Benzion Kellermann: Prophetisches Judentum und Vernunftreligion
 9783666570407, 9783525570401

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Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher

Band 24

Torsten Lattki

Benzion Kellermann Prophetisches Judentum und Vernunftreligion

Vandenhoeck & Ruprecht

Die vorliegende Studie wurde am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt im Jahr 2014 als Dissertation angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der FAZIT-Stiftung in Frankfurt am Main. Mit einer Abbildung Umschlagabbildung: Benzion Kellermann, undatiert, um 1911/12 (LBI New York, AR 1197) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-722X ISBN 978-3-525-57040-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Von Gerolzhofen nach Konitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Jugend und Ausbildung in Unterfranken . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Familie und Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Ausbildung zum jüdischen Religionslehrer . . . . . . . . . . . 1.2.1 Präparandenschule in Höchberg . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Israelitische Lehrerbildungsanstalt Würzburg . . . . . . . 2. Lehrerberuf, Studium und Promotion . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Israelitische Elementarschule in Marburg und Wanderlehrer in der Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Studien in Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Antisemitismus in Stadt und Land: Die Böckel-Bewegung 2.2.2 Philosophiestudium: Die Begegnung mit dem Marburger Neukantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Theologie, Philologie und Studium generale . . . . . . . . 2.3 Privat- und Schullehrer in Frankfurt am Main . . . . . . . . . 2.4 Promotion in Gießen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Studien in Berlin: 1896–1903 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin . . . . . . . . . . . 2.5.2 Die Wissenschaft des Judentums: Ein kurzer Überblick . 2.5.3 Rabbiner-Seminar zu Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4 Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und der Disput mit Benno Jacob . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . 1. Leitfragen und Forschungsziele 2. Forschungsstand . . . . . . . . 3. Quellen und Archive . . . . . . 4. Methodik . . . . . . . . . . . .

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II. Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rückkehr nach Berlin: Religionslehrer der jüdischen Gemeinde . . 1.1 Rektor und Lehrer an jüdischen Schulen . . . . . . . . . . . . 1.2 Religionslehrer am Dorotheenstädtischen Realgymnasium . . . 1.3 Familienleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kellermanns Auseinandersetzung mit der christlichen Religion . . 2.1 Die Debatte um Harnacks Wesen des Christentums . . . . . . . 2.2 Prophetenrezeption in Christentum und Judentum um die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Prophetenbegeisterung in der protestantischen Theologie 2.2.2 Die Propheten in der Wissenschaft des Judentums und der jüdischen Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Weder Prophet noch Messias: Jesus in Kellermanns Gesamtwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Das Missverständnis des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die zwingende „Prophetisierung“ des Christentums . . . . . . 3. Die Entwicklung der Religionsphilosophie Kellermanns bis 1914 . 3.1 Das Konzept der Vernunftreligion bei Kant . . . . . . . . . . . 3.2 Die Entwicklung der Religionsphilosophie Kellermanns bis zum Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Auslegung der Ethik des reinen Willens . . . . . . . . 3.2.2 Liberales Judentum: Das Bekenntnis zum Reformjudentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Auflösung der Religion in Philosophie: Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion . . . . . . . 3.2.4 Mitarbeit an den Festschriften zu Cohens 70. Geburtstag . 3.2.5 Jüdisches Leben und philosophisches Denken . . . . . . . 3.2.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Einstellung zum Krieg und Arbeit als Seelsorger . . . . . . . . 4.2 Die Übersetzung der Kämpfe Gottes von Lewi ben Gerson . . . 4.2.1 Vorspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Übersetzung und Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 „Eine Versündigung an der jüdischen Wissenschaft“ . . . 4.3 Mitarbeit an Cassirers Kant-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . .

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3. „Der Fall Konitz“: Ein Ritualmordvorwurf und seine Folgen . . . 3.1 Kellermann als Rabbiner und Lehrer der jüdischen Gemeinde in Konitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das „Ritualmordmärchen“ und Kellermanns Verhalten . . . 3.3 Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.4 Die Debatte um die Propheten mit Ernst Troeltsch . . . . . . . 4.4.1 Troeltsch: Die universalistische Transformation des partikularen prophetischen Ethos durch das Christentum 4.4.2 Kellermann: Die Verteidigung der „übervölkischen Menschheitskultur“ in Zeiten des Krieges . . . . . . . . . 4.4.3 Vitalität der Debatte bis 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Rabbineramt und öffentliches Wirken . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin . . . . . . . . . . 5.2 „Elijas“ Abschied: Zum Tod Cohens . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Edition der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Förderung des liberalen Judentums durch Publizistik und Bildungsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Hauptwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das Ideal im System der Kantischen Philosophie (1920) . . . . . 6.2 Die Ethik Spinozas (1922) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die letzten Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die geplante Einleitung in Cohens Jüdische Schriften . . . . . . 7.2 Krankheit und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliografie Benzion Kellermann . . Monografien . . . . . . . . . . Editionen und Übersetzungen Aufsätze und Artikel . . . . . .

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Verzeichnisse . . Abbildungen Siglen . . . . Abkürzungen

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Literatur . . . . . . . . Ungedruckte Quellen Gedruckte Quellen . Forschungsliteratur .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Vorliegendes Buch ist die überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Sommersemester 2014 vom Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt angenommen wurde. Meinen beiden Doktorvätern Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Deuser und PD Dr. Thomas Meyer bin ich zu erstem und besonderem Dank verpflichtet. Sie förderten die Arbeit mit großem Interesse, menschlicher Wärme und Anteilnahme und begleiteten sie mit wertvollen Ratschlägen und konstruktiver Kritik. Ernst Walter Kellermann, der zweite Sohn Benzion Kellermanns, empfing mich mit offenen Armen und berichetete mir in London ausführlich von seiner Familie. Leider wurde die danach geführte Korrespondenz durch seinen Tod 2012 plötzlich beendet. Susan Kellermann, einer Enkelin Benzion Kellermanns, verdanke ich nicht nur einprägsame Erfahrungen des New Yorker Kulturlebens, sondern vor allem wertvolle Gespräche über ihre Familie und eine wahre Schatzkiste unbekannter Dokumente über ihren Großvater, die die Arbeit entscheidend geprägt haben. Das Max-Weber-Kolleg mit seinen vielen Fellows, Postdocs und Doktoranden ist ein interdisziplinärer Ort, der mit seiner Kolloquienstruktur das Denken in verschiedenste Richtungen treibt und somit auch auf die vorliegende Arbeit aus zahlreichen Blickwinkeln anregend wirkte. Noch viele andere Personen waren an der Entstehung dieses Buches beteiligt, die jedoch nicht alle aufgezählt werden können, denen aber allen mein herzlicher Dank gilt. Namentlich nennen möchte ich PD Dr. Hartwig Wiedebach, Rainer Alisch, Uri Kellermann, Peter Batkin, Prof. Dr. Andrea M. Esser, Prof. Dr. Michael A. Meyer, Prof. Dr. Ulrich Sieg, Evamaria Bräuer, Dr. Stefan Litt, Prof. Dr. Gad Freudenthal, Dr. George Y. Kohler, Dr. Jan Leichsenring, Matthias Engmann und Julia Carls. Ich danke zudem den Mitarbeitern der Archive in Berlin, Frankfurt a. M., Gerolzhofen, Gießen, Marburg, Warburg, Wiesbaden, Würzburg, Cincinnati, Jerusalem, New York City und Washington D.C. für die Bereitstellung aller notwendigen Dokumente. Finanziell und ideell gefördert wurden die Arbeit und die notwendigen Archivrecherchen zunächst durch ein Stipendium der Gra-

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Vorwort

duiertenschule „Religion in Modernisierungsprozessen“, im Anschluss daran durch das Evangelische Studienwerk e. V. Villigst, wofür ich herzlich danke. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung und der FAZIT-Stiftung danke ich für die großzügige finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung, Prof. Dr. Michael Brenner und Prof. Dr. Stefan Rohrbacher für die Aufnahme in die von ihnen herausgegebene Reihe „Jüdische Religion, Geschichte und Kultur“ sowie den Lektoren von Vandenhoeck & Ruprecht Christoph Spill und Dr. Elke Liebig für die gute Zusammenarbeit. Schließlich danke ich meinen Eltern, meinem Sohn und Carolin für ihre persönliche Unterstützung in jeder Lebenslage. Das vorliegende Buch wäre ohne sie nicht möglich gewesen und ist ihnen deshalb gewidmet. Augsburg, im September 2015

Torsten Lattki

Einleitung

„Wie seine Philosophie, so war sein Leben: in sich gefügt und in sich geschlossen, einheitlich und ganz, mit dem Glauben an die Erkenntnis, mit der Gewißheit des Systems, mit der Zuversicht der Erfüllung, mit dem Glanze des Ideals. Persönlichkeit und Philosophie waren in ihm eins, und auch darum war er aufrecht, ein Mann mit dem Mute zu sich selbst, echt und ehrlich, lauter und klar.“1 So beschrieb Leo Baeck (1873–1956) am 27. Juni 1923 auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee den fünf Tage zuvor verstorbenen Rabbiner, Lehrer und Religionsphilosophen Benzion Kellermann, der heutzutage ein weitgehend Vergessener ist. Vorliegende Arbeit möchte ihn wieder in Erinnerung rufen und ihm den Platz in der Philosophie- und deutsch-jüdischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zurückgeben, der ihm von Zeitgenossen, sei es in Zustimmung oder in Ablehnung seines Denkens, zuerkannt wurde. Sein Leben und Werk sind nicht nur für sich selbst stehend von hohem Interesse, sondern tragen auch dazu bei, die vielfältigen Selbst- und Fremdbeschreibungen des deutschen Judentums im Kaiserreich und der beginnenden Weimarer Republik besser zu verstehen, geben einen Einblick in die selbstbewusste Arbeit jüdischer Gelehrter dem Christentum gegenüber und zeigen paradigmatisch den Weg vom orthodoxen zum liberalen Judentum, wie ihn Kellermann und viele seiner Zeitgenossen gingen. In wichtige Netzwerke der Wissenschaft des Judentums und als Rabbiner in die Angelegenheiten der Berliner Jüdischen Gemeinde eingebunden, pflegte Kellermann Kontakte zu renommierten Gelehrten wie Julius Guttmann, Moritz Steinschneider und Leo Baeck, studierte bei ihnen oder arbeitete mit ihnen zusammen. Mit Martin Schreiner, Josef Horovitz und Ernst Cassirer verbanden ihn nicht nur gemeinsame Interessen und Projekte, sondern auch Freundschaften. Von entscheidender Bedeutung für seinen Lebensweg war die Begegnung mit dem damals wichtigsten jüdischen Philosophen des Kaiserreichs, 1 Baeck, Leo, Rabbiner Dr. Kellermann zum Gedenken. Auf dem Friedhof gesprochen, in: JLZ Nr. 25 vom 18. 7. 1923, 1f, hier : 1.

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Einleitung

Hermann Cohen, der zugleich das Haupt der Marburger Schule des Neukantianismus war, dieser einflussreichen Strömung in der deutschen und europäischen Philosophie. Neben Cassirer sollte sich Kellermann zu einem der treuesten und wichtigsten Schüler Cohens entwickeln, der aber keineswegs nur als Epigone aufgefasst werden sollte. Tief in die Gedankenwelt und Begrifflichkeiten des Lehrers eingedrungen und diese in seinen Schriften verwendend, ging er doch an entscheidenden Stellen über ihn hinaus, was Kellermann zweifelsohne zu einem eigenständigen Denker macht. Er polemisierte oft gegen Hegel und Spinoza sowie die Existenzphilosophie, als deren wichtigsten Sprecher er Nietzsche identifizierte. Sein religionsphilosophisches Gesamtwerk im Zeichen des Mottos „Zurück zu Kant“ war ein Bollwerk der Rationalität und des Fortschrittsglaubens, sogar über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus, als mit dem „Gefühl“ eine andere Kategorie verstärkt in die jüdische und christliche Theologie als auch in die Philosophie eingeführt und der ehemals so wichtige Marburger Neukantianismus zurückgedrängt wurde. In seiner reichen Publikations-, Lehr- und Vortragstätigkeit versuchte Kellermann, das Judentum unter Anwendung des kritischen Idealismus, wie er in Marburg im Anschluss und in Fortentwicklung von Kants Transzendentalphilosophie gelehrt wurde, philosophisch nicht nur zu begründen, sondern auch als höchststehende aller vergangenen und existierenden historischen Religionen zu erweisen. Dabei würde sich das liberale Judentum besonders hervortun, denn es sei als prophetisches Judentum Träger des ethischen Monotheismus – zwei zentrale Begriffe in seinem Gesamtwerk, welches in seiner Breite dargestellt und in die Erzählung seines Lebens eingeordnet werden soll.

1. Leitfragen und Forschungsziele Die vorliegende Studie ist die erste Biografie Benzion Kellermanns, die in der Erzählung der Lebens- und Familiengeschichte sowie in der Nachzeichnung des Gesamtwerks einen Beitrag zur Erforschung der deutschjüdischen Geistes- und Kulturgeschichte von den 1870er Jahren bis in die Anfänge der Weimarer Zeit leistet, der sowohl für die christliche Theologie als auch für die Jüdischen Studien, die Philosophie und die Geschichts- und Kulturwissenschaften relevant ist. Philosophisch war Kellermann seit seiner ,Erweckung‘ in Marburg Neukantianer und einer von Hermann Cohens (1842–1918) Lieblingsschülern. Seine Auffassung, dass sich in der Zukunft eine reine Menschheitsreligion der Vernunft, eine sich in pure Ethik auflösende Religion, herausbilden müsse, war an liberalprotestantischen und liberaljüdischen Denkansätzen des 19. Jahrhunderts als auch an Cohens Religionsphilosophie geschult. Sie wurde von Keller-

Leitfragen und Forschungsziele

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mann auch dann noch vertreten, als Cohen in seinen letzten Lebensjahren der Religion unter dem Stichwort der ,Eigenart‘ eine prominentere Rolle in seinem philosophischen System zuwies als zuvor. In der vorliegenden Arbeit wird das, in die allgemeine Geschichte der jüdischen Reformbewegung seit der Aufklärungszeit einzuordnende, liberale Judentum als eine von Juden privat und/oder öffentlich vertretene religiöse Anschauung verstanden, so wie sie in verschiedenen zeitgenössischen programmatischen Schriften2 und im Jüdischen Lexikon (1927–1930)3 beschrieben wurde. In letzterem zeigt sich zwar eine deutliche Unzufriedenheit des Autors, des zwischen 1902–1936 in Stolp amtierenden Rabbiners Max Joseph (1868–1950), mit den Positionen der Liberalen, dennoch sind hier die fundamentalen Grundsätze liberaljüdischen Denkens konzentriert und der Selbstbeschreibung angemessen herausgearbeitet. Der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem zeitlich früheren deutschen Reformjudentum hervorgehende, europaweit und international Einfluss gewinnende, aber vor allem in Deutschland extrem populäre, jüdische Liberalismus zeichnete sich durch die weitgehende Ablehnung der Gedanken der Inspiration der Tora4 und der supranaturalistischen Offenbarung aus, wie sie innerhalb der Orthodoxie tradiert wurden, „und betont dem gegenüber das innere Recht des religiös-ethischen Gehalts“ des Judentums. Die Liberalen konzentrierten sich daher auf die Herausarbeitung des „ethische[n] Charakter[s]“ des Judentums und betonten, häufig mit Verweis auf die biblischen Propheten, den „Universalismus“ in der jüdischen Ethik, was auch „unter dem Einfluß einer meist am Neukantianismus orientierten Philosophie“ geschah. 2 Aus der Fülle der zeitgenössischen Schriften, die zumeist selbst von progressiven Juden verfasst wurden, seien nur folgende genannt, die prägnant Inhalt und Form liberaljüdischen Denkens beschreiben: Montefiore, Claude G., Outlines of Liberal Judaism. For the Use of Parents and Teachers, London 1912; Goldmann, Felix, Das liberale Judentum, in: Verlag der Neuen Jüdischen Monatshefte (Hg.), Das deutsche Judentum. Seine Parteien und Organisationen. Eine Sammelschrift, Berlin/München 1919, 13–23; Seligmann, Caesar, Geschichte der jüdischen Reformbewegung. Von Mendelssohn bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1922; Lewkowitz, Julius, Die Grundsätze des jüdisch-religiösen Liberalismus, Schriftenreihe der Vereinigung für das Liberale Judentum e. V., Bd. 1, Berlin 1924; Dienemann, Max, Liberales Judentum. Neudruck der Ausg. Berlin 1935, hg. v. Mühlstein, Jan, JVB-Klassiker, Bd. 2, Berlin 2000. 3 Joseph, Max, Art. Liberalismus, Jüdischer, in: JL 3 (1928), 1099f. Alle folgenden Zitate: ebd. – Joseph verweist in der weiterführenden Literatur neben Lewkowitz u. a. auch auf Benzion Kellermanns Schrift Liberales Judentum. Vortrag, gehalten im Liberalen Verein für die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde, Berlin 1907. – Vgl. zur Geschichte des progressiven Judentums in Europa und Nordamerika seit dem 18. Jh. das Standardwerk von Meyer, Michael A., Antwort auf die Moderne. Geschichte der Reformbewegung im Judentum, Wien/ Köln/Weimar 2000. – In der vorliegenden Arbeit werden Monografien, Lexika, Sammelbände, Zeitschriften und Periodika im Fließtext kursiv gesetzt; Aufsätze, Artikel und Vortragstitel erscheinen in Anführungszeichen. 4 In vorliegender Arbeit werden hebräische Begriffe bei der Erstnennung kursiv gesetzt. Nicht allgemein bekannte Termini werden kurz erklärt.

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Einleitung

Den rituellen Vorschriften, die Joseph mit dem unter Christen und Juden zeittypischen und schon von Moses Mendelssohn und seinen Zeitgenossen verwendeten Begriff „Zeremonialgesetz“ bezeichnet, wurde im liberalen Judentum „weniger Beachtung geschenkt, es gilt“ – und hier muss hinzugef ü gt werden : wenn es denn ü berhaupt noch Geltung beanspruchen konnte und, zumindest in der Theorie, nicht vollst ä ndig abgelehnt wurde wie etwa von Kellermann – „fast nur als Mittel zur religi ö s-sittlichen Heiligung des Menschen, nicht als ad ä quate und notwendige j.[ü dische] Lebensform. Im Zusammenhang damit werden alle nationalen Elemente im J.[uden]tum, wenigstens grunds ä tzlich, ausgeschieden, wird das J.[uden]tum lediglich als Bekenntnis, als Religionsgemeinschaft aufgefa ß t und, wie schon von der Reform, die universalistische Seite im messianischen Glauben stark unterstrichen, die nationale aber preisgegeben. Andererseits wird eine enge Verbindung des religi ö sen Bekenntnisses zum J.[uden]tum mit dem kulturellen Bekenntnis zum Volkstum der Umgebung angestrebt“. Anhand dieser umfassenden Arbeitsdefinition wird im Folgenden untersucht werden, wie sich Kellermann mit seinen theologischen und philosophischen Behauptungen innerhalb der liberaljüdischen Bewegung positionierte, welche Überlegungen er übernahm und wo er eigenständige bzw. radikalere Wege ging. Ferner wird untersucht, wie er philosophisch an seinen Lehrer Cohen anknüpfte, dessen Position übernahm und selbständig über sie hinausging. Das Judentum in seiner liberalen Form betrachtete Kellermann als die höchststehende aller historischen Religionen, die sich schrittweise einem in einer unendlich fernen Zukunft liegenden ethischen Ideal annähern und sich parallel dazu ganz in Ethik und Wissenschaft auflösen müssten. Deshalb blieb er immer ein überzeugter und dem Christentum gegenüber selbstbewusster liberaler Jude. Oft war und ist das Vorurteil zu vernehmen, dass das liberale deutsche Judentum des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit seiner starken Partizipation an der deutschen Umweltkultur stets in Richtung einer Selbstverleugnung oder gar Selbstaufgabe tendiert und zugunsten von Goethe, Schiller und Kant das sogenannte, aber nie näher bestimmte, jüdische Wesen vergessen habe. Neben dem zitierten Max Joseph wurde und wird dieser Vorwurf auch häufig in orthodoxen, traditionell-konservativen und zionistischen Publikationen erhoben, die häufig pauschal von einer vollständigen Assimilation beinahe aller deutschen Juden seit der Emanzipationszeit ausgehen. In dieser Sicht ist für Zwischentöne kein Platz und lassen sich individuelle Zugänge zu und Interpretationen von jüdischer Religion, Tradition und Kultur, wie sie trotz des von Michael Brenner aufgezeigten Paradoxes der „Konfessionalisierung“ des Judentums in „eine[r] Zeit zu-

Leitfragen und Forschungsziele

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nehmender Säkularisierung“ historische Realität waren,5 nicht in angemessener Weise beschreiben. Heinrich Graetz (1817–1891), der zwischen 1853 und 1875 seine elfbändige Geschichte der Juden verfasste, bewertete aus konservativem Blickwinkel die jüdische Reformbewegung als „Aufweichungserscheinung des Judentums“, die ihrem Charakter nach gnostisch sei und „das rabbinische, auf dem Talmud basierende Judentum auszuhöhlen und zu zerstören“ suche.6 Für Gershom Scholem (1897–1982) begann aus zionistischer Perspektive der Niedergang des „jüdische[n] Volkstum[s]“ und „die entschlossene Verleugnung der jüdischen Nationalität“ in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts: „Die Juden führten den Kampf um ihre Emanzipation – und das ist die Tragödie dieses Kampfes, die uns heute so bewegt – nicht im Namen ihrer Rechte als Volk, sondern im Namen ihrer Assimilation an die Völker, unter denen sie wohnten. Sie haben damit, indem sie ihr Volkstum aufzugeben bereit waren oder es verleugneten, nicht etwa ihr Elend beendet, sondern nur eine neue Quelle ihrer Leiden eröffnet.“7 Scholem beschreibt diesen Prozess als „Entfremdung“8, den auch die Vertreter des liberalen Judentums mit zu verantworten haben. Zwar benennt er sie nicht so, jedoch sind sie zweifelsohne und Cohen gar persönlich gemeint, wenn er von Juden spricht, die „zwar bereit [waren], ihr Volkstum zu liquidieren“, „aber, in freilich sehr verschiedenen Ausmaßen, ihr Judentum, als Erbe, als Konfession, als ein Ichweißnichtwas, ein undefinierbares und doch im Bewußtsein deutlich vorhandenes Element bewahren [wollten]“, ein „verwässerte[s] oder eher vertrocknete[s], entleerte[s] Judentum, das aus einer sonderbaren Mischung einer rationalen Vernunftreligion mit starken, nicht selten abgeleugneten und dennoch höchst wirksamen Gefühlsmomenten zusammengesetzt war.“9 Scholem zählte mit Jizchak Fritz Baer (1888–1980) und Benzion Dinur (1884–1973) zu der zionistischen „Jerusalemer Schule“, die sich in den 1920er Jahren an der Hebräischen Universität formiert hatte. Ihre Vertreter beschrieben jedwede jüdische Geschichte außerhalb von Eretz Israel als Exilsgeschichte. Dies betrifft auch die Historie des deutschen Judentums seit der Emanzipation, die in

5 Brenner, Michael, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000, 22. 6 Ders., Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, 85. 7 Die ersten beiden Zitate: Scholem, Gershom, Juden und Deutsche (1966), in: ders., Judaica 2, Frankfurt a. M. 51995, 20–46, hier : 25. Langes Zitat: ebd., 27. 8 Ebd., 34. 9 Ebd., 35f. – In einem anderen Aufsatz bezeichnet Scholem Cohen bezüglich seiner Suche nach der Symbiose zwischen deutscher und jüdischer Kultur als einen „unglücklich Liebenden, der den Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen nicht gescheut hat“ (Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch (1964), in: ders., Judaica 2, 7–11, hier : 10).

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Einleitung

den Kategorien Apologie, Assimilation und Aufgabe jüdischer Identität beschrieben wurde.10 Der Pädagoge und Historiker Ernst Akiba Simon (1899–1988) war religiös konservativ und Zionist, bewertete die Geschichte des deutschen Judentums seit der Emanzipation aber moderater. So sei zwar mit den Reformbestrebungen und der aus ihnen resultierenden „moderne[n] Gemeinde“ ein „von seinen jüdischen Inhalten immer mehr entleertes Judentum“ entstanden.11 Dennoch besteht Simon darauf, „daß jene ,religiös-nationale Wurzel‘, von der [Leopold] Zunz gesprochen hatte, zwar allmählich weniger triebkräftig wurde, aber selbst im typischen, also nicht-zionistischen, deutschen Judentum nicht völlig abstarb.“ Der intensiv mit Simon verkehrende und bei Ernst Cassirer (1874–1945) promovierte Leo Strauss (1899–1973) begriff liberales Judentum als modernes, substanzloses und damit unauthentisches Judentum.12 Wie Scholem setzte er es mit der ihm zufolge aus der Aufklärung hervorgegangenen Assimilation gleich und betrachtete die „deutsch-jüdische Symbiose“ als „Chimäre“.13 Der Philosoph, Theologe und Rabbiner Alexander Altmann (1906–1987) verwarf in finsterer Stunde das liberale Judentum aus orthodoxer Sicht als inhaltsleer. Denn zu einer jüdischen Theologie als „Identitätsangebot“ während des Nationalsozialismus, das den einzelnen Juden direkt anspreche und das angesichts der Entwicklungen in Deutschland seit 1933 dringender denn je sei, trügen sowohl der Zionismus mit seinem starren Volksbegriff als auch das liberale Judentum mit seiner Aufweichung religiöser Normen nichts Entschei-

10 Vgl. zu dieser Formation unterschiedlicher Charaktere Myers, David N., Re-Inventing the Jewish Past. European Jewish Intellectuals and the Zionist Return to History, New York/ Oxford 1995; Brenner, Propheten des Vergangenen, 229–244. Den Vertretern der „Jerusalemer Schule“ wurde alsbald ebenfalls ideologische Verzerrung und Apologetik vorgeworfen. Vgl. dazu Jütte, Robert, Die Emigration der deutschsprachigen „Wissenschaft des Judentums“. Die Auswanderung jüdischer Historiker nach Palästina 1933–1945, Stuttgart 1991, 136–151. Gegenwärtige Konzepte jüdischer Historiografie präsentieren die Aufsätze in dem Sammelband von Brenner, Michael/Myers, David N. (Hg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002. 11 Simon, Ernst A., Das geistige Erbe des deutschen Judentums. Vortrag zur Eröffnung des LeoBaeck-Instituts am 31. Mai 1955 in Jerusalem (1955), in: ders., Brücken. Gesammelte Aufsätze, Heidelberg 1965, 47–58. Hier zit.n.: Schulte, Christoph (Hg.), Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland, Stuttgart 1993, 162–176, hier: 167 bzw. 168. Folgendes Zitat: ebd., 171. 12 Vgl. Schwarz, Moshe, Die verschiedenen Strömungen der deutsch-jüdischen Orthodoxie in ihrem Verhältnis zur Kultur der Umwelt, in: Leo Baeck Institut Jerusalem (Hg.), Zur Geschichte der Juden in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Jerusalem 1971, 53–58, hier: 53f. 13 Meyer, Thomas, Leo Strauss’ Einsichten. Leo Strauss an Ernst Simon, in: Briefe im Exil. Jüdische Emigranten in den USA, Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 6/ 2 (2013), 23–32, hier: 29.

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dendes bei.14 Mordechai Breuer ist in seiner Studie zur jüdischen Orthodoxie im Deutschen Kaiserreich ebenfalls aus orthodoxer Perspektive pauschal davon überzeugt, dass „die Streichung der Gebete für die baldige Rückkehr des jüdischen Volkes ins heilige Land und für das Kommen des Messias“ einen „Glaubens- und Bewußtseinsschwund in der Reformbewegung“ bezeugen würde.15 Vielen der Genannten gemein ist die Auffassung, das deutsche Judentum habe sich seit dem 18. Jahrhundert an die nichtjüdische Umwelt assimiliert und dabei die jüdische Identität bewusst verdrängt oder aufgegeben. Jacob Katz (1904–1998), der zu den bedeutendsten jüdischen Historikern des 20. Jahrhunderts zählt, beschrieb in seiner 1935 veröffentlichten Dissertation Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie in sozialgeschichtlicher Perspektive die Assimilation als zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft interaktiv wirkenden Prozess, der vordergründig innerhalb des Mittelstands, das heißt des Bürgertums stattfand.16 Die jenem Prozess zugrunde liegende Ideologie beschrieb Katz in diesem Sinn als eine „Umerziehungs- und Modernisierungsstrategie nach den Idealen rationaler Vorausschau, Zweck- und Rechtmäßigkeit, Produktivität und Wissenschaftlichkeit“. Der historischen Realität angemessener als der Terminus Assimilation, der zumeist pejorativ verwendet wird, ist die Beschreibung der komplexen Transformationsprozesse innerhalb des deutschen Judentums seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als Akkulturation, wodurch „das moderne Judentum im Sinne von Clifford Geertz als Kultursystem“17 verstanden wird und in differenzierterer Weise Handlungsspielräume einzelner Individuen greifbar werden. Die Akkulturationsthese zeige, wie Carsten L. Wilke zu Recht herausstellt, „dass die Spannung zwischen sozialer Integration und identitärer Bewahrung im Judentum der Emanzipation im Allgemeinen nicht aufgelöst, sondern ausgehalten wurde.“ Die verschiedensten „Anpassungsstrategien“ an die nichtjüdische Umwelt haben in dieser Perspektive also keineswegs automatisch die Aufgabe jüdischer Lebensweise oder Identität zur Folge.18 14 Vgl. dazu ders., Zwischen Philosophie und Gesetz. Jüdische Philosophie und Theologie von 1933 bis 1938, SJJTP, Bd. 7, Leiden 2009, 107–165. Zitat: ebd., 162. 15 Breuer, Mordechai, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Die Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt a. M. 1986, 4. 16 Vgl. Wilke, Carsten L., Art. Emanzipation, in: EJGK 2 (2012), 219–231, hier: 228. Folgendes Zitat: ebd., 229. – Katz, Jacob, Die Entstehung der Judenassimilation in Deutschland und deren Ideologie, Frankfurt a. M. 1935. 17 Wilke, Art. Emanzipation, 229. Folgende zwei Zitate: ebd., 230 bzw. 229. 18 Identität ist seit Längerem ein Schlüsselbegriff in Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Geschichte. Vgl. nur Mendes-Flohr, Paul, Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden, Makom, Bd. 2, München 2004; Brechenmacher, Thomas (Hg.), Identität und Erinnerung. Schlüsselthemen deutsch-jüdischer Geschichte und Gegenwart, München 2009; Gotzmann, Andreas/Liedtke, Rainer/Rahden, Till van (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933, SchrLBI, Bd. 63, Tübingen 2001.

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Das zeigt sich beispielsweise im Denken jüdischer Reformer wie Max Dienemann (1875–1939), Hermann Vogelstein (1870–1942), Caesar Seligmann (1860–1950), Cohen und Kellermann. Sie alle bezogen sich direkt oder indirekt auf Abraham Geiger (1810–1874), den wichtigsten und einflussreichsten Vordenker des liberalen Judentums in Deutschland im 19. Jahrhundert. In einem Brief an Leopold Zunz (1794–1886) aus dem Jahr 1831 beschreibt Geiger das Ziel der innerjüdischen Reform nicht in der Beschränkung oder gar Aufgabe jüdischer Identität, sondern ganz im Gegenteil bedeute diese „nicht also jenes blindes reformatorische Treiben, durch welches das äußere vielleicht aufgestutzt wird, das Innere kalt und leer bleibt, sondern das Bemühen, aus dem Judentum heraus die Judenheit neu und frisch belebt zu gestalten.“19 Ganz in diesem Sinn beschloss Julius Lewkowitz (1876–1943), ein liberaljüdischer Zeitgenosse und Berliner Kollege Kellermanns, 1924 seine kleine Schrift Die Grundsätze des jüdisch-religiösen Liberalismus: „Liberales Judentum heißt nicht weniger Judentum, sondern lebendiges Judentum, in dem die geschichtlichen Kräfte sich mit den reinen Kräften der Gegenwart verbinden.“20 Bei Scholem, Strauss und anderen zeigt sich, dass die Kritik an Vertretern des liberalen Judentums auch häufig geäußert wird, wenn über die seit dem 19. Jahrhundert unter Juden intensiv geführte Debatte über „Deutschtum und Judentum“ gesprochen wird. Angesichts der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden im „Dritten Reich“,21 bezeichnete Scholem die von Cohen, Kellermann, dem „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ und insgesamt der Mehrheit der jüdischen Deutschen erstrebte allgemeine, über intellektuelle Kreise hinausgehende „deutsch-jüdische Symbiose“ und das dazugehörige „deutsch-jüdische Gespräch“ auf Augenhöhe als Mythos und „unfaßbare[…] Illusion“.22 Diese Perspektive ist auch durch seine zionistische Einstellung und die vielen persönlichen Verluste in der Schoa – etwa der Tod des Freundes Walter Benjamin und des Bruders Werner Scholem, beide 1940 – geprägt und biografisch nachvollziehbar. 19 Abraham Geiger an Leopold Zunz, 25. 4. 1831. Abgedruckt in: Geiger, Ludwig, Aus L. Zunz’ Nachlaß, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5/2 (1892), 223–268, hier : 244. 20 Lewkowitz, Grundsätze, 16 (Hrvh. im Orig.). 21 Vgl. dazu das Standardwerk von Friedländer, Saul, Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933–1939. Die Jahre der Vernichtung 1939–1945. Einbändige Sonderausgabe, München 2007. Knapp und präzise: Mommsen, Hans, Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa, Göttingen 2014. 22 Scholem, Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch, 7. Er präzisiert seine These in: Noch einmal: das deutsch-jüdische „Gespräch“ (1965), in: Judaica 2, 12–19. – Vgl. zur Geschichte des 1928 erstmals von dem deutsch-völkischen Autor Wilhelm Stapel verwendeten Begriffs der „Symbiose“ Voigts, Manfred, Die deutsch-jüdische Symbiose. Zwischen deutschem Sonderweg und Idee Europa, Conditio Judaica, Bd. 57, Tübingen 2006, 250–253.

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Für Martin Buber (1878 – 1965), von der Vernichtung des europäischen Judentums ebenso persönlich betroffen wie erschüttert, war jene Symbiose hingegen kein Mythos, sondern er bezeugt, diese bis zu ihrer Auslöschung „erlebt“ zu haben.23 Manfred Voigts widmete dem Thema 2006 eine umfassende Studie, in der er die Symbiose „als historisches Ereignis betrachtet“ und von dieser Grundannahme aus als „Teil der deutschen Geistesgeschichte“ analysiert.24 Die Vertreter als auch die Gegner der These vom Mythos des „deutsch-jüdischen Gesprächs“ und der Symbiose vergessen jedoch oft, wie Christoph Schulte zu Recht herausstellte, zwei wesentliche Punkte. Zum einen kann ein Gespräch immer nur zwischen Individuen und nicht zwischen Kollektiven stattfinden, wie dies fast alle Beteiligten an der Debatte übersahen. Ist also das kollektive Gespräch eine „physische Unmöglichkeit“, hat es dennoch viele deutsch-jüdische Gespräche gegeben. Daß viele dieser Gespräche einseitig waren, daß sie von den Nichtjuden häufig abgebrochen wurden, daß sie an der Diskriminierung der Juden nichts änderten, ist unbestreitbar. Es gab jedoch auch, im einzelnen und bei Einzelnen, den gelungenen, lebendigen Austausch. Beides, die vielen mißlungenen und die wenigen gelungenen Beziehungen von Juden zu Nichtjuden in Deutschland, hat unbehelligt von Pauschalurteilen und schiefen Alternativen ein Recht, erinnert und gewürdigt zu werden.25

Zum anderen ist die Kritik an dem Konzept der Symbiose angesichts der Schoa zwar lebensgeschichtlich nachzuvollziehen. Dennoch ist die Ernüchterung über deren illusorischen Charakter nicht dazu geeignet, aus einer beinahe geschichtsdeterministisch anmutenden Perspektive nach Auschwitz das Streben nach ihr durch eine große Anzahl jüdischer Deutscher vor Auschwitz als unsinnig und falsch zu bewerten.26 Eine solche Kritik ist „allzu billig“, denn sie „mißachtet die intellektuellen und sozialen Anstrengungen, die Juden in Deutschland in ihrem Streben nach einem gelingenden und gleichberechtigten Zusammenleben mit den nichtjüdischen Deutschen unternommen haben.“ George Y. Kohler zeigte am Beispiel zahlreicher Übersetzungen der Hebräischen Bibel ins Deutsche und vieler Lehrbücher für jüdische Schulen, dass mit der rechtlichen Gleichstellung seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 „German liberal Judaism became more self-assured if also more self-cri23 Buber, Martin, Das Ende der deutsch-jüdischen Symbiose (1939), in: ders., Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden, 2., durchges. u. um ein Reg. erw. Aufl., Neuausg., Gerlingen 1992, 629–632. Hier zit.n.: Schulte (Hg.), Deutschtum und Judentum, 150–153, hier: 151. 24 Voigts, Symbiose, 3 u. 11. Vgl. auch den knappen Forschungsüberblick bei Zimmermann, Moshe, Die deutschen Juden 1914–1945, Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 43, München 1997, 84–89. 25 Schulte, Christoph, Einleitung, in: ders. (Hg.), Deutschtum und Judentum, 5–27, hier : 12. 26 Vgl. ebd., 8–10. Folgende zwei Zitate: ebd., 9.

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tical than ever before, and managed to bring the light some of the most interesting intellectual achievements of Jewish history.“27 Das Selbstbewusstsein zeigte sich ferner in der Entwicklung der vielseitigen Wissenschaft des Judentums, deren Vertreter diese auch betrieben, um einen neuen Zugang zu ihrem Erbe zu finden.28 Kellermann partizipierte mit seinen theologischen und philosophischen Texten an den Forschungen und Ergebnissen der Wissenschaft des Judentums. Er verband die jüdische Religion mit der Kantischen Transzendentalphilosophie durch den „ethischen Monotheismus“ der Propheten, denn diese würden in ihren sozialethischen Forderungen eine inhaltliche Kongruenz zu den Gedanken des Königsbergers aufweisen. Das Leben und Wirken Kellermanns, der für seine jüdische Herkunft und Identität stets Stolz empfand, steht exemplarisch für die Vielfalt möglicher Lebensweisen innerhalb des deutschen Judentums um die Jahrhundertwende, das nicht pauschalisierend, sondern allein differenziert und an Einzelfällen ausgerichtet beschrieben werden darf.

2. Forschungsstand In der philosophischen, judaistischen, historischen und theologischen Forschungslandschaft gibt es keine Werkausgaben, wissenschaftlichen Monografien oder vollständige Artikel über Benzion Kellermann und sein Œuvre, sondern nur kurze lexikalische Beiträge. Dabei findet sich der umfassendste werkbiografische Artikel über ihn im Handbuch der Rabbiner von 2009.29 Dort sind die meisten seiner Lebensstationen und der Großteil seines Werkes genannt, jedoch enthält der Artikel zahlreiche Fehler. Zum einen in den biografischen Angaben, wenn etwa die Studienzeit in Marburg von 1891–1893 oder der Aufenthalt in Konitz von 1898–1901 datiert wird. Die Inskriptionsliste im Marburger Universitätsarchiv belegt dagegen eindeutig 1889–1893 als Zeitraum des Studiums und aus den Berichten über die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin sowie der Allgemeinen Zeitung des Judentums geht klar hervor, dass er erst von Januar/Februar 1900 bis 1901 in Konitz als Rabbiner und Lehrer wirkte. Zum anderen gibt es einige Fehler in der zudem unvollständigen Bibliografie, die die Suche nach Aufsätzen von und über Kellermann erschweren. Eine knappe Auswahl der Werke und biografischen Informationen bietet Thomas Meyer in seinem Artikel für das Metzler Lexikon jüdischer Philoso27 Kohler, George Y., Reading Maimonides’ Philosophy in 19th Century Germany. The Guide to Religious Reform, Amsterdam Studies in Jewish Philosophy, Bd. 15, Dordrecht u. a. 2012, 5. 28 Vgl. dazu Kap. I.2.5.2. 29 BHRabb II/1, 328f.

Forschungsstand

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phen.30 Der Autor setzt sich intensiv mit den neukantianischen Grundlagen Kellermanns auseinander und bietet eine treffende Analyse der systematischen Hauptwerke Das Ideal im System der Kantischen Philosophie (1920) und Die Ethik Spinozas. Über Gott und Geist (1922). Besonders das erste begreift Meyer zu Recht als Kommentar zu Kant und Cohen und damit als Emanzipation von und Weiterentwicklung der Marburger Philosophie. In seiner Biografie Ernst Cassirers brachte Meyer dieses Werk Kellermanns mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen in Zusammenhang.31 Esriel Hildesheimer bietet in seiner Auflistung der Studenten des Berliner Rabbinerseminars einen Überblick über das Leben und Wirken Kellermanns, der aber bei den Datierungen und Ortsangaben grobe Fehlinformationen beinhaltet, wie im Verlauf der Arbeit gezeigt werden wird.32 Franz Kössler hat mit seinem umfassenden Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der zeitgenössischen Pädagogik geleistet.33 Hier finden sich wichtige Hinweise auf Kellermanns Wirken an verschiedenen jüdischen und nichtjüdischen Schulen Berlins, die jedoch z. T. falsch datiert sind. In diesem pädagogischen Zusammenhang wird Kellermann auch von Joseph Gutmann in dessen Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Knabenschule der Jüdischen Gemeinde Berlins vorgestellt. Er bietet einen kompakten biografischen Überblick, inklusive wichtiger Informationen zu seiner frühen Ausbildungszeit zum Lehrer und Rabbiner.34 Hervorzuheben ist an dieser Stelle noch die sehr gut gepflegte Homepage Alemannia Judaica – Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden

30 Meyer, Thomas, Art. Benzion Kellermann, in: Kilcher, Andreas B./Fraisse, Otfried (Hg.), Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 2003, 317–319. – Schon 2001 erwähnte Meyer in einem Aufsatz Benzion Kellermann als Vertreter einer „explizit ethischen Position“ innerhalb der Wissenschaft des Judentums, der bis heute nicht „in der nichtjüdischen Religionsphilosophie zur Kenntnis“ genommen würde (ders., Standortbestimmungen. Zum Problem einer „jüdischen Philosophie“, in: Widerspruch 37 (2001), 26–41, hier : 33). 31 Meyer, Thomas, Ernst Cassirer, Hamburger Köpfe, Hamburg 22007, 146. 32 Hildesheimer, Esriel, Die Studenten am Berliner Rabbinerseminar (ergänzt von Jana C. Reimer), in: Eliav, Mordechai/Hildesheimer, Esriel, Das Berliner Rabbinerseminar 1873–1938. Seine Gründungsgeschichte – seine Studenten [hebr. 1996, 22001], aus dem Hebräischen übersetzt, überarbeitet und mit Ergänzungen versehen von Jana C. Reimer, hg. von Schütz, Chana/Simon, Hermann, SchrCJ, Bd. 5, Teetz u. Berlin 2008, 49–271, hier: 157. 33 Kössler, Franz, Art. Kellermann, Benzion, in: ders., Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts. Berufsbiographien aus Schul-Jahresberichten und Schulprogrammen 1825–1918 mit Veröffentlichungsverzeichnissen, Bd.: Kaak-Kysaeus, Vorabdruck (Preprint), Universitätsbibliothek Gießen, Giessener Elektronische Bibliothek 2008, URL: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2008/6116, Stand: 18. 12. 2007, o. S., abgerufen am 3. 8. 2012. 34 Gutmann, Joseph, Geschichte der Knabenschule der Jüdischen Gemeinde in Berlin (1826–1926), in: ders. (Hg.), Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Knabenschule der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Berlin 1926, 5–138, hier : 113.

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im süddeutschen und angrenzenden Raum, die wichtige Informationen zu Kellermanns und dessen Vaters Leben und Werk bietet.35 Die weiteren Artikel bieten meist nur sehr wenige und zum Teil falsche Informationen, wurden aber nach Überprüfung für diese Arbeit herangezogen.36 Ferner existieren verstreute biografische Hinweise in einem größeren thematischen Rahmen, etwa im Zusammenhang mit dem Ritualmordvorwurf gegen die jüdische Gemeinde der Stadt Konitz, in der Kellermann um die Jahrhundertwende als Rabbiner wirkte oder im Kontext der Maimonides-Rezeption unter jüdischen Philosophen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die George Y. Kohler aufgearbeitet hat.37 Der Ideenhistoriker Ulrich Sieg benennt Kellermann in seiner großen Gesamtdarstellung Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus (1994) als Cohens „Lieblingsschüler“38 und verweist auf die Notwendigkeit einer umfassenden Biografie über ihn. In der Monografie Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg von 2001 beschäftigt Sieg sich eingehend mit dem Streit um das „Ethos der hebräischen Propheten“ zwischen 1915 und 1920, an dem sich der christliche Kulturphilosoph Ernst Troeltsch (1865–1923), die jüdischen Philo35 Alemannia Judaica – Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum, Art. Gerolzhofen (Landkreis Schweinfurt). Jüdische Geschichte/Synagoge, URL: http://www.alemannia-judaica.de/gerolzhofen_synagoge.htm, aktualisiert am 28. 11. 2010, abgerufen am: 10. 5. 2011. 36 Schmuck, Hilmar, Art. Kellermann, Benzion, in: ders., Jüdischer Biographischer Index, 2., kulminierte u. erw. Ausg., München 2006, 776; Körner, Hans M./Jahn, Bruno, Art. Kellermann, Benzion, in: Körner, Hans M. (Hg.), Große Bayerische Biographische Enzyklopädie, Bd. 2, München 2005, 1001f; Jahn, Bruno, Art. Kellermann, Benzion, in: ders., Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Philosophen, München 2001, 213; Walk, Joseph, Art. Kellermann, Benzion, in: ders., Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918–1945, München u. a. 1988, 191; Tetzlaff, Walter, Art. Kellermann, Benzion, in: ders., 2000 Kurzbiographien bedeutender deutscher Juden des 20. Jahrhunderts, Lindhorst 1982, 172; Heuer, Renate, Bibliographia Judaica. Verzeichnis jüdischer Autoren deutscher Sprache, Bd. 1, Frankfurt a. M. u. New York 1982, 209; o. Verf., Art. Kellermann, Benzion, in: The Universal Jewish Encyclopedia 6 (1948), 358; Suler, Bernard, Art. Kellermann, Benzion, in: EJ 10 (1971), 900 (unverändert übernommen in: 2EJ 12 [2007], 70); Posner, Arthur B., Art. Kellermann, 2. Benzion, in: JL 3 (1928), 652; Wininger, Salomon, Art. Kellermann, Benzion, in: ders., Große jüdische National-Biographie, Bd. 3, Reprint der Ausg. Czernowitz 1928, Nendeln 1979, 434; ders., Art. Kellermann, Benzion, in: Große jüdische National-Biographie, Bd. 7: Nachträge und Anhang, Reprint der Ausg. Czernowitz 1936, Nendeln 1979, 166; Lippe, Chaim David, Art. Kellerman [sic], Benzian [sic], in: ders., Bibliographisches Lexicon der gesammten jüdischen und theologisch-rabbinischen Literatur der Gegenwart mit Einschluss der Schriften über Juden und Judentum, Neue Serie: Erster Band, Reprint der Ausg. Wien 1899, Bibliothek des deutschen Judentums. Abteilung 1: Quellensammlungen, Lexika, Bibliographien, Zeitschriften, Hildesheim/Zürich/New York 2003, 202. 37 Vgl. dazu Kap. I.3 bzw. II.4.2 der vorliegenden Arbeit. 38 Sieg, Ulrich, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Studien und Materialien zum Marburger Neukantianismus, Bd. 4, Würzburg 1994, 258.

Quellen und Archive

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sophen Cohen und Kellermann und weitere jüdische und christliche Gelehrte beteiligten. Hierbei geht Sieg etwas genauer auf die Troeltsch-Replik Kellermanns ein, gibt aber keine weiteren Auskünfte zu Leben und Werk.39 Darüber hinaus wurde die Debatte in etlichen weiteren Monografien und Aufsätzen untersucht, die in Kapitel II.4.4 dargestellt werden. Der Judaist Christian Wiese hat sich 1999 in seiner Darstellung des Verhältnisses von protestantischer Theologie und Wissenschaft des Judentums im Deutschen Kaiserreich an einigen Stellen mit dem Werk Kellermanns beschäftigt.40 Wiese erkennt korrekt die radikale Kellermannsche Auffassung von dem in seinen Augen erstarrten Ritual- und Kultgesetz, geht kurz auf dessen Vorstellungen von der historisch-kritischen Bibelexegese und Kritik an Benno Jacob (1862–1945) ein und erwähnt das Mitwirken in der Debatte um die Propheten.

3. Quellen und Archive Obwohl Nachrufe immer geschönt sind und die Gefahr der hagiografischen Verzerrung beinhalten, stellen die zahlreichen Nekrologe auf Kellermann in zumeist jüdischen Periodika eine wichtige Quelle für die Beschreibung seiner Persönlichkeit und seines Wirkens dar. Sie wurden kritisch untersucht und die in ihnen enthaltenen Informationen, sofern möglich, mit anderen Dokumenten verglichen. Die Jüdisch-liberale Zeitung druckte 1923 nicht nur Leo Baecks Grabrede auf den Verstorbenen41, sondern auch einen umfassenden Nachruf des engen Freundes Hans Sachs42. Noch zehn Jahre später, im Juli 1933, erinnerte Sachs mit einem Artikel in der gleichen Zeitschrift an Kellermann.43 Er berichtet natürlich aus der Perspektive einer jahrelangen Freundschaft, wodurch für Kritik freilich kein Raum bleibt. Während also hier die Lobrede auf Kellermanns religions39 Ders., Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001, 217–231. 40 Wiese, Christian, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland: ein Schrei ins Leere?, SchrLBI, Bd. 61, Tübingen 1999, 162f, 186f u. 205. 41 Baeck, Rabbiner Dr. Kellermann zum Gedenken. – Das handschriftliche Manuskript Baecks liegt im LBI New York: Eulogy for Benzion Kellermann, 27. 6. 1923, AR 66, Subgroup VIII: Addenda, 1921–2001, Series 1, Box 5, Folder 5/5. Die Rede in geringfügig abweichender Form und mit fremder Unterschrift findet sich in: [Ms] Nachruf des Herrn Dr. Baeck, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl. Kellermann, Henry J., [Ts] Five Germanys. An Eyewitness Account, Bethseda, MD 1988, USHMMAWashington, 2007.96, Box 17, Series 13, Folder 2 u. 3, 17 geht davon aus, dass dieses Ms die Handschrift von Baecks Frau trägt. 42 Sachs, Hans, Rabbiner Dr. Kellermann zum Gedenken, in: JLZ Nr. 25 vom 18. 7. 1923, 2. – Im Interview mit Kellermanns Sohn Ernst W. Kellermann am 14. 05. 2011 in London, teilte dieser dem Verfasser mit, dass sich Hirsch Sachs selbst als Hans Sachs bezeichnete. 43 Sachs, Hans, Wege ins Neuland. In Erinnerung an Rabbiner Dr. Benzion Kellermann bei der zehnten Wiederkehr seines Todestages (22. Juni 1923), in: JLZ Nr. 7 vom 01. 07. 1933, 6.

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philosophische Werke außer Acht gelassen werden kann, und diese in der vorliegenden Arbeit selbst intensiv diskutiert werden, konnten dem Text nach archivalischer Überprüfung wichtige Informationen zu dessen Lebensweg entnommen werden. Auch der Lehrer- und Rabbinerkollege Julius Galliner, der am 27. Juni 1923 die Trauerrede in Kellermanns Synagoge in der Lützowstraße 16 in Berlin hielt, verfasste in derselben Zeitung einen Nachruf.44 Aber nicht nur in liberalen Zeitschriften45, sondern auch in dem sich als neutral verstehenden Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin46 und in orthodoxen Periodika gab es kurze Nachrufe oder Notizen, wie die Juli-Ausgabe des Israeliten47 beweist. Die nichtjüdischen Publikationen, in denen Nachrufe oder Notizen erschienen, waren die Kant-Studien48, die Vossische Zeitung49 und das Berliner Tageblatt50. Wichtige biografische Informationen konnten der Promotionsakte Benzion Kellermanns entnommen werden, die im Universitätsarchiv Gießen aufbewahrt wird.51 Ferner wurde der Nachlass Kellermanns ausgewertet, den seine 1939 vor den Nationalsozialisten nach Großbritannien geflohene Witwe Thekla Kellermann, geb. Lehmann, mit sich nahm und in Sicherheit brachte. Nach ihrem Tod 1964 nahm der Sohn Ernst Walter Kellermann einen Teil der Dokumente an sich und brachte sie 1980 in das Archiv des Leo Baeck Institute in New York City. Die dort unter der Signatur AR 1197 liegende Benzion Kellermann Collection (BKC) enthält den unveröffentlichten Vortrag „Was ist ser [sic!; der] heutige jüdische Liberalismus und was sollte er sein?“52, ferner aufschlussreiche Briefe von Cohen an Kellermann zwischen 1905 und 1914. Leider konnten im Hermann-CohenArchiv in Zürich keine Antwortbriefe Kellermanns ausfindig gemacht werden. 44 Galliner, Julius, Worte, gesprochen bei der Übergabe des Denksteins Dr. Benzion Kellermanns an dessen Angehörige, in: JLZ Nr. 33 vom 26. 9. 1924, 5. Die Trauerrede findet sich: LBI New York, AR 1197. 45 Vgl. CV-Zeitung Nr. 28 vom 12. 7. 1923, 230; MJRGB 6/5 (1923), 8; Lilienthal, Arthur, Rabbiner Dr. Kellermann zum Gedächtnis, in: MARGE 5/5 (1923) [=Beilage der JLZ Nr. 26 vom 7. 8. 1923], 3f; Dienemann, Max, Benzion Kellermann zum Gedächtnis, in: Die Wahrheit Nr. 12 vom 21. 3. 1924, 4f; Gottschalk, Benno, [Nachruf] Rabbiner Dr. Benzion Kellermann, in: IFH vom Juli 1923, Zeitungsausschnitt in: LBI New York, AR 1197, o. S. 46 Vgl. Baeck, Leo, [Nachruf] Rabbiner Dr. Kellermann, in: GJB 13/5–7 (1923), 31 (mit falschem Todesdatum: 29. 6. 1923); o. Verf., Aus der Repräsentantenversammlung vom 2. Juli 1923, in: GJB 13/8 (1923), 45f, hier: 46. – Die Todesanzeige für den „trefflichen Lehrer und Forscher“ findet sich: GJB 13/5–7 (1923), 38. 47 O. Verf., [Notiz zu Kellermanns Tod], in: Israelit Nr. 29 vom 19. 7. 1923, 6. 48 Liebert, Arthur, Benzion Kellermann †, in: KantSt 28 (1923), 486–490. 49 O. Verf., [Kurznotiz] Rabbiner Dr. Kellermann gestorben, in: Vossische Zeitung Nr. 296 vom 25. 6. 1923 [Abendausgabe], 4. 50 O. Verf., [Notiz zu Kellermanns Tod], in: Berliner Tageblatt Nr. 295 vom 26. 6. 1923, o. S. 51 UA Gießen, Promotionsakte Benzion Kellermann, Phil Prom Nr. 52. 52 Kellermann, Benzion, Was ist ser [sic] heutige jüdische Liberalismus und was sollte er sein?, undatiert, LBI New York, AR 1197, 4 Bl.

Quellen und Archive

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Denn der Nachlass Cohens, zu dem sie gehören, wurde nach der Deportation und Ermordung von Cohens Frau Martha 1942 von den Nationalsozialisten höchstwahrscheinlich vernichtet oder ging verloren.53 Die Sammlung enthält weiterhin Briefe Paul Natorps, die erwähnten Nachrufe und Trauerreden von Baeck und Galliner, sowie Kondolenzbriefe von Baeck, Cassirer, Vogelstein, Guttmann und anderen an die Witwe Thekla Kellermann. Obwohl in diesem Zusammenhang natürlich immer gefragt werden muss, aus welchen Gründen in einem Brief diese und nicht andere Informationen bereitgestellt werden und die Intention des Verfassers oder der Verfasserin kritisch untersucht werden muss, sind die zahlreichen Briefe an ihn und die Kondolenz an seine Frau Thekla Kellermann wichtige Quellen für die vorliegende Arbeit. Denn besonders über sie werden die persönlichen Beziehungen, also die Konstellationen und Netzwerke deutlich, in denen sich Kellermann bewegte. Der andere Teil des Nachlasses befindet sich ebenfalls in New York City, im Privatbesitz von Susan Kellermann, der Enkelin von Benzion Kellermann und Tochter von dessen erstem Sohn Heinz Josef. Hier konnte der Verfasser gänzlich unbekannte persönliche und fachliche Dokumente auswerten, unter anderem die Grabrede auf Hermann Cohen, Verträge mit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Korrespondenzen und Rezensionen zu seinen Werken. Ferner unveröffentlichte Abhandlungen und Predigten als auch Manuskripte von einigen veröffentlichten Texten, die in Form und Inhalt divergieren. Diese Funde bestätigen erneut das Bild eines umtriebigen Gelehrten, der sich in der Nachfolge Cohens in seinem ganzen Denken und Wirken der Synthese aus prophetischem Judentum und Kantischer Philosophie verschrieben hatte. Bedeutende Funde konnten zudem in den Beständen der National Library of Israel und in den Central Archives for the History of the Jewish People, beide in Jerusalem, gemacht werden. In den ersteren erhielten sich unter anderem Belege für Kellermanns editorisches und inhaltliches Mitwirken an den Festschriften zum 70. Geburtstag Hermann Cohens 1912 und entscheidende Hinweise zu seiner Übersetzung des mittelalterlichen Religionsphilosophen Gersonides und den damit verbundenen Querelen um die Besetzung des vakanten Lehrstuhls für jüdische Religionsphilosophie an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Im letzteren Archiv fanden sich weiterführende Informationen zu Kellermanns Engagement für die jüdische Gemeinde in Konitz, zu seinem Wirken als Lehrer sowie zu den Mitgliedschaften in verschiedenen Vereinen und Gesellschaften seit seiner Studentenzeit in Berlin. Mit dem ehemaligen Physiker Ernst Walter Kellermann (1915–2012), dem zweiten Sohn von Benzion und Thekla Kellermann, stand der Verfasser seit 2010 in Kontakt und erhielt zusätzlich durch ein Interview am 14. Mai 2011 in London 53 Information vom Leiter des Cohen-Archivs, Hartwig Wiedebach, vom 1. 2. 2011.

