und Elie Wiesel literarisch bedeutsam war: das Schachspiel. »Appelfeld has related what he calls his Cinderella story. One day the camp commander and his deputy were playing chess in the dining hall while Appelfeld was cleaning the tables. He had been a good chess player since childhood, and his father had been chess champion in Vienna. The deputy was called away for duty. Appelfeld offered to continue the game, and eventually he managed to beat all contenders. That aroused the interest of the commander, who called him in and asked about his background. Appelfeld expressed a desire to study and receive a high school diploma, and his wish was granted.

1180 Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 63. 1181 Cohen Joseph, Voices of Israel, 133. 1182 Naor Mordecai, Eretz Israel, 264f.

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For Appelfeld this was a hard, tense period. The final examinations required difficult intellectual efforts in English, Bible, Biblical interpretation, Talmud, physics, and math.«1183

Nach dem Militärdienst nahm er ein Studium an der Hebräischen Universität in Jerusalem auf; besonders Lehrer wie Martin Buber, Gershom Scholem oder Dov Sadan, die er auch in späteren Zeiten immer wieder in Jerusalemer Kaffeehäusern traf 1184, waren ihm wichtig, weil sie die untergegangene jüdische Kultur von Zentral- und Osteuropa repräsentierten1185, die auch eines der Zentren seines späteren literarischen Werks bildet. Vor allem betrieb er das Studium des Hebräischen und des Jiddisch, das die Sprache dieses untergegangenen Judentums war und für Appelfeld ähnlich wie für Elie Wiesel die Sprache der Sehnsucht, auch des Heimwehs nach dem Judentum von gestern blieb und mancher seiner Romangestalten Zuflucht schenkte.1186 Damals lebte er am Rand von Mea Shearim. In diesem Jerusalemer Bezirk wird bis heute vorwiegend Jiddisch gesprochen. Diese Umgebung machte ihm, dem assimiliert aufgewachsenen, durch Flucht entwurzelten jüdischen Mann, das Judentum traulich1187 und brachte ihn seiner Sehnsucht nach der verlorenen Welt von Czernowitz wieder näher. »Ich wollte Jude werden«, sagte er mir in einem Gespräch im Ticho-Haus im Jänner 2014. Hier fand er ein wenig nach Hause. Angezogen wurde er auch dadurch, dass ihm in eben dieser Zeit Martin Buber beibrachte, wie sehr das Judentum voller Leben ist: »I came to realize that Judaism was not an archaic, primitive religion but a living religion of the highest level. It brought me back to myself and to my people.«1188 Da bahnte sich der Transitus an, der all seine Romane bestimmt: der Übergang seines osteuropäischen Elternlandes nach Israel, der sich schreibend nicht nur vollzog, sondern den Appelfeld schreibend schuf und beging. Gila Ramras-Rauch hat von einem Gespräch mit Appelfeld im Jahr 1989 berichtet, in dem er diesen Übergang als besonders schwierig ansprach in Bezug auf die Sprache seiner Gestalten.1189 Vielleicht kam dieser Übergang erst mit dem Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen ins Ziel, als »das Tor, das mir den Weg versperrt hatte, gesprengt worden«1190 und es ihm endlich gelungen war, in das Hebräische »die Melodie meiner Mutter … einfließen (zu) lassen.«1191 1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191

Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 8. Appelfeld Aharon /Appelfeld Meir, A Table for One, 35, 50, 62, 72, 80, 91. Band Arnold J., Preface, XV. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 29. Appelfeld Aharon /Appelfeld Meir, A Table for One, 50. Cohen Joseph, Voices of Israel, 132. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 11. Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 278. Ebd., 250.

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In diesen Jahren veröffentlichte Appelfeld seine ersten Gedichte, heute unbekannte Vorübungen zum Romanwerk. War auch die Themenstellung gleich – Suche nach der verlorenen Kindheit und der ausgelöschten jüdischen Welt –, so fehlte ihm damals wahrscheinlich noch das, was Joseph Cohen die »technique of aesthetic distancing«1192 nennt; es war ihm kaum schon möglich, Themen literarisch zu formen und zu verwandeln. Und dadurch entzog sich ihm genau die Welt, die er wieder zu erwecken hoffte und die es als Vision eines Kommenden nicht mehr gab.1193 Kritik und Zurückweisungen gruben sich tief in ihm ein. In einem unserer Gespräche im Beit Ticho im März 2013 erzählte mir Aharon Appelfeld, dass er einen Redakteur in einer Israelischen Tageszeitung gekannt hatte, der ihm in den 1950er Jahren angeboten hatte, dass Appelfeld ihm Texte sende; er werde sie lesen und korrigieren und ihm so helfen, auf den Weg des hebräischsprachigen Schreibens zu kommen. Die ersten Korrekturen brachten Tiefschläge, Appelfeld schien es, als mache er alles verkehrt. Doch er übte und schrieb weiter, die Korrekturen wurden weniger. Und irgendwann einmal kam keine Korrektur mehr zurück. Appelfeld fragte nach und erhielt die Antwort, er solle das Schreiben lassen, aus ihm könne nie ein hebräischer Schriftsteller werden. Niederlagen dieses Ausmaßes, die der alleinstehende junge Mann hinnehmen musste, brachten ihn vor eine Alternative und erzwangen eine Entscheidung: Entweder er gibt auf und wendet sich Tätigkeiten zu, die aussichtsreicher sind und den Lebensunterhalt sichern, oder er streitet mit dem gehärteten Willen zum Überleben gegen die Niederlage und bohrt sich in das hinein, was im Urteil eines Könners vergeblich sein würde. Appelfeld entschloss sich zu kämpfen wie seine späteren Romanfiguren, wohl auch gestärkt dadurch, dass er 1957 zum ersten Mal nach seiner Flucht wieder seinen Vater sah – in Jerusalem.1194 Mit Bertha, einer Geschichte aus dem Jahr 1960, die von dem behinderten Mädchen und ihrem Freund Max in Jerusalem erzählt, brachte Appelfeld ein großes Ergebnis dieses Willens zur Literatur, die ihm gleichzeitig der einzige Weg zur Verwand1192 Cohen Joseph, Voices of Israel, 108. 1193 Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 9f. 1194 Appelfeld Aharon / Appelfeld Meir, A Table for One, 105; Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 49. »In Israel habe ich ihn gefunden. Er hingegen – das hat er mir erzählt – hat immer gedacht, dass der kleine Erwin nicht überleben konnte. Nicht die Kälte, nicht den Hunger. (…) Jeden Monat bin ich zur Jewish Agency gegangen, um die Newcomer zu sehen. (…) Ich suchte nach einem Cousin, einem Verwandten. Und plötzlich habe ich seinen Namen gesehen, Michael Appelfeld, da stand er auf der Liste. (…) Man hat mir gesagt, dass er schon einen Monat in Israel lebt, in einem Aufnahmelager. Dort sagte man mir aber, er arbeite nun auf einer Orangenplantage, also bin ich dort hingefahren und sah dann einen alten Mann auf einer Leiter, der Orangen pflückte. (…) Ich sah den Mann und rief: ›Herr Appelfeld?‹ Daraufhin kam er die Leiter herunter, sah mich und konnte für lange, lange Stunden nicht sprechen.« (Doerry Martin, »Nirgendwo und überall zu Haus«, 26).

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lung der Katastrophen wurde, aus denen er gekommen war: Erinnerung und verspielte Kindheit, Erinnerung und durch die Schatten der Vergangenheit gefährdete Gegenwart, Zuneigung zwischen Menschen gegen alle Wahrscheinlichkeit ihres Bestands und Bedrohung der Erinnerung sind in dieser Erzählung da, Bilder von plötzlichen Verwandlungen, die am Ende der Geschichte an Kafka erinnern1195, und die später wiederkehrende Form der grandiosen Verbindung von Widersprüchlichem: »That night, when he arrived at work, Frost greeted him warmly.«1196 Durch die Heirat mit der jungen Lehrerin Jehudith im Frühjahr 1964, die aus Argentinien gekommen und in Israel geblieben war, änderte sich sein Leben wieder markant. Als 1965 das erste Kind, Meir, zur Welt kam, konnte er nun wirklich auf Zukunft setzen und die Schrecken der Vergangenheit abwerfen, die in seinen Träumen immer wieder aufbrachen. »Since the birth of my first son, Meir, in 1965, I had ceased waking up from nightmares. By now my drams may not have been quiet, but they were not nightmares.«1197 1968 kommt das zweite Kind Jitzchak zur Welt, 1975 wird die Tochter Batyah geboren. Ab 1975 war Appelfeld sechsundzwanzig Jahre lang Professor für Literatur an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva, zwei Jahre auch an der Universität Harvard, wo er die Bibel als Literatur las und interpretierte – dem entlang, wie er in den 1940er Jahren hebräisch gelernt hatte. In diesen Jahren begann dann auch die Zeit des Romanschriftstellers Aharon Appelfeld mit vielen großen Romanen. Sein Schreiben hängt vielleicht auch ein wenig mit Beer Sheva zusammen. Wie er mir im Jänner 2014 erzählte, fühlte er sich in Beer Sheva nie zu Hause. Von den sechsundzwanzig Universitätsjahren hat er nur ein Jahr in der Stadt gelebt. In Beer Sheva fand er nichts von seiner Herkunft. Die aus Europa gekommenen Juden hatten sich in dieser Wüstenstadt nicht akklimatisieren können. Fast nichts von dem, was Jerusalem bot, war in Beer Sheva zu finden, auch wenn zwischen beiden Städten nur etwa 110 Kilometer liegen. Vor allem das Klima des Kaffeehauses, seine gedämpften Stimmen, die verhaltenen Geräusche, lesende und schreibende Menschen, die wenig trinken und essen, das ständige und meist unmerkliche Kommen und Gehen alter und neuer Gesichter und seine Eigenzeit hatte nicht nach Beer Sheva gefunden; doch ohne diese Atmosphäre und Kulisse konnte Appelfeld nicht schreiben. In Aharon Appelfelds Buch A Table for One, der englischen Übersetzung des 2001 erschienen Bandes ‫ עוד היום גדול‬/ ‘od hayom gadol, für den Meir Appelfeld eine Reihe von Bildern gemalt hat, bezeugt das jede Zeile. 1195 Appelfeld Aharon, Bertha, 28: »Suddenly he saw that Bertha’s clothes lay in his hands. He didn’t dare to open them – or perhaps these were no longer his hands, but iron rings…« 1196 Ebd., 22. 1197 Appelfeld Aharon / Appelfeld Meir, A Table for One, 66.

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Und so schrieb er Jahre um Jahre. Mittlerweile liegen mehr als vierzig Bücher von ihm in hebräischer Sprache vor. Viele davon sind ins Französische übersetzt worden – in Frankreich hat Appelfeld die intensivste Aufnahme außerhalb Israels gefunden –, auch ins Englische, Italienische und Spanische wurde eine Reihe seiner Romane übertragen; deutsche Übersetzungen von mehr als einem Duzend seiner Bücher gibt es ebenfalls, doch hängt hier die Rezeption im europäischen Vergleich deutlich zurück – auch das eine Erbschaft der Schoa, angesichts derer der Literat deutscher Mutter- und hebräischer Literatursprache unzugehörig ist bis heute. Gründlich wurde die Auslöschung durchgeführt, »es ist«, wie Jean Améry entsetzt erkannte, »wirklich Gras gewachsen«1198; auch in Appelfelds Romangestalt Bruno erlischt in dem Augenblick, da er in seine Geburtsstadt zurückgekehrt ist und sich ans Vergangene erinnern will, jede Spur von gestern: »Bruno versuchte sich zu erinnern, doch sein Gedächtnis blieb leer. Die erste Vertrautheit fiel von ihm ab, und eine Art Kälte lag um seine Schultern wie eine feuchte Kompresse. Er wußte, alles hier war ihm vertraut, nur eine Schicht Moos war eben über die Mauern gewachsen. Wie klar er die Bäume sah! In seinen Träumen sah er nie Bäume, und doch, wie klar zeichneten sie sich vor ihm ab, wie Körper aus zitterndem Licht und Schatten: der Nußbaum neben dem Kino und die Kastanienbäume entlang der Allee.«1199

Aharon Appelfeld, Dichter grandioser Metaphern, die den Lesenden geradezu zur Erfahrung werden, indem sie diese in die Geschichten und ihr Panorama hineinziehen, erzählt hier von einer scheinbar kleinen, doch grundlegenden Verwandlung: Was bei Améry das Gras der Erde ist, die man über die ehemaligen Folter- und Todesstätten gezogen hat, das ist bei Appelfeld das Moos, das über die alten Mauern und Ruinen kriecht und sie versteckt. Hilft die Natur dem Menschen, dem Mörder ebenso wie dem entkommenen Opfer, über das Furchtbare hinwegzukommen im Lauf der Zeit? Elie Wiesel hat im Jahr 2003 auf die Frage, ob die Zeit die Wunde des sinnlosen Todes seines Vaters heilen kann, Folgendes geantwortet: »That period of my past is becoming more real and almost more burning. The wounds are burning more than before, which means I think of my father more than before, more often than before.«1200 Das gilt auch für Aharon Appelfeld. Besonders in seinen Metaphern, so nahe sie manchmal auch an fast paradiesische Schönheit herankommen, sitzt ein harter Kern, in dem sich der Horror andeutet und manchmal wie ein Dolch aufblitzt.1201 In der Wiederkehr der Menschen, die die SS-Leute aus dem Leben 1198 1199 1200 1201

Améry Jean, Örtlichkeiten, 51. Appelfeld Aharon, Zeit der Wunder, 162. Wiesel Elie, Carry Forward One Page Of Memory, 37. Einige Beispiele. Ein Bild von den kurzen Wintertagen: »Da waren sie kurz wie ein Luftstoß,

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geschossen haben wie seine Mutter, brennt das Entsetzliche nach, gerade so, wie das Gewand, das Blanca, die Mutter des kleinen Otto, an sich trägt und das, während sie Wäsche wusch, bügelte, zusammenlegte und dabei an die bevorstehende Trennung von ihrem Kind dachte, »wie ein brennendes Kleid«1202 an ihr klebte. Das erinnert zumindest ein wenig an Frau Hiob von Abraham Sutzkever, an ihre gebrochene Tragödie und die fackelnden Feuer, in denen die Kinder der Tora in den Himmel fliegen.1203 Im brennenden Kleid von Blanca glüht beides als Holocaust, wie man hier zutreffend sagen kann – als Vernichtung im Feuer und als Aufgang in die Zukunft, die selbst der SS-Staat nicht auslöschen konnte. Aufgang in die Zukunft impliziert die Rettung der Vergangenen und Untergegangenen. Appelfeld holt sie in seinen Romanen zurück. Assimilierte und religiöse jüdische Menschen bringt er in der Verwandlung seiner Romanfiguren wieder zum Leben – vielleicht der tiefste Grund dafür, dass Appelfeld in deutschsprachigen Ländern wenig bekannt geworden ist. Offenbar will man durch ihn, der hier wie ein Besucher aus dem Abyssus erscheint, an die Welt von

der vorüberzog, das Licht war spärlich, eher grau, und verlosch schon mitten am Tag.« (Appelfeld Aharon, Geschichte eines Lebens, 28f). – Am Mittelmeerstrand in Eretz Israel: »Die Nacht, das Wasser und das Feuer flossen zäh und dunkel in uns herein, und wir umhüllten uns mit ihnen. Damals wussten wir noch nicht, dass dies die Auferstehung war.« (ebd., 182). – Auf dem Weg nach Hause, den Theo nach dem Krieg antritt, breitet sich vor ihm eine fast paradiesische Welt im Kleinen aus: »Vor ihm lag das Tal in seiner schweigenden Pracht. Still vibrierten die Schatten der Birken. Nachmittagslicht war über alles gebreitet, sanft und warm wie ein Schoß, in den man seinen Kopf legen möchte.« (Appelfeld Aharon, Für alle Sünden, 18). Und später: »Das Tal war breiter, als er gedacht hatte, und von buschigem Wald umgeben. Die Stille, die vom Himmel floß, sammelte sich in ihm wie in einem großen See.« (ebd., 23). – Eine andere Fahrt Richtung Süden durch eine sommerliche, abgeerntete Region: »emptiness breathed in it« (Appelfeld Aharon, To the Land of Cattails, 1), the »August light dripped from the sky, thick and hot.« (ebd., 13). – Der Roman Unto the Soul beginnt mit folgenden Sätzen: »It was evening. Amalia stood next to the window. It had been months since the horizon had been so red; torrents of fire, all shades of fire, flowed thickly into the dark mouth of the valley.« (Appelfeld Aharon, Unto the Soul, 3). Später zieht der Winter mit seiner gefährlichen Kraft über das Land, »everything was a tumultuous river of black snow.« (ebd., 50). Wie er, so löscht auch der Sonnenuntergang in dieser Gegend das Leben Amalias aus: »With the sun’s death the light in her face died.« (ebd., 183). Ihren fiebernden Mann Gad umfängt am Schluss des Romans noch die flackernde Imagination des nackten Körpers von Amalia »as though borne on the waves of the evening.« (ebd., 211). – In Katerina spiegelt sich im Gesicht der Protagonistin ihre Herkunft: »The mountain from which she came was embodied in her face.« (Appelfeld Aharon, Katerina, 14). – Bebende Schatten finden sich auch während einer Zugfahrt wieder: »›Ist dir kalt?‹ fragte Vater leise. – ›Nein.‹ – ›In dreieinhalb Stunden sind wir in Storoshinez.‹ – Die Wörter hallen durch den leeren Waggon und zerstreuten sich (…) Ich war wach. Der breite Waggon mit seinen bebenden Schatten goß sich in meine Wachheit und überwältigte mich.« (Appelfeld Aharon, Alles, was ich liebte, 219). 1202 Appelfeld Aharon, Bis der Tag anbricht, 147. 1203 S. S. 198.