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wertvolle Informationen über den Vater und die Familie. Ferner verfasste er 2004 seine Autobiografie A Physicist’s Labour in War and Peace. Memoirs 1933–1999, die ebenfalls in Teilen über seine Familie und seine Emigration nach England berichtet.54 Weiterhin überließ er Fotokopien der Eltern, eine Kopie des Familienstammbuchs und einen 1988 verfassten Überblick über das Leben des Vaters. Sein Bruder Heinz Josef Kellermann (1910–1998), der nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten in die USA 1937 als Diplomat in Europa wirkte (und seinen Namen in Henry Joseph anglisierte), verfasste neben zeitgenössischen Artikeln und biografischen Essays im Leo Baeck Institute Yearbook auch Erinnerungen an seine Zeit im Berlin des Kaiserreichs und der Weimarer Republik.55 Dieses unveröffentlichte Manuskript mit dem Titel „…And not to Yield“, das er Anfang der 1980er Jahre in Washington für seine eigene Familie schrieb und spätestens im November 1983 abschloss,56 bildet den ersten Teil seiner ebenfalls unpublizierten Memoiren. Diesen 1988 abgefassten und weit über 400 Seiten umfassenden Erinnerungen gab er zwanzig Jahre vor der nahezu gleichnamigen Autobiografie des Historikers Fritz Stern den treffenden Titel Five Germanys und sie werden neben seinem restlichen Nachlass im United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. aufbewahrt.57 Aus den Erinnerungen und den Archivalien der Henry J. Kellermann Collection konnten für die vorliegende Arbeit wertvolle Informationen über die Persönlichkeit, die Religiosität und das Denken Benzion Kellermanns sowie über die Familien Kellermann und Lehmann gewonnen werden. Uri Kellermann aus Israel, dessen Urgroßvater Seligmann Pinchas ein Onkel von Benzion Kellermann war, überließ dem Verfasser einen detaillierten Stammbaum der Familie, der bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht und eine große jüdische Familie in Süddeutschland über viele Generationen hinweg

54 Kellermann, Ernst W., A Physicist’s Labour in War and Peace. Memoirs 1933–1999, Peterborough 2004. 55 Aus Respekt gegen die in bedrückender Zeit vorgenommene Namensänderung und der besseren Lesbarkeit willen, wird in vorliegender Arbeit durchgängig der Name Henry benutzt. 56 Kellermann, Henry J., [Ts]„…And not to yield“, undatiert, Privatbesitz Ernst W. Kellermann (Kopie in Privatbesitz des Verf.). Zum Jahr 1983: Auskunft von Ernst W. Kellermann, 4. 8. 2011. 57 Kellermann, Henry J., [Ts] Five Germanys. An Eyewitness Account, Bethseda, MD 1988, USHMMA Washington, 2007.96, Box 17, Series 13, Folder 2 u. 3 (im Folgenden: Five Germanys). Besonders die Kapitel 1 („Life and Death of a Family“, 1–45) u. 2–3 („Berlin and Weimar Germany One and Two“, 46–150) sind für die vorliegende Arbeit relevant. Da diese Version mit dem Text von „…And not to Yield“ nicht immer übereinstimmt, werden im Folgenden beide Manuskripte verwendet. – Fritz Stern veröffentlichte Five Germanys I have known im Jahr 2006.

Methodik

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zeigt.58 Der Stammbaum wurde vom Verfasser mit regionalen Archiven in Deutschland kritisch abgeglichen und für die Darstellung der Familiengeschichte verwendet.

4. Methodik Das Genre der Biografie galt im deutschsprachigen Raum lange Zeit als „der Bastard der Geisteswissenschaften“, dem vorgeworfen wurde, keinen stabilen theoretischen Überbau zu haben und deshalb unwissenschaftlich zu sein.59 Trotz der teilweise anhaltenden Kritik und der Gefahr, „akademischen Selbstmord“60 zu begehen, konnte sich das biografische Schreiben dennoch in den letzten Jahrzehnten innerhalb der deutschen Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaft fest etablieren,61 wozu vor allem zwei Entwicklungen beigetragen haben. Zum einen sollte eine Biografie immer interdisziplinär angelegt und geschrieben werden, was ihre Attraktivität besonders in den Augen der Kulturwissenschaften enorm erhöhte.62 Zum anderen gibt es zweifellos Methoden, die die Lebensbeschreibung auch in wissenschaftlichen Kreisen – und nicht nur populärwissenschaftlichen, in denen die Biografie seit jeher ein Bestseller ist – salonfähig machte. Die vorliegende Darstellung des Lebens und Wirkens von Benzion Kellermann maßt sich nicht an, auf naive Art und Weise einen Lebenssinn zu suggerieren oder alle seine Handlungen und Aktivitäten in völliger Transparenz nachvollziehen und erklären zu können. Denn dem steht nicht nur der Mangel an Ego-Dokumenten wie Tagebüchern oder Briefen aus seiner Feder entgegen, die auf ihre Intentionen hin ebenfalls kritisch zu lesen sind,63 sondern auch der simple, aber folgenreiche Fakt, dass kein Autor einem anderen Menschen ,hinter die Stirn schauen kann‘. Eine Biografie kann demnach immer nur die Annäherung an das Leben einer anderen Person sein, eine von vielen verschiedenen Möglichkeiten der Erzählung desselben Lebens. In diesem Zusammenhang darf 58 Kellermann, Uri, [Ts] Kellermann Family Tree, 3 Bl., Nof Ayalon, 9. 1. 2011 (Kopie in Privtbesitz des Verf.). 59 Klein, Christian, Einleitung: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: ders. (Hg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart/Weimar 2002, 1–22, hier : 1. – Im französischen und anglo-amerikanischen Raum sind Biografien hingegen hoch anerkannt (vgl. ebd., 16). 60 Vgl. Bair, Deirdre, Die Biografie ist akademischer Selbstmord, in: Literaturen 7/8 (2001), 38f. 61 Vgl. Etzemüller, Thomas, Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Historische Einführungen, Bd. 12, Frankfurt a. M./New York 2012, 10–15. 62 Vgl. Klein, Einleitung, 2. 63 Vgl. dazu Etzemüller, Biographien, 62–72.

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die Gefahr, durch die gewählte Erzählung „die Lücken zu überspielen, die die Dokumentation des Lebens hinterlassen hat“64, nicht beiseite gewischt, sondern muss ernst genommen werden. Ansonsten besteht die Gefahr, wie Christian Buckard zu Recht schreibt, „vom Biographen zum Romancier und selbst ernannten Psychologen zu mutieren.“65 Die vorliegende Biografie Kellermanns weiß darum, dass sich das Leben nicht einfach ereignet, sondern vom jeweiligen Subjekt und dessen Umwelt, die sich gegenseitig beeinflussen, gestaltet und somit konstruiert wird. Diese Erkenntnis verdankt sich den soziologischen, anthropologischen und kulturgeschichtlichen Theorien über Subjektivität, Individualität und Personalität in den letzten Jahrzehnten als auch der jüngeren neurobiologischen Forschung. Demnach können, wie dies Michel Foucault und Pierre Bourdieu in ihren beinahe schon klassischen Studien herausarbeiteten, „das“ Subjekt und „die“ Umwelt nicht mehr als feste, sich abgegrenzt gegenüberstehende Entitäten begriffen werden, sondern sie sind fragmentiert, in sich vielschichtig und konstruieren sich interaktiv.66 Hinzu kommt, dass auch der Autor und dessen Leser das zu beschreibende Leben „gestalten“, das heißt konstruieren: Aus den vorhandenen Quellen werden „Lebensläufe in Biographien transformiert“, was deshalb vielfältigste Darstellungsmöglichkeiten bietet.67 Der Biograf muss sich dieser Erkenntnisse stets bewusst sein und in seiner Arbeit, die paradoxerweise doch eine durch einen Eigennamen bezeichnete Entität – Benzion Kellermann – zu ihrem Gegenstand hat, mit ihnen kritisch und kreativ umgehen.68 Eine der strategisch wichtigsten Entscheidungen ist dabei, wie der Narrativ auf der Zeitachse angeordnet wird. In einem für die Biografieforschung schon klassisch gewordenen Text gab Bourdieu in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass die chronologische Erzählung eines fremden Lebens der Versuchung erliege, einzelne Details finalistisch und damit rundweg falsch zu deuten: Das Ergebnis wäre dann die biographische Illusion.69 Trotz der nicht nur bei Bourdieu, sondern auch in der gegenwärtigen litera64 Alt, Peter-Andr¦, Mode ohne Methode? Überlegungen zu einer Theorie der literaturwissenschaftlichen Biographik, in: Klein (Hg.), Grundlagen der Biographik, 23–39, hier : 33. 65 Buckard, Christian, Über biografisches Schreiben, in: Klein, Birgit E./Müller, Christiane E. (Hg.), Memoria – Wege jüdischen Erinnerns. Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, 531–538, hier : 537. 66 Dies ist sehr gut aufgearbeitet bei: Etzemüller, Biographien, 19–21; 49–55, 153–167. Vgl. zum fragmentierten bzw. „segmentierten Ich“ auch aktuell: Theweleit, Klaus, Wer sind wir noch? Neueste Nachrichten von der Ich-Front, 26. 5. 2015, URL: http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/geisteswissenschaften/identitaet-im-digitalen-zeitalter-13597214.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2, abgerufen am 31. 5. 2015. 67 Etzemüller, Biographien, 8f (Hrvh. im Orig.). 68 Vgl. zum „biographischen Paradox“ ebd., 153–169. 69 Bourdieu, Pierre, Die biographische Illusion (1990), in: ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998, 75–83.

Methodik

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turwissenschaftlichen Diskussion über Biografik, zu beobachtenden Abneigung gegen die Darstellung eines Lebensweges von der Wiege bis zur Bahre,70 verfährt die vorliegende Arbeit dennoch bewusst chronologisch. Denn zum einen kennt, wie Mirjam Zadoff in ihrer Biografie über Werner Scholem (1895–1940 KZ Buchenwald) zu Recht betont, der Biograf „[i]m Gegensatz zu seinen Protagonisten […] den Ausgang der Geschichte und muss darauf bedacht sein, ein Leben nicht von seinem Ende her zu interpretieren oder diesem Leben mit Blick auf Erfolge und Misserfolge ein allzu früh ausgemachtes Muster einzuschreiben.“71 Zum anderen liegt die chronologische Darstellung in der völligen Vergessenheit Kellermanns in der Forschung begründet. Erscheint es bei Biografien über bekannte Personen wie Goethe oder Beethoven aufgrund der Fülle an vorhandenen Lebensbeschreibungen attraktiv, durch eine thematische Strukturierung neue Wege zu beschreiten,72 ist dieses Konzept für die vorliegende Arbeit unergiebig. Um das Leben Kellermanns zum ersten Mal umfassend nachzeichnen zu können, wird hier in die chronologische Erzählung seiner Lebens- und Familiengeschichte die Analyse und Interpretation seines reichen Gesamtwerks integriert, das aus Monografien, Aufsätzen, Essays, Zeitschriftenartikeln, Vorträgen und Predigten besteht. Der gewählte Narrativ wird dabei immer wieder um Analysen einzelner historischer, sozio-kultureller, philosophischer und religiöstheologischer Ereignisse und Phänomene ergänzt, wodurch eine facettenreiche, „multiperspektivische Darstellung“73 der Person ermöglicht wird. Als intellektuelle Biografie ist die vorliegende Arbeit von dem Ansatz der interdisziplinär arbeitenden Ideengeschichte geprägt, die „den Zusammenhang zwischen den Ideen und der Geschichte, auf die sie rekurrieren, zusammenbringt“.74 Gedanken und ihre Verschriftlichung in Texten entstehen nicht im abstrakten Raum, weshalb die Arbeit die Zeit und den Ort, das heißt den Entstehungszusammenhang des Kellermannschen Denkens aufzeigen wird. Da Ideen zudem nie folgenlos sind und somit selbst Geschichte prägen, werden auch die Konsequenzen von Kellermanns Meinungen, Annahmen und Überzeugun70 71 72 73

Vgl. Klein, Einleitung, 12f. Zadoff, Mirjam, Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem, München 2014, 30. Vgl. Klein, Einleitung, 13. Vgl. dazu Meier, Christian, Von der Schwierigkeit ein Leben zu erzählen. Zum Projekt einer Caesar-Biographie, in: Kocka, Jürgen/Nipperdey, Thomas (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, Beiträge zur Historik, Bd. 3, München 1979, 229–258, hier : 230. 74 Vgl. überblickend und einleitend zur Ideengeschichte Dorschel, Andreas, Ideengeschichte, Göttingen 2010 sowie Rorty, Richard/Schneewind, Jerome B./Skinner, Quentin (ed.), Philosophy in History. Essays on the Historiography of Philosophy, Cambridge 1984. Publikationsorgane der Ideengeschichte sind u. a. das Journal of the History of Ideas (1940ff) und die deutschsprachige Zeitschrift für Ideengeschichte (2007ff). – Zitat: Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz, 15.

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gen, etwa in Form der zeitgenössischen Rezeption oder bewussten Nicht-Rezeption, in den Blick genommen. Die Studie verfolgt nicht das Ziel, dessen Ideen als „wahr“ zu erweisen,75 sie will diese auch nicht revitalisieren, sondern sie sollen überhaupt erst einmal wieder an die Oberfläche gebracht und damit lesbar gemacht werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass zukünftiger Forschung nicht Anregung gegeben werden soll, sich analysierend und interpretativ mit den Texten Kellermanns zu beschäftigen. Um eine umfassende Biografie des liberaljüdischen Religionsphilosophen schreiben zu können, wurde ferner ein Konzept aufgenommen, das Thomas Meyer in seinem Aufsatz „Konstellationen, Kontexte und Netzwerke“ mit dem Begriff der Nebenstraßen bezeichnet hat.76 Es fordert, dass in der Untersuchung der deutsch-jüdischen Geschichte und der jüdischen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert die Nebenstraßen erforscht werden müssen, um ein genaueres und zutreffenderes Bild der Vielfältigkeit jüdischen Philosophierens zu erlangen. Nebenstraßen verweisen hierbei in zwei Richtungen: Zum einen bei der Behandlung schon stark rezipierter Philosophen wie Cohen oder Cassirer. Auch hier sind noch unbekannte Wege zu beschreiten, indem auf die vernachlässigten Netzwerke geschaut wird, in denen diese Personen verkehrten. Die Netzwerkforschung – zu der die Gruppen, Institutionen und Organisationen in den Blick nehmende Soziale Netzwerkanalyse77 und die auf Wechselwirkungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Objekten bzw. Konzepten, Ideen und Ereignissen abhebende Akteur-Netzwerk-Theorie78 gehört – ist in den letzten Jahrzehnten in den Sozial- und Kulturwissenschaften immer wichtiger geworden und sollte auch in den Jewish Studies angewendet werden. Das gilt insbesondere für biografische Arbeiten, die die Verortung des/ der jeweiligen Protagonisten in den verschiedenen Netzwerken wie Familie, Vereine, Universitäten etc. sichtbar machen sollte, wie dies zuletzt Mirjam

75 Unter welchen Bedingungen Ideen, die er vornehmlich in Sprechakten sucht und analysiert, als „wahr“ gelten, untersucht intensiv Quentin Skinner, u. a. in: Visions of Politics. Vol. 1: Regarding Method, Cambridge 2002. 76 Meyer, Thomas, Konstellationen, Kontexte und Netzwerke – ein Vorschlag zur Erforschung jüdischer Philosophie zwischen 1900 und 1933, in: Transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien 6/1 (2005), 9–39. 77 Vgl. einleitend Holzer, Boris, Netzwerke, Einsichten, Bielefeld 22010 und die Aufsätze in Stegbauer, Christian (Hg.), Netzwerkanalyse und Netzwerktheorie. Ein neues Paradigma in den Sozialwissenschaften, Wiesbaden 22010. 78 Die seit den 1980er Jahren entwickelte Akteur-Netzwerk-Theorie wird vor allem mit den Arbeiten Bruno Latours, Michel Callons, John Laws und Madeleine Akrichs identifiziert. Vgl. überblickend Latour, Bruno, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007; Belligér, Andrea/Krieger, David J. (Hg.), ANThologie. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006.

Methodik

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Thulin in ihrer Studie über das „jüdische Gelehrtennetzwerk“ David Kaufmanns (1852–1899) präzise unternahm.79 Die beiden genannten Philosophen Cohen und Cassirer waren in verschiedene jüdische soziale und wissenschaftliche Vereine eingebunden, standen mit noch unbekannten Personen in Kontakt, schrieben unbekannte Artikel in kaum bekannten jüdischen Periodika. All dies muss analysiert werden, um ein detaillierteres Bild des jeweiligen Philosophen gewinnen zu können. Zum anderen kann noch eine große Anzahl an jüdischen Philosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts als unentdeckte Nebenstraße gelten, deren Erforschung einen gewichtigen Beitrag zum heterogenen Bild der deutsch-jüdischen Philosophie liefert. Auch diese Personen müssen dann umfassend in ihren Netzwerken untersucht werden, um angemessen verstanden und eingeordnet werden zu können. Benzion Kellermann ist hierfür ein Musterbeispiel, kann er doch heute als eine solche Nebenstraße gelten, obwohl er zu seiner Zeit ein wichtiger Akteur des deutschen und v. a. Berliner liberalen Judentums, der neukantianischen Philosophie und einer der engsten Vertrauten Hermann Cohens war. Anhand der Beschreibung seines Lebens werden auch bestimmte „(kultur-)historische oder mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen qua Konkretion verdeutlicht“80 : Die Verortung Kellermanns in seiner Zeit unter genauer Analyse der historischen Ereignisse, Vereinigungen, Organisationen, persönlichen Beziehungen, Briefwechsel etc., die ihn prägten, aber die auch er selbst wiederrum beeinflusste, formt nicht nur einen differenzierten Blick auf seine Person, sondern auch auf die mit ihm in Kontakt stehenden Menschen, die dann als Knotenpunkte verschiedener Netzwerke beschrieben werden können. In seinem Leben spiegeln sich die Geschichte seiner Generation und die Geschichte verschiedener Milieus, weshalb durch die vorliegende Biografie ein ganzes Bündel neuer Informationen über deutsch-jüdisches Leben und Denken von der Kaiserzeit bis in die Weimarer Republik erschlossen werden kann.

79 Thulin, Mirjam, Kaufmanns Nachrichtendienst. Ein jüdisches Gelehrtennetzwerk im 19. Jahrhundert, Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. 16, Göttingen 2012. – Vgl. zu Netzwerken und Wissenschaft des Judentums auch Kap. I.2.5.2 der vorliegenden Arbeit. 80 Klein, Einleitung, 4.

I. Von Gerolzhofen nach Konitz

1. Jugend und Ausbildung in Unterfranken 1.1 Familie und Erziehung Am 27. Juni 1923 hielt der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin Julius Galliner in der vollbesetzten Synagoge Lützowstraße 16 die Trauerrede auf seinen fünf Tage zuvor verstorbenen Kollegen und engen Freund Benzion Kellermann, in der er in warmen Worten dessen Leben noch einmal Revue passieren ließ. Kellermann sei in „einem frommen Familienhause, in dem die Liebe zur Thora und die überlieferte Frömmigkeit die Seele und den warmen Lebensodem der Familie bildeten“ aufgewachsen.1 Obwohl er sich später als einzig bekanntes Familienmitglied radikal von der überlieferten jüdischen Lebensweise abkehrte und dem liberalen Judentum zuwandte, trug diese traditionelle Erziehung, in der das Studium des jüdischen Schrifttums grundlegend war, dazu bei, sein Interesse an der jüdischen Religion und generell an theologischen und philosophischen Fragestellungen zu wecken. Dies führte schließlich zu einer fünfunddreißigjährigen Laufbahn als Religionslehrer, Rabbiner und Philosoph, die nur durch seinen frühzeitigen Tod abgebrochen wurde. Das vorliegende Kapitel setzt sich mit der Familiengeschichte Kellermanns und seiner Ausbildung zum Volksschul- und Religionslehrer auseinander und zeigt eine typische Sozialisation innerhalb einer von der Orthodoxie beeinflussten jüdischen Landgemeinde im Deutschen Kaiserreich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Benzion Kellermann wurde in der unterfränkischen Heimat, in der es mehr Juden und jüdische Gemeinden als irgendwo sonst in Bayern gab,2 durch seine Eltern in der überlieferten Tradition erzogen, wozu unter 1 Galliner, Julius, Rede bei der Trauerfeier für den verewigten Rabbiner Dr. Kellermann am 27. Juni 1923 in der Synagoge Lützowstraße, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 5 Bl., hier : Bl. 2. Vgl. auch Sachs, Rabbiner Dr. Kellermann zum Gedenken. 2 Vgl. Schwierz, Israel, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, München 21992, 13–15.

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Von Gerolzhofen nach Konitz

anderem die strikte Einhaltung der Speise- und Schabbatvorschriften gehörte.3 Er besuchte die christliche Volksschule seines Heimatortes, erhielt jüdischen Religionsunterricht durch seinen Vater und ließ sich als junger Erwachsener an den zwei ebenfalls in Unterfranken gelegenen Lehrerseminaren in Höchberg und Würzburg zum Religionslehrer ausbilden. Die Nachzeichnung dieser ersten prägenden Lebensjahre und des spezifischen Milieus ist vor allem deshalb von Gewicht, da er zunächst bis Anfang der 1890er Jahre auf diesen neoorthodoxen Spuren wandelte. Aber spätestens mit dem Wechsel vom orthodoxen Rabbiner-Seminar in Berlin an die ebenfalls in der Hauptstadt gelegene Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1897 hatte er diesen Weg verlassen und mit der Ausübung der jüdischen Tradition, wie sie ihm von Kindesbeinen an vermittelt worden war, gebrochen. Kellermann wurde ein Anhänger des Reformjudentums und über Jahrzehnte hinweg einer seiner schärfsten Verteidiger gegenüber der Orthodoxie und dem Zionismus. Darüber hinaus stritt er in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts auch mit Vertretern der christlichen Theologie, die die jüdische Religion als durch das Christentum ersetzt betrachteten. Er verteidigte seine Auffassung von Judentum stets gegen Angriffe sowohl von „außen“ als auch von „innen“. Sein Vater Joseph Löb Kellermann wurde am 10. März 1832 als drittes von insgesamt sechs Kindern in Fuchsstadt geboren.4 Nach dem Besuch der Volksschule und des jüdischen Religionsunterrichts kam er mit 17 Jahren Ende 1849 als „israelitischer Schullehrling“ nach Würzburg.5 Während sein Sohn Benzion später eine andere Art der pädagogischen Ausbildung erfuhr, wurde im Königreich Bayern bis zum Jahr 1866 die „Schullehrlings-Methode“ angewandt. Nach dem Abschluss der siebenten Volksschulklasse mit etwa 13 Jahren, blieben talentierte Schüler, die den Lehrerberuf ergreifen wollten, noch drei bis vier Jahre an ihrer Schule, wo sie einem erfahrenen Lehrer als Hörer und Assistenten zugewiesen wurden, um das Curriculum und die Lehrmethoden zu verinnerlichen. Im Alter von 17 oder 18 Jahren besuchten sie ein abschließendes Seminar, wo sie mit den Prüfungen ihr „Austritts-Examen“ erlangen konnten. Danach wurden die jungen Lehrer in den Schuldienst aufgenommen, wobei die Probezeit noch einmal vier bis fünf Jahre betrug.6 Joseph Kellermann muss solch 3 Bei seinem Sohn Kellermann, Henry J., [Ts] Religion – In Action or Inaction, a personal statement delivered on March 12, 1986 at the Catholic-Jewish Dialogue, USHMMA Washington, 2007.96, Box 15, Series 12, Folder 11, 2 heißt es: „My grandfather’s home […] was orthodox on my father’s side. Dietary laws and the Sabbath were strictly observed.“ 4 Trauungsregister der jüdischen Gemeinde Heidingsfeld 1811–1875, BStAWürzburg, Jüdische Standesregister 41, 217. – Sofern für die folgenden Angaben keine offiziellen Akten vorlagen, beruhen sie auf: Kellermann, Uri, Family Tree. 5 Einwohnermeldebogen Joseph Löb Kellermann, 1853, StadtA Würzburg, Einwohnermeldebögen, jüngere Serie 1850–1920. Dort wird als Datum der 24. 10. 1849 angegeben. 6 Vgl. zur „Schullehrlings-Methode“: Kaufmann, Walter H., A History of the Jewish Teachers

Jugend und Ausbildung in Unterfranken

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ein staatliches Lehrerseminar, möglicherweise das „Königliche Schullehrerseminar“ in Würzburg, erfolgreich abgeschlossen haben, denn er wird in einem Dokument aus dem Jahr 1865 als „geprüft“ bezeichnet.7 1854 reiste er nach Ungarn, um als „Rabbinatskandidat“ an der weltberühmten Jeschiwa in Preßburg (Bratislava) zu studieren.8 Diese atmete in Fortführung der Anschauungen ihres ehemaligen Leiters Chatam Sofer (1762–1839), von dem der Satz „Das Neue ist verboten“ überliefert ist, einen zutiefst reformfeindlichen Geist.9 Dort scheint es Joseph Kellermann, der sich auch profanes Wissen aneignen wollte und dieses Interesse an Benzion und seine anderen Kinder weitergab, nicht lange ausgehalten zu haben, denn spätestens im Januar 1856 war er wieder in Würzburg.10 Der aus einem Levitengeschlecht stammende Rabbinatskandidat besuchte hier die renommierte Talmudschule, die 1813 von dem Oberrabbiner Abraham Bing (1754–1841) gegründet und seit 1840 von dem Distriktsrabbiner Seligmann Bär Bamberger (1807–1878) geleitet wurde.11 Zudem hatte sich Joseph Kellermann im April 1856 an der hiesigen Universität in der philosophischen Fakultät immatrikuliert,12 denn mit dem 1813 erlassenen Bayerischen Judenedikt bestand die Regierung fortan auf einer Ergänzung des jüdischen religiösen Studiums durch wissenschaftliche Bildung an einer Hochschule.13 Die Rabbinatskandidaten studierten in Würzburg in nahezu allen Disziplinen: Medizin, Jura, Orientalische oder Klassische Philologie, Philosophie, Geschichte, Mathematik oder Physik; sogar für christliche Theologie liegen Immatrikulationen jüdischer Studenten vor. Joseph Kellermann hörte

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Seminary in Würzburg (ILBA), in: Ottensoser, Max/Roberg, Alex (Hg.), ILBA. Israelitische Lehrerbildungsanstalt Würzburg. 1864–1938. By the Alumni of 1930–1938, Detroit/Michigan 1982, 25–94, hier: 28. Bestätigung von Joseph Löb Kellermann als Religionslehrer und Vorsänger der Gemeinde Gerolzhofen, 30. 12. 1865 (Abschrift), CJA, 1, 75 B Schw 2, Nr. 60, # 9703, Bl. 77. Einwohnermeldebogen Joseph Löb Kellermann, 1853, StadtA Würzburg, Einwohnermeldebögen, jüngere Serie 1850–1920. Vgl. zu Leben und Werk: Samet, Moshe S., Art. Sofer, Moses, in: 2EJ 18 (2007), 742f. Einwohnermeldebogen Joseph Löb Kellermann, 1853, StadtA Würzburg, Einwohnermeldebögen, jüngere Serie 1850–1920. Vgl. Prestel, Claudia, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804–1933. Tradition und Modernisierung im Zeitalter der Emanzipation, Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 36, Göttingen 1989, 120. – Zu Abraham Bing: Gehring-Münzel, Ursula, Emanzipation, in: Flade, Roland, Die Würzburger Juden. Ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit einem Beitrag von Ursula Gehring-Münzel, 2., erw. Aufl., Würzburg 1996, 61–141, hier: 84–87. Einwohnermeldebogen Joseph Löb Kellermann, 1853, StadtA Würzburg, Einwohnermeldebögen, jüngere Serie 1850–1920; UA Würzburg, ARS 2076. Vgl. dazu Gehring-Münzel, Emanzipation, 86f. Das Edikt trug den Titel: „Edikt vom 10. Juni 1813 über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern“.

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Von Gerolzhofen nach Konitz

während seines Studiums u. a. Pädagogik und Didaktik, praktische Philosophie und allgemeine Geschichte. In der ersten Hälfte der 1860er Jahre war der dreiunddreißigjährige Lehrer dann in die unterfränkische Bezirksstadt Gerolzhofen gekommen, wo neben seiner Verlobten Ella Schüler etwa 50 weitere Juden wohnten.14 Da sein Schwiegervater in spe Israel Michael Schüler das Amt des Religionslehrers und Vorsängers freiwillig niederlegen wollte, hatte die Gemeinde Kellermann die Stelle angeboten. Er nahm an und unterzeichnete im November 1864 den Vertrag mit der Kultusgemeinde. Das obligatorische Ansäßigmachungsgesuch Kellermanns inklusive aller Dokumente15 wurde vom Magistrat positiv beschieden, woraufhin er am 12. Januar 1866 offiziell als Stadtbürger aufgenommen wurde.16 Von nun an bekleidete er mit Erlaubnis der Königlichen Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg das Amt des Religionslehrers, Vorsängers und „Begräbnisaufsehers“ der Kreisstadt.17 Die christlichen Bewohner lebten zumeist von der Landwirtschaft oder als Handwerker, die Gerolzhöfer Juden aufgrund der ehemaligen Berufsbeschränkungen vor allem vom Handel.18 Laut Prestel lag in ganz Franken „der Hopfen-, Getreide- und Viehhandel ausschließlich in den Händen der Juden“19, was auch für Gerolzhofen und Umgebung zutraf. Dass die Juden für die regionale Wirtschaft unverzichtbar waren, wird zudem durch die Tatsache belegt, dass etwa der Magistrat Schweinfurts den zuständigen Distriktsrabbiner jährlich nach den jüdischen Feiertagen befragte, um die Markttage zu planen.20 Bereits Mitte des 14. Jahrhunderts sind Juden in der Stadt nachweisbar,21 die offizielle Erlaubnis zur Niederlassung erteilte Fürstbischof Johann II. von Brunn 1425.22 Da es immer nur wenigen jüdische Familien erlaubt war, dort zu wohnen, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht generell von einer jüdischen Gemeinde gesprochen werden. Erst mit der Errichtung des jüdischen Friedhofs auf dem 14 Vgl. Alicke, Klaus-Dieter, Art. Gerolzhofen, in: LJGDS 1 (2008), 1449–1452, hier : 1449. 15 Unter anderem ein Leumunds- und Vermögenszeugniß (Abschrift), 8. 1. 1866, StadtA Gerolzhofen, A1j253. 16 Beschluss über das Ansäßigmachungs- und Verehelichungsgesuch des Löb Kellermann, 12. 1. 1866, StadtA Gerolzhofen, A1j253. 17 Bestätigung von Joseph Löb Kellermann als Religionslehrer und Vorsänger der Gemeinde Gerolzhofen, 30. 12. 1865 (Abschrift), CJA, 1, 75 B Schw 2, Nr. 60, # 9703, Bl. 77. 18 Vgl. Pfrang, Michael, Die jüdische Gemeinde von Gerolzhofen. Darstellung zu ihrer Geschichte und ihrem Ende, hg. von der Stadt Gerolzhofen und dem Historischen Verein in Gerolzhofen e. V., Gerolzhofen 1985, 5. 19 Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 34. 20 Magistrat der Stadt Schweinfurt an Distriktsrabbiner Moses Lebrecht, 14. 6. 1861, CJA, 1, 75 B Schw 2, Nr. 31, # 9673, Bl. 34; Moses Lebrecht an Magistrat der Stadt Schweinfurt, 16. 6. 1861, ebd. 21 Pfrang, Die jüdische Gemeinde von Gerolzhofen, 3. 22 Alicke, Gerolzhofen, 1449. Zum Folgenden: ebd.

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Kapellenberg im 17. Jahrhundert und der Gründung einer Heiligen Bruderschaft (Chewra Kadischa) 1715 kann von einer jüdischen Gemeinschaft im eigentlichen Sinne gesprochen werden.23 Antisemitische Zusammenstöße vor 1933 sind archivalisch nur für die Jahre 1923 und 1925 überliefert, ansonsten lebte die jüdische Minderheit „friedlich neben der christlichen Gemeinde her. Es gab keine Absonderung, und die Juden wohnten quer über die Stadt verstreut.“24 Die jüdische Gemeinde in Gerolzhofen gehörte mit anderen Landgemeinden wie Brünnau, Frankenwinheim oder Haßfurt seit 1841 zum Rabbinatsdistrikt Niederwerrn, der dann 1864 nach Schweinfurt verlegt wurde. Er unterstand dem Distriktsrabbiner Moses Lebrecht (1808–1890), der die in sein Gebiet fallenden jüdischen Gemeinden der Regierung und ihren einzelnen Amtsstellen gegenüber vertrat.25 In allen Teilen Deutschlands wurden zu jener Zeit Rabbinatsdistrikte geschaffen, um eine strukturelle Ähnlichkeit zu den christlichen Kirchen aufzubauen und dadurch die Verwaltung der jüdischen Gemeinden in Deutschland zu erleichtern. Die meisten bayerischen Juden wohnten zunächst auf dem Land und stellten mit einer Anzahl von zehn bis fünfunddreißig Prozent einen großen Anteil an der Bevölkerung in den kleineren und größeren Ortschaften.26 Lebten 1840 noch 88 Prozent der Juden Bayerns auf dem Land, sank diese Zahl jedoch innerhalb von siebzig Jahren auf 22 Prozent. Die Gründe hierfür liegen im Geburtenrückgang, den Taufen und Austritten, vor allem aber in der eng mit der industriellen Entwicklung verbundenen Abwanderung in die Städte. Dort hofften die Menschen auf eine bessere Arbeit oder Ausbildung und träumten von einem bürgerlichen Leben in Sicherheit und Wohlstand. Die jüdische Gemeinde Gerolzhofens war wie die meisten Landgemeinden in Bayern „streng orthodox“27 geprägt und behielt diesen traditionellen Charakter auch bis zu ihrem gewaltsamen Ende in der Schoa bei. Im Gegensatz zu anderen deutschen Regionen, kam die liberaljüdische Bewegung in Bayern spät und zudem vorrangig in großen Städten wie München, Nürnberg, Fürth, Regensburg oder Bamberg auf.28 Bei den in den Landgemeinden und kleinen Städten le23 Vgl. Pfrang, Die jüdische Gemeinde von Gerolzhofen, 3. 24 Vgl. ebd., 5. – Im März 1923 wurde das Schaufenster des Modegeschäfts von Frieda Lichtenauer eingeschlagen (Auskunft von Matthias Endriß, StadtA Gerolzhofen, 23. 6. 2012). Im Februar 1925 ermordete der jüdische Kaufmannssohn Karl Schwarz das ehemalige Dienstmädchen der Familie Wilhelmine Schleiss, woraufhin die Juden der Stadt verbal und körperlich bedroht wurden. Schwarz wurde zum Tode verurteilt und am 4. September 1925 enthauptet. Vgl. dazu StadtA Gerolzhofen, A1j1225 und Beilage zu A1j1225. 25 Zu Rabbiner Lebrecht und dem Distriktsrabbinat vgl. URL: http://www.alemannia-judaica.de/niederwerrn_synagoge.htm; abgerufen am 20. 03. 2012. 26 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 34. Vgl. zum Folgenden: ebd., 40f. 27 Schwierz, Steinerne Zeugnisse, 10. 28 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 31.

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benden Juden war die Religiosität noch intensiver an die Halacha gebunden und konnten sich Neuerungen, etwa in der Liturgie des Synagogengottendienstes, wesentlich schwerer und nur langsam durchsetzen. Obwohl es wie in ganz Deutschland Konflikte zwischen Orthodoxen und Liberalen gab, wurden diese hier „weniger scharf ausgetragen“29 als etwa in Hamburg oder Berlin, wo es „Reformtempel“ mit Orgel und deutschem Gesang gab. Joseph Kellermann hatte eine traditionelle Erziehung und Ausbildung genossen und wirkte in eben diesem Geist auch in Gerolzhofen. Er erfüllte viele Aufgaben zugleich, denn kleine Gemeinden „mußten sich oft mit einem einzigen religiösen Funktionär behelfen, der gleichzeitig als Lehrer, Vorbeter, Schächter (Schochet) und inoffizielles Gemeindeoberhaupt wirkte“30. Er heiratete 1866 die Tochter seines Vorgängers, Ella Schüler (1848–1873), die mit ihrer Familie in der Schuhgasse 276 wohnte, bis diese kurze Zeit später nach Frankfurt am Main verzog.31 Die Braut brachte mit 3000 Gulden und dem Elternhaus inklusive der sich dort befindenden Mikwe eine große Mitgift in die Ehe ein, was für ein wohlhabendes bürgerliches Leben der Familie Schüler spricht.32 Ella Kellermann gebar im November 1866 das erste Kind.33 Die nach der Großmutter mütterlicherseits benannte Maria Anna starb jedoch nur knapp einen Monat nach ihrer Geburt34 und auch der 1868 geborene und nach dem Großvater väterlicherseits benannte Michael erkrankte schwer und verstarb noch im selben Jahr.35 Am Morgen des 11. Dezember 1869 wurde Benzion geboren.36 Die Eltern gaben dem Jungen einen religiösen hebräischen Namen, dessen Übersetzung 29 Ebd. 30 Lowenstein, Steven M., Die Gemeinde, in: Meyer, Michael A. (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, 123–150, hier: 125 (Hrvh. im Orig.). 31 Die Schuhgasse 276 ist heute die Schuhstraße 20. Spätestens 1868 wird Israel Michael Schüler in den Akten als Privatier aus Frankfurt am Main bezeichnet: Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 23. 32 Erklärung des Israel Schüler, 9. 1. 1866, StadtA Gerolzhofen, A1j253. – Zum Standort der „Tauche“, des jüdischen Ritualbads: ebd. 33 Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 20f. 34 Sie verstarb am 25. 12. 1866: Sterberegister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 46f. 35 Er starb am 12. 10. 1868. Vgl. zu den Lebensdaten: Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStAWürzburg, Jüdische Standesregister 29, 22f; Sterberegister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 46f. 36 Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 24f. – Sowohl dieses Dokument als auch das pfarramtliche Geburtszeugnis (Wolf, Pfarramtliches Geburtszeugnis für Ben Zion Kellermann, 22. 2. 1909, StadtA Warburg, PS 0012) schreiben als Vornamen „Ben Zion“. Da er aber alle Texte unter dem Namen Benzion Kellermann publizierte, folgt vorliegende Arbeit seiner selbst gewählten Schreibweise.

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„Sohn Zions“ lautet, angeblich um zu verhindern, dass auch dieses Kind früh starb, wie sich Henry Kellermann erinnerte.37 Von der Familie und den Freunden wurde er fortan jedoch nur Ben gerufen. Die Beschneidung erfolgte nach jüdischer Tradition am achten Tag nach der Geburt und wurde am Vormittag des 18. Dezember von seinem Großvater Israel Schüler durchgeführt, der wegen dieses von den „hiesigen Juden“ bezeugten Ereignisses mit seiner Frau Zerline aus Frankfurt nach Gerolzhofen kam.38 Die jüdische Gemeinde in der von Bürgermeister Johann Mathias Krais regierten Stadt zählte in jenem Jahr 58 Personen und besaß damit eine für ländliche Verhältnisse mittelgroße Gemeinde.39 In den nächsten vier Jahren bekam Benzion noch die Geschwister Zippora und Aaron, wodurch der Haushalt nun zunächst fünf Personen umfasste.40 Nur zwei Jahre nach der Geburt von Benzion Kellermann war es in der deutschen Geschichte die Juden betreffend zu einer entscheidenden Zäsur gekommen, von der er als Kind noch nichts ahnen konnte, die sich später aber auch direkt auf sein eigenes Leben auswirken sollte. 1871 wurde unter preußischer Vorherrschaft das Deutsche Kaiserreich gegründet, das den bisher bestehenden Flickenteppich aus Königreichen, Fürstentümern und Herzogtümern in ein territorial fest umrissenes Gebiet verwandelte. Seit jeher wurde in den einzelnen Staaten eine eigene Politik gegenüber den dort lebenden Juden vertreten. Preußen hatte nach einer umfassenden Staats- und Verwaltungsreform seit 1807 im Jahr 1812 das „Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ verabschiedet,41 Bayern folgte ein Jahr später. Unter Minister Montgelas wurde das „Edikt vom 10. Juni 1813 über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern“ erlassen, das den Juden „den Zugang zu bürgerlichen Erwerbszweigen [öffnete]“ und „die allmähliche Abschaffung des Hausier-, Not- und Schacherhandels [bestimmte]“. Sie durften Grund und Boden erwerben, bekamen Zugang zu allen Universitäten des Landes und durften nahezu alle Berufe ergreifen. Dennoch blieben Re37 Kellermann, Henry J., Five Germanys, 3. Zum Rufnamen im Folgenden vgl. ebd. 38 Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 25. – Auch Wolf, Pfarramtliches Geburtszeugnis für Ben Zion Kellermann, 22. 2. 1909, StadtA Warburg, PS 0012 gibt den 18. 12. 1869 als Tag der Beschneidung an. 39 Vgl. zum Bürgermeister : Sixt, Chronik Gerolzhofen, 204. Zur Zahl der Juden: Alicke, Gerolzhofen, 1449. 40 Zur Geburt von Zippora (26. 12. 1871) und Aaron (8. 12. 1873) vgl. Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 26f. – Nach Kellermann, Uri, Family Tree, 1 starb Zippora um 1900. 41 Vgl dazu den aktuellen Sammelband von Diekmann, Irene A. (Hg.), Das Emanzipationsedikt von 1812 in Preußen. Der lange Weg der Juden zu „Einländern“ und „preußischen Staatsbürgern“, EJSB, Bd. 15, Berlin/Boston 2013 und die Studie von Schulte, Marion, Über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in Preußen. Ziele und Motive der Reformzeit (1787–1812), EJSB, Bd. 11, Berlin/Boston 2013.

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striktionen bestehen und war Judenfeindschaft weit verbreitet: Juden mussten weiterhin Sonderabgaben leisten, konnten keine Beamtenlaufbahn einschlagen und waren an den Matrikelparagrafen gebunden, nach dem sich die Zahl der jüdischen Familien an einem Ort nicht erhöhen durfte. Von daher kann das auch für Gerolzhofen und die anderen unterfränkischen Gemeinden verbindliche „Edikt von 1813 kaum ein Emanzipationsedikt genannt werden“.42 Mit der Gründung des Kaiserreichs verbanden die deutschen Juden und liberal gesinnte nichtjüdische Zeitgenossen die Hoffnung, dass auch die letzten Beschränkungen fallen würden. Am 22. April 1871 wurde das „Reichsgesetz“ verabschiedet, das dem Wortlaut nach die Juden im ganzen Staatsgebiet den christlichen Bürgern gleich stellte. Die deutschen Juden nahmen begeistert Anteil an dieser „Emanzipation von oben“, die ihren langen Kampf um Gleichberechtigung seit der Haskala43 förderte. Schon bald nach der Verabschiedung des Gesetzes, mit dem auch der Matrikelparagraf fiel, konnte Gerolzhofen einen Zuwachs an Juden verzeichnen. Die Zahl der jüdischen Familien stieg von elf im Jahr 1871 auf 28 Familien 1883 an.44 Die Kellermanns und die anderen jüdischen Familien nahmen die neuesten politischen Entwicklungen mit Befriedigung zur Kenntnis und erhofften sich die vollständige Gleichstellung mit der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung sowie bessere Chancen für ihre Kinder im beruflichen und privaten Leben. Die völlige Gleichstellung mit den Christen erfolgte jedoch nicht, denn die Entscheidungsträger in Staat, Militär und Verwaltung verstanden sich nach wie vor als Bewahrer eines protestantisch geprägten Obrigkeitsstaates mit dem letztgültigen Ziel, die Juden vollständig zu assimilieren. Das bedeutete freilich nichts anderes, als sie schrittweise in loyale deutsche, christliche Staatsbürger zu verwandeln und deshalb bestanden trotz des Reichsgesetzes weiterhin Restriktionen. So war ihnen in Preußen eine höhere Karriere im Militär oder als Beamte

42 Vgl. Gehring-Münzel, Emanzipation, 71f. Zitate: Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern, 21. 43 Haskala (hebr. sechel: Vernunft, Verstand) bezeichnet die jüdische Aufklärung in Europa zwischen der zweiten Hälfte des 18. und dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Ihre Vertreter, unter ihnen Moses Mendelssohn, Lazarus Bendavid und Saul Ascher, bezeichneten sich selbst als maskilim. Einen Überblick über die Personen und Ereignisse geben Feiner, Shmuel, Haskala – Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution, Netiva, Bd. 8, Hildesheim 2007; Sorkin, David, The Berlin Haskalah and German Religious Thought. Orphans of Knowledge, Parkes-Wiener Series on Jewish Studies, Bd. 9, London/ Portland 2000; Schulte, Christoph, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München 2002. 44 Lebrecht, Moses, Tabellarische Übersicht über den Stand und die Beschaffenheit der israelitischen Religionsschulen im Rabbinats-Districte Schweinfurt im Jahre 1870/1871 bzw. 1882/1883, CJA, 1, 75 B Schw 2, Nr. 37, # 9680, Bl. 1–6, hier: Bl. 2f bzw. Bl. 135–140, hier : Bl. 137.

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versagt und in Sachsen wurden sie im Justizdienst generell nachteilig behandelt.45 Als Religionslehrer, Kantor und „Begräbnisaufseher“ der nun stetig wachsenden jüdischen Gemeinde Gerolzhofens verdiente Joseph Kellermann jährlich mehr als 500 Gulden.46 Damit gehörte die Familie zu den wohlhabenden und bürgerlich geprägten Juden der Stadt, die unter den jüdischen und christlichen Nachbarn ein hohes Ansehen besaß. Benzion Kellermanns Vater wurde innerhalb der jüdischen Gemeinde hoch geschätzt, da er sich, obwohl erfolglos, über mehrere Jahre hinweg für die Anbringung von Schabbatdrähten in der Stadt einsetzte, die für die Errichtung des Eruv unverzichtbar waren.47 In diese Jahre der Auseinandersetzungen mit dem Magistrat der Stadt fällt die feierliche Einweihung der neuen Synagoge in der Steingrabenstraße am 8. August 1873, die den Gerolzhöfer Juden von nun an einen würdigeren Raum als die vorherigen Privathäuser bot.48 In das Bethaus begleitete Benzion seinen Vater täglich zum Gottesdienst und nach seinem 13. Geburtstag im Dezember 1882 erhielt er hier seine Bar Mitzwa, wodurch er offiziell für religiös mündig und

45 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern, 23. 46 Gulden war die in Bayern geläufige Bezeichnung für Taler. Die Summe setzt sich zusammen aus dem Jahresgehalt von 389 Gulden und 18 Gulden für die „Beheitzung der Schullokalität“ (Bestätigung von Joseph Löb Kellermann als Religionslehrer und Vorsänger der Gemeinde Gerolzhofen, 30. 12. 1865 (Abschrift), CJA, 1, 75 B Schw 2, Nr. 60, # 9703, Bl. 77). Ferner ist davon auszugehen, dass er auch wie sein Vorgänger Israel Schüler von der Gemeinde jährlich noch über 100 Gulden für die Benutzung der am Wohnhaus gelegenen Mikwe und zusätzliches Geld für religiöse Betätigungen, womit wahrscheinlich die Aufsicht über das koschere Schächten von Tieren gemeint ist, erhielt (Erklärung des Israel Schüler, 9. 1. 1866, StadtA Gerolzhofen, A1j253. – Vgl. zum Extragehalt für Schächtausgaben: Protokoll der Gemeindeversammlung, 3. 5. 1883, StadtA Gerolzhofen, A1j1223). 47 Nach den halachischen Weisungen dürfen gesetzestreu lebende Juden im begrenzten Raum des Eruv auch am Schabbat einfache Dinge zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum transportieren, was ansonsten eingeschränkt oder verboten ist. Vgl. dazu Kaplan, Zvi, Art. Eruv, in: 2EJ 6 (2007), 484f; Gilat, Yitzhak Dov, Art. Eruvin, in: ebd., 485f. Mit der Einlegung der inneren Stadttore und eines großen Teils der Stadtmauern ab 1871 wurde Gerolzhofen zur offenen Stadt, wodurch dieser natürliche Raum wegfiel. Die jüdische Gemeinde des Ortes wollte nun Drähte an den ehemaligen Stadttoren anbringen, um einen Eruv zu konstruieren, konnte sich in der Stadtversammlung aber zunächst nicht durchsetzen. Im Juli 1880 kommt es schließlich zwischen der Verwaltung und den Juden der Stadt zu einem Kompromiss, der dem Einfall des neuen Vorstehers der jüdischen Gemeinde zu verdanken war. An der Stelle der ehemaligen Stadttore wurde Draht gespannt, an dem jeweils eine Laterne hing und somit gleichzeitig als praktische Straßenbeleuchtung fungierte. Vgl. zu „Kellermanns Kampf um den Sabbatdraht“ zwischen 1871 und 1880 den gleichnamigen Artikel von Norbert Vollmann in: Main-Post. Volkszeitung und Steigerwald-Bote Nr. 157 vom 11. 7. 2009, 25. Der gesamte Vorgang findet sich in einer umfangreichen Akte: StadtA Gerolzhofen, A1j1224. 48 Vgl. Bezirksamtsblatt für Gerolzhofen Nr. 95 vom 12. 8. 1873, 378.

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zum vollwertigen Gemeindemitglied erklärt wurde. Von nun galt der „Sohn der Pflicht“ als Erwachsener und wurde für den Minjan49 mitgezählt. Drei Monate nach der Einweihung der Synagoge verstarb seine Mutter an den Folgen einer Typhusinfektion.50 Ihre drei Kinder waren alle noch sehr jung, sodass wohl nur der fast vierjährige Benzion das Geschehen annähernd verstanden hatte. Sie wurde einen Tag nach ihrem Tod unter Anteilnahme der Familie und der Gemeinde von ihrem Mann auf dem jüdischen Friedhof Gerolzhofens beigesetzt. Bereits ein Jahr später heiratete der Vater Ellas Schwester Blümchen Schüler (1852–1913).51 Getraut wurden sie von Distriktsrabbiner Bamberger, an dessen Israelitischer Lehrerbildungsanstalt in Würzburg Benzion Kellermann später seine Lehrerausbildung abschließen wird. Als Zeugen der Trauung hatten die Verlobten unter anderem den Höchberger Ortsrabbiner Lazarus Ottensoser (1798–1876) ausgewählt. Letzterer hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der nahe Würzburg gelegenen Stadt Höchberg eine Präparandenschule für jüdische Lehrer begründet, die überregionale Berühmtheit erlangen und an der Benzion Kellermann 1883 seine Ausbildung beginnen wird. Mit seiner zweiten Ehefrau hatte Joseph Kellermann ebenfalls fünf Kinder : Eva, Bella, Karolina, Samuel und Fanny.52 Benzion war der Älteste unter den acht Geschwistern und besuchte später häufig mit seiner Familie von Berlin aus Fanny, Karolina und Samuel, die alle in Frankfurt wohnten.53 Nach seinem Tod 1923 hielten seine Frau und seine Kinder noch bis in die 1930er Jahre hinein den Kontakt zu den Verwandten und besuchten diese, so lange es noch möglich war. Denn obwohl Benzion Kellermanns Eltern und ein Großteil seiner Geschwister schon vor der Schoa starben, wurde die große und weitverstreute Familie doch 49 Quorum von 10 nach dem Religionsgesetz volljährigen Männern für den Gottesdienst. 50 Ella Kellermann starb am 24. 11. 1873: Sterberegister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 54f. 51 Trauungsregister der jüdischen Gemeinde Heidingsfeld, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 41, 217f; Trauungsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 70f. 52 Eva wurde am 13. Juli 1875 geboren, ein Todesdatum ist nicht bekannt (Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 28f). Bella kam am 30. Juli 1876 zur Welt und verstarb 1937 in Prag (Geburtseintrag von Bella Kellermann, StadtA Gerolzhofen, Geburtsbuch Nr. 53 aus 1876). Am 13. Juli 1878 wurde Karolina geboren (Geburtseintrag von Karolina Kellermann, StadtA Gerolzhofen, Geburtsbuch Nr. 47 aus 1878. Laut Kellermann, Uri, Family Tree, 1 verstarb Karolina am 29. 12. 1921 in Frankfurt am Main). Samuel kam am 4. Juni 1880 zur Welt (Geburtseintrag von Samuel Kellermann, StadtA Gerolzhofen, Geburtsbuch Nr. 37 aus 1880) und seine Schwester Fanny am 25. März 1882 (Geburtseintrag von Fanny Kellermann, StadtA Gerolzhofen, Geburtsbuch Nr. 21 aus 1882). 53 Zu Samuel und Fanny Kellermann: Information Dr. Eichler, HHStA Wiesbaden, 30. 9. 2011; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 36. Zu Karolina Kellermann: Kellermann, Uri, Family Tree, 1.

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Zeuge und Opfer der Vernichtung des europäischen Judentums im Nationalsozialismus. Sein Bruder Samuel floh mit seiner Frau und den vier Kindern von Frankfurt aus nach Palästina, wo er 1952 verstarb. Fanny lebte seit 1939 in einem jüdischen Altersheim und beging wohl angesichts der immer stärker werdenden Repressionen und der beginnenden Deportationen im Oktober 1940 Selbstmord.54 Viele von Benzion Kellermanns Schwäger und Schwägerinnen, Vettern und Cousinen sowie ihre Ehepartner wurden nach 1941 in die Konzentrationslager in Izbica, Riga, Treblinka, Theresienstadt und Ravensbrück deportiert. Sie wurden dort entweder ermordet oder in andere nationalsozialistische Vernichtungsstätten gebracht, wo sie schließlich den Tod fanden. Einigen Familienmitgliedern hingegen gelang die Flucht in die USA oder nach Palästina, wo sie ein neues Leben aufbauten und den Stammbaum der Familie Kellermann weiterführen.55 Gerolzhofen wurde in bürokratischer Manier systematisch „entjudet“ und galt ab dem 18. September 1942 als „judenrein“.56 Die industrielle Ermordung der Juden Europas war Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur unter deutschen Juden undenkbar. Sie fühlten sich seit der Reichsgründung und der damit einhergehenden Gleichstellung trotz des latenten Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft angekommen und sahen ihre Hoffnungen auf eine vollständige Emanzipation nahezu erfüllt. Ob liberal oder orthodox gesinnt, die Juden von Frankfurt bis Berlin und von Hamburg bis München unterlagen bis auf Ausnahmen im Militär und höheren Beamtentum keinen Beschränkungen mehr und richteten sich noch stärker als zuvor in ihrem alltäglichen Zusammenleben mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung ein. Dies trifft auch für Joseph Kellermann zu, der als Rabbiner neben dem Synagogenvorstand die jüdische Gemeinde gegenüber der Stadt repräsentierte und ein allseits geachteter Bürger war. Nach einer „unheilbaren“, aber nicht

54 Sie hat sich wahrscheinlich am 27. 10. 1940 selbst im Main ertränkt, ihre Leiche war am selben Tag im Frankfurter Stadtgebiet geländet (Sammelnachweisung über Bergung von Wasserleichen in der Zeit vom 1.10.–31. 12. 1940 […], 17. 1. 1941, HHStA Wiesbaden, Abt. 405 Nr. 25508. – Das Todesdatum ist ebenfalls belegt in einem Vermerk über „Fanny Sara Kellermann“ in: Geburtseintrag von Fanny Kellermann, StadtA Gerolzhofen, Geburtsbuch Nr. 21 aus 1882. Vgl. auch Bundesarchiv (Hg.), Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945, Bd. 2, 2. wesentlich erw. Aufl., Koblenz 2006, 1706). Sie wurde am 31. 10. 1940 auf dem Jüdischen Friedhof bestattet (IFS Frankfurt am Main, Beerdigungsbuch des Jüdischen Friedhofs, 146). 55 Zu den Geburts- und Sterbedaten (soweit vorhanden) von Benno und Recha Kellermann, Bella und Nathan Löwy, Max Moses und Elsa Kellermann, Karoline Kellermann, Aharon Dov und Mirjam Kellermann sowie Moshe Moses Strauss vgl. Kellermann, Uri, Family Tree, 1–3; Bundesarchiv (Hg.), Gedenkbuch, 1706f. 56 Pfrang, Die jüdische Gemeinde von Gerolzhofen, 12.

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näher definierten Krankheit57 starb er am 17. Oktober 188358 und wurde auf dem jüdischen Friedhof von Gerolzhofen bestattet. Seine Frau Blümchen musste nun allein sieben Kinder zwischen ein und zwölf Jahren versorgen. Allein der dreizehnjährige Benzion hatte zu diesem Zeitpunkt schon das Elternhaus verlassen und lebte in Höchberg, wo er die jüdische Präparandenschule besuchte. Da es keine Memoiren oder ausführliche biografische Berichte gibt, können über seine Kindheit nur wenige Aussagen gemacht werden. Als der Älteste der Geschwister kam er auch als erster in die Schule. In Bayern wurde 1804 unter dem Kurfürsten Max IV. Joseph die Schulpflicht für jüdische Kinder eingeführt59 und mit dem Erlass des bayerischen Judenediktes 1813 wurde es jüdischen Gemeinden erlaubt, bei eigener Übernahme aller Kosten jüdische Volksschulen zu errichten.60 In vielen kleinen Dörfern und Städten wurden dann solche Anstalten eröffnet: Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Zahl von 150 jüdischen Elementarschulen in Bayern überliefert,61 in denen die unterschiedlich alten Schüler in einer Klasse in religiösen und profanen Fächern unterrichtet wurden.62 In Gerolzhofen gab es keine jüdische Schule, sodass Benzion Kellermann seit 1875 zusammen mit den christlichen Kindern die staatliche Volksschule vom sechsten bis zum „vollendeten 13. [Lebens]jahre“,63 also bis zum Schuljahr 1882/ 83, besuchte. Da dort nur christlicher Religionsunterricht angeboten wurde, erhielten die jüdischen Schüler im Synagogengebäude werktags noch zusätzlich drei bis vier 57 Lebrecht, Moses, Tabellarische Übersicht über den Stand und die Beschaffenheit der israelitischen Religionsschulen im Rabbinats-Districte Schweinfurt im Jahre 1882/1883, CJA, 1, 75 B Schw 2, Nr. 37, # 9680, Bl. 135–140, hier : Bl. 137. 58 Kellermann, Uri, Family Tree, 1 (basierend auf dem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof Gerolzhofens). 59 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 21. 60 Bayerisches Judenedikt vom 10. Juni 1813, § 33. Abgedruckt in: Prestel, Jüdisches Schulund Erziehungswesen, 387–392, hier: 392. 61 Vgl. Kaufmann, A History of the Jewish Teachers Seminary, 27f. 62 Diese Elementarschulen gingen oft aus den bestehenden religiösen Grundschulen hervor, die seit der frühen Neuzeit den Idealtypus der institutionalisierten jüdischen Bildung repräsentierten. In solch einem einklassigen cheder (Stube), der sich zumeist bei dem Lehrer zuhause oder im Synagogengebäude befand, erhielten die Kinder lediglich Grundkenntnisse in Hebräisch und den jüdischen Schriften, jedoch keinen Profanunterricht. Die Schule dauerte bis zur Vollendung des 13. Lebensjahres und damit bis zum Erreichen der religiösen Mündigkeit. Nur talentierte Schüler durften dann das religiöse Studium an einer Jeschiwa fortsetzen, während die meisten Jugendlichen einen Beruf ergriffen. Vgl. dazu Brämer, Andreas, „Keineswegs aber sollen in den Elementarschulen Lehrer angestellt werden, welche blos den Talmud verstehen“. Der preußische Staat und das jüdische Elementarschulwesen in der Emanzipationszeit, in: Klein/Müller (Hg.), Memoria. FS Michael Brocke, 783–794, hier: 783f. 63 Kellermann, Benzion, Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 4.

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Stunden jüdischen Religionsunterricht durch Kellermanns Vater.64 Während sein Sohn in der Volksschule die profanen Fächer hörte, wurde er hier in den folgenden unterrichtet: Religion, Biblische Geschichte, Hebräisch Lesen, Übersetzung der Heiligen Schrift und der Gebete sowie das sogenannte „Jüdisch-Deutsch“. Am 17. Mai 1883 legte Kellermann vor seinem Vater die Prüfung in den genannten Fächern ab, und wenn auch die Prüfungsergebnisse der in Gesamtheit gewerteten dritten Klasse der Religionsschule mit dem Urteil „hinlänglich“ zu wünschen übrig ließen, hat er wohl besser als seine Mitschüler abgeschnitten, da ansonsten die Aufnahme in die Höchberger Präparandenanstalt sich schwieriger gestaltet hätte oder gar unmöglich gewesen wäre.65

1.2 Ausbildung zum jüdischen Religionslehrer 1.2.1 Präparandenschule in Höchberg Im 19. Jahrhundert gab es im Königreich Bayern für die jüdische Lehrerausbildung drei streng orthodox geprägte Präparandenanstalten in Höchberg, Schwabach und Burgpreppach, die auf den Besuch eines höheren Seminars, etwa der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg, vorbereiteten. Ziel der Präparandenseminare war hauptsächlich „die Ausbildung von jüdischen Kultusbeamten und Lehrern sowie die Verbreitung des Thorastudiums“. Aber auch Schüler, die andere Berufe ergreifen wollten, wurden in den Internaten beherbergt.66 Zur Gründung spezifisch jüdischer Ausbildungsseminare kam es, weil sich seit 1804 Juden in Bayern an staatlichen Schullehrerseminaren ausbilden lassen durften. Zudem wurden sie infolge des Bayerischen Judenedikts verpflichtet, ihre Abschlussprüfung als Elementarschul- oder Religionslehrer an den staatlichen Seminaren abzulegen. Diese Entwicklung wurde jedoch von dem Umstand begleitet, dass an den staatlichen Seminaren in Würzburg, Bamberg und Schwabach nicht auf die Erteilung des jüdischen Religionsunterrichts vorbereitet wurde.67 Solch eine mangelhafte religiöse Bildung war für die zukünftigen Lehrer, die 64 Lebrecht, Moses, Zur Ergänzung der Tabellarischen Übersicht über den Stand und die Beschaffenheit der israelitischen Religionsschulen im Rabbinats-Districte Schweinfurt im Jahre 1882/1883, CJA, 1, 75 B Schw 2, Nr. 37, # 9680, Bl. 141–144, hier : Bl. 142. 65 Ders., Tabellarische Übersicht über den Stand und die Beschaffenheit der israelitischen Religionsschulen im Rabbinats-Districte Schweinfurt im Jahre 1882/1883, CJA, 1, 75 B Schw 2, Nr. 37, # 9680, Bl. 135–140, hier: 136f. 66 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 330 u. 334. Zitat: ebd, 330. 67 Vgl. Bamberger, Nathan, ILBA. Entstehung und Entwicklung, 14; Gehring-Münzel, Emanzipation, 136.

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in ihren Gemeinden neben der Kinder- und Erwachsenenbildung zumeist auch noch das Amt des Vorbeters und Schächters übernehmen mussten, nicht tragbar. Die Studenten hatten deshalb bei Rabbinern noch zusätzlich private Stunden in den jüdischen Disziplinen zu nehmen, um sich ausreichendes Wissen über die jüdische Religion und Tradition und ihre biblischen und rabbinischtalmudischen Quellen anzueignen.68 Für die angehenden nichtjüdischen Lehrer reichte es hingegen aus, als Extraqualifikationen die Orgel spielen und den Schulchor dirigieren zu können. Diese Volksschullehrer mussten nicht noch christliche Theologie studiert haben, „da der christliche Religionsunterricht von den Pfarrern und Pastoren gehalten wurde“69. Ein weiterer Grund für den Attraktivitätsverlust des Berufs bei Juden und für den damit einhergehenden Lehrermangel war, dass sie trotz der zusätzlichen Arbeit schlechter als ihre christlichen Kollegen verdienten, da sie nicht vom Staat, sondern vom stets auf Einsparung bedachten Gemeindevorstand besoldet wurden.70 Die neu gegründeten jüdischen Lehrerseminare erfüllten also die staatlichen Anforderungen in der Vermittlung der „weltlichen“ Fächer und verlangten von den Studenten dennoch ein intensives Studium der jüdischen Literatur und Praxis, das sie für den späteren Beruf qualifizieren sollte. Aus dem von Benzion Kellermann verfassten Lebenslauf geht hervor, dass er nach dem Besuch der Volksschule in Gerolzhofen bis zum Winterhalbjahr 1882/83 die folgenden vier Jahre an der Israelitischen Präparandenschule in Höchberg lernte.71 68 Vgl. dazu Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 284f; Kaufmann, A History of the Jewish Teachers Seminary, 28f; Gehring-Münzel, Emanzipation, 136. 69 Steidle, Hans, Jakob Stoll und die Israelitische Lehrerbildungsanstalt – eine Spurensuche, Würzburg 2002, 10. 70 Vgl. Richarz, Monika, Jüdische Lehrer auf dem Lande im Kaiserreich, in: TAJB 20 (1991), 181–194, hier: 186f. 71 Kellermann, Benzion, Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, UA Gießen, Promotionsakte Benzion Kellermann, Phil Prom Nr. 52, Bl. 4 u. 6. Die Quellenlage bezüglich der Kellermann betreffenden 1880er Jahre ist ungenügend, da die Akten zur Schule im Universitätsarchiv Würzburg noch nicht erschlossen und deshalb nicht zur Benutzung freigegeben sind (Information von Dr. Marcus Holtz vom UAWürzburg am 17. 5. 2011). – Die erhaltene Überlieferung im BStA Würzburg, Regierung von Unterfranken 3800 und 3801 umfasst lediglich die Schriftwechsel zwischen dem Vorstand der Schule und der Königlichen Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg, Kammer des Inneren von 1882–1891 und 1892–1904 und betrifft nahezu ausschließlich die Untersuchungen der Zustände der Anstalt durch den offiziellen Lokalschulinspektor. Es fehlen dagegen Schülerlisten, Zeugnisse oder ähnliche Dokumente, die Aufschluss über Kellermann und seine Mitschüler geben würden. Deshalb wird die folgende Darstellung seines Schulalltags in Höchberg über zeitgenössische Artikel, besonders aus dem orthodoxen Publikationsorgan Der Israelit, und der Sekundärliteratur rekonstruiert. Von herausgehobener Bedeutung sind in letzterem Zusammenhang die folgenden Publikationen: Flade, Roland, Lehrer, Sportler, Zeitungsgründer. Die Höchberger Juden und die Israelitische Präparandenschule, Schriften des Stadtarchivs Würz-

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Die Stadt gehörte wie Gerolzhofen zu den über einhundert jüdischen Gemeinden, die 1813 dem neuen Rabbinatsdistrikt Würzburg zugeordnet wurden72 und zählte zu den größten im Umland: Laut Statistik war im Jahr 1830 ein Fünftel der ca. 1000 Einwohner Juden.73 Die Katholiken des Ortes arbeiteten auf den Äckern und in den Weinbergen, als Tagelöhner oder Handwerker. Die jüdischen Höchberger waren vor allem im Vieh-, Tuch- und Getreidehandel tätig. Nach Aufhebung der alten Berufsbeschränkungen 1813 gab es unter ihnen aber auch Bauern und Handwerker verschiedenen Gewerbes. Neben der katholischen existierte eine jüdische Volksschule, ferner gab es eine Pfarrkirche und eine 1721 errichtete Synagoge mit Mikwe und Gemeindehaus sowie einen christlichen und einen jüdischen Friedhof. Das Verhältnis zwischen den Christen und den seit dem 17. Jahrhundert in Höchberg ansässigen Juden scheint nach der Aktenlage bis zum Beginn des Nationalsozialismus unproblematisch gewesen zu sein und statt Ghettoisierung „lebten [sie] in enger Nachbarschaft, teilweise in Freundschaft [zusammen]“.74 Der christliche Bäcker bot koschere Backwaren an, einige jüdische Präparanden wohnten während ihres Aufenthaltes an der Anstalt bei christlichen Familien zur Miete und wurden teilweise von den katholischen Bauern als Erntehelfer eingesetzt. Die Schüler beider Religionen versorgten sich im Kolonial- und Schreibwarengeschäft der Familie Goldbach mit Unterrichtsmaterialien und die jüdischen Lehramtskandidaten mit ihren Büchern unter den Armen prägten das Bild der Stadt. Die Präparandenschule ging aus der von Ottensoser um 1840 gegründeten Talmud-Thora-Schule hervor.75 Die bald überregional bekannte Jeschiwa bestand aus einigen Schülern, die sich in dessen Hause zum Studium religiöser Texte versammelten und sich privat in den profanen Fächern fortbildeten. Ottensoser, der eine notwendige Synthese aus religiösem und profanem Wissen forderte,76 wandelte sie 1861 in eine weiterführende Schule um, deren Statuten die königliche Regierung im selben Jahr genehmigte. Sie trug zunächst den

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burg, Heft 12, Würzburg 1998 und die Studie von Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen. Vgl. Bamberger, Herz, Geschichte der Rabbiner der Stadt und des Bezirkes Würzburg, aus seinem Nachlass herausgegeben, ergänzt u. vervollständigt von seinem Bruder S. Bamberger, [Hamburg-] Wandsbek 1905, 91–93. Ebd. findet sich eine detaillierte Aufzählung aller zugehörigen Orte. Flade, Höchberger Juden, 16. Zum Folgenden vgl. ebd., 16–27. Ebd., 13. Zum Folgenden vgl. ebd., 70–72. Zur Entwicklung der Präparandenschule und zu ihren Direktoren und Lehrern vgl. Flade, Höchberger Juden, 42–59; Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 338f. Der 1798 in Weimarschmieden geborene Ottensoser kam 1828 nach Höchberg und war hier seitdem als Lehrer, Vorsänger und Schächter tätig. Vgl. zu Leben und Werk: Flade, Höchberger Juden, 16. Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 338.

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Namen „Israelitische Lehrerbildungs-Vorbereitungsanstalt“, der später in „Israelitische Präparandenschule (Talmud-Thora) Höchberg“ umbenannt wurde.77 Die Schule unterstand „der Aufsicht der Regierung, in den religiösen Fächern dem Würzburger Distriktsrabbiner und in den Elementarfächern dem Distriktsschulinspektor in Bieberehren“. Bis 1865 hatte der Unterricht in den Privatzimmern Ottensosers stattgefunden, danach wurden die Schüler in dem erworbenen Gebäude in der heutigen Sonnemannstraße 15 unterwiesen, wo auch der Direktor Wohnung nahm. Der Unterricht war ein „Vorbereitungskursus“78, um nach dem Examen an einem der weiterführenden orthodoxen Lehrerseminare in Würzburg oder außerhalb Bayerns, etwa in Köln, aufgenommen zu werden. Liberale jüdische Lehrerbildungsanstalten gab es dagegen in Berlin, Kassel oder Münster.79 1876 starb Ottensoser, woraufhin Jakob Ehrenreich, als Trauzeuge bei Joseph Kellermanns erster Hochzeit ebenfalls mit der Familie verbunden,80 bis zu seinem Tod im Jahr 1886 die Leitung der mittlerweile fast vierzig Schüler zählenden Einrichtung übernahm und zugleich neuer Ortsrabbiner wurde.81 Der Vater war vom Konzept überzeugt und schickte Benzion 1883 mit dem Ziel der Ausbildung zum Elementar- und Religionsschullehrer auf die Präparandenschule. Mit der Bewerbung musste er den Abschluss der Volksschule sowie „Fähigkeiten zum Lehrfach und religiöse[n] und moralische[n] Lebenswandel“ nachweisen und sollte das 13. Lebensjahr erreicht haben.82 Er erfüllte die Voraussetzungen und absolvierte wie alle neuen Schüler eine Probezeit von sechs Monaten, in der die Lehrer prüften, ob sie dem Umfang und der Schwierigkeit des Stoffes gewachsen waren. Der Religionsunterricht nahm mit zwölf Unterrichtsstunden in der Woche den größten Raum ein und enthielt Fächer wie Talmud, Mischna, Ritual, Bibelkunde und hebräische Grammatik. Die übrigen Fächer Mathematik, Deutsch, Lesen, Geschichte, Geografie, Turnen und Naturgeschichte richteten sich nach den gleichen Bestimmungen, die für die staatlichen Präparandenschulen galten.83 Nur von dem Unterricht in Musik und Zeichnen und den dazugehörigen 77 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 338f. Folgendes Zitat: ebd., 339. 78 Lowenstein, Die Gemeinde, 136. 79 Vgl. ebd., 135. – Zur vielfältigen Geschichte der jüdischen Lehrerseminare in Berlin vgl. Fehrs, Jörg H., Von der Heidereutergasse zum Roseneck. Jüdische Schulen in Berlin 1712–1942, Deutsche Vergangenheit, Bd. 90, Stätten der Geschichte Berlins, hg. v. d. Arbeitsgruppe Pädagogisches Museum e. V., Berlin 1993, 199–209. 80 Trauungsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 68f. 81 Vgl. zu Jakob Ehrenreich: Flade, Höchberger Juden, 43 u. 53. 82 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 339. 83 Vgl. dazu den Stundenplan für das Schuljahr 1886/87, der auch noch für das letzte Schuljahr von Kellermann Gültigkeit besaß: Nathan Eschwege an die Königliche Regierung von Un-

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Prüfungen waren Kellermann und seine Kommilitonen dispensiert, da diese erst nach seinem Abschluss 1886 eingeführt wurden.84 Die Präparanden konnten in ihrem Studium auf eine „sehr große Büchersammlung jüdischer, wie auch eine angehende profaner Literatur“85 zurückgreifen. Zudem erfuhren sie anschaulichen naturwissenschaftlichen Unterricht durch verschiedene Lehrmittel wie „Skelette, Abbildungen, Globen, Tellurium“. Kellermann lernte von 1883 bis 1886 mit Sicherheit bei den folgenden drei Lehrern, die die Lehrgegenstände untereinander aufteilten. Zum einen bei Ehrenreich, zum anderen bei Nathan Eschwege und Elchanan Wechsler. Eschwege lehrte seit 1875 an der Schule und wurde nach dem Tode Ehrenreichs am 1. Januar 1886 neuer Anstaltsleiter. Er verbesserte die dortige medizinische Versorgung, vergrößerte die Sammlung der Lehrgegenstände und verfasste ein Buch für den Religionsunterricht.86 Bis zu seinem Tod im April 1908 führte er die Geschäfte der Präparandenanstalt. Der seit etwa 1866 an der Schule tätige Wechsler beschäftigte sich in großem Maße mit der Traumdeutung und der Kabbala, wodurch ihn eine mystische Aura umwehte und er zu Gesprächsstoff unter Juden und Christen in Höchberg wurde.87 Die Schüler lebten während ihres Aufenthaltes entweder in den zum Anstaltsgebäude gehörenden Schlafsälen oder in einer der von Christen oder Juden geführten Herbergen. Wo Kellermann Unterkunft nahm, kann aufgrund der Aktenlage jedoch nicht mehr rekonstruiert werden. Er und seine Kommilitonen hatten bei neun bis zehn Stunden Unterrichtszeit am Tag ein breites Lernpensum zu bewältigen und standen von sechs Uhr am Morgen bis halb zehn am Abend unter Aufsicht der Lehrer, wodurch freizeitliche Aktivitäten gering bemessen waren.88 Die Schüler sollten ein moralisch einwandfreies Leben führen und waren bei Übertretungen zu gegenseitiger Denunziation angehalten. Wie an nahezu allen Schulen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gab es an der Höchberger Anstalt ein strenges Reglement, das der Individualität der Schüler wenig Raum bot und sie stattdessen zu loyalen Juden und deutschen und bayerischen Staatsbürgern erziehen sollte. Ihnen war „[d]er Besuch von Gast-

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terfranken und Aschaffenburg, Kammer des Inneren, 24. 10. 1886, BStA Würzburg, Regierung von Unterfranken, Regierungsabgabe 1943/45, 3800, Anlage 1. – Der Talmud ist das zentrale, in der Spätantike verfasste Schriftwerk des rabbinischen Judentums. Die Mischna als die früheste rabbinische Textsammlung ist neben der Gemara ein Teil des Talmuds. Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 340. Israelit Nr. 18 vom 30. 4. 1879, 459. Folgende zwei Zitate: ebd. Vgl. Israelit Nr. 69 vom 31. 8. 1891, 1310f, hier : 1310. Das Buch erschien 1898: Eschwege, Nathan (Hg.), Dass Jehudis. Religionsbuch für jüdische Knaben, Frankfurt a. M. 1898. Der aus Schwabach stammende Elchanan Wechsler studierte bei seinem Großvater, dem bekannten Talmudgelehrten Mendel Rosenbaum aus Zell und bei Seligmann Bär Bamberger in Würzburg. Neben der Anstellung an der Schule übernahm er ab 1887 zusätzlich das Amt des Gemeinderabbiners. Vgl. Flade, Höchberger Juden, 53–57. Vgl. dazu und im Folgenden Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 331.

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häusern, Bier- und Weinschenken, öffentlichen Vergnügungsorten und Tanzplätzen […] wie die Zusammenkunft zum Trinken in Privathäusern strengstens verboten“.89 Ebenfalls war das Rauchen und Schnupfen von Tabak untersagt. Die Lehrer achteten zudem peinlich darauf, dass ihre Zöglinge keine Kontakte zu christlichen Mädchen und Jungen des Ortes aufnahmen. Diese strenge Handhabung führte zu einer Isolation der Schüler und lag wohl in der Angst begründet, die Schüler könnten in der Ausbildung einer jüdischen Identität gestört werden oder gar später eine sog. „Mischehe“ eingehen und damit ihren zukünftigen Beruf als Lehrer einer jüdischen Gemeinde verfehlen.90 Wurden Schüler des Regelbruchs überführt, wurden sie mit dem Verbot des einzig erlaubten Ausgangs am Freitagabend bestraft. In seinen Erinnerungen Jugend an der Isar schilderte der bekannte jüdische Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin noch vierzig Jahre nach Kellermanns Aufenthalt die strenge Atmosphäre in Höchberg und bezeichnete die Einrichtung als „orthodoxe[…] Zwangserziehungsanstalt“91. Während seiner Schulzeit dort seien die Jungen „in eine eiserne Zucht genommen [wurden], in der sich jüdische Gesetzlichkeit und bayerischer Kasernenhofton höchst unerfreulich ergänzten“. Kellermann beging die Feiertage zusammen mit den anderen Schülern, da sie an diesen Tagen nicht zu den Eltern nach Hause fuhren.92 Dadurch sollte das traditionelle jüdische Leben eingeübt als auch der Sinn für Gemeinsamkeit und Gemeinschaft unter den angehenden Lehrern gestärkt werden. Viele gottesdienstliche Verpflichtungen an Werktagen, am Schabbat und an den Feiertagen trugen die Schüler und übten dadurch das Erlernte vor der Gemeinde des Ortes. Sie waren deshalb eine tragende Säule des jüdischen Lebens in Höchberg.

1.2.2 Israelitische Lehrerbildungsanstalt Würzburg Der vierjährige Kurs an der Höchberger Präparandenschule war die Voraussetzung dafür, dass sich Benzion Kellermann 1887 an der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt (ILBA) in Würzburg einschreiben konnte.93 Quellen bezüglich des Seminars sind nur bruchstückhaft überliefert, da mit seiner

89 BStA Würzburg, Regierung von Unterfranken 3801. Zit. n. Flade, Höchberger Juden, 51. 90 Vgl. ebd., 72. 91 Ben-Chorin, Schalom, Jugend an der Isar (1974), München 1988, 35. Folgendes Zitat: Ebd, 34. 92 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 331. 93 Kellermann, Benzion, Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 4 u. 6.

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erzwungenen Schließung 1938 der Großteil der Dokumente vernichtet wurde.94 Kellermanns Name taucht deshalb lediglich in der Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen auf, wo er in der Auflistung aller bisherigen Schüler mit dem Austrittsdatum von 1888 genannt wird.95 Begründet und geprägt wurde die Anstalt von Seligmann Bär Bamberger, der aufgrund seiner vielen religiösen und pädagogischen Projekte eine der bedeutendsten und vielseitigsten Persönlichkeiten des bayerischen Judentums im 19. Jahrhundert war.96 In den 1830er Jahren trat der Talmudgelehrte zum ersten Mal öffentlichkeitswirksam auf, als er in Auseinandersetzung mit der langsam aufkommenden jüdischen Reformbewegung in Bayern zusammen mit anderen Rabbinern die Regierung davon überzeugen konnte, die geltende Synagogenordnung nach altem Ritus beizubehalten und den Liberalen keine Zugeständnisse zu machen. Abraham Bing wurde derweil auf ihn aufmerksam und empfahl ihn als halachische Autorität. Nach dessen Tod 1839 wurde Bamberger zu seinem Nachfolger gewählt und trat das Amt im darauf folgenden Jahr an. Als Distriktsrabbiner des „Königlichen Landesoberrabbinats Würzburg“ unterstanden ihm 30 Gemeinden97 und die dazugehörigen jüdischen Religionsschulen, deren Unterricht er inspizierte.98 Er predigte in Gottesdiensten, hielt religiöse Vorträge (Schiurim), beantwortete religionsgesetzliche Anfragen und traute Paare in seinem Bezirk. Zusammen mit den Rabbinern Abraham Adler aus Aschaffenburg und Marcus Lehmann aus Mainz gründete Bamberger 1861 die „Orthodoxe Israeli94 Vgl. Ottensoser, Max/Roberg, Alex, Editor’s Preface, in: idem (ed.), ILBA 1864–1938, 13f, hier : 13. 95 Vgl. Bamberger, Nathan, Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt zu Würzburg 1864–1914, Würzburg 1914, 61. 96 Der aus dem fränkischen Dorf Wiesenbronn stammende Bamberger ging mit 15 Jahren an die überregional geachtete Jeschiwa in Fürth, wo er nach fünfjährigem Studium das Rabbiner-Diplom (Hatarat Hora’ah) erwarb. Zurück in seinem Heimatdorf sammelte er bald „Schüler und Jünger aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands“ um sich, die bei ihm den Talmud studierten (Bamberger, Nathan, Seligmann Bär Bamberger, VII). Zur Biografie Bambergers vgl. BHRabb I/1, 167–170; o. Verf., Art. Bamberger, Seligmann Baer, in: 2EJ 3 (2007), 103f; Steidle, Jakob Stoll und die ILBA, 10f; Gehring-Münzel, Emanzipation, 96f, 133–141; Hellmann, Norbert, Seligmann Baer Bamberger 1807–1878, in: Ottensoser/Roberg (Hg.), ILBA 1864–1938, 98–102; Bamberger, Nathan, Seligmann Bär Bamberger, dessen Leben und Wirken. Beigabe zum Jahresberichte pro 1896/97 der von demselben begründeten und während der ersten dreizehn Jahre geleiteten israel. Lehrerbildungs-Anstalt zu Würzburg, Würzburg 1897. 97 Vgl. die Auflistung bei Bamberger, Herz, Geschichte der Rabbiner, 98. – Die Angabe von über 100 Gemeinden im Rabbinatsdistrikt Würzburg bei Hellmann, Bamberger 1807–1878, 99 u. Steidle, Jakob Stoll und die ILBA, 11 für den Zeitraum ab 1840 stimmt damit nicht. Mit einem Erlass der bayerischen Regierung vom 31. 12. 1839 stieg die Zahl der Rabbinate in Unterfranken von zwei (1828) auf sechs; dem Würzburger Distrikt unterstanden seitdem 30 Gemeinden. 98 Vgl. Hellmann, Bamberger 1807–1878, 99f.

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tische Bibelanstalt“, die in Reaktion auf die zeitgenössischen deutschen Bibelübersetzungen aus reformjüdischer Feder mit einer eigenen Übersetzung das Ziel hatte, „to preserve the traditional translation and interpretation of the Torah“.99 Neben dieser Arbeit und der Leitung der von Bing übernommenen Jeschiwa, eröffnete Bamberger 1855 in Würzburg mit der Jüdischen Erziehungsund Unterrichts-Anstalt auch noch eine jüdische Gemeindeschule für Jungen ab dem sechsten Lebensjahr. Er war stets davon überzeugt, „dass der Bestand des Judentums nur durch Lehrerbildung und Schulgründung gesichert werden kann“,100 da sowohl die biblischen als auch die rabbinischen Quellen dem Erzieher und dem Lernen eine zentrale Bedeutung im jüdischen Leben zumessen würden. Deshalb baute er neben den vielen anderen Projekten zusammen mit den Rabbinern Abraham Adler, Josef Gabriel Adler, Gabriel Naphtali Lippmann und Faust Löb Thalheimer seit 1862 die ILBA auf. Wie im Falle der Präparandenschule in Höchberg, lag die Errichtung der weiterführenden spezifisch jüdischen Lehrerbildungsanstalt in der mangelhaften Ausbildung der Religionslehrer in jüdischen Gegenständen an den staatlichen Seminaren begründet. Aus diesem Grund, zu dem noch die schlechtere Besoldung hinzukam, gab es in Bayern immer weniger und zumeist nicht ausreichend qualifizierte jüdische Lehramtskandidaten. Nur zwei Jahre nach Beginn der Überlegungen wurde am 7. November 1864 die ILBA eröffnet, deren Hauptaufgabe in der „Heranbildung jüdischer Lehrer [lag], die auf der Grundlage einer aufrichtig religiösen Gesinnung und einer streng religiösen Lebensführung mit den erforderlichen Kenntnissen auf dem Gebiet der Religionswissenschaften als Religionslehrer und der allgemeinen Fachbildung als Volksschullehrer ausgerüstet [werden sollten]“.101 Im Gegensatz zum gesamtbayerischen Gebiet, wo dies erst 1866 geschah, hatten sich Bamberger, der Vorstand und das Kuratorium der ILBA von Beginn an darauf geeinigt, in der Lehrerausbildung die Schullehrlingsmethode aufzugeben.102 Das als ungenügend empfundene Assistieren bei einem Lehrer an einer 99 Ebd., 101. Vgl. dazu auch Shavit, Yaacov/Eran, Mordechai, The Hebrew Bible Reborn. From Holy Scripture to the Book of Books. A History of Biblical Culture and the Battles over the Bible in Modern Judaism, SJ, Bd. 38, Berlin/New York 2007, 64. 100 Bamberger, Nathan, Die Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg. Geschichte ihrer Entstehung und Entwicklung, in: ders., Festschrift ILBA, 7–54, hier : 8 (Hrvh. im Orig.). 101 Zit. n. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 349. Es ist bei der Autorin nicht ersichtlich, ob das Zitat aus dem angegebenen Jahresbericht der ILBA für 1889 oder 1915/16 stammt. Beide Dokumente waren dem Verfasser nicht zugänglich. 102 Vgl. Bamberger, Seligmann B. u. a., Antwort auf die Anfrage der Königlichen Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg vom 7. Juli 1859 betreffs die israelitischen Religionsschulen, Juli 1859, in: Bamberger, Nathan, ILBA. Entstehung und Entwicklung, 16–25.

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Volksschule sollte durch ein intensives sechsjähriges Studium sowohl der religiösen als auch der profanen Fächer an dafür geeigneten Anstalten ersetzt werden. Bezüglich des Lehrziels, des Unterrichtsbetriebs, der jährlichen Pflichtinspektion der Schule, der Dauer von zunächst zwei Jahren, der Geschlechtertrennung und der verwendeten Literatur für den Profanunterricht entsprach die Ausbildung an der ILBA jedoch den Kriterien der staatlichen bayerischen Lehrerseminare. Die Anstalt finanzierte sich auf vielfältige Weise, etwa durch Zinsen, Schenkungen oder die Verpflegungsbeiträge der Zöglinge. So konnte der kostenlose Unterricht für alle Schüler ermöglicht werden, wovon auch Kellermann Gebrauch nahm.103 Obwohl die Anzahl der Studenten mit 20 bis 35 Personen immer gering war, hatte das Seminar laut Lowenstein einen „gewaltigen Einfluß auf das jüdische Unterrichtswesen in Bayern und ganz Süddeutschland“.104 Viele Schüler bewarben sich um Aufnahme an der Anstalt, so dass schon kurze Zeit nach der Gründung Personen aus Platzmangel abgewiesen werden mussten. Spätestens mit der Übergabe der Schulleitung an Jakob Stoll 1919 und den von ihm vorangetriebenen Reformen erlangte sie bis zu ihrer Schließung 1938 eine Bedeutung weit über die Region hinaus. Nachdem das Schulgebäude in der Reichspogromnacht zerstört wurde, deportierten die Nationalsozialisten die Lehrer und volljährigen Schüler nach Dachau und Buchenwald, wodurch deren Leben zerstört wurde und die Schule zu existieren aufhörte. Als Kellermann im Schuljahr 1886/87 an der ILBA angenommen wurde, hatte sie seit zwei Jahren ihren festen Sitz in der Bibrastraße 6 in direkter Nähe zum prachtvollen Hofgarten und dem Residenzschloss.105 Von daher erhielt sie von den Seminaristen den Spitznamen „die Bibra“. Nachdem Bamberger 1878 während einer Tora-Lesung zu Sukkot (Laubhüttenfest) verstorben war, hatte sein Sohn Nathan (1842–1919) die Leitung übernommen und stand der Anstalt zum Zeitpunkt der Einschreibung Kellermanns vor.106 Der Schule angebunden war ein Internat, wo die unbemittelten Schüler kostenfrei Wohnung nahmen und

103 Zur Struktur der ILBA und ihrer Geschichte im Folgenden, vgl. Prestel, Jüdisches Schulund Erziehungswesen, 348–356; Steidle, Jakob Stoll und die ILBA, 11–18; Kaufmann, A History of the Jewish Teachers Seminary, 25–94; Gehring-Münzel, Emanzipation, 134–138; Bamberger, Nathan, ILBA. Entstehung und Entwicklung. 104 Lowenstein, Die Gemeinde, 136. 105 Vgl. Bamberger, Nathan, ILBA. Entstehung und Entwicklung, 38. 106 Obwohl sich in den Einwohnermeldebögen und den Adressbüchern von 1886 und 1888 Benzion Kellermanns Name nicht finden lässt, muss es als gesichert gelten, dass er während seiner Ausbildung in der Stadt wohnte, da dies wie an der Höchberger Schule Pflicht für die Präparanden war. Zudem liegen im Würzburger Stadtarchiv trotz amtlicher Meldepflicht für alle Einwohner für Schüler, Studenten und Soldaten meist keine Meldungen vor (Auskunft von Hans-Peter Baum, Stadtarchiv Würzburg, 12. 4. 2011).

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verköstigt wurden.107 Nur wenn der Platz dort nicht ausreichte, wurde vom Vorstand ein Wohnsitz außerhalb des Internatsgebäudes erlaubt.108 Ob Kellermann extern oder in der Schülergemeinschaft wohnte, kann aufgrund der Aktenlage jedoch nicht mehr festgestellt werden. Um an der ILBA angenommen zu werden, musste er eine Aufnahmeprüfung ablegen, die seinen Wissensstand erweisen sollte. Nachdem er diese erfolgreich bestand, konnte er hier seine bisher erworbenen Kenntnisse in den jüdischen und profanen Disziplinen erweitern, da die Studenten nicht nur zu Religions-, sondern gleichermaßen auch zu Volksschullehrern ausgebildet wurden. Zu den profanen Fächern, die in derselben Weise unterrichtet und geprüft werden mussten wie an nichtjüdischen Lehrerseminaren, gehörten Mathematik, Arithmetik, Chemie und Physik, Deutsch, Geografie, Zeichnen, Pädagogik und Turnen. Der Musikunterricht hingegen wurde aufgrund einer Sonderregelung in geringerem Umfang erteilt.109 Die nichtreligiösen Fächer wurden sowohl von internen Seminarlehrern als auch externen Lehrern der städtischen Schulen und des „Königlichen Schullehrerseminars“ unterrichtet,110 was für eine gute Zusammenarbeit der pädagogischen Einrichtungen in Würzburg zu jener Zeit spricht. Der Lehrplan des Religionsunterrichts, dem an der Anstalt eine herausgehobene Bedeutung zukam, wurde vom Kuratorium und Bamberger persönlich entwickelt und umfasste wöchentlich 14 bis 16 Stunden.111 „[Der Lehrplan] zählt[e] folgende spezifisch jüdischen Unterrichtsfächer auf: Pentateuch mit Raschi, die sämmtlichen übrigen Fächer der h.[eiligen] Schr.[ift] in der Ursprache, Mischna, Talmud, Ritualcodex, Chobot-Halebabot oder eine ähnliche Schrift, jüdische Geschichte, hebräische Grammatik und Komposition […]. Die in der Anstalt eingerichtete Synagoge, in welcher täglich der Früh- und Abendgottesdienst abgehalten wird, bietet den Zöglingen Gelegenheit, sich im Vorsängerdienste und im Thoravorlesen praktisch einzuüben, ein Gegenstand, der bisher bei der Lehrerbildung ganz vernachlässigt worden ist.“112 In der Liturgie wurde dabei dem traditionellen Ritus gefolgt und jedwede Veränderung abgelehnt. Zudem wurden an der orthodoxen Anstalt selbstverständlich die Schabbatvorschriften beobachtet und koscher gegessen. Die Schüler sollten durch das gemeinschaftliche Zusammenleben und den 107 108 109 110

Vgl. RILBA 1888/89 (1889), 7. Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 350. Vgl. zu den Fächern: Bamberger, Nathan, ILBA. Entstehung und Entwicklung, 48. Vgl. ders., Festschrift ILBA, 55f mit Angaben zum Zeitrahmen der Beschäftigung an der ILBA. 111 Vgl. Kaufmann, A History of the Jewish Teachers Seminary, 39. 112 Israelit Nr. 47 vom 23. 11. 1864, 618f, hier : 618. Die „Chobot-Halebabot“ („Pflichten des Herzens“) sind ein Werk des jüdischen Philosophen Bachja ben Josef ibn Paquda (11. Jh.).

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intensiven Unterricht dazu „befähigt werden, [die] hl. Schrift, Talmud und Ritual wahrhaft gründlich zu lehren und zu ächt [sic] religiösen und moralischen Männern gebildet werden“.113 Der Tagesablauf war deshalb wie in der Höchberger Schule rigoros geregelt und ließ Kellermann und seinen Kommilitonen wenig Raum für freizeitliche Aktivitäten und individuelle Entfaltung: „Eine reiflich erwogene Haus-, Tages- und Stundenordnung regelt das Leben in der Anstalt bis auf ’s Einzelnste. Von Morgens 5 Uhr bis Abends 10 Uhr hat jede Stunde ihre Bestimmung, Unterrichts- und Übungsstunden wechseln mit Erholungsstunden und gemeinschaftlichen Spaziergängen; alles ist darauf berechnet, die Zöglinge an die dem Lehrer ganz besonders nötige Ordnungsliebe und Pünktlichkeit und an sparsames Haushalten mit Zeit und Kraft zu gewöhnen“.114 Bis 1886 waren die Präparanden von den umfangreichen Prüfungen im Musikunterricht dispensiert, was dem Religionsunterricht viele Stunden zuführte und einen Abschluss innerhalb von zwei Jahren ermöglichte.115 Auf den in diesem Jahr ausgegebenen Erlass des Schulministeriums mit der Forderung, den musikalischen Unterricht mit Ausnahme des Orgelspiels vollständig einzuführen, reagierten die Entscheidungsträger der ILBA mit der Verlängerung der Ausbildung um ein Jahr ab 1888, um die inhaltliche Qualität des Unterrichts in den jüdischen Disziplinen nicht zu gefährden. Kellermann gehörte damit zur letzten Schülergeneration, die nur zwei Jahre an der ILBA ausgebildet wurde. 1888 bestand er mit 14 anderen Kommilitonen die Lehrerprüfung am Königlichen Schullehrerseminar in Würzburg.116 Weil die ILBA erst 1913 die Prüfungserlaubnis erhielt,117 legte Kellermann, wie rund 200 andere Studenten vor ihm,118 sein Examen an dem staatlichen Seminar ab und konnte von nun an als seminaristisch ausgebildeter Religions- und Volksschullehrer arbeiten.

113 Bamberger, Seligmann B., u. a., Antwort auf die Anfrage der Königlichen Regierung. Zit. n. Bamberger, Nathan, ILBA. Entstehung und Entwicklung, 25. 114 Israelit Nr. 47 vom 23. 11. 1864, 618. 115 Vgl. dazu Bamberger, Nathan, ILBA. Entstehung und Entwicklung, 38. Zum Folgenden vgl. ebd. u. 46. 116 Vgl. Bamberger, Nathan, Festschrift ILBA, 61 u. 68; Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 113. 117 Vgl. Prestel, Jüdisches Schul- und Erziehungswesen, 350. 118 Bis zum 25jährigen Jubiläum der Anstalt 1889 verließen 210 Schüler diese mit Erfolg. Die Feierlichkeiten fanden am 12. und 13. August 1889 unter anderem in der Aula statt und wurden von Honoratioren und über 100 ehemaligen Schülern besucht (vgl. Bamberger, Nathan, ILBA. Entstehung und Entwicklung, 39f). Ob Kellermann unter ihnen war, konnte nicht ermittelt werden.

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2. Lehrerberuf, Studium und Promotion 2.1 Die Israelitische Elementarschule in Marburg und Wanderlehrer in der Umgebung Nach der Ausbildung an den beiden Seminaren in Höchberg und Würzburg, ging Benzion Kellermann zwischen Ende 1888 und Anfang 1889 nach Marburg, wo er in der Wettergasse 38 bei einem Kupferschmied namens Meckel Wohnung nahm.1 Dem selbst verfassten Lebenslauf zufolge, wirkte er von 1890 bis 1891 in der Lahnstadt als Lehrer an der 1861 gegründeten Israelitischen Elementarschule.2 Archivalisch kann die Anstellung nicht verifiziert werden, da es in dem Aktenband zur jüdischen Elementarschule im Hessischen Staatsarchiv Marburg keinen Hinweis auf ihn gibt.3 Auch in dem Standardwerk zur Geschichte der Marburger Juden von Axel Erdmann taucht sein Name nicht auf.4 Dennoch ist davon auszugehen, dass Kellermann in seinem Lebenslauf von 1896 die Stationen seines bisherigen Lebens angemessen widergibt und es andere Gründe dafür geben muss, weshalb sein Name nicht genannt ist. Als jüdischer Pädagoge hatte er „mit all den Unsicherheiten [zu leben], die zu dieser Zeit noch für diesen Berufszweig bestanden: Die Arbeitsverträge waren in der Regel auf maximal drei Jahre befristet, die Besoldung mehr als mäßig und oft unregelmäßig bezahlt, zusätzliche Arbeiten selten honoriert.“5 Eventuell liegt in diesen Missständen, zu denen noch die „mangelnde soziale Sicherung und be1 Inskription Benzion Kellermann, 3. 5. 1889, UA Marburg, 305 m 1 Nr. 28. 2 Kellermann, Benzion, Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 4 u. 6. In der Vita, die er der 1896 gedruckten Dissertation beifügte, spricht er hingegen davon, dort nur 1890 Lehrer gewesen zu sein: Kellermann, Benzion, Der Midrasch zum I. Buche Samuelis und seine Spuren bei Kirchenvätern und in der orientalischen Sage. Ein Beitrag zur Geschichte der Exegese, Frankfurt a. M. 1896, o. S. [64]. Diese Vita ist auch bezüglich der Immatrikulation an der Marburger Universität fehlerhaft (vgl. Kap. I.2.2.2), weshalb sie nur mit Vorsicht und im Abgleich mit den anderen Quellen heranzuziehen ist. Möglicherweise sind beim Druck der Dissertation Fehler in die Vita hineingeraten, die die beiden divergierenden Lebensläufe erklären. Verglichen mit den von Kellermann selbst stammenden Aussagen über sein dortiges Wirken als Lehrer, müssen jedoch die bei Gutmann und der sich wahrscheinlich auf ihn berufenden Jansen angegebenen Jahre 1889 bis 1891 als auch der von Kössler genannte Zeitraum 1889 bis 1890 korrigiert werden (Vgl. Jansen, Kellermann, 328; Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 113; Kössler, Kellermann). 3 HStA Marburg, 330 Marburg C Nr. 4452. 4 Erdmann, Axel, Die Marburger Juden. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Dargestellt anhand der staatlichen Quellen unter besonderer Berücksichtigung des 19. Jahrhunderts, Marburg 1987. 5 Heitmann, Margret, „Liebe zur Gemeinde erwächst erst aus dem Gefühl der Sicherheit“. Der Verband der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden 1897–1922, in: Brocke, Michael/Heitmann, Margret/Lordick, Harald (Hg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Netiva, Bd. 2, Hildesheim 1999, 217–237, hier: 224.

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scheidenste Wohn- und Lebensbedingungen“6 hinzukamen, die kurze Zeitspanne der Anstellung von nur einem Jahr begründet. An dieser Tatsache oder weil Kellermann dem eigentlichen Lehrer Abraham Strauss vermutlich nur assistierte, könnte es liegen, dass er in den relevanten Beständen nicht auftaucht und es keine weiteren Hinweise auf seine Position gibt. Der 1865 geborene Strauss wurde 1889 als Volksschullehrer nach Marburg berufen7 und gehörte bald zu den „herausragenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde“, in dessen Haus „Gelehrte, Künstler, Schriftsteller und Journalisten“ verkehrten.8 Für seine Schulpolitik wurde Strauss hoch gelobt, da sein wesentliches Ziel darin bestand, die Schüler so weit fortzubilden, dass sie an weiterführenden Schulen studieren und so eine noch bessere Ausbildung erhalten konnten. Seine reformpädagogischen Ansichten hatten wesentlich dazu beigetragen, dass die jüdische Volksschule in Marburg den „Weg von der konfessionellen Pflichtschule zur Eingangsschule und ,Förderschule‘ für jüdische Kinder“9 vollzogen hatte. Da aufgrund der schlechten Quellenlage keine Informationen zu Kellermanns dortigem Wirken vorliegen, kann über den von ihm erteilten Unterricht nur spekuliert werden. Als Religionslehrer behandelte er sehr wahrscheinlich Themen wie biblische und nachbiblische Geschichte des Judentums, Gebete und rituelle Vorschriften. Als Volksschullehrer war er zudem berechtigt, die Schüler in den profanen Fächern wie Mathematik, Physik oder Geografie zu unterweisen. Neben der kurzen Tätigkeit an der Schule war er nach der Aussage seines Sohnes Ernst Kellermann und seines langjährigen Freundes Hans Sachs als Wanderlehrer im Marburger Umland beschäftigt.10 Die mit der Industrialisierung und Urbanisierung verbundene Landflucht verringerte die Zahl der Juden in den ländlichen Gemeinden, so dass häufig keine eigenen Religions- und Volksschulen mehr aufrechterhalten werden konnten. Zudem verloren sowohl in ländlichen als auch in städtischen Regionen die spezifisch jüdischen Elementarschulen mit ihrer herausgehobenen Betonung des Religionsunterrichts durch die zunehmende Liberalisierung des deutschen Judentums und des Wunsches nach umfassender weltlicher Bildung an Attraktivität.11 Vor allem in den städtischen Gegenden sahen viele Eltern „in den jüdischen Schulen Relikte des Ghettos, die die kulturelle und soziale Integration der Juden behinderten“.12 Sie 6 Richarz, Jüdische Lehrer auf dem Lande, 190. 7 Zu Strauss’ Leben und Wirken vgl. Erdmann, Die Marburger Juden, 127f. 8 Steer, Martina, Bertha Badt-Strauss (1885–1970). Eine jüdische Publizistin, Campus Judaica, Bd. 22, Frankfurt/New York 2005, 90f. 9 Erdmann, Die Marburger Juden, 90. 10 Vgl. Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 4; Sachs, Kellermann zum Gedenken. 11 Vgl. Lowenstein, Die Gemeinde, 132. 12 Richarz, Jüdische Lehrer auf dem Lande, 183. Folgendes Zitat: ebd. – Ebd., 184 findet sich

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schickten ihre Kinder häufiger auf christliche Schulen, „um sie für eine höhere Bildung vorzubereiten und sozial zu integrieren“ und damit verbunden, um dem Nachwuchs eine stärker naturwissenschaftlich und kaufmännisch geprägte Ausbildung zu bieten. Um die Kinder von weiterhin an der eigenen Tradition und Geschichte interessierten deutschen Juden dennoch in den Grundzügen jüdischer Religion und hebräischer Sprache zu unterweisen, gab es die Wanderlehrer. Sie wurden von mehreren Familien, die sich einen eigenen Hauslehrer nicht leisten konnten, gemeinsam ,gemietet‘ und kamen einmal wöchentlich in das Dorf oder die Kleinstadt, um die wenigen Kinder zu unterrichten. Die Wanderlehrer boten damit oft die einzige Möglichkeit eines rudimentären Studiums jüdischer Literatur und Geschichte. Durch jene „mühselige Wanderlehrertätigkeit“ und die Arbeit als Lehrer an der Israelitischen Elementarschule erwarb sich Kellermann die finanziellen Mittel für „seine Fortbildung in Marburg“13, also für das Studium, das er in diesen Jahren parallel betrieb.

2.2 Studien in Marburg 2.2.1 Antisemitismus in Stadt und Land: Die Böckel-Bewegung Für Kellermann, der von der Vereinbarkeit von religiösem und profanem Wissen überzeugt war und als Religions- und Volksschullehrer praktisch verfolgte, war es nur konsequent, nach der Ausbildung an zwei spezifisch jüdischen Lehrerseminaren auch an einer staatlichen Universität zu studieren, wie es schon sein Vater getan hatte. Er entschied sich für Marburg, reichte die Abgangszeugnisse aus Höchberg und Würzburg ein und wurde am 3. Mai 1889 zum Sommersemester unter der Nummer 189 im Fach Philologie immatrikuliert.14 An der traditionsreichen, 1527 gegründeten Universität, wurde der neunzehnjährige Kellermann wie seine jüdischen Kommilitonen mit einem scharfen Antisemitismus seitens vieler Studenten und Dozenten konfrontiert. Denn neben der alltäglichen Judenfeindschaft, befand sich zu diesem Zeitpunkt in Marburg und auf dem oberhessischen Land die antisemitische und agrarromantische Bewegung Otto Böckels (1859–1923) auf ihrem Höhepunkt.15 auch die Angabe, dass 1906 in Preußen nur noch ein Fünftel der Kinder eine jüdische Schule besuchte. 13 Sachs, Kellermann zum Gedenken. 14 Inskriptionsliste, UA Marburg, 305 m 1 Nr. 28. Zum Folgenden vgl. ebd. 15 Vgl. dazu Erdmann, Die Marburger Juden, 89f, der die größte Wirksamkeit der Bewegung zwischen 1887 und 1895 datiert. Zur Biografie Böckels und zur Entwicklung seiner Bewegung vgl. im Folgenden ebd., 153–161; Sieg, Ulrich, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, 256–272.

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Der aus Frankfurt am Main stammende Bibliothekar der Marburger Universitätsbibliothek veröffentlichte 1887 die Pamphlete Quintessenz der Judenfrage und Die Juden, die Könige unserer Zeit16 und gab judenfeindliche Zeitschriften wie den Reichsherold heraus. Dabei forcierte er gleich den anderen „politisch radikalen Radau- und Rassenantisemiten wie Hermann Ahlwardt, Ernst Henrici […], Paul und Bernhard Förster“ einen Antisemitismus, der nicht mehr religiös, sondern ganz im Gegensatz dazu „antichristlich-rassistisch[…]“ aufgeladen war.17 Er zog 1887 für den Wahlkreis Marburg/Kirchhain „als jüngster Abgeordneter aller Zeiten“18 und „als erster erklärter Antisemit in den Reichstag“19 ein und propagierte dort seine romantisierende und fortschrittsfeindliche Haltung gegenüber den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozessen der Zeit. Vehement setzte sich der kulturpessimistische Agitator für die Bauern ein, deren Lebenswelt er durch den angeblichen „jüdischen Wucher“ und die fortschreitende Industrialisierung und Abwanderung in die Städte bedroht sah und gründete reaktionäre Bauern-, Handwerker- und Jugendvereine. Viele Bauern, die seit der „großen Agrarkrise“ in den 1880er Jahren, um das wirtschaftliche Überleben kämpften oder Konkurs gegangen waren, suchten in den Juden, die vor allem im Viehhandel stark vertreten waren, einen Sündenbock für die eigene Misere und schlossen sich der Böckel-Bewegung an.20 Sie feierten den Demagogen als „hessische[n] Bauernkönig“, „zweite[n] Luther“ oder „Retter des Bauernstandes“ und folgten bereitwillig seiner völkisch-antisemitischen Propaganda, die einfache Lösungen für komplexe Probleme anbot.21 Die Studentenschaft an der Marburger Philipps-Universität zeigte sich ebenfalls von Böckel beeindruckt und gehörte zu seinen „treuesten Anhängern“. Angesichts steigender Studentenzahlen fürchteten sie zunehmenden Konkurrenzdruck und propagierten den Ausschluss jüdischer Studenten aus der Universität. Sie übten Gewalt gegen politisch Andersdenkende aus und verteilten 16 Böckel, Otto, Quintessenz der Judenfrage. Ansprache an seine Wähler und alle deutschnationalen Männer im Vaterlande, Marburg 61887; ders., Die Juden, die Könige unserer Zeit. Rede des Herrn Dr. Otto Böckel aus Marburg gehalten in der öffentlichen Versammlung des Deutschen Antisemiten-Bundes auf der Bockbrauerei zu Berlin am 4. Oktober 1886, Marburg 1081887. 17 Bergmann, Werner, Art. Deutschland, in: HDA I (2008), 84–103, hier : 91. 18 Sieg, Paul de Lagarde, 260. 19 Pfahl-Traughber, Armin, Antisemitismus, Populismus und Sozialprotest. Eine Fallstudie zur Agitation von Otto Böckel, dem ersten Antisemiten im Deutschen Reichstag, in: Aschkenas 10/2 (2000), 389–415, hier : 390. 20 Zu Böckels Erfolg bei den Bauern vgl. ebd.; Sieg, Paul de Lagarde, 256–260; Toury, Jacob, Antisemitismus auf dem Lande: Der Fall Hessen 1881–1895, in: Richarz, Monika/Rürup, Reinhard (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte, SchrLBI, Bd. 56, Tübingen 1997, 173–188. 21 Sieg, Paul de Lagarde, 260. Folgende Zitate: ebd.

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Flugblätter und Schriften Böckels „bis in die entferntesten Dörfer“. Natürlich gab es zu jener Zeit auch Studenten und Dozenten, die sich den Juden Marburgs gegenüber neutral oder positiv verhielten, jedoch überwog, wie an den meisten deutschen Hochschulen der Zeit, ein latenter bis offener Antisemitismus.22 Von dem Marburger Philosophen Hermann Cohen ist überliefert, „daß viele der dort sitzenden Kollegen den Raum demonstrativ verließen, wenn Cohen ins Professorenzimmer der Universität eintrat“23. Obwohl es weder von Kellermann selbst, noch in der Korrespondenz oder in den Nachrufen direkte Hinweise auf die Böckel-Bewegung gibt, wäre es äußerst unwahrscheinlich, wenn er in seiner Zeit in Marburg zwischen 1889 und 1893 die Agitation des „hessischen Bauernkönigs“ und seiner Anhänger nicht mitbekommen hätte. Eventuell war er ihnen auch selbst ausgesetzt, da er zum einen auf dem Land als Wanderlehrer in kleinen jüdischen Gemeinden wirkte, die dem Antisemitismus der Bauern am stärksten ausgeliefert waren, zum anderen Lehrer und Student in Marburg war, wo mehrere Gerichtsprozesse wegen antisemitischer Beleidigungen gegen Böckel und von ihm beeinflusste Personen stattfanden.24 Kellermanns Dozent, Mentor und lebenslanger Freund Hermann Cohen, der die neukantianische Marburger Schule mitbegründet hatte, setzte sich neben seinen philosophischen Schriften auch immer mit Fragen der jüdischen Religion und Kultur auseinander. Mit der Veröffentlichung des Bekenntnisses in der Judenfrage von 1880 nahm er Stellung zu dem ein Jahr zuvor von dem Historiker Heinrich von Treitschke ausgelösten „Berliner Antisemitismusstreit“, der in den wissenschaftlichen Kreisen der Zeit ein enormes Echo fand.25 Ferner war der Professor Mitglied des regionalen „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ in Marburg und griff 1888 direkt in den sogenannten „Marburger Antisemitismusprozess“ ein.26 22 Vgl. dazu Kampe, Norbert, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 76, Göttingen 1988. Die Studie von Hammerstein, Notker, Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933, Frankfurt a. M. 1995 zeigt dagegen eine verharmlosende Tendenz aufgrund des zu eng gefassten Antisemitismusbegriffs. Vgl. dazu die Besprechung Till van Rahdens in: ArchfS 36 (1996), 702–704. 23 Fraenkel, Abraham A., Lebenskreise. Aus den Erinnerungen eines jüdischen Mathematikers, Stuttgart 1967, 104f. Vgl. ferner Sieg, Marburger Neukantianismus, 258, Anm. 317. 24 Vgl. zu den Prozessen Erdmann, Die Marburger Juden, 158–160. 25 Cohen, Hermann, Bekenntnis in der Judenfrage (1880), JS 2, 73–94. – Vgl. zur Debatte: Sieg, Marburger Neukantianismus, 148–152 und die umfassende Untersuchung von Krieger, Karsten (Hg.), Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Eine kommentierte Quellenedition im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung, 2 Bde., München 2003. 26 Vgl. zu seinem Wirken im VAA: Sieg, Ulrich (Hg.), Das Testament von Hermann und Martha Cohen. Stiftungen und Stipendien für jüdische Einrichtungen. Mit einer Einleitung des

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In letzterem wurde der Volksschullehrer Ferdinand Fenner „wegen der öffentlichen Beschimpfung einer staatlich anerkannten Religionsgesellschaft“ angeklagt, da er in einer Wahlkampfrede für die Böckelbewegung 1886 Juden eine Doppelmoral zugeschrieben und vom Talmud behauptet hatte, er würde sie zum Betrügen der Christen anhalten.27 Die Verteidigung Fenners gewann den berühmten Göttinger Orientalisten und Septuagintaforscher Paul de Lagarde (1827–1891) als Gutachter, der für seine antisemitische, nationalistische und modernitätsfeindliche Gesinnung bekannt und zudem ein „fanatische[r] Böckel-Anhänger“ war.28 Obwohl er die Aussage, dass der Talmud zum Betrügen der Christen auffordere, verneinte, war sein Gutachten eine gewaltige Abwertung nicht nur einer zentralen Quelle der jüdischen Religion, sondern des Judentums insgesamt. Der Talmud wurde von Lagarde als ein Dokument aufgefasst, das ihm zufolge „in ethischer Hinsicht keine Relevanz“ besäße.29 Zudem hätte das Judentum mit der Geburt des Christentums jedwede Existenzberechtigung verloren, womit sich der Gelehrte in den Bahnen der traditionellen antijüdischen Substitutionstheologie bewegte. Die Staatsanwaltschaft hatte Cohen als wissenschaftlichen Gutachter bestellt, der die von Fenner und Lagarde erhobenen Anschuldigungen energisch zurückwies. In seinem Gutachten Die Nächstenliebe im Talmud trat der Sohn eines Kantors mit einer, im Gegensatz zu Lagarde, weitreichenden Kenntnis der Quellen für die Würde dieses zentralen jüdischen Glaubensdokuments ein, das weder eine Doppelmoral gegenüber Juden und Nichtjuden verlange, noch eine „exklusive, sondern [vielmehr] eine universale Ethik vertrete“.30 Am 2. Mai 1888 verkündete das Gericht das Urteil, in dem es Fenner für schuldig im Sinne der Anklage hielt und zu einer zweiwöchigen Gefängnisstrafe und Übernahme der Prozesskosten verurteilte. Sowohl Cohen als auch die Verteidigung Fenners waren mit dem Urteil unzufrieden, aber in dem die Böckel-Bewegung den Verurteilten als Märtyrer verklärte, konnte sie noch „aus dem Marburger Prozeß politisches Kapital […] schlagen“.31

27 28 29 30 31

Herausgebers, in: ZNThG 4 (1997), 251–264, hier : 252. Zum „Marburger Antisemitismusprozess“: ders., Paul de Lagarde, 256–272; ders., Der Talmud vor Gericht. Die ideengeschichtliche Bedeutung des Marburger Antisemitismusprozesses, in: Barth, Hans-Martin/ Elsas, Christoph (Hg.), Religiöse Minderheiten. Potentiale für Konflikt und Frieden. IV. Internationales Rudolf-Otto-Symposion, Schenefeld 2004, 129–144. Ders., Paul de Lagarde, 261. Ders. (Hg.), Das Testament von Hermann und Martha Cohen, 252. Das Gutachten Lagardes findet sich in: Lagarde, Paul de, Ein Gutachten, in: ders., Mittheilungen, Bd. 3, Göttingen 1889, 3–23. Sieg, Paul de Lagarde, 263. Ebd., 266. Das Gutachten findet sich: Cohen, Hermann, Die Nächstenliebe im Talmud. Ein Gutachten dem Königlichen Landgericht zu Marburg erstattet (1888), in: ders., JS 1, 145–174. Sieg, Paul de Lagarde, 268.

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2.2.2 Philosophiestudium: Die Begegnung mit dem Marburger Neukantianismus Kellermann hatte sich zu Beginn zwar innerhalb der Philologie immatrikuliert, besuchte jedoch erst im fünften Semester eine dementsprechende Veranstaltung. Vielmehr nutzte er die Jahre in Marburg, um neben seiner Tätigkeit als Volksschul- und Wanderlehrer in verschiedene Fachbereiche hineinzuhören und sich fortzubilden. Dies entsprach dem damaligen Profil der Universität als Bildungseinrichtung, an der sich der Student eine Allgemeinbildung verschaffte, ohne notwendig einen Abschluss zu machen. Fühlte er sich dann zur Promotion fähig, besprach er sich mit den Dozenten und stellte ein diesbezügliches Gesuch an die jeweilige Fakultät. Somit war der Doktortitel der tatsächliche Abschluss des Studiums. In Kellermanns erstem Semester 1889 bot der renommierte Orientalist und Alttestamentler Julius Wellhausen (1844–1918) innerhalb des Fachbereichs Philologie eine Vorlesung zu den kleinen Propheten an, zudem Fortsetzungskurse in der syrischen und arabischen Sprache. Weiterhin gab es an der Fakultät Veranstaltungen zur hebräischen Grammatik, zum Persischen oder auch Vorlesungen und Seminare in der lateinischen und griechischen Philologie.32 Kellermann schien daran nicht interessiert und besuchte stattdessen zwei philosophische Veranstaltungen bei Julius Bergmann (1839–1904), der eine Überblicksvorlesung zu „Logik und Erkenntnißtheorie“ und die zugehörigen „Logischen Übungen“ abhielt. Der Student gehörte zu den knapp 60 Hörern der beiden Veranstaltungen und entrichtete für die Vorlesung die geforderten neun Mark, wogegen die Übung kostenlos erteilt wurde.33 Bergmann war neben Paul Natorp und Hermann Cohen der dritte Philosophiedozent an der Philippina, war „den Neukantianern“ jedoch „nicht sonderlich gewogen“34. Er gehörte mit Julius Baumann, Gustav Teichmüller und anderen zu der lose verbundenen Gruppe der „,Spätidealisten‘“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die davon überzeugt waren, „daß die erkenntnistheoretische Neubegründung der Philosophie letztlich nur vor dem Hintergrund eines idealistischen Systems möglich sei.“ Im gleichen Semester bot Cohen einen Überblick über die neuere Philosophiegeschichte sowie Philosophische Übungen zu Descartes an, der 32 Vgl. dazu Vorlesungsverzeichnis SS 1889, UA Marburg, 312/6 Nr. 1, 3f. Dass Kellermann diese nicht besuchte, geht aus der vergleichenden Untersuchung der Einnahme- und Ausgabemanuale der Dozenten vom SS 1889 hervor: UA Marburg, 305 r 32 Nr. 132. 33 Honorarberechnung Bergmann SS 1889, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 132, 3–8, hier: 5. Die Namen der Bergmannschen Veranstaltungen stammen aus: Vorlesungsverzeichnis SS 1889, UA Marburg, 312/6 Nr. 1, 6. 34 Sieg, Marburger Neukantianismus, 176. Folgendes Zitat: ebd., 174. Generell zu Leben und Werk: ebd., 174–189; Hanslmeier, Josef, Art. Bergmann, Julius Friedrich Wilhelm Eduard, in: NDB 2 (1955), 89f, URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116133171.html, abgerufen am 24. 6. 2012.