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gestern nicht erinnert werden. Die Wirkungen der Auslöschung sind nach wie vor real. Doch mit seinen Romanen trägt Aharon Appelfeld genau diese jüdischen Menschen in die Gegenwart herein. Im Roman Badenheim, den Appelfeld im Jahr 1979 veröffentlichte, wird das in strenger Form getan. Topografien werden assoziativ angedeutet und verkleidet, Personen ebenso durch ihre Namen. In solcher Fiktionalisierung setzt Appelfeld jedoch nicht auf Phantasien, die der Wirklichkeit entkommen, sondern verdichtet eben in literarische Fiktionalität die Wirklichkeit der kommenden Auslöschung1204 ebenso wie die der frohgemuten, bürgerlichen Verblendung weiter Schichten des assimilierten Judentums vor 1938, die noch in der letzten Verblendung eines der Protagonisten sich vollständig enthüllt.1205 Wo liegt dieses Badenheim? Personen- und Ortsnamen, das zeigt sich an Badenheim recht klar, bieten ebensolche Verdichtungen wie die Brennpunkte von Wirklichkeit, mit denen Appelfeld in seinen Romanen Knotenpunkte erinnerter jüdischer Erfahrungen und ihrer Verwandlungen schafft, die um die Schoa herum gespannt sind. In mancher topografischen Beschreibung klingen im Roman Motive aus Baden bei Wien1206 an, auch in den letzten Erzählungen vom Weg hinaus in den Osten der Stadt. Damals wie heute liegt dort ein wenig ansprechendes, zu manchen Zeiten trostloses Flachland intensiver landwirtschaftlicher Nutzung. Doch Badenheim ist nicht (allein) Baden bei Wien trotz der assoziativen Andeutung, mit Badenheim konkretisiert sich eine ganze Reihe geografischer Topoi, die von vielen assimilierten Juden damals aufgesucht worden sind und im Namen zugleich erinnert und universalisiert werden. »Badenheim is a rather real place, and spas like that were scattered all over Europe, shockingly petit bourgeois and idiotic in their formalities. Even as a child I saw how ridiculous they were«1207, sagte Aharon Appelfeld Mitte der 1980er Jahre. Dieser auch in andern Zusammenhängen von Yigal Schwartz vermerkte »conspicious lack of specifity«1208 macht es dem Leser schwer – nicht weil er klare Konturen kaum findet, die ihm Orientierung geben, sondern, durchaus damit verbunden, weil diese konkreten Namen von Orten und Menschen, in denen gleichzeitig jede Möglichkeit bequemer Historisierung verhindert wird, in die Gegenwart des Lesers hereinrücken. Appelfeld repräsentiert nicht nur romanhafte Erinnerung, er präsentiert sie im unmittelbaren Wortsinn, setzt sie gegenwärtig und drängt Lesende zu einer Konspiration – auch das im wörtlichen

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Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 27. Ebd., 32 und 35. Die Stadt wird ausdrücklich genannt in Appelfelds Roman Auf der Lichtung, 261. Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 66. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 87.

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Sinn. Dem wird auch der Modus von Entsprechungen und Wiederholung1209 eingeordnet: Im so entstehenden Déjà-vu verhält der Leser sich zum Roman wie zu einer Erinnerung an sich selbst – mit der indirekten, aber eindringlichen Forderung, den Schrei der geplagten Juden zu hören1210, gerade auch wenn dieser Schrei »an arrested scream«1211 ist, und mit ihm weiterzugehen, weiter zu leben.1212 So vollzieht Appelfeld Aufklärung jenseits ihrer gefährlichen Dialektik, die Adorno und Horkheimer in dem Maß am Werk sah, als sie dem totalen Begriff unterworfen ist und in ihm dem Terror jener, die die gestürzte Absolutheit des Göttlichen im dogmatischen Begriff zurückholten. Appelfelds Aufklärung geschieht narrativ durch das Existenzdrama seiner Romane und wird zur peinigenden Selbstaufklärung der Rezipienten durch die Präsenz einer Geschichte wie Badenheim, in der Ideologie das Menschsein ersetzte und aufgeklärtes jüdisches Bürgertum offen und blind in den Tod trieb. Die Aufklärung Appelfelds bedeutet daher zuerst, sich von großen Deuteformeln zu befreien1213, die stets noch die Boten des kommenden Irrsinns waren, und Kausalitäten aufzugeben, wo sie fiktive Panzer täuschender Sicherheiten geworden sind.1214 Es ist wahr: Wo immer formale Logik triumphiert, erlischt fühlsames, empathisches Denken und Reden und Erinnern. Wo immer der Glaube an Logik verlangt wird, verdorrt Wirklichkeit und wird ersetzt durch dürre, leblose Formeln. Solche Aufklärung, wie sie Badenheim darstellt, ist ohne das nicht zu erhalten, was den Romandichter auszeichnet: Fiktionalisierung und Verdichtung mit dem unerzwingbaren Mittel der Phantasie. Eben weil Phantasie beschädigt ist1215 durch die Widerfahrnisse, die Appelfeld mitgemacht hat, steigt aus ihr die eigentliche aufgeklärte Inspiration auf: wirkliche Erinnerung und ihre geformte Überlieferung.1216 Ohne Phantasie, Erinnerung und Tradierung vernichtet Aufklärung sich selbst und reproduziert wieder Massenmorde1217, angesichts derer sie einst entstanden ist. Wie sich Aufklärung und die ihr notwendige Praxis schließlich im Sprachgestus der Romanwelten Aharon Appelfelds zum Widerstand gegen den Massenmord und seinen Erfolg verbinden, erkannt man daran, dass er diesen wie alle anderen Romane auch in der Sprache Israels, in Hebräisch, geschrieben hat. 1209 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 36. 1210 Ebd., 49; ähnlich Joseph Cohen bezogen auf To The Land of The Cattails: »the reader must carry the burden of their flight toward death.« (Cohen Joseph, Voices of Israel, 127.) 1211 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 134. 1212 Ebd., 92. 1213 Langer Lawrence L., Aharon Appelfeld, 129. 1214 Cohen Joseph, Voices of Israel, 111f. 1215 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 157. 1216 Ebd., 159. 1217 Cohen Joseph, Voices of Israel, 126.

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Diese Untergangsgeschichte Badenheim in Hebräisch zu schreiben, deklamiert, wie Emily Miller Budick schreibt, »the survival of the Jewish people, even, perhaps, the establishment of a Jewish state.«1218 Als romanhafte Realisierung nach der Schoa vollzieht Appelfeld im Roman Badenheim formal genau das, was in Zeit der Wunder das Konzept gab: ein Teil, der vor der Schoa handelt, und ein zweiter Teil, der nach ihr handelt. Den Teil vor der Schoa deckt der Roman Badenheim narrativ ab; den Teil nach der Schoa deckt Appelfelds hebräische Literatursprache. Mit ihrer Vermutung lag Miller Budick richtig. Im Staat Israel und seiner offizielle Sprache, die Appelfeld literarisch kultiviert hat, liegt die strenge Affirmation derer, die wie Aharon Appelfeld die Schoa überlebt haben und mit jedem Satz, mit jedem Wort, mit jeder Silbe, die hebräisch niedergeschrieben wird, den deutschen Oppressoren und ihren unzähligen Helfern ihr Nein bis heute entgegenhalten. Das ist Aufklärung gegen die begrifflich durchgebildete und propagandistisch verwertete Henkerlogik, die in der deutschen Sprache, der Philosophen- und Ordnungssprache schlechthin, zur Ausbildung gebracht wurde. Badenheim stellt so ein offenes Paradigma von Appelfelds Romankunst dar, das variiert und jeweils spezifisch gewendet wird. Der schon erwähnte Roman Zeit der Wunder, den Appelfeld zwei Jahre nach Badenheim veröffentlichte, umkreist mit seinen beiden Teilen die Schoa, erzählt aber vom Unerzählbaren nichts. Verbunden ist beides durch das Instrument der Deportation, das in Badenheim am Schluss auch bereit gestellt ist und die letzte große ideologische Selbsttäuschung in der Finsternis offenbart1219: durch den Zug1220, mit dem Bruno, dessen Name genauso fünf Buchstaben aufweist wie Erwin1221, 1938 von 1218 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 48f. 1219 Appelfeld Aharon, Badenheim, 156: »Eine Lokomotive, eine Lokomotive mit vier schmutzstarrenden Viehwaggons tauchte zwischen den Hügeln auf und hielt im Bahnhof. Sie war so urplötzlich erschienen, als wäre sie aus einem Loch in der Erde gestiegen. ›Rein mit euch!‹ gellten unsichtbare Stimmen. Und die Menschen wurden aufgesaugt. Auch wer eine Flasche Limonade in der Hand hielt, eine Tafel Schokolade, der Oberkellner mit seinem Hund – alle wurden sie aufgesaugt, so leicht, so leicht wie Weizenkörner in einem Trichter. Trotzdem fand Dr. Pappenheim Zeit für folgende Bemerkung: ›Wenn die Abteile so schmutzig sind, kann das nur heißen: weit geht sie nicht, unsere Reise.‹« 1220 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 145. 1221 Da zeigt sich vielleicht auch eine Spur Kafkas wieder, auf den sich Appelfeld häufig in seinen Romanen und Reflexionen bezieht (besonders deutlich in: Appelfeld Aharon, Beyond Despair, 63f). Auch Kafka setzte Äquivalente zwischen seinem Namen und seinen Erfahrungen einerseits und denen seiner Erzählgestalten andererseits. Beispiele dafür sind Josef K. in Der Prozess oder auch Oskar in der Erzählung Die Städtische Welt, die sich in den Tagebüchern vom Frühjahr 1911 findet (Kafka Franz, Tagebücher. Band 1, 118–124). Allerdings funktioniert diese Verbindung nur im Deutschen (ähnliches gilt für die Hauptfigur des Jakob Fein in Elternland), nicht im Hebräischen. Denn in der hebräischen Schreibung hat Bruno fünf Buchstaben (‫)ברונו‬, Erwin jedoch sechs (‫)ארווין‬. Diese Differenz ergibt sich aus dem Umstand, dass der Name Erwin im Hebräischen zwei waw braucht, um klar zu

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der Gegend seine Kindheit ins Nirgendwo rast und »Jahre später, als alles vorbei war«1222, wieder zurückkehrte. Was Bruno findet, die fast überrealen1223 und doch undeutlichen Reste der Auslöschung, lässt sich nicht mehr darstellen1224 – daher die Leerstelle der Schoa. Vergangenheit zerfällt1225, sie zerfällt wie ein Verwesendes, das auch die Erinnerung anfällt und zersetzt1226, und stört doch etwas von den Empfindungen auf, die lang schon in Bruno begraben sind.1227 Mit Alkohol und halbernsten erotischen Spielen versucht er, der seit Jahren in Jerusalem lebt, am Ort der Vergangenheit diese Empfindungen zu beherrschen, die ihn mit Traurigkeit anfüllen und ihm bedeuten, dass sein Kommen hierher völlig sinnlos war.1228 Am Ende befreit er sich von all dem und schließt mit einem erlösenden Schlag ins Gesicht von Blum1229 seine leere Reise in die Vergangenheit ab. Am Bahnhof wartet er auf den Zug, der ihn befreit von diesem Platz – ein Motiv, das auch in The Iron Tracks1230 (1991) wichtig ist. »Auf den Dächern flimmerte das erste Morgenlicht. ›Der Nahverkehrszug kommt um sechs‹, hörte er die Kellnerin sagen. ›Es ist vorbei.‹ Er mußte an die Redensart denken. Er fühlte sich leicht; eine Leichtigkeit, wie sie auf einen tiefen Schlaf folgt; nur seine Knie waren schwer. Er bestellte noch einen Kaffee, nahm Milch und Zucker und rührte um. Das mechanische Rühren schien seine Abreise irgendwie zu bestätigen.«1231

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machen, wie er zu lesen und auszusprechen ist; anders wäre das waw als o oder als u lesbar. Muttersprachlich jedoch besteht diese Verbindung über die Buchstaben; gestärkt wird das dadurch, dass Appelfeld eine Geschichte von Bruno erzählt, die seiner eigenen nahe ist. – Noch etwas Weiteres lässt sich aus der hebräischen Transkription der Namens Erwin erschließen. Appelfeld erzählt in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, dass einige Wochen, nachdem Erwin in Eretz Israel zu arbeiten und zu lernen begonnen hatte, Ephraim ihm vorschlug, den Namen zu ändern: »Ich würde dir den Namen Aharon vorschlagen. In Aharon gibt es noch etwas von Erwin. Aharon ist ein erstklassiger Name. Aharon war der Mund des Moses.« (Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 62f). Den Protest Erwins trägt seine zwar schwindende, aber immer noch fühlbare Nähe zur deutschen Muttersprache. Ephraim hingegen denkt hebräisch und hat Recht mit seiner Bemerkung, dass Aharon noch etwas von Erwin enthält, wie Ephraim zu Erwin sagt: »‫משהו‬ ‫ – מארווין יש באהרן‬mashehu me’erwin iesh be’aharon / etwas von Erwin gibt es in Aharon« (Appelfeld Aharon, Ha‘ish shel’o passaq lishon, 51). Appelfeld Aharon, Zeit der Wunder, 153. Berel Lang hat den Vergleich mit der Sonne gebracht, in die der Mensch nicht schauen kann; daher ist die literarische Transformation des Geschehenen notwendig, um von seinem Übermaß etwas repräsentieren zu können (Lang Berel, Introduction, 8). Howe Irving, Writing and the Holocaust, 194. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 89. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 25. Ramras-Rauch Gila, Introduction, 11. Appelfeld Aharon, Zeit der Wunder, 203–216. Ebd., 234. Appelfeld Aharon, The Iron Tracks, 5: »The trains make me free. Without them, what would I be in this world?« Appelfeld Aharon, Zeit der Wunder, 236f. Leslie Epstein hat geschrieben, in Zeit der Wunder finde sich ein mutiger Zugang Appelfelds zur Gestalt des Bruno, indem er zeigt,

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1982 publiziert Appelfeld seinen Roman Tzili, die Fluchtgeschichte eines pubertierenden Mädchens in der Zeit der Schoa, durch die er seine eigene Geschichte spiegelt und verwandelt; denn das Kind ist kein Bub, sondern eben ein Mädchen.1232 Diese Fluchtgeschichte sitzt zeitlich an der Stelle, die in Zeit der Wunder ausgelassen und doch hier auch nicht gefüllt wird, denn Tzili gerät nicht in das Sturmauge der Schoa, nicht in ein Vernichtungslager, sondern sie wird von den Stürmen, die dieses Auge umkreisen, erfasst und flieht. Ihr Ziel, Eretz Israel, erreicht sie im Roman nicht; es bleibt offen wie das Ziel der Wege in Kafkas Das Schloss.1233 Mit Tzili, einem in Appelfelds Kindheit nicht unüblichen Namen1234, hat Appelfeld ein Romanprofil geschaffen, das der schon erwähnten Aufklärung durch Narration entspricht: Sie überlebt in diesen gottlosen Kontexten1235, weil sie von einer einfachen Religiosität getragen ist. So ist sie eben auch lesbar als eine neue Erzählung der biblischen Josefs-Geschichte1236 unter dramatisch veränderten Bedingungen.

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dass die Überlebenden der Schoa durchaus Momente dessen internalisiert haben, was ihnen die Täter angetan haben (Epstein Leslie, Writing about the Holocaust, 268). Das würde bedeuten, dass etwa der Schlag ins Gesicht des Juden Blum, den Bruno setzt, eine Tat wäre, in der sich eine augenblickhafte Ähnlichkeit zwischen dem Juden Blum und einem SS-Mann zeigte. Dem ist entgegenzuhalten, dass es eine berechtigte Racheforderung der Überlebenden gibt, die nicht als Internalisierung, sondern als manifeste, revoltierende Verneinung gegen die Mörder zu verstehen ist und ihre eigenen Gründe hat. Mit dem logischen Trick, dass in der tätlichen Abwehr von Gewalt eben diese affirmiert wird, verfehlt man die Intentionen und die Motive solchen Widerstands. Das jedenfalls ergibt sich zwingend aus den Widerstandsformen und –reflexionen, die sich bei Jean Améry und Abraham Sutzkever ganz deutlich nachweisen lassen. – Doch eine andere auto-antisemitische Spur findet sich, wie Yigal Schwartz schreibt, die Spur einer »auto-antisemitic malady« (Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 103). Die Racheforderung wendet sich nicht gegen die Nazis, sondern malträtiert einen Rabbiner, der mit andern Juden in die Synagoge gesperrt worden ist (Appelfeld Aharon, Zeit der Wunder 149–152). Seine Peiniger sind assimilierte Juden. Joseph Cohen dazu: »when the proud Jewish anti-Semites are rounded up and locked overnight in the darkened synagogue before being transported to the death camps they did not attack the Nazis who brought them there, but the aged rabbi whom they regard as the cause of their torment. It is another of Appelfeld’s ›great moments‹ when the past, present, and future come together.« (Cohen Joseph, Voices of Israel, 114). Cohen Joseph, Voices of Israel, 120. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 70. Miller Budick hat versucht, diesen Namen mit biblischen Deutungen aufzuladen: Demnach finde sich in ihm zelem elohim und wäre also zili als Bild Gottes zu verstehen (Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 127). Appelfeld selbst hat in einem unserer Gespräche diese Deutung verneint, der Name war ein üblicher Mädchenname, den er deswegen herangezogen, nicht wegen eines kompositorischen Hintergrunds, auf dem er Namen und Geschichte des Mädchens aufgetragen hätte. – Die Folgen, die Miller Budwick aus ihrer Deutung zieht, sind ebenso konstruiert (ebd., 130), wenn auch möglich, und zeigen dann doch an, dass narrative Gehalte ein Nachleben finden, das ohne die ursprüngliche Intention weitergeht. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 128f. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 134–136 und 141.

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Im Roman Der unsterbliche Bartfuss (1988) kam der Protagonist über Italien nach Israel und lebt in Tel Aviv, findet aber keine Ruhe.1237 In seiner zermürbenden Ehe setzen ihm seine Frau Rosa und die beiden gemeinsamen Töchter zu, er kämpft seinen sinnlosen Kampf mit ihnen und wird müde, er lässt sie nicht in sein Innerstes1238 und hat Angst vor dem Tod, der ihm gleichzeitig Befreiung von allem und allen verspricht1239, und fährt fort von zu Hause, um ähnlich wie Bruno die Vergangenheit zu besuchen; doch Bartfuss sucht nicht eine Gegend, sondern einen Menschen aus seiner Fluchtzeit, Theresa. In Dorfenziehl fragt er einen Mann, ob er Theresa gesehen hat, und erhält eine Antwort, die Kain, dem ersten Mörder der Geschichte, abgehört worden ist: »Bin ich Theresas Hüter?«1240 Vergebliche Suche. Es ist vorbei, wie es für Bruno und auch für Tzili vorbei war: »Was einmal war, ist für immer vorbei.«1241 Am Ende ergibt sich Bartfuss dem Schlaf jenseits seiner Sorgen: »From now on I shall remove all worry from my heart and sleep.«1242 Doch dieses Ende treibt den Leser weiter, wie Lawrence L. Langer vermerkt hat. Ihm ist die Erleichterung des Bartfuss nicht geschenkt1243, Appelfeld öffnet ein Tor, das keine Figur aus dem Roman durchschreiten wird, der Leser aber durchschreiten muss, wenn er wirklich gelesen hat. In dieser manchmal fast haggadischen Form1244 seiner Romane, die am offenen Ende von Der unsterbliche Bartfuss ebenso gefunden werden kann wie im Finale von Tzili, wird man an Erinnerungen gebunden, die Praxis nach sich ziehen. Welche Praxis das sein wird, schreibt Appelfeld nie vor. Er stößt an, er dekretiert nicht; er ist Erzähler, kein Dogmatiker, Literat, kein Ideologe. Mit dem Roman Für alle Sünden von 1989 greift Appelfeld stärker etwas auf, das sich verdeckt in Zeit der Wunder schon fand: Motive des jüdischen Selbsthasses und der Aneignung antisemitischer Stereotype1245, die in Katerina, im selben Jahr veröffentlicht, gewendet werden. Im Zentrum dieses Romans erzählt eine alte Frau von ihrem Leben; sie ist eine gute Christin, die in einem jüdischen Haushalt ihre Arbeit tat und deswegen von denen, die scharf auf Abgrenzung aus waren, als »a hybrid, Jewish-gentile creature«1246 gemieden wurde. Auch sie er1237 1238 1239 1240 1241 1242 1243 1244

Langer Lawrence L., Aharon Appelfeld, 134. Appelfeld Aharon, The Immortal Bartfuss, 61. Ebd., 94. Ebd., 54: »Am I Theresa’s keeper?« Appelfeld Aharon, Tzili, 144. Appelfeld Aharon, The Immortal Bartfuss, 137. Langer Lawrence L., Aharon Appelfeld, 137. Miller Budick schrieb von midraschähnlichen Formen in Appelfelds Romanen (Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 141); sofern es sich dabei um erzählende oder gleichnisähnliche Weisen handelt, trifft das zu; ich ziehe eher das haggadische Motiv vor, weil in dieser Tradition unmittelbar Narration dominiert. 1245 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 180. 1246 Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 135.