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außerordentliche Professor der Philosophie Paul Natorp las über die Philosophie Kants und hielt ebenfalls Philosophische Übungen ab.35 Der junge Lehrer nahm daran jedoch nicht teil, sondern hatte sich auf die zwei Kurse bei Bergmann beschränkt. Im folgenden Semester war dann der Zeitpunkt gekommen, an dem Kellermann zum ersten Mal seinem wichtigsten Lehrer und späteren Mentor Hermann Cohen begegnete. Dieser wuchs als Sohn von Friederike und Gerson Cohen, des Kantors und Lehrers der jüdischen Gemeinde im anhaltinischen Coswig, auf.36 Der religiösen Unterweisung durch den Vater schloss sich ein Studium am renommierten Rabbinerseminar in Breslau an, das er aber zugunsten einer philosophischen Ausbildung an der dortigen Philosophischen Fakultät sowie in Berlin und Halle vorzeitig abbrach. Nach der Promotion und Habilitation, wurde er 1876 in Marburg zum ersten jüdischen Philosophieprofessor Deutschlands berufen37 und lehrte dort bis zu seinem Umzug nach Berlin 1912. Kellermann besuchte im Wintersemester 1889/90 zwei Veranstaltungen Cohens. Die sehr gut besuchte Vorlesung zu „Kants System“ führte an vier Tagen in der Woche in dessen Erkenntnislehre, Ethik und Ästhetik ein. Wie der Großteil der 82 anderen Studenten bezahlte Kellermann dafür zwölf Mark im Semester, während die zusätzlich angebotenen Übungen gratis erteilt wurden.38 Sie fanden zweimal wöchentlich „privatissime“ in der Wohnung des Professors in der Renthoffstraße 10 statt und die Teilnahme war für Kellermann eine große Ehre. Denn zu den Übungen luden die Dozenten persönlich nur solche Studenten ein, die sie für geeignet hielten, den Stoff auch wirklich durchdringen und verstehen zu können. Der von den Kollegen an der Universität angefeindete und vom Antisemitismus immer mehr angewiderte Cohen „scharte in Marburg einen Kreis jüdischer Studenten um sich, die er nicht zuletzt nach der Glaubensstrenge ihrer Lebensweise beurteilte“.39 Dass der aus einem Levitengeschlecht stammende Kellermann infolge seiner traditionellen Erziehung und Lehrerausbildung während seines Studiums 35 Vorlesungsverzeichnis SS 1889, UA Marburg, 312/6 Nr. 1, 6. 36 Eine umfassende, wissenschaftliche Biografie Cohens fehlt trotz zahlreicher Forschungen zu seinem Werk bis heute. Überblicke inkl. weiterführender Literatur bieten u. a.: Wiedebach, Hartwig, Art. Hermann Jecheskel Cohen, in: Kilcher/Fraisse (Hg.), Metzler Lexikon jüdischer Philosophen, 262–266; Bergman, Samuel H./Amir, Yehoyada, Art. Cohen, Hermann, in: 2EJ 5 (2007), 18–20; Grözinger, Karl E., Jüdisches Denken. Theologie, Philosophie, Mystik, Bd. 3: Von der Religionskritik der Renaissance zu Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2009, 617–657; Sieg, Marburger Neukantianismus. 37 Vgl. Hasselhoff, Görge K., Ideen und Leitgedanken des Bandes, in: ders. (Hg.), Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums, SJ, Bd. 54, Berlin/New York 2010, 3–16, hier : 16. 38 Honorarberechnung Cohen WS 1889/90, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 133, 105–107, hier : 107. Die Titel der Veranstaltungen stammen aus: Vorlesungsverzeichnis WS 1889/90, UA Marburg, 312/6 Nr. 1, 6. 39 Sieg, Marburger Neukantianismus, 258. Folgendes Zitat: ebd.

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wahrscheinlich noch halachisch observant lebte, trug neben seiner Auffassungsgabe und Intelligenz sicher dazu bei, dass er Cohens „Lieblingsschüler“ wurde. Cohen hatte starke Sympathien für eine traditionell ausgerichtete Lebensweise seiner jüdischen Studenten, denn diese „Isolierung des Judentums mittels der spezifischen Religionsgesetzgebung in der Moderne“ war ihm „eine notwendige Voraussetzung für die Weiterentwicklung von Monotheismus und Messianismus, welche auf das universale, moralische Menschheitsziel abzielen“40. Während das Gesetz als ein vorwiegend idealistisches, den sittlichen Fortschrittsprozess beförderndes, Prinzip Geltung besitze, stand für Cohen als „Bekenner einer freien Religiosität“41 die Notwendigkeit der Reformierung oder Abschaffung einzelner Gebote und Traditionen außer Frage, sofern sie der Vernunft und der Ethik im Anschluss an Kant widersprächen. Cohen gehört in die Nähe des liberalen Judentums, wenn er trotz des steten Bewusstseins, „auf einen traditionellen, einen geschichtlichen Untergrund von Lehren und Satzungen“ angewiesen zu sein, behauptet: „Eine moderne Religiösität kann sich niemals und nirgends für festgelegt und verankert halten: sie muß sich die Urgründe und die Bürgschaften ihres Glaubens selbständig und gleichsam neu schaffen. […] Kein Leben ohne Kampf. Keine Religiosität ohne Entwicklung.“ Für Cohen durfte also die tradierte Lebensweise nicht mit der an Kant ausgerichteten ethischen Grundkonzeption in Konflikt geraten und sich nicht der wissenschaftlichen Erforschung der jüdischen Quellen entgegenstellen. Zudem trat er publizistisch dafür ein, den Juden die vollständige Integration als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, wie es auch der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ programmatisch in seinem Namen forderte, nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der lebenspraktischen Realität zu ermöglichen. Das von ihm erhoffte Ideal war in dieser Hinsicht eine deutschjüdische Kultursynthese, von deren Möglichkeit des Zustandekommens er zumindest bis in den Ersten Weltkrieg hinein und damit bis kurz vor seinem Tod überzeugt war.42 Der liberale Geist, der Kellermann sowohl in den Übungen und privaten Gesprächen als auch in den philosophischen Vorlesungen und Seminaren umwehte, musste einen starken Eindruck auf den jungen Studenten gemacht haben. Denn der aus einer frommen Familie stammende und an zwei streng orthodoxen An40 La Sala, Beate Ulrike, Hermann Cohens Spinoza-Rezeption, Alber-Reihe Thesen, Bd. 50, Freiburg/München 2012, 299. 41 Cohen, Hermann, Die Bedeutung des Ordens Bnei Briss für die Harmonisierung der religiösen, sozialen und internationalen Gegensätze (1914), JS 2, 149–155, hier: 151. Folgende Zitate: ebd., 150f. 42 Vgl. die umfassende Studie von Wiedebach, Hartwig, Die Bedeutung der Nationalität für Hermann Cohen, Europea Memoria. Reihe I: Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen, Bd. 6, Hildesheim 1997.

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stalten ausgebildete jüdische Religionslehrer kam nun zum ersten Mal unmittelbar mit der Philosophie Kants und dem auf ihr aufbauenden Neukantianismus in Berührung, „der philosophiegeschichtlich bedeutsamsten Bewegung der Kaiserzeit“43, deren Vorläufer Hermann von Helmholtz, Otto Liebmann und Friedrich Albert Lange waren. Ihnen und den späteren Neukantianern ging es in der Verteidigung des politischen Liberalismus, in der Abwehr des zeitgenössischen Materialismus und Positivismus und in der Suche nach einer angemessenen Antwort auf die Herausforderungen durch die immer weiter fortschreitenden Naturwissenschaften „um eine methodische Grundlegung der Wissenschaften durch die Philosophie einerseits und um die Begründung und Etablierung der Philosophie als strenger Wissenschaft andererseits.“44 Seit frühester Zeit beschäftigte sich Cohen intensiv mit dem Gesamtwerk Kants, und suchte in diesem Antworten auf die Fragen und Herausforderungen seiner eigenen Zeit. Aufgrund der drei großen Kantstudien Kants Theorie der Erfahrung, Kants Begründung der Ethik und Kants Begründung der Ästhetik zwischen 1871 und 188945 gilt er neben Paul Natorp als der Begründer der Marburger Schule des Neukantianismus, die wie die ihr kontrastierende Südwestdeutsche Schule eine eigene Spielart der Kantrezeption ausbildete.46 Die Marburger, zu denen, in jeweils philosophischer Eigenständigkeit, neben Cohen, Natorp und Kellermann auch Ernst Cassirer, Walter Kinkel und Karl Vorländer zählen, waren besonders zu Beginn methodisch und inhaltlich streng an den mathematisch ausgerichteten Naturwissenschaften orientiert, für die ein philosophisches Fundament geschaffen werden sollte.47

43 Sieg, Ulrich, Die Geschichte der Philosophie an der Universität Marburg von 1527 bis 1970, Veröffentlichungen aus den Fachbereichen der Philipps-Universität Marburg, Bd. 2, Marburg 1988, 37. 44 Tesak, Gerhild, Art. Neukantianismus, in: HPh, 487–490, hier: 488. 45 Cohen, Hermann, Kants Theorie der Erfahrung (1871, 21885, 31918), Werke 1; ders., Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte (1877, 2 1910), Werke 2; ders., Kants Begründung der Ästhetik (1889), Werke 3. 46 Daneben gab es noch andere Ausprägungen, etwa den „realistischen Neukantianismus“ Alois Riehls. Vgl. dazu die überblickenden Darstellungen bei Holzhey, Helmut, Der Neukantianismus, in: ders./Röd, Wolfgang, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts, Teilbd. 2: Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie, Geschichte der Philosophie, Bd. 12, München 2004, 11–129; Pascher, Manfred, Einführung in den Neukantianismus. Kontext – Grundpositionen – Praktische Philosophie, München 1997; Köhnke, Klaus C., Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. 1986; Ollig, Hans Ludwig, Der Neukantianismus, Stuttgart 1979. 47 Vgl. dazu und im Folgenden die Detailstudien zu den „Marburgern“ von Holzhey, Helmut, Cohen und Natorp, 2 Bde., Bd. 1: Ursprung und Einheit. Die Geschichte der „Marburger Schule“ als Auseinandersetzung um die Logik des Denkens, Bd. 2: Der Marburger Neukantianismus in Quellen. Zeugnisse kritischer Lektüre. Briefe der Marburger. Dokumente

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Damit sollte zum einen die Abhängigkeit aller Wissenschaften von der Philosophie bewiesen, zum anderen, wie bei Cohen, eine Einheit aller Bereiche des Bewusstseins dargestellt werden. Diese Einheit besteht aus Logik, Ethik, Ästhetik und Psychologie und soll dementsprechend eine umfassende Beschreibung des Menschen und der Welt, die er bewohnt, bieten. Zudem befassten sich die Marburger mit gesellschaftspolitischen Fragen und waren häufig sozialdemokratisch gesinnt. Georg Jellinek, Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband und ihre Schüler repräsentierten die Südwestdeutsche Schule, die sich zwar in der „Ablehnung des kantischen Ding an sich“48 mit den Marburgern einig wusste, ansonsten aber stärker kulturwissenschaftlich orientiert war. Sie verfolgten das Projekt, den Kultur- bzw. Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften inhaltlich und methodisch eine legitime Eigenständigkeit zu verschaffen.49 Bei Cohen besuchte Kellermann während seines gesamten Studiums die meisten Vorlesungen und Übungen und fand in ihm einen Mentor, dem er bis zu seinem Tod fachlich und persönlich treu verbunden blieb. Er gehörte nicht nur zum Schülerkreis Cohens, sondern später auch zu der Marburger Schule. Diese Philosophie sollte ihn nie wieder loslassen und wurde von ihm in seinen eigenen Werken stetig weiterentwickelt. In Kellermanns Beitrag für die von ihm mitherausgegebene Festschrift anlässlich des 70. Geburtstags Cohens heißt es diesbezüglich: Und weil es vor allem Kant beschieden war, die aristotelischen Fundamente der christlichen Logik, der Scholastik mit ihrer Vergottung der Empirie, zu erschüttern, und auf den Trümmern dieser Scheinphilosophie das Banner Platos aufzupflanzen, deshalb muß auch der Vertreter der reinen Philosophie in der Wiederaufrichtung Kants die Aufgabe der Philosophie überhaupt erblicken.50

In seinem zweiten Semester, dem Winterhalbjahr 1889/90, besuchte Kellermann erneut keine philologischen Kurse, weder innerhalb der griechischen oder lateinischen, noch in der semitischen Sprachwissenschaft.51 Wellhausen las über das Aramäische und ausgewählte Kapitel des Jeremiabuches, erklärte den Koran und hielt eine Vorlesung zur Geschichte des alten Orients.52 Kellermann hatte während des gesamten Studiums die Chance nicht genutzt, bei Wellhausen zu

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zur Philosophiepolitik der Schule, Basel/Stuttgart 1986; ders., Neukantianismus (2004), 42–88; Sieg, Marburger Neukantianismus. Tesak, Neukantianismus, 489. Vgl. dazu Holzhey, Neukantianismus (2004), 89–122; ders./Renz, Ursula, Art. Neukantianismus, in: Sandkühler, Hans J. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 1999, 939–944, hier: 940f. Kellermann, Benzion, Die philosophische Begründung des Judentums, in: Elbogen, Ismar/ Kellermann, Benzion/Mittwoch, Eugen (Hg.), Judaica. Festschrift zu Hermann Cohens siebzigstem Geburtstage, Berlin 1912, 75–102, hier : 76f. Manual WS 1889/90, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 133. Vorlesungsverzeichnis WS 1889/90, UA Marburg, 312/6 Nr. 1, 3f.

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studieren, der als „einer der bedeutendsten deutschen Gelehrten des 19. Jahrhunderts“53 gilt und mit seinen breit gefächerten Studien wesentlich zum Erkenntnisfortschritt in den von ihm bearbeiteten Disziplinen beigetragen hat.54 Jedoch werden alle Veröffentlichungen des späteren Religionsphilosophen den Geist der kritischen Exegese Wellhausens atmen, der eine radikale Historisierung der Bibel forderte. Ohne dessen Schriften zu den Samuelbüchern und seiner Quellenkritik am Pentateuch können die Texte Kellermanns nicht verstanden werden, denn „[k]onsequent interpretierte W.[ellhausen] das ,Gesetz‘ als gegenüber der Prophetie zeitlich sekundäre Größe“55. In ähnlicher Weise wird auch der spätere Reformrabbiner die primäre Rolle des jüdischen Religionsgesetzes abwehren und das Zentrum der jüdischen Religion in der von den Propheten vermittelten Ethik sehen, die er als „ethischen Monotheismus“ beschreiben wird. Im Wintersemester 1890/91 hörte Kellermann mit 27 Kommilitonen drei Stunden pro Woche Cohens Vorlesung zur „Ethik nebst Geschichte der ethischen Principien“ sowie dessen „Philosophische Uebungen über Kant’s Kritik der praktischen Vernunft“.56 Er erlernte hier das philosophische Handwerkszeug für seine eigenen Schriften, in denen er immer wieder um die Frage nach der Möglichkeit und der Realisierung einer an Kant und Cohen ausgerichteten Ethik kreiste und diese mit dem Judentum zusammendachte. Zum Sommersemester 1891 zog Kellermann von der Wettergasse in die Haspelstraße 18 in der Marburger Unterstadt, wo er fortan bei einem Handelsmann namens Lion zur Miete wohnte.57 Er hörte erneut bei Cohen, der viermal wöchentlich über die „Geschichte der alten Philosophie“ las. Zudem war er einer der sechs ausgewählten Studenten, die dessen „Philosophische Uebungen über die auf die Ideenlehre bezüglichen Stellen in Platons Dialogen“ besuchten, die zweimal in der Woche im privaten Kreis abgehalten wurden.58 Die beiden Veranstaltungen waren zwar die letzten, die Kellermann bei Cohen besuchte, aber sie pflegten fortan eine lebenslange Freundschaft, wie nicht zuletzt

53 Frenschkowski, Marco, Art. Wellhausen, Julius, in: BBKL 13 (1998), 716–727, URL: http:// bautz.de/, abgerufen am 23. 5. 2014. 54 Zu Leben und Werk Wellhausens vgl. ebd.; Kratz, Reinhard G., Art. Wellhausen, Julius, in: TRE 35 (2003), 527–536; Bauer, Michael, Julius Wellhausen, in: Graf, Friedrich W. (Hg.), Klassiker der Theologie, Bd. 2, 123–140; Smend, Rudolf, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten. Mit 18 Abbildungen, Göttingen 1989, 99–113. 55 Frenschkowski, Wellhausen. 56 Honorarberechnung Cohen WS 1890/91, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 135, 120–122, hier : 121. 57 Personal- und Studierendenverzeichnis SS 1891, UA Marburg, 305 m 3 Nr. 4, 24. 58 Honorarberechnung Cohen SS 1891, UA Marburg 305 r 32 Nr. 136, 146f, hier : 147. Zu den Titeln: Vorlesungsverzeichnis SS 1891, UA Marburg 312/6 Nr. 2, 11.

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die herzlichen Briefe der Cohens an Kellermann und seine Frau Thekla beweisen.59 Die ,Offenbarung‘, die Kellermann während seines Studiums bei Cohen erlebte, ist für seinen weiteren Lebensweg nicht hoch genug einzuschätzen, denn im Geist der Orthodoxie erzogen und ausgebildet, wurde der junge Mann in Marburg zum ersten Mal mit der Geschichte der Philosophie, der Lektüre Kants und allen Aspekten der neukantianischen Interpretation konfrontiert. Kant behauptete, dass wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über Gott und Religion unmöglich zu erlangen wären und wies der Religion deshalb lediglich einen Platz im praktisch-moralischen Bereich an. Neben anderen Elementen des Kantischen Denkens, wie der Definition theologischer als ethischer Begriffe, imponierte Kellermann besonders diese Zweiteilung, die sich auch in seinen späteren Schriften findet, wenn er behauptet, dass „Religion in Ethik, also in Wissenschaft sich verwandeln“ müsse.60 2.2.3 Theologie, Philologie und Studium generale In den letzten vier Semestern besuchte Kellermann überhaupt keine philosophischen Veranstaltungen mehr. Stattdessen wandte er sich anderen Inhalten und Dozenten zu und hörte beispielsweise eine Vorlesung zur „Anatomie und Physiologie der Pflanzen“.61 Diesem Interesse an den Naturwissenschaften verdankte sich auch der Besuch zweier Veranstaltungen zur „Naturgeschichte der Fische und Amphibien“ und „Ueber Symbiose, Kolonie- und Staatenbildung im Thierreiche“.62 Das letzte Mal hörte Kellermann eine naturwissenschaftliche Vorlesung in seinem vorletzten Semester im Winter 1892/93, in dem der Geologe und Paläontologe Emanuel Kayser über die „Schöpfungsgeschichte“ las. Die „für Zuhörer aller Fakultäten“ geöffnete Vorlesung war ein Publikumsmagnet, die neben Kellermann noch 143 weitere Studenten anzog.63 Ferner befasste er sich mit den Geschichts-, Staats- und Rechtswissenschaften sowie der protestantischen Theologie. In seinem dritten Semester besuchte er die Vorlesungen „Finanzwissenschaft“ und „Ueber die gegenwärtigen politischen Parteien“.64 Innerhalb der historischen Wissenschaften hörte Kellermann 59 Diese finden sich in der „Benzion Kellermann Collection“ im LBI New York, AR 1197 und werden an geeigneter Stelle in der vorliegenden Arbeit zitiert. 60 Kellermann, Benzion, Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion, Berlin 1908, 43. 61 Honorarberechnung Kohl SS 1891, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 136, 177. Zum Titel: Vorlesungsverzeichnis SS 1891, UA Marburg 312/6 Nr. 2, 18. 62 Honorarberechnung Plate SS 1891, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 136, 204. Die Titel stammen aus dem Vorlesungsverzeichnis für das SS 1891: UA Marburg, 312/6 Nr. 2, 19. 63 Honorarberechnung Kayser WS 1892/93, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 139, 158–160. Zu Kellermanns Teilnahme: ebd., 160. 64 Honorarberechnung Glaser SS 1890, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 134, 127. Zu den Vorlesungstiteln: Vorlesungsverzeichnis SS 1890, UA Marburg, 312/6 Nr. 2, 12.

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die Vorlesung „Urzustände des Menschengeschlechts“, in der Karl von den Steinen aus dem naturwissenschaftlichen und dem philosophischen Blickwinkel anthropologische Fragestellungen behandelte.65 Bei dem Staatswissenschaftler Hermann Paasche hörte er über „Die neuere Entwicklung des Socialismus und der Socialpolitik“.66 Im Wintersemester 1891/92 besuchte Kellermann zum ersten Mal eine Veranstaltung an der Theologischen Fakultät, der zu dieser Zeit Gustav A. Jülicher als Dekan vorstand. Der Alttestamentler Wolf Wilhelm Graf von Baudissin (1847–1926), der von 1881 bis 1900 in Marburg, später in Berlin, lehrte, las über ausgewählte Psalmen und hielt alttestamentliche Übungen im theologischen Seminar. Zudem bot er den ersten Teil seiner regelmäßig stattfindenden „Alttestamentlichen Theologie“ an, die die vorprophetische Zeit zum Gegenstand hatte.67 Kellermann bezahlte die geforderten 15 Mark und nahm jeden Mittwoch und Samstag an der sehr gut besuchten Vorlesung teil.68 Cohen wertschätzte den Kollegen aus der Theologie, den Rudolf Smend als „Lieblingsschüler des Leipziger konservativen Lutheraners Franz Delitzsch“ bezeichnete, und besprach seine Schriften auch noch in seiner Berliner Zeit nach 1912 positiv.69 Während Kellermann an den anderen theologischen Seminaren und Vorlesungen von Heinrici, Jülicher oder Herrmann nicht teilnahm, schien er mit Baudissins Unterricht zufrieden gewesen zu sein, denn im folgenden Sommersemester 1892 hörte er bei ihm eine viermal wöchentlich stattfindende „Erklärung des Propheten Jesaja“, die insgesamt 54 Hörer fand.70 Baudissin vertrat in Wort und Schrift stets die Auffassung, die israelitische Religion, wie sie sich in der Hebräischen Bibel darstelle, sei von einer charakteristischen Spannung zwischen Nationalismus und Universalismus getragen, die für die Entwicklung der allgemeinen Religionsgeschichte und besonders des Christentums unverzichtbar gewesen sei. Die Relevanz, die ein geachteter Theologe der biblischen jüdischen Religion zusprach und die bewusste Kenntnisnahme einer „Alttestamentlichen Theologie“ aus protestantischem Blickwinkel sollten für Keller65 Honorarberechnung von den Steinen WS 1891/92, UA Marburg 305 r 32 Nr. 137, 189. Zum Vorlesungstitel: Vorlesungsverzeichnis WS 1891/92, UA Marburg 312/6 Nr. 2, 11. 66 Vorlesungsverzeichnis WS 1890/91, UA Marburg, 312/6 Nr. 2, 13. Zu Kellermanns Teilnahme: Honorarberechnung Paasche WS 1890/91, UA Marburg, 305 r 32 Nr. 135, 168–170, hier : 170. 67 Vorlesungsverzeichnis WS 1891/92, UA Marburg 312/6 Nr. 2, 3. 68 Honorarberechnung Baudissin WS 1891/92, UA Marburg 305 r 32 Nr. 137, 5–9, hier : 8. 69 Cohen, Hermann, Zwei Rektoratsreden an der Berliner Universität (1913), JS 2, 404–409. – Zitat: Smend, Rudolf, Cohen und die alttestamentliche Wissenschaft seiner Zeit, in: Dober, Hans M./Morgenstern, Matthias (Hg.), Religion aus den Quellen der Vernunft. Hermann Cohen und das evangelische Christentum, RPT, Bd. 65, Tübingen 2012, 86–95, hier : 86. 70 Honorarberechnung Baudissin SS 92, UA Marburg 305 r 32 Nr. 138, 6–10, hier : 9. Vorlesungstitel: Vorlesungsverzeichnis SS 1892, UA Marburg 312/6 Nr. 2, 3.

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manns spätere Arbeiten von Nutzen sein, in denen die Propheten eine zentrale Rolle für die Superioritätsansprüche des Judentums einnehmen und gegenüber der christlichen Theologie in Stellung gebracht werden. Insgesamt betrachtet, hatte Kellermann die breitere Allgemeinbildung an der Philippina der rein philologischen Ausbildung vorgezogen, da er in seinem gesamten Studium lediglich zwei derartige Veranstaltungen besuchte. Der Direktor des Philologischen Seminars Leopold Schmidt hielt im Sommersemester 1891 die öffentlich und kostenlos gehaltene Vorlesung „Ueber die sittlichen Begriffe der alten Griechen“71, die der junge Lehrer jeden Mittwoch und Samstag um elf Uhr vormittags besuchte.72 Die zweite Veranstaltung waren „Uebungen in französischer Conversation“ bei dem Lektor Fritz Klincksieck.73 Mit fünfzehn weiteren Studenten übte sich Kellermann im Wintersemester 1891/92 einmal pro Woche in der französischen Unterhaltung, die zu der Zeit noch einen höheren Stellenwert als das Englische hatte. Dass er in diesen Jahren regelmäßig am Vormittag des Schabbat Universitätsvorlesungen und Seminare besuchte, anstatt in der Schul zu sein, zeigt, dass er die überlieferte Lebensweise mit den Erfordernissen des Studienlebens in Einklang bringen konnte. Für solch ein entspanntes Verhältnis zwischen dem frommen Leben und den Anforderungen des Alltags in einer nichtjüdischen Mehrheitskultur warb auch Cohen und Kellermann übernahm in seiner Marburger Zeit einiges davon in seine tägliche Praxis. Hier liegen die Fundamente seiner nur wenige Jahre später erfolgenden Hinwendung zum Reformjudentum, das sich eben diese Integration in die christliche Umwelt unter Beibehaltung einer spezifisch ausgeprägten jüdischen Identität auf die Fahnen geschrieben hatte. Neben dem Studium und der Tätigkeit als Lehrer in Marburg und Umgebung, bereitete sich der Zweiundzwanzigjährige auf die Erlangung der Matura an einem humanistischen Gymnasium vor. Obwohl er Zeugnisse der Höchberger Präparandenschule und der Würzburger ILBA vorgelegt hatte, die ihn zum Studium an der Philipps-Universität befähigten, musste Kellermann das Abitur an einem Gymnasium nachholen, um später promovieren zu dürfen. Nach den Unterlagen in der Gießener Promotionsakte erwarb er „am 8. März 1893 als Externer das Zeugniß der Reife vom Gymnasium in Montabaur“.74 Laut eigener 71 Vorlesungsverzeichnis SS 1891, UA Marburg 312/6 Nr. 2, 12f. 72 Honorarberechnung Schmidt SS 1891, UA Marburg 305 r 32 Nr. 136, 208f, hier : 209. 73 Honorarberechnung Klincksieck WS 1891/92, UA Marburg 305 r 32 Nr. 137, 148. Vorlesungstitel: Vorlesungsverzeichnis WS 1891/92, UA Marburg 312/6 Nr. 2, 14. 74 Beratung über das erste Promotionsgesuch von Benzion Kellermann durch die Großherzogliche philosophische Fakultät der Universität Gießen, 21.–27. 6. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 3. – Sein Name taucht in den Akten des Stadtarchivs Montabaur (ca. 100 km südwestlich von Marburg gelegen) zwar nicht auf, jedoch wird im Bericht des Direktors des dortigen humanistischen Kaiser-Wilhelms-Gymnasiums für das Schuljahr 1892/93 von der Prüfung dreier externer Abiturienten gesprochen (Ich danke Frau Beatrix Künzer vom

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Aussage bestand er das Examen „mit gutem Erfolge“75 und konnte damit 1895 in Gießen um die Zulassung zur Promotion ersuchen.

2.3 Privat- und Schullehrer in Frankfurt am Main Während oder nach dem Sommersemester 1893, in dem Kellermann zwar noch eingeschrieben war, aber keine Kurse mehr besuchte,76 verließ er Marburg und zog „nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin“77 für drei Jahre nach Frankfurt am Main. Dort wohnte er bis 1895 in der Gaußstraße 36, danach im Bergweg 2478 und arbeitete als Lehrer an der orthodoxen „Israelitischen Religionsschule e. V.“, die 1879 von dem Rabbiner Markus Horovitz (1844–1910) gegründet wurde.79 Da sich diesbezüglich keine Überlieferung erhalten hat, kann über sein pädagogisches Wirken dort keine Auskunft gegeben werden. Von Frankfurt aus besuchte er hin und wieder seine Stiefmutter Blümchen und die noch bei ihr lebenden jüngeren Geschwister in dem etwa 160 Kilometer entfernten Gerolzhofen. So weilte er Anfang 1895 bei der Familie und nahm an einer Versammlung der jüdischen Kultusgemeinde Gerolzhofens teil, in der seine Stiefmutter in ihrer Funktion als Friedhofsbeamtin bestätigt wurde.80 Als

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Stadtarchiv Montabaur für diese und weitere Informationen zum Schulwesen in der Stadt vor 1900). Einer von ihnen muss Kellermann gewesen sein, denn neben der Gießener Promotionsakte wird der nachträgliche Erwerb des Abiturs auch bei Gutmann und in der Autobiografie von Ernst W. Kellermann erwähnt, der berichtet, dass sein Vater sich autodidaktisch bildete, um das Abitur nachholen zu können (Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 113; Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 4). Offiziell wird die Abiturprüfung auch durch das Abgangszeugnis von der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität vom 24. Januar 1900 belegt (Abgangszeugnis Benzion Kellermann, 24. 1. 1900, UA HUB, Rektor und Senat, Abgangszeugnisse). Kellermann, Benzion, Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 4 u. 6. Personal- und Studierendenverzeichnis SS 1893, UA Marburg 305 m 3 Nr. 4, 24. Zu den Kursen: Manual SS 1893, UA Marburg 305 r 32 Nr. 140. Kellermann, Benzion, Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 4 u. 6. Über seine Tätigkeiten während dieses kurzen Aufenthaltes haben sich keine Informationen erhalten. Die erste Adresse findet sich: IFS Frankfurt am Main, Adressbuch 1895, 375. Die Wohnung im Bergweg 24 wird bestätigt durch: Kellermann, Benzion, Gesuch um Erlaubnis zur Drucklegung der korrigierten Dissertation, 2. 12. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 8; ders., Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, in: ebd., Bl. 4 u. 6; IFS Frankfurt am Main, Adressbuch 1896, 361. Zur Schule: Arnsberg, Paul, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Bd. 2: Struktur und Aktivitäten der Frankfurter Juden von 1789 bis zu deren Vernichtung in der nationalsozialistischen Ära, Handbuch, hg. v. Kuratorium für Jüdische Geschichte e. V., Frankfurt am Main, bearbeitet und vollendet durch Schembs, Hans Otto, Darmstadt 1983, 73f. Zu Horovitz vgl. BHRabb II/2, 294–297. Protokoll der Gemeindeversammlung, 1. 1. 1895, StadtA Gerolzhofen, A1j1223.

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ältester Sohn unterschieb er den Vertrag für die Witwe, die mit dem Verdienst aus dieser Tätigkeit und den Einkünften aus ihrem Kurzwarenladen die große Familie durchbrachte. Kellermann lehrte nicht nur in der Religionsschule der jüdischen Gemeinde, sondern unterrichtete zudem privat „als Grundlehrer bei dem Weingroßhändler Goldschmidt“.81 Durch die beiden Anstellungen finanzierte er seinen Lebensunterhalt und seine begonnenen Studien zum Midrasch zum Ersten Buch Samuel, die er an der Universität Gießen als Dissertation einreichen wird. Kellermann schien dem Arbeitgeber sehr verbunden gewesen zu sein, denn er widmete nicht nur seinem „lieben Onkel Herrn J. Schüler“,82 sondern auch „seinem hochverehrten Gönner Herrn S. L. Goldschmidt in Frankfurt a. M.“83 die 1896 publizierte Doktorarbeit.

2.4 Promotion in Gießen Im Juni 1895 richtete Kellermann sein Promotionsgesuch im Hauptfach Semitische Philologie an die Philosophische Fakultät der Marburger Nachbaruniversität Gießen.84 Die Semitische Philologie gehörte in den Kanon der orientalistischen Studien, die in Gießen seit 1670 mit einem Lehrstuhl für orientalische Sprachen vertreten waren, und von Dozenten wie August Dillmann (1823–1894) und dem NöldekeSchüler Friedrich Zacharias Schwally (1863–1919) vertreten wurden.85 Der klassische Philologe Eduard Schwartz (1858–1940) als Dekan der Philosophischen Fakultät schlug den Philosophen Hermann Siebeck (1842–1920) und den Germanisten und Mediävisten Otto Behaghel (1854–1936) als Leiter der Prüfungskommission 81 Beratung über das erste Promotionsgesuch von Benzion Kellermann durch die Großherzogliche philosophische Fakultät der Universität Gießen, 21.–27. 6. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 3; Kellermann, Der Midrasch zum I. Buche Samuelis, 64. – Samuel Löb Goldschmidt (1849–1916) kam aus dem unterfränkischen Steinbach nach Frankfurt, wo er erfolgreich eine Weinhandlung betrieb (Einwohnermeldekartei Goldschmidt, Samuel Löb, IFS Frankfurt am Main, Nullkartei, Ältere Meldekartei). 82 Kellermann, Der Midrasch zum I. Buche Samuelis, 3. Dies ist der am 31. Juli 1865 als Kind von Israel Schüler und seiner zweiten Frau Zerline in Gerolzhofen geborene Joseph Schüler. Vgl. dazu Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Gerolshofen, BStA Würzburg, Jüdische Standesregister 29, 20f. 83 Kellermann, Der Midrasch zum I. Buche Samuelis, 3 (Hrvh. im Orig.). 84 Ders., Erstes Promotionsgesuch, 18. 6. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 9. Als Nebenfächer wählte Kellermann Deutsche Philologie und Philosophie. 85 Vgl. Institut für Orientalistik an der Universität Giessen, Orientalistik in Giessen. Ein historischer Überblick, URL: www.uni-giessen.de/orientalistik-alt/Institut/geschich. htm, abgerufen am 12. 12. 2012. Für das 19. Jh.: Röhrborn, Klaus, Orientalistik an der Giessener Universität von 1833 bis 1889, in: ders./Wagner, Ewald (Hg.), Kashkul. Festschrift zum 25. Jahrestag der Wiederbegründung des Instituts für Orientalistik an der Justus-LiebigUniversität Giessen, Wiesbaden 1989, 1–7.

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vor, die über das Gesuch entscheiden sollten. Sie und die anderen stimmberechtigten Mitglieder der Fakultät stimmten seiner Annahme ebenso zu, wie der Rektor und stellvertretende Kanzler. Da der Lehrstuhl für Semitische Philologie zwischen 1881 und 1901 vakant war,86 übernahm der dem liberalen Protestantismus nahe stehende Alttestamentler und Orientalist Bernhard Stade (1848–1906)87 das Gutachten über das nicht erhaltene erste Dissertationsmanuskript mit dem Titel Die hebräischen Traditionen zum 1. Buche Samuelis und deren Anwendung. Ein Beitrag zur Geschichte der Exegese, in dem Kellermann philologisch die Rezeption des Midrasch zum ersten Samuelbuch bei christlichen und jüdischen Autoren untersuchte.88 Stade hatte in Leipzig und Berlin Theologie, Semitistik und Arabistik studiert und promovierte sich 1871 zum Doktor der Philosophie, zwei Jahre später zum Doktor der Theologie. Er folgte 1875 Adalbert Merx auf den Lehrstuhl für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Gießen, die er zusammen mit Adolf von Harnack seit 1879 erfolgreich umbaute und an der er bis zu seinem Tod 1906 lehrte und forschte.89 Der Professor und seit 1881 Herausgeber der Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft legte am 26. Juli 1895 das einzige Gutachten über die Dissertation Kellermanns vor, was in dieser Zeit jedoch nicht ungewöhnlich war.90 Er kritisierte den „unklaren, wo nicht irreführenden Titel“ der Arbeit und bemängelte hauptsächlich formale Aspekte.91 So ließe bei Kellermann der „deutsche Stil vielfach zu wünschen übrig“ und zeigten sich erhebliche Schwächen im wissenschaftlichen Arbeiten. Die Nachweise der aus dem Midrasch zitierten Stellen fehlten und die Belege „der benutzten Literatur sind unpraktisch und ungenau“. Bevor die Veröffentlichung in Betracht komme, sei die Untersuchung noch einmal genau durchzusehen und im Hinblick auf die genannten Schwachstellen zu verbessern. Stades Argumentation ist wohlbegründet und zum Teil finden sich die angesprochenen Mängel noch in der veränderten, 1896 gedruckten Version der 86 Vgl. Institut für Orientalistik an der Universität Giessen, Orientalistik in Giessen. 87 Zu Leben und Werk Stades im Folgenden: Smend, Rudolf, Bernhard Stade (1848–1906), in: ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 129–142. 88 Zum Titel: Beratung über das erste Promotionsgesuch von Benzion Kellermann durch die Großherzogliche philosophische Fakultät der Universität Gießen, 21.–27. 6. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 3. 89 1879 publizierte Stade ein Lehrbuch der hebräischen Grammatik. Schriftlehre, Lautlehre, Formenlehre. Mit 2 Schrifttafeln (Leipzig 1879) und verfasste zwischen 1881 und 1888 eine zweibändige Geschichte des Volkes Israel (Berlin 1887 u. 1888; vgl. dazu Smend, Stade, 136f). Zur Zusammenarbeit mit Harnack, der bis 1886 in Gießen lehrte, vgl. Kantzenbach, Friedrich W., Art. Harnack, Adolf von, in: TRE 14 (1986), 450–458, hier: 451. 90 Auskunft von Eva-Marie Felschow, UA Gießen, 10. 2. 2011. 91 Stade, Bernhard, Gutachten zur Dissertation von Benzion Kellermann, 26. 7. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 3. Folgende Zitate: ebd.

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Arbeit. Immer wieder sind zitierte Stellen, besonders der jüdischen Literatur, nicht ausreichend gekennzeichnet, es gibt keine strukturierende Gliederung und auch kein Inhaltsverzeichnis. Zudem fällt negativ auf, dass es in der Dissertation keine einleitenden Kapitel zu den behandelten Autoren sowie zu Geschichte und Gestalt des Midrasch zum ersten Samuelbuch gibt, was aufgrund der von Kellermann angewandten historisierenden Methode unverständlich bleibt. Das Gutachten Stades darf deshalb auch nicht als antijüdisch voreingenommen bewertet werden, wie es teilweise für andere christliche Kollegen ihren jüdischen Studenten gegenüber zutraf. Der Professor pflegte Freundschaften zu jüdischen Personen im In- und Ausland und verteidigte die jüdische Religion immer wieder gegen antisemitische Angriffe, etwa im Zusammenhang der Ritualmordbeschuldigungen von Tisza-Eslar 1882 und Poln‚ 1899.92 Da die Dissertation aber „inhaltlich […] den Anforderungen“ einer Promotion entspreche und „gegen die Deutung des Materials nur an einzelnen Stellen Widerspruch zu erheben“ sei, wurde Kellermann zur mündlichen Prüfung zugelassen.93 Das Rigorosum fand schon wenige Tage später, am 1. August 1895 unter Anwesenheit der Prüfer Schwartz, Stade, Siebeck und Behaghel statt. Das Protokoll gibt keinen Einblick in die Fragen und Diskussionen des Promotionskolloquiums, sondern vermerkt lediglich, dass die Prüfung „für nicht bestanden erklärt“ wurde.94 Zudem wurde „beschlossen, daß der Candidat sich nicht vor Anfang des Sommersemesters 1896 wieder melden dürfe“. Kellermann kehrte mit diesem enttäuschenden Ergebnis nach Frankfurt zurück, wo er weiterhin als Privatlehrer die Kinder der Familie Goldschmidt unterrichtete und die bemängelten Fehler in seiner Dissertation behob. Vier Monate später, am 2. Dezember 1895, schrieb er die Philosophische Fakultät erneut an, mit der „Bitte um geneigteste Kenntnisnahme seiner nach Maßgabe der Korrektur verbesserten Arbeit und gleichzeitige Bitte um gütlichste Erlaubnis zur Drucklegung“.95 Obwohl er mit der ersten eingereichten Version der Dissertation zum Rigorosum zugelassen wurde, gab es in ihr „insbesondere nach der formalen Seite hin“ etliche Fehler, die er glaubte, „nun beseitigt zu haben“. Zu diesem Zeitpunkt gab es eine „günstige Gelegenheit“, die verbesserte Arbeit zu publizieren, die er nutzen wollte.96 92 Vgl. den zuerst in der Königsberger Hartungschen Zeitung abgedruckten Brief von Bernhard Stade an Rabbiner Dr. Beermann in Insterburg, 17. 10. 1899, in: IDR 5/11 (1899), 633. 93 Stade, Bernhard, Gutachten zur Dissertation von Benzion Kellermann, 26. 7. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 3. 94 Protokoll über die erste mündliche Doktorprüfung von Benzion Kellermann, 1. 8. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 5. Folgendes Zitat: ebd. 95 Kellermann, Benzion, Gesuch um Erlaubnis zur Drucklegung der korrigierten Dissertation, 2. 12. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 8. Folgende Zitate: ebd. 96 Mit hoher Wahrscheinlichkeit bot der Verlag von Moritz R. Golde die Gelegenheit, seine

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Bei dem nächsten Promotionsgesuch, das er erst zu Beginn des Sommersemesters stellen durfte, wollte er dann solch ein gedrucktes Exemplar beilegen. Stade, der die Verbesserungen an der Arbeit zwar wohlwollend zur Kenntnis nahm und sich bei den restlichen kleineren Ungenauigkeiten erlaubte, diese selbst „kurzer Hand zu corrigieren“, erklärte sich mit Kellermanns Ansuchen in einem Vermerk nicht einverstanden.97 Er habe die Arbeit in Manuskriptform in der üblichen Zahl abzugeben und nicht vor dem bestandenen Rigorosum in einem Verlag drucken zu lassen. Schwartz stimmte dem in einem Vermerk an die Kanzlei zu und setzte fest, daß Bewerber um eine Promotion keine gedruckten Exemplare einreichen sollen, sondern daß sie „gehalten sind nach bestandener Prüfung die vorschriftsmäßige Anzahl von Exemplaren zu übersenden“. Dies wurde Kellermann unter Zurücksendung des beigefügten Manuskriptes postalisch mitgeteilt. Am 7. April 1896 ersuchte er zum zweiten Mal um Zulassung zur Promotion und legte einen handgeschriebenen Lebenslauf und ein Manuskript seiner korrigierten Dissertation bei.98 Die Beratungen über das Gesuch leitete nun nicht mehr Schwartz, sondern der neue Dekan Carl Wimmenauer. Am 10. April empfahl er erneut Stade, Behaghel und Siebeck als Prüfer, die Fakultät zeigte sich einverstanden und stimmte Kellermanns Gesuch zu.99 Da auch das zweite eingereichte Manuskript nicht erhalten geblieben ist, muss für die folgende Darstellung der Form und des Inhalts auf die 1896 gedruckte, jedoch gekürzte Version der Arbeit zurückgegriffen werden.100 Der Promovend untersucht in seiner Dissertation die „Spuren“ des Midrasch zum ersten Samuelbuch bei den christlichen „Kirchenvätern und in der orientalischen Sage“ und will damit einen „Beitrag zur Geschichte der Exegese“ leisten. Midraschim sind Auslegungen alttestamentlicher Bücher und tragen sowohl halachischen als auch haggadischen Charakter.101 Der Midrasch zu den beiden Büchern Samuel ist eine „Kompilation von Einzelauslegungen“, die weit

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Arbeit zu veröffentlichen, denn dieser befand sich in Frankfurt und druckte schließlich 1896 einen Teil der Dissertation. Kellermann, Benzion, Gesuch um Erlaubnis zur Drucklegung der korrigierten Dissertation, 2. 12. 1895, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 8. Folgendes Zitat: ebd. Benzion Kellermann an die Philosophische Fakultät der Universität Gießen, Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 4. Beratungen über das zweite Promotionsgesuch von Benzion Kellermann durch die Großherzogliche philosophische Fakultät der Universität Gießen, 10.–30. 4. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, o. Bl. 1896 wurde die Dissertation gekürzt als Der Midrasch zum I. Buche Samuelis und seine Spuren bei Kirchenvätern und in der orientalischen Sage. Ein Beitrag zur Geschichte der Exegese gedruckt. Der Verweis auf die Kürzung findet sich ebd., 63. Von hebr. darasch: suchen, fragen. Vgl. zur Thematik: Stemberger, Günter, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81992, 232f.

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vor dem 11. Jahrhundert wahrscheinlich in Palästina entstanden.102 Er besteht aus 32 Kapiteln, wobei die ersten 24 das erste Samuelbuch auslegen, die letzten acht das zweite. Das einzige Manuskript ist MS Parma 563, daneben wurden Fragmente in der Kairoer Geniza gefunden, die Kellermann jedoch nicht kennen konnte, da sie von Solomon Schechter erst ab 1896 katalogisiert wurden. Zum ersten Mal gedruckt wurde der Midrasch Samuel 1517 in Konstantinopel, eine kritische Edition legte Salomon Buber, der Großvater Martin Bubers, 1893 in Krakau vor.103 Kellermann benennt sie zwar nicht und spricht immer nur von „Midr. Samuel“, wird für seine Dissertation aber auf jene kritische Ausgabe zurückgegriffen haben. Zur „orientalischen Sage“ zählt Kellermann in seiner Arbeit die rabbinischtalmudischen Traditionen, die den Midrasch rezipierten, etwa andere Midraschim, die Pirke de Rabbi Elieser oder den Traktat Schabbat. Zudem benutzt er den masoretischen Text zu 1Sam, um die auf ihn folgenden Exegesen mit ihm abgleichen zu können. Bei den „Kirchenvätern“ untersucht er Hieronymus, Pseudo-Hieronymus, Origenes und die syrischen Theologen Ephraem und Aphraates auf ihre Rezeption des Midrasch und damit einen Zeitraum von knapp 350 Jahren zwischen dem Ende des zweiten und dem Beginn des fünften Jahrhunderts n.d.Z. Als Sekundärliteratur werden unter anderem Forschungen von Zunz, Graetz, Geiger und de Lagarde verwendet, die schon Vorarbeiten auf diesem Gebiet geleistet hatten. In der 56 Seiten umfassenden gedruckten Arbeit behandelt Kellermann lediglich die christliche und jüdische Rezeption des Midrasch zu den ersten vier Kapiteln, die über Samuels Eltern Elkana und Chana berichten, über dessen Geburt und Aufwachsen als Priesteranwärter bei dem Priester Eli in Schilo, über die Berufung Samuels zum Propheten und schließlich über den Tod der Söhne Elis aus Ungehorsam Gott gegenüber und den Tod ihres Vaters. In dem Manuskript der eingereichten, nicht erhaltenen Dissertation scheint dagegen, aufgrund des Titels, die Rezeption aller 24 Kapitel des Midrasch untersucht worden zu sein. Kellermann liefert zu einzelnen Versen die verschiedenen jüdischen und christlichen Auslegungen und analysiert mit den philologischen Mitteln der Zeit deren Sprachform und Umgang mit der Ursprungstradition im Midrasch. Die historische Kritik leitet die Argumentation und an vielen Stellen kommt er zu den Ergebnissen, dass ein untersuchter Text Widersprüche in sich trage, verschiedene Verfasser habe und einzelne Textschichten zu unterschiedlichen

102 Ebd., 347. Zum Folgenden: ebd. 103 Buber, Salomon, Midrasch Samuel: Agadische Abhandlung über das Buch Samuel. Hg. nach Konstantinop’ler (1522) und Wenezianer (1546) Editionen, mit Vergleichungen der Lesarten der Parmaer Handschrift cod. 563, kritisch bearbeitet, commentirt und mit einer Einleitung versehen, Krakau 1893.

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Zeiten entstanden sein müssten.104 Neben solchen Fragestellungen beschäftigt er sich mit Übersetzungsproblemen und zeigt, wie für jeden guten Orientalisten üblich, die Kenntnis vieler Sprachen. Kellermann beherrschte neben Griechisch, Latein, Hebräisch und Aramäisch auch das Syrische, das er entweder während seines Studiums in Marburg gelernt oder sich autodidaktisch in seiner Frankfurter Zeit beigebracht haben musste.105 Die Dissertation zeigt bereits Kellermanns Interesse an Fragestellungen innerhalb der vergleichenden Religionsgeschichte, das er in den folgenden Jahren vor allem in Bezug auf die christliche Theologie weiter verfolgen wird. Stade war mit der Arbeit zufrieden und somit konnte das zweite Rigorosum am 7. Mai stattfinden, das Kellermann mit der Note „cum laude“ bestand.106 Nachdem er die von der Fakultät verlangten Druckexemplare pflichtgemäß abgeliefert hatte, wurde ihm am 15. August 1896 die venia promovendi erteilt und zwei Wochen später die Diplomurkunde zugesandt.107 Erst jetzt war es ihm gestattet, die Dissertation für den Buchhandel vom Verlag Moritz R. Golde drucken zu lassen. Sie erschien dort Ende 1896 in gekürzter Form als Der Midrasch zum I. Buche Samuelis und seine Spuren bei Kirchenvätern und in der orientalischen Sage. Ein Beitrag zur Geschichte der Exegese und konnte für 1,50 Mark erworben werden.108 Kellermann kehrte nach bestandener Prüfung nach Frankfurt zurück und kündigte die Stelle als Privatlehrer. Er war Samuel Goldschmidt, wie die Widmung der Arbeit belegt, sehr verbunden und dankbar, aber nun zog es ihn nach Berlin, um seine theologischen Studien voranzutreiben.

2.5 Studien in Berlin: 1896–1903 Der Doktor der Philosophie siedelte zwischen Mai und Juni 1896 in die Hauptstadt über,109 wo er sich zum Rabbiner ausbilden lassen wollte. Um sich zu finanzieren, erteilte er erneut Religionsunterricht an jüdischen Schulen.110 Berlin besaß zu jener Zeit die größte jüdische Gemeinde des Kaiserreichs, die zwischen 1896 und 1897 drei offizielle Synagogen in der Kaiserstraße, Lindenstraße und Oranienburger 104 Vgl. Kellermann, Der Midrasch zum I. Buche Samuelis, 43, 49, 54 u. passim. 105 Im UA Marburg ist der Besuch eines Kurses in syrischer Sprache für Kellermann jedoch nicht überliefert. 106 Protokoll über die zweite mündliche Doktorprüfung von Benzion Kellermann, 7. 5. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 2. Zum Folgenden vgl. ebd. 107 Abschluss des Promotionsverfahrens von Benzion Kellermann, 15.–28. 8. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, o. Bl. 108 Zum Preis: Lippe, Kellermann, 202. 109 Am 5. Juni 1896 erfolgte die Immatrikulation an der Berliner Universität: Abgangszeugnis Benzion Kellermann, 24. 1. 1900, UA HUB, Rektor und Senat, Abgangszeugnisse. 110 Vgl. dazu GJB 13/5–7 (1923), 31.

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Straße sowie eine Knaben- und eine Mädchenschule unterhielt, die in ihrem Profil den staatlichen Volksschulen entsprachen.111 Ferner besaß sie vier Religionsschulen,112 die sich alle im Westteil der Stadt befanden und Kinder ab sechs Jahren in ihrer Religion unterwiesen und auf die Bar Mitzwa vorbereiteten. Zusätzlich unterstützte die Gemeindeverwaltung die zahlreichen privaten Synagogenvereine, um die religiöse Infrastruktur für die rund 100 000 Juden Berlins zu gewährleisten.113 Obwohl viele jüdische Eltern ihre Kinder nicht auf eine Religionsschule schickten und nur an den hohen Feiertagen die Gotteshäuser besuchten, konnten die bestehenden drei Gemeindesynagogen die übrigen, oftmals aus Osteuropa stammenden und traditionell lebenden Juden in ihren religiösen Bedürfnissen nicht versorgen. Institutionen wie die „Wolff ’sche Ez-Chajim-Gemeinde“, der Synagogenverein „Adass Jeschurun“ oder der „Luisenstädtische Brüderverein ahawas rem“ stellten sich dieser Aufgabe, indem sie regelmäßige Gottesdienste auch in der Woche anboten und eigene Religionsklassen zur Unterweisung des jüdischen Nachwuchses unterhielten.114 An welcher Schule Kellermann von 1896 bis 1900 wirkte, konnte aufgrund der Aktenlage jedoch nicht mehr festgestellt werden.

2.5.1 Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin An der 1809 gegründeten und nach dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. benannten Universität wurde der sechsundzwanzigjährige Benzion Kellermann am 5. Juni 1896 unter der Matrikelnummer 3649/86 immatrikuliert.115 Er besuchte eine Vielzahl von Vorlesungen und Seminaren, um sich eine ausreichende Allgemeinbildung in den Fächern Geschichte, Germanistik, Psychologie und Geografie anzueignen. In seinem ersten Semester belegte er Veranstaltungen zur allgemeinen Geschichte des Mittelalters und Übungen des historischen Seminars. Ferner hörte er bei Ludwig Geiger (1848–1919) Einführendes zum Studium der Literaturgeschichte und über Goethes Lyrik.116 Der Sohn Abraham Geigers lehrte seit 1870 an der Berliner Universität, hatte sich drei Jahre später bei dem alten Leopold von Ranke (1795–1886) mit einer Arbeit über die Ansichten antiker römischer und griechischer Autoren über Juden und Judentum habilitiert und wurde 1880 Extraordina111 112 113 114

Vgl. BEVB Nr. 14 vom 2. 4. 1897, 4. Vgl. BEVB Nr. 16 vom 16. 4. 1897, 2. Vgl. etwa die gewährten Subventionen für das Jahr 1897: BEVB Nr. 18 vom 30. 4. 1897, 2. Zur „Wolff ’schen Ez-Chajim-Gemeinde“ vgl. BEVB Nr. 15 vom 9. 4. 1897, 6. Zu den anderen Einrichtungen: BEVB Nr. 16 vom 16. 4. 1897, 3. 115 Abgangszeugnis Benzion Kellermann, 24. 1. 1900, UA HUB, Rektor und Senat, Abgangszeugnisse. 116 Ebd.

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rius. Neben seinen Arbeiten zu Goethe, beschäftigte er sich intensiv mit dem Verhältnis deutscher Schriftsteller zum Judentum, der Geschichte der Juden in Deutschland und war wie sein Vater ein herausragender Vertreter des Reformjudentums.117 Der Student traf hier auf einen Gelehrten, der wie Hermann Cohen zutiefst von der Vereinbarkeit deutscher und jüdischer Kultur überzeugt war und uneingeschränkt für die Rechte der Juden in Deutschland eintrat. Während seines Studiums war der Religionslehrer mit dem fünf Jahre jüngeren Josef Horovitz (1874–1931) befreundet, den er als Sohn seines früheren Frankfurter Arbeitgebers Markus Horovitz ursprünglich dort kennengelernt hatte. Der seit 1892 in Marburg und Berlin orientalische Sprachen studierende Horovitz besuchte wie Kellermann Veranstaltungen sowohl an der Universität als auch am orthodoxen Rabbiner-Seminar.118 Horovitz berichtete später, dass er mit Kellermann in diesen Jahren bis zu seiner Abreise nach Indien 1907 „in fast täglichem Verkehr“ stand.119 Weil dieser ihm „immer […] vorbildlich […] in seiner Exaktheit und Sachlichkeit, in seiner Tapferkeit und Fröhlichkeit, in der Unerbittlichkeit seines Forderns von sich selbst“ erschien, sei ihm „von den Gefährten jener Tage keiner lebendiger im Gedächtnis geblieben als er“, schrieb Horovitz im Juli 1923 in einem Kondolenzbrief an Thekla Kellermann.120 Im Wintersemester 1896/97 und dem darauf folgenden Sommersemester hörte Kellermann erneut Veranstaltungen in der Geschichtswissenschaft. Er besuchte Überblicksvorlesungen zur Verfassungsgeschichte des Mittelalters, zur deutschen Geschichte und zudem die der Vertiefung dienenden historischen Seminare.121 In 117 Zur Biografie: Zastrau, Alfred, Geiger, Ludwig Moritz Philipp, in: NDB 6 (1964), 144f, URL: www.deutsche-biographie.de/pnd11903719X.html, abgerufen am: 26. 6. 2012. 118 Nach der 1902 erfolgten Habilitation an der Berliner Universität wurde Josef Horovitz 1907 Professor für Arabisch am Anglo-Oriental-College in Britisch-Indien und musste nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Land verlassen. Er kehrte nach Frankfurt zurück, wo er der erste ordentliche Professor für Orientalistik jüdischer Herkunft an der dortigen Universität wurde (1915–1931). Der Koranforscher und spätere Direktor des Orientalischen Seminars an der Jerusalemer Hebräischen Universität starb am 5. Februar 1931. Vgl. zur Biografie: Horovitz, Baruch, Horovitz, Josef, in: NDB 9 (1972), 641f, URL: www.deutschebiographie.de/pnd117010014.html, abgerufen am 26. 6. 2012; Hildesheimer, Studenten am Berliner Rabbinerseminar, 145. In Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 50 wird er als einer derjenigen genannt, die zwischen 1897 und 1898 nur einzelne Kurse am Rabbiner-Seminar besuchten. 119 Josef Horovitz an Thekla Kellermann, 30. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. (Der für die Benzion Kellermann Collection verantwortliche Bearbeiter gab als Verfasser des mit J. Horovitz unterzeichneten Briefes Jakob Horovitz an. Dieser lebte jedoch 1923 in der Staufenstraße 30 und nicht in der im Briefkopf angegebenen Adresse Melemstraße 2. Dort wohnte laut Meldekartei sein Bruder Josef Horovitz von 1915 bis zu seinem Tod 1931: Einwohnermeldekartei Horovitz, Josef, IFS Frankfurt am Main, Nullkartei, Ältere Meldekartei; IFS Frankfurt am Main, Adressbuch 1922, I. Teil, 248). 120 Josef Horovitz an Thekla Kellermann, 30. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. 121 Abgangszeugnis Benzion Kellermann, 24. 1. 1900, UA HUB, Rektor und Senat, Abgangszeugnisse.

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der Germanistik besuchte er bei Max Roediger (1850–1918) zwei Veranstaltungen zu der für die deutsche Geistesgeschichte so wichtigen Nibelungensage, bei dem Goethe-Experten Erich Schmidt (1853–1913) eine Vorlesung über den jungen Goethe sowie dessen germanistisches Seminar.122 Mit seinem vierten Semester 1897/ 98 verließ Kellermann in der Geschichtswissenschaft das Mittelalter und widmete sich zweimal wöchentlich dem Zeitalter der Renaissance und der Reformation bei dem Lutherforscher Max Lenz (1850–1932). Zudem besuchte er innerhalb der Germanistik eine Vorlesung zur deutschen Literaturgeschichte in der Reformationszeit sowie „mitteldeutsche Übungen“.123 Im Sommer 1898 hielt Kellermann seinen ersten dokumentierten Vortrag vor wissenschaftlichem Publikum, in dem er unter dem Titel „Midrasch und orientalische Sage“ vor dem „Akademischen Verein für jüdische Geschichte und Literatur e. V.“ die Ergebnisse seiner Dissertation referierte. Er war zwischen 1896 und 1898 Mitglied dieses 1883 von neun jüdischen Studenten an der Berliner Universität gegründeten Vereins geworden, der Größen wie Cohen, Martin Philippson (1846–1916) oder Gustav Karpeles (1848–1909) zu seinen Anhängern zählte und sich vordergründig zwei Ziele zur Aufgabe machte: Den Kampf gegen den unter Studenten grassierenden Antisemitismus und die immer noch verpönte Wissenschaft des Judentums Eingang in die Universitäten finden zu lassen.124 Obwohl Studenten und Professoren immer wieder Referate hielten, wurde der hohe wissenschaftliche Anspruch nicht eingelöst, wie sich Kellermanns Kommilitone an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und ebenfalls Vereinsmitglied Malwin Warschauer rückblickend erinnerte: „Das Ganze war in dieser Gestalt ein Humbug. Von Wissenschaft war wenig zu spüren, Skat, Bier, Freundschaften waren das Wesentliche.“125 Ob Kellermann dies auch so wahrnahm, ist nicht überliefert, jedenfalls wird er dort in den folgenden Jahren als „Alter Herr“ noch viele Vorträge und 1908 auch die Festrede zum fünfundzwanzigsten Geburtstag des Vereins halten. Im Sommer 1898 und dem darauf folgenden Semester belegte Kellermann 122 Ebd. Zu Leben und Werk Roedigers: Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, URL: www.sammlungen.hu-berlin.de/dokumente/16738/, abgerufen am 26. 6. 2012; zu Schmidt: Höppner, Wolfgang, Schmidt, Franz Erich, in: NDB 23 (2007), 182f, URL: www.deutschebiographie.de/pnd118608746.html, abgerufen am 26. 6. 2012. 123 Abgangszeugnis Benzion Kellermann, 24. 1. 1900, UA HUB, Rektor und Senat, Abgangszeugnisse. Zu Lenz: Bruch, Rüdiger vom, Lenz, Max, in: NDB 14 (1985), 231–233, URL: www.deutsche-biographie.de/pnd118779508.html, abgerufen am 26. 6. 2012. 124 Zum Verein: Gutmann, Joseph, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur zum 50. Stiftungsfeste, Berlin 1933; Cohen, Julius, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur. Zum 25. Stiftungsfeste, Berlin 1908. Ebd., 36 findet sich auch Kellermanns Eintrag im Mitgliederverzeichnis. 125 Warschauer, Malwin, Im jüdischen Leben. Erinnerungen des Berliner Rabbiners Malwin Warschauer. Mit einem Beitrag von seinem Sohn James Walters, einem Vorwort von Heinz Knobloch und einer Einführung von Nicola Galliner, Berlin 1995, 61–100, hier : 81.

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zum ersten Mal bei dem Privatdozenten Schumann Veranstaltungen zur Psychologie. In diesem seinem letzten Halbjahr hörte Kellermann zudem bei Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833–1906) zwei allgemein einführende Veranstaltungen zur Geografie und bei dem Altertumswissenschaftler und Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Otto Hirschfeld (1843–1922) eine Überblicksvorlesung zur römischen Geschichte.126 Obwohl Kellermann noch im Sommer- und Wintersemester 1899/1900 immatrikuliert war, besuchte er keine Veranstaltungen mehr.127 Ein tatsächliches Abschlusszeugnis liegt nicht vor, da die Berliner Universität zu dieser Zeit keine Ausbildungsstätte, sondern eine Bildungseinrichtung war, an der jeder Student selbst entscheiden konnte, welche Kurse er besuchen mochte, um sich späteren Prüfungen zu unterziehen. Staatsexamen wurden dann generell außerhalb der Universität abgelegt.128 Kellermann führte die in Marburg begonnenen Studien mit dem Ziel weiter, sich eine breite Allgemeinbildung zu verschaffen. Er wurde an den jüdischen Lehrerseminaren zwar auch mit den profanen Wissenschaften konfrontiert, jedoch wurden diese nicht auf Hochschulniveau vermittelt. Während er in Marburg die Philosophie und dabei im Besonderen den Neukantianismus für sich entdeckte, beschäftigte er sich in Berlin vor allem mit der Geschichte und der Germanistik. Eine bedeutende Rolle spielte dabei die Auseinandersetzung mit Goethe, den er in seinem späteren Gesamtwerk und besonders in dem 1920 veröffentlichten Das Ideal im System der Kantischen Philosophie immer wieder heranziehen wird. Kellermann besuchte Veranstaltungen bei international renommierten und den wissenschaftlichen Diskurs prägenden Professoren wie Erich Schmidt, Max Lenz oder Otto Hirschfeld und erlangte so einen Einblick in den Stand der verschiedenen Fachwissenschaften seiner Zeit. 2.5.2 Die Wissenschaft des Judentums: Ein kurzer Überblick Kellermann studierte in Berlin nicht nur an der Universität, sondern parallel dazu zunächst am Rabbiner-Seminar und dann an der Hochschule für die 126 Abgangszeugnis Benzion Kellermann, 24. 1. 1900, UA HUB, Rektor und Senat, Abgangszeugnisse. Zu Richthofen: Lindgren, Uta, Richthofen, Ferdinand Paul Wilhelm Dieprand Freiherr von, in: NDB 21 (2003), 543f, URL: www.deutsche-biographie.de/ pnd118745085.html, abgerufen am 26. 6. 2012. Zu Hirschfeld: Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, URL: http://www.sammlungen.hu-berlin.de/dokumente/16011/, abgerufen am 26. 6. 2012. 127 Abgangszeugnis Benzion Kellermann, 24. 1. 1900, UA HUB, Rektor und Senat, Abgangszeugnisse. Spätestens im Februar 1900 war Kellermann nach Konitz abgereist, wo er bis 1901 die Stelle des Rabbiners und Lehrers der dortigen jüdischen Gemeinde bekleidete. Vgl. dazu Kap. I.3. 128 Auskunft von Dr. Winfried Schultze, UA HUB, 17. 5. 2011.

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Wissenschaft des Judentums. Bevor seine Ausbildung an diesen beiden Einrichtungen nachgezeichnet wird, soll ein knapper Überblick über das Phänomen der Wissenschaft des Judentums gegeben werden. Denn die Dozenten beider Einrichtungen partizipierten in verschiedener Weise an ihr und arbeiteten sich an den durch sie aufgeworfenen Fragestellungen ab. Es gibt gegenwärtig eine kaum noch zu überblickende Forschungsliteratur, die sich mit dem Begriff, der Geschichte, den Inhalten, den Protagonisten und den Institutionen der Wissenschaft des Judentums beschäftigt und sie auf Kontinuitäten und Brüche hin untersucht, die zu den heutigen Jewish Studies bestehen.129 Der Beginn der Wissenschaft des Judentums wird in der Forschung unter Verweis auf ähnliche Entwicklungen in Osteuropa und Norditalien durch Salomo Jehuda Löb Rapoport (1790–1867) oder Samuel David Luzzatto (1800–1865)130 allgemein mit Leopold Zunz’ Schrift Etwas über die rabbinische Literatur (1818) und der Gründung des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ (1819–1824) datiert.131 Zunz, Immanuel Wolf (1799–1847) und andere Gründer des Vereins wollten das Judentum durch Anknüpfung an das allgemeine fortschrittsoptimistische Wissenschaftsideal des 19. Jahrhunderts modernisieren und „gingen an traditionelle jüdische Quellen ganz anders heran als die vielen Generationen vor ihnen, die dieselben Quellen studiert hatten: Sie interpretierten sie nicht mehr als die gottgegebenen Gesetze, die ihr tägliches Leben leiteten, sondern betrachteten sie als historische Dokumente, die es verdienten, wissenschaftlich untersucht zu werden.“132 129 Aktuelle Forschungsüberblicke bieten Meyer, Thomas/Kilcher, Andreas (Hg.), Die „Wissenschaft des Judentums“. Eine Bestandsaufnahme, Paderborn 2015; Krone, Kerstin von der/Thulin, Mirjam, Wissenschaft in Context: A Research Essay on the Wissenschaft des Judentums, in: LBIYB 58 (2013), 249–280. Gute Einführungen bieten ferner : Kohler, George Y., Judaism Buried or Revitalised? Wissenschaft des Judentums in NineteenthCentury Germany – Impact, Actuality, and Applicability Today, in: Lasker, Daniel J. (ed.), Jewish Thought and Jewish Belief, The Goldstein-Goren Library of Jewish Thought, Bd. 15, Beer-Sheva 2012, *27–*63; Brenner, Michael/Rohrbacher, Stefan (Hg.), Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000; Carlebach, Julius, Wissenschaft des Judentums. Anfänge der Judaistik in Europa, Darmstadt 1992 sowie die Anthologie von Wilhelm, Kurt (Hg.), Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich. Ein Querschnitt, 2 Bde., SchrLBI 16/1–2, Tübingen 1967. 130 Vgl. Thulin, Kaufmanns Nachrichtendienst, 16f. 131 Zunz, Leopold, Etwas über die rabbinische Literatur. Nebst Nachrichten über ein altes bis jetzt ungedrucktes hebräisches Werk (1818), in: ders., GS I, 1–31. – Zur Rolle des Vereins für die Entwicklung einer Wissenschaft des Judentums: Pelger, Gregor, Aus distanzierter Wahrnehmung. Wissenschaft des Judentums als Strategie jüdischer Selbstbehauptung, in: Aschkenas 18–19/2 (2008–2009), 377–396. 132 Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 24. Vgl. zum veränderten Umgang mit den Quellen und dem neuen Wissenschaftsethos der Vertreter der Wissenschaft des Judentums auch Schorsch, Ismar, From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism, The Tauber Institute for the Study of European Jewry Series, Bd. 9, Hanover 1994.

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Wolf gab eine auf Zunz aufbauende präzise Beschreibung ihres Aufgabenbereichs in der von dem Verein herausgegebenen Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums. In dem 1822 veröffentlichten Aufsatz „Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums“ heißt es: Wenn von einer Wissenschaft des Judenthums die Rede ist, so versteht es sich von selbst, daß hier das Wort Judenthum in seiner umfassendsten Bedeutung genommen wird, als Inbegriff der gesammten Verhältnisse, Eigenthümlichkeiten und Leistungen der Juden, in Beziehung auf Religion, Philosophie, Geschichte, Rechtswesen, Litteratur überhaupt, Bürgerleben und alle menschlichen Angelegenheiten; – nicht aber in jenem beschränkteren Sinne, in welchem es nur die Religion der Juden bedeutet.“133

Die Wissenschaft des Judentums sollte sich also Wolf zufolge mit allen Erzeugnissen der Juden und keineswegs nur mit der jüdischen Religion beschäftigen, auch wenn diese „das Judenthum in allen seinen Verzweigungen begründet und bedingt“. Zwar wurde das Erscheinen der ZWJ nach nur drei Ausgaben wieder eingestellt, die Wissenschaft des Judentums jedoch wurde in den folgenden Jahrzehnten von Gelehrten wie Abraham Geiger, David Kaufmann, Moritz Steinschneider (1816–1907), Leo Baeck und anderen fortentwickelt und ausdifferenziert. Sie „gründete wesentlich auf der Philologie und damit der historischen Kritik“ und arbeitete mit den Mitteln der modernen Geisteswissenschaften, „als deren jüdische Entsprechung sie unzweifelhaft gelten kann“.134 Die Forschung betrachtete die Wissenschaft des Judentums und die religiöse Reformbewegung in Deutschland, die – teils in den gleichen Protagonisten – eng verflochten waren, lange Zeit als vor allem apologetisch motivierte Instrumente und Unternehmungen, um über die Angleichung an den Wissenschaftsdikurs und durch die Konfessionalisierung die vollständige Emanzipation zu erreichen. Amos Funkenstein behauptete in diesem Zusammenhang, „[t]he demand to change the Jewish religion, and the willingness to do so, did not come from within the Jewish community, but rather as a response to outside pressure.“135 Eliezer Schweid ging davon aus, religiöse Reformen seien „designed to facilitate the full integration of Jews into the cultural and political life of European society.“136 Beide Autoren untersuchen nicht die den Vertretern der Reform und 133 Wolf, Immanuel, Ueber den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums, in: ZWJ 1/1 (1822/ 23), 1–24, hier : 1. Folgendes Zitat: ebd. – Nach Erscheinen seines Aufsatzes nannte er sich Immanuel Wohlwill, „ging 1832 als Lehrer an die israelitische Freischule Hamburg. Ab 1838 unterrichtete er an der Jacobsonschule in Seesen“ (Krone, Kerstin von der, Wissenschaft in Öffentlichkeit. Die Wissenschaft des Judentums und ihre Zeitschriften, SJ, Bd. 65, Berlin/ Boston 2012, 149, Anm. 4). 134 Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit, 2. 135 Funkenstein, Amos, Perceptions of Jewish History, Berkeley 1993, 254. 136 Schweid, Eliezer, Religion and Philosophy. The Scholarly-Theological Debate between Julius Guttmann and Leo Strauss, in: Maimonidean Studies 1 (1990), 163–195, hier : 166. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Kohler, Judaism Buried or Revitalised?, *29.

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der Wissenschaft des Judentums zugrundeliegenden Handlungsmotivationen. Stattdessen erwecken sie den einseitigen Eindruck, beide Phänomene seien dem deutschen und europäischen Judentum von außen aufgezwungen, ohne innerjüdisch gewollt oder reflektiert worden zu sein. Oft ging diese Lesart mit dem Vorwurf der Zerstörung jüdischen Lebens und der Aufgabe jüdischer Identität bei ihren Vertretern einher, die zumeist allein mit religiösen Reformern gleichgesetzt wurden. Sowohl unter zeitgenössischen „orthodox and ultra-orthodox circles, east European Scholars and intellectuals, Zionists, essentialists, and neo-romanticists“ als auch unter zahlreichen späteren Gelehrten galt die Wissenschaft des Judentums als „merely assimilationist endeavour, that […] preferred to engage with history while ignoring living Judaism“.137 Dies trifft auf zionistischer Seite nicht nur, aber besonders auf die Vertreter der „Jerusalemer Schule“ zu, deren „zentrale[s] Objekt der Kritik“ die Wissenschaft des Judentums war.138 Baer, Dinur und deren Schüler bewerteten sie weitgehend als Instrument der Assimilation und auch Scholem unterstellte, obzwar selbst durch ihre Methoden geprägt, der Wissenschaft des Judentums seit ihren Anfängen die Unterschlagung mystischer Traditionen aufgrund des Idealbildes einer rationalen jüdischen Religion und damit eine „ursprüngliche liquidatorische, spiritualisierende, das Judentum entwirklichende Absicht“.139 Wie Buber oder Rosenzweig forderten sie im Anschluss an diese Kritik statt der Wissenschaft des Judentums eine jüdische Wissenschaft, die ihnen zufolge das jüdische Lernen und Leben wieder in das Zentrum stellen müsse. In jüngeren, eher anti-apologetisch ausgerichteten Veröffentlichungen hingegen erfahren die Vertreter und Institutionen dieser jüdischen Wissenschaftsbewegung (Mirjam Thulin), die durch den Nationalsozialismus in Deutschland gewaltsam beendet wurde, verstärkt historische Gerechtigkeit. Sie werden nicht pauschalisiert, sondern kontextualisiert. Sie werden differenzierter betrachtet und ihre eigenen Motivationen und Perspektiven ernst genommen,140 so dass sich insgesamt das Bild einer „transnational/transregional, interconnected Jewish academic movement on a horizontal level, and thus a 137 Krone/Thulin, Wissenschaft in Context, 258. 138 Vgl. Jütte, Emigration, 123–151; Brenner, Propheten des Vergangenen, 210–219. Zitat: Hamacher, Elisabeth, Gershom Scholem und die allgemeine Religionsgeschichte, Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, Bd. 45, Berlin/New York 1999, 124. 139 Scholem, Gershom, Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt (1959/60), in: Judaica 1, Frankfurt a. M. 1963, 147–164, hier : 153. Vgl. dazu Schulte, Christoph, Scholems Kritik der Wissenschaft des Judentums und Abraham Geiger, in: Wiese, Christian/Homolka, Walter/Brechenmacher, Thomas (Hg.), Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums, SJ, Bd. 57, Berlin/Boston 2013, 407–423. 140 Den Motivationen und Eigenperspektiven der Begründer der Wissenschaft des Judentums ist der Aufsatz von Kohler, Judaism Buried or Revitalised? gewidmet.

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history of separate as well as connected Wissenschaften des Judentums in the plural“ formiert.141 Nicht Apologetik und Auflösung des Judentums trieben diese Gelehrten an – obwohl durchaus auch versucht wurde, die häufig negative Wahrnehmung des Judentums in der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu beeinflussen –, sondern der Wunsch nach seiner tieferen Erforschung unter selbstbewusster, in verschiedenen Graden stattfindenden Anwendung der Methoden der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft, Philologien, Philosophien und protestantischen Bibelwissenschaft. Kellermann, seine Vorgänger und Zeitgenossen wollten das Judentum nicht begraben, sondern zielten auf eine in ihren Augen notwendige Transformation jüdischen Wissens und Lebens angesichts der Herausforderungen der Moderne.142 Die Wissenschaft des Judentums war in diesem Sinn eine komplexe Fomation, deren Entwicklung seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts „became a principal of a transnational network of scholars and rabbis“,143 wobei jüdische Netzwerke hier mit Mirjam Thulin als „far-reaching transterritorial and transcultural channels of communication between Jews and Jewries“ verstanden werden.144 In diesem Zusammenhang konnte die jüngere Forschung, unter anderem anhand von Netzwerkanalysen und intellektuellen Biografien, zeigen, dass die Wissenschaft des Judentums keineswegs wie oft behauptet ein Alleinstellungsmerkmal religiöser Reformer und liberaler Juden war, sondern ihre Methoden in verschiedenen Graden in nahezu allen konfessionellen Ausprägungen angewendet wurden.145 Zudem waren die Beziehungen und die Zusammenarbeit 141 Krone/Thulin, Wissenschaft in Context, 279 (Hrvh. im Orig.). Der besseren Lesbarkeit wegen und weil sich der Terminus Wissenschaften des Judentums in der internationalen Forschung noch nicht durchgesetzt hat, wird in vorliegender Studie weiterhin von Wissenschaft des Judentums gesprochen, jedoch stets im Bewusstsein der von Krone und Thulin aufgezeigten Problematik. 142 Vgl. zu den Zielsetzungen Meyer, Michael A., Two Persistent Tensions within Wissenschaft des Judentums, in: Modern Judaism 24/2 (2004), 105–119. Zu den vielfältigen jüdischen Strategien, auf die Herausforderungen der Moderne zu reagieren vgl. die Studien von dems., Antwort auf die Moderne; ders., Judaism within Modernity. Essays on Jewish History and Religion, Detroit 2001; Ellenson, David, Jewish Religious Responses to Modernity, Cincinnati 2004 sowie die Aufsätze in dem Sammelband von Gotzmann, Andreas/ Wiese, Christian (ed.), Modern Judaism and Historical Consciousness. Identities, Encounters, Perspectives, Leiden u. a. 2007. 143 Krone/Thulin, Wissenschaft in Context, 250. 144 Thulin, Mirjam, Jewish Networks, in: European History Online (EGO), hg. v. Leibniz Institute for European History (IEG), Mainz, 3. 12. 2010, URL: http://ieg-ego.eu/en/threads/ european-networks/jewish-networks, 1, abgerufen am 29. 5. 2015. 145 Vgl. in Auswahl zum konservativen Judentum: Brämer, Andreas, Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert, Hildesheim/Zürich/New York 2000; Cohen, Michael R., The Birth of Conservative Judaism. Solomon Schechter’s Disciples and the Creation of an American Religious Movement, New York 2012. Zur orthodoxen bzw. neoorthodoxen Auseinandersetzung mit den neuen Ten-

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zwischen den Vertretern der Orthodoxie, des Konservatismus und liberalen Judentums zwar immer spannungsreich und „complex, but less controversial than is supposed.“146 Die Vertreter der jungen Wissenschaft waren selbstbewusst und wollten diese auch an den Universitäten verankern, was ihnen zwar im anglo-amerikanischen, nicht aber im deutschsprachigen Raum gelang. Die akademische Erforschung des Judentums blieb die Domäne der protestantischen Theologen, für die die jüdische Religion zumeist höchstens als Vorläufer des Christentums relevant war und die an der Erforschung eines lebendigen nachbiblischen Judentums in der Mehrheit kein Interesse hatten.147 Die jüdischen Gelehrten veröffentlichten ihre Forschungsergebnisse in Monografien, Sammelbänden, Vorträgen und teilweise auch in jüdischen Tages- und Wochenzeitungen. Aufgrund der Zurücksetzung an den staatlichen Universitäten waren sie aber noch stärker als andere Forscher auf die zahlreichen wissenschaftlichen Zeitschriften angewiesen, die seit den 1820er Jahren erschienen und „den organisatorischen und kommunikativen Bedürfnissen einer jüdischen Wissenschaft“ dienten.148 Auch die Rabbinerausbildung veränderte sich durch die Entstehung und Entwicklung der Wissenschaft des Judentums. Als erste Ausbildungsstätte, die die angehenden Rabbiner mit den Methoden und Erkenntnissen der jungen Wissenschaft konfrontierte, entstand 1854 in Breslau das „Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckel’sche Stiftung“, dessen erster Direktor Zacharias Frankel (1801–1875) wurde.149 Frankel setzte sich für eine gemäßigte Reform ein und richtete das Seminar an einem „positiv-historischen“ Programm aus, wodurch er als ein Gründervater des konservativen Judentums gelten kann. An dem Seminar dozierten renommierte Gelehrte wie Manuel JoÚl und Heinrich Graetz. Ferner wurde hier seit 1851 die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft

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denzen: Baumel, Mosche, Orthodoxie und Wissenschaft. Der Weg von Rabbiner David Zwi Hoffmann, Limmud – Beiträge zum Judentum. Studien, Bd. 2, Berlin 2013; Ellenson, David, Rabbi Esriel Hildesheimer and the Creation of a Modern Jewish Orthodoxy, Alabama 1990; Yedidya, Assaf, Orthodox Reactions to „Wissenschaft des Judentums“, in: Modern Judaism 30/1 (2010), 69–94. Auf Netzwerke fokussierten in jüngerer Zeit etwa Thulin, Kaufmanns Nachrichtendienst und Pelger, Gregor, Wissenschaft des Judentums und englische Bibliotheken. Zur Geschichte historischer Philologie im 19. Jahrhundert, Minima judaica, Bd. 8, Berlin 2010. Krone/Thulin, Wissenschaft in Context, 257, Anm. 46. Vgl. Wiese, Schrei ins Leere?; Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit, 201–211. – Von den theologischen Fakultäten unabhängige Lehrstühle für Judaistik entstanden in Deutschland erst nach der Schoa, der erste mit der Berufung Jacob Taubes’ 1963 in Berlin. Vgl. zu den Publikationsorganen die hervorragende Studie: Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit. Zitat: ebd., 18. Vgl. zu Leben und Werk Frankels und zur Geschichte des Seminars: Brämer, Rabbiner Zacharias Frankel; Lengyel, G‚bor, Moderne Rabbinerausbildung in Deutschland und Ungarn. Ungarische Hörer in Bildungsinstitutionen des deutschen Judentums (1854–1938), MJS, Bd. 26, Berlin 2012, 62–79.

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des Judentums herausgegeben, die Kerstin von der Krone zufolge in den folgenden Jahren „zum Leitmedium der Wissenschaft des Judentums“ wurde.150 1872 wurde in Berlin die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums eröffnet, die in ihrer Ausrichtung und den angewandten Methoden noch über das Breslauer Seminar hinausging und sich deshalb auch nicht als konservative, sondern als liberale Anstalt profilierte. Das ein Jahr später ebenfalls in der Hauptstadt eröffnete Rabbiner-Seminar war bei der Übernahme der philologischen und historischen Methoden für die Untersuchung jüdischer Religion, Geschichte und Kultur zwar weitaus vorsichtiger, aber dennoch öffnete sich die Orthodoxie partiell gegenüber der Wissenschaft des Judentums, die „als eine Art Hilfsmittel im Dienste der Tora“151 angesehen wurde. Kellermann hörte in den 1890er Jahren an beiden Einrichtungen. Da mit seinem Wechsel vom Rabbiner-Seminar zur Hochschule 1897 zudem die Abkehr von der traditionellen jüdischen Lebensweise und die Hinwendung zum Reformjudentum endgültig vollzogen war, soll im Folgenden untersucht werden, wie sich sein Studium an beiden Institutionen gestaltete und wie vor allem durch Martin Schreiner sein Verständnis von Judentum und Wissenschaft für die Zukunft entscheidend geprägt wurde. 2.5.3 Rabbiner-Seminar zu Berlin Kellermann besuchte zwischen September 1896 und Sommer 1897 das renommierte und über die Ländergrenzen hinweg bekannte Rabbiner-Seminar zu Berlin.152 Die von Esriel Hildesheimer (1820–1899) geführte Einrichtung war der 150 Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit, 67. 151 Baumel, Orthodoxie und Wissenschaft, 26. 152 Aufgrund fehlender offizieller Angaben muss der Zeitpunkt von Kellermanns Immatrikulation rekonstruiert werden. Der Urenkel des Gründers mit demselben Namen Esriel Hildesheimer geht in seiner umfangreichen Studie über das Seminar von „1894/95 oder 1895/96“ aus (Hildesheimer, Studenten am Berliner Rabbinerseminar, 157. Die dortigen Angaben, Kellermann habe an der Universität Hamburg studiert und promoviert, sind falsch). Im Archiv der NLI existiert ein Dokument, das von vier Semestern Aufenthalt am Seminar spricht. Beides ist nahezu ausgeschlossen, denn es kommt eigentlich nur das Studienjahr September 1896 bis August 1897 in Frage, da Kellermann noch im April 1896 in Frankfurt a. M. lebte (Kellermann, Benzion, Zweites Promotionsgesuch mit Lebenslauf, 7. 4. 1896, UA Gießen, Phil Prom Nr. 52, Bl. 4) und erst zwischen Mai und Juni 1896 nach Berlin zog (Am 5. Juni 1896 erfolgte die Immatrikulation an der Berliner Universität: Sittenzeugnis der Berliner Universität, 18. 5. 1897, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl.; Abgangszeugnis Benzion Kellermann, 24. 1. 1900, UA HUB, Rektor und Senat, Abgangszeugnisse). 1896 als Eintrittsjahr bestätigt auch: Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 113. Ein späterer Eintritt hingegen ist ausgeschlossen, da er in einer Auflistung der Hörer des Jahres 1897–1898 in einem Bericht des Rabbiner-Seminars nicht mehr auftaucht (Vgl. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Das Rabbiner-Seminar zu Berlin. Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre seines Bestehens (1873–1898), Berlin 1898, 48–50). Zudem

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Orthodoxie und damit der Bewahrung des traditionell gelebten Judentums unter den Bedingungen der Moderne verpflichtet. Aufgrund der immensen Bedeutung Hildesheimers für die jüdische Orthodoxie in Berlin und darüber hinaus, soll seine Biografie skizziert werden.153 Nachdem er viele Jahre Talmud und Tora bei den Rabbinern Jacob Ettlinger und Isaac Bernays gelernt und zudem in Hamburg, Berlin und Halle orientalische Sprachen, Philosophie, Mathematik und Geschichte studiert hatte, wurde Hildesheimer 1851 Oberrabbiner im ungarischen Eisenstadt, wo er eine Jeschiwa gründete. Nach internen Streitigkeiten kam er im September 1869 nach Berlin und wurde Rabbiner der „Adass Jisroel“. Diese Austrittsgemeinde hatte sich in jenem Jahr aufgrund der zunehmenden Unzufriedenheit mit den Liberalisierungstendenzen in der jüdischen Einheitsgemeinde als Vertretung der traditionell lebenden Juden der Stadt konstituiert.154 Sie umfasste 1899 etwa 100 männliche Mitglieder und ihre Familien155 und verwaltete neben einem Friedhof in Berlin-Weißensee und einem Krankenhaus auch eine eigene Religionsschule. Zudem beaufsichtigte sie das 1743 gegründete Lehrhaus156 nahe der Alten Synagoge in der Heidereutergasse, in welcher Talmud und Tora gelernt wurden und die Gemeindemitglieder ihren Gottesdienst nach traditioneller Liturgie feierten. Hildesheimer erhoffte sich eine Umgestaltung des Lehrhauses, denn er war nach Berlin gekommen, „um dort seine ersehnte Vision zu verwirklichen: Die Errichtung einer orthodox-religiösen Lehranstalt zur Ausbildung von Rabbinern“.157 Für ihn war die Tora die normierende Kraft jüdischen Lebens und sollte dies bleiben, gerade auch angesichts der Herausforderungen der Moderne. Das scheint Hildesheimer ideologisch zunächst mit dem Frankfurter Rabbiner und Begründer der jüdischen Neoorthodoxie Samson Raphael Hirsch (1808–1888) zu verbinden, der das Programm der Tora im Derech Eretz („Tora mit dem Weg des Landes“) als „positive Integration eines streng rechtgläubigen Judentums in

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gibt es in dieser Publikation über ihn den Eintrag, er sei „in eine andere Anstalt übergegangen“, womit die HWJ gemeint ist (ebd., 42). Vgl. zu Hildesheimer und zur Entwicklung des Rabbinerseminars: Eliav, Mordechai, Gründungsgeschichte des Berliner Rabbinerseminars, in: ders./Hildesheimer, Berliner Rabbinerseminar 1873–1938, 12–43; Hildesheimer, Esriel, Die Dozenten am Berliner Rabbinerseminar (ergänzt von Jana C. Reimer), in: Eliav/Hildesheimer, Berliner Rabbinerseminar 1873–1938, 273–283, hier: 278–280; Breuer, Jüdische Orthodoxie, 120–133; Ellenson, Rabbi Esriel Hildesheimer. Vgl. zur Entwicklung der „Adass Jisroel“ und ihrer Institutionen Eliav, Gründungsgeschichte des Berliner Rabbinerseminars, 16–22; Offenberg, Mario (Hg.), Adass Jisroel. Die jüdische Gemeinde in Berlin (1869–1942). Vernichtet und vergessen, Berlin 1986; Fehrs, Jüdische Schulen in Berlin, 96. Vgl. zur Anzahl der Mitglieder : Innenminister Freiherr von der Recke an das Gouvernement der Residenz Berlin (Abschrift), 2. 6. 1899, GStA PK, I. HA, Rep. 76, III. Sekt. 12, Abt. XVI., Nr. 7, Bd. 3, Bl. 145. Vgl. dazu auch den Überblick in BEVB Nr. 20 vom 14. 5. 1897, 7. Eliav, Gründungsgeschichte des Berliner Rabbinerseminars, 13.

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eine nichtjüdische Umwelt“ etablierte.158 In den Augen Hirschs und seiner Nachfolger bestand kein Gegensatz zwischen der jüdischen und der jeweiligen Umweltkultur, zumal er „jeglichen Fortschritt im wissenschaftlichen und humanistisch-ethischen Denken aus den Inhalten jüdischer Religiosität, aus dem richtigen Verständnis der Thora [erklärte]“. Während Hirsch eine Art „,Vermählung‘“ von „Derech Erez mit Tora“ anstrebte, blieben dies für Hildesheimer von einander geschiedene Bereiche, was jedoch Mordechai Breuer zufolge weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung der deutschen Orthodoxie hatte.159 Denn indem Hildesheimer die „nichtjüdische[…] Geisteswelt“ der Tora unterordnete, konnte sie ein „autonomes Eigenleben“ führen und „frei von Ideologie und unbeschwert von Wertkritik und pädagogischer Rücksicht“ behandelt werden. Nachdem eine wirkliche Transformation des Berliner Lehrhauses Hildesheimers Vorstellungen entsprechend in den folgenden Jahren ausblieb, begann er eigenständig die Errichtung einer Rabbinerschule voranzutreiben. Er sammelte genügend Spenden, um in der Gipsstraße ein Grundstück für die zukünftigen Seminarräume und das Synagogengebäude erwerben zu können. Am 22. Oktober 1873 konnte das „Rabbiner-Seminar für das orthodoxe Judentum“ unter „Anwesenheit von mehr als dreißig Repräsentanten aller großen Gemeinden in Deutschland und Regierungsvertretern“ offiziell eröffnet werden.160 Es teilte mit der 1854 gegründeten konservativen Breslauer Anstalt zwar die Konzentration des Lehrplans auf „Talmud und religiöses Recht“, aber insistierte im Gegensatz zu diesem „auf der Anerkennung der orthodoxen Interpretation vom göttlichen Ursprung der Tora.“161 Somit wurde das Seminar in seiner inhaltlichen Struktur und seiner Forderung nach der „als selbstverständlich vorausgesetzten religiösen Lebensführung“162 sowohl der Studierenden als auch der Dozenten in Opposition zu dem Breslauer Seminar und der liberalen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums konzipiert. 1904 zog das Rabbiner-Seminar und die Synagoge der „Adass Jisroel“ in die Artilleriestraße um, wo drei Jahre später auch die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums Platz nahm. Es bestand bis zu seiner erzwungenen Schließung im November 1938 und hatte in diesem Zeitraum etwa 630 Studenten beherbergt.163 158 159 160 161

Steidle, Jakob Stoll und die ILBA, 13. Folgendes Zitat: ebd. Breuer, Jüdische Orthodoxie, 125 (Hrvh. im Orig.). Folgende Zitate: ebd., 126. Ebd., 42. Lowenstein, Steven M., Das religiöse Leben, in: Meyer (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, 101–122, hier : 110. 162 Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 34. 163 Vgl. Hildesheimer, Esriel, Die Studenten des Rabbinerseminars zu Berlin (vervollständigt und überarbeitet von Mordechai Eliav), in: Eliav/Hildesheimer, Berliner Rabbinerseminar 1873–1938, 44–48, hier: 45.

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Unter ihnen waren Persönlichkeiten wie der Philosoph Alexander Altmann,164 der Frankfurter Rabbiner Jakob Horovitz (1873–1939) und sein Bruder Josef.165 Voraussetzungen für die Aufnahme an das Seminar waren „im Talmudischen die Befähigung zum selbständigen Erfassen eines mittelschweren Textes nebst Raschi und Tosaphot“ und „im Profanen mindestens die Reife für die Prima eines Gymnasiums“.166 Zudem wurde bei „allen […] vorausgesetzt, dass sie ein Universitätsstudium absolvieren würden. Nicht wenige Studenten kamen nach Abschluss ihrer universitären Studien und hatten bereits den Grad eines Magisters oder Doktors inne.“167 Der orthodox sozialisierte Kellermann, der bei seiner Immatrikulation alle Bedingungen erfüllte, hatte sich trotz der Konfrontation mit dem liberalen und historisch-kritischen Denken an der Marburger Universität, wie es sich schon in der Dissertation nachweisen lässt, zunächst für das Rabbiner-Seminar und nicht für die liberalere jüdische Hochschule entschieden. Die Abkehr von der Orthodoxie erfolgte über einen längeren Zeitraum hinweg und nahm an Intensität immer mehr zu. Der Würzburger Rabbiner Bamberger, der „keine akademische[n] Studien betrieben [hatte]“, zeigte kein Verständnis „für den wissenschaftlichen Lehrbegriff Hildesheimers […]. Fromm, gottesfürchtig, gelehrt, gewissenhaft und kompetent in seinen religionsgesetzlichen Entscheidungen sollte der Rabbiner sein – alles andere sei im Grunde nebensächlich.“168 In diesem Sinn wurde Kellermann an der ILBA ausgebildet, war jedoch wie Hildesheimer vom Wert auch nichtjüdischen Wissens überzeugt. So ging der promovierte Philologe bewusst an das von Bamberger abgelehnte Berliner Seminar; eine Entscheidung, die sicherlich auch durch den Umstand befördert wurde, dass die Anstalt bei seinem Eintritt noch von Hildesheimer dirigiert wurde. Der Lehrerstab am Rabbiner-Seminar bestand ein Jahr nach der Gründung aus den folgenden vier Dozenten: Abraham Berliner, David Zwi Hoffmann, Jacob Barth und Hildesheimer selbst. Angesichts des von ihnen erteilten Unterrichts werden der Lehrplan und das Profil der Institution deutlich, die trotz ihrer Verbindung von religiösen und weltlichen Fächern wie Latein, Griechisch oder Mathematik „die Zentralität des Studiums von Talmud und Halacha im traditionellen Sinne der Jeschiwa [betonte]“.169 Hildesheimer dozierte über Talmud, jüdische Religionsphilosophie, Geschichte, Homiletik und einige Zeit 164 Vgl. Hildesheimer, Studenten am Berliner Rabbinerseminar, 52f. 165 Vgl. ebd., 144f. 166 Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 34. Ebd. heißt es, dass „[n]ur in seltenen Ausnahmefällen“ Kandidaten aufgenommen wurden, die lediglich „im Talmudischen den Anforderungen genügen.“ 167 Hildesheimer, Die Studenten des Rabbinerseminars zu Berlin, 44. 168 Breuer, Jüdische Orthodoxie, 123. 169 Eliav, Gründungsgeschichte des Berliner Rabbinerseminars, 41.

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auch Mathematik.170 Während seines kurzen Aufenthaltes von 1896 bis 1897 hörte Kellermann jedoch nicht mehr bei ihm, da dieser ein Jahr zuvor seine letzte Veranstaltung zum Talmud gegeben hatte.171 Dennoch ist er ihm mit Sicherheit viele Male begegnet, da dieser zum einen noch Rektor war und zum anderen im selben Haus sein Schlaf- und Arbeitszimmer hatte.172 Laut den Vorschriften der Anstalt hatten die Studenten in den ersten zwei Semestern ihres Studiums wöchentlich fünfzehn Stunden zu hören: Acht Stunden Schiurim, zwei zu Orach Chaim („Lebensweise“, d.i. ein Teil der Zusammenstellung der Halacha von Rabbi Jakob ben Ascher), zwei zum Pentateuch, zwei zu hebräischer Grammatik und Exegese und eine zu einem Midrasch respektive Homiletik.173 Der Historiker Abraham Berliner (1833–1915)174 las im Wintersemester 1896/97 unter anderem „Literaturgeschichte der talmudischen Methodologie“ und den Midrasch zum dritten Buch Mose und Kellermann als Erstsemester hätte an beiden Veranstaltungen teilnehmen dürfen.175 Bei David Zwi Hoffmann (1843–1921)176 hat der Student in seinen beiden Semestern möglicherweise den Talmudtraktat Schabbat, Einleitendes zur Mischna oder eine Exegese zu verschiedenen Kapiteln des Deuteronomiums gehört.177 Jacob Barth (1851–1921)178 legte in dieser Zeit Hiob, Ezechiel und andere biblische Bücher aus und lehrte hebräische Grammatik.179 170 Hildesheimer, Die Dozenten am Berliner Rabbinerseminar, 279. 171 Vgl. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 29. 172 Darüber berichtet seine Enkelin Henriette Hirsch, geb. Hildesheimer (1884–1970) in ihren Erinnerungen, die auszugsweise abgedruckt sind in: Richarz, Monika (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 2: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte im Kaiserreich, VLBI, Stuttgart 1979, 77–86, hier : 77. 173 Vgl. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 32. 174 Berliner war Mitbegründer der „Adass Jisroel“ und des Magazins für die Wissenschaft des Judentums, er publizierte eine kritische Edition von Raschis Pentateuch-Kommentar und schrieb eine zweibändige Geschichte der Juden in Rom (Frankfurt a. M. 1893). Nach dem Tod Hildesheimers 1899 wurde Berliner Direktor des Seminars. Zu seiner Biografie: Carlebach, Alexander, Art. Berliner, Abraham, in: 2EJ 3 (2007), 460; Hildesheimer, Die Dozenten am Berliner Rabbinerseminar, 275–277. 175 Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 30. 176 Der aus Ungarn stammende Hoffmann war verantwortlich für Talmud, Halacha, Poskim, Pentateuch-Exegese, jüdische Geschichte und einige Jahre für Arabisch und Mathematik. Er war Mitglied des „Vereins zur Förderung der jüdischen Geschichte und Literatur“ und gab mit Berliner das Magazin für die Wissenschaft des Judentums heraus. Zu Leben und Werk: Baumel, Orthodoxie und Wissenschaft; Hildesheimer, Die Dozenten am Berliner Rabbinerseminar, 280f; Herr, Moshe D./ Derovan, David, Art. Hoffmann, David Zevi, in: 2EJ 9 (2007), 310f. 177 Vgl. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 30. 178 Neben seiner Tätigkeit am Seminar war Barth als „Geheimer Regierungsrat“ Dozent für

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Zur Zeit Kellermanns waren neben diesen drei Dozenten noch zwei weitere beschäftigt. Hirsch Zwi Hildesheimer (1855–1910)180 las zwischen 1896 und 1897 über die physische Geografie Palästinas, Flavius Josephus und die jüdische Geschichte von Agrippa I. bis zur abschließenden Redaktion des Talmuds.181 Diese Veranstaltungen hat Kellermann aufgrund seines kurzen Aufenthalts am Seminar mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht besucht, da geschichtliche Vorlesungen erst ab dem dritten, geografische ab dem fünften Semester zu hören waren.182 Bei Joseph Wohlgemuth (1867–1942)183 hätte er neben verschiedenen Talmudlektüren Kommentare zu Büchern des Pentateuch und Theoretisches zur Homiletik hören und seinen religionsphilosophischen Ausführungen zur Willensfreiheit beiwohnen können.184 Welche von diesen Kursen Kellermann wählte, um das geforderte Pensum auszufüllen, kann aufgrund der schlechten Archivlage nicht mehr festgestellt werden.185 Der Rabbinatskandidat schloss am Seminar enge und ein ganzes Leben dauernde Freundschaften mit dem aus Posen stammenden Hans Sachs (gest. 1934) und dem aus dem westfälischen Warburg kommenden Joseph Lehmann (1872–1933).186 Sie hörten bei einigen oder allen der fünf genannten Dozenten und erwarben sich in

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semitische Sprachen an der Berliner Universität. Zur Biografie: Hildesheimer, Die Dozenten am Berliner Rabbinerseminar, 274f; Blau, Joshua/Jaffe, Benjamin, Art. Barth, Jacob, in: 2EJ 3 (2007), 179f. Vgl. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 30. Der Sohn des Anstaltsgründers studierte Geschichte und war angeblich der „Lieblingsschüler von Professor Mommsen“ (Erinnerungen von Henriette Hirsch, geb. Hildesheimer, 84), der ihn 1879 promovierte. Nach Besuch des Rabbiner-Seminars bis 1880, lehrte er dort und an der Berliner Universität viele Jahre jüdische Geschichte und Geografie Palästinas. Zur Biografie: Hildesheimer, Studenten am Berliner Rabbinerseminar, 138f. Vgl. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 30. Vgl. ebd., 32f. Der aus Litauen stammende Wohlgemuth wurde 1893/94 am Rabbiner-Seminar ordiniert und lehrte dort bis 1930. Er war Rabbinatsassessor der „Adass Jisroel“. Unter seinen vielen Publikationen ist die, gegen liberaljüdische Übersetzungen gerichtete, deutsche Übersetzung des Pentateuchs hervorzuheben, die er mit seinem ehemaligen Kommilitonen am Rabbiner-Seminar Isidor Bleichrode anfertigte und 1899 veröffentlichte (Wohlgemuth, Joseph/Bleichrode, Isidor, Die fünf Bücher Moses, in deutscher Übersetzung, nebst den Haftaroth, übersetzt von Lipmann H. Löwenstein, und den Megilloth, Rödelheim 1899 [21909]). Einen biografischen Überblick gibt Hildesheimer, Studenten am Berliner Rabbinerseminar, 266f. Vgl. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 31. Teilnehmerlisten oder Einnahmemanuale liegen für das Rabbiner-Seminar nicht vor. Vgl. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 42f u. 45; Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. – Nach Sachs, H [ans], Aus der Jugendzeit …, in: MJRGB 16/4 (1933), 8f, hier : 8, ist Lehmann 1893 in das Seminar eingetreten.

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verschiedenen Veranstaltungen einen Überblick über die jüdische religiöse Literatur. Lehmann hatte Kellermann in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende mit seiner Schwester Thekla zusammengebracht, die er 1909 heiratete. Aber nicht nur persönlich, sondern auch fachlich prägte er ihn, indem er den Kommilitonen in seinem Denken und in der Abkehr von der Orthodoxie beeinflusste. Nach dem Besuch der Volksschule lernte Joseph Lehmann in Frankfurt zwei Jahre Talmud bei Markus Horovitz. Mit seinem Eintritt in das Rabbiner-Seminar 1893 war er zunächst ganz der Orthodoxie verpflichtet und schien ein „Lieblingsschüler“ von Hildesheimer gewesen zu sein.187 Dem Nachruf von Sachs auf Kellermann zufolge, gab es jedoch während ihrer Zeit am Seminar eine „,große Kundgebung‘, die in einer ,Verwarnung‘ das Rabbinatsdiplom mit einer Gewissenszwangsklausel beschwert[e]“.188 Der Inhalt dieser Verwarnung ist nicht im Wortlaut erhalten geblieben, es handelte sich dabei jedoch zum einen um die Abwehr der Darwinschen Evolutionstheorie,189 die die biblische Schöpfungslehre herausforderte. Zum anderen um die „strenge Ablehnung der bibelkritischen Ergebnisse“190, ähnlich des Breslauer Seminars, das den Dozenten ebenfalls untersagte, die historisch-kritische Methode der Bibelwissenschaft „auf den Pentateuch anzuwenden, und stattdessen die Details des jüdischen Rechts im Lehrplan betonte.“191 Führende protestantische Bibelwissenschaftler der Zeit behaupteten, der Großteil des Pentateuch inklusive der dort enthaltenen Gebote und Verbote sei nicht der älteste Teil der Bibel, sondern während und nach dem babylonischen Exil, also im 6. Jahrhundert v. d.Z. entstanden und redaktionell zusammengeführt wurden. Demgegenüber betrachteten die Dozenten am Rabbiner-Seminar die Tora als eine nicht zu scheidende und von Gott gegebene Einheit, in der jeder Satz auf jeden anderen bezogen sei. Die Exegese der Texte orientierte sich weiterhin an den jahrhundertelang tradierten Auslegungsmethoden und wurde stets in enger Beziehung zum Talmud durchgeführt, den christliche Theologen fast nie lasen und schon gar nicht in ihren Exegesen heranzogen.192 Lowenstein zufolge wandten die Dozenten am Berliner Seminar zwar auch „die gelehrten Methoden der Wissenschaft des Judentums an, allerdings nur insoweit, wie sie nicht im Widerspruch zu 187 Hildesheimer, Studenten am Berliner Rabbinerseminar, 171. Vgl. auch Ladwig-Winters, Freiheit und Bindung, 110. 188 Sachs, Kellermann zum Gedenken. 189 Vgl. Hildesheimer, Die Studenten des Rabbinerseminars zu Berlin, 46. 190 Sachs, Aus der Jugendzeit …, 8. 191 Meyer, Michael A., Von Moses Mendelssohn bis Leo Baeck. Die Bedeutung Berlins für die jüdische Reform, in: Rürup, Reinhard (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, Berlin 1995, 37–51, hier : 49. 192 Ein Musterbeispiel umfassender Kritik an den Befunden der historisch-kritischen Bibelwissenschaft ist der Aufsatz „Die wichtigsten Instanzen gegen die Graf-Wellhausensche Hypothese“ von dem Dozenten David Z. Hoffmann, in: JBRS 1902/03 (1904), 3–151.

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traditionellen Überzeugungen standen. David Hoffmann […] und einige seiner Kollegen bedienten sich dieser modernen Methoden hauptsächlich zu dem Zweck, traditionelle Dogmen gegen die Bibelkritik zu verteidigen.“193 Wie andere Studenten geriet auch Lehmann, durch sein paralleles Studium der mittelalterlichen und neuzeitlichen Geschichte an der Berliner Universität von den „exakten Methoden wissenschaftlich-kritischer Quellenforschung“194 überzeugt, in Konflikt mit den Grundsätzen der Anstalt, wandte sich von ihr ab und setzte seine theologischen Studien an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums fort.195 Kellermann litt unter „schweren, inneren Seelenkämpfen“196, da er sich der dogmatisch verhängten „Gewissenszwangsklausel“ nicht unterordnen wollte. Er führte intensive Diskussionen mit seinen Freunden Lehmann und Sachs und verwahrte sich gegen die Beschneidung der Wissenschaft. In Marburg hatte er naturwissenschaftliche Vorlesungen besucht, die selbstverständlich mit der Evolutionslehre im Anschluss an Darwins On the Origin of Species by Means of Natural Selection (1859) und den darauf folgenden Forschungen operierten, und konnte dies in sein Weltbild einbinden. Zudem hörte er dort die alttestamentlichen Vorlesungen Baudissins, die auf den bibelkritischen Erkenntnissen aufbauten und betrieb in Berlin historische und germanistische Studien, die auf den Standards moderner Textkritik beruhten. Er war viel zu stark geprägt von 193 Lowenstein, Das religiöse Leben, 110. 194 Sachs, Aus der Jugendzeit …, 8. 195 Aufgrund der bedeutenden Rolle Lehmanns für Kellermanns weiteren Lebensweg und das liberale Judentum in Berlin, soll seine Biografie kurz skizziert werden (vgl. auch BHRabb II/ 2, 371f). Nach dem Studium an der HWJ, wo er engen Kontakt zu dem Dozenten Siegmund Maybaum pflegte, wurde er 1904 in Greifswald mit der Arbeit Johann ohne Land. Beiträge zu seiner Charakteristik (Historische Studien, Bd. 44, Berlin 1904) promoviert, arbeitete danach an Religionsschulen in Berlin und wurde 1910 Rabbiner der 1845 gegründeten „Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin“, die noch wesentlich über die Reformvorstellungen innerhalb der Berliner Einheitsgemeinde hinausging. Lehmann betrachtete sich als Deutscher jüdischen Glaubens, war im Hauptvorstand des CV, diente im Ersten Weltkrieg als überzeugter Soldat des Kaisers und verfasste zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft unter dem Titel „Deutsche jüdischen Glaubens“ einen Artikel in den MJRG, mit dem er ein letztes Mal selbstbewusst für den Gedanken der „deutsch-jüdischen Symbiose“ eintrat. Dort heißt es: „Der deutschen Volksgemeinschaft gehören wir an und wollen wir angehören auf Gedeih und Verderben“ (Lehmann, Joseph, Deutsche jüdischen Glaubens, in: MJRGB 16/2 [1933], 1f, hier : 1). Er verstarb am 8. Juni 1933 infolge eines Herzinfarkts (Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London) und seine Schwester Thekla Kellermann schaltete die Traueranzeige im Namen der Geschwister (JLZ Nr. 6 vom 15. 6. 1933, Beilage, 2). Die MJRGB vom 1. Juli des Jahres waren gänzlich dem Verstorbenen gewidmet und enthielten zahlreiche Nachrufe von Weggefährten und Kollegen (MJRGB 16/ 4 [1933]). Ihm zu Ehren gründete die Reformgemeinde die „Joseph-Lehmann-Schule“, die eine enge Bindung an die Grundsätze und Ziele des Reformjudentums sowie an das deutsch-jüdische Element trotz der angebrochenen Nazidiktatur propagierte (vgl. Fehrs, Jüdische Schulen in Berlin, 286–290). 196 Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 2.

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den naturwissenschaftlichen und philologischen Erkenntnismethoden seiner Zeit und zu sehr „beeinflusst durch Wellhausens Lehre“197, um die vom Rabbiner-Seminar verordnete Denkweise kritiklos zu übernehmen. Schon ein Jahr nach seinem Ausscheiden verfasste Kellermann einen gegen den jüdischen Exegeten Benno Jacob gerichteten Aufsatz mit dem Titel „Bibel und Wissenschaft“, an dem deutlich zu erkennen ist, wie weit er sich in jenen Jahren schon von seinen traditionellen Ursprüngen entfernt hatte.198 Die dort vorgenommene Verteidigung der historisch-kritischen Methode im Anschluss an die protestantische Bibelwissenschaft wäre an den Lehrerseminaren in Höchberg und Würzburg eine Rebellion gewesen und hätte Strafen oder den Rauswurf bedeutet. Die Studien in Marburg und Berlin sowie die Begegnung mit der Philosophie Kants unter der Anleitung Cohens aber veränderten seine Auffassungen über die jüdische Religion und Lebensweise. Kellermann, Lehmann und Sachs waren davon überzeugt, dass eine Religion der Minorität, eine Religion, die nicht im Staatsleben wurzelt, sodass sie von diesem getragen wird, sondern die aus sich selbst ihre Nahrung zieht, nur Bestand haben kann, wenn sie sich auf der Höhe des geistigen Lebens hält, wenn sie vorangeht im Kampf der Geister, wenn sie durch ihre Gediegenheit und Innerlichkeit die Gemüter festigt, durch wissenschaftliche Begründung und Freiheit auch die Geister Ausserhalbstehender überzeugt und bewältigt.199

Da sie also „die wissenschaftliche Begründung für ihr religiöses Fühlen und Handeln dort nicht gefunden hatten“, verließen sie 1897 mit „vielen anderen Hörern“200 die Hildesheimersche Ausbildungsstätte und schrieben sich noch im selben Jahr an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ein.201

197 Hildesheimer, Studenten am Berliner Rabbinerseminar, 157. 198 Zu der Kellermann-Jacob-Kontroverse 1898 vgl. Kap. I.2.5.4. 199 Galliner, Julius, [Ts] ohne Titel [Nachruf auf Hans Sachs], undatiert [1934], LBI New York, AR 3070, Box 1, Series 4, Folder 11, 3 Bl., hier : Bl. 2. Folgendes Zitat: ebd. 200 Sachs, Kellermann zum Gedenken. 201 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London (jedoch ohne Angabe des Jahres 1897). – In Das Rabbinerseminar zu Berlin (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 48–50 taucht Kellermann unter den Studenten für 1897–1898 nicht mehr auf. Ebd., 42f u. 45 heißt es, dass Kellermann, Lehmann und Sachs „in eine andere Anstalt übergegangen“ seien. Der Eintritt zum WS 1897/98 wird durch den Umstand bestätigt, dass Kellermann sich im Mai 1897 ein Sittenzeugnis von der Berliner Universität ausstellen ließ, das er bei der HWJ zur Immatrikulation einreichte (Sittenzeugnis der Berliner Universität, 18. 5. 1897, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl.).

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2.5.4 Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und der Disput mit Benno Jacob Leo Baeck zufolge wechselte Kellermann „in einer entscheidenden Zeit seines Lebens“202 an die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (HWJ), die zu jener Zeit noch in den Räumen der Synagoge Lindenstraße 48/52 untergebracht war und 1897 ihr fünfundzwanzigjähriges Bestehen feierte.203 Die mit dem Historismus einhergehenden textkritischen Methoden gefährdeten traditionelle Überlieferungen und Glaubensgewissheiten sowohl christlicher als auch jüdischer Gelehrter, was Kellermann während seiner Studien in Teilen sicherlich auch verunsichert hat. Im Gegensatz zum Rabbiner-Seminar hatte an der HWJ jedoch die Freiheit der Forschung höchste Priorität und gab es keine von oben verordneten Gewissenszwangsklauseln, wie der Dozent Martin Schreiner das Ideal in einem Rückblick auf die Anstalt festhielt: Die Gebundenheit des Geistes, sowohl die, welche aus äusseren Rücksichten, als auch diejenige, welche aus dogmatischen Annahmen stammt, ist von unserer Anstalt immer ferngeblieben.204

Kellermann entschied sich also für die HWJ, da hier ein liberalerer Geist wehte, der mit seinen sich langsam herausbildenden neuen Auffassungen über die jüdische Religion besser korrespondierte. Die ersten Initiativen des Repräsentanten der jüdischen Gemeinde Moritz Meyer (1811–1869) und des Philosophen Moritz Lazarus (1824–1903) zur Gründung einer wissenschaftlichen jüdischen Hochschule in Berlin reichen bis in das Jahr 1867 zurück, eröffnet wurde die Bildungseinrichtung schließlich am 6. Mai 1872.205 Die Hochschule sollte keiner der bestehenden jüdischen Konfessionen angehören, wie aus dem Gründungsaufruf von 1869 hervorgeht:

202 Leo Baeck an Thekla Kellermann, 29. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. 203 Von 1907 bis zur Schließung 1942 hatte die HWJ ihren Sitz dann in der Artilleriestraße 14 (heute Tucholskystraße 9 und Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland). Vgl. Kaufmann, Irene, Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (1872–1942). Mit einem Beitrag von Daniela Gauding, Jüdische Miniaturen, Bd. 50, Teetz/Berlin 2006, 28f; Elbogen, Ismar/Höniger, Johann (Hg.), Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. Festschrift zur Einweihung des eigenen Heims am 22. 10. 1907, Berlin 1907. 204 Schreiner, Martin, Zur inneren Geschichte der Lehranstalt, in: Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums (Hg.), Rückblick auf ihre ersten fünfundzwanzig Jahre (1872–1897), Berlin 1897, 3–7, hier : 7. 205 Zur Geschichte der HWJ im Folgenden: Schreiner, Zur inneren Geschichte der Lehranstalt; Curatorium der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums, Bericht des Curatoriums, in: Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums (Hg.), Rückblick (1872–1897), 8–16; Elbogen, Ismar, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, in: ders./Höniger (Hg.), Festschrift, 1–98; Kaufmann, Hochschule.

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Unabhängigkeit erscheint als eine der wesentlichsten Grundlagen für das Gedeihen einer solchen Anstalt, unabhängig von den Staats- und Gemeinde-Behörden, damit auch unabhängig von jeglicher Parteibestrebung, unabhängig von den gespaltenen und vorübergehenden Meinungen, kann sie nur in dem reinen Streben nach wahrer Erkenntniss wahrhaft blühen und für den Fortbestand und Fortentwicklung des Judenthums edle Früchte tragen.206

Das Ziel war demnach die Errichtung einer „streng wissenschaftliche[n] Institution, die sich der Erforschung jüdischer Kultur“207 widmen und damit einen Beitrag für das Bestehen und die Fortentwicklung des Judentums in der Zukunft leisten sollte. Ab 1883 war die Einrichtung gezwungen, sich „Lehranstalt“ zu nennen, da der preußische Staat keine Gleichwertigkeit zu einer „ordentlichen“ Hochschule zugestehen wollte. Dennoch prosperierte sie in den nächsten Jahrzehnten und zog viele Studenten aus dem In- und Ausland an. Die HWJ konnte seit ihrer Gründungsphase einige der besten Vertreter der Wissenschaft des Judentums an sich binden.208 Die konservative Strömung vertraten etwa David Cassel (1818–1893) als Dozent für Bibelexegese, jüdische Geschichte und Literatur und Israel Lewy (1841–1917) für Talmud und rabbinische Literatur. Die Orthodoxie u. a. der bekannte Mischna-Forscher Chanoch Albeck (1890–1972), der ebenfalls Talmud lehrte. Liberaljüdisch eingestellte Dozenten waren Abraham Geiger und Martin Schreiner (1863–1923) für Bibel und Hebraistik, Chajim Heymann Steinthal (1823–1899) für Religionsphilosophie und Leo Baeck für Bibel, mystische Schriften und das Verhältnis zur christlichen Theologie. Im Gegensatz zum Rabbiner-Seminar waren an der HWJ auch Frauen unter Voraussetzung der allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung zum Studium zugelassen.209 Zudem gab es die Möglichkeit, sich als Gasthörer zu immatrikulieren, um sich einen Überblick über den Stand der Wissenschaft des Judentums zu verschaffen, ohne ein Examen anzustreben. Einer dieser außerordentlichen Hörer war Franz Kafka, der in seinen letzten Berliner Jahren die Atmosphäre an der HWJ sehr genoss und nachweislich bei dem Rabbiner Julius Grünthal studierte.210 Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 durfte die Einrichtung wieder den Begriff „Hochschule“ im Titel führen, der dann aber schon am 24. Juni 1933 206 207 208 209

Zit. n. Schreiner, Zur inneren Geschichte der Lehranstalt, 3f. Kaufmann, Hochschule, 7. Vgl. dazu im Folgenden Kaufmann, Hochschule, 9 u. 34–45. So hatte die 1935 in Offenbach ordinierte und damit weltweit erste Rabbinerin Regina Jonas (1902–1944) an der HWJ studiert. Vgl. zu ihrer Biografie: Klapheck, Elisa, Fräulein Rabbiner Jonas. The Story of the First Woman Rabbi, San Francisco 2004. Eine kürzere Version erschien bereits 2003: dies., Regina Jonas. Die weltweit erste Rabbinerin, Jüdische Miniaturen, Bd. 4, Teetz 2003. 210 Vgl. Kaufmann, Hochschule, 28; Stach, Reiner, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt a. M. 2008, 571 u. 687f, Anm. 20.