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lebte – ein wiederkehrendes Thema bei Appelfeld – die Flucht von Juden in eine »gentileness«1247, die sich im kulturellen Hochgefühl feierte1248 und im Massaker endete. Davon erzählt Katerina, die eine geradezu intime Verbindung zur jüdischen Welt hat, nicht zu den Gelehrten, sondern zu den einfachen Menschen gehört und in Appelfelds Werk zu den häufig empathischen Frauen1249 zählt, die nicht von der halbstarken männlichen Selbstbehauptung leben. Diese Nähe macht Katerina verwundbar, weil sie mit den Juden lebt und zu ihnen hält, gibt ihr aber auch Kraft.1250 Katerina ist ein Roman, der andeutet, wie Christenleben sich angesichts von jüdischen Menschen und jüdischer Tragik auch gestalten kann. 1993 geht Appelfeld in diesem schweren, teils verminten Feld mit dem Roman The Conversion weiter, einem geradezu klassischen Österreich-Roman aus dem frühen 20. Jahrhundert, der bis heute nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Im Mittelpunkt steht die Konversion des Karl aus beruflichen Gründen und dann der unbeugsame Rückruf ins Judentum, auch hier mitgetragen durch Gloria, seine christliche Lebensgefährtin, die stets die jüdischen Feiertage einhielt; am Ende ziehen beide aus Wien fort und lassen sich am Land nieder. Doch dort holt sie der Hass wieder ein und bringt die beiden im Inferno ihres Hauses um.1251 Individualisierte Gewalt zwischen Christen und Juden erzählte Appelfeld im Roman Bis der Tag anbricht (1995): Unter dem gewalttätigen Bauern, Trinker und Ehemann Adolf leidet Blanca mehr, als erträglich ist, weil sie ihr gemeinsames Kind schützen will. Für die großen Motive dieser Geschichte ist das erwähnte Geburtsdatum Blancas wichtig: 16. Februar 1905.1252 Appelfeld kombiniert seinen eigenen Geburtstag mit dem Geburtsjahr seiner Mutter und setzt das Leben von Blanca und ihrem Kind ins Geflecht von Gewalt; wie im Roman Tzili verwandelt er damit sein eigenes Geschick; das Datum macht klar, das Kind kann nie ohne die Mutter sein. Das verteidigt Blanca und setzt sich dann einmal massiv gegen ihren Mann zur Wehr. Bevor sie selbst zugrunde geht, tötet sie im Akt der Notwehr Adolf. Befreiung zieht herauf und mit ihr Hoffnung, doch das alles verkehrt sich: Bis der Tag anbricht, verheißt nicht Erlösung und Ausgang in einen friedlichen, sonnendurchfluteten Tag; der Lebenskampf für ihr Kind bringt in dieser völlig pervertierten Lebenswelt nicht Zukunft, sondern dreht sie ab. Denn »Mörderinnen werden zwei Stunden vor Sonnenaufgang gehängt, noch im

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Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 79. Ebd., 158. Ebd., 160. Ebd., 185f. Treitler Wolfgang, Vom Geheimnis des Judeseins, 118–122. Appelfeld Aharon, Bis der Tag anbricht, 127.

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Dunkeln, ohne jede Zeremonie, ohne Erbarmen.«1253 Bis der Tag anbricht ist wie The Conversion ein Roman ohne Israel. Rettung bleibt ohne Israel utopisch. Im Jahr 1994 wird das Buch Beyond Despair veröffentlicht, das drei Vorlesungen über den Umkreis der Schoa enthält und ein Gespräch mit seinem Freund Philip Roth1254, im selben Jahr auch der Roman Laish, in dem der Protagonist es noch schlechter getroffen hat als Bartfuss und Tzili: Er erreicht nicht einmal das Schiff nach Eretz Israel.1255 Appelfeld selbst hat Israel erreicht. Sowohl in Geschichte eines Lebens (1995) als auch in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen (2010) ist das Land zum tragenden Topos geworden. Beide Bücher erzählen vom Transitus nach Israel, und beide Bücher sind literarische Schöpfungen, keine Autobiografie. Es mag sein, dass die Schoa das Ich des Überlebenden fremd gemacht hat1256, nachdem er als »Ungeziefer«1257 entwürdigt wurde, wie es Kafka auch schon von seinem Vater gehört hatte; Jean Amérys semiautobiografische Reflexionen Unmeisterliche Wanderjahre zeigen das noch im Untergang an. Doch Appelfeld schreibt Literatur, keine historischen Biografien und keine historisierende Autobiografie. Er nimmt von sich und gestaltet literarisch, nicht mehr und nicht weniger. Was er erlebt hat, hat ihn zur Literatur getrieben. Wovon er erzählt, hängt mit ihm biografisch zusammen. Doch erzählt er nicht sein Leben, sondern ein Leben; er erzählt nicht von seiner Einwanderung nach Eretz Israel, sondern von einer Einwanderung nach Eretz Israel. Das Ich, das beide Bücher trägt, ist literarisch fiktionalisiert, ein erdichtetes und verdichtetes Ich, ein verwandeltes Ich, das wohl auch mit der Entfremdung durch die Schoa zu tun hat, dadurch aber mit literarischer Gestaltung und Verwandlung, die hier mehr bedeutet als die Suche nach Motiven einer (auto-)biografische Dokumentation. Schlaf- und Traumwelten wie in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen finden sich schon in Blumen der Finsternis (2006).1258 In dieser Welt, dem Kern von Appelfelds Universum, verbinden sich Herkommen und Zukunft in einer schillernden Gegenwart, deren Wellen zwischen Taghelle und Dunkelheit aufund niedergehen und die Czernowitz1259, Tel Aviv1260 und Jerusalem1261 zuein-

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Ebd., 224. Appelfeld Aharon, Beyond Despair, XV. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 70. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 19 und 36. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 113. Appelfeld Aharon, Blumen der Finsternis, 32, 36, 52, 59f, 79, 84f, 90, 97 109, 111, 131, 145, 154, 163, 171, 181, 248, 256, 266, 269, 287, 299, 313; ähnlich auch: Appelfeld Aharon, Alles was ich liebte, 10f, 20, 26f, 37, 63, 67, 94, 98, 113, 127, 151, 177, 187, 206–209, 213, 219, 245, 272, 286. 1259 Appelfeld Aharon, Alles, was ich liebte, 17, 29–31, 40, 47, 82, 121, 123–136, 146, 150, 159, 161, 166, 169–174, 178f, 182, 186, 201, 210, 225, 244, 251, 257, 261, 264, 268, 27, 276, 278, 280, 286.

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ander bringen. Aharon Appelfelds Werk spannt einen weiten Bogen, der den jüdischen Weg aus Europa heraus nach Israel wieder und wieder geht, verschiedene Etappen markiert und vertieft und dadurch einen Weg über mehr als ein Jahrhundert zieht. Assimiliertes Judentum, religiöses Judentum, familiäre Traditionen, Jiddisch und Hebräisch, Schoa, Flucht und Ankommen, Heimweh nach dem Herkommen und kraftvolle Schritte in die Zukunft, die Asche Europas und die zerzausten Immigranten nach Israel, jüdische Europäer in den Kaffeehäusern und überall die Sehnsucht nach Judentum und Jüdischsein – Aharon Appelfeld ist ein israelischer Schriftsteller, dem Israel jüdische Gegenwart und jüdische Zukunft ist, zu der die Vorfahren, die deutsch und jiddisch gesprochen, unbedingt dazugehören. Er ist ein Schriftsteller, der eineinhalb Jahrhunderte mit sich bringt, die sich zwischen den religiösen Großeltern und ihm heute auftun. Im Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen suchte er nach einer tragenden Verbindung zu seiner muttersprachlichen Herkunft im hebräischsprachigen Israel, in der alles das, was er mitgebracht hat nach Israel, hier auch sich langsam verwurzeln wird, damit es nicht umsonst und vergebens war. Wie anders könnte er, der hebräisch schreibende Schriftsteller deutscher Muttersprache, die Verbindung suchen als in der Sprache selbst?

3.

»Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen« (2010)

In keinem anderen von Appelfelds Romanen als in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen werden die Brüche und gleichzeitig die gewaltigen Anstrengungen so deutlich markiert, die jüdische Menschen seines Schicksals unternommen haben, um nach der Zerstörung irgendeine Identität hervorbringen zu können. 1945 endete die Schoa nicht. Sie hatte für die Überlebenden eine belastende Erbschaft: Mit ihnen zogen die Toten mit, die niemand mehr erwecken konnte. Herumwandelnde Grabmäler waren sie, entfremdet dem Leben, mit dem Verdacht der Sinnlosigkeit belastet und von Existenzfragen und Alpträumen bedrängt: Warum und wozu weiterleben? Mit wem weiterleben, nachdem die Angehörigen alle ihr »Grab in den Wolken«1262 und in den lichtlosen Schichten der Erinnerung der Überlebenden gefunden haben? Der junge Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, weigerte sich lange, ins taghelle Bewusstsein zurückzukehren. Denn dort fand er niemanden mehr von denen, die er gekannt hatte. Er schlief und unterbrach den Schlaf nur, um nicht 1260 Appelfeld Aharon, Elternland, 14–16, 21f, 25, 27, 32f, 35f, 60, 66, 95, 103, 119, 129, 131, 135, 138, 155, 158, 168, 188, 192, 212, 245, 249. 1261 Appelfeld Aharon, Laish, 5–7, 11, 13, 15, 23–30, 38, 40, 43, 48, 52, 54, 57f, 61, 86, 89–92, 96f, 101, 104, 115–117, 130, 144, 149, 158–160, 167f, 193, 195, 197, 200–202, 204, 208, 226. 1262 Celan Paul, Die Hand voller Stunden, 32.

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zu verdursten und zu verhungern. Er ging nicht, sondern er wurde von Flüchtlingen getragen, von Überlebenden geschleppt. In seinen Träumen allein, die er im Rhythmus der Schritte und der Wege wie Wellen in seinem Innern nahen und wieder sich entfernen sah, fand er nach Hause. An ihnen hielt er selbst noch mit halbwachem Bewusstsein hartnäckig fest. Draußen, jenseits dieser Träume, breitete sich eine Welt aus, die er nicht kannte und die ihn abwies wie einen ausgespienen Fremdling, angespült wie Jona ( Jona 2,11) an eine Küste, die er noch nie berührt hatte. Dieser geografische Weg aus dem zerstörten Zuhause deckt sich weithin mit der Weg- und Fluchtgeschichte Israels von Ägypten nach Kanaan. Zunächst jedoch fallen Unterschiede auf; ein deutlicher Unterschied: Pessach bezieht sich auf den Schutz vor dem Gerichtsgott zurück, den die mit dem Blut des Pessachlammes bestrichenen Türpfosten der israelitischen Behausungen boten (Ex 12,7–13) – in der Zeit der Deportationen markierten die nationalsozialistischen Besatzer die Häuser der todgeweihten Juden. Ein zweiter Unterschied: Damals erfuhr Israel sein Entkommen aus Ägypten als Gottes Rettung mit »hoch erhobenem Arm und durch ein gewaltiges Strafgericht über sie« (Ex 6,6) – in den Jahren der Deportation führte der Antigott1263 das Zepter, kein Allmächtiger widerstand oder widersprach ihm, auch wenn nach 1945 in der Pessachfeier diese große Rettungsgeschichte durch die Pessach-Haggadah weiter durch die Zeit getragen wird.1264 Still geworden ist es um den gerechten und rettenden Gott, von dem ein unbekannter Prophet in seinen großen, messianischen Sätzen unter dem Eindruck des Endes des Babylonischen Exils im 6. Jhdt. v. d. Z. geschrieben hat ( Jes 45,1–8). ‫אני יהוה ואין עוד זולתי אין אלהים‬/ ani hashem we‘ein ‘od sulati ein elohim – ich bin der Ewige und es gibt außer mir überhaupt keinen Gott. Nur noch ein schwaches Echo klingt von dieser machtvollen Ansage nach, die im biblischen Text durch die Doppelung der Verneinung ‫ אין‬/ ‘ein – es gibt nicht absolut eindeutig ist. Doch über diese Differenzen hinaus tragen die Exodusgeschichte und die Fluchtgeschichte des Mannes, der nicht aufhörte zu schlafen, vor allem zwei Ähnlichkeiten: 1. Lange vor der Sklaverei hat sich in Israels Bewusstsein zu mancher Zeit Ägypten als Land festgesetzt, das vom Hunger erlöst. Abraham ist aus seiner Herkunftsgegend dahin gezogen, »denn die Hungersnot lag schwer auf dem Land« (Gen 12,10); und später, als wieder Hunger im Orient herrschte, »kam alles Land nach Ägypten« – ‫ כל הארץ באו מצרימה‬/ kol ha’aretz ba’u mizrajimah (Gen 41,57), auch die Jakobsfamilie (Gen 46,1–7), die dort auf den verkauften Josef traf und im fruchtbaren Ägypten zahlreich wurde. – Das entspricht doch 1263 Treitler Wolfgang, Kein Diener zweier Herren! 18–28. 1264 Zion Noam / Dishon David (Hg.), A Different Night, 114f.

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dem Versuch jüdischer Gemeinschaften, in den zwar widersprüchlichen, aber wenigstens kulturell halbwegs offenen Zonen der deutschsprachigen Monarchien leben zu wollen und hier fruchtbar zu werden in einem weder davor noch danach erreichten großen Eintrag kultureller Leistungen. Stefan Zweig, Franz Kafka und Franz Werfel sind nur drei vieler jüdischer Literaten, die der deutschen Sprache durch jüdische Kulturleistung immense Impulse gegeben haben, danach nie wieder erreicht, vor allem deshalb nicht, weil die Schoa die Heiligung des literarischen Wortes und die heiligen Künstler dieses Wortes ausgemerzt hat. Appelfelds Eltern hatten an dieser jüdischen und bewusst auch assimilierten Kultur teilgenommen und ihren Hunger nach akkulturiertem jüdischem Leben gestillt. Doch dieses Leben und das Timbre seiner Sprache sind tot. 2. Ägypten hat sich gleichzeitig als Ort progressiver Unterdrückung im jüdischen Bewusstsein festgesetzt, und das biblisch ebenso1265 wie in einem Kommentar im Talmud, in dem die gesteigerte Tortur von Israeliten als direkte Folge von Moses Androhungen vor dem Pharao interpretiert wurde: »Es wird gelehrt: R. Eleázar b. Jose erzählte: Einst kam ich nach Alexandrien in Ägypten und traf da einen Greis, der zu mir sprach: Komm, ich will dir zeigen, was meine Vorfahren mit deinen Vorfahren gemacht haben. Manche von ihnen ertränkten sie im Meere, manche von ihnen erschlugen sie mit dem Schwerte und manche von ihnen mauerten sie in die Bauwerke ein. Dieser Sache wegen wurde unser Meister Mosˇe bestraft, denn es heißt: denn seitdem ich zum Pareὁ gegangen bin, um in deinem Namen zu reden, behandelt er dieses Volk noch schlechter.«1266

Im Schma Israel wird Ägypten erinnert als Schatten einer Vergangenheit, der Israel entkommen ist (Dtn 6,12). Vierhundert Jahre wurde Israel bedrückt.1267 Die Erlösung war ein Bruch mit diesen Verhältnissen und setzte Neues, vom Alten geschieden durch eine Zäsur, die ebenso erinnert werden muss.1268 In einer rabbinischen Diskussion fiel diese Erlösung, die fast ganz Israel befreite, nicht auf Pessach, wenn auch Beziehungen dazu hergestellt werden, sondern auf das Neujahr; denn der Schofar wurde geblasen, um die Erlösung zu künden, und der Schofar gehört zu Rosch haSchanah, zu Neujahr.1269 – Flucht und Entkommen nach Eretz Jisrael lesen sich wie eine zeitgenössische Exodusgeschichte. Doch die Zahlverhältnisse haben sich verkehrt: Wenn im Talmud – aufgetragen auf messianischer Hoffnung und dem biblischen Josua-

1265 1266 1267 1268 1269

Ex 5,6–23; 13,3. bT Sanh 111a. bT Edujoth II, 9. bT Berachot 12b. bT Rosh Hashanah 11b.