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erneut in „Lehranstalt“ geändert wurde.211 Während des Nationalsozialismus gab es mehrere Versuche, „die Hochschule als Ganzes nach Cambridge zu transferieren“, was jedoch scheiterte.212 Nach genau 70 Jahren erfolgreicher Ausbildung von Rabbinern, Lehrern und Wissenschaftlern, musste sie am 19. Juni 1942 ihre Pforten schließen und wurden die letzten verbliebenen Dozenten und Studenten, die nicht mehr untertauchen oder flüchten konnten, in die Konzentrationslager deportiert. Kellermann musste sich bei seinem Eintritt in die HWJ 1897 keiner Prüfung unterziehen, da von den Statuten her ein jeder Student der Berliner Universität zugelassen war.213 Dementsprechend legte er die Immatrikulationsbescheinigung, sein Reifezeugnis und seine Promotionsurkunde vor und wurde als ordentlicher Hörer aufgenommen. Wie sein Freund Julius Galliner, erhielt auch Kellermann ein Stipendium für die drei Semester, die er dort studierte.214 Die auf das Rabbineramt und den jüdischen Religionsunterricht an höheren Lehranstalten vorbereitende HWJ verlangte wie das Rabbiner-Seminar von ihren Studenten die gleichzeitige Immatrikulation an der Friedrich-Wilhelms-Universität, denn die „Vorlesungen an der Hochschule sollen eine Ergänzung bilden zu dem Studium an der Universität und sollen so eingerichtet sein, daß den Hörern genügend Zeit bleibt, in jedem Semester zwei Vorlesungen an der Universität zu besuchen“.215 Ausgenommen von dieser Regel waren lediglich promovierte Studenten,216 da sie ihre wissenschaftliche Qualifikation schon bewiesen hatten. Der Doktor der Philosophie Benzion Kellermann schrieb sich also freiwillig an der Berliner Universität ein und belegte in seinen ersten Semestern, wie gezeigt wurde, fast immer das doppelte Pensum der von der HWJ geforderten Veranstaltungen. Mit dem Doppelstudium entsprach er dem gewünschten neuen Typus des „jüdischen Studenten“, der neben seiner religiösen auch eine weltliche Ausbildung genoss und sich als promovierter Philologe dem Ziel des „Doktor-Rabbiners“ näherte.217 Bis dahin war es aber ein anstrengender Weg, denn die HWJ verlangte ihren dreißig bis vierzig Studenten pro Jahrgang218 einiges ab. 211 Vgl. Kaufmann, Hochschule, 33f u. 45. – In der vorliegenden Arbeit wird durchgängig die Bezeichnung Hochschule verwendet, da die HWJ sowohl von ihrem Anspruch als auch von ihren Leistungen her als eine Hochschule im eigentlichen Sinn gewürdigt werden muss. 212 Ebd., 46. 213 Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 41. 214 Stipendiatenliste, undatiert, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. 347 L, File 3 8-4, 1 Bl. – Der Aufenthalt für drei Semester an der HWJ geht ebenfalls hervor aus: o. Verf. [möglicherw. Ismar Elbogen], Liste aller Hörer an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, undatiert, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3 Bl., hier : Bl. 2. 215 Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 44. 216 Schreiner, Zur inneren Geschichte der Lehranstalt, 6. 217 Vgl. dazu Wilke, Carsten, „Den Talmud und den Kant“. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne, Netiva, Bd. 4, Hildesheim/Zürich/New York 2003.

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In den folgenden vier Hauptgebieten musste sich Kellermann umfassende Kenntnisse erwerben: Biblische Wissenschaft und hebräische Sprache, talmudische Wissenschaft, jüdische Geschichte und Literatur sowie Religionsphilosophie und Ethik. Pro Semester hatten die Studenten mindestens zwei Veranstaltungen zu besuchen, von denen eine der talmudischen Wissenschaft entnommen sein musste, und sich die Anwesenheit in einem Studienbuch dokumentieren zu lassen. Aufgrund der praktischen Ausbildung der Hörer zum Rabbiner, Prediger oder Lehrer kam der Beschäftigung mit dem Talmud an der HWJ eine bedeutende Rolle zu. Der Unterschied zum Rabbiner-Seminar lag dabei in den angewandten Methoden. Neben der Vermittlung der traditionellen Auslegungsmethoden, bestand die HWJ auch darauf, dass „,das Studium des Talmuds […] im Geiste der heutigen Wissenschaft betrieben werden‘“ müsse, wozu auch die „literarische Kritik“ gehörte.219 Kellermann, der schon eine fundierte traditionelle talmudische Bildung erworben hatte, studierte diese wichtige Quelle rabbinischen Schrifttums nun noch einmal aus einer anderen Perspektive.220 Sie wurde mit den textkritischen Methoden der Zeit untersucht und in ihren historischen Zusammenhang gestellt. Obwohl mit der Historisierung zwangsläufig die göttliche Autorität der Urkunde schwand, wurde ihr an der HWJ bleibender Wert auch für das Judentum der Gegenwart und der Zukunft zugesprochen. Deshalb musste sich Kellermann erneut in die rabbinische Literatur und das antike Judentum vertiefen, verschiedene Auslegungsverfahren beherrschen und viele Stellen auswendig lernen, um die Prüfungen bestehen zu können. Der aus der Slowakei stammende Eduard Ezekiel Baneth (1855–1930) war ein renommierter Kenner der talmudischen und rabbinischen Literatur, der Entwicklung der Halacha und des jüdischen Kalenders und wurde deshalb 1895 an der HWJ angestellt, wo er für „die talmudischen Disziplinen“ verantwortlich zeichnete.221 Aufgrund der oben erwähnten Verpflichtung, belegte Kellermann bei Baneth jedes Semester eine Vorlesung im talmudischen Bereich und hörte seine Einleitung in den Talmud und die fortlaufenden Auslegungen verschiedener Traktate. Ferner konnte er sich bei ihm mit der 1180 erschienenen Mischne

218 Vgl. Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 79. Zum Folgenden: ebd., 49. 219 Ebd., 33. Elbogen gibt für das erste Zitat keine Quelle an. 220 Ohne diese Vorbildung wäre es etwa kaum möglich gewesen, im Wintersemester 1899/1900 vor dem „Akademischen Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ über „Die Theodicee im Zeitalter der Tanaiten“ zu sprechen. Vgl. dazu Cohen, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, 28. 221 Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 85. Zu Leben und Werk: Herr, Moshe D./Goitein, Shelomo D./Stern, Samuel M., Art. Baneth, family of scholars, in: 2EJ 3 (2007), 108.

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Tora des Maimonides (1135–1204), der hebräischen Grammatik, dem jüdischen Kalender und den biblischen Propheten beschäftigen.222 Die intensive Ausbildung im Talmud zeigt sich in Kellermanns Werk an vielen Stellen. Denn in seiner Argumentation für die Berechtigung und Fortschrittlichkeit des Reformjudentums gegenüber der jüdischen Orthodoxie und dem Christentum, zitiert er immer wieder talmudische Quellen. Dadurch entging er zum einen dem von orthodoxer Seite gegenüber Liberalen stets geäußerten und zum Teil berechtigten Vorwurf, die jüdische Tradition zertrümmern zu wollen, ohne sie zu kennen. Zum anderen konnte er durch Historisierung den Talmud als eine wichtige Quelle der jüdischen Geschichte würdigen, die aber nach Kant und der Aufklärung ihren normativen Charakter im weitesten Sinn verloren habe. Neben Baneth wirkten zwischen 1897 und 1902 noch die Dozenten Steinthal, Maybaum, Elbogen und Schreiner an der Hochschule. Der seit ihrer Gründungsphase an der HWJ lehrende Chajim Steinthal las über vergleichende Religionsgeschichte und Religionsphilosophie und widmete sich der kritischen Erforschung der Hebräischen Bibel. Kellermann konnte den damals weltberühmten Völkerpsychologen und Professor der Philologie an der Berliner Universität noch drei Semester lang als Dozenten erleben und hat möglicherweise an einer oder mehreren seiner drei Vorlesungen – „Die Entwicklung der Gottes-Idee in Israel-Juda in biblischer Zeit“, „Hauptpunkte der Ethik“ und „Psychologie des Willens“ – teilgenommen.223 Steinthal setzte sich in seinem Werk zentral mit Fragen der Ethik und der Bedeutung der Religion für den modernen Menschen auseinander und begriff, wie später auch Kellermann, „Prophetie als Verkündigung des ethischen Monotheismus“.224 Siegmund Maybaum (1844–1919) lernte unter anderem an der Jeschiwa von Esriel Hildesheimer und amtierte in den 1870er Jahren als Rabbiner in Ungarn und Böhmen, bevor er nach Berlin kam.225 Er vertrat an der HWJ seit dem „1. April 1888 alle Zweige der praktischen Theologie“, wozu Homiletik, Midraschkunde, Pädagogik und Didaktik gehörte.226 In seinen in jedem Semester

222 Zu den Lehrveranstaltungen Baneths vgl. BLWJ 16 (1898), 36; BLWJ 17 (1899), 6; BLWJ 18 (1900), 8; BLWJ 20 (1902), 10; BLWJ 21 (1903), 8. 223 Zu Leben und Werk: Petuchowski, Jakob J., Art. Steinthal, Hermann Heymann, in: 2EJ 19 (2007), 199f. Speziell zu seinem Wirken an der HWJ: Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 24–26. Die Vorlesungen sind aufgeführt: BLWJ 16 (1898), 36; BLWJ 17 (1899), 6. 224 Veltri, Giuseppe, Ethischer Monotheismus und Prophetie. Zu Steinthals dynamischer Deutung der Schöpfung, in: Wiedebach, Hartwig/Winkelmann, Annette (Hg.), Chajim H. Steinthal. Sprachwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert, SEJ, Bd. 4, Leiden u. a. 2002, 171–185, hier : 179. – Vgl. etwa Steinthals gesammelte Studien Zu Bibel und Religionsphilosophie. Vorträge und Abhandlungen. Neue Folge, Berlin 1895. 225 Zur Biografie: Glatzer, Nahum M., Art. Maybaum, Sigmund, in: 2EJ 13 (2007), 697f. 226 Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 77.

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abgehaltenen homiletischen Übungen227 wurde Kellermann in der Predigtkunst unterwiesen und durch die Vorlesung „Methodik des jüdischen Religionsunterrichts“228 auf dessen Erteilung an den höheren Lehranstalten Berlins vorbereitet. Er und die anderen Rabbinatskandidaten hörten seine „Geschichte des Gottesdienstes“229 und mussten unter der Aufsicht Maybaums zweimal im Semester „eine Übungspredigt zum Wochenabschnitt und zu einer Kasualie“ halten.230 Zudem wandten die Studenten ihre theoretischen Kenntnisse in „sabbathlichen Uebungspredigten“ in verschiedenen Berliner Gemeindesynagogen an und wurden jedes Jahr einige Kandidaten auserkoren, an den hohen Feiertagen zu predigen und so vor einem großen Publikum zu üben.231 Den Erinnerungen von Hans Sachs zufolge, habe es an der HWJ eine besondere Bindung Kellermanns an den nur sechs Jahre älteren Martin Schreiner (1863–1926) gegeben, die zu einer „innigen Freundschaft“ geführt habe.232 Schreiner hatte das Rabbinerseminar und die Universität in Budapest besucht und wurde dort stark von dem renommierten Islamwissenschaftler Ignaz Goldziher (1850–1921) geprägt.233 Nach seiner Tätigkeit als Rabbiner und Ausbilder für jüdische Religionslehrer in Ungarn, wurde er Ende 1893, als Nachfolger Cassels, an die HWJ berufen und erhielt den „Lehrauftrag für ,biblische Wissenschaften, Geschichte der Juden und die religionsphilosophischen Disziplinen‘“.234 Der vielsprachige Orientalist war ein Spezialist für jüdische Geschichte, islamische Theologie, Religionsphilosophie, für die Karäer und die Bibelauslegung.235 In seiner beeindruckenden Privatbibliothek besaß er neben Werken von Cohen, Geiger, Herzl, Standardwerken der Wissenschaft des Judentums und der christlichen Theologie auch die Dissertation Kellermanns.236 In vielerlei Hin-

227 Vgl. für den Aufenthalt Kellermanns BLWJ 16 (1898), 36; BLWJ 17 (1899), 6; BLWJ 18 (1900), 8; BLWJ 20 (1902), 10; BLWJ 21 (1903), 8. 228 Vgl. BLWJ 20 (1902), 10. 229 Vgl. BLWJ 18 (1900), 8. 230 Kaufmann, Hochschule, 21. Folgendes Zitat: ebd., 22. 231 Curatorium der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums, Bericht des Curatoriums, 13. 232 Sachs, Kellermann zum Gedenken. Folgendes: ebd. 233 Vgl. Perlmann, Moshe, Art. Schreiner, Martin, in: 2EJ 18 (2007), 167. – Warschauer, Im jüdischen Leben, 88 bezeichnet Schreiner sogar als „Lieblingsschüler“ von Goldziher. Zu Goldzihers Leben und Werk: Plessner, Martin M., Art. Goldziher, Ignaz, in: 2EJ 7 (2007), 735. 234 Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 84. 235 Vgl. zur Literatur Perlmann, Schreiner, 167; Uebersicht der literarischen Thätigkeit der Docenten und der ehemaligen Hörer der Lehranstalt, in: Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judenthums (Hg.), Rückblick (1872–1897), 30–38, hier: 33f. 236 O. Verf., Verzeichnis der Druckwerke des Herrn Dr. Martin Schreiner, undatiert [wahrsch. 1905 von dem/für den Nachlassverwalter zusammengestellt], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. 347 L, ohne File-Nummer, 1 Heft, Nr. 387.

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sicht muss Schreiner neben Cohen als Kellermanns wichtigster Lehrer angesehen werden, über den Malwin Warschauer schrieb: Hatte sein Vorgänger, der Greis David Cassel, um Bibelprobleme und Bibelkritik einen ängstlichen, großen Bogen gemacht, so war er [Schreiner ; T.L.] ein geradezu fanatischer Anhänger der modernen Bibelkritik. Auch sonst überall, in Philosophie und Pädagogik besonders, war er zu Hause. Er stieß die Tore der Lehranstalt weit auf, ließ frischen Wind der Wissenschaft hereinwehen, brachte die jüdische Theologie in fruchtbare Verbindung mit den Wissenschaften draußen. […] Jedenfalls war er ein ständiger Anreger, um so mehr, als er auf persönlichen Kontakt mit seinen Schülern bedacht war und sich dabei ungezwungen und herzlich aufschloß. […] Er war ein eingefleischter Junggeselle, trug einen mächtigen Schlapphut und großen Bart, rauchte wie ein Schlot, sprach ständig von arabischen Autoren, wie Ibn Asabi, Ibn Khaldun usw., und war ein strenger, gefürchteter Examinator.“237

Durch die Bibelexegese, die Studien zu anderen Religionen und seine auf die Propheten und ethische Fragen konzentrierte jüdische Religionsphilosophie, hatte er entscheidenden Einfluss auf das Denken Kellermanns. Dies belegen nicht nur dessen Aufsätze „Bibel und Wissenschaft“238 und „Paulinismus und Judentum“239 sowie die Kritischen Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Christentums240, sondern auch die späteren, sich zwischen den Disziplinen der Religionsphilosophie, Theologie und vergleichenden Religionswissenschaft bewegenden, Schriften und Vorträge. Zudem waren beide Mitglieder des „Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur“, wo sie auch diverse Vorträge hielten: Im Wintersemester 1898/99 sprach Kellermann über „Der Begriff der Entwickelung in der Geschichte und insbesondere seine Anwendung auf die Geschichte des Judentums“, während sein Lehrer über „Das Verhältnis des Judentums zu den anderen Weltreligionen“ und „Die religiösen Ideen des Judentums“ referierte.241 Schreiner veröffentlichte 1902 das Buch Die jüngsten Urteile über das Judentum, in dem er sich mit dem Judentum in der Religionswissenschaft und mit zeitgenössischen antisemitischen Vorwürfen auseinandersetzte. Im Juni des Jahres 237 Warschauer, Im jüdischen Leben, 88. 238 Kellermann, Benzion, Bibel und Wissenschaft, in: AZJ Nr. 49 vom 9. 12. 1898, 583–586. 239 Kellermann hielt 1902 den Vortrag „Der Apostel Paulus“, der 1903 gedruckt wurde. Vgl. dazu BLWJ 20 (1902), 9. Kellermann, Benzion, Paulinismus und Judentum. Nach einem in der Montagsvorlesung vom 24. Februar 1902 gehaltenen Vortrag, in: AZJ Nr. 24 vom 12. 6. 1903, 283–285 u. Nr. 25 vom 19. 6. 1903, 296–299. Zu dem Vortrag und Kellermanns Auseinandersetzung mit dem Christentum vgl. Kap. II.2. 240 Kellermann, Benzion, Kritische Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Christentums, Berlin 1906. Vgl. dazu Kap. II.2. 241 In Cohen, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, 35f wird Schreiner als „Ehrenmitglied“ und Kellermann als „Alter Herr“ geführt. Die Vortragstitel finden sich ebd., 27.

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besprach Kellermann unter dem Titel „Die jüngste apologetische Litteratur“ dieses und andere das Judentum verteidigende Schriften auch im „Wissenschaftlichen Verein jüdischer Schulmänner zu Berlin“.242 Im Dezember 1898 publizierte Kellermann in der, innerhalb der deutschjüdischen Presselandschaft „herausragende[n]“243 Allgemeinen Zeitung des Judentums den erwähnten Aufsatz „Bibel und Wissenschaft“ und konnte sich deshalb einer an den politischen und theologischen Debatten der Zeit interessierten Leserschaft innerhalb des deutschen Judentums sicher sein.244 Darin richtete er sich direkt gegen Benno Jacob, einen der bedeutendsten jüdischen Exegeten245 des 20. Jahrhunderts, der zwei Monate zuvor ebenda eine spezifisch jüdische Bibelwissenschaft gefordert hatte.246 Jacob zählte selbst zum progressiven Judentum, aber er lehnte im Gegensatz zu anderen Reformorientierten bezüglich der Bibel die kritiklose und oft dankbare Übernahme der alttestamentlichen Forschungsergebnisse in der Wissenschaft des Judentums ab. So äußerte etwa 1913 Hermann Cohen mit Blick 242 Schreiner, Martin, Die jüngsten Urteile über das Judentum. Kritisch untersucht, Berlin 1902. – Zu dem Vortrag Kellermanns: o. Verf., Festschrift der Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin, 24. 243 Nagel, Michael, Art. Allgemeine Zeitung des Judentums, in: EJGK 1 (2011), 39–42, hier : 39. Die von Ludwig Philippson begründete und sich für die uneingeschränkte Emanzipation der Juden einsetzende AZJ erschien zwischen 1837 und 1922. Zu der Zeit von „Bibel und Wissenschaft“ betrug die Auflage ca. 3000 Stück (1899). 244 Die Seitenzahlen der Zitate aus Kellermann, Bibel und Wissenschaft werden im Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. 245 Generell zur jüdischen Bibelwissenschaft um 1900: Bechtold, Hans J., Die jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995; Liss, Hanna, „Das Erbe ihrer Väter“: Die deutsch-jüdische Bibelwissenschaft im 19. und 20. Jh. und der Streit um die Hebräische Bibel, in: Krochmalnik, Daniel/Schultz, Magdalena (Hg.), 9DK@; 59ü 8B. Wie gut ist unser Anteil (Gedenkschrift für Yehuda T. Radday), SHJS, Bd. 6, Heidelberg 2004, 21–36. 246 Jacob, Benno, Unsere Bibel in Wissenschaft und Unterricht. Vortrag, gehalten in der wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin, in: AZJ Nr. 43 vom 28. 10. 1898, 511–513, Nr. 44 vom 4. 11. 1898, 525f u. Nr. 45 vom 11. 11. 1898, 534–536. Das Referat hielt er am 22. 10. 1898 unter dem Titel „Die Bibel in Wissenschaft und Schule“ (o. Verf., Festschrift der Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin, 17 u. 27). – Der aus dem schlesischen Frankenstein stammende Jacob studierte am Breslauer Rabbinerseminar und an der dortigen Universität, an der er 1899 promoviert wurde. Seit 1891 arbeitete er als Rabbiner in Göttingen, von 1906 bis 1929 in Dortmund. Zehn Jahre später floh der Gelehrte von Hamburg nach London, wo er 1945 verstarb. Zur Biografie: Jacob, Walter, Benno Jacob. Kämpfer und Gelehrter, Berlin 2011; ders./Jürgensen, Almuth (Hg.), Die Exegese hat das erste Wort. Beiträge zu Leben und Werk Benno Jacobs, Stuttgart 2002 sowie die versch. Aufsätze unter dem Titel „Jüdische Bibelauslegung: Benno Jacob – der Mensch und sein Werk“ in: Trumah 13 (2003), 1–153. – Kurz erwähnt wird der Disput mit Kellermann bei Wiese, Christian, ,Das beste Gegengift gegen den Judenhaß?‘ Wissenschaft des Judentums, protestantische Bibelkritik und Antisemitismus vor der Shoah, in: Schäfer, Peter/ Wandrey, Irina (Hg.), Reuchlin und seine Erben. Forscher, Denker, Ideologen und Spinner, Pforzheimer Reuchlin-Schriften, Bd. 11, Ostfildern 2005, 251–284, hier: 262.

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auf seinen früheren Kollegen an der Marburger Universität Graf Baudissin, es sei „Pflicht der Pietät, der wissenschaftlichen protestantischen Theologie dafür Dank zu sagen, daß sie aus ihrer Religiosität heraus gutzmachen bestrebt ist, was leider der protestantische Staat und die protestantische Gesellschaft Übles an uns verüben.“247 Jacob hätte so etwas nicht gesagt, da für ihn die protestantische Bibelwissenschaft trotz anders lautender Bekenntnisse dogmatisch und ideologisch voreingenommen war. Zwar habe „[l]ängst […] eine historische Betrachtungsweise die Unmöglichkeit dargethan, Christus im Alten Testament zu finden“, aber dennoch „würde man sich täuschen, wenn man damit die christlichdogmatische Auffassung des Alten Testaments für beseitigt hielte. Was durch eine historisch-kritische Beweisführung hinausgeworfen ist, wird durch Umdeutung freundlich wieder hereingebeten, der Geist muß beleben, was der Buchstabe getödtet hat“.248 Aufgrund der notwendigen Ablehnung der christlichen Auffassung, im Alten Testament sei das Neue Testament vorbereitet und deshalb sei das Christentum die „rechtmäßige Erbin der alttestamentlichen Religion“, müsse die Wissenschaft des Judentums eine eigene „jüdische Bibelwissenschaft“249 entwickeln, ein Prozess, an dem Jacob durch viele Werke selbst beteiligt war.250 Diese „jüdische Bibelwissenschaft“, und hier zeigt sich, dass Jacob keineswegs orthodox argumentierte, solle Impulse der christlichen Bibelwissenschaft aufnehmen, denn die hebräische Grammatik oder die Geografie Palästinas etwa könne nicht „jüdisch“ erforscht werden. Zudem verweist er auf die Schwierigkeiten des Textes, der wie jedes andere überlieferte Dokument auch „Fehler“ habe, die thematisiert und wissenschaftlich aufgeklärt werden müssten.251 Er zeigt sich hier noch nicht überzeugt von den in der christlichen Bibelwissenschaft entwickelten Thesen, Mose habe nicht die Tora und David nicht alle Psalmen verfasst. Aber wenn dies zweifelsfrei belegt werden würde, so „sei es d’rum“. Wichtiger sei, dass die Erforschung der Hebräischen Bibel in jüdischer Perspektive nicht vergesse, dass dieses Buch auch ein Schatz jüdischen Lebens sei, der nicht nur wissenschaftlich analysiert werden dürfe, sondern auch erfahren und für die Seele fruchtbar gemacht werden müsse. Die „jüdische Bibelwissenschaft“ solle nicht nur Literatur- oder Volksgeschichte sein, „sondern Theologie, Kunde des

247 248 249 250

Cohen, Zwei Rektoratsreden, 404. Jacob, Unsere Bibel, 511f. Folgendes Zitat: ebd., 512. Ebd., 511 (Hrvh. im Orig.). Zum Hauptwerk Jacobs zählen: Der Pentateuch. Exegetisch-kritische Forschungen. Mit Figuren und zwei Tafeln, Leipzig 1905; Quellenscheidung und Exegese im Pentateuch, Leipzig 1916; Das erste Buch der Tora: Genesis, übers. u. erkl. v. Benno Jacob, Berlin 1934. 251 Jacob, Unsere Bibel, 513. Folgendes Zitat: ebd.

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Göttlichen, wie es in der Bibel zu Worte kommt“252. Aufgrund ihrer Relevanz im jüdischen Leben und Denken, müsse der Bibelkunde wieder eine zentrale Rolle im Religionsunterricht und der Wissenschaft zukommen: „Unsere Bibel muß wieder unsere Bibel werden in Wissenschaft und Unterricht.“ Kellermann reagierte scharf auf die Thesen Jacobs und wandte sich dezidiert gegen eine „jüdische Bibelwissenschaft“: „Wir kennen keine christliche und keine jüdische Bibelforschung, sondern eine rein wissenschaftlich objektive, und es ist Jeder willkommen, der an diesem Geschäft theilnehmen will, sei es Jude oder Christ.“ (583) Der Einfluss Schreiners an dieser Stelle ist unübersehbar, der fern von subjektiven Bestrebungen bezüglich der Geschichte und Religion des Judentums ebenfalls „eine objective Erkenntniss seiner Vergangenheit zu erlangen“ wünschte.253 Zu dieser Vergangenheit gehörten selbstverständlich auch die Bücher der Hebräischen Bibel, die mit den modernsten wissenschaftlichen Methoden untersucht werden müssten. Eine pietätvolle Lesart sei Kellermann zufolge unwissenschaftlich, denn es gehe in der Exegese nicht um Erbauung, sondern allein um Erkenntnisfortschritt. Entgegen der These Jacobs, dass „nur der Jude“ den Tanach verstehen könne, da nur er „Geist von ihrem Geist“ sei,254 betont Kellermann die Möglichkeit der Teilhabe aller wissenschaftlich Gebildeten an der Bibelauslegung. Dem jungen Lehrer erscheint die Sorge Jacobs, die protestantische Bibelwissenschaft und ihre Aufnahme durch jüdische Forscher würde die Bibel als Glaubensdokument des Judentums zerstören, unberechtigt: „Die Grundlagen unseres Glaubens und der eines jeden wissenschaftlich denkenden Menschen liegen zu allererst in der Wahrheit der religiösen Ideen selbst und nicht in den Dokumenten, die nur die Gefäße dieser Ideen sind“ (583). Hier ist erneut Schreiner zu vernehmen, der den Wert religiöser Ideen ebenfalls nicht an religiöse Dokumente binden wollte: Die Gewähr für den religiösen Werth von Ideen und Institutionen liegt in erster Reihe nicht in ihrem Vorkommen in einer unserer religiösen Urkunden, auch nicht in der Persönlichkeit, von der sie geschaffen worden sind, sondern in der Wirkung, die sie auf das religiöse Gemüth ausüben, in der Bedeutung, die sie für dasselbe besitzen. Sie sind uns wohl historisch vermittelt, aber ihre Bedeutung erlangen sie erst durch die von ihnen bewirkte religiöse Erhebung. Wer also Vertrauen auf die Kraft der religiösen Ideen und Einrichtungen des Judenthums besitzt, der wird nicht ausschliesslich in einer bestimmten Auffassung derselben die Gewähr für ihre Fortdauer erblicken.255

252 253 254 255

Ebd., 525 (Hrvh. im Orig.). Folgendes Zitat: ebd., 536. Schreiner, Zur inneren Geschichte der Lehranstalt, 7. Jacob, Unsere Bibel, 513. Schreiner, Zur inneren Geschichte der Lehranstalt, 4.

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Neben der Hervorhebung der individuellen Lesart der religiösen Texte durch den einzelnen Menschen und der subjektiven Wirkung auf das „religiöse Gemüt“, liegt hier ein klares Bekenntnis Schreiners zur Historizität der jüdischen religiösen Schriften vor, die wissenschaftlich erforscht und in ihren geschichtlichen Kontext eingeordnet werden müssten. Zudem seien auch die aus den religiösen Texten entsprungenen Ideen und Institutionen der jüdischen Religion historisch gewachsen und demnach wandelbar. Schreiner wandte sich hier gegen konservative und orthodoxe jüdische Kreise, die jegliche Bestrebungen des liberalen Judentums mit Verweis auf die rabbinische Tradition ablehnten. Für Kellermann ist die historisch-philologische Methode, die „durch die geschichtlichen Thatsachen bestätigt wurde und schon längst ihre psychologische und erkenntnißtheoretische Rechtfertigung erfahren hat“ (583), keine Gefahr, sondern vielmehr ein Gewinn für das Judentum. Denn während die Juden in der Geschichte, beispielsweise in der Erzählung vom Erhalt der Gebote am Sinai, im Sinne der Inspirationslehre „nur der empfangende Theil sind, so wird aus dieser historischen Auffassung klar erwiesen, wie das Judenthum durch eigene Arbeit sich seine Ideale selbst erstritten und erkämpft hat.“ (583) Kellermann wendet sich damit von einer gottgelenkten Geschichte ab und einer Auffassung zu, nach der die Juden ihre Geschicke selbst bestimmten und ihre ethischen und theologischen Lehren in einem dynamischen Prozess entwickelt haben. Dadurch könnten Zeiten, die in der protestantischen Exegese als „Stadium des Rückgangs“ bezeichnet wurden – er richtet sich hier trotz allgemeiner Sympathien und weitgehender Übernahme der Wellhausenschen Verfallsgeschichte von den hebräischen ,Heroen‘ zum ,Gesetzesjudentum‘ in seiner eigenen Religionsphilosophie der folgenden Jahre selbstbewusst gegen ihre pauschale und undifferenzierte Anwendung auf alle Bereiche der jüdischen Historie –,256 in ihrer Bedeutung aufgewertet werden: So seien in der Periode des Zweiten Tempels (587 v. d.Z.–70 n.d.Z.) „die wichtigsten Institutionen geschaffen worden, und wichtige Theile der Bibel entstanden.“ (583) Die historisch-kritische Methode sei zwar noch nicht perfekt, sondern müsse weiter verfeinert werden, so „daß ihre Resultate immer mehr dem wissenschaftlichen Ideal entsprechen.“ (583) „Wissenschaftlich läßt sich [jedoch] die moderne Bibelforschung im Prinzip nicht widerlegen“ (586) und deshalb wehrt sich Kellermann gegen die Unterstellung Jacobs, jene sei reine Tendenzforschung und habe nur das Ziel, das Christentum als wahre Nachfolgerin des Judentums darzustellen. Kellermann in seinem durch Cohen geprägten Idealismus vertraut dagegen auf den Drang des Wahrheitsstrebens, der die Forscher die Entstehungsgeschichte der Bibel rekonstruieren lasse. Die einzelnen objektiven Ergebnisse der Forschung könnten

256 Vgl. dazu ausführlich Kap. II.2.

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dann zwar nach „dem Geschmack des Forschers“ beurteilt werden, dies sei aber ein Prozess der Beurteilung im zweiten Schritt (584). Kellermann sieht „die Objektivität der [christlichen] Bibelforschung bereits so weit gediehen, daß viele auf dogmatischen Voraussetzungen beruhende Urtheile aufgegeben werden. Es wird heute von jedem besonnenen Bibelforscher rückhaltlos anerkannt, daß der Universalismus der Propheten außer allem Zweifel steht, und daß schon in einzelnen Lehren der Propheten und Psalmen das ganze ,Evangelium‘ enthalten sei. Ich verweise nur auf Wellhausen, Kuenen, Cornill, Smend u. A.“ (584) Die jüdischen Forscher könnten nun zu dieser einsetzenden Würdigung des Judentums beitragen, jedoch „nur auf dem Boden gemeinsamer historisch-kritischer Forschung: nicht durch eine eigensinnige prinzipielle Ablehnung der allgemein anerkannten Methode.“ (584) Nur mit ihr ließen sich die Widersprüche und Wiederholungen im biblischen Text aufklären, die Jacob als angebliche bezeichnet hatte. Kellermann kritisiert diese Auffassung, denn die „Widersprüche und Wiederholungen sind nicht angeblich, sondern wirklich“ (584) und durch die verschiedenen Verfasser der einzelnen biblischen Bücher bedingt. Während es Jacob „am Ende gleichgiltig ist, ob die Einheit erst in dem maßgebenden Sammler und bestimmungsgemäßen Publikum oder schon in dem einen Erzähler liegt“257, können Kellermann zufolge die Widersprüche nur ausgeglichen werden, wenn verschiedene Autoren und Redaktionsstufen angenommen werden. Der Rabbinatskandidat ging konform mit den christlichen Bibelwissenschaftlern seiner Zeit, die mehrheitlich die Entstehung des Deuteronomiums um 621 v. d.Z. angesetzt, den Priesterkodex im Exil verortet und den ganze[n] Pentateuch als solche[n] als das Resultat prophetischer Entwickelung angesehen [haben]. Für den historisch geschulten Menschen ist dies die herrlichste Anschauung vom Ursprunge unserer Thora, welche für alle Zeiten das Fundament und die Quelle unseres religiösen Denkens und Lebens bleiben wird, da in ihr alle Wahrheiten zusammengefaßt sind, die im Zeitalter des Prophetismus dem Volke Israel-Juda offenbart wurden. (584f)

Hier zeigt sich, dass Kellermann, der sich 1898 in einem Abnabelungsprozess von der überlieferten jüdischen Erziehung und Ausbildung befand, die nichtprophetischen Teile sowie das nachbiblische jüdische Schrifttum keineswegs gering schätzte, sondern wie Jacob als einen Schatz jüdischen Lebens begriff. Er gesteht hier und in den Schriften der folgenden Jahrzehnte den „großen Gesetzeslehrer[n]“, etwa Hillel oder Akiba, aufgrund ihrer Weisheit Bedeutung für die Geschichte des Judentums zu (583). Trotz der Hinwendung zum Reformjudentum und der damit einhergehenden Ablehnung der meisten Ritual- und 257 Jacob, Unsere Bibel, 512.

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Speisegesetze für sich selbst, wertet Kellermann die jahrtausendealte jüdische Tradition nicht ab, die aus dem Prophetismus als der entscheidenden Periode jüdischer Geschichte entsprungen sei und den „ethischen Monotheismus“, wenn zum Teil auch verschüttet, in sich bewahrt habe. Am Entwicklungsgedanken schieden sich die Geister. Während Jacob mit seiner Negation einer Entwicklung des Geistes einer „dogmatischen Pseudowissenschaft“ das Wort reden würde, ist Kellermann vom Historismus in den Natur- und Geisteswissenschaften geprägt: „Oder ist das vielleicht keine Entwickelung des religiösen Bewußtseins, wenn wir das ius talionis, den Opferund Wunderglauben für die Religion des Judenthums als entbehrlich ansehen, ist die Unsterblichkeitslehre der jüdischen Religionsphilosophen, die Ausgestaltung der halachischen Grundsätze nicht abhängig von der Entwickelung?“ (585) In der Auseinandersetzung zwischen Kellermann und Jacob wird sichtbar, wie vielfältig und heterogen das progressive Judentum um 1900 war. Beide sehen sich in der Tradition von Vertretern der Wissenschaft des Judentums wie Zunz und Geiger, repräsentieren aber in ihrer Stellung zur Tora die zwei entgegengesetzten Enden des liberalen Judentums. Zudem vertreten sie eine unvereinbare Auffassung von Wissenschaft. Kellermann pocht auf die radikale Historisierung im Anschluss an Ranke, mit dem Ziel „der Befriedigung der Wißbegierde“ und „dem ,Begreifen der Natur‘ aus ihren letzten Gründen“ (585). Wissenschaft sei die Arbeit am Sachlichen und habe nichts mit der von Jacob geforderten Pietät der Bibel gegenüber zu tun. Sein Wissenschaftsverständnis wird mit derselben Schärfe einige Jahre später in den Auseinandersetzungen mit Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch hervortreten, in denen er einen ,reinen Objektivismus‘ gegen die Methode des ,Nachfühlens‘ in Stellung bringt. Die Tora und die jüdische Religion seien in diesem Sinn, wie jedes andere historische Phänomen auch, stets in einem Entwicklungsprozess begriffen. Für Jacob hingegen solle die Bibelwissenschaft nicht nur im Sezieren der biblischen Texte bestehen, sondern von pietätvoller Anteilnahme des jüdischen Forschers geprägt sein, der die Lektüre auch als Bereicherung des eigenen Lebens empfindet. Ihm sind die Datierungen biblischer Schriften und die verschiedenen Verfasser eher unwichtig, da er eine kanonische Lektüre vertritt, die den insgesamt vorliegenden Text betrachtet und auslegt. Auch in folgenden Schriften wird er für die literarische Einheit des Pentateuchs argumentieren, die die Quellen- und Literarkritik destruiert hatte. Obwohl es eine später zu datierende Priesterschrift gebe und er später im Gegensatz zu dem Aufsatz von 1898 die These der Autorschaft Moses und der Verbalinspiration ablehnt, wird Jacob stets daran festhalten, dass eine „unity of the Torah as a creation written by one editor, probably early in the monarchic period“ existiere, und dass die Tora trotz früherer Traditionen, auf denen sie aufbaue,

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„the stamp of one spirit – the spirit of Moses“ trage.258 Aufgrund des Inhalts, nicht des Autors war sie ihm heilig. In Kellermanns Antwort auf Jacob zeigt sich der Einfluss Martin Schreiners. Aber nicht nur durch die bibelwissenschaftlichen Vorlesungen, sondern auch durch die dauerhafte Auseinandersetzung mit den philosophischen Strömungen der Gegenwart, wirkte er auf den Rabbinatskandidaten. Denn Schreiner „suchte ihren Ausgleich mit dem Judentum in seinen Arbeiten zur systematischen Religionsphilosophie, in denen er die uralten Gedanken als lebendig und wirkungsvoll erwies“259 und gestand den Propheten dabei eine entscheidende Rolle zu. Eben dies wird auch Kellermann später tun, wenn er immer wieder auf die Aktualität der Propheten aufgrund ihrer inhaltlichen Übereinstimmung mit der Kantischen und neukantianischen Philosophie hinweist und damit das liberale Judentum als nächste praktische Verwirklichung des idealen „ethischen Monotheismus“ darstellt. Nachdem Schreiner 1902 krankheitsbedingt aus dem Lehrbetrieb der HWJ ausgeschieden war, ersetzte ihn der am Breslauer Seminar ausgebildete Ismar Elbogen (1874–1943) im Wintersemester 1902/03 und bekleidete den „Lehrauftrag für ,Geschichte und Literatur der Juden und des Judentums‘“.260 Ob Kellermann eine der neun261 Veranstaltungen Elbogens hörte, ist nicht belegt, jedoch lernte er ihn hier kennen und wird auch in den nächsten Jahren immer wieder mit ihm zu tun haben. Denn der Spezialist für die Entwicklungen des jüdischen Gottesdienstes prägte in den vier Jahrzehnten von der Jahrhundertwende bis zur erzwungenen Schließung das Gesicht der Hochschule, der Kellermann auch nach seinem Ausscheiden finanziell als beitragendes Mitglied262 und ideell, beispielsweise als Redner bei den „Montagsvorlesungen“, verbunden blieb. Kellermann lernte hier Kommilitonen kennen, mit denen er über das Studium hinaus enge Freundschaften oder berufliche Beziehungen pflegte. So studierten zwischen 1897 und 1902 an der HWJ auch Leo Baeck263 und Malwin Warschauer264, die beide als Rabbiner und Religionslehrer der jüdischen Gemeinde Berlins wirken werden. Baeck dozierte von 1912 bis 1942 selbst an der HWJ265, ebenso Warschauer zwischen 1910 und 1912266. Letzterer beobachtete in den nächsten Jahren genau die religiöse und philosophische Entwicklung des 258 259 260 261 262 263 264

Shavit/Eran, The Hebrew Bible Reborn, 131. Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 84. Ebd., 87. Vgl. BLWJ 21 (1903), 8. Vgl. BLWJ 24 (1906), 49. Baeck legte das Examen am Ende des WS 1897/98 ab. Vgl. BLWJ 16 (1898), 34. Warschauer bestand die Prüfungen wie Kellermann am Ende des WS 1902/03. Vgl. BLWJ 21 (1903), 4. 265 Vgl. Simon, Akiba E./Amir, Yehoyada, Art. Baeck, Leo, in: EJ 3 (2007), 50–52, hier : 51. 266 Vgl. Kaufmann, Hochschule, 21.

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„trefflichen so früh verewigten Adepten Hermann Cohens“ und hatte eine hohe Meinung von „unserem unvergeßlichen Benzion Kellermann“.267 Auch Baeck war dem Philosophen bis zu dessen Tod verbunden, hielt eine warme Rede auf den Verstorbenen, verfasste mehrere Nachrufe und Kondolenzbriefe an die Witwe und erinnerte sich bei einer Begegnung mit Ernst Kellermann nach dem Zweiten Weltkrieg in London herzlich an dessen Vater.268 Weiterhin lernte Kellermann den aus dem ostpreußischen Zinten stammenden Julius Galliner (1872–1949) kennen, der als Religionslehrer ebenfalls einige Jahre an der Knabenschule tätig war.269 Seit 1897 studierte er an der HWJ, wo er 1903 sein Diplom erhielt, wurde 1900 in Heidelberg promoviert und amtierte seitdem als Rabbiner der „Jüdischen Religionsgemeinde Charlottenburg e. V.“ 1917 wurde er wie Kellermann als Jugendrabbiner der Berliner Einheitsgemeinde angestellt und predigte zumeist in der Synagoge Fasanenstraße.270 Sie traten Ende der 1890er Jahre gemeinsam in den „Akademischen Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ ein, in dem sie über Jahre hinweg diverse Vorträge hielten.271 Nach Kellermanns Tod 1923 wird der ebenfalls liberal gesinnte Galliner in der Synagoge Lützowstraße die Trauerrede auf den Freund halten und an dessen Einsatz für ein fortschrittliches Judentum, das angemessene Antworten auf die jeweils aktuellen Fragen der Zeit geben müsse, erinnern. Mit Kellermann, Galliner, Lehmann und Sachs hatten sich „vier Freunde“ gefunden, die eine enge Gemeinschaft bildeten und versuchten, das Judentum mit den modernen Herausforderungen in Einklang zu bringen und aufgeklärte deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens zu sein: Gleicher Kampf, gleiche Sorge, gleiches Streben haben uns verbunden Jahrzehnte hindurch. Wir kamen ja alle vier aus einem Haus, in dem ,Roach daas…‘, der ,Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht‘ in seltener Harmonie verknüpft gewesen [waren]. Wir kamen ja alle vier aus einem Haus, in dem die Ueberlieferung und starke Gläu267 Malwin Warschauer an Julius Galliner, 25. 1. 1942, LBI New York, AR 3070, Box 1, Series 2, Folder 8, 1 Bl. 268 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London: „I met Leo Baeck after the war, he came to London, and, at the Liberal Synagogue, and I told him I was Benzion Kellermanns son. He said ,oh yah‘, he died far too young and he was gone to write a great book“. Baeck bezog sich hier auf den zweiten Teil der Ethik Spinozas, den Kellermann nicht mehr vollenden konnte. 269 Vgl. Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 112. 270 Vgl. zur Biografie Galliners BHRabb II/1, 211f. Zum Rabbinerdiplom an der HWJ: BLWJ 22 (1904), 8; zur Anstellung in der Berliner Gemeinde: GJB 7/5 (1917), 54f; zum Rabbinat in Charlottenburg: Sinasohn, Max M., Die Berliner Privatsynagogen und ihre Rabbiner 1671–1971. Zur Erinnerung an das 300jährige Bestehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jerusalem 1971, 78. 271 Galliner, Julius, [Ts] Akademischer Verein für jüdische Geschichte und Literatur (A.J.G.V.). Zu seinem fünfzigjährigen Jubiläum, 1933, LBI New York, AR 3070, Box 1, Series 4, Folder 13, 2.

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bigkeit uns als teuerstes Gut übergeben wurde. Und wir alle mussten kämpfen, um den Zusammenhang zu finden mit dem Leben und mit dem, was uns wissenschaftliche Erkenntnis gelehrt.“272

Weil Kellermann kein Judentum vertreten konnte, das nicht auf wissenschaftlich sicherem Fundament stand, studierte er seit Jahren an verschiedenen jüdischen und nichtjüdischen Bildungseinrichtungen und strebte das Examen an der HWJ an. Zuvor aber pausierte er vom Frühjahr 1900 an sein Studium, da er praktische Erfahrungen sammeln wollte und in der westpreußischen Stadt Konitz als Lehrer und Vorbeter angestellt wurde.273 Nach seiner Rückkehr 1901 setzte er seine Ausbildung an der HWJ fort, um das Rabbinerzeugnis zu erwerben. Seine Abschlussprüfungen zwischen Ende 1902 und Anfang 1903 teilten sich in einen mündlichen und einen schriftlichen Teil.274 Im letzteren musste Kellermann zwei Arbeiten anfertigen, wobei für eine ein Thema aus der talmudischen Wissenschaft vorgegeben und diese von Baneth bewertet wurde. In der zweiten konnte er sich mit einem frei gewählten Gegenstand aus den drei anderen Bereichen auseinandersetzen. Kellermann schrieb eine Arbeit, die „dem religionsphilosophischen Gebiete entnommen[…]“ war und von seinem ehemaligen Dozenten Hermann Cohen von Marburg aus „geprüft und beurtheilt“ wurde.275 Das am 24. Januar 1903 abgelegte mündliche Examen umfasste alle vier an der HWJ vertretenen Gebiete.276 Während Elbogen Kellermann wahrscheinlich in der biblischen Wissenschaft, jüdischen Geschichte und Literatur prüfte und Baneth ihn in der talmudischen Wissenschaft examinierte, war das Gebiet der Religionsphilosophie seit dem Tod Steinthals vakant. Deshalb kam Cohen für die mündliche Prüfung seines Schülers sogar nach Berlin.277 Kellermann bestand alle Prüfungen und erhielt die hebräische Lehrbefugnis (Hatarat Hora’ah), die Ordination zum ordentlichen Rabbiner (Smicha) und ein deutsches, vom Vorsitzenden des Lehrerkollegiums unterzeichnetes Diplom. Damit hatte er sich die Qualifikation erworben, als Gemeinderabbiner zu amtieren. Aufgrund der vielen Verpflichtungen als Lehrer und Schulleiter, des von ihm bevorzugten wissenschaftlichen Arbeitens und interner Diskussionen in 272 Galliner, Julius, [Ts] Grabrede für Hans Sachs am 29. 10. 1934, Version 2, LBI New York, AR 3070, Box 1, Series 4, Folder 20, 1f. 273 Diese zwei Jahre in Konitz werden im folgenden Kapitel I.3 ausführlich dargestellt. 274 Vgl. dazu Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 49f u. 91. 275 BLWJ 21 (1903), 5. Da neben den Jahresberichten keinerlei Dokumente über Kellermanns Aufenthalt an der HWJ vorliegen, können über Inhalt, Form und Benotung der Arbeit keine Aussagen gemacht werden. 276 Vgl. dazu Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 50 u. 91. – Zum Datum der Rabbinatsprüfung: o. Verf. [möglicherw. Ismar Elbogen], Liste aller Hörer an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, undatiert, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3 Bl., hier: Bl. 2. 277 Vgl. BLWJ 21 (1903), 5. Folgendes: ebd., 4.

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der Gemeindeleitung um seine als zu radikal wahrgenommene liberale Gesinnung, wird er jedoch erst ab 1917 die Position eines Rabbiners in der Berliner Gemeinde bekleiden.

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3. „Der Fall Konitz“: Ein Ritualmordvorwurf und seine Folgen Von 1900 bis 1901 unterbrach Kellermann seine Ausbildung an der HWJ und wurde ohne offizielles Diplom als Rabbiner der westpreußischen jüdischen Gemeinde von Konitz berufen.1 Dazu befähigten ihn die 1888 abgeschlossene Ausbildung an der ILBA in Würzburg, die mittlerweile über zehnjährige Erfahrung als Lehrer an jüdischen Schulen und die bisherigen Studien in Marburg und Berlin. Während seines Aufenthaltes wurde die Stadt von einem grausamen Ritualmordvorwurf gegen die jüdische Bevölkerung erschüttert, der gewalttätige Unruhen nach sich zog, von denen auch Kellermann direkt betroffen war. 2002 erschienen gleich drei unabhängig voneinander entstandene Studien zum „Fall Konitz“, die verschiedene Schwerpunkte in der Darstellung der Ereignisse setzen und diese jeweils einer eigenen Deutung unterziehen. Johannes T. Groß verfasste die Überblicksstudie Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871–1914), die sich stärker als die anderen Publikationen mit den politischen und juristischen Konsequenzen der Vorwürfe befasst. Groß gibt zwar viele Informationen zu den Vorfällen in Konitz, Skurcz und Xanten, aber nur sehr wenige zu den Kellermann belastenden Anschuldigungen.2 Gleiches gilt für die beiden mikrohistorischen Einzelstudien von Helmut W. Smith und Christoph Nonn. Smith untersucht in Die Geschichte des Schlachters anhand zeitgenössischer Zeitungsartikel, Monografien und Prozessakten detailliert die Entstehung und die Folgen des Konitzer Ritualmordvorwurfs bis zu seiner späteren Ausschlachtung durch die Nationalsozialisten. Dabei ist die „Konitzer Affäre“ für den stark mit kulturanthropologischen Theorien arbeitenden Autor ein Meilenstein auf dem Weg nach Auschwitz und beschreibt an einem konkreten Fall den Ausbruch des latenten Antisemitismus einer kleinstädtischen christlichen Bevölkerung. Im Zusammenhang damit geht er auch an einigen Stellen auf Kellermann als Rabbiner der jüdischen Gemeinde ein, jedoch ohne eine detailliertere Beschreibung seines dortigen Wirkens zu geben.3 1 Nach dem Ersten Weltkrieg und seit 1945 gehört die Stadt zu Polen und heißt Chojnice. 2 Gross, Johannes T., Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871–1914), Dokumente – Texte – Materialien. Veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 47, Berlin 2002. – Neiss, Marion, Art. Ritualmordvorwurf in Konitz, in: HDA 4 (2011), 343–347 kennt die Standardwerke von Smith und Nonn nicht und zitiert als Quelle lediglich Groß. Somit finden sich keine Informationen über Kellermann als Rabbiner der dortigen jüdischen Gemeinde. 3 Smith, Helmut W., Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Frankfurt a. M. 2002. Eine Zusammenfassung bietet der ebenfalls 2002 publizierte Aufsatz, der jedoch an keiner Stelle auf Kellermann als Rabbiner der Gemeinde eingeht: ders., Konitz, 1900: Ritual Murder and Antisemitic Violence, in: Hoffmann, Christhard/Bergmann, Werner/Smith, Helmut W. (Hg.), Exclusionary Violence. Antisemitic

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Von Gerolzhofen nach Konitz

Christoph Nonn fokussiert in Eine Stadt sucht einen Mörder hauptsächlich auf die Kraft der Gerüchte, um den „Fall Konitz“ zu sezieren. Weil er Gerücht, Geltungsbedürfnis und Gewalt als anthropologische Konstanten sieht, erscheint ihm die Judenfeindschaft vor allem in Form von Geschäfts- und Gelegenheitsantisemitismus, mit dem sich Geld oder Anerkennung verdienen ließ. Die Studie, die die Vorfälle in Konitz deshalb eben nicht als Meilenstein auf dem Weg in die nationalsozialistischen Vernichtungslager begreift, erwähnt Kellermann ebenfalls an einigen wenigen Stellen, ohne jedoch genauer auf ihn und seine Tätigkeiten einzugehen.4 Das vorliegende Kapitel stützt sich bezüglich der Rekonstruktion der Unruhen vorwiegend auf Nonn und Smith, für die juristischen Konsequenzen der Vorfälle auf die Arbeit von Groß. Darüber hinaus wird hier mit Hilfe bislang nicht rezipierter jüdischer Zeitschriften, Sekundärliteratur und Archivalien noch stärker, als in den erwähnten Studien geschehen, auf das Verhalten Kellermanns und anderer Juden der Stadt fokussiert. Nur so kann ermessen werden, was der anderthalbjährige Aufenthalt in Konitz zur Zeit der schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen im Deutschen Kaiserreich für Kellermanns weiteres Leben und Denken bedeutete.

3.1 Kellermann als Rabbiner und Lehrer der jüdischen Gemeinde in Konitz Im Januar 1900 zog Kellermann von Berlin nach Westpreußen und wurde am 2. Februar durch den Konitzer Synagogenvorstand „in feierlicher Weise“ in das Amt des Rabbiners eingeführt.5 In der zwischen Berlin und Königsberg und südwestlich von Danzig gelegenen Kleinstadt lebten zu jener Zeit etwa 10 000 Personen, die eine höchst heterogene Sozialstruktur aufzuweisen hatten. Die Mehrheit wurde von den deutschsprachigen Protestanten, zumeist Handwerker und Beamte, und den polnischen Katholiken, vornehmlich Bauern, Gesellen und Arbeiter, gestellt. Als Minderheiten lebten neben deutschsprachigen Katholiken und Kaschuben auch 480 Juden in der Stadt.6 Die Konitzer Juden, deren erste Ansiedlung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts belegt ist, arbeiteten vorwiegend als Kaufleute in der TextilRiots in Modern German History, Social History, Popular Culture, and Politics in Germany, Ann Arbor, Michigan 2002, 93–122. 4 Nonn, Christoph, Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, Göttingen 2002. 5 Vgl. GBAZJ Nr. 7 vom 16. 2. 1900, 2. Bestätigt wird seine Anstellung zu Beginn des Jahres auch durch: BLWJ 18 (1900), 5; Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 113; GJB 13/5–7 (1923), 31. 6 Vgl. zur Sozialstruktur Nonn, Mörder, 9f. Zur Anzahl der Juden vgl. ebd., 7.

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und Nahrungsmittelindustrie sowie als Vieh- und Kleinhändler.7 Sie fühlten sich dem Kaiserreich mehr verbunden und hatten deshalb zu den deutschen Protestanten ein relativ gutes Verhältnis, während dasjenige zu den polnischen Katholiken eher angespannt war.8 Kellermann war als Rabbiner beim Gottesdienst anwesend, führte Beerdigungen durch, begleitete die jüdischen Gemeindemitglieder seelsorgerisch und war Ansprechpartner in religiösen Fragen. Ferner hatte er religionsgesetzliche Entscheidungen zu fällen, etwa in Bezug auf Ehefragen, und als Lehrer die Kinder in der jüdischen Religion zu unterweisen. Eine eigene jüdische Volksschule gab es in Konitz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,9 zur Zeit Kellermanns fehlte jedoch solch eine Bildungseinrichtung.10 Um der am 15. Mai 1824 durch die preußische Regierung gesetzlich eingeführten Schulpflicht für jüdische Kinder ab fünf Jahren zu genügen,11 besuchten die Jungen und Mädchen zusammen mit den nichtjüdischen Kindern die nach Geschlecht getrennten staatlich-christlichen Elementarschulen, die Jungen bei der nötigen Eignung im Anschluss das katholische Gymnasium in Konitz.12 An den christlichen Schulen wurde jedoch kein jüdischer Religionsunterricht angeboten, weshalb die relativ wohlhabende jüdische Gemeinde eine eigene Religionsschule unterhielt. Während es in kleineren Gemeinden üblich war, den Kantor oder nur in jüdischen Disziplinen bewanderte polnische Lehrer (melammdim) mit dem Unterricht zu betrauen, investierte sie höhere finanzielle Mittel und stellte den seminaristisch ausgebildeten Kellermann als Lehrer ein, der die Kinder in den Grundlagen der jüdischen Religion und Geschichte unterweisen und sie auf die Bar Mitzwa vorbereiten sollte.13 Damit entsprach sie im

7 Vgl. zur Ansiedlung: Alicke, Klaus-Dieter, Art. Konitz, in: LJGDS 2 (2008), 2307f. 8 Zu den Berufen der Juden vgl. ebd., 2307; Nonn, Mörder, 98; Smith, Schlachter, 41 u. 61. Zum Verhältnis der Juden zu den dortigen Protestanten und Katholiken vgl. Nonn, Mörder, 110; Smith, Schlachter, 61; Stoewer, R., Zur Geschichte der Juden in Westpreußen, in: AZJ Nr. 20 vom 20. 5. 1898, 235–237, hier: 237. 9 Vgl. Fehrs, Jörg H., „…, daß sie sich mit Stolz Juden nennen“. Die Erziehung jüdischer Kinder in Ost- und Westpreußen im 19. Jahrhundert, in: Brocke/Heitmann/Lordick (Hg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, 239–280, hier : 263; Alicke, Konitz, 2307. 10 Vgl. Cohn, Max, Konfessionell-jüdische Volksschulen, in: AZJ Nr. 43 vom 23. 10. 1896, 508f, hier : 509. 11 Vgl. Brämer, Der preußische Staat und das jüdische Elementarschulwesen in der Emanzipationszeit, 786. 12 Für das Schuljahr 1856/57 ist die Zahl von 32 jüdischen Schülern am katholischen Gymnasium in Konitz überliefert, die einen Anteil von 6,4 % aller Schüler stellten. Vgl. Aschkewitz, Max, Zur Geschichte der Juden in Westpreußen, Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas, Marburg 1967, 127. 13 Vgl. zum jüdischen Schulwesen in Konitz Letkemann, Peter, Zur Geschichte der Juden in Konitz im 19. Jahrhundert, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 9 (1985), 99–116, hier :

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Gegensatz zu vielen kleineren und armen Gemeinden dem oben erwähnten Gesetz von 1824, dem zufolge die anzustellenden Pädagogen staatlich geprüft sein mussten. Kellermann, der in Denken und Alltagspraxis die Orthodoxie verlassen und sich in Berlin die Inhalte des liberalen Judentums zu Eigen gemacht hatte, traf in der Kleinstadt Konitz auf eine noch stark traditionell lebende jüdische Gemeinschaft, in der nicht nur der Schabbat streng geachtet wurde.14 Um die koschere Ernährung zu gewährleisten, wurde sogar ein eigener jüdischer Fleischer und ein Schächter beschäftigt, was in den ständig unter Geldproblemen leidenden kleinen bis mittelgroßen Gemeinden zu dieser Zeit keineswegs die Regel war. Zudem konnte Kellermann während seiner Amtszeit noch keine Mädchen auf die Bat Mitzwa vorbereiten, eine wesentliche Neuerung in den liberalen jüdischen Gemeinden. Die ersten vier Mädchen wurden erst dreizehn Jahre nach seinem Aufenthalt, am 8. März 1914 von Rabbiner Dr. Tirschtigel in der Konitzer Synagoge eingesegnet.15 „Die jüdische Gemeinde in Konitz, eingezwängt zwischen Reformbastionen in Pommern und Bollwerken der Orthodoxie in Posen“,16 suchte einen mittleren Weg zwischen diesen beiden jüdischen Lebensweisen und konnte so die Spaltung und Bildung von Austrittsgemeinden verhindern, wie es 1841 in Straßburg und 1845 in Graudenz geschehen war.17 Dennoch wird Kellermann versucht haben, einen religiös progressiven Geist in die westpreußische Kreisstadt zu bringen und den Menschen die jüdische Religion im Sinne Abraham Geigers und damit in einer Konzentrierung auf die ethischen Inhalte auszulegen. Wie die Gemeindemitglieder auf das Wirken ihres neuen Lehrers und Rabbiners reagierten, ist jedoch nicht überliefert. Er war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet und lebte allein in der Stadt, wobei ihm der Haushalt von einer christlichen Magd geführt wurde.18 Kellermann gehörte als Rabbiner und Lehrer, wie die Familien Soldin und Tuchler, „Stadtrat Fabian oder auch Gustav Caspari, der wohlhabende Kauf-

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111–113. Generell zu den jüdischen Volks- und Religionsschulen Ost- und Westpreußens: Fehrs, Die Erziehung jüdischer Kinder in Ost- und Westpreußen. Vgl. Nonn, Mörder, 119; Smith, Schlachter, 40. – Überblickend, aber dennoch differenziert zu den Veränderungen religiösen jüdischen Lebens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Land und in der Stadt: Kaplan, Marion, Konsolidierung eines bürgerlichen Lebens im kaiserlichen Deutschland 1871–1918. Abschnitt 5: Religiöse Bräuche, Mentalitäten und Gemeinde, in: dies. (Hg.), Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003, 301–321. Zu den spezifisch ländlichen Formen jüdischen Lebens: Richarz/Rürup (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Vgl. GBAZJ Nr. 12 vom 20. 3. 1914, 3. Smith, Schlachter, 28. Vgl. Fehrs, Die Erziehung jüdischer Kinder in Ost- und Westpreußen im 19. Jahrhundert, 248. Vgl. o. Verf., Der Mord in Konitz, in: MVAA Nr. 18 vom 2. 5. 1900, 137–140, hier : 137.