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Text – überliefert wird, dass nur etwa drei Prozent1270 der Israeliten in Ägypten zurückgeblieben sind, so überlebte eine deutlich geringere Anzahl von denen, die nach 1939 in den Sog der Auslöschung gekommen waren. Und die fliehen konnten wie Appelfeld, fanden sich selten in einigermaßen kohärenten Gruppen wieder; selbst Abraham Sutzkever schloss sich mit denen, die aus dem Wilner Ghetto ausgebrochen waren, nichtjüdischen Partisanen an und kämpfte mit ihnen gemeinsam gegen die SS-Leute. Und wenn erzählt wird, dass Israel durch vierzig Jahre hindurch in der Wüste umherzog (Dtn 2,7) und dennoch die Wegrichtung eindeutig fort aus Ägypten wies, ohne dahin je wieder zurückkehren zu dürfen (Dtn 17,16), dann nahmen sich in der Kindererfahrung Appelfelds die mehr als zweieinhalb Jahre Flucht ebenso lang aus wie die kollektiven vierzig Jahre und wies der lange Weg über unbekannte Territorien doch am Ende ins Land Israel. Dem Flüchtling von 1941–1944 brauchte niemand zu gebieten, nicht mehr ins Land seiner Kindheit zurückzukommen; dort hatte man tabula rasa gemacht, jüdisches Leben ließ sich weder finden noch wiedererrichten. Appelfelds Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen endet deshalb auch mit der Festigung dieser Richtung, die im Traumwort der Mutter der alleinstehende Erwin vernimmt: »Bleib vorläufig da, wo du bist, und lass die fernen Orte zu dir kommen.«1271 Die Reise an die entlegenen, kalten, gefährlichen Orte unternimmt Appelfeld literarisch; so lässt er die Orte von gestern zu sich kommen – wie auch Israel im Text des Schma Israel Ägypten literarisch zu sich kommen lässt. 1270 Der Traktat bT Sanh vergrößert die biblische Zahl von sechshunderttausend Israeliten (Ex 12,37) durch den Hinweis, dass in Ägypten »je zwei von je sechzig Myriaden« (bT Sanh 111b) zurückgeblieben waren. Diese imposante Zahl stellt im Traktat bT Succa 51b im Bereich des Gottesdienstes nochmals die Größe Israels dar, und zwar im Zentrum jüdischer Existenz der Welt des 3. Jhdt. v. d. Z., in Alexandrien in Ägypten, wohin viele Juden zurückgekehrt waren – und verbindet das gleichzeitig mit der Übertretung des Verbots, je wieder nach Ägypten zurückzukehren. »Wer die Doppelstoa in Alexandrien in Ägypten nicht gesehen hat, hat die Herrlichkeit Jisraéls nicht gesehen. Man erzählt, sie sei eine Art große Basilika gewesen, eine Galerie innerhalb einer Galerie, in der oft zweimal sechzig Myriaden, noch so viel wie die Auszügler aus Miçrajim, anwesend waren. Da waren einundsiebzig goldene Sessel, entsprechend den einundsiebzig Mitgliedern des großen Synedriums, von denen jeder nicht weniger als einundzwanzig Myriaden Goldtalente hatte. In der Mitte war eine Tribüne aus Holz, auf der der Gemeindediener mit einem Sudarium in der Hand stand, und wenn Amen zu sprechen war, schwenkte er das Sudarium, und das ganze Publikum antwortete Amen. [Das Publikum] saß nicht durcheinander, sondern Goldarbeiter besonders, Silberarbeiter besonders, Goldschmiede besonders, Bergarbeiter besonders und Weber besonders. Wenn ein Dürftiger da eintrat, erkannte er seine Berufsgenossen und wandte sich zu ihnen, sodaß er dadurch Unterhalt für sich und für seine Hausleute erhielt. Abajje sprach: Sie alle tötete Alexander der Mazedonier. – Weshalb wurden sie bestraft? – Weil sie übertreten haben den Schriftvers: ihr sollt diesen Weg nie wieder zurückkehren; sie aber sind wohl zurückgekehrt.« 1271 Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 285.

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Appelfeld erzählt eine Fluchtgeschichte ähnlich der des biblischen Israel – mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Verwirklichung der Todesdrohung in der Schoa qualitativ andere Kräfte ans Werk geschickt hatte. Allerdings ist Appelfeld kein religiös-ideologischer Schriftsteller.1272 In seinem Roman macht er sich nicht zum Apologeten irgendeines Allgemeinen, sondern er unternimmt – hier wie in andern Romanen auch bis zu seinem neuesten Auf der Lichtung (2013) – eine »journey to the obscure origins«1273, offen gebunden an seine eigenen Erfahrungen.1274 Was Yigal Schwartz bereits für Appelfelds Schaffenszeit vor den 1970er Jahren vermerkt hat, gilt auch darüber hinaus bis in die Gegenwart: »It is not surprising that the predominant metaphor in these stories is the wanderings of the Israelites in the desert, portrayed here as eternal wanderers.«1275 Diese Wanderung, erzwungen durch die Austreibung, zielt von früh weg, selten direkt, häufiger indirekt und verdeckt, auf Israel1276 und verschränkt Gegenwart mit Retrospektiven zu den zwei Brennpunkten1277, Ägypten und Europa; in diesem Geflecht flackern Appelfelds Geschichten. Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen ist für all das ein besonders deutliches Beispiel. Sein Schwerpunkt liegt zwar darauf, wie der junge Mann ins Land kommt und sich das Land langsam zueigen macht; doch auch das weithin dekadente1278, für das Judentum identitätslos gewordene Europa1279, das der »größte jüdische Friedhof in der Geschichte«1280 wurde, und ein Judentum, geschlagen von »the auto-antisemitic malady«1281 der Juden, die nicht mehr jüdisch1282 und unbedingt deutsch und österreichisch sein wollten1283, sind noch zugegen mit der Täuschung durch Idole.1284 Denn auch für Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen gilt, was Appelfeld früher gesagt hatte und den Kern seines Schaffens benennt: »I want to understand what it means to be Jewish in Western civilization. I want to get to the heart of the phaenomenon. I want to explore the kinds of roles Jews have played.«1285 In Spannung zum urbanen Judentum vor 19381286, das 1272 1273 1274 1275 1276 1277 1278 1279 1280 1281 1282 1283 1284 1285

Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, XXII. Ebd., 14. Ebd., 23. Ebd., 14. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 68. Ebd., 182. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 45. Cohen Joseph, Voices of Israel, 107. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 188: »Europe after the Holocaust is a Jewish wasteland in Appelfeld’s world … For Appelfeld’s characters, Europe of the 1980s is an archaeological site, the largest Jewish cemetery in history.« Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 103. Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 61. Ebd., 46. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 44. Cohen Joseph, Voices of Israel, 133.

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wie Stefan Zweig teils forciert in ein Universales1287 hinausstrebte,findet Appelfeld Israel, auch urban mit den Städten Jerusalem und Tel Aviv1288, aber anders gebildet. Denn hier leben weithin jüdische Menschen unter jüdischen Menschen, ausgespannt zwischen streng religiösen und säkularen, auch atheistischen Lebensweisen, zwischen solchen, die lange schon im Land lebten, und anderen, die der Todeswelt entkommen waren; sie alle lebten und leben eine jüdische Wirklichkeit und in einer sie umfassenden jüdischen Wirklichkeit, dem Assimilationsdruck, wie er über Jahrhunderte in der Diaspora gewirkt hat, war entkommen, wer nach Israel kam. Diese jüdische Wirklichkeit Israels war und ist zu gestalten, sie fiel nicht vom Himmel. Von den Anstrengungen der Gestaltung, wie sie Tom Segev in seinem Buch Die ersten Israels ausführlich beschrieben hat, sind auch Appelfelds zentrale Romanfiguren erfasst worden, die alle ihr Geschick selbst in die Hand nehmen1289; am meisten trifft dies zu in Bezug auf den Gewinn des neuen Wohnlandes Israel auf Erwin in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Angesichts dieses Romans ist es nicht ganz richtig, wenn Yigal Schwartz feststellt, dass bei Appelfeld der Topos sekundär bleibt, weil Orte Menschen nicht änderten.1290 Es stimmt zwar, viele Orte Appelfelds spiegeln oftmals das Entsetzliche, das den Menschen an ihnen zustößt1291; im Untergang der Differenz von Himmel und Erde, in den im Grauen verschmelzenden, amorphen Horizonten1292 wird mitunter die Trostlosigkeit total. Aber ändern diese Erfahrungen, in einer bestimmten Gegend gemacht, den Menschen nicht? In der biblischen Zeit wurden die Menschen in der Wüste verwandelt. Dort, im Ödland, in den Wüstenregionen Israels, schauten sie etwas Erhabenes und Zurückweisendes an, das Israel geformt und gefestigt hat. Der Wüstenort ist deshalb eine Gegenwelt zu den Orten der Vernichtung des 20. Jahrhunderts, trotz der Leblosigkeit und Gefährlichkeit, die aus der Wüste starrt. Israel und seine Leittradition, die aus der Wüste kommt, nimmt in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen eine zentrale Bedeutung ein, denn dort traf Israel auf das Geheimnis seines Lebens. Das widerfuhr selbst einem so säkularen Schriftsteller wie Friedrich Dürrenmatt1293; einem jüdischen 1286 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 23. 1287 Ebd., 130. Vgl. dazu Appelfelds Bewunderung von Canetti: Auf die Frage, ob er Canetti kenne, antwortete Appelfeld – vielleicht ironisch: »Of course, I’m familiar with Canetti. He belongs to my ›family.‹ I don’t know why he isn’t better known. To me, he is the most universal writer among the Jews who were in central Europe before the Holocaust.« (Cohen Joseph, Voices of Israel, 133). 1288 Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 35f. 1289 Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 43. 1290 Ebd., 55. 1291 Ebd., 63–68. 1292 Ebd., 93. 1293 Dürrenmatt Friedrich, Zusammenhänge, 127. Auf dem Flug nach Elat sah Dürrenmatt den

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Schriftsteller wie Aharon Appelfeld ist es bedeutend näher, es wächst ihm aus Jahrtausenden zu und bringt ihm dichterische Inspiration. Doch die Wüste ist gleichzeitig Ort des Transitus, Ziel war Israel, dem Appelfeld dankbar ist: »It’s there and it is a presence; however, it is not so much the desert that has had an impact on me as Israel itself. What Israel did for me is a miracle. It made me a free person.«1294 Israel ist ihm daher wichtig, es ist der für ihn spezifische Lebensort.1295 Nach Israel wanderte Appelfeld schreibend hinein, am Anfang mühsam und noch wie ein Fremdling1296, später aber vertrauter, gestützt und geschützt durch biblische Leitmotive wie eben das der Wüstenwanderung.1297 Man trug ihm mitunter nach, dass er zwar ein jüdischer, jedoch kein israelischer Schriftsteller sei und das »Diaspora face«1298 nie abgelegt habe. – Hat denn Israel selbst ein anderes Gesicht? Im Lauf der letzten eineinhalb Jahrhunderte kamen in fünf großen und vielen kleineren Einwanderungswellen Juden aus aller Welt, also aus der Diaspora nach Israel und blieben dort leben. Überall im Land leben Menschen mit Diasporaspuren, die weiter zurückreichen als die Jahrzehnte der Einwohnung in Israel. 1946 lebten etwa 600.000 Juden in Israel, heute zehn Mal mehr. Was man Appelfeld vorhält – er schreibt wenig oder fast nicht über Israel, viel aber über Europa –, trifft nicht zu: Weil er über die Diaspora und ihre Auslöschung schreibt, schreibt er über Israel. Nicht dass Israel durch die Auslöschung entstanden wäre; es entstand aus der Sehnsucht nach dem Land der Vorfahren, die Auslöschung hat die Notwendigkeit gezeigt, dieses Land wieder zu beleben. Dass sich die Einwanderung aus der Diaspora zahlenmäßig deutlich abgeschwächt hat im Lauf der letzten sieben Jahrzehnten, spricht nicht gegen Appelfeld, sondern für ihn: In seinen Romanen wird von diesem Prozess erzählt, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen ist ein zentrales Kunststück dieses Prozesses. Und dass Appelfeld all seine Romane in Hebräisch schreibt, macht ihn eben nicht nur als jüdischen, sondern als jüdisch-israelischen Autor kenntlich. Er ist »a Jewish writer who lives in Israel and writes in Hebrew.«1299

1294 1295 1296 1297 1298 1299

Negev. »Hinunterstarrend auf diese tote Welt wird mir klar, daß der Gott, den die Wüste hervorbrachte, dieser unsichtbare Gott, der Gott Abrahams, welcher der Gott der Juden, Christen und Mohammedaner wurde, eine Erfahrung der Wüste ist, nicht ein Schluß der Philosophen oder eine Konzeption, und daß, fehlt diese Erfahrung, uns die Sprache fehlt, von ihm zu reden, über ihn läßt sich nur schweigen.« Cohen Joseph, Voices of Israel, 135f. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 142. Schwartz Yigal, Aharon Appelfeld, 52f. Ebd., 74. Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 14. Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 12.

»Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen« (2010)

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Jude zu sein, hat einen weiten Bedeutungshorizont, der Definitionen verneint und in einer Welt, die Determinanten setzt, im strengen Sinn ein Fremdwort1300 bleibt, in dem etwas Geheimnishaftes liegt, wie Emily Miller Budick schreibt: »Jewish history has made the word Jew one more of those secret words that drift through culture, like evil spirits. (…) Jew does not mean non-European. It does not mean religious Jew, or, in the contemporary world, Israeli. It means a specific individual with his or her particular affiliations and history.«1301 Ohne diese Geschichte lässt sich Appelfeld zwar lesen, doch die mehrschichtigen Variationen, die besonders in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen wie Wellen1302 durch den Text treiben, bleiben weithin ungeahnt. Eine solche Welle taucht in der Mitte des Romans auf, und zwar in einem der vielen Traumbilder, in dem der träumende Aharon im Zug1303 sitzt, der in die Richtung der Heimatstadt fährt. In diesem Zug trifft er auf einen Mann, der ihn an seinen Onkel Isidor erinnert und ihm auf die Frage, ob er Jude sei, antwortet: »Ein Vierteljude, wenn ich die Mathematik benutzen darf. Der Christ1304 in mir hat mich vor dem Tod bewahrt. Und der Vierteljude in mir ist in eine Depression gestürzt. Weil 1300 So verstanden, nimmt Adornos Aphorismus eine überraschende Bedeutung an: »Fremdwörter sind die Juden der Sprache.« (Adorno Theodor W., Minima Moralia, 141). 1301 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 105. 1302 Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 9. 1303 Der Zug ist ein zentrales Bewegungsmittel in Appelfelds Werk, v. a. bei der Deportation (Badenheim; Zeit der Wunder) und auf der Suche nach der verlorenen Heimat (Zeit der Wunder; Elternland): Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 74. 1304 In Aharon Appelfelds Werk gibt es die Menschen, die entweder Christen geworden sind durch eigenen Übertritt ins Christentum (wie Karl in The Conversion) oder immer schon christlich waren, doch wie auch die Übergetretenen eine starke Affinität zu jüdischen Menschen und zu deren Leben entwickelt haben wie Gloria (The Conversion) oder Katerina im gleichnamigen Roman. Dabei fällt auf, dass Appelfeld solche profilierte christliche Gerechte, wie ich sie hier nennen möchte, ausschließlich als Frauencharaktere portraitiert hat; christliche Männer sind entweder gebildet, glatt und von der Suprematie des Christentums überzeugt (Priesterfigur in The Conversion) oder gehören zu den harten, oft bäuerlich geformten Männern, denen Gewalt gegen Frauen und Kinder und im Mark liegender Judenhass innerlich sind und nicht nur ausbrechen, wenn sie, wie nicht selten, sich stark betrunken haben. – Ein Ausnahme findet sich im Roman Auf der Lichtung von 2013: Der von den jüdischen Partisanen gefasste Urkainer Viktor (Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 168–174) bindet sich selbst ohne jeden opportunistischen Vorbehalt an die Partisanen, hilft ihnen bei der Planung von Aktionen (ebd., 241) und pflegt nach einem letzten Angriff der Deutschen die schwer Verwundeten (ebd., 277). Doch ihn zeichnet Appelfeld nicht als Christen, sondern als einen Menschen, der sich abkehrte von seinem bisherigen Leben und den jüdischen Partisanen hilft, ihre Menschlichkeit zu bewahren und zu festigen. Denn mit seiner Hingabe an die geretteten Verwundeten ist er es, der »am meisten dazu beiträgt, sie ins Leben zurückzuholen … Er schreckt selbst nicht vor Exkrementen zurück. Er lehrt uns, was Menschenliebe bedeutet.« (ebd., 239). Und diese wurde ihm durch die Partisanengruppe geschenkt, wie er sagte: »Die Tage, die ich mit euch verbracht habe, waren Tage der Reinigung und der Erbauung.« (ebd., 299f).

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Aharon Appelfeld – »Ich habe das Tor gesprengt«

ich ihn versteckt habe, ist er jetzt eingeschrumpft. Es tut mir leid um ihn, aber was hätte ich tun sollen, sogar das Viertel hat mich in Gefahr gebracht.«1305

Onkel Isidor war dieser Mann nicht, doch er hatte ihn gut gekannt. Isidor hatte in ihm immer wieder den jüdischen Menschen wachgerufen, wie er bekennt, während der Zug offenbar die Gegend der Herkunft schon durchfährt. Ein Gespräch mit Onkel Isidor »›nährte den Juden in mir. Hier ist alles öde, und seit die Juden verschwunden sind, ist es noch öder geworden, die Leere gähnt aus jeder Ecke. Ich bedauere ihr Verschwinden jeden Tag. Ich erinnere mich auch an dich, mein Lieber, du warst ein nachdenklicher Junge. Du bist deiner Mutter ähnlich. Deine Mutter war der feinfühligste Mensch, den ich kannte, sie sprach nicht viel, aber was sie sagte, ging einem zu Herzen. Wozu fährst du nach Hause, was hoffst du, dort zu finden?‹ ›Alle‹, sagte ich ehrlich. Er senkte den Kopf und sagte: ›Mein junger Freund, ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Der Krieg hat verheerende Zerstörungen angerichtet. Alles hat sich verändert – zum Schlechten. Ohne Juden ist das Leben sinnlos und hässlich.‹ Verzweifelt fragte ich ihn: ›Und was raten Sie mir zu tun?‹ ›Bleib nicht länger hier, als nötig ist. Dieses Land frisst seine Bewohner, ein Land, dem es nicht gelingt, seine Juden zu schützen, ist ein Land ohne Gott. Ich an deiner Stelle würde den ersten Zug nehmen, der mich von hier fortbringt.‹«1306

Plötzlich hört man in diesem Traum, ähnlich wie in Talmudischen Diskussionen, die Andeutung eines Schriftzitats: »Dieses Land frisst seine Bewohner, ein Land, dem es nicht gelingt, seine Juden zu schützen, ist ein Land ohne Gott«. Ein Traum wie dieser schafft eine Brücke zu den Anfängen Israels. Denn Jakob und sein Sohn Josef, beide große Träumer (Gen 28,12–16; 31,10–13; 37,5–7. 9), standen immer auch synonym für Israel (Gen 32,29; Ps 77,16; 80). Israel kann ohne Träume nicht leben, so hat Elie Wiesel gesagt.1307 Aharon Appelfeld schrieb viele Traumgeschichten in seinen Romanen und ist auch dadurch ein ganz innerlicher israelischer Schriftsteller. Im vierten Buch der Tora, in Bemidbar / Numeri, wird nun etwas Ähnliches erzählt: Unter Kaleb sind jüdische Kundschafter in das Land Israel gezogen, um sich umzusehen. Vierzig Tage haben sie es durchstreift. Granatäpfel, Feigen, Trauben (Num 13, 23f) hatten sie gekostet und mit sich genommen: »Es ist wirklich ein Land, in dem Milch und Honig fließen; das hier sind seine Früchte.« (Num 13,27). Doch sie hatten auch Mauern gesehen, die Städte umfingen und den Zug aus der Wüste hinein nach Kanaan aussichtlos erscheinen ließen. Davon sprachen Kalebs Begleiter zunächst auch, verstärkten jedoch dies durch das 1305 Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 146. 1306 Ebd., 147. 1307 Wiesel Elie, Carry Forward One Page Of Memory, 19f und 42f.

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Gerücht eines furchtbaren Landes, das sie geschaut hatten: »Das Land, das wir durchwandert und erkundet haben, ist ein Land, das seine Bewohner auffrisst; alle Leute, die wir dort gesehen haben, sind hochgewachsen.« (Num 13,32b). Motive einer alten Geschichte von Giganten1308 tauchen hier auf, die maßlos sind und tödliche Kraft besitzen. Zwischen beiden Texten finden sich vor allem Umkehrungen oder Gegenlesungen; durch sie lässt sich Appelfelds Traum wie ein Nachtgesicht lesen, in dem eine mehr als drei Jahrtausende zurückliegende Zeit plötzlich zur Gegenwart wird und in der Gegenwart, ja als Gegenwart sich verwandelt und diese erkennbar macht – ohne Erinnerung also keine Gegenwart, wobei die Erinnerung die Umkehrung der Gegenwart, die im Traum sich bildet, grell aufleuchten lässt: 1. Kanaan, das biblisch versprochene Land, ist für Aharon das verlorene Elternland. Dort hofft Aharon alle zu finden, die er in Eretz Israel nicht mehr sehen konnte. Der Weg kehrt sich also um: Nicht nach Kanaan, sondern aus Kanaan fort zieht der junge Jude. Das erinnert wieder an Franz Kafka: Gegen Ende der Lektüre des elfbändigen Werks von Heinrich Graetz Geschichte der Juden von den Anfängen bis auf die Gegenwart, das er, ähnlich wie Edmund in Appelfelds jüngstem Roman Auf der Lichtung1309, »gierig und glücklich« gelesen hatte, traf Kafka auf »die treue Überlieferung der Unvollkommenheit der Volksmänner ( Josuas, der Richter, Elis).«1310 Das war im November 1911. Kanaan war das Zielland. Im Jänner 1922 liest der Schwerkranke sein Leben als Wanderung in die Gegenrichtung der Stämme Israels, hinaus aus Kanaan: »ich bin 40 Jahre aus Kanaan hinausgewandert (…) und inzwischen bin ich schon längst in der Wüste und es sind nur Visionen der Verzweiflung besonders in jenen Zeiten, in denen ich auch dort der Elendste von allen bin und Kanaan sich als das einzige Hoffnungsland darstellen muß, denn ein drittes Land gibt es nicht für die Menschen.«1311

Auch für den jungen Aharon wird durch die Worte des Unbekannten sein Kanaan zum Land, aus dem er fortziehen und dem er fern bleiben muss.

1308 Oberhänsli-Widmer Gabrielle, Bilder vom Bösen im Judentum, 95–98. 1309 Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 136: »Ich lese das große Buch von Graetz, ›Volkstümliche Geschichte der Juden‹. Es fällt mir noch schwer, das gesamte Bild zu erfassen, aber ich verfolge gespannt die Eroberung des Landes durch die Stämme Israels, ihre erste Verbannung und die wunderbare Rückkehr in die Heimat. Dann die zweite Verbannung, die furchtbare, und die Zerstreuung unter die Völker. Ich lese und empfinde etwas, das Kamils Staunen ähnelt.« Die Volkstümliche Geschichte der Juden ist eine auf drei Bände verkürzte Fassung des elfbändigen Werks Geschichte der Juden von den Anfängen bis auf die Gegenwart. 1310 Kafka Franz, Tagebücher. Band 1, 168. 1311 Kafka Franz, Tagebücher. Band 3, 211.

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2. Kaleb und seine Begleiter gehörten ohne Distanz zu Israel; der Bote des Wortes in Appelfelds Roman ist zwar auch Jude, aber er hat sich taufen lassen und ist damit der Erwartung vieler (assimilierter) Juden gefolgt, durch Übertritt den antisemitischen Drohungen zu entkommen. Wie weit seine Angleichung an das System geht, das den Antisemitismus politisch und religiös vollendet hatte, offenbart seine mathematische Selbstinterpretation, die jüdisch unvollziehbar, nationalsozialistisch aber dekretiert war. 3. Im Zitat jedoch nimmt der namenlose Jude genau die Worte auf, die Kalebs Begleiter zum Gerücht gemacht haben – und kehrt sie ebenfalls um: »Dieses Land frisst seine Bewohner.« Die Umkehr liegt darin, dass die Aussage keine Gerücht mehr ist, sondern erwiesene Realität im Elternland. Dort wurden seine jüdischen Bewohner gefressen, wie in Auf der Lichtung ein von jüdischen Partisanen aufgegriffener Ukrainer erzählt: »Man hat sie alle umgebracht. Sie wurden gezwungen, Gruben im Wald auszuheben, und wenn sie fertig waren, wurden sie von hinten erschossen und stürzten hinein. Dann wurden weitere Juden herbeigebracht, damit sie die Gruben zuschaufelten, und anschließend hoben sie Gruben für sich selbst aus. So ist es Tag für Tag ergangen.«1312

Was Appelfeld den Ukrainer erzählen lässt, hat sich tatsächlich so zugetragen. Patrick Desbois hat in seinem Buch Der vergessene Holocaust viele Zeugenaussagen aus jenen Tagen und jener Gegend gesammelt.1313 4. Während Kalebs Erkundungen einen Weg wiesen, der Zukunft versprach trotz des Gerüchts, weiß der namenlose Jude, was am Ende von Zeit der Wunder auch Bruno zu sich sagte: »Es ist vorbei.«1314 Die Umkehr wird durch die frappante Gleichheit zwischen dem biblischen Text und Appelfelds Worten bedrückend manifest, wenn man den hebräischen Text der beiden Schriften heranzieht: Num 13,32: ‫הארץ אשר עברנו בה לתור אתה ארץ אכלת יושביה‬/ ha’aretz ascher avarnu bah latur ‘otah aretz ‘ochelet joschweijah – das Land, durch das wir zogen, es zu erkunden, dieses Land (fr)isst seine Bewohner. Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen: ‫‘ – ארץ זו אוכלת את יושביה‬eretz so ‘ochelet et joschweijah1315 – dieses Land (fr)isst seine Bewohner. Appelfeld zitiert exakt den biblischen Text, die kleinen Unterschiede liegen allein in der Differenz von biblischem und heutigem Hebräisch. Damit reißt 1312 Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 158. 1313 Desbois Patrick, Der vergessene Holocaust, 91–99, 195–197 und 248–250; der Historiker Arno Lustiger (7. 5. 1924–15. 5. 2012), der zum Buch das Vorwort verfasste, war Cousin des Pariser Kardinals Jean-Marie Aron Lustiger, den Appelfeld gut gekannt hat (Treitler Wolfgang, »Ich bin ein österreichischer Schriftsteller«, 36f). 1314 Appelfeld Aharon, Zeit der Wunder, 236. 1315 Appelfeld Aharon, Ha‘ish shel’o passaq lishon, 122.

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ein Graben auf, der Graben zwischen Israel und dem Gerücht einerseits sowie dem Elternland und der tödlichen Realität andererseits. Wie es bis dahin nicht vorstellbar war, wurde fern von Kanaan das Gerücht in Wirklichkeit gesetzt, 3000 Jahre später und 2000 Kilometer entfernt. Gerüchte können aufgeklärt, berichtigt oder bestätigt werden; irreversibel aber bleibt die Auslöschung, die im einstigen Zuhause angerichtet wurde. 5. Israel wurde der Moseschar von Gott versprochen, Jerusalem später als der große Ort genannt, an dem Gott gepriesen wird (Ps 102,22; 122); aus dem Elternland aber, das fortan keine Juden mehr beherbergt, ist »ein Land ohne Gott« geworden. Was kann denn dort noch ein jüdischer Überlebender finden? Keine Tradition jüdischen Lebens weist mehr auf Gott, dem Boden gleichgemacht wurden die Synagogen, und die Trümmer ihrer Steine haben auch den Gesang begraben. Im »Land ohne Gott« findet der Jude nur noch den Massenfriedhof ausgelöschter Namen und keinen Ort mehr, seiner Toten zu gedenken. Das Land Israel bietet dazu den schärfsten Kontrast – nicht allein, weil es Traditionen beschwört, die Jahrtausende weit zurückreichen und in der Gegenwart ankommen, sondern auch deshalb, weil es das Land der Rettung heute ist. Kafka hatte Recht: Die Wüste, der Ort des Todes – oder Kanaan, Israel. Ein drittes Land gibt es nicht. Josuas Landnahme wird nun in den biblischen Texten als großer, kriegerischer Akt erzählt. Lässt Appelfeld in Auf der Lichtung mehrmals seine jüdischen Partisanen sagen, dass der starke Kampf und das Judensein kein Widerspruch sind1316, so erinnert das an die biblischen Tage Josuas. Und auch die häufigen Streifzüge der Partisanen sowie der erhoffte Erfolg haben in diesem Roman etwas mit der Josua-Geschichte gemeinsam: Gerüchte ziehen nicht mehr in den Eroberungsgruppen umher, sondern Klarheit bestimmt sie, militärische, mehr noch religiöse. Allein in der bewussten Affirmation des Judeseins und seiner Wirklichkeit liegt der Erfolg der Unternehmung. Das gilt genauso für Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. So sind die Josuageschichte ( Jos 1) und Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen sowie Auf der Lichtung als eine offene Motivfortsetzung des kräftigen Judentums eines Geistes. Affirmation des Judeseins und seiner Wirklichkeit hieß für die deuteronomistisch gebildete Josuatradition vor allem, jederzeit sich an die am Sinai gegebene Tora zu halten. Josua erinnert deshalb Mose, repräsentiert ihn aber nicht direkt, sondern findet seine Bedeutung in etwas abgesenkter Form: Zwar ist auch er Künder der Tora, doch schreibt er nicht wie Mose ‫ חק ומשפט‬/ chock umischpat – Gesetz und Recht nieder, sondern nur ‫ הדברים האלה‬/ hadvarmi ha’ele – diese

1316 Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 52, 90, 96, 150 u. ö.

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Worte.1317 Josua bringt nicht mehr hervor, sondern er vermittelt; er erschafft nicht Tradition, sondern er schafft nach biblischer Darstellung den ersten ihrer Folgeschritte. Und diese Schritte weisen zurück auf den Sinai als das »Zentrum der Bibel«1318, an das die Überlieferung, also die mündliche Tora von Anfang sich band.1319 Auch das markante Element des Exodus, der die Moseschar zum Sinai genommen hat, findet sich in Josuas Geschichte wieder und ist ebenso abgesenkt wie bei der Tora: Das Blut, das auf die Türposten gestrichen wird und Schutz verheißt (Ex 12,7–13), wird zu einer roten Schnur, die Rahab ins Fenster bindet. ( Jos 2,21). Schließlich kommt auch die Macht Gottes bei Josua ins Spiel, auch sie etwas gemindert als in den Tagen, da Mose gegen den größten damaligen Weltherrscher antrat, den Pharao (Ex 5,1ff; 7,14–11,10), während Josua auf ein Land trifft, in dem viele kleinere Herren über ihre Städte zu herrschen versuchten ( Jos 2,24). Mit Josua wird also die Tora tradiert, sie ist das Scharnier zwischen Mose und den nach Josua kommenden Traditionen, in denen die Schwierigkeiten der Landnahme und des Landeserhalts immer wieder Thema wurden und mit ihnen auch die Kriege. Von Kriegsereignissen war auch Aharons Landnahme in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen gezeichnet, die in die Jahre 1946–1948 fällt. Die Gruppe Jugendlicher wurde auf ihre Landnahme vorbereitet, die kriegerische Handlungen nicht ausschließen konnte; man arbeitete landwirtschaftlich und formte einen neuen jüdischen Menschen, den es in der Sportwelt vor den schwarzen Jahren schon gegeben hatte und der nach Meinung einiger eine neue Form des Judentums hervorbringen werde: das »Muskeljudentum«1320, in dem »der Körper mit seiner vollen und starken Sprache sprechen«1321 wird, wenn notwendig auch im Krieg. Doch während einer solchen Kriegshandlung wird Aharon schwer am Bein verletzt, lag zwei Tage ohne Bewusstsein im Krankenhaus1322 und hatte eine lange und unsichere Zeit der Genesung vor sich.1323 Das warf den jungen Mann auf sich zurück und leitete seine Landnahme auf andere Bahnen. Vorgezeichnet war diese Bahn wie im Leben Appelfelds selbst durch die Namensgabe Aharon; Aharon ist ein Name ägyptischer Herkunft mit langer israelitischer Tradition, von der sich der Priesterstamm Levi herleitete, der Stamm

1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323

Finsterbusch Karin, Deuteronomy and Joshua, 191. Heschel Abraham J., Der Mensch – ein heiliges Bild, 135. Klinghoffer David, Why the Jews Rejected Jesus, 139. Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 23. Ebd., 110. Ebd., 113. Ebd., 134–236.

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der Kohanim. In seinem hebräischen Bild verschwand der Name Erwin nicht einfach, sondern blieb tatsächlich gut sichtbar, wie Ephrajim1324 sagt: ‫ – «משהו מארווין יש באהרן‬maschehu me’erwinjesch be’aharon« / etwas von Erwin gibt es in Aharon. Die beiden Namen ‫ ארווין – אהרן‬zeigen eine große Ähnlichkeit im Schriftbild. Damit war in der literarischen Verdichtung, die dieser eine, scheinbar lapidare Satz vornimmt, alles vorhanden, was Aharons Weg der Landnahme vorzeichnete: Durch die hebräische Sprache, mit ihr und in ihr kam Aharon Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz und Schritt für Schritt tiefer nach Israel hinein. Die Feinde, die draußen den Überlebenden zusetzten und ihnen Kämpfe aufzwangen, wurden hier innerlich und verwandelten sich dadurch: Aus dem Kampf mit Feinden wurde der Anlauf gegen die Festung einer unbekannten, schweren Sprache, die Aharon vor eine zweifache Frage stellte, die – ähnlich wie die Kriegsgegner draußen – seine Existenz doppelt gefährdete: Wie komme ich in die Sprache Israels hinein? Und wie nehme ich in sie meine verlorenen Eltern mit, ihre Sprache, ihr Timbre, die Melodie der Muttersprache? Hier vollzieht sich ein Existenzdrama, in dem der Überlebende, der dem Tod entfliehen konnte, wieder ums Überleben kämpfen muss in einer neuen Welt, die noch nicht zu ihm gehört. Das größte Hindernis liegt in der neuen Melodie des Hebräischen. Übersetzen kann man relativ bald; rasch hat sich Appelfeld diese Fähigkeit erarbeitet.1325 Doch die Melodie, der Klang, das Fallen und Steigen der Töne, während die Mutter oder der Vater ihr Deutsch sprachen, die Resonanz der Worte und ihr Zusammenklang – lässt sich das denn jemals in eine andere Sprache mitnehmen und – noch schwerer – in einer anderen Sprache gestalten und wiederfinden? Diese Existenzfrage des Menschen und des Schriftstellers Aharon Appelfeld haben seine ersten Mentoren nicht begriffen, als sie ihm sagten, er hätte keine Begabung zu schreiben.1326 In den beiden letzten Romanen Appelfelds steht genau diese Frage an der Front, die Frage, die den jungen Schriftsteller schon getrieben hat. In Auf der Lichtung (2012) verdichtet Appelfeld die Bedeutung der Melodie in einer wunderschönen Metapher: »Eine Melodie trägt den Menschen auf ihren Flügeln zurück in die Kindheit.«1327 Durch die »angenehme Stimme« des Partisanenkämpfers Isidor, der »die Psalmen und ihre Melodien«1328 kennt und dessen gewöhnliches Reden selbst »klingt wie eine Melodie«1329, senkt sich 1324 Appelfeld Aharon, Ha‘ish shel’o passaq lishon, 51; Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 61f; siehe auch S. 289. 1325 Aharon Appelfeld, Geschichte eines Lebens, 117. 1326 Ebd., 162. 1327 Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 37. 1328 Ebd., 123. 1329 Ebd., 130.

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für ihn und seine Mitkämpfer immer wieder etwas von der Ruhe des Schabbat1330 herab, und das auch deshalb, weil Isidors Stimme und ihr Klang die Gebete Israels mitbringt und von ihnen getragen ist.1331 In Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen geht es um die Melodie der Muttersprache, und es geht auch um den Schabbat zu Hause in Czernowitz.1332 Dass die Sprache damals formal die der Feinde war1333 und durch die Schoa verwüstet worden ist1334, wird in der Landnahme Israels konsequent bearbeitet durch deren Ausschluss. Hierher, an den Ort der Überlebenden, dürfen die Hände und die Stimmen der Mörder mit ihrer Sprache nicht reichen; geschähe das, käme das dann doch einem wenigstens mentalen, sprachlichen Sieg der Nationalsozialisten gleich und unterminierte die 614. Weisung, wie sie Emil L. Fackenheim als »commanding Voice of Auschwitz« gefasst hat, »forbidding the post-Holocaust Jew to give Hitler posthumous victories.«1335 Es geht, damit die Melodie der Muttersprache wieder gehört werden kann, damit um das, was Emily Miller Budick in Bezug auf den Roman The Iron Tracks die »Wiedergeburt«1336 genannt hat; von Anfang an begleiten den icherzählenden Protagonisten Bilder und Empfindungen der Heimkehr, die mit Menschen und erst durch sie mit Orten verbunden ist, genauer mit Ortsbewegungen, die nach Jerusalem weisen.1337 In der Existenzfrage, gespannt zwischen der Muttersprache und dem Hebräischen, bleibt ein Paradox, das den Menschen und Schriftsteller Appelfeld doppelt trifft, früher schon zugegen war1338, jetzt aber zentral geworden ist: die Verbindung von Sprachen, die zum Dichter und seinen Protagonisten Edmund1339 (Auf der Lichtung) und Erwin/Aharon (Der Mann, der nicht aufhörte zu

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Ebd., 125. Ebd., 161f. Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 268–277. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 100 und 118. Langer Lawrence L., Aharon Appelfeld, 127. Fackenheim Emil L., To Mend the World, 299. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 61f: »Wirblbahn is a place of rebirth. It is therefore linked to the maternal and to what every man and woman must experience as the birth from nothingness into life and language. (…) A major informing narrative in Appelfeld’s autobiography and other of his writings is how the orphaned child makes an alien and largely uncivilized, natural world a home and how he there acquires a new mother tongue. This new language, as Appelfeld makes clear in his autobiography (sc. Geschichte eines Lebens), is not Hebrew per se but rather the language of fiction.« 1337 Appelfeld Aharon, The Iron Tracks, 33, 93, 111. 1338 Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 72 und 176. 1339 Mir scheint, zwischen den Namen Edmund und Erwin/Aharon besteht eine Verbindung. Edmund hat phonetisch etwas vom Mund in sich; und Erwins Widerstand gegen den Namen Aharon drückt ein innerer Monolog so aus: »Ich wollte nicht der Mund des Moses sein« (Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 63). Beide Namen

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schlafen) gehören – und doch durch die völlig unterschiedlichen Phoneme und grammatischen Strukturen (formal gesehen) sowie durch die Pervertierung der Muttersprache zur deutschen Todessprache (geschichtlich gesehen) voneinander getrennt sind. Da in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen der junge Aharon nun einmal in Eretz Israel ist, schwer versehrt am Knie, betritt er das Land, indem er die Jahrtausende alte Sprache erlernt, und zwar durch unspektakuläre Übungen des Bibellesens und Bibelabschreibens.1340 Die hebräische Bibel mit ihrer einzigartigen literarischen Qualität1341 wird ihm Basis für das Heimkommen in der neuen und doch von Ewigkeit herkommenden Heimat1342, auch wenn sich dieses Heimkommen nur langsam abzeichnet und sehr mühselig vollzieht. Je länger er sich mit dem Hebräischen beschäftigt, umso deutlicher verflechten sich die Elemente seines existenziellen Paradoxes durch vielschichtige Erinnerungen, die meist in Träumen aufsteigen und manchmal wieder verblassen, durch Erinnerungen an seine Familie, an die Kindheit, an die Überlieferung Israels und an die wöchentliche Feier des Schabbat. Diese Erinnerungsfäden verdichten sich und lösen Aharon nach und nach aus seinem Leben »in einer nicht enden wollenden Müdigkeit«1343 aus, dem er unmittelbar nach dem Krieg verfallen war. Doch dann eine Zäsur, kein Übergang: In seiner Wohnung in Tel Aviv, die ihm von einem kinderlos verstorbenen Mann vermacht wurde1344 und in der den Rekonvaleszenten eine Betreuerin namens Riwka mit allem Notwendigen versorgte, hatte Aharon eine Nacht lang durchgeschrieben und seine Erinnerungen an Zuhause in hebräischer Schrift abgefasst, die Erinnerungen an seine Eltern, an den Hund Miro und an Cito, den Gärtner, die Erinnerung an die Gerüche des Gemüses und der Erde, an die Baumschatten, an Ausgang und Wiederkehr des Vaters von der Arbeit, die Erinnerung an den Freitag, der »das Eingangstor zu zwei Feiertagen«1345 ist, und an das Kindermädchen namens Kristina, die den achtjährigen Erwin einst auch in eine Kapelle mitgenommen hatte, die Erinnerung an die Erzählungen des Vaters von seiner Arbeit, dessen bedächtiges Reden »den Rhythmus von Wellen« hatte – und Erwin liebte es sehr, diese »melodische Stimme zu hören«1346 –, die Erinnerungen an den Schabbat und an Dr. Wolf, der zum Christentum übergetreten war und nachmittags die Eltern besucht hatte,

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zielen nicht nur aufs Wort, sondern aufs Reden, aufs Sprechen, auf die Melodie des Redens, die Mund und Stimme hervorbringen. Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 167, 173f, 180f, 188, 193f, 206, 213, 217, 231 und 243. Miller Budick Emily, Aharon Appelfeld’s Fiction, 143. Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 81–85, 160, 166 und 184. Ebd., 7. Ebd., 233f. Ebd., 270. Ebd., 273.