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mann“, zu den „Notablen der jüdischen Gemeinde in Konitz“.19 Zudem war er während seines Aufenthaltes Ausschussmitglied im „Verband der Westpreußischen Synagogengemeinden“, der 1897 auf Initiative des „Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes“ gegründet wurde und seinen Verwaltungssitz in Danzig hatte.20 Die Hauptaufgaben des bis 1902 von Gustav Davidsohn geführten Verbandes waren die Förderung des Religionsschulwesens, die gegenseitige finanzielle und administrative Unterstützung, die Behebung der Wanderbettelei und die Einrichtung von Fürsorgeanstalten in den kleineren und größeren Städten Westpreußens. Die westpreußische Provinz bestand aus 53 Gemeinden, von denen sich schon im ersten Jahr des Bestehens vierzig dem Verband angeschlossen hatten. Unter diesen befand sich auch die jüdische Gemeinde von Konitz, die vor Kellermanns Ankunft von dem Rabbiner Dr. Grabowitz geführt wurde.21 Als der Berliner Lehrer im Februar 1900 sein Amt antrat, gehörten dem Verband 41 Gemeinden mit 2024 schulpflichtigen jüdischen Kindern in diversen Rabbinatsdistrikten sowie 220 persönliche Mitglieder an. In der Stadt Konitz, die auch Verwaltungssitz des gleichnamigen Rabbinatsdistrikts mit zwölf Gemeinden, acht Schulen und 936 schulpflichtigen Kindern war, mussten 67 Kinder von Kellermann mit dem jüdischen Religionsunterricht versorgt werden.22 Ziel des Verbandes war es aber, eine Infrastruktur bereitzustellen, die es allen jüdischen Kindern in Westpreußen ermöglichen würde, Religionsunterricht zu erhalten. Dafür wurde für die kleinen und finanzschwachen Gemeinden teilweise auf Wanderlehrer zurückgegriffen, die mehrere Familien gemeinsam ,mieteten‘ und die in einem wöchentlichen Rhythmus mehrere Orte bereisten.23 Kellermann, der in seiner Marburger Zeit selbst als Wanderlehrer tätig war 19 Smith, Schlachter, 178. 20 Bericht über die Thätigkeit des Ausschusses des Verbandes der Westpreussischen Synagogengemeinden im dritten Verbandsjahre 1899–1900, CJA, 1, 75 B Da 1, Nr. 1, # 9373, Bl. 21. Vgl. zur Geschichte des Verbandes Heitmann, Der Verband der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden 1897–1922. Bereits seit 1880 gab es den von dem Königsberger Rabbiner Bamberger gegründeten „Verband der Synagogen-Gemeinden Ostpreußens“ (Vgl. Fehrs, Die Erziehung jüdischer Kinder in Ost- und Westpreußen im 19. Jahrhundert, 273). 21 Vgl. Heitmann, Der Verband der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden 1897–1922, 218, Anm. 2. Bei Fehrs, Die Erziehung jüdischer Kinder in Ost- und Westpreußen im 19. Jahrhundert, 276, Anm. 145 und GBAZJ Nr. 47 vom 20. 11. 1896, 2 wird er Grabowski geschrieben. 22 Vgl. zu den Zahlen: Bericht über die Thätigkeit des Ausschusses des Verbandes der Westpreussischen Synagogengemeinden im dritten Verbandsjahre 1899–1900, CJA, 1, 75 B Da 1, Nr. 1, # 9373, Bl. 17. Die acht Schulen befanden sich in Reetz, Tuchel, Tütz, Landeck, Zippnow, Schlochau, Hammerstein und Konitz (Bericht über die Thätigkeit des Verbandes der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden im fünften Verbandsjahre 1901–1902, Danzig 1902, CJA, 1,75 B Da 1 Nr. 1 [9737], Bl. 24–31, hier : Bl. 26). 23 Vgl. Fehrs, Die Erziehung jüdischer Kinder in Ost- und Westpreußen im 19. Jahrhundert, 240.

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und seit über zehn Jahren die prekären Verhältnisse von jüdischen Religionslehrern aus eigener Erfahrung kannte, hatte als Religionslehrer einer westpreußischen Kleinstadt nicht nur ein allgemeines, sondern auch ein persönliches Interesse an der Verbesserung der pädagogischen Infrastruktur sowie der Zustände der Lehrer und Kultusbeamten und engagierte sich deshalb in der Vereinigung.

3.2 Das „Ritualmordmärchen“ und Kellermanns Verhalten Eine andere Beschuldigung, die ihnen schon in früherer Zeit, das ganze Mittelalter hindurch bis Anfang des vorigen Jahrhunderts, viel Blut und Angst kostete, das war das läppische, in Chroniken und Legenden bis zum Ekel oft wiederholte Märchen: daß die Juden geweihte Hostien stählen, die sie mit Messern durchstächen bis das Blut herausfließe, und daß sie an ihrem Paschafeste Christenkinder schlachteten, um das Blut derselben bei ihrem nächtlichen Gottesdienste zu gebrauchen. Heinrich Heine, Der Rabbi von Bacherach24

Benzion Kellermann war einen Monat in Konitz, als am Sonntag, den 11. März 1900 der achtzehnjährige Ernst Winter verschwand. Eigentlich aus dem nahe gelegenen Prechlau stammend, besuchte Winter hier das Gymnasium und wohnte bei einem Bäckermeister am Marktplatz. Nach zwei Tagen wurde am Ufer des zur Stadt gehörenden Mönchsees der säuberlich abgetrennte und in Packpapier eingewickelte Torso Winters gefunden, weitere Körperteile in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten entdeckt. Innerhalb weniger Minuten verbreitete sich die Nachricht in der ganzen Stadt und führte zu den wildesten Gerüchten über die Identität des Mörders, wobei als hartnäckigste Spekulation die These eines Ritualmordes aufgestellt wurde.25 Dieser zufolge hätten die Juden der Stadt Winter ermordet, um dessen Blut für rituelle Zwecke angesichts des Mitte April bevorstehenden Pessachfestes zu verwenden. Das Gerücht wurde nicht nur von einer Person in die Welt gebracht und dann von den anderen Konitzern aufgenommen, sondern entstand zur gleichen Zeit in verschiedenen Köpfen, was die Verbreitung der Beschuldigung nur noch beschleunigte. Nonn zufolge stammte die, aus den Quellen rekon-

24 Heine, Heinrich, Der Rabbi von Bacherach. Ein Fragment. Mit Illustrationen von Max Liebermann und einem Nachwort von Joseph A. Kruse, Frankfurt a. M. 1985, 11f. – Das Zitat „Ritualmordmärchen“ in der Kapitelüberschrift stammt aus: Baeck, [Nachruf] Rabbiner Dr. Kellermann, 31. 25 Vgl. zu den ersten Tagen seit dem Verschwinden Winters Nonn, Mörder, 14–20; Smith, Schlachter, 17–23.

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struierte, früheste Ritualmordbeschuldigung jedoch nicht von einem Einwohner christlicher Herkunft, sondern von dem Juden Alexander Prinz.26 Der dreiundzwanzigjährige Prinz, der, obwohl dies nicht belegt ist, in der Stadt als schwachsinnig galt, versuchte mit dem Handel von Lumpen und Knochen notdürftig sich selbst und seine Mutter zu versorgen, die ihn oft schlug. Er erzählte am Morgen des 13. März, also noch vor dem Leichenfund, einer Frau, für die er Wasser holte, eine wirre Geschichte über den vermissten Winter. Zunächst unterstellte er den drei Kantoren aus den nahe gelegenen Gemeinden Tuchel, Schlochau und Elbing, dass sie dem Jungen den Hals abgeschnitten hätten. Auf Nachfrage identifizierte er dann den jüdischen Fleischer Adolf Lewy aus Konitz als Mörder, der im Keller seines Hauses Winter ermordet haben sollte, da mit dem Blut viel Geld zu verdienen gewesen sei. Obwohl die Geschichte völlig abstrus war, entfaltete sie in den nächsten Wochen unter der christlichen Bevölkerung eine starke Wirkung, da zum einen das Haus der Familie Lewy nur einige Meter vom Mönchsee entfernt lag und zum anderen Prinz als Mitglied der jüdischen Gemeinde von Konitz tiefere Einblicke in ihre ,Machenschaften‘ haben müsse. Weshalb er sich die mit bekannten Stereotypen arbeitende Geschichte von der rituellen Ermordung Winters durch jüdische Kantoren bzw. den Fleischer ausdachte, kann nicht beantwortet werden. Möglicherweise wollte er sich, wie Nonn vermutet, dafür rächen, dass er in der jüdischen Gemeinde des Ortes nicht so geschätzt wurde, wie er es für sich erhoffte. Denn während er dem früheren Rabbiner in der Synagoge hin und wieder helfen durfte, wurde ihm das von Kellermann untersagt.27 Durch das Fabulieren von einem aus rituellen Gründen begangenen Mord, der die Fantasie der Leute begierig anheizte und eine außergewöhnliche Spannung in die Provinz trug, bekam Prinz die erhoffte Aufmerksamkeit. Während ihn seine Mutter und der Synagogendiener aufgrund der Gefahr, die er für die fast 500 Juden der Stadt heraufbeschwor „grün und blau prügelten“,28 bekam er von Seiten der christlichen Zuhörer, der Staatsanwaltschaft und der antisemitischen Presse, die seine divergierenden Aussagen zu einem von Juden verübten Ritualmord leidenschaftlich ausweidete, die erhoffte Anerkennung. Der antijüdische Vorwurf des zu religiösen Zwecken verübten Mordes war kein Phänomen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern begleitete die Geschichte der Juden seit vielen Jahrhunderten.29 Die „erste literarische Fixie26 Vgl. Nonn, Mörder, 21. Zum Folgenden vgl. ebd., 21f. 27 Vgl. ebd., 22. – In seinem Aufsatz von 1998 ging Nonn dagegen davon aus, dass Prinz von drei Kaufleuten betrunken gemacht und ihm die Geschichte eingeredet wurde: ders., Zwischenfall in Konitz. Antisemitismus und Nationalismus im preußischen Osten um 1900, in: HZ 266/1 (1998), 387–418, hier: 391. 28 Vgl. Nonn, Mörder, 22. 29 Einen guten Überblick geben die Sammelbände von Erb, Rainer (Hg.), Die Legende vom

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rung“30 des Ritualmord-Mythos mit einigen der später so wirkungsvoll werdenden Versatzstücke stammte von dem englischen Benediktinermönch Thomas von Monmouth, der zwischen 1150 und 1173 das Werk De vita et passione Sancti Willelmi martyris Norwicensis verfasste.31 In der siebenbändigen Hagiografie des 1144 unter bis heute ungeklärten Umständen gestorbenen William, bezichtigt Thomas die Juden Norwichs, den Jungen gefoltert und getötet zu haben, um den Heiland und den christlichen Glauben zu verhöhnen. Diese Geschichte war die „Basiserzählung“ für alle folgenden Ritualmordlügen, etwa 1168 in Gloucester, 1235 in Fulda oder 1475 in Trient, wobei es weder diese Ritualmorde noch je einen anderen gab: „Ritualmordprozesse sind Strafprozesse ohne Straftat“.32 Die Beschuldigungen sind „Gedankenarbeit am Unwirklichen“, reine Fiktionen und Legenden, die von Christen konstruiert und weitertradiert wurden.33 Die Blutbeschuldigung bestand aus drei Phänomenen, die getrennt oder zusammen auftreten konnten. Zum einen wurde der Vorwurf erhoben, Juden und andere Häretiker würden die für die Feier des christlichen Abendmahles geweihten Hostien durchstechen, bis das Blut Christi aus ihnen herausfließe. Diese Beschuldigung ist nur im theologisch-philosophischen Zusammenhang der sich im Verlauf des 12. Jahrhunderts herausbildenden und auf dem Vierten Laterankonzil 1215 päpstlich endgültig durchgesetzten Transsubstantiationslehre zu verstehen. Sie behauptet unter Verwendung aristotelischer Gedanken zu Akzidenz und Substanz, dass während der Eucharistie durch die Konsekration der Wein in seiner Substanz realiter zum Blut des Heilands und die Hostie tatsächlich zum Leib Christi wird.34 Indem also Juden die Hostien durchstechen

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Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden, Berlin 1993 und Buttaroni, Susanna/Musial, Stanislaw (Hg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien u. a. 2003, sowie Smith, Schlachter, 100–154. Limor, Ora, Das verworfene Volk, in: Lange, Nicholas de (Hg.), Illustrierte Geschichte des Judentums, Frankfurt a. M. 2000, 105–159, hier : 139. Monmouth, Thomas of, The Life and Miracles of St. William of Norwich (De vita et passione Sancti Willelmi martyris Norwicensis), hg. v. Jessopp, Augustus/James, Montague R., Cambridge 1896. Es gab zwar schon in der antiken Welt die Vorstellung eines von Juden begangenen Ritualmordes zu kannibalischen Zwecken, etwa bei Posidonius (2./1. Jh. v. d.Z.) und Apion (1. Jh. n.d.Z.), aber ohne die zentralen christlichen Versatzstücke, die sich erstmals bei Thomas finden. Vgl. dazu Smith, Schlachter, 264, Anm. 7. Vgl. generell zum Norwicher Ritualmordvorwurf und zu Thomas von Monmouths Werk: ebd., 100f; Eder, Manfred, Art. Wilhelm von Norwich, in: BBKL 13 (1998), 1255–1259; Ben-Sasson, Haim Hillel/Slutsky, Yehuda/Porat, Dina, Art. Blood Libel, in: 2EJ 3 (2007), 774–780, hier : 775. Erb, Rainer, Zur Erforschung der europäischen Ritualmordbeschuldigungen, in: ders. (Hg.), Die Legende vom Ritualmord, 9–16, hier: 9. Ders., Die Ritualmordlegende: Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, in: Buttaroni/ Musial (Hg.), Ritualmord, 11–20, hier : 15. Vgl. dazu Smith, Schlachter, 105f; Jorissen, Hans, Art. Transsubstantiation, in: LThKS 10 (2009), 177–182.

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würden, wiederholten sie die Kreuzigung Christi, quälten Gottes Sohn auf Erden noch im Nachhinein und verhöhnten den christlichen Glauben. Zweitens wurde den Juden vorgeworfen, christliche Kinder zu foltern und damit ebenfalls die Kreuzigung des Messias zu inszenieren und sich in einer perversen Art und Weise über das Christentum lustig zu machen. Der dritte Vorwurf, der zusammen mit den anderen auftreten konnte, war die Beschuldigung, Juden würden kurz vor Pessach Christenkinder schlachten, um deren Blut in geheimnisvollen Zeremonien für medizinische Zwecke zu gebrauchen35 oder in die für die Festtage benötigten Mazzot36 einzubacken. Obwohl mit den von Papst Innozenz IV. 1247 erlassenen Bullen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts „eine lange Tradition der Verurteilung der Ritualmordbeschuldigungen durch die Kirche“ einsetzte,37 konnte diese Legende nicht ausgerottet werden, sondern wurde von Mönchen, Kreuzrittern, Stadträten, Feudalherren und der einfachen christlichen Bevölkerung weitertradiert und führte häufig zu Pogromen an jüdischen Gemeinden auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches. In den Augen der Christen hätten die Juden zum einen schon mit dem „Blutruf“ in Matthäus 27,25 ihre ganze Scham- und Charakterlosigkeit offenbart,38 zum anderen würden sie glauben, durch das menschliche Blut „entsühnt zu werden, wie einst nach dem Gesetz des Moses durch das Blut des Opferstiers“, was seit Mitte des 13. Jh. mit verschiedenen Stellen aus dem Buch Leviticus theologisch zu beweisen versucht wurde.39 Die Täter hätten bei ihren Verbrechen kein Unrechtsbewusstsein, da sie nach talmudischen Geboten handelten, die Nichtjuden mit Tieren auf eine Stufe stellen und somit den Mord an ihnen erlauben würden. Hier wurde die seit dem Hochmittelalter breit vorhandene christliche Talmudpolemik rezipiert, um darzustellen, „daß, wer Irriges glaubt, auch pervers leben müsse, krank an Leib und Seele sei“.40 Da die wenigsten Christen ausreichend über die jüdische Religion informiert waren, erschien sie 35 So würden Juden Christenblut benötigen, um die Hörner zu beseitigen, mit denen jüdische Kinder zur Welt kämen, um den „Judengestank“ zu lindern oder um komplizierte Geburten zu erleichtern. Vgl. dazu Erb, Ritualmordlegende, 15; Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 11f. 36 Mazzot (Pl.) bezeichnen die ungesäuerten Brote, die zu Pessach gegessen werden. 37 Smith, Schlachter, 104. 38 Vgl. Mentgen, Gerd, Art. Ritualmord. II. Kirchengeschichtlich, in: LThKS 8 (2009), 1209f, hier : 1210. Mt 27,25: „Und das ganze Volk antwortete [Pilatus] und sprach: Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ – Auch die aus dem Zusammenhang gerissene Stelle Num 23,24 wurde für den Erweis angeblichen jüdischen Blutdurstes bemüht: „Siehe, ein Volk: wie eine Löwin steht es auf, und wie ein Löwe erhebt es sich. Es legt sich nicht nieder, bis es die Beute verzehrt und das Blut der Erschlagenen getrunken hat!“ 39 Lotter, Friedrich, Innocens virgo et martyr. Thomas von Monmouth und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter, in: Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord, 25–72, hier : 59. 40 Erb, Erforschung der europäischen Ritualmordbeschuldigungen, 14.

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ihnen als etwas Geheimnisvolles und Mysteriöses, das Anlass zu Verschwörungstheorien geben konnte. In moderner Zeit wurden Juden besonders häufig im zaristischen Russland und in Gebieten der Habsburger-Monarchie, das heißt vor allem in Ost- und Südosteuropa, mit der Blutbeschuldigung konfrontiert und brutalen Pogromen ausgesetzt. Die zwei bekanntesten Fälle aus der k.u.k. Monarchie im 19. Jahrhundert sind wohl die Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im ungarischen Tisza-Eslar 1882 und im heute tschechischen Poln‚ 1899, die von der antisemitischen Presse leidenschaftlich ausgeweidet und angeheizt wurden.41 In der zeitgenössischen deutsch-jüdischen Presse wurde über die Vorwürfe, Ermittlungen, Gerichtsprozesse und Schuldurteile genau Bericht geführt und die jüdischen Wohlfahrtsvereine kümmerten sich um die häufig nach Berlin geflüchteten Juden aus dem Osten. Neben der jüdischen und liberalen Presse, die die Blutbeschuldigung als antisemitisches Konstrukt entlarvte, erhoben auch Christen in höheren Positionen immer wieder Einspruch und verteidigten das Judentum gegen die ungerechtfertigten Unterstellungen, wie die umfangreiche Publikation Dokumente zur Aufklärung und die Äußerungen verschiedener Hallenser Theologen und Orientalisten belegen.42 Auch der führende christliche Gelehrte im Bereich der rabbinisch-talmudischen Studien Hermann Leberecht Strack (1848–1922) verfasste 1891 mit Der Blutaberglaube bei Christen und Juden eine Schrift gegen die ungerechtfertigten antisemitischen Blutbeschuldigungen, die in den nächsten Jahren viele Auflagen erreichte.43 Alle diese Anstrengungen konnten nicht verhindern, dass auch auf dem Territorium des Deutschen Kaiserreichs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wieder verstärkt Blutbeschuldigungen gegen Juden erhoben wurden und es in deren Folge teilweise zu Ausschreitungen kam. Sechzehn Jahre vor Konitz gab es

41 Vgl. zu Tisza-Eslar Nathan, Paul, Der Prozess von Tisza-Eszl‚r. Ein antisemitisches Culturbild, Berlin 1892. Zu Poln‚ vgl. Schroubek, Georg R., Der „Ritualmord“ von Poln‚. Traditioneller und moderner Aberglaube, in: Erb, Rainer/Schmidt, Michael (Hg.), Antisemitismus und jüdische Geschichte, Berlin 1987, 149–171. 42 O. Hg., Dokumente zur Aufklärung. I: Die Blutbeschuldigung gegen die Juden. Stimmen christlicher Theologen, Orientalisten und Historiker. Die Bullen der Päpste. Simon von Trient, Wien 1899. Zu den Hallenser Theologen und den Orientalisten vgl. AZJ Nr. 25 vom 22. 6. 1900, 290. 43 Die Schrift erschien als Band 14 der Schriften des Institutum Judaicum und wurde von Strack immer wieder neu bearbeitet und mit veränderten Titeln versehen. Als Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der „Volksmedizin“ und des „jüdischen Blutritus“ erschien sie 1900 in 5. Aufl. Neben Strack intervenierte auch der berühmte Orientalist Friedrich Delitzsch (1813–1890), etwa nach den Ritualmordvorwürfen von Tisza-Eslar : Delitzsch, Franz, Schachmatt den Blutlügnern Rohling und Justus entboten von Franz Delitzsch, zweiter, rev. Abdruck, Erlangen 1883.

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einen ganz ähnlich gelagerten Vorfall im 80 Kilometer entfernten Skurcz,44 und auch im niederrheinischen Xanten wurde die jüdische Gemeinde zwischen 1891 und 1892 des rituellen Mordes bezichtigt.45 Die dort erhobenen Verleumdungen der jeweiligen jüdischen Gemeinschaft prägten häufig nachweislich auch die Spekulationen über den oder die Täter innerhalb der Konitzer Bevölkerung.46 Die Ermittlungen in Konitz leitete zunächst Bürgermeister Deditius, der von Hause aus Verwaltungsjurist und erst seit einem Jahr im Amt war, zusammen mit dem ersten Staatsanwalt Settegast. Sie konnten mit Hilfe ihrer Kollegen keine überzeugenden Ergebnisse liefern, da die ersten Untersuchungen unprofessionell ausgeführt wurden. So gingen bei den ersten Ermittlungen, die sich auf die Fleischer des Ortes und danach auf ein angebliches Prostitutionsmilieu konzentrierten, Beweisstücke verloren, wurden Vernehmungen nicht protokolliert und der gefundene Torso nicht sofort gerichtsmedizinisch untersucht. Als die Leichenteile dann etliche Tage später endlich begutachtet wurden, diagnostizierten die gerichtsmedizinischen Laien „Blutleere“ und gaben der Behauptung des Ritualmordes damit eine pseudowissenschaftliche Legitimation. Obwohl sie keine Antisemiten waren und den Ritualmordvorwurf nicht teilten, verhärtete sich unter der Bevölkerung aufgrund ihres Gutachtens der Verdacht, dass die Konitzer Juden Winter rituell geschlachtet hätten, da beim Schächten von Tieren diese auch komplett ausbluten. Wegen diesen Ermittlungsfehlern konnten die Gerüchte weiter Fuß fassen und es überhaupt erst zu einer „Konitzer Affäre“ kommen.47 Die gegen die Juden gerichteten Unterstellungen in der Bevölkerung wurden noch durch den Umstand genährt, dass die Synagoge und der zugehörige Keller in den ersten Wochen gleich zweimal im Hinblick auf eventuelle Geheimgänge und Gruften untersucht wurden.48 Obwohl der Bürgermeister das mit der unprofessionellen ersten Untersuchung begründete, trug dies zur Verfestigung des Verdachtes unter den Konitzern bei. Angesichts des vorherrschenden Dilettantismus vor Ort, wurde in Abstimmung zwischen dem Berliner Polizeipräsidium und dem preußischen Innenminister am 23. März der Kriminalkommissar Arthur Wehn aus der Hauptstadt nach Konitz geschickt, um die Ermittlungen zu übernehmen und auf eine professionellere Ebene zu heben.49 Doch auch er trat zunächst auf der Stelle und konnte die Untersuchungen nicht entscheidend voranbringen. Mit der Ermordung Winters hatten sich die Zustände in der Stadt grundlegend verändert. Innerhalb kürzester Zeit war eine von Gerüchten und Dro44 45 46 47 48 49

Vgl. dazu Smith, Schlachter, 138–140; Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 33–50. Vgl. dazu Smith, Schlachter, 146–152; Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 51–88. Vgl. Nonn, Mörder, 19. So die überzeugende These von Nonn, ebd., 25. Vgl. ebd., 29; Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 92. Vgl. Nonn, Mörder, 169.

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hungen gegen die jüdische Bevölkerung gezeichnete Atmosphäre entstanden: „Mitglieder der hiesigen jüdischen Gemeinde, die früher gesellschaftlich in den verschiedensten christlichen Kreisen verkehrten, werden wie die Pest gemieden. Im Wirtshause spricht Niemand mit ihnen, ihr Gruß wird nicht erwidert und auf der Straße sind sie steten Insulten ausgesetzt.“50 Bereits in den ersten Wochen nach dem Fund der Leiche kam es zu Ausschreitungen, die „wiederholt einen gefährlichen Charakter an[nahmen]“ und „nur mit Mühe von Seiten der Polizei und der Gendarmerie unterdrückt werden [konnten]“. Das größte Gewaltpotential ging dabei von den Schülern der Fortbildungsschule aus, die abends die Straßen der Stadt unsicher machten. „Sie rüttelten an den Türen jüdischer Häuser wie Geschäfte und grölten dazu ,Hepp-Hepp‘, den traditionellen Hetzruf gegen die Juden. Gelegentlich warfen sie auch schon Fensterscheiben ein.“51 Wie auch in anderen Fällen von Blutbeschuldigungen, blieben diese nicht auf den jeweiligen Ort begrenzt, sondern die Gerüchte verbreiten sich in der Region wie ein Lauffeuer und führten unter anderem in Stegers, Baldenburg und Prechlau zu Übergriffen auf Synagogen, jüdische Personen und ihr Eigentum.52 Auch in Samotschin bei Bromberg, das in der Provinz Posen lag, wurde die Konitzer Ritualmordlüge verbreitet. Ernst Toller (1893–1939), der spätere Politiker in der Münchener Räterepublik, Pazifist und expressionistische Dichter, berichtete in seinen Jugenderinnerungen von den Gerüchten, die er dort im Alter von sieben Jahren vernahm. Der Junge hörte die christlichen Kinder der Stadt dem jüdischen Lehrer „,Jude, hep, hep‘“ und „,Konitz, hep, hep! Konitz, hep, hep‘“ hinterherrufen, woraufhin er von dem Vorwurf erfuhr, dass „die Juden in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben“.53 Die katholische Zentrums- und Polenpartei unterstützte in ihren Zeitschriften, auf ihren Versammlungen und in ihren Lehrlings- und Arbeitervereinen die Behauptung vom jüdischen Ritualmord und gab den Krawallen damit immer neuerlichen Auftrieb. Grund hierfür waren die im April anstehenden Landtagsersatzwahlen in den Kreisen Konitz, Schlochau und Tuchel, in denen die Juden erwartungsgemäß für den deutschen, protestantischen Kandidaten stimmen würden. Sie sollten soweit eingeschüchtert werden, dass sie auf die Wahl verzichten und somit einen Sieg der katholischen Partei ermöglichen würden. Als Anfang April der erste Wahlgang stattfand, konnten die Konitzer Juden nur „unter massivem Polizeischutz“ die Wahllokale besuchen.54 Die polnisch-katholischen jungen Männer, die die Hauptträger der frühen 50 51 52 53

IDR 6/4 (1900), 215. Folgende zwei Zitate: ebd., 216. Nonn, Mörder, 31. Vgl. auch Smith, Schlachter, 23f. Vgl. IDR 6/4 (1900), 216; AZJ Nr. 17 vom 27. 4. 1900, 194. Alle Zitate: Toller, Ernst, Eine Jugend in Deutschland (1933), Reinbek bei Hamburg 192006, 17. 54 Nonn, Mörder, 32.

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Krawalle waren, führten mit der Gewalt gegen die Juden stellvertretend auch den jahrzehntelangen Kampf im deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikt weiter.55 Denn die von deutschen Sicherheitskräften bewachten Juden in Konitz und Umgebung, die sich traditionell Deutschland zugehörig fühlten, repräsentierten für viele Polen den preußischen, protestantischen Obrigkeitsstatt, der mit einer brutalen „Germanisierungspolitik“ in den Ostgebieten auftrat und 1901 den katholischen Religionsunterricht in polnischer Sprache verbieten sollte.56 Somit entlud sich an den Juden auch der aufgestaute Hass auf die Ostpolitik des Deutschen Kaiserreichs und führte in Konitz zu nie dagewesenen Ausschreitungen. Neben den von der Zentrums- und Polenpartei und ihren Institutionen aufgehetzten Schülern und Lehrlingen hatte sich schon im April unter Führung der beiden Lehrer am Konitzer Gymnasium Albert Hofrichter und Johann Thiel sowie des Zahntechnikers Max Meibauer ein Zusammenschluss von Antisemiten des Ortes gebildet, die den Ermittlern unterstellten, den Juden gegenüber zu Unrecht positiv eingestellt zu sein. Um einen jüdischen Ritualmord nachzuweisen, stellte das „Überwachungskomitee“ eigene Nachforschungen an, vernahm Zeugen und sammelte alle gegen Juden gerichteten Aussagen aus der Bevölkerung. Die in Denkschriften zusammengestellten Ergebnisse übergab das Komitee dann an die Behörden und die Presse.57 Die angereisten Vertreter antisemitischer Parteien und Zeitungen profitierten so in weiten Strecken von dieser Gruppe und setzten sich vehement für die Verbreitung der Ritualmordlüge ein, um daraus politisches und finanzielles Kapital zu schlagen. Besonders agil war die in Berlin erscheinende StaatsbürgerZeitung, die durch zwei Korrespondenten und später durch den Verleger Wilhelm Bruhn selbst in Konitz vertreten war,58 und jede Chance nutzte, die Juden der Stadt kollektiv verantwortlich zu machen: „Es giebt nur ein Ziel: Die Juden in Konitz werden keine freundschaftlichen Beziehungen mehr zu Christen unterhalten können.“59 Die antisemitische Presse, neben der Staatsbürger-Zeitung etwa auch durch das Konitzer Tageblatt und die Germania repräsentiert, trug zum einen zur regionalen und überregionalen Verbreitung der Beschuldigungen bei und ist 55 Vgl. zum Nationalitätenkonflikt Molik, Witold, Die preußische Polenpolitik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Überlegungen zu Forschungsstand und -perspektiven, in: Hahn, Hans H./Kunze, Peter (Hg.), Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, 29–39. 56 Vgl. Nonn, Mörder, 110–117 u. 196f. 57 Vgl. zur Arbeit des „Überwachungskomitees“ ebd., 38 u. 76–80. 58 Vgl. ebd., 42f. 59 [„Von einem Juristen“], Die Lehren des Prozesses gegen Maßloff und Genossen, in: AZJ Nr. 46 vom 16. 11. 1900, 541–543, hier : 541.

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deshalb direkt mitverantwortlich für die sich im Anschluss an die Vorwürfe ereignenden Ausschreitungen, in denen jüdisches Eigentum angegriffen und Juden bedroht wurden. Zum anderen behinderten die Journalisten genauso wie das „Überwachungskomitee“ vehement die polizeilichen Untersuchungen vor Ort und versuchten, die Ermittlungen immer wieder in Richtung eines ,jüdischen Verbrechens‘ zu drängen.60 Besonders der mit der Situation überforderte Staatsanwalt Settegast ging ohne genauere Prüfung jeder Spur nach, was angesichts des weitverbreiteten Ritualmordgerüchts dazu führte, dass „von ihm besonders viele Juden ,grundlos‘ verdächtigt worden“ seien.61 So wurden etwa kurze Zeit nach dem Fund des Kopfes Winters am Ostersonntag, den 15. April 1900, förmlich alle Juden der Stadt „ohne Ansehen der Person und des Standes“ von Untersuchungsbeamten vernommen.62 Nicht wegen eventueller Indizien, sondern wegen ihrer als geheimnisvoll erachteten Religion erschienen nun die Konitzer Juden, die zur selben Zeit Pessach feierten, verdächtig. So geriet mit den „rund siebzig jüdischen Familien in Konitz und […] zahlreichen jüdischen Kultusbeamten, Rabbinern und Kantoren nahezu ganz Westpreußens“63 auch Kellermann in den Kreis der Verdächtigen, über die intensive Ermittlungen angestellt wurden. Neben zehn bis fünfzehn Dienstmädchen in jüdischen Haushalten sei einem Zeitungsartikel zufolge „angeblich“ auch seine Dienstmagd von den Ermittlern gefragt wurden, „ob die Kleider und die Wäsche des Rabbiners blutbefleckt gewesen seien und ob das Dienstmädchen den Rabbiner eines Mordes für fähig halte“.64 Diesbezüglich hat sich jedoch keine Antwort erhalten, so dass die Blutbeschuldigung zunächst allein in Form der vermuteten Teilnahme wie ein Damoklesschwert über ihm und anderen verdächtigten Juden der Stadt hing. Nach dem Fund des Kopfes hatte die Polizei den jüdischen Lumpenhändler Wolf Israelski als Tatverdächtigen festgenommen, der erst nach einem Prozess im September 1900 aufgrund mangelnder Beweise aus dem Stadtgefängnis freigelassen wurde.65 Dass der Kopf Winters am höchsten christlichen Feiertag gefunden und dann auch noch ein Jude festgenommen wurde, ließ die Stimmung in den folgenden Tagen in und um Konitz überkochen. Während der erneut von Lehrlingen und Arbeitern getragenen Krawalle in Flatow, Czersk, Konitz und 60 Zu den Aktivitäten der antisemitischen, liberalen und jüdischen Presse vgl. Nonn, Mörder, 145–168. 61 Ebd., 179. 62 IDR 6/4 (1900), 215. 63 Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 105. 64 O. Verf., Der Mord in Konitz, 137. Vgl. auch: MVAA Nr. 18 vom 2. 5. 1900, 137; Der Prozeß gegen Masloff und Genossen. Konitz 25. Oktober–10. November 1900. Nach stenographischer Aufnahme, Berlin 1900, 455. 65 Vgl. dazu o. Verf., Prozeß Israelski, in: AZJ Nr. 37 vom 14. 9. 1900, 436–438.

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anderen Ortschaften flogen wieder Steine auf jüdische Häuser, die die Polizisten und teilweise auch Soldaten zu schützen suchten und dabei selbst Angriffen ausgesetzt wurden. Am 27. April 1900, dem Tag des zweiten Wahlgangs, wurden sogar die Fensterscheiben der Konitzer Synagoge eingeschlagen.66 Nach der knappen Niederlage der katholischen Zentrums- und Polenpartei bei der Wahl um den Vertreter für den preußischen Landtag, hörte deren Verbreitung der Blutbeschuldigung erst einmal auf, so dass es im Mai in Konitz dann erstaunlich ruhig wurde und keine Steinwürfe und Pöbeleien mehr registriert wurden. Die jüdische Gemeinde ersetzte die zerstörten Fenster der Synagoge, die Geschäfte waren geöffnet, die Kinder besuchten die Schule und der Gottesdienst fand wie gewöhnlich unter Teilnahme Kellermanns als Rabbiner am Freitagabend und Samstag statt. Der Alltag schien wieder einzuziehen. Zur selben Zeit wurde der seit dreißig Jahren tätige Kriminalinspektor Johann Braun vom Berliner Polizeipräsidium nach Konitz entsandt und stürzte sich in seiner ganz eigenen Art und Weise in die Ermittlungen. Um sich ein unabhängiges Bild zu machen, lehnte er zunächst die Zusammenarbeit mit den dortigen Kollegen ab, sichtete von Grund auf die Akten und mischte sich auf dem Marktplatz oder in Kneipen unter die Bevölkerung. Zudem hörte er den Vertreter des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ (VAA) an, der nach Konitz geschickt worden war, um das dortige Geschehen zu dokumentieren und als Privatdetektiv Material gegen die Ritualmordbeschuldigung zu sammeln. Neben dem VAA unterhielten auch Redaktionen jüdischer Zeitschriften wie Im Deutschen Reich oder die Allgemeine Zeitung des Judentums sowie diejenigen liberaler Zeitschriften, etwa das Berliner Tageblatt oder die Danziger Zeitung, Korrespondenten vor Ort oder tauschten Informationen aus. Somit konnten sie regelmäßig über die neuesten Entwicklungen in der „Konitzer Affäre“ berichten, die inzwischen zu einem europäischen Medienereignis geworden war.67 Als er den anderen Ermittlern dann seine Theorie erläuterte, „verfolgten [diese] Brauns Vortrag mit offenem Mund“.68 Seiner Meinung nach sei Ernst Winter nicht das Opfer von Mord oder Totschlag geworden, sondern sei „an den Folgen einer im Jähzorn zugefügten Körperverletzung gestorben“.69 Nach Sichtung der erdrückenden Beweismittel, käme als Täter nur der christliche Obermeister der Fleischerinnung Gustav Hoffmann in Frage, dessen vierzehnjährige Tochter Anna, Zeugenaussagen zufolge, ein Verhältnis mit Winter gehabt habe. Nachdem Hoffmann mit einem seiner Lehrlinge die beiden in einer intimen Situation überrascht hätte, habe er, indem er auf den Gymnasiasten ein66 Vgl. Nonn, Mörder, 33–35. 67 Vgl. Kohut, Adolph, Ritual-Mordprozesse. Bedeutsame Fälle aus der Vergangenheit, Fragen des Tages, Berlin 1913, 26. 68 Nonn, Mörder, 39. 69 Ebd. Vgl. zum folgenden ebd., 39–42.

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prügelte, diesem eine Lektion erteilen wollen, die dann einen unerwarteten Ausgang nahm. Zusammen mit dem Lehrling, der kurz darauf spurlos verschwand, habe er den Leichnam dann fachmännisch zerteilt und versteckt. Die jüdische und liberale Hauptstadtpresse, die ihrem antisemitischen Gegner in den gewählten Methoden in nichts nachstand, stürzte sich auf diese Behauptung und versuchte durch ihre Verbreitung – erfolglos – vom Ritualmordvorwurf abzulenken. Gustav Hoffmann konnte sich gegen die erhobenen Anschuldigungen mit anderen Mitteln zur Wehr setzen als der Lumpenhändler Israelski, denn als Mitglied im Stadtrat war er eine einflussreiche Persönlichkeit in Konitz. Nachdem er von dem Verdacht gegen ihn hörte, setzte er alle Hebel in Bewegung, um seine Nachbarn, die Familie des jüdischen Schlachters Lewy, des Mordes an Winter zu denunzieren. Dabei zahlten sich die Beziehungen Hoffmanns zur Presse aus.70 Das erhoffte Ziel konnte er schließlich erreichen. Moritz Lewy wurde im Februar 1901 wegen Meineids verurteilt und gegen seinen Vater Adolf, der sein Fleischergeschäft wegen der drastisch sinkenden Einnahmen schon einen Monat nach dem Tod Winters schließen musste, hatte Hoffmann schon im Juni 1900 eine Anklage beim Konitzer Gericht eingereicht. Verfasst hatte er die Anklageschrift gemeinsam mit Vertretern der Staatsbürger-Zeitung, die sie zusammen mit anderen völkisch-antisemitischen Zeitungen abdruckte. „[D]ie Intrigen von Gustav Hoffmann […] vertrieben letzten Endes seinen jüdischen Nachbarn und über Hundert von dessen Glaubensgenossen endgültig aus Konitz. Hoffmann gab den Anstoß für das Ausufern der antisemitischen Krawalle in bisher unbekannte Dimensionen.“71 Ausgangspunkt dafür war das am 29. Mai 1900 stattfindende Kreuzverhör von ihm und seiner Tochter Anna durch die Ermittler Braun und Wehn im Konitzer Rathaus. Wilhelm Bruhn, der Verleger der Staatsbürger-Zeitung, unterbrach es, indem er den Beamten mit dem Arbeiter Bernhard Masloff einen angeblichen Augen- und Ohrenzeugen präsentierte, der zusammen mit seiner Schwiegermutter Anna Roß und dem Schlachter Hoffmann einer der „Meistererzähler“ der Ritualmordlüge war72 und gegen Adolf Lewy aussagte. Zudem versammelte sich eine große Menschenmenge vor dem Rathaus und skandierte die Freilassung der Hoffmanns. Diese schwoll in der Nacht auf etwa 1000 Personen an, die wieder Fenster von jüdischen Bewohnern einwarfen, vereinzelt in deren Häuser einzudringen suchten, in der Synagoge randalierten, pöbelten und sich Straßenschlachten mit den Polizeibeamten und berittenen Gendarmen

70 Ebd., 41. Vgl. dazu auch Smith, Schlachter, 46. 71 Nonn, Mörder, 42. 72 Vgl. dazu ebd., 55–63; Smith, Schlachter, 62–72.

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lieferten.73 Teile der jüdischen Bevölkerung von Konitz erinnerten sich hierbei an vergangene Ereignisse, denn die Synagoge wurde schon einmal im Jahr 1881 von innen beschädigt. Dies geschah im Zusammenhang mit antisemitischen Unruhen in ganz Westpreußen, Pommern und Posen, bei denen die Neustettiner Synagoge sogar angezündet wurde.74 Für den nächsten Tag wurde zum ersten Mal Unterstützung der Garnison in Graudenz angefordert, es traf abends schließlich „ein Sonderzug mit 125 bis an die Zähne bewaffneten Soldaten am Konitzer Bahnhof ein“75. Diese lieferten sich in den nächsten Tagen schwere Gefechte mit den gewaltbereiten Krawallmachern, die mit „Hep-Hep“-Rufen durch den Ort zogen und die wenigen verbliebenen Fensterscheiben in den Häusern der Juden zerschlugen. Als der liberale und bei vielen Konitzern verhasste Bürgermeister Deditius von der preußischen Regierung für einige Tage beurlaubt wurde, konnte der Landrat Baron von Zedlitz die Lage ein wenig beruhigen und die Soldaten nach Graudenz zurückschicken. Dies hatte eine fatale Wirkung, denn einige Konitzer nutzten dies für erneute Krawalle und Erpressungsversuche gegen die Juden. Die Ritualmordbeschuldigung hatte nichts von ihrer Aktualität verloren und es wurden auch direkte Vorwürfe gegen Kellermann artikuliert. Dies kann nicht verwundern, denn als „Täter stellte man sich insbesondere Rabbiner und wegen des Schächtschnitts auch die Schächter der Gemeinde vor“.76 Im späteren Prozess gegen den erwähnten Masloff wurde Kellermann am 30. Oktober 1900 von der Schneiderin Auguste Katzke in einer voll Widersprüche steckenden Aussage verdächtigt. Sie habe am 17. März, kurz nach dem Fund des Torsos, das Gespräch zweier Männer mit angehört, wobei derjenige mit schwarzem Vollbart, Nasenkneifer, schwarzer Kleidung und Zylinderhut den anderen gefragt habe, „ob er sich von der Sache hätte etwas merken lassen können, daß die Teufel so viel herumtragen. Der andere sagte: Die Sache ist gut verwahrt, es wird nichts herauskommen.“77 Sie kannte die beiden nicht, aber bei einer Vernehmung am 21. März 1900 wurden ihr auf der Polizeistation mehrere Herren vorgestellt und sie habe geglaubt, die schwarz gekleidete Person wiedererkannt zu haben, war 73 Vgl. Smith, Schlachter, 47–49; Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 111. 74 Vgl. Leiber, Horst, Einigkeit macht stark. Der Verband der Synagogen-Gemeinden Ostpreußens, in: Brocke/Heitmann/Lordick (Hg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ostund Westpreußen, 205–215, hier : 206. Detailliert zu Neustettin: Vogt, Bernhard, Antisemitismus und Justiz im Kaiserreich: Der Synagogenbrand in Neustettin, in: Heitmann, Margret/Schoeps, Julius H. (Hg.), „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben…“, Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Haskala, Bd. 15, Hildesheim/Zürich/New York 1996, 379–399. 75 Nonn, Mörder, 45. Zum Folgenden vgl. ebd., 45f. 76 Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 12. 77 Der Prozeß gegen Maßloff und Genossen (Konitz, 25. Oktober bis 10. Nov. 1900). Nach stenographischer Aufnahme. Berlin 1900, 354. Folgendes Zitat: ebd.

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sich aber nicht sicher. Später wurde ihr dann berichtet, dass dies Kellermann, „der hiesige Rabbiner“ sei. Ferner wurde er verdächtigt, mysteriöse Rituale zusammen mit dem Schächter Heymann praktiziert zu haben: Am Montag, den 12. März, ist gesehen worden, wie der Konitzer Rabbiner Kellermann – der jetzt von der Synagogen-Gemeinde zu Berlin angestellt ist! – und dieser Schächter, beide mit Cylinder-Hüten auf dem Kopfe in der Stube des Rabbiners einen aus braunem Papier gewickelten Gegenstand, der ein Stück Fleisch (Leber?) zu sein schien, besichtigten, darin mit einem Messer Einschnitte machten und mit dem Mikroskope Untersuchungen daran vornahmen. Es muß das eine Kultushandlung gewesen sein, weil der Schächter sonst schwerlich in der Stube seines Vorgesetzten den Cylinderhut aufbehalten haben würde. Zu bemerken ist hierbei, daß das Fleisch von geschächtetem Vieh stets in dem städtischen Schlachthause auf seine Gesundheit untersucht wird und niemals in der Behausung des Rabbiners.“78

Auch in der Aussage des „Mädchen[s] des jüdischen Kaufmanns Maschke“ tauchte er auf, welche „den Konitzer Rabbi zur ,gnädigen Frau‘ [d. i. die Frau des Kaufmanns Maschke, T. L.] [hat] sagen hören, er selbst habe ,Ernst Winter nur einen Stich gegeben‘“.79 Zudem wurde er wie alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde in eine Erzählung um den Ladenbesitzer Matthäus Meyer einbezogen, die bald innerhalb und außerhalb von Konitz kursierte. Nach dieser sei ein von auswärts kommender jüdischer Mann mit einer Liste in dessen Geschäft gekommen, „in die sich die Juden von Konitz eintragen sollten, um so ihre Zustimmung zur rituellen Schlachtung von Winter zu bekunden“.80 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei ihn wie nahezu jeden Juden der Stadt verhört und kam es lediglich zu „manchen verstohlenen Andeutungen“81 über eine Teilnahme Kellermanns an dem angeblichen Ritualmord. Doch nun lagen direkte Beschuldigungen ihm gegenüber vor. Aufgrund dieser Verdächtigungen und weil Kellermann in seiner Funktion als Rabbiner und Religionslehrer wie andere Honoratioren die jüdische Gemeinde von Konitz repräsentierte, sah er sich während der Unruhen „nicht nur Insulten der fanatisierten Masse ausgesetzt“,82 sondern wurde ihm auch ein Stein durch das Fenster geworfen, den er sein Leben lang als Erinnerungszeichen aufbewahren sollte.83 Angesichts der Vorkommnisse in Konitz wird sich Kellermann an vergangene 78 [Sonnenberg, Max Liebermann von], Der Blutmord in Konitz. Mit Streiflichtern auf die staatsrechtliche Stellung der Juden im Deutschen Reiche. Nach authentischen Quellen dargestellt von einem besorgten Vaterlandsfreunde. Vorwort von Max Liebermann von Sonnenberg, Berlin 121901, 36. 79 Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 134. 80 Smith, Schlachter, 185f. 81 Lilienhain, A. von, Dunkle Morde! Xanten, Konitz, Gumbinen, Leipzig 1901, 42. 82 Sachs, Kellermann zum Gedenken, 2. 83 Vgl. Kellermann, Henry J., From Imperial to National-Socialist Germany. Recollections of a German-Jewish Youth Leader, in: LBIYB 39 (1994), 305–330, hier : 310.

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Tage erinnert haben, da er schon früher mit rabiatem Antisemitismus in Berührung gekommen war. So registrierte er während seines Studiums in Marburg die dort agierende Böckelbewegung und wusste um Cohens Eintreten gegen die Propaganda Treitschkes im „Berliner Antisemitismusstreit“ und gegen die Herabwürdigung des Talmuds durch Paul de Lagarde im „Marburger Antisemitismusprozess“. Als der mittlerweile zu einem Politikum gewordene Mord an Ernst Winter im Februar 1901 Gegenstand von Debatten im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus wurde, konnte Kellermann aus den Zeitungsberichten erneut die judenfeindliche Agitation Otto Böckels vernehmen. Als Abgeordneter der antisemitischen Fraktion im Reichstag unterstellte er den Justizbehörden Parteinahme für die Juden, wetterte gegen die angeblich unkontrollierte Einwanderung der „Ostjuden“ und war von einem jüdischen Ritualmord in Konitz überzeugt.84 Kellermann wurde dort „leidvoller Zeuge der Kulturschande des Ritualmordprozesses“ und musste „in tiefster Erregung wahrnehmen, daß selbst Kreise von Bildung der Suggestion des Blutmärchens unterliegen.“85 Die Blutbeschuldigungen galten entweder als Relikte eines überwunden geglaubten Mittelalters oder als barbarische Anklagen, die gegenwärtig nur im russischen Zarenreich oder in osteuropäischen Ländern der Habsburger-Monarchie für möglich gehalten wurden. Nun aber sahen sich die deutschen Juden in verschiedenen Fällen selbst mit der Blutlüge konfrontiert und schüttelten fassungslos die Köpfe über diese Rückfälle in längst vergangene Zeiten. Sie konnten nicht verstehen, wieso Christen solche Anschuldigungen verbreiteten, und zeigten diesbezüglich unterschiedliche Reaktionsmuster. Ein Teil der Vertreter der Wissenschaft des Judentums versuchte offensiv aufzuklären. Allein oder gemeinsam mit dem Judentum gegenüber aufgeschlosseneren Theologen wie Eduard König, Bernhard Stade oder Hermann L. Strack verfassten diese Gelehrten Aufsätze und Monografien, in denen sie detailliert die Gebote und Verbote der Tora erklärten und damit hofften, der Ritualmordbeschuldigung durch Aufklärung inhaltlich den Boden zu entziehen. Andere jüdische Gelehrte dagegen lehnten es ab, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen solche Vorwürfe inhaltlich zu argumentieren. Dazu gehört auch Kellermann, der in seinem ganzen Werk nicht an einer einzigen Stelle Konitz erwähnt oder sich mit dem Phänomen der Blutbeschuldigung auseinandersetzt. Stattdessen hielt er bald nach seiner Rückkehr nach Berlin im Wintersemester 1901/

84 Vgl. Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 160f. Vgl. generell zu den Parlamentsdebatten über den „Fall Konitz“ ebd., 159–173. 85 Sachs, Kellermann zum Gedenken, 2.

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02 einen Vortrag über „Die Philosophie des Maimonides“ im „Akademischen Verein für jüdische Geschichte und Literatur“.86 Zudem schien er zu dieser Zeit in eine scharf geführte Kontroverse innerhalb der Berliner Gemeinde involviert gewesen zu sein. Verschiedene Liberale zogen 1901 mit dem Vorschlag in die Repräsentantenwahlen, „einen zusätzlichen Sonntagsgottesdienst für jene einzuführen, die ihre Geschäfte an der Einhaltung des Sabbats hinderte“ und hatten „mehrere tausend Unterschriften“ dafür gesammelt.87 Einem Bericht der zionistischen Zeitschrift Die Welt zufolge, verteidigte auch Kellermann diese angestrebte Neuerung, weshalb sie ihn als „feindlich ausserhalb des Judenthums lauernden Lehrer der jüdischen Religion“ bezeichnete und vermutete, dass liberale Kräfte in der Gemeinde ihn nur deswegen aus Konitz berufen hätten, um ihn „als Sonntagspfäfflein benützen zu können“.88 Die Liberalen konnten sich aber nicht durchsetzen, sondern unterlagen bei den Wahlen den Orthodoxen, Konservativen und Zionisten, die einen zusätzlichen Gottesdienst am Sonntag als eine unrechtmäßige Veränderung und Verchristlichung des Judentums ansahen und sich einstimmig dagegen verwahrten. Die Gründe für Kellermanns Weigerung, über die Vorfälle in Konitz zu schreiben, sind zum einen darin zu suchen, dass die Gerichte relativ viele Strafen für Meineid und antisemitische Agitation verhängt hatten. Zum anderen erblickte er wie seine Zeitgenossen im angebrochenen 20. Jahrhundert ein „Zeitalter der allgemeinen Bildung und des Culturfortschritts“89, in dem er es als jüdischer Theologe und Philosoph nicht als seine Aufgabe betrachtete, sich mit der in seinen Augen unaufgeklärten und einer Kulturnation unwürdigen Ritualmordbeschuldigung zu beschäftigen oder gar Widerlegungen zu publizieren. Dies änderte sich auch nicht, als er später erneut direkter antisemitischer Agitation ausgesetzt wurde. Am 10. Mai 1919 wurde Kellermann zusammen mit den liberalen Rabbinerkollegen Hermann Vogelstein aus Breslau und Caesar Seligmann aus Frankfurt vom Berliner „Jüdisch-liberalen Jugendverein“ zu einem Vortragsabend unter dem Thema „Die Zukunftskraft des Judentums“ eingeladen. Vor einem großen Publikum begann Kellermann Gedanken über „Das Verhältnis des Judentums zum Mitmenschen“ auszuführen. Während seines Referats kam es zu antisemitischen Unruhen, wegen denen er nicht zu Ende sprechen konnte. In einem Bericht heißt es: „Die rein religiösen Ausführungen der Redner wurden durch eine Schar Antisemiten, die mit Waffen und 86 Vgl. Cohen, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, 29. 87 Lowenstein, Das religiöse Leben, 116. 88 Samgar, Eli, Die Repräsentantenwahlen in der Berliner jüdischen Gemeinde, in: Die Welt Nr. 47 vom 22. 11. 1901, 3–6, hier : 5. 89 Sutor, Gustav, Die Konitzer Prozesse. Ein weiteres Wort zur Aufklärung, Konitz 1901, 93.

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Schlagringen im Saal anwesend waren, unterbrochen, so daß die Versammlung vorzeitig geschlossen werden mußte.“90 Kellermann wurde in seinem Leben immer wieder mit Judenfeindschaft konfrontiert, entweder indirekt durch Ereignisse wie den „Marburger Antisemitismusprozess“ und die „Judenzählung“ in der deutschen Armee 1916 oder er war direkt in Vorfälle involviert. Dennoch gibt es bis auf Anmerkungen in Vorträgen und Predigten keine explizite Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Antisemitismus, der als Begriff nicht in seinem Werk auftaucht. Er betrachtete es nicht als seine Aufgabe, dagegen anzuschreiben, sondern auf religionsphilosophischem Wege die Bedeutung des Judentums zu erweisen. Indem er dessen Relevanz für den Kulturfortschritt der Menschheit aufzuzeigen versuchte, reagierte er auf subtilere Weise auf die Vorwürfe der Antisemiten. Während seiner Zeit in Konitz arbeitete Kellermann eng mit den Vertretern jüdischer Organisationen zusammen. Am 22. April 1900 hielt der „Verband der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden“ in Danzig seinen jährlichen Gemeindetag ab, auf dem Kellermann persönlich anwesend war und für die nächsten drei Jahre in dessen Ausschuss gewählt wurde.91 Er berichtete von der Situation in Konitz, die er tagtäglich als Rabbiner der Gemeinde erlebte, woraufhin vom Verband eine Resolution verabschiedet wurde. Sie versprach allen bedrängten Juden in und um Konitz „Rath und That“, riet aber davon ab, die Blutbeschuldigung argumentativ widerlegen zu wollen, stattdessen „das Resultat der Untersuchung mit Ruhe und Vertrauen auf die Unparteilichkeit der Richter und das thatkräftige Vorgehen der Königlichen Staatsbehörden abzuwarten“.92 Kurze Zeit später steuerte die Vereinigung sogar eine große Summe Geld für die Ergreifung des Mörders bei.93 Der Verband unterstrich hier das talmudische Prinzip des dina de malchuta dina, das mit „das Gesetz des Landes ist Gesetz“ übersetzt werden kann.94 Dieser Grundsatz, nach dem das Recht eines jeden Landes auch für die dort lebenden Juden verbindlich sei, stand nicht zur Diskussion und hatte während der Konitzer Ereignisse zweierlei Bedeutung: Zum einen wollten die Juden dem christlichen Mob keinen Anlass geben, die Gewalt erneut anzufachen, zum anderen kämpften sie mit ihrem öffentlich dargestellten Vertrauen auf die Ob90 O. Verf., Jüdisch-liberaler Jugendverein Berlin. Bericht über die Tätigkeit für die Zeit Februar bis Juni 1919, in: MARGE 1/5 (1919), 34f, hier : 35. Vgl. auch GBAZJ Nr. 20 vom 16. 5. 1919, 1. – Ein Manuskript des Vortrags hat sich nicht erhalten. 91 Bericht über die Thätigkeit des Verbandes der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden im dritten Verbandsjahre 1899–1900, Danzig 1900, CJA, 1,75 B Da 1 Nr. 1, # 9737, Bl. 16–23, hier: Bl. 21. 92 Zit. n. ebd. 93 Vgl. AZJ Nr. 19 vom 11. 5. 1900, 219. 94 Vgl. dazu Homolka, Walter, Das Jüdische Eherecht, Berlin 2009, 23f. Ebd., 24, Anm. 49 auch die Belegstellen im Talmud.

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jektivität des Staates und der Gerichte gegen das altbekannte Vorurteil an, einen jüdischen Staat im deutschen zu bilden. Kellermann als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens teilte den talmudischen Grundsatz, so dass hierin neben der erwähnten intellektuellen eine weitere Erklärung für seine fehlende Publikationstätigkeit bezüglich der Vorfälle zu suchen ist, die zunächst einmal ungewöhnlich erscheint. Er wollte die Lage vor Ort nicht verschlimmern, trug als Rabbiner und Lehrer Sorge für seine Gemeinde und vertraute auf die verantwortlichen Gerichte. Wegen der Vorkommnisse in Konitz blieb eine wichtige Aufgabe Kellermanns auf der Strecke, zu denen er als Rabbiner, Lehrer und Mitglied des „Verbandes der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden“ und des „Westpreußischen Rabbinerverbandes“ verpflichtet war : Die Inspektion der ihm anvertrauten Religionsschulen, um regelmäßig über die Leistungen der Schüler und Lehrer sowie über die Zustände der Gebäude zu berichten und eventuell Verbesserungen anzuregen. Der „Westpreußische Rabbinerverband“ unter dem Vorsitz des Rabbiners Rosenberg aus Thorn hatte zwischen 1901 und 1902 zwölf Mitglieder, auf die 49 Schulen in der gesamten Provinz verteilt wurden.95 Kellermann zeichnete für einige Anstalten im Rabbinatsdistrikt Konitz sowie in anderen Distrikten verantwortlich. Schon vor seiner Ankunft wurde diese Aufgabe nicht ernst genommen, denn im Bezirk Konitz hatten lediglich in den zwei Gemeinden Schlochau und Hammerstein Revisionen des Unterrichts stattgefunden, und zwar zuletzt im Frühjahr 1898. Der Lehrer sah sich jedoch angesichts der Ausschreitungen in Konitz und Umgebung und den daher im Moment drängenderen Aufgaben nicht in der Lage, die ihm unterstellten und in verschiedenen Bezirken liegenden Schulen zu revidieren.96 Erst im Juni 1902, als Rabbiner Weyl die Nachfolge Kellermanns angetreten hatte, erhielt der Verband einen Bericht über die Inspektion der acht Religionsschulen im Rabbinatsdistrikt Konitz.97 Neben dem Synagogenverband und dem Abwehrverein engagierte sich vor allem der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) in der Konitzer Affäre.98 Er unterstützte die dortigen Juden mit seiner Rechts95 Bericht über die Thätigkeit des Verbandes der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden im fünften Verbandsjahre 1901–1902, Danzig 1902, CJA, 1,75 B Da 1 Nr. 1 (9737), Bl. 24–31, hier: Bl. 24. 96 J. Rosenberg an den Verband Westpreußischer Synagogen-Gemeinden, 1. 2. 1901, CJA, 1, 75 Ra 1, Nr. 26, # 12536, Bl. 146f. 97 Bericht über die Thätigkeit des Verbandes der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden im fünften Verbandsjahre 1901–1902, Danzig 1902, CJA, 1,75 B Da 1 Nr. 1 (9737), Bl. 24–31, hier: Bl. 26. 98 Vgl. Rieger, [Paul], Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das Recht und die Zukunft der deutschen Juden. Ein Rückblick auf die Geschichte des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in den Jahren 1893–1918, Berlin 1918, 32; Fuchs, Eugen, Jüdi-

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kommission bei Klagen und unterhielt eine Korrespondenz99 mit Kellermann und anderen Personen in Konitz und Umgebung. So konnte der Verein mit Informationen aus erster Hand über die Ausschreitungen berichten.100 Weiterhin beauftragte der CV Kellermann, den Kaufmann Selig Zander zu ersuchen, von der Staatsbürger-Zeitung eine Berichtigung ihrer Verleumdungen ihm gegenüber einzufordern.101 Sogar einem Bekannten aus seiner Zeit als Student am Berliner Rabbiner-Seminar begegnete Kellermann hier. Der Historiker und führendes Mitglied des CV Hirsch Hildesheimer reiste „persönlich nach Konitz, um die Justizbeamten von der Falschheit der Ritualmordbeschuldigung zu überzeugen“.102 Die Familie des von Beginn an zu Unrecht verdächtigten jüdischen Schlachters Lewy unterstützte Hildesheimer persönlich. Er ließ sie „nach Berlin kommen, richtete ihnen ein neues Geschäft ein und verhalf ihnen zu einem neuen Lebensaufbau.“103 Der VAA und der CV begannen bald im Wettrennen mit den antisemitischen Zeitungen und dem „Überwachungskomitee“ ebenfalls deren dubiose und zum Teil illegale Methoden aufzunehmen, etwa die Verleitung von Zeugen zum Meineid.104 Doch konnten die Repräsentanten der deutschen Juden und der Liberalen das Rennen nicht gewinnen, da der Großteil der Konitzer sich in das Lager der ihnen Aufmerksamkeit schenkenden Antisemiten geschlagen hatte und mit rationaler Argumentation nicht vom Vorwurf des jüdischen Ritualmords abzubringen war. Auch die vielen Versuche, die Masse der Einwohner als provinziell, ungebildet und damit leicht beeinflussbar darzustellen, wie es die liberalen und jüdischen Zeitungen in Berlin immer wieder taten, war in diesem Zusammenhang kontraproduktiv.105

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sche Notare und Konitzer Ritualmord (Vortrag vom 28. 2. 1901), in: ders., Um Deutschtum und Judentum. Gesammelte Reden und Aufsätze, hg. im Auftrage des CV von Hirschfeld, Leo, Frankfurt a. M. 1919, 197–214, hier : 212. – Das Engagement des CV geht auch hervor aus der Berichterstattung in der eigenen Zeitschrift Im Deutschen Reich zwischen 1900 und 1901, sowie aus den Protokollbüchern der Vorstandssitzungen dieser Zeit: CAHJP Jerusalem, M20/8a-b. Protokoll der Vorstandssitzung des CV am 11. 4. 1900, in: Protokollbuch, Bd. 1: 1894–1900, CAHJP Jerusalem, M20/8a, Bl. 103. – Kellermann hatte sich dem CVauch für einen Vortrag über die „Konitzer Affaire“ angeboten (Protokoll der Vorstandssitzung des CVam 7. 1. 1901, in: Protokollbuch, Bd. 2: 1901–1905, CAHJP Jerusalem, M20/8b, Bl. 1). Ob er diesen tatsächlich hielt, geht aus den Unterlagen nicht hervor. Vgl. zu dem aus Juden und Christen bestehenden Aufklärungskommitee von CV und VAA Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 220f; Nonn, Mörder, 149–151 Protokoll der Vorstandssitzung des CV am 11. 4. 1900, in: Protokollbuch, Bd. 1: 1894–1900, CAHJP Jerusalem, M20/8a, Bl. 103. Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 204, Anm. 67. Hirsch, Erinnerungen, 84. Vgl. Nonn, Mörder, 154. Vgl. etwa o. Verf., Zur Psychologie der Ritualmord-Lüge, in: AZJ Nr. 17 vom 27. 4. 1900, 193f.

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Viele Jahre nach den Unruhen, verwies der erste Vorsitzende des CV Julius Brodnitz (1866–1936) in seinem Kondolenzbrief an Thekla Kellermann darauf, dass „der Centralverein in ganz besonderem Masse seinem verstorbenen Freunde [Dank, T. L.] schuldet“.106 Die Konitzer Vorfälle werden in dem Schreiben nicht ausdrücklich benannt, sind aber sehr wahrscheinlich mit intendiert, da auch in der Sitzung des Vorstandes vom 27. Juni 1923 „der grossen Verdienste des Verstorbenen für das Judentum gedacht“ und darauf hingewiesen wurde, dass der CV mit seinem Tode „einen treuen und geschätzten Mitkämpfer [verliert], der mit Mut und Ueberzeugung unsere gute Sache vertreten hat“.107 Hans Sachs zufolge habe Kellermann während der Ausschreitungen sogar ein Massaker an den Juden verhindert, da es ihm gelungen sei, „in Audienzen bei den höchsten Regierungsstellen in Berlin“ Soldaten zu mobilisieren, so „daß schließlich die Abwehr unter staatlicher Autorität energisch einsetzt[e] und das deutsche Judentum vor größeren Erschütterungen bewahrt“ wurde.108 Diese Behauptung konnte anhand der erhaltenen Archivmaterialien jedoch nicht belegt werden und scheint der hagiografischen Tendenz des Nachrufes von 1923 geschuldet. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Religionslehrer und Rabbiner bei verantwortlichen Regierungsstellen im Berliner Innenministerium einen solchen Einfluss geltend machen konnte, Armeetruppen nach Konitz zu entsenden.109 Überliefert ist hingegen, dass Kellermann mit entscheidenden Stellen der kommunalen Verwaltung in Konitz kommunizierte. So bat ihn etwa der CV vor den Ostertagen im April 1900 darum, „den Königl.[ichen] Landrath in Konitz auf die Gefahr etwaiger Ausschreitungen während der Festtage hinzuweisen und vorbeugende polizeiliche Schutzmassregeln zu erbitten.“110 Der Bürgermeister und der Landrat forderten denn in den nächsten Wochen auch immer wieder erfolgreich die Hilfe des in Graudenz stationierten Regiments an. In der ersten Junihälfte 1900 kam es in Konitz und umliegenden Orten fortdauernd zu Steinwürfen gegen in jüdischem Besitz sich befindende Gebäude, Pöbeleien und Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften.111 Am 7. Juni versuchten einige Personen sogar, die 1869 erbaute Konitzer Synagoge niederzubrennen, was die mit Steinen beworfenen Feuerwehrmänner jedoch verhindern konnten.112 Wurden die Ausschreitungen vom März und April „vor allem 106 Julius Brodnitz an Thekla Kellermann, 29. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. Folgendes Zitat: ebd. 107 CV-Zeitung Nr. 28 vom 12. 7. 1923, 230. 108 Sachs, Kellermann zum Gedenken, 2. 109 Ich danke Christoph Nonn für diesen Hinweis. 110 Protokoll der Vorstandssitzung des CV am 11. 4. 1900, in: Protokollbuch, Bd. 1: 1894–1900, CAHJP Jerusalem, M20/8a, Bl. 103. 111 Vgl. Smith, Schlachter, 50–52. Zum Folgenden vgl. ebd., 51. 112 Bericht des Ersten Staatsanwalts Settegast in der Untersuchungssache wegen Mordes an dem Gymnasiasten Winter in Konitz an den Justizminister Berlin. Verfügung vom Juni des

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von Jugendlichen aus den Unterschichten getragen“, skandierten bei diesen Krawallen auch Gutsbesitzer, Ärzte, Gastwirte, Handwerksmeister und Frauen in großer Zahl.113 In dem erneuten Gewaltausbruch sah der CVeine große Gefahr für die ansässigen Juden und bat einen Tag später beim preußischen Innenministerium um Verstärkung der Polizeikräfte und des Militärs; ein Gesuch, dem auch entsprochen wurde.114 Auf dem Höhepunkt der Krawalle am Sonntag, den 10. Juni 1900, an dem nach Warnung zweier Frauen an einen jüdischen Kaufmann „die Juden alle totgeschlagen werden [sollten]“,115 wurden von einer mehrere tausend Menschen umfassenden Menge aus Konitzern und Bewohnern umliegender Orte der Bürgermeister und der Landrat bedroht, Polizisten und Ermittler angegriffen und erneut Häuser von Juden demoliert. Die Menge strömte mit „Hep-HepRufen“ zur Synagoge, warf erneut die Scheiben ein und drang gegen halb fünf am Nachmittag in das Gotteshaus ein.116 Das Gebäude wurde komplett verwüstet, im „Innern waren die Wandteppiche zerrissen, die Leuchter zerstört, die Gebetbücher zerfleddert und ihre Seiten über die zerbrochenen Holzbänke verteilt“.117 Drei Tage später wurde versucht, die einer Ruine gleichende Synagoge erneut anzuzünden und damit den symbolischen Ort der jüdischen Gemeinde der Stadt endgültig niederzubrennen.118 Deutlicher konnte ein Großteil der Bevölkerung seine Abneigung gegen die Konitzer Juden und seinen Wunsch nach ihrer Abwanderung aus dem Ort nicht artikulieren. Da das Gebetshaus nun für einige Zeit nicht mehr benutzbar war und grundlegend renoviert werden musste, mussten die Gottesdienstbesucher in umliegende Orte ausweichen.119 „Die Konitzer Bürger wirkten aktiv an der

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Jahres/J. No. IV. 9931/, 10. 6. 1900 (Abschrift), GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 500, Nr. 50, Bd. 2, Bl. 17–20, hier : Bl. 19. Nach Alicke, Konitz, 2307 wurde die erste Konitzer Synagoge 1809 aus Holz erbaut, ihre Nachfolgerin 1869 aus Stein. Nonn, Mörder, 52. Innenminister Freiherr von Rheinbaben an den CV, 15. 6. 1900, GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 500, Nr. 50, Bd. 2, Bl. 25. Bericht des Landratsamts Konitz, undatiert [vermutlich 10. 6. 1900], GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 77, Tit. 500, Nr. 50, Bd. 2, Bl. 2. Bericht des Ersten Staatsanwalts Settegast in der Untersuchungssache wegen Mordes an dem Gymnasiasten Winter in Konitz. Verfügung vom Juni des Jahres/J. No. IV. 9931/, 10. 6. 1900 (Abschrift), GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 500, Nr. 50, Bd. 2, Bl. 17–20, hier : Bl. 19; Bericht des Rechtsanwalts Appelbaum aus Konitz über die Vorfälle am 10. 6. 1900, 10. 6. 1900, GStA PK, I. HA, Rep. 77, Tit. 500, Nr. 50, Bd. 2, Bl. 30. Nonn, Mörder, 49. Vgl. dazu auch Smith, Schlachter, 53; Vogt, Bernhard, Die „Atmosphäre eines Narrenhauses“. Eine Ritualmordlegende um die Ermordung des Schülers Ernst Winter in Konitz, in: Brocke/Heitmann/Lordick (Hg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, 545–577, hier : 574; Levy, Alphonse, Umschau, in: IDR 6/ 6–7 (1900), 325–341, hier: 334. Vgl. IDR 7/8 (1901), 422. Vgl. AZJ Nr. 25 vom 22. 6. 1900, 290.

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Eskalation mit“120 und es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass der wütende Mob während der dreimonatigen Unruhen keine Menschen verletzte oder gar tötete und „Gewalt gegen Sachen die Regel blieb“.121 Die Juden lebten in einem Gefühl ständiger Angst, Demütigung und Ohnmacht, wurden bedroht und erpresst, verriegelten ihre Fenster und Türen und flüchteten auf die Dachböden ihrer Häuser, sobald sich größere Menschenmengen in der Stadt zusammenfanden. Kellermann selbst stellte einen Kleiderschrank vor das Fenster, um sich vor Wurfgeschossen und Glassplittern zu schützen.122 Nach den Zusammenstößen vom 10. Juni, für die sich viele Beteiligte in den folgenden Monaten vor Gericht verantworten mussten,123 blieben auf Anweisung Kaiser Wilhelms II. 500 Soldaten bis in das nächste Jahr in Konitz einquartiert, patrouillierten durch die Stadt, bewachten Häuser von Juden und rund um die Uhr die Synagoge. Während dieses Aufgebot an Soldaten, Polizisten und Gendarmen weitere Krawalle in Konitz verhinderte, kam es noch bis in das beginnende Jahr 1901 zu Steinwürfen, Gewalt gegen Juden, Pöbeleien und Synagogenund Friedhofsschändungen in den umliegenden westpreußischen Städten und den Provinzen Pommern und Posen.124

3.3 Konsequenzen Die Lage in Konitz hatte sich mit Hilfe des Militärs zwar wieder beruhigt, aber weite Teile der einfachen Bevölkerung, sowie der Notabeln und Honoratioren der Stadt waren weiterhin antisemitisch eingestellt. Letztere gründeten einen vor allem in Richtung eines jüdischen Verbrechens ermittelnden Verein zur Aufklärung des Konitzer Mordes, ein Gasthaus bewarb sich gar als „judenrein“ und Bestattungen jüdischer Personen wurden von christlichen Kindern bewusst gestört.125 „Bei jüdischen Leichenbegräbnissen“, die Kellermann als Rabbiner der Gemeinde durchführte, „ist es in Konitz fast regelmäßig vorgekommen, daß Schulknaben und halbwüchsige Burschen den vorbeiziehenden Sarg und die Leidtragenden zum Gegenstand lauten Gespötts machen.“126 Ende März 1901 organisierten die lokalen Judenfeinde sogar eine Trauerfeier Vogt, Die „Atmosphäre eines Narrenhauses“, 568. Nonn, Mörder, 143. Vgl. Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 2. Vgl. GBAZJ Nr. 35 vom 31. 8. 1900, 2. Vgl. Nonn, Mörder, 50f; Smith, Schlachter, 55. Smith spricht entgegen Nonn ohne Bezug auf offizielle Dokumente von 650 nach Konitz abkommandierten Soldaten. 125 Vgl. Smith, Schlachter, 210–214. 126 Konitz, den 21. Februar 1901 [Rubrik: Aus dem deutschen Osten], in: Ostdeutsche Tageszeitung. Konitzer Anzeiger Nr. 49 vom 22. 2. 1901, o. S.

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zum einjährigen Todestag Ernst Winters, auf der Geld für ein „Winter-Denkmal“ gesammelt wurde.127 Obwohl diese bleierne Luft über der Stadt lag, versuchten Kellermann und die anderen Juden zwangsläufig wieder ein normales Leben zu führen. Die Kinder und Jugendlichen lernten bei ihrem Rabbiner in der Religionsschule und in der von Soldaten bewachten Synagoge wurden regelmäßig Gottesdienste gefeiert. Die jüdischen Geschäfte hatten geöffnet und auch auf dem Marktplatz waren die jüdischen Händler wieder sichtbarer vertreten. Vom 26. bis 27. Mai 1901 nahm Kellermann an der fünften Jahresversammlung des „Vereins jüdischer Religionslehrer Westpreußens“ in Danzig teil.128 Der zu diesem Zeitpunkt ihn und 36 weitere Mitglieder zählende Verein verfolgte bezüglich der Situation der jüdischen Lehrer dieselben Ziele wie der „Verband Westpreußischer Synagogengemeinden“ und trat für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände ein.129 Auf der Versammlung wurde der Jahresbericht erstattet und über die prekären Anstellungs- und Versorgungsverhältnisse sowie die Pensionsfrage für jüdische Lehrer diskutiert. Kellermann stimmte für eine Petition des Vereins an den „Verband Westpreußischer Synagogengemeinden“, der bei den einzelnen Gemeinden dafür eintreten solle, dass jüdische Lehrer nach einer gewissen Probezeit auf Lebenszeit angestellt werden und trat für die Schaffung einer Pensionskasse ein, die alle jüdischen Lehrer der Provinz Westpreußen aufnehmen könne.130 Am zweiten Verbandstag wurde über den gerade eingeführten Normallehrplan für jüdische Religionsschulen in Westpreußen diskutiert, zudem entspann sich eine nicht genauer überlieferte Debatte zwischen den Vereinsmitgliedern Kellermann, Rosenberg und Loevy um die Möglichkeit und Nützlichkeit des Hebräischunterrichts an Gymnasien. Trotz der alltäglichen Verpflichtungen Kellermanns und der anderen Juden der Stadt, konnte das Gefühl der Angst in so kurzer Zeit nicht verschwinden und 127 Vgl. dazu IDR 7/3 (1901), 165f. 128 Vgl. Mannheim, M., Verein jüdischer Religionslehrer Westpreußens. Fünfte Jahresversammlung am 26. und 27. Mai in Danzig, in: AZJ Nr. 25 vom 21. 6. 1901, 292f. – Zur Mitgliederzahl im Folgenden vgl. ebd., 292. Kellermanns Mitgliedschaft ist belegt in: Verband der jüdischen Lehrervereine im Deutschen Reiche (Hg.), Einladung zu dem am 26. und 27. Dezember [1901] stattfindenden ersten Verbandstage, Hamburg 1901, 24. 129 Vgl. Heitmann, Der Verband der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden 1897–1922, 228. 130 Während eine solche Kasse nie errichtet wurde, konnten die Synagogengemeinden seit 1918 der staatlichen „Ruhegehalts- und Witwen- und Waisen-Kasse der Provinz Westpreußen beitreten“, die einen Teil des Geldes für die festangestellten jüdischen Lehrer und Kultusbeamten bereitstellte. Vgl. dazu den Bericht der Kommission über den Beitritt der Synagogen-Gemeinden zur Ruhegehalts- und Witwen- und Waisen-Kasse der Provinz Westpreußen, dem XIV. Gemeindetage des „Verbandes der Westpreußischen SynagogenGemeinden“ am 2. Juni 1918 erstattet vom Verbandsvorsteher Geheimen Justizrat Flater, CJA, 1, 75 B Da 1, Nr. 1, # 9373, Bl. 161–163.

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sollte das Leben der Menschen noch sehr lange bestimmen. Begleitet wurde die Einübung dieses ,normalen‘ Alltagslebens von den vielen Prozessen, die sich den Unruhen vom Juni 1900 anschlossen. In diesen wurden etliche der Krawallmacher wegen Landfriedensbruch und einige der „Meistererzähler“ des Ritualmordgerüchts, wie Masloff und Roß, wegen falscher Aussagen und Verleumdungen angeklagt.131 Der Staatsbürger-Zeitung wurde wegen Aufwiegelung der öffentlichen Meinung im Herbst 1902 der Prozess gemacht, ein Redakteur der Germania wurde zu einem Monat Gefängnis verurteilt.132 Der eigentliche Mörder Winters wurde jedoch nie gefunden und konnte bis heute nicht aus den Quellen ermittelt werden. Der umtriebige Kriminalist Johann Braun untersuchte in Berlin noch viele Jahre die „Konitzer Affäre“, aber „[s]chließlich gab auch er sich geschlagen. 1912 wurden die Akten über den Fall Winter endgültig geschlossen“.133 Galliner zufolge kämpfte Kellermann während der Unruhen „für die Ehre und das Recht des Judentums und der Juden“, wodurch die Berliner Gemeinde auf ihn aufmerksam geworden sei und ihm eine Stelle als Leiter der vierten Religionsschule angeboten habe.134 Kellermann, der zudem sein Rabbinerstudium an der HWJ beenden wollte, nahm an und siedelte zwischen Ende Mai und Juli 1901 nach Berlin über, als in Konitz seit etwa einem Jahr keine Ausschreitungen mehr registriert wurden.135 Sein Nachfolger wurde der ebenfalls liberaljüdisch gesinnte Michael Weyl (1873–1942), der die geschrumpfte Gemeinde von Konitz bis 1911 betreute.136 Denn bis Ende 1902 emigrierten von den 480 vor dem Mord

131 Vgl. IDR 6/11 (1900), 596–601; Der Prozeß gegen Masloff und Genossen. Masloff wurde zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, seine Schwiegermutter Anna Roß zu zweieinhalb Jahren. Smith, Schlachter, 209 nennt die Zahl von 92 Verhaftungen und Gerichtsverhandlungen in und außerhalb von Konitz. 132 Vgl. dazu: Der Konitzer Blutmord vor dem Berliner Gericht: Die Verhandlungen des Pressprozesses gegen die „Staatsbürgerzeitung“ vor der II. Strafkammer des Königl. Landgerichts I, Berlin 1902; Gross, Ritualmordbeschuldigungen, 222–229. Der Verleger Wilhelm Bruhn wurde zu sechs, der Chefredakteur Paul Bötticher zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt. Zur Germania: Levy, Alphonse, Umschau, in: IDR 6/10 (1900), 520–530, hier : 523. 133 Nonn, Mörder, 87. 134 Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 2. 135 Ab 1. August 1901 leitete Kellermann die IV. Religionsschule in Berlin: Kellermann, Benzion, IV. Religionsschule der jüdischen Gemeinde, NW., Gerhardstr. 4–5. Bericht, erstattet von dem Leiter der Anstalt Rabbiner Dr. Kellermann, in: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil II: Die Religionsschulen, Berlin 1907, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 128, # 357, Bl. 51–55, hier : Bl. 54. 136 Michael Max Mordechai Weyl war Mitglied der „Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands“ (Beleg in: AZJ Nr. 26 vom 30. 6. 1911, 310) und unterzeichnete 1912 die „Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum“, die von orthodoxer Seite scharf angegriffen wurden. Vgl. zu Leben und Werk BHRabb II/2, 649f.

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an Winter gemeldeten Juden insgesamt 130 aus der Kleinstadt.137 Über ein Viertel der Konitzer Juden war demnach von den Ereignissen der letzten zwei Jahre so erschüttert, dass für sie eine Zukunft in der Stadt ausgeschlossen war. Die Unruhen in Konitz und Umgebung stellen Smith zufolge den „schwerste[n] Ausbruch antisemitischer Gewalt im wilhelminischen Deutschland“ dar.138 Auch wenn keine privaten und öffentlichen Äußerungen Kellermanns zu den Ereignissen vorliegen, kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sie sich ähnlich anderer judenfeindlicher Vorkommnisse tief in sein Bewusstsein einprägten und sein weiteres Leben beeinflussten. Die Ausschreitungen des christlich sozialisierten Mobs waren eine Folge von Aberglauben und religiöser Verblendung, wogegen Kellermann in seinem gesamten Werk kämpfte und stattdessen Liberalität, Freiheit und rationale Wissenschaftlichkeit einforderte. Ohne den sich entladenden Hass auf die Konitzer Juden wäre er möglicherweise noch länger in der Stadt geblieben, wofür auch das Engagement in Vereinen spricht, die sich für die Arbeitsbedingungen der in der Provinz Beschäftigten einsetzten. Der Umzug nach Berlin war zudem eine Flucht nach vorn, verbunden mit der Hoffnung, dass sich so etwas wie in Konitz, Xanten oder Skurcz in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs nicht würde ereignen können. Während es in den nächsten Jahrzehnten bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein immer wieder zu Blutbeschuldigungen gegen Juden auf deutschem Boden kam, sollte Berlin tatsächlich eine der Städte sein, in der, bis auf eine Ausnahme 1896, dieser Vorwurf nicht erhoben wurde bzw. keine mediale Wirkung entfalten konnte. Den Stein, der Kellermann während der Krawalle ins Fenster geworfen wurde, nahm er mit und bewahrte ihn stets sichtbar auf seinem Schreibtisch, denn er „hatte ihn aus einer Gemeinschaft hinausbefördert, der er einst angehört hatte, und er erinnerte ihn stets daran, warum er jetzt in Berlin lebte“.139

137 Vgl. Nonn, Mörder, 51. 138 Smith, Schlachter, 14. 139 Ebd., 205.

II. Berlin

1. Rückkehr nach Berlin: Religionslehrer der jüdischen Gemeinde Kellermann verließ Mitte 1901 Konitz, als sich die Situation in der Stadt weitgehend beruhigt hatte. Er siedelte wieder nach Berlin über und bezog zunächst eine Wohnung in der Lessingstraße 24, die im Hansaviertel lag.1 Auch in der Hauptstadt war der „Fall Konitz“ angesichts der losgetretenen Prozesslawine noch in den folgenden Jahren aktuell und Kellermann wird in Gesprächen und Zeitungsartikeln regelmäßig mit den Vorfällen konfrontiert gewesen sein.2 „Die Erinnerung an den grausamen Mord respektive die Ritualmordbeschuldigung blieb lange lebendig, so registrierte die Öffentlichkeit neue Tatverdächtige oder Spuren noch Jahre später aufmerksam.“3 Nachdem 1903 die letzten Leichenteile Winters gefunden wurden, wurde der jüdische Schriftsetzer Levy im Kreis Schlochau von einer Gruppe angetrunkener Männer totgeschlagen; 1907 und 1911 füllten sich die Zeitungsspalten erneut mit Spekulationen über den Mörder, der jedoch nie gefunden wurde.4 1 Bericht über die Tätigkeit des Verbandsvorstandes [des Verbandes der jüdischen Lehrervereine] in den Jahren 1902–1904, Hamburg 1904, CJA, 1, 75 C Ve 3, Nr. 41, # 13114, Bl. 2–12, hier: Bl. 5. – Nur kurze Zeit später zieht er in die am Lützowufer gelegene Schillstr. 12. Dies geht hervor aus: 3. Jahresbericht der GFWDJ (1905), 6; Hermann Cohen an Benzion Kellermann, 16. 8. 1905, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. Kellermann ist jedoch mit keiner der beiden Adressen im Adressbuch für Berlin und seine Vororte 1905. Unter Benutzung amtlicher Quellen. Mit der Beigabe: Plan von Berlin und Umgebung, Bd. 1, Berlin 1905 sowie in den vorherigen Jahrgängen verzeichnet. 2 Eventuell besuchte er auch den mit „Konitz“ betitelten Vortrag, den der Vorsitzende des CV Maximilian Horwitz am 24. Oktober 1901 in der Berliner Philharmonie hielt und beteiligte sich an der sich anschließenden Diskussion als Augenzeuge der Vorgänge. Vgl. dazu Levy, Alphonse, Vereinsnachrichten, in: IDR 7/10 (1901), 560f, hier: 561. Abgedruckt ist der Vortrag in: Horwitz, M.[aximilian], „Konitz“. Vortrag, am 24. Oktober 1901 in der Versammlung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gehalten, in: IDR 7/11 (1901), 571–605. 3 Vogt, „Atmosphäre eines Narrenhauses“, 575. – Zu Levy im Folgenden: ebd. 4 Vgl. dazu die von offizieller Seite gesammelten regionalen und überregionalen Zeitungs-

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Berlin

Die jüdische Gemeinde Berlins hatte „Dr. B. Kellermann aus Konitz als Dirigent der IV. Religionsschule“5 berufen, der das Amt an der zuvor von dem Seminarlehrer Jakob Marcuse geführten Einrichtung am 1. August 1901 antrat.6 Das Schulgebäude befand sich seit der Gründung am 1. Oktober 1895 in der Gerhardstraße 4–5 in Berlin-Moabit, bevor am 15. Oktober 1910 das in der Nähe gelegene neue Haus in der Bochumer Straße 8 bezogen wurde.7

1.1 Rektor und Lehrer an jüdischen Schulen Neben der Moabiter Schule besaß die große jüdische Gemeinde über die ganze Stadt verteilt weitere Religionsschulen, an denen die Kinder die Grundlagen des Judentums lernten. Neben den vier offiziellen, gab es 1901 noch weitere, häufig traditionell geprägte Schulen, die in privater Trägerschaft waren, etwa in der Hand des „Synagogen-Vereins Moabit“, des Synagogenvereins „Beth Zion“ oder der autonomen orthodoxen Gemeinschaft „Adass Jisroel“, die schon seit 1869 eine eigene Schule für Jungen und Mädchen betrieb.8 Diese Anstalten standen nicht unter der Aufsicht der Gemeindeverwaltung, wurden von ihr aber subventioniert. Die Gründe für den Besuch der Religionsschule waren vielfältig. Zum einen wurde an ihr mit der Unterweisung in der biblischen Geschichte und jüdischen Religion begonnen, falls die Kinder auf eine staatliche Schule gingen, an der kein jüdischer Religionsunterricht erteilt wurde. Zum anderen konnten bereits bestehende Kenntnisse vertieft werden, wenn es an den staatlichen Schulen den Religionsunterricht gab oder die Kinder eine jüdische Volks- oder höhere Schule besuchten, in der der Religionsunterricht obligatorisch war. Ferner war es auch möglich, an den Religionsschulen nur Hebräisch zu lernen, wenn die Schüler an ihrer eigentlichen Schule den Religionsunterricht erhielten, der in weitesten Teilen dem an den Religionsschulen entsprach. Der auf die Bar Mitzwa, in ei-

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ausschnitte in der Überlieferung der Regierung von Marienwerder: GStA PK, XIV. HA, Rep. 181, Nr. 31591, Bl. 62–75. BLWJ 20 (1902), 7. Kellermann, Benzion, IV. Religionsschule der jüdischen Gemeinde, NW., Gerhardstr. 4–5. Bericht, erstattet von dem Leiter der Anstalt Rabbiner Dr. Kellermann, in: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil II: Die Religionsschulen, Berlin 1907, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 128, # 357, Bl. 51–55, hier : Bl. 54 (im Folgenden: Kellermann, IV. Religionsschule). Gründungsjahr nach: ebd., Bl. 54. Zum Umzug 1910: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil II: Die Religionsschulen, Berlin 1914, 72. Vgl. Sinasohn, Die Berliner Privatsynagogen.

Rückkehr nach Berlin: Religionslehrer der jüdischen Gemeinde

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nigen Fällen auch auf die Bat Mitzwa, hinführende Unterricht kann in etwa mit dem christlichen Konfirmandenunterricht verglichen werden. Aus den Verwaltungsberichten der Berliner Gemeinde lässt sich ersehen, dass das jüdische Schulwesen parallel zum demografischen Anstieg der jüdischen Bevölkerung in Berlin und Umgebung seit den 1890er Jahren stark ausgebaut wurde.9 Trug die Gemeinde die Kosten für das jüdische Schulwesen zunächst allein und war dabei auf Spenden angewiesen, verbesserten sich die finanziellen Bedingungen in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts. Denn mit dem am 28. Juli 1906 vom Kultusministerium erlassenen „Volksschulunterhaltungsgesetz“ konnte die Gemeinde den Unterricht unterstützende Zahlungen der jeweiligen Kommune in Anspruch nehmen. Ferner schuf das Gesetz neue Handlungsmöglichkeiten, indem die jüdische Gemeinde nun bei mindestens 20 jüdischen Kindern in einem Bezirk eine Interessenvertretung in die zuständigen Schuldeputationen bzw. Schulvorstände entsenden konnte.10 Es wurden in der Folge nicht nur immer mehr Religionsschulen gegründet – existierten bis 1901 vier offizielle Religionsschulen, waren es drei Jahre später acht und 1916 insgesamt 14 –,11 sondern es wurde auch vermehrt jüdischer Religionsunterricht an nichtjüdischen Volksschulen, höheren Lehranstalten und Gymnasien erteilt. Trotz dieser Fortschritte darf nicht übersehen werden, dass sich die Toleranz der preußischen Beamten den Juden gegenüber in Grenzen hielt und es weiterhin Schikanen gab. Obwohl die Vorschriften erlassen waren, wurde die Einführung des Religionsunterrichtes an etlichen staatlichen Schulen absichtlich verzögert, die finanziellen Unterstützungen waren häufig mit unnötigen Diskussionen verbunden und ein dauerndes Problem stellte der Hebräischunterricht dar, der für die öffentlichen Schulen mit Verweis auf deren christlichen Charakter rundweg abgelehnt wurde. Kellermann übernahm die IV. Religionsschule mit 147 Kindern, die in der Zukunft wie die anderen unter der Verwaltung der Berliner Gemeinde stehenden Schulen einen regen Zuwachs erfuhr. In den folgenden Jahren lernten dort immer um die 200, im Winterhalbjahr 1911/12 sogar 257 Kinder.12 Als Dirigent der Anstalt stand ihm ein Jahresgehalt von etwa 1000 Mark zu, das dann 1906 von der Jüdischen Gemeinde verdoppelt wurde.13 An der Schule waren bei seinem 9 Die erhaltenen gebliebenen Verwaltungsberichte für die Jahre 1873–1916 finden sich im CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 1–172. 10 Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1907 bis 31. März 1910, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 88–91, hier : Bl. 90. 11 Bericht über die Schulen der jüdischen Gemeinde zu Berlin für die Jahre 1901–1904, Oktober 1904, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3/1, # 14211, Bl. 15 und GJB 6/10 (1916), 122. 12 Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1910 bis 31. März 1913, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 100–109, Bl. 103. 13 Es hat sich diesbezüglich kein Arbeitsvertrag Kellermanns erhalten. Da aber die Religionsschuldirigenten in ihren Rechten, Pflichten und Gehältern gleichberechtigt waren,

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Amtsantritt zunächst noch vier weitere Lehrer angestellt, unter ihnen auch Joseph Lehmann, der erst mit seiner Berufung zum Prediger der „Jüdischen Reformgemeinde“ die Schule verließ. Ferner unterrichtete hier der für das Reformjudentum im Allgemeinen und für die liberaljüdische Bildungsarbeit in Berlin im Besonderen bedeutend werdende Robert Hirschfeld. Bis 1906 hatte sich die Klassenstärke auf 13 erhöht, weshalb noch ein zusätzlicher Lehrer und eine Lehrerin eingestellt worden waren.14 Gegenüber den christlichen und staatlichen Schulen hatte die Gemeindeverwaltung für alle jüdischen Einrichtungen eine Dienstanweisung erlassen, nach der es verboten war, die Schüler zu schlagen.15 Inwieweit sich die Lehrer an diese Aufforderung hielten, kann zwar nicht nachgewiesen werden, jedoch ist es bemerkenswert, dass in jener Zeit überhaupt ein offizieller Beschluss die Züchtigung verbot. Der Unterricht an der IV. Religionsschule fand gegen eine Quartalsgebühr von 3 Mark zweimal in der Woche mittwochs und sonntags für die Jungen und dienstags und samstags für die Mädchen statt.16 Den regulären 13 Klassen wurden kurz nach Übernahme der Schule durch Kellermann noch je zwei Fortbildungskurse für die Jungen und Mädchen an die Seite gestellt, die er und Lehmann abhielten und Themen wie „Ethik des Judentums“ behandelten.17 Die Kurse hatten „die Aufgabe, Schüler und Schülerinnen, auch nachdem sie die Schule bereits absolviert haben, in den Gegenständen der jüdischen Religion weiterzubilden.“18 War es zuvor üblich, den Unterricht an der Religionsschule mit der Bar Mitzwa zu beenden, konnten interessierte Schüler nun die bisherigen Kenntnisse ausbauen und ein Niveau erlangen, das dem des Religionsunterrichts der

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können zwei Briefe des Vorstandes der jüdischen Gemeinde an Ismar Elbogen, der neben der Dozentur an der HWJ auch die VIII. Religionsschule in Schöneberg dirigierte, als Vergleichsgröße dienen: [Julius] Jacoby an Ismar Elbogen, 11. 11. 1903, LBI New York, AR 64, Box 1, Folder 30, 2 Bl., hier : Bl. 1; [Julius] Jacoby an Ismar Elbogen, 11. 2. 1906, LBI New York, AR 64, Box 1, Folder 30, 1 Bl. In dem Brief von 1903 wird Elbogen ein Jahresgehalt von 1000 Mark zugesichert, in dem Brief von 1906 wird das Gehalt auf 2000 Mark verdoppelt. Kellermann, IV. Religionsschule, Bl. 51–55. Lehmanns Beschäftigung bis 1910 geht hervor aus: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil II: Die Religionsschulen, Berlin 1914, 72. Vgl. Fehrs, Jüdische Schulen in Berlin, 92. Bericht über die Schulen der jüdischen Gemeinde zu Berlin für die Jahre 1901–1904, Oktober 1904, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3/1, # 14211, Bl. 15. Zum Titel des Kurses für männliche Fortbildungsschüler im WS 1911/12: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil II: Die Religionsschulen, Berlin 1914, 19. Hierbei behandelte Kellermann zwei Stunden pro Woche „die Ethik des Judentums in systematischer und geschichtlicher Hinsicht“ (ebd., 67). Ebd. Unterrichtet wurden die Fortbildungsschüler in Religionslehre, Geschichte und Hebräisch (Kellermann, IV. Religionsschule, Bl. 53).

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oberen Klassen an den höheren Schulen und Gymnasien entsprach. Sachs zufolge hätten seine beiden Freunde mit ihren Kursen einen „ganz neue[n] Weg zur Verbesserung und Vertiefung des Religionsunterrichts“ eingeschlagen19 und damit „ganze Jahrgänge zum Verständnis jüdischer Religionswissenschaft herangebildet“20. Für Kellermann sei es Julius Stern zufolge eine Herzensangelegenheit gewesen, „den Erwachsenen die reichen Früchte seines Studiums zu übermitteln“.21 Neben den Fortbildungskursen und dem regulären Unterricht erhielten die Jungen ab zehn Jahren separat eine Stunde pro Woche Bar Mitzwa-Unterricht, der „die Grundlehren der jüdischen Religion in systematischer Weise behandeln [sollte]“.22 Sie wurde in liberalen Kreisen auch „Einsegnung“ oder nach protestantischem Vorbild Konfirmation genannt. Obwohl die Mädchen an seiner Schule aus unbekannten Gründen nicht auf die Bat Mitzwa vorbereitet wurden, richtete Kellermann als Direktor die Bildungseinrichtung an einem progressiven Profil aus, was sich sowohl durch die Auswahl der Lehrer als auch durch den behandelten Stoff belegen lässt. Die Kinder erhielten im regulären Schulbetrieb zwei Stunden wöchentlich Unterricht in biblischer und jüdischer Geschichte sowie in der Bibelkunde. Dabei wurde der biblische Textkorpus anhand der großen geschichtlichen Linien von der Schöpfungserzählung über David bis hin zu Elias Bedeutung durch „seine Betonung der sittlichen Seite des israelitischen Gottesbegriffs“, das babylonische Exil und die Rückkehr nach Juda behandelt. Ferner wurde die Zeit der Römerherrschaft besprochen, die beginnende Kanonisierung der mündlichen Tora, die „Juden in Spanien mit ihren hervorragenden poetischen und religionswissenschaftlichen Schöpfungen“ und das deutsche Judentum bis zur Entstehung der „Wissenschaft des Judentums“ im 19. Jahrhundert.23 Im Unterricht arbeiteten die Schüler mit den Auerbachschen Biblischen Erzählungen und dem Handbuch der israelitischen Geschichte von Meyer Kayserling. Für die nachbiblische Geschichte wurde Ludwig Geigers Biografie Abraham Geiger und Ismar Freunds Emanzipation der Juden in Preußen verwendet. Die Pädagogen bereiteten ihre Stunden auch mit Karl Buddes Hiobkommentar, Julius Wellhausens Kleine Propheten oder Hermann Gunkels Genesiskommentar vor und griffen für die nachbiblische Zeit auf Eduard Meyers

19 Sachs, Aus der Jugendzeit …, 9. 20 Ders., Kellermann zum Gedenken. 21 Julius Stern an Thekla Kellermann, 24. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier : Bl. 1. Stern war 1923 Vorstandsvorsitzender der jüdischen Gemeinde Berlins. 22 Kellermann, IV. Religionsschule, Bl. 53. 23 Ebd., Bl. 52.

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Geschichte Israels, Otto Pfleiderers Urchristentum und Emil Schürers Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu zurück.24 In Kellermanns Augen war, wie sich in der Diskussion mit Benno Jacob zeigte, die Verwendung von Literatur protestantischer Alttestamentler weitgehend unproblematisch, da die Wissenschaft des Judentums ihr in der historischkritischen Erforschung des Textes viel zu verdanken habe und auch seine eigenen Arbeiten an vielen Stellen von ihr profitierte. Auf der anderen Seite forderte er selbstbewusst Gleichberechtigung und dies bedeutete, dass auch die christlichen Alttestamentler die Forschungsergebnisse der jüdischen Wissenschaftler ernst zu nehmen hätten, da nur in dieser Zusammenarbeit die „wissenschaftlich-objektive“ Exegese zu erreichen sei, die er 1898 in „Bibel und Wissenschaft“ und darüber hinaus immer wieder eingefordert hatte. Neben dem historischen Teil, wurden die Schüler und Schülerinnen weitere zwei Stunden pro Woche im Hebräischen und eine halbe im Fach „Liturgischer Gesang“ unterrichtet, wofür das nach reformiertem Ritus gestaltete Gebetbuch (Siddur) der Neuen Synagoge benutzt wurde. Ferner wurde noch eine Stunde wöchentlich „Religionslehre“ durch Kellermann und Lehmann erteilt. Teilnehmen konnten jedoch nur die Schülerinnen und Schüler der obersten Mädchenund Jungenklasse im Alter von dreizehn bis vierzehn Jahren sowie die jungen Erwachsenen aus den Fortbildungskursen. Dies lag in dem Niveau der behandelten Gegenstände begründet, die sich wie eine konzentrierte Form des Kellermannschen Forschungsprogramms lesen lassen: „Die psychologischen Grundlagen der Religion“; „Geschichtliche Darstellung der religiösen und ethischen Ideen des prophetischen, talmudischen und philosophischen Judentums“; „Systematische Entwicklung der prophetischen Religion“ in den einzelnen Abschnitten „Die Messiasidee als Zielbegriff der Humanität“, „Der universalistische Charakter des prophetischen Gottesbegriffs“ und „Priester und Propheten (Kultus und Moral)“.25 Kellermann selbst unterrichtete nur in den Fortbildungskursen und in der „Religionslehre“ und benannte seine Kurse etwa „Ethik des Idealismus“ und „Geschichte der Ethik m.[it] besonderer Berücksichtigung des Prophetismus“.26 Im Juni 1905 hielt er den Vortrag „Zur Reform des Religionsunterrichts an höheren Schulen“, der bald darauf in der AZJ publiziert wurde. Hier beschrieb er den Prophetismus, also die Ideen und Gedankenwelt der alttestamentlichen Gotteskünder, als die größte Leistung des Judentums und alle „weiteren religiösen Gebilde der jüdischen Gemeinschaft, das exilische, talmudische und 24 Vgl. ebd., Bl. 53 u. 55 sowie Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil II: Die Religionsschulen, Berlin 1914, 56 u. 90. 25 Ebd., Bl. 51–53. 26 Ebd.

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philosophische Judentum […] müssen vom Standpunkte des Prophetismus aus gewürdigt werden.“27 Dies gelte auch bei der „Beurteilung der anderen Religionen: Immer und immer wieder bildet der Prophetismus den Zielpunkt und Ausgangspunkt der Betrachtungen.“ Auch mit anderen Vorträgen in der „Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin“ mischte er sich in die zu jener Zeit zwischen orthodoxen und liberalen Kräften innerhalb der jüdischen Gemeinde Berlins leidenschaftlich geführte öffentliche Diskussion um den Inhalt und Aufbau des jüdischen Religionsunterrichts ein. 1901 referierte er über „Einige Fragen des systematischen Religions-Unterrichtes“, 1904 über „Das Religionsbuch von Groß“ und „Fortbildung des jüdischen Lehrers auf dem Gebiete der Religionswissenschaften“ und trat hier für eine Reformierung des Unterrichts im Sinne des liberalen Judentums ein, wie er sie an seiner eigenen Religionsschule durchführte.28 Kellermann hatte als Direktor einen starken Einfluss auf den Lehrplan und konzentrierte diesen in Zusammenarbeit mit seinen ebenfalls liberal gesinnten Kollegen auf die ethischen Gehalte der jüdischen Religion. An seiner Schule wurde auch die noch relativ neue vergleichende Religionsgeschichte in den Unterricht eingebettet, die er in Marburg und bei Martin Schreiner erlernt hatte.29 Möglich war diese Planungsfreiheit, weil es 1901, als Kellermann die Schule übernahm, zwar schon einen Lehrplan für alle jüdischen Volksschulen in Berlin und Umgebung gab, eine solche verbindliche Zusammenstellung für die Religionsschulen aber fehlte. Erst 1912 wurde der Lehrplan für die Religionsschulen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin erlassen, der sich aber nicht allzu sehr von den Kursen in Kellermanns Schule unterschied.30 Von nun an musste der Unterricht in allen Schulen dem ausgegebenen Lehrplan entsprechen, wodurch das jüdische Religionsschulwesen in der Stadt zentralisiert wurde. Am Ende eines jeden Halbjahres wurden die Schüler und Schülerinnen in den einzelnen Fächern geprüft und bekamen ein von Direktor Kellermann unterschriebenes Zeugnis.31 Die 27 Kellermann, Benzion, Zur Reform des Religionsunterrichts an höheren Schulen, in: AZJ Nr. 42 vom 20. 10. 1905, 496–498, hier : 497. Folgendes Zitat: ebd. – Den Vortrag hielt er am 17. 6. 1905: o. Verf., Festschrift der Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin, 27. 28 Vgl. zu den Vorträgen am 2. 11. 1901, 19. 11. 1904 und 3. 12. 1904: o. Verf., Festschrift der Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin, 22 u. 26. 29 Vgl. Kellermann, Reform des Religionsunterrichts, 497. 30 Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (Hg.), Lehrplan für die Religionsschulen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Berlin 1912. 31 Schulordnung [für Religionsschulen], in: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil II: Die Religionsschulen, Berlin 1907, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 128, # 357, Bl. 86.

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besten Absolventen eines jeden Semesters erhielten als Anreiz Prämien in Form von Büchern, unter anderem Über Juden und Judentum von Steinthal oder die Saronsrosen von Hirschfeld.32 Kellermann kümmerte sich neben seinen vier Stunden Lehrtätigkeit pro Woche um die Kommunikation mit dem Berliner Magistrat und der jüdischen Gemeinde. Er verwaltete die Finanzen der Schule, die sich aus den Quartalsgebühren sowie den Subventionen der Gemeinde und der Kommune zusammensetzten. Zudem kontrollierte er den reibungslosen Ablauf des Schulalltags und sorgte für die regelmäßigen Inspektionen der Schule durch Mitglieder des „Schul- und Talmud-Torah-Vorstandes“, einer Kommission der Gemeinde, die für jedwede Belange aller jüdischen Bildungseinrichtungen in der Hauptstadt verantwortlich zeichnete und über einen großen Etat verfügte.33 Hans Sachs urteilte in seinem Nachruf, dass das verantwortungsvolle und für die eigene liberale Überzeugung einstehende Handeln Kellermanns „der Schule im Moabiter Stadtteil zu hoher Blüte verholfen [habe]“.34 Neben der Leitung der IV. Religionsschule unterrichtete Kellermann von Oktober 1901 bis September 1917 an der jüdischen Gemeindeknabenschule Religion, biblische und jüdische Geschichte sowie Hebräisch.35 Die 1826 eröffnete und einige Jahre von Leopold Zunz dirigierte Schule war zunächst in der Rosenstraße 12 untergebracht, bevor sie 1863 in die Große Hamburger Straße 27 umzog, in der sie sich bis zu der gewaltsamen Schließung 1942 befand.36 Zu Beginn von Kellermanns Wirken wurde die Mittelschule seit 19 Jahren von dem promovierten Lehrer Michael Holzmann geleitet, der eine dezidiert libe-

32 Vgl. Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil II: Die Religionsschulen, Berlin 1914, 97. – Steinthal, Heymann, Über Juden und Judentum. Vorträge und Aufsätze, hg. v. Karpeles, Gustav, SGFWJB, Berlin 1906; Hirschfeld, Robert (Hg.), Saronsrosen. Erzählungen und Gedichte für die reifere jüdische Jugend, 1903. 33 Vgl. o. Verf., Was wollen – was erreichen die Liberalen, in: MLVAJGB 14 (1901), CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 276, # 506, Bl. 82–86, hier : Bl. 84. Für die Jahre 1907/08 verfügte die zwölfköpfige Kommission über 266 263 Reichsmark, um die jüdischen öffentlichen Schulen und Religionsschulen zu subventionieren (Vorstand des Liberalen Vereins für die Angelegenheiten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (Hg.), Mitteilungen über die Verwaltung der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Berlin 1907, CJA, 1,75 A Be 2, Nr. 277, # 507, Bl. 2–15, hier : Bl. 11). 34 Sachs, Kellermann zum Gedenken. 35 Zum Beginn der Anstellung: Knabenschule, in: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil I: Knabenschule […], Berlin 1907, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 128, # 357, Bl. 3–14, hier : Bl. 3f. Zum Ende des Dienstverhältnisses: Chronik der Knabenschule, 1902–1905 & 1913–1927, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 210, # 439, Bl. 12. 36 Vgl. Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 7–100; Fehrs, Jüdische Schulen in Berlin, 101–110. – Seit 1993 ist hier die Jüdische Oberschule angesiedelt, an der sowohl jüdische als auch nichtjüdische Jugendliche ihr Abitur erlangen können.

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raljüdische Orientierung vertrat.37 Der Direktor wollte in seiner Anstalt „Deutsche jüdischen Glaubens“ heranbilden, die in ihrer Liebe zum Vaterland die besten Elemente deutscher und jüdischer Kultur zu einem umfassenden Humanismus miteinander verbinden sollten.38 An der Knabenschule war Kellermann wie sein Kollege Galliner in den nächsten Jahren zunächst nur unbefristet angestellt und bezog kein festes Gehalt. Mit dem „Stundenhonorar“ wurde er nur für die jeweilig erteilten Stunden bezahlt und kam auf einen jährlichen Verdienst von etwa 1000 bis 1200 Mark.39 Trotz der Vermehrung des Religionsunterrichts an Religionsschulen, jüdischen Volks- und staatlichen Schulen seit den 1890er Jahren, wurde kein fester Religionslehrerstand geschaffen, sondern viele Pädagogen eingestellt, die an verschiedenen Schulen der Stadt jeweils wenige Stunden erteilten. Laut einer Statistik für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg betrug die Differenz zwischen dem Gehalt eines fest und eines nicht fest angestellten Lehrers nach zwölf Dienstjahren 600 Mark, nach 28 Dienstjahren gar 2200 Mark. Die befristet angestellten Lehrer konnten zudem nach einer Frist von sechs Wochen gekündigt werden und hatten keinen rechtlichen Anspruch auf eine Pension oder Versorgung der Hinterbliebenen im Todesfall.40 Gegen diese Form der Anstellung und Bezahlung erhoben die „Wissenschaftliche Vereinigung jüdischer Lehrer und Lehrerinnen zu Berlin“ und der „Verein jüdischer Lehrer der Provinz Brandenburg“ Einspruch. Kellermann kannte die Verhältnisse jüdischer Pädagogen und Wanderlehrer schon aus seiner Zeit in Marburg, Frankfurt, Konitz und nun auch Berlin, und entschloss sich zwischen 1906 und 1907, Mitglied in beiden Organisationen zu werden, in denen auch gegenwärtige und spätere Kollegen wie Hirschfeld, Galliner und Benno Gottschalk aktiv waren.41 Die Vereinigung übte Druck bei der Gemeindever-

37 Vgl. zu seiner Amtszeit: Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 77–90; GJB 11/1 (1921), 3. 38 Holzmann, Michael, Rede vom 26. 11. 1906. Zit. n. Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 79. 39 Da Kellermanns Verdienst erst ab 1910 genau belegt ist, dient als Vergleichsgröße der Religionslehrer Dr. Kirschstein. Er wird in einem Etatplan für 1901–1904 nicht unter die Liste „Gehälter“ gerechnet, sondern unter „Stundenhonorar“. Er kam jährlich auf einen Verdienst von 1200 Mark (Etat der Knabenschule pro April 1901 bis 31. März 1904, 1901, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 129, # 358, Bl. 40f, hier: Bl. 40). 40 Denkschrift über eine einheitliche Organisation des gesamten Religionsunterrichts in GrossBerlin und die feste Anstellung der jüdischen Religionslehrkräfte. Überreicht von der Vertrauensmänner-Kommission der Religionslehrerschaft, Berlin 1919, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 7, # 230, Bl. 153–160, hier : Bl. 155f. 41 Bericht über die Tätigkeit des Verbandsvorstandes [des Verbandes der jüdischen Lehrervereine im Deutschen Reiche] in den Jahren 1905–1907, Hamburg 1907, CJA, 1, 75 C Ve 3, Nr. 5, #13078, Bl. 117–131, hier : Bl. 124. Kellermann kann nur in diesem Zeitraum eingetreten sein, denn die angegebene Adresse „Wichmannstr. 2“ bezog er erst 1906 (Königliches

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waltung aus und konnte hin und wieder Erfolge verbuchen: So gab es etwa 1907 für alle Lehrer und Lehrerinnen an der jüdischen Knaben- und Mädchenschule eine „Aufbesserung der Bezüge“,42 von der auch Kellermann profitierte. Definitiv angestellt wurde er von der jüdischen Gemeinde jedoch erst im Schuljahr 1911/12,43 wodurch er nun in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis stand, sich das feste Jahresgehalt auf 3600 Mark erhöhte44 und er Ansprüche auf eine Pension und Hinterbliebenenversorgung hatte. An der Gemeindeknabenschule erteilte Kellermann in der Oberstufe zwei bis drei Klassen Unterricht in Hebräisch und Religion, was die biblische und nachbiblische Geschichte einschloss.45 Dem Lehrplan zufolge umfasste der Unterricht im Hebräischen vier Stunden wöchentlich Lesen und Übersetzen aus dem Siddur, den Psalmen, Büchern des Pentateuchs sowie von Teilen der Gebete zu Neujahr und Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Im zweistündigen Religionsunterricht konnte er sich seinem Forschungsprogramm entsprechend der „[e]ingehende[n] Behandlung der Propheten“, der „Entwicklung der prophetischen Gedanken“ und „Bilder[n] aus der jüdischen Geschichte bis zum Abschluss des Talmuds“ widmen.46 Die liberale Einstellung teilte Kellermann mit Direktor Holzmann. Das betraf nicht nur die an Pestalozzi geschulten pädagogischen Methoden47, sondern auch die Ansichten über Inhalt und Funktion der jüdischen Religion. Holzmann zufolge sollten die Schüler „sich als verständnisvolle und treue Glieder der jüdischen Glaubensgemeinschaft erweisen, die sich der Sendung des Judentums als eines Mittels der Weltkultur bewußt sind und die Lehren seiner Propheten, dieser Sachwalter der reinsten Sittlichkeit, betätigen“. Solche Töne schlug stets auch Kellermann in seinem religionsphilosophischen Gesamtwerk an, wenn er

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Polizeipräsidium (Einwohner-Meldeamt), Meldebescheinigung für Benzion Kellermann, 13. 3. 1909, StadtA Warburg, PS 0012) und der Tätigkeitsbericht endet mit dem Jahr 1907. Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1907 bis 31. März 1910, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 88–91, hier : Bl. 91. Bericht über die jüdische Gemeinde zu Berlin [Januar] 1915, Berlin 1915, CJA, 1, 75 E, Nr. 16, # 14315, Bl. 1–15, hier. Bl. 8. Unter den anderen „definitiv angestellten Religionslehrern“ waren auch die langjährigen Kollegen Hirschfeld und Galliner. Spezialetat 12. Knabenschule für 1910/12, 1910, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 129, # 358, Bl. 89–91, hier : Bl. 89. Knabenschule, in: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil I: Knabenschule […], Berlin 1907, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 128, # 357, Bl. 3–14, hier : Bl. 3f; Knabenschule, in: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil I: Knabenschule […], Berlin 1914, 1–22, hier : 2f. Knabenschule, in: Vorstand der jüdischen Gemeinde (Hg.), Bericht über die Lehranstalten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Teil I: Knabenschule […], Berlin 1907, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 128, # 357, Bl. 6. Vgl. Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 80. – Folgendes Zitat aus der Holzmannschen Rede vom 26. 11. 1906: ebd., 79.

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von dem Judentum, das sich an den Propheten ausrichten solle, die Humanisierung der Menschheit forderte. Der kritische Idealismus im Anschluss an Kant galt ihm wie auch Holzmann als Blüte der deutschen Kultur und lasse sich in ihren Augen hervorragend mit dem „ethischen Monotheismus“ des Judentums verbinden, da in beiderlei Denken die Sittlichkeit das Zentrum bilden würde. Holzmann gab im April 1911 sein Amt auf, woraufhin der ehemalige Leiter der jüdischen Mädchenmittelschule Joseph Gutmann ihm als Dirigent der größten jüdischen Schule Berlins nachfolgte. Beherbergte die Einrichtung 1829 nur 4 Klassen mit 64 Schülern, waren es 1899 schon 13 Klassen mit 611 Jungen.48 Der Beginn seiner Amtszeit stand ganz im Zeichen der Anpassung der Anstalt an die vom Kultusministerium am 3. Februar 1910 erlassenen Bestimmungen für die Mittelschulen. Es sollte eine Schule organisiert werden, die zwischen der nur elementare Kenntnisse vermittelnden Volksschule und dem auf ein Studium hinführenden Gymnasium angesiedelt war. Sie sollte also auf einen praktischen Beruf im Handwerk, im Kunstgewerbe, in der Industrie oder im Handel vorbereiten, weshalb in dem neuen Stundenplan ab 1913 die profanen Fächer wie Deutsch, Französisch und Naturkunde noch breiteren Raum einnahmen.49 Zudem gab es Rechnen, Geometrie und Geschichte und wurde der Unterricht in Englisch fakultativ eingeführt, da die dominante Rolle dieser Handelssprache zunehmend erkannt wurde. Um die Schüler nicht zu überlasten, wurde ab 1919 die Klassenstärke um eine neunte Klasse erweitert. Die Anstalt blieb trotz der einschneidenden Veränderungen eine jüdische Bildungseinrichtung, in der der Unterricht in Hebräisch, Religion und biblischer Geschichte ernst genommen wurde und pro Klassenstufe durchschnittlich zwischen vier und fünf Wochenstunden betrug. In diesen Fächern lehrte Kellermann auch unter der Leitung von Gutmann bis 1917 und brachte viele Jahrgänge mit seinem liberalen Verständnis des Judentums in Berührung. Eine Woche nach Kellermanns Tod am 22. Juni 1923 übersandte der Rektor der Witwe das Kondolenzschreiben, in der er persönlich und im Namen des Lehrerkollegiums an dem „schweren Verluste“ Anteil nahm. Die Kollegen seien auf den „treuen Lehrer“ und „gedankenreichen Prediger“ „stolz“ gewesen und würden um den zu früh Dahingeschiedenen trauern.50 Gutmann schrieb zudem, dass Kellermann selbst „sich auch in unserer Mitte wohl gefühlt hat“.51 Die Aufkündigung des Dienstverhältnisses nach sechzehn Jahren lag demnach wohl in der zu starken Arbeitsbelastung ab 1917 begründet. Denn im Oktober dieses Jahres wurde Kellermann offiziell zum Rabbiner der jüdischen 48 Vgl. Fehrs, Jüdische Schulen in Berlin, 105. 49 Vgl. Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 91–95. 50 Joseph Gutmann an Thekla Kellermann, 2. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier : Bl. 1. Folgende Zitate: ebd. 51 Ebd., Bl. 2.

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Gemeinde Berlins berufen, dirigierte die VIII. Religionsschule im Stadtteil Schöneberg und war in über zwanzig Berliner Lazaretten als Seelsorger für verwundete jüdische Soldaten tätig. Damit blieb keine Zeit und auch keine Kraft mehr für den Dienst als ordentlich angestellter Religionslehrer. Zusätzlich zu den Verpflichtungen an der Knabenschule wurde Kellermann „ein wesentlicher Teil der Ausbildung“ jüdischer Religionslehrerinnen übertragen,52 die aus dreijährigen Fortbildungskursen bestand, die von der jüdischen Gemeinde organisiert wurden. Die Kurse waren in einem „Mangel an geeigneten weiblichen Lehrkräften“ an den jüdischen Bildungseinrichtungen in Berlin begründet.53 Durch sie sollten Absolventinnen der Berliner Universität, die nicht an der Jüdischen Lehrerbildungsanstalt studiert hatten, auf den Beruf der Religionslehrerin vorbereitet beziehungsweise es ermöglicht werden, dass für den Elementarunterricht ausgebildete Lehrerinnen sich für mittlere und höhere Klassen weiterqualifizieren konnten. Dazu benötigten sie zumeist noch weitere Hebräischkenntnisse und pädagogisch-didaktische und inhaltliche Spezialisierungen, die jene Sonderkurse vermittelten. Wurden die aus einem theoretischen und praktischen Teil bestehenden Prüfungen allesamt bestanden, wurden die Lehrerinnen in den Schuldienst aufgenommen und erteilten Religionsunterricht an jüdischen oder staatlichen Schulen.54 Es ist davon auszugehen, dass Kellermann in allen seinen Anstellungsverhältnissen die Schüler mit seiner Auffassung des prophetischen Judentums konfrontierte und auf das Denken und Handeln einiger einwirkte. In seinem Nachlass finden sich diesbezüglich Briefe von ehemaligen Schülern und Schülerinnen, die zwar nicht mehr einer bestimmten Religions- oder staatlichen Schule zugeordnet werden können, jedoch eine deutliche Sprache sprechen. So schrieb der zwischen August und September 1917 an der Front gestorbene Architekt und Angestellte der Berliner jüdischen Gemeinde