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und die Erinnerung daran, dass am »Schabbatabend … meine Mutter nicht (verlangt), dass ich sofort den Schlafanzug anziehe. Ich bleibe lange auf, höre Radio oder sitze am Boden und spiele Karten.«1347 Die Zäsur, die aus diesen vergegenwärtigten Erinnerungen steigt – ihren größeren Teil hat Appelfeld im Präsens geschrieben –, kündigt sich zwar schon in den Zugängen zu den Erinnerungen an, doch nur kurz und leicht zu übersehen: »Nach Hause zurückkehren, wer hat noch nicht dieses Flüstern gehört? Nach Hause zurückkehren, das ist der Seufzer des Herzens, der jedes Mal in dir aufsteigt, wenn dich ein scharfer Schmerz trifft oder wenn dich die Zweifel an einer Entscheidung niederschmettern, und besonders oft in den dunklen Stunden, wenn du unter der Last deines Versagens zusammenbrichst – und gerade dann öffnet sich plötzlich das wunderbare Tor, das dich einlädt, dein erstes Haus zu betreten, das ewige Haus, das so auf dich wartet, wie du es verlassen hast.«1348

‫ או אז נפתח פתע אותו שער מופלא‬1349 – ‘o as nifteach peta‘ oto scha’ar mufla‘ / oder dann öffnet sich überraschend dieses wunderbare Tor: In diesem kleinen Wort ‫– פתע‬ peta‘ / überraschend blitzt ein Wunder auf, das wohl durch das ständige Üben und Lernen des Hebräischen, vor allem durch das Abschreiben der Bibel1350 ermöglicht wurde, aber nicht zu erzwingen war. In den Träumen war Aharon »fast jede Nacht zu Hause«1351, tagsüber übte er die Sprache Israels. Dass beides auf einmal zusammenfand – das war das große Wunder seiner Landnahme 1948, das Appelfeld in der Doppelung und Verstärkung des kleinen ‫ פתע‬markierte: »Plötzlich kam die Melodie zurück, die meine Finger auf dem Papier weitergetrieben hatte, und ich wusste, dass das Tor, das mir den Weg versperrt hatte, gesprengt worden war. Ab jetzt musste ich die Steine behauen. Da hörte ich die Stimme meiner Mutter: ›Hab keine Angst, du hast getan, was dein Vater tun wollte, aber überlege, welchen Preis du dafür bezahlt hast.‹«1352 / ‫שהשער‬,‫"ולפתע חזרה אלי הנגינה שמשכה את אצבעותי על גבי הדפים הלבנים וידעתי‬ .‫ מכאן ואילך החציבה‬,‫שחסם את דרכי נפרץ‬ '.‫ אבל אוי למחיר ששילמת‬,‫ אתה עשית מה שאבא רצה לעשות‬,‫ 'אל תפחד‬,‫לפתע שמעתי את קולה של אמא‬ Ulefeta‘ chasra elai hanagina schmaschcha et etzba’otai al gavei hadafim halvanim wejad’ati schehascha’ar schechassam et drachai nifratz, mech’an we’ilach hachaziva. Lefeta’ scham’ati et qola schel ‘imma, »’al tifchad, ata ‘asita ma sche’abba raza la’asot, aval oi lemechir scheschilamta.« / Und plötzlich kam zu mir das Musikalische zurück, das meine Finger über die weißen Seiten gezogen hat, und ich wusste, dass das Tor, das meinen Weg blockiert hat, gesprengt wurde, von hier und jetzt an waren die Steine zu behauen. 1347 1348 1349 1350 1351 1352

Ebd., 277. Ebd., 263. Appelfeld Aharon, Ha‘ish shel’o passaq lishon, 219. Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 167, 243 und 279. Ebd., 161. Ebd., 278.

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Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter: ›Fürchte dich nicht, du hast gemacht, was der Vater machen wollte, aber ach – was für ein Preis, den du bezahlt hast.‹«1353

Dass die Musik der Muttersprache nun im Hebräischen zu hören war, dass also das Gesamte des Klangs, des Rhythmus und der Melodie des Deutschsprachigen, wie es im Haus der Kindheit gesprochen wurde, nun auch in die musikalischen Wellen der Sprache Israels kommen konnte, die Aharon ab nun formt, kultiviert und schreibt – und zwar nicht als direkte Übertragung, die unmöglich ist, sondern als Transponierung der einen Sprache in die andere Sprache, als Auferweckung der zerstörten Muttersprache in der Sprache Israels –, das ist das große Wunder dieser Nacht Aharons, vorbereitet durch die Schritte der Landnahme, die die »Arbeit auf dem Feld und das Abschreiben«1354 vieler Texte über viele Monate hinweg ermöglicht, aber eben nicht ausschließlich bedingt haben. Was das Wörtchen ‫ פתע‬angekündigt hat und mit seiner kleinen Erweiterung ‫ לפתע‬in knapper Wiederholung am Anfang zweier kurze Absätze steht, das ist das schwer erarbeitete und dann doch geschenkte Wunder von Aharons Landnahme – eine Zäsur also, die vorbereitet worden ist und dann auch ihre Nachgeschichte schreiben wird. Die Nachgeschichte wird von der großen Brücke erzählen, die sich über den Graben spannt, den Aharon zwei Jahre lang nicht überschreiten konnte. Über sie kommt seine Kindheit nach Israel, über sie kann er auch dahin zurückkehren. Sie selbst, die Brücke, erinnert an ein Werk seiner Kindheit: Sein Vater hatte eine Brücke über den Bug gebaut.1355 Man kann an dieser Brücke zwei Assoziationen finden, die mit großen Traditionen Israels verbunden sind und zugleich deren Verwandlung durch das anzeigen, was die Schoa, die Ermordungen, die Flucht hinterlassen haben. Erste Assoziation: Jakob träumte einst, wie Engel auf einer Leiter, die bis zum Himmel reichte, auf- und niederstiegen und hörte im Traum das Wort des 1353 Appelfeld Aharon, Ha‘ish shel’o passaq lishon, 230. 1354 Ebd., 231: die gute Übersetzung Mirjam Presslers bringt diesen Doppelgang nicht zur Geltung, der jedoch im Ganzen des Romans entscheidend ist; die Übertragung bringt die reduzierte Fassung: »Die Arbeit auf dem Feld des Abschreibens« (Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 279). Diese Fassung ist jedoch weder ästhetischer, weil sie eine fast sperrige Nomenhäufung bringt, noch klarer als Appelfelds hebräischer Text. – Allerdings ist es leicht, ein paar Textteile herauszuheben und selbst zu übersetzen, begleitet von einer Vorlage wie derjenigen, die Pressler geschaffen hat. Daher soll, wie ich auch andernorts vermerkt habe (Treitler Wolfgang, Rez. Aharon Appelfeld, 301f), die Übersetzung des Romans nicht schlecht gemacht werden; hier geht es nur um Interpretationen, bei denen der hebräische Text herangezogen wird und die ästhetische Qualität der deutschsprachigen Übersetzung zweitrangig ist. Dass Appelfelds Romane teilweise ins Deutsche übersetzt werden und er damit in der Sprache gelesen werden kann, die auch in seinem Elternhaus gesprochen wurde, ist ein Grund aufrichtiger Dankbarkeit. 1355 Appelfeld Aharon, Die Eismine, [5].

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Ewigen, der ihm zusagte, dass dieser Ort und dieses Land, in dem er schlief und träumte, ihm und seinen Nachkommen gegeben werde (Gen 28,13). Und später, als er nach vierzehnjähriger Dienstzeit bei Laban ins Land zurückkehren wollte, wurde Jakob durch einen nächtlichen Kampf am Jabbok1356 (Gen 33,25–29) sowohl versehrt als auch gehärtet und ab da Israel genannt – ähnlich dem Geschick Aharons, der am Bein schwer verletzt wird und sich danach mit harter Konsequenz in die Sprache des Landes Israel hineinbohrte. Die zweite Assoziation kommt aus der Exodustradition: Bevor Israel trockenen Fußes durchs Rote Meer zog (Ex 14,22–26) und so den langen Weg nach Israel begann, leuchtete zum Weggeleit in der Nacht die Feuersäule Gottes (Ex 13,21f) – ähnlich der Entdeckung Aharons, als er Samuel Josef Agnons hebräische Erzählung In der Blüte ihrer Jahre las und sie erregt in Händen hielt, denn »von nun an hatte ich eine Feuersäule, in deren Licht ich mich weiterbewegen konnte.«1357 Es ging auf die Brücke zu, über die die Kindheit und mit ihr die Eltern nach Israel kommen1358 und mit der Musik ihrer Sprache ins Hebräische einkehren werden. Das ist die Substanz von Aharon Appelfelds literarischer Kunst: In ihr holt er die zerstörte Kinderwelt eines europäischen Judentums nach Israel heim, indem er dessen Orte, Stimmen, Sprachen und Namen ins Hebräische bringt und da hörbar macht, so wie er, nachdem das Tor gesprengt war, seine Mutter plötzlich reden hörte. In mehr als vierzig Romanen hat Appelfeld über all die Jahre seit 1946 die Steine behauen und mit ihnen ein einmaliges Werk gebaut. Seine Gestalten sind alle über die Brücke gekommen; viele von ihnen nahmen Züge, um an die verdorbenen Plätze noch einmal zu reisen, und fuhren wieder zurück, nahmen Eindrücke, Erfahrungen, neue Niederlagen und frische Kräfte mit und verbanden je auf ihre Weise Herkommen, Gegenwart und Zukunft. Ihr Ziel und ihr Lebensort ist Israel; nach Israel kommen all die fernen, ausgelöschten Orte, auf ihr Ankommen soll deshalb Aharon in Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen auch warten, wie ihm seine Mutter in einem letzten Traumbild am Ende des Romans sagt: »Bleib vorläufig da, wo du bist, und lass die fernen Orte zu dir kommen.«1359 1356 Zum phonetischen Zusammenhang zwischen Jakob und Jabbok siehe: Ebach Jürgen, Der Kampf am Jabboq, 13–43. 1357 Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 184. 1358 Früher schon sagte Appelfeld: »… and the pen and the paper made me feel, gave me back my home, my parents, the environment, the love, the warmth. It was like magic, the moment that my pen began to create sentences. The sentences magically, immediately bound me to my past.« (Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 50). 1359 Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen, 285. Dieser Heimkehr in Israel ähnlich ist eine Sequenz in Elie Wiesels Roman Der Bettler von Jerusalem aus dem Jahr 1968. Auch hier findet der Protagonist David in Israel seine Mutter in verwandelter

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Appelfeld selbst macht das formal in genau dem, was Aharon im Roman nach jener Nacht gelungen ist: die Orte der Kindheit verwandelt nach Israel zu holen und die Sprache der Kindheit im Hebräischen zum Klingen zu bringen mit ihren Schwingungen, ihrem Tonfall und ihrem Rhythmus. Das ist eine ungeheuer schwierige Aufgabe, die Appelfeld angenommen hat; einmalig ist der Weg, den er in Israel mit der hebräischen Sprache eingeschlagen hat und bis heute schreibend geht. So holt er in seinen Romanen das in der Schoa zerstörte Judentum Europas nach Israel und beendet diese Diaspora mit ihrer furchtbaren Auslöschung. Nun sind es nicht Scharen, so zahlreich wie der Staub der Erde in Jakobs Traum (Gen 28,14), und es sind auch nicht mehr 600.000 Ausziehende wie in der Moseschar (Ex 12,37), die Appelfeld nach Israel holt. Appelfelds Juden holten auch keine gewaltigen Siege wie Josua und seine Leute nach biblischer Überlieferung. Und doch: Vom zahllosen Staub der Erde, zu dem die vernichteten Juden Europas gemacht worden sind, brachte Appelfeld in seinen Romanen viele Juden mit, und mit ihnen kamen alle mit, denn jedes einzelne Staubkorn, das in Appelfelds Romanen aufersteht, steht gleichzeitig für sechs Millionen umgebrachter Juden. Sie alle bringt er über die Brücke nach Israel, wo er durch die Sprache des Landes nach Hause fand und dem Land mehr gab als seine Arbeitskraft: Er half ihm, seine Sprache zu finden und zu bilden, als Professor für Hebräische Literatur über mehr als zweieinhalb Jahrzehnte, mehr noch jedoch als hebräischsprachiger Schriftsteller, der die Katastrophe der Schoa annahm, verwandelte und über seine Brücke gehend der Verzweiflung entkam. Die Schritte, die er setzte und geht, sind weder großspurig noch gewaltig. Sie donnern nicht und sie walzen nichts nieder. Dazu ist das Schweigen zwischen seinen Worten und Sätzen zu markant, ebenso die sparsame Form des Hebräischen. Etwas vom Sinnbild dieses hebräischen Schreibens fand im Roman der rekonvaleszente Aharon an seiner Pflegerin Riwka, als er einmal in einer Nacht, von Schmerzen gepeinigt, aufstand, sich Tee kochte und an den Tisch setzte. »Da sah ich Riwkas Gesicht vor mir. Ich spürte, dass sie mir nicht nur ihre Schweigsamkeit gegeben hatte, sondern auch ihre Passivität und ihre Begabung, unauffällig zu leben, sie hatte mir und meinen Beinen die Fähigkeit gegeben, den Weg zu gehen, den das Leben mir zeigt.«1360 Form wieder, und auch hier verwandelt das Wiederfinden den Terror, der hinter David liegt. Als er im Sechs-Tage-Krieg von 1967 am Platz vor der Westmauer steht, betrachtet er die Mauer, »auf der das Gesicht meiner Mutter hervortritt. Meine Mutter hatte zwei Gesichter. Das eine Gesicht spiegelte von Sonntag bis Freitag die Alltagssorgen wider, das andere die Hoheit des Sabbat. Und jetzt hat meine Mutter nur noch dieses Gesicht hier.« (Wiesel Elie, Der Bettler von Jerusalem, 192). Und beide, Wiesel und Appelfeld, erzählen im selben Kontext von der Verwandlung, die der Schabbat schenkt. 1360 Ebd., 262.

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Wer schweigt, gibt den Worten nicht nur eine tiefere Bedeutung; wer schweigt, gibt der Haltung der Kewana Zeit. In ihr wächst jene Empfindsamkeit, die den Schriftsteller zum Dichter werden lässt. Allen sieben Literaten, die in dieser Schrift gehört werden, war und ist Kewana zueigen. Manchmal wird sie unmittelbares Thema des Nachdenkens wie bei Franz Werfel, der Kewana, aufmerksame Innerlichkeit, der geistlosen Raserei der Affektgetriebenen entgegenhielt und im Lärm der Zeit den Propheten Jeremia zu hören verstand, der eindringlicher sprach, wenn auch oft leise und verhalten. Höret die Stimme holte das Schma Israel in die Gegenwart und übt dieses Hören ein. Appelfelds Riwka lebte darin, Aharon ebenso; in der gar nicht romantischen, sondern fordernden Abgeschiedenheit seiner Wohnung hat er »dieses Flüstern gehört«1361 – dieses Flüstern, das doch unüberhörbar ist, denn ‫ –מי לא שמע בתוכו לחש זו‬mi lo‘ shama betocho lachasch so / wer hat nicht in sich dieses Flüstern gehört? 1362 Schweigsam hören: Elijahs Lauschen auf das leise Säuseln am Sinai (1 Kön 19,12), wo entsprechend der Vermächtnisrede des Mose im Schma Israel sich das Bekenntnis Israels zu seinem Gott zusammenfasst und alle kommenden Generationen umfasst (Dtn 6,4–9), kehrt in der kleinen Wohnung Aharons wieder und findet seine Haltung in der stillen Riwka. So ist es möglich, das Schma Israel, die hebräische Sprache, die Alija nach Israel, die Aharon langsam vollzieht, und die Errichtung eines Zuhauses in Israel miteinander verbunden zu sehen im Roman Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. In diesen biblischen Andeutungen geht es nicht um religiöse Ideologie, es geht auch nicht darum, Appelfeld eine solche zu unterstellen. Es geht hier einfach darum, die Verknotungen zu erkennen, die in Aharons Landnahme ein Element ans andere binden und ein Geflecht erstehen lassen, in dem vier Jahrtausende Judentum in vielschichtiger Disparität sich versammeln. Denn Aharon Appelfeld ist ein jüdischer und er ist ein israelischer Schriftsteller. Eine Frage erhebt sich noch: Hätte Aharon es vermocht, anders nach Israel zu kommen? Und hätte er dann anderes in Israel gefunden? Im Roman wird ein Märchen von einem Prinzen mit Namen Felix angedeutet. Ihm wurden »harte Beschränkungen auferlegt. Man hatte ihn sogar eine Weile von Zuhause verbannt, damit er stark wurde, er musste Leiden ertragen, um tapfer nach Hause zurückzukehren.«1363 Dieses Märchen, das Appelfelds Phantasie entstammt, verwirrt Aharon. Bereitete man ihn vor, ein Prinz zu werden, wenn er am Freitagnachmittag zu Hause bleiben musste und nicht mit den Gleichaltrigen am Fluss spielen durfte?

1361 Ebd., 263. 1362 Appelfeld Aharon, Ha‘ish shel’o passaq lishon, 219. 1363 Appelfeld Aharon, Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen 269.

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»›Warum wurde der Prinz Felix von zu Hause verbannt?‹ frage ich. ›Damit er stark wird und das Böse bekämpfen kann.‹ ›Kann man zu Hause nicht stark werden?‹ ›Vermutlich nicht‹, sagt Kristina und lächelt.«1364

Von der nachfolgenden Verbannung des Gejagten, den die Nazis wie ein Tier zur Strecke bringen wollten, konnten diese Fragen und Antworten noch nichts vorwegnehmen. Doch den Willen zum Leben, der den Entwurzelten durch Flucht und Todesangst abverlangt wurde, haben die spätere Flucht und Todesangst gestärkt und dem Juden eine Kraft wachsen lassen, die in Auf der Lichtung durch alle Zeilen präsent ist, sehr zur Überraschung der Nazis und ihrer Kollaborateure, die grundsätzlich leichtes Spiel erwartet hatten.1365 Nein, Juden machten als Partisanen Widerstand1366, nahmen nicht nur an Kämpfen teil, sondern initiierten sie1367, angetrieben von einem gerechten Zorn gegen die deutschen Todesengel: »Wir haben genug Zorn, um sie zu schlagen.«1368 Denn das Land, in dem auch der große Mann des Chassidismus gelebt hatte, Baal Schem Tov,1369 hat seine Bewohner gefressen1370, die Eindringlinge waren riesengroß mit ihren Geschützen und Listen. Als die Rote Armee anrückte und sie zurückdrängte, lag ein verwüstetes Land mit Trichtern und Gräben vor ihnen, ganz und gar ohne Juden. Nach 70 Kapiteln schließt Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Absicht? Während eines unserer Gespräche habe ich Aharon gefragt, ob diese Kapitelzahl eine Botschaft bereithält. Siebzig Jahre gilt mitunter als die Zeit eines Menschenlebens.1371 Auch Ps 90,10 misst diese Jahrzahl dem Menschen zu. Zudem kann man darin etwas vom Schabbat entdecken. Denn, so wurde es bereits angesprochen, am Ende der Geschichte gebietet die Mutter Aharon, da zu bleiben, sich nicht fortzubewegen und nicht im Fernen die fernen Orte zu suchen, die alle eingeebnet sind, sondern deren Reste nach Israel kommen zu lassen, sie hier zu finden und zu feiern. Hier, im Land und seiner Sprache, werden sie erstehen. Ist es nicht der Schabbat, an dem das Leben vor Gott gefeiert und nicht mehr aufgebaut oder gestaltet wird? Ist es nicht der Schabbat, an dem die Kewana ohne jede Eile oder Überlagerung frei wird, feinsinnige Aufmerksamkeit, die das 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371

Ebd., 271. Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung 186. Ebd., 14, 156f, 162, 176f, 197, 207–211, 217. Ebd., 230ff. Ebd., 152. Ebd., 113. Ebd., 70. Nahshon Emmanuel, 70 Jahre – ein Menschenleben, 243: »Der Ursprung dieser Überlieferung findet sich in der Lebensgeschichte eines unserer vielseitigsten und talentiertesten Könige: König David (Anm. d. R., vgl. Anm. 2, S. 242). Er lebte 70 Jahre lang – und dies wurde folglich als der Zeitraum angesehen, in dem ein Mensch ein vollständiges Leben gelebt hat.«

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Leben derer spürt und das Sprechen derer, die vielleicht nur scheinbar verloren sind? Ist nicht das der Schabbat, der auch diesen Roman beendet und zugleich offen lässt? Appelfeld hat das verneint; er schreibe so lange, wie eine Geschichte voranzieht; kommt sie an ihr inneres Ende, dann ist auch ihr gestalterisches Ende erreicht. Dieses Wort gilt und bleibt, trotz meiner nicht mehr gestellten Nachfrage: Ist das nicht herrlich, wenn dieser Roman, der die Landnahme Israels nicht durch Gewalt erzählt, sondern durch die Sprache Israels, des Volkes des Ewigen Schabbatbundes (Ex 31,16f) und des intensiven Hörens, wenn also dieser Roman ohne Plan, sondern aus seinem inneren Verlauf mit dem 70. Kapitel endet? So reicht Aharon Appelfeld über die Verzweiflung hinaus. Ein- und heimkehrend ins zunächst unbekannt und fremde Hebräische, findet in der literarischen Verwandlung seiner Geschichte Aharon die Musik seiner Muttersprache wieder, ohne den Ton des (missverständlichen) Deutschen mitnehmen zu müssen. Indem er hebräisch schreibt, schreibt er in der Sprache Israels, der jüdischen Sprache einer Jahrtausende währenden Geschichte und offenen Zukunft. Indem er diese Sprache erlernte und literarisch bildete, hält er auf seine Weise ein vernehmliches Nein denen entgegen, die die sog. Endlösung mit allen Mitteln und bis zuletzt zu vollstrecken suchten.1372 Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen ist vielleicht das stärkste Dokument Appelfelds für dieses Nein und seine Perspektive, in der sich das ganze Israel zusammenfindet, vor allem in der Sprache versammelt und Appelfeld auch die eigenen Eltern und deren Vorfahren ins Land bringt. Und Israel ist ein Land, kein Idee, ein jüdisches Land, das 1948 seine Unabhängigkeit erhielt und sofort verteidigen musste; ein jüdisches Land, in dem hebräisch gesprochen wird. Über das Hebräische vollzog sich der wörtliche Sinn der Alija: Aufstieg aus den tiefliegenden Diasporagebieten, deren Sümpfe, wie Appelfeld es in Auf der Lichtung erzählt, Halluzinationen1373 erzeugten, schärfer und täuschender als die der assimilierten Diasporajuden, denen Israel ganz fremd geworden war. Im gefährlichen Niemandsland brauchte es enorm viel Kraft des Widerstands, um ihm nicht zum Opfer zu fallen. In diesem Widerstand entschied sich das Judentum: »Wenn wir diese Wälder nicht als ganze Juden verlassen, wird das ein Zeichen sein, dass wir nichts gelernt haben.«1374 Nie steht der jüdische Mensch allein. Seine Gemeinschaft umgreift die Lebenden, die Überlebenden und die Toten. So ziehen die Toten mit ins Land und wohnen in der Sprache des Landes weiter. Zwischen ihnen und den Lebenden klafft kein Abgrund, sondern steht nur eine sehr dünne Wand, die – gegen die SS1372 Appelfeld Aharon, Auf der Lichtung, 84, 153, 271–274. 1373 Ebd., 50. 1374 Ebd., 52.

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Leute gewandt – den Tod, den sie massenhaft verübt haben, zu einer »Illusion«1375 macht. Weil es Israel gibt; weil in Israel Juden vieler Herkunftsländer leben; weil in Israel hebräisch gesprochen wird, eingefärbt mit dem Timbre vieler Muttersprachen; weil das Hebräische keine Erfindung, sondern eine zeitgerechte Tradierung des rabbinischen und biblischen Hebräisch ist; weil im Hören auf das heutige Hebräisch man auch auf die Melodie von Worten trifft, die vor zwei und drei Jahrtausenden schon gesprochen wurden und wie das Schma Israel Herkunft und Aufgabe Israels benennen, nämlich den einen Gott anzuerkennen und dies den kommenden Generationen weiterzugeben; und weil das alles und vieles mehr in unterschiedlichen Färbungen schillert und in vielfältigen Schwebungen und Stimmungen zu hören ist, daher ist die sog. Endlösung illusionär geblieben. Das mindert den Horror überhaupt nicht. Aber es beweist darüber hinaus die wunderbare Lebenskraft dieses verfolgten, durch die Geschichte gejagten Volkes Israel, das seine Sprache nie völlig aufgab und seine Träume nie im verzweifelten Vergessen verlor. Israel und der hebräisch schreibende Schriftsteller Aharon Appelfeld, in dessen Kindheit das muttersprachliche Deutsch Wiener Färbung gesprochen wurde, sind Zeugen dieses Wunders. Appelfeld kommt aus Czernowitz und kannte die Karpaten, er hat mit Ausnahme seines Vaters seine Verwandten verloren, scheinbar verloren. Denn es ist wahr, was er die 93jährige Großmutter Zirl vor ihrem Tod auf dem Berg des Partisanenlagers sagen lässt, wahr nicht nur seinem Inhalt nach, wahr auch seiner uralten, geheiligten Form nach: »Höre, was eine alte Tochter Israels dir sagt: Wir werden immer zusammen sein. Diese Berge haben uns gelehrt, zusammen zu sein, und wenn du mich morgen nicht mehr an meinem üblichen Platz siehst, stelle dir im Herzen vor, wie ich in der wahren Welt sitze. Es gibt keine Trennung, wie wir irrtümlich angenommen haben. Die Tora und die Liebe verbinden uns hier wie dort. Türen und Tor sind nur eingebildet, sie sind eine Erfindung des Satans. Wer die Stimme und die Blitze auf dem Berg Sinai erlebt hat, ist Teil des Höchsten.«1376

Aharon überwand diese Schwelle, »ich wusste, dass das Tor, das meinen Weg blockiert hat, gesprengt wurde.«1377 Das macht Appelfeld zu einem herausragenden jüdischen Literaten, der das vergangenen Jahrhundert heimholen will: »I’m a Jewish writer, and I write about Jewish life … I write about being Jewish, if you will, Jewish faith and Jewish character for the last hundred years. I’m writing a saga, a long saga about the Jewish people, about what happened to them during the twentieth century.«1378 1375 1376 1377 1378

Ebd., 189. Ebd., 190f. Appelfeld Aharon, Ha‘ish shel’o passaq lishon, 230. Brown Michael / Horowitz Sara R. (Hg.), Encounter with Aharon Appelfeld, 58.

Zugbahnen über die Verzweiflung hinaus

In dem einen Jahrhundert zwischen Stefan Zweig und Aharon Appelfeld wurden Genozide verübt wie nie zuvor. Es begann im Jahr 1915 mit den Armeniern, deren Überlebenskampf Franz Werfel im Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh ein literarisches Denkmal setzte, und erreichte seinen Höhepunkt in der Schoa, von der Jean Améry, Abraham Sutzkever, Elie Wiesel und Aharon Appelfeld unterschiedlich getroffen wurden. Vorgeschichten davon erzählten Stefan Zweig im Umkreis der Pestzeit und Franz Kafka in der Beschreibung eines Mordapparates, angesichts dessen Urteile gleichgültig wurden. Nachgeschichten gibt es zuhauf, Juden ebenso treffend wie andere religiöse oder politische Gruppen. Der sechswöchige Völkermord in Ruanda. Ungezählte Tote in den Kriegsherden Afrikas. Massaker im ehemaligen Jugoslawien. Terror und Kriegsgemetzel in arabischen Ländern. Nordkoreas Führerkult. Chinas Arbeitslager. Weltweiter Kinder- und Frauenhandel. Hunger als Waffe. Prolongierter Judenhass, der sich auf Israel richtet. Rechtsradikalismus in Europa mit seiner brennenden Rhetorik… Der Mythos der großen Ideen und ihres abendländischen Erbes hat versagt1379, die großen Religionen sind kompromittiert. Das ist die eine Seite. Die andere: Man muss Aufklärung gegen ihre Tendenzen weitertreiben, Unterbrechungen und Negationen stärken gegen die Affirmationen des Herrschenden, die dürren Anfänge der großen Religion des Christentums ebenso aufsuchen wie ihre begehrlichen religionspolitischen Interessen, deren Irrationalitäten nachträglich durch Verweise aufs Göttliche abgesichert und durch Sätze 1379 Langer Lawrence L., Aharon Appelfeld, 130.

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absoluter Geltungen sanktioniert wurden. Diese Aufklärung, ähnlich der historischen des 18. Jahrhunderts, lehnt sich aus humanen und religiösen Gründen gegen die großflächigen Begriffsgebilde und gegen deren Abstraktionen auf, in ihrem Zentrum Negationen alles dessen und seiner Folgen, die dem einzig Wirklichen, dem einzelnen Menschen und seinen einzigartigen Beziehungen durch Fremddefinitionen zusetz(t)en bis hin zu Vernichtung. Dem Einzelnen begegnet nicht, wer Systeme, Begriffe und Abstraktionen differenziert, sondern mit diesen bricht und nach Zeugnissen und Fluchtstellen sucht, in denen versucht wurde, einzelne Geschicke wahrzunehmen und zu bewahren, vielleicht sogar ein wenig zu retten. Das taten die Propheten Israels, das taten noch einige frühchristliche Schriftsteller, die lange noch nicht christologisch verfuhren, sondern divergent von einzelnen Ereignissen, Begegnungen, Worten und Wegen des Nazareners erzählten; und das machen heute und gestern jüdische Schriftsteller, die nicht ideologisieren, sondern einzelne Geschichten narrativ formieren und so, manchmal noch im Untergang, Leben fordern. Solche Literatur ist deshalb beides zugleich: Zeugnis jüdischer Menschen und ihrer Beziehungen, tausendmal malträtiert und tausendundeinmal wieder erstanden – und humane Aufklärung, die sich gegen den Systemterror und abstrakte Geltungen hält, die in ihrer Gleichgültigkeit gegen einzelne Geschichten und ihre unendliche Bedeutung stets zur Legitimation von Säuberung, Ausgrenzung und Mord werden konnten und auch geworden sind. Das lässt sich an den Säuberungen im Namen des reinen Blutes in Spanien im Jahr 1492 ebenso erkennen wie an dem rassistischen Ideologem einer judenfreien Ariergesellschaft. 1492 konnte man das an die lang schon vollzogene Auslöschung des Juden aus Nazareth koppeln, der gewiss denselben, in seinem dogmatisch abstrakt gewordenen Namen1380 durchgeführten Säuberungen zum Opfer gefallen wäre. Allein die Erzählungen wenige Jahre nach seiner Zeit in Judäa hielten das andere, das konkrete Bewusstsein von ihm wach, heute für diejenigen, die begriffen haben, welche Stunde es geschlagen hat, Anlass zu aufklärerischem Widerstand gegen die großflächigen Leitideen, die an Identitäten und Affirmationen interessiert sind und ihnen Unangepasste und Unangepasstes hinopfern: daher auch meine theologische Beschäftigung mit jüdischer Literatur als endlose Arbeit humaner Aufklärung im Rahmen christlicher Überlieferung, verstanden nicht als peripheres Geschäft an einem schwindsüchtigen Rand der Theologie, sondern als fundamental theologische Aufklärungsarbeit im Zentrum christlicher Traditionen. Deshalb ist die Negationskraft solcher, an großer jüdischer Literatur gebundener Aufklärung Grundsatz des offenen, freien Denkens, das sich weigert, Aufklärung begriffsscholastisch und totalitär werden zu lassen; den religionspolitischen Erfolg des Christentums, dem ab dem 4. Jahrhundert eine Fackel 1380 Lehmann Johannes, Von der Macht zur Ideologie, 290–297.

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angesteckt wurde, die direkt gegen das Judentum drohend wetterleuchtete, offen zu erkennen und einzugestehen, wie die messianische Bewegung des jüdischen Urchristentums doppelt an ihr Ende kam: einerseits durch das Ausbleiben der gekündeten Vollendung und andererseits durch die Transponierung einiger Motive dieser Bewegung in ganz andere religiöse Gefüge samt den dazugehörenden Abstraktionen jesuanischer Wirklichkeit; die christliche Suprematie zu verneinen, die stets Selektion und Identifizierung von Feinden mit sich führt und mit dieser Haltung und ihren Dikta »von jeher dem Antisemitismus aus dem Herzen gesprochen«1381 war. Und dieser suchte Juden und Jüdinnen in die Verzweiflung zu treiben. Aber: Israel, Hebräisch, Jiddisch, auch Deutsch, als es anders kaum schon zu machen war, Erinnerungen und deren kunstvolle Gestaltungen, Aufmerksamkeit (Kewana), die irgendwie meist aus dem Imperativ kommt: Schma Israel!, und die Kraft des Überlebens, die gleichfalls im Namen dieses Imperativs zu hören ist, eigener Einsatz, und sei es auch des Lebens, um dem Unmenschen sein Nein entgegenzuschmettern, und Heimkehr der Verlorenen ins weite Land des Wortes der jüdischen Schriftsteller von Stefan Zweig bis Aharon Appelfeld, der Kampf gegen die Gleichgültigkeit und der Kampf mit Worten, um die Vorfahren nicht zu verraten1382, der Fortzug aus Europa nach Israel oder in die USA1383 und das Geschenk der kommenden Generationen – das alles sind Zugbahnen über die Verzweiflung hinaus, auf denen diese sieben Autoren etwas Prophetisches erwecken. Denn sie verdoppeln nicht den Terror, sondern verneinen im aufmerksamen Wort die millionenfach verhängten Todesurteile und verwandeln die Todesschreie unzähliger Juden und Jüdinnen. Das taten auch schon die Propheten Israels: »This is the greatness of the prophet: he is able to convert terror into a song.«1384 Auf diesen Zugbahnen wurden ein paar Schritte erinnert, die Juden gegangen sind und weiter gehen in der Erinnerung eines langen Weges, der in die Zukunft weist. Und diese hängt an den Nachfahren, an den Kindern. »›Remember, my child, that you are a Jew.‹ (…) And the child promised.«1385

1381 Adorno Theodor W., Minima Moralia, 172. 1382 Ramras-Rauch Gila, Aharon Appelfeld, 197. 1383 Der Name Shaltiel kann dafür stehen, den Elie Wiesel in seinem Roman Hostage als Vorname seines Protagonisten gewählt hat. Shaltiel Feigenberg lebt in den USA; ein anderer Mann namens Shaltiel, David Shaltiel, war 1948 jüdischer Kommandeur in Jerusalem (Montefiori Simon Sebag, Jerusalem, 676). Diese Namensgleichheit kann Zufall sein, sie lässt sich jedoch auch, gleichsam in der Perspektive eines Dritten, als geografisch und sozial doppelte Gegenwart und Zukunft des lebendigen Judentums lesen. 1384 Heschel Abraham J., The Prophets, 364. 1385 Wiesel Elie, The Time of the Uprooted, 41.

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Personenregister

Abel 165, 229, 267 Abel, Günter 152 Abels, Norbert 93, 97f., 103, 105, 107, 110, 113f. Abi (Mutter des Jeremia) 115, 123 Abraham 13f., 17, 33, 50, 88, 125, 196, 250, 254, 295, 300 Abraham a Sancta Clara 277 Adam 206, 224, 234, 239 Adler, Jankl 197, 203 Adorno, Theodor W. 11, 14, 16, 41, 56, 58– 61, 67, 84, 147, 262, 287, 301, 321 Agnon, Samuel Joseph 267, 312 Aharon 280, 289 Ahasver 16f. Ahn, Gregor 241 Allemann, Beda 61 Allerhand, Jacob 191f. Alexander der Große 297 Ambrosius von Mailand 277 Améry, Jean 25f., 29, 34, 42, 45, 50, 60, 62, 79, 83, 127–168, 171, 173f., 176, 194f., 207, 210f., 227, 233, 242–244, 248, 259, 263, 284, 290, 293, 319 Améry, Maria 142 Améry, Regine 134 Anders, Günther 65 Andreas (Apostel) 12 Anselm von Canterbury 226 Antiochus IV. 88, 125, 201, 279 Appelfeld, Aharon 9, 28–30, 50, 60, 79, 109, 114, 131, 150, 168, 191f., 194, 205, 213, 217, 219, 231, 248f., 255–317, 319, 321 Appelfeld, Batyah 283

Appelfeld, Bonyah 271 Appelfeld, Jehudith 283 Appelfeld, Jitzchak 283 Appelfeld, Meir 191, 257, 263, 269, 275, 281–283 Appelfeld, Michael 271, 282 Arendt, Hannah 136, 230 Aristoteles 162 Arndt, Ernst Moritz 16 Asch, Scholem 191 Assmann, Jan 175, 245 Auernheimer, Raoul 107 Augustinus 129 Baal Schem Tov 315 Balthasar, Hans Urs von 162, 230 Bak, Samuel 272 Balzac, Honoré 40 Band, Arnold J. 281 Bar Kochba 238, 279 Barnavi, Eli 19, 156, 164, 177, 181, 190f., 201, 228f., 231, 243, 245 Baruch 118, 126 Baudler, Georg 176 Bauer, Arnold 33 Bauer, Felice 56, 65–67, 70f., 95 Becher, Peter 101 Beck, Knut 44 Beckermann, Ruth 151 Ben-Chorin, Schalom 170 Ben Gurion, David 228, 280 Benedikt, Ernst 107 Benedikt von Nursia 12, 216

344

Personenregister

Benedikt XVI. / Ratzinger Joseph 170, 214–216 Berg, Alban 107 Berger-Baumgarten, Regine – s. Améry, Regine Berger, Moshe Tzvi HaLevi 263 Bergida, Ruth 231 Bergman, Ingmar 251 Berlin, Jeffrey B. 44 Bernhard von Clairvaux 277 Bettauer, Ida – s. Zweig, Ida 34 Bialik, Chaim Nachman 191, 273 Bloch, Ernst 156, 262 Bloch, Grete 66 Blum, Jost G. 197 Blumenberg, Hans 145 Boethius 226 Bodenheimer, Alfred 69 Boschki, Reinhold 217 Boyarin, Daniel 13, 89, 202 Breitner, Hugo 131 Brenner, Michael 38, 279 Brod, Max 56f., 59–61, 63f., 66, 69, 73, 84, 98 Brown, Michael 261, 268, 271, 273, 282, 298, 300f., 312, 317 Brunner, Sebastian 19, 277 Bruno, Giordano 219f. Buber, Martin 32, 47, 99, 281 Burger, Hermann 147

Ebach, Jürgen 312 Eckstein, Wolf-Erich 105 Eggers, Frank Joachim 88, 117 Eichmann, Adolf 136, 223, 230 Eidenbenz, Mathias 115 Elijah 50, 314 Ensor, James 146 Epstein, Leslie 289f. Erasmus von Rotterdam 38f., 42 Esau 229, 273 Esra 11f., 175 Ezechiel 53, 223

Calvin, Johannes 43 Canetti, Elias 299 Carlebach, Azriel 228 Castellio, Sebastian 38, 43 Celan, Paul 81, 183, 264, 268, 271, 294 Chagall, Marc 191 Chamberlain, Houston Steward 139f. Chrysostomos, Johannes 277 Cohen, Joseph 256, 258, 260, 262f., 269, 271, 280–282, 287, 290, 298–300 Cohn, Chaim 170 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus 107 Czokor, Franz Theodor 107

Fackenheim, Emil L. 15, 109, 136, 229, 261, 264, 308 Feldmann, Christian 220, 227, 234 Fichte, Johann Gottlieb 68 Finsterbusch, Karin 306 Flaubert, Gustave 150f., 153 Flavius Josephus 38 Fleischer, Margot 139f. Fouché, Joseph 41f. Franz Joseph I. 99 Franziskus (Papst) 277 Fredriksen, Paula 13 Freud, Sigmund 18, 104 Freytag, Gustav 16

Dakers, Diane 213, 217f., 227, 230f. Daniel 200–203, 206 David 50, 111, 315 Dehmel, Richard 143 Desbois, Patrick 156, 304 Descartes, René 261 Diamant, Dora 71f. Dickens, Charles 40 Dines, Alberto 45 Dingel, Irene 103 Dishon, David 295 Doerry, Martin 282 Donin, Hayim Halevy 49, 51 Dostojewskij, Fiodor 40, 143, 177f. Dreyfuss, Alfred 21 Düring, Ernst 16 Dürrenmatt, Friedrich 119, 299

345

Personenregister

Friedlander, Albert H. 231 Friedländer, Saul 55, 59, 64, 66f., 70, 73, 75, 77, 79, 83f., 275 Fromm, Erich 66 Galambush, Julia 176 Gamaliel 104 Gassmann, Arno A. 62 Gelber, Mark H. 32, 34, 44, 47, 69 Gethmann-Siefert, Annemarie 140 Glaser, Mitzi 95 Goethe, Johann Wolfgang von 144f., 221 Gottschlich, Maximilian 29 Gournay, Marie de 152 Grabner-Haider, Anton 214 Gregor der Große 12 Gropius, Walter 100f. Grözinger, Karl Erich 73 Gstättner, Egyd 24 Hackermüller, Rotraut 69, 73 Hadrian 186, 279 Hälbig, Klaus W. 170 Harshav, Benjamin 197 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14–18, 85, 96, 144, 157f. Heidegger, Martin 22f., 140, 241 Heidelberger-Leonard, Irene 144 Heiler, Friedrich 199 Hermann-Neiße, Max 44 Herodes 202 Herrmann, Horst 153 Herzl, Theodor 35–37, 47 Heschel, Abraham J. 35, 39, 41, 59, 63, 109, 117f., 123, 169, 176, 214, 221, 223, 238, 306, 321 Hickman, Pamela 205 Himmler, Heinrich 154f. Hingst, Hans Christian 169 Hiob – s. Ijob Hippolyt von Rom 13, 199 Hirsch, Walter 61 Hitler, Adolf 19, 101, 116, 131, 135, 138, 141f., 155, 169, 174, 214, 229, 250f., 253, 308

Hofmannsthal, Hugo von 105, 259 Holl, Hildemar 33 Hollnsteiner, Johannes 103 Horkheimer, Max 41, 287 Horowitz, Sara R. 261, 268, 271, 273, 282, 298, 300f., 312, 317 Howe, Irving 258, 289 Huber, Kurt 261 Hygen, Johan B. 226 Ijob 27, 125, 185, 188, 194–208, 285 Innozenz III. 80 Irenäus von Lyon 13 Isaak 88, 125, 229, 245 Ismael 229 Jahn, Friedrich Ludwig 16 Jakob 53, 88, 92f., 103, 125, 229, 295, 302, 311–313 Jarecki, Julius 185 Jasenská, Milena 56f., 70, 146 Jean Paul 73 Jens, Walter 115 Jeremia 23, 25 ,32f., 37–39, 41, 43, 46, 60, 73, 89, 91, 105, 108f., 114–119, 121–126, 136, 183f., 186, 196, 200, 211f., 217, 221, 233, 236, 245, 272, 314 Jesaja 91, 118, 204, 245, 259 Jesus 11, 74, 104, 170, 202, 230, 240, 260, 267, 306 Johannes (Evangelist) 259 Joost, Ulrich 97 Josef 290, 295, 302 Josiah 125 Josua 50, 296, 303, 305f., 313 Judas Iskarioth 170f. Jungk, Peter Stephan 89, 93–95, 98–105, 107, 111, 114 Justin 13, 277 Kaczerginsky, Shmerl 173 Kafka, Franz 24f., 29, 50, 55–89, 95f., 98f., 105, 128, 137, 146, 158f., 167, 198f., 203, 210, 233, 248, 263–265, 268f., 271f., 280, 283, 288, 290, 293, 296, 303, 305, 319

346 Kafka, Hermann 61f., 64 Kafka, Julie 61 Kafka, Ottilie 61 Kafka, Robert 68 Kafka, Valerie 61 Kain 164, 167, 229, 239, 267, 291, 301 Kalderon, Hadas 205 Kaleb 302, 304 Kant, Immanuel 16, 116, 196, 261 Karo, Josef 245 Karthuber, Peter 33 Kaufmann, Franz-Xaver 18 Kerschbaumer, Gert 45 Kershaw, Ian 101, 116, 229 Kertész, Imre 137 Kierkegaard, Søren 66f., 84f., 89, 96 Kirschner, Bruno 174 Kittel, Bruno 168, 171–173 Klauck, Hans-Josef 170 Klausner, Abraham 145 Klein, Dennis B. 145, 151, 168 Klein, Ernest 175 Kleinert, Markus 147 Klenicki, Leon 188 Klinghoffer, David 306 Kokoschka, Oskar 101 Konstantin (Kaiser) 13 Kos, Wolfgang 137 Kovner, Abba 26, 164, 173f., 190 Kraus, Karl 97–99, 128 Krausz, Ernst 32 Krenek, Ernst 98f., 103, 105 Krikorian, Mesrob K. 106 Kristianpoller, Alexander 51 Krochmal, Nachman 35, 56, 75 Kuh, Anton 131 Kussi, Albine – s. Werfel, Albine Laban 312 Lang, Berel 259, 289 Langenhorst, Georg 103 Langer, Gerhard 117 Langer, Lawrence L. 62, 64, 67, 74f., 77, 81, 84, 187, 233, 271, 287, 291, 308, 319 Lehmann, Johannes 320

Personenregister

Leibniz, Wilhelm 67f. Leitner, Maria – s. Améry, Maria Lenzen, Verena 75, 126, 238 Lévinas, Emanuel 227 Levitan, Frejdke – s. Sutzkever, Frejdke Lichtblau, Albert 133 Lichtenberg, Georg Christoph 157, 261 Leo XIII. 20f. Loewe, Heinrich 74 Löwy, Isak 63f. Löwy, Julie – s. Kafka, Julie Lueger, Karl 19 Lustiger, Arno 304 Lustiger, Jean-Marie Aron 304 Luther, Martin 18, 213, 277 Magellan, Ferdinand 43, 161 Mahler, Anna 98, 102f. Mahler-Werfel, Alma 100–105, 107f., 111, 114–116 Maier, Valerie 130 Maimonides 245 Mann, Thomas 155 Manor, Dory 194 Markion 260 Marks, Herbert 223 Marquardt, Friedrich-Wilhelm 171, 215f. Marr, Wilhelm 19–23, 32, 139 Mauriac, François 230 Mayer, Ernst 144 Macbeth 15 Meir, Golda 246 Mer, Benny 194 Merz, Carl 90 Metz, Johann Baptist 226 Miller, Budick Emily 258, 260–263, 266, 268–271, 279, 286–291, 293, 298, 300f., 308f. Milton, John 245 Missalla, Heinrich 212 Moll, Carl 100 Montaigne, Michel Eyquem de 38, 45, 152f. Montefiori, Simon Sebag 122, 321 Mortara, Edgar 21

347

Personenregister

Morton, Frederic 128f. Mose 14, 44, 102, 107, 109, 119, 175, 222, 234, 250, 280, 289, 296, 305f., 308, 313f. Müller, Ernst 220 Müller, Gerhard Ludwig 170 Murer, Franz 168f., 171 Musil, Robert 97 Mussolini, Benito 253 Nachman von Bratzlaw 68 Nahshon, Emmanuel 315 Naor, Mordecai 239, 279f. Nebukadnezar 88, 109, 125, 201 Netanyahu, Iddo 239 Netanyahu, Yon 239 Neusner, Jacob 74, 240 Nietzsche, Friedrich 138–140, 142f., 163, 199 Noah 234 Northey, Anthony 68 Oberhänsli-Widmer, Gabrielle 273, 303 Omar 121f. Oron, Michal 68

233, 259,

Pallitsch, Lukas 117 Paulsen, Wolfgang 108f., 115–117 Paulus 83, 103f. Perec, Jitzchak Lejb 191 Pfäfflin, Friedrich 130, 132, 134, 137, 142, 144, 146, 150 Pinsker, Sanford 267 Pius IX. 18, 21 Pius X. 215 Pius XII. 212, 275 Platon 22, 62, 81, 128f., 156, 160, 226, 259, 263f. Pobedonoszew, Konstantin 177f. Poliakov, Léon 16–21, 47f., 80, 91, 116, 130, 140, 178, 181 Pollak, Ernst 70 Pozzi, Lorenzo 226 Prater, Donald A. 35 Praust, Artur 145

Pressler, Mirjam 311 Proust, Marcel 244f. Qualtinger, Helmut

90

R. Akiva / Aqiba 92, 126, 267 R. Chanina ben Teradion 186f., 198f. R. Eleazar ben Azarja 92 R. Eleázar b. Jose 296 R. Gamliel 92 R. Israel von Wischnitz 219 R. Jehoschua 92 R. Menachem-Mendel von Kozk 234 R. Nachman 234 R. Sˇimla 44 R. Zusya 258 Raabe, Wilhelm 16 Rahel 41, 46 Ramras-Rauch, Gila 256, 258, 260f., 265, 268, 270–274, 277, 279, 281, 287–289, 291–293, 298–300, 321 Raschi 234 Reich-Ranicki, Marcel 146 Reis, Oliver 176 Renan, Ernest 219 Rendtorff, Rolf 259 Renoldner, Klemens 33 Rodlauer, Hannelore 99 Rohde, Peter P. 67 Rohling, August 16 Rolland, Romain 37 Rosenfeld, Sydney 143 Roth, Joseph 180 Roth, Philip 256, 267, 293 Rozier, Gilles 168 Sadan, Dov 281 Salaquada, Jörg 18 Salten, Felix 107 Samuel 223, 231 Sandler, Aron 174 Saul 50, 113, 215 Schäfer, Peter 202 Schalit, Abraham 202 Scheit, Gerhard 23

348

Personenregister

Schieder, Rolf 175 Schiller, Friedrich 160f., 221 Sˇimunkova, Barbara 94, 105, 107 Schmaus, Michael 200 Schmitt, Carl 11 Schmitz-Berning, Cornelia 115 Schneider, Sarah 146 Schnitzler, Arthur 105 Scholem Alejchem 191 Scholem Gershom 281 Schönerer, Georg 19, 139 Schönherr, Karl 107 Schopenhauer, Arthur 16–18 Schoschani, Mordechai 227 Schreckenberg, Heinz 16, 21f., 181 Schröder, Winfried 154 Schulz, Heiko 241 Schwartz, Yigal 258, 263, 271, 279, 282, 286, 289–291, 293, 298–300 Schwarzenberg, Heinrich 107 Schweinenberg, Horst 168 Segev, Tom 191, 228, 299 Segl, Peter 47f. Shaked, Gershom 263, 270 Shaltiel, David 321 Smetana, Bedrˇich 114 Soloweitschik, Max 279 Spinoza, Baruch de 15 Spirk, Gertrud 100 Stalin, Josef 178, 190, 243, 246 Steiman, Lionel B. 105 Steiner, Stephan 138 Stemberger, Günter 277 Stoecker, Adolf 19, 139 Strasser, Peter 214 Strelka, Joseph P. 114 Stuart, Maria 43 Sutzkever, Abraham 26–29, 50, 109, 114, 150, 164–208, 210f., 218f., 233, 248, 263, 270, 285, 290, 297, 319 Sutzkever, Frejdke 179 Sutzkever, Mire 190 Sutzkever, Rina 190f., 205 Tandler, Julius

107

Tersites 32, 39 Tertullian 13 Thierse, Wolfgang 212 Thoma, Clemens 222 Thonhauser, Johannes 245 Ticho, Abraham 255 Ticho, Anna 255 Tiglat-Pileser 109 Titus 38, 126, 279 Treitschke, Heinrich von 19 Trepp, Leo 101, 263 Ulianich, Boris Urijah 92

220

Valencia, Heather 168, 175, 177, 179, 181, 183, 189–192, 194, 196, 198 Verweyen, Theodor 145 Vespasian 38 Wagenbach, Klaus 60, 65, 69f., 72f., 96 Wagener, Hans 105 Wagner, Richard 16, 101, 103, 139 Wallas, Armin A. 104, 117 Walter, Bruno 114 Weiß, Martin 168 Werfel, Albine 93 Werfel, Franz 25, 29, 45, 50, 60, 71, 73, 87– 127, 129, 134–136, 155, 162, 167f., 175f., 179, 183f., 186, 195f., 198–200, 204, 210, 215, 217f., 229, 233, 248, 263, 268f., 272, 278f., 296, 314, 319 Werfel, Hanna 94 Werfel, Manon 107 Werfel, Marianne 94 Werfel, Rudolf 93 Wiesel, Bea 217, 225 Wiesel, Elie 27–29, 76, 109, 113f., 150f., 155, 172, 176f., 183, 188, 192, 194, 209– 254, 257–261, 263–265, 272, 280f., 284, 302, 312f., 319, 321 Wiesel, Elijah 237 Wiesel, Elisha 232, 237 Wiesel, Hilda 217, 225 Wiesel, Marion 225, 232, 237

349

Personenregister

Wiesel, Sarah 217 Wiesel, Shira 237 Wiesel, Shlomo 217 Wiesel, Zippuka / Zipora 217, 224f. Williamson, Richard 215f. Wilner, Arieh 173 Winternitz, Friedricke von – s. Zweig, Friedrike Witt, Hubert 184, 190 Wohlmuth, Josef 14, 80, 277 Wohryzek, Julie 69 Wolf, Lejzer 179 Wolff, Kurt 75, 98, 100 Yeats, William Butler Yehuda Halevi 261 Zacharias 92 Zech, Paul 45

129

Zemlinsky, Alexander von 100 Zenger, Erich 245 Zidkijah 50 Ziemann, Benjamin 99 Zion, Noam 295 Zisselberger, Markus 146 Zoller, Israel 21 Zsolnay, Paul 107 Zweig, Alfred 34 Zweig, Arnold 33 Zweig, Friederike 40, 45 Zweig, Ida 34 Zweig, Lotte 43, 45, 52 Zweig, Moritz 34 Zweig, Stefan 23–26, 29–55, 68, 85, 87–89, 94, 98, 105, 107, 127f., 152f., 161, 167, 184, 192, 210, 212, 217f., 233, 247f., 250, 263, 280, 296, 299, 319, 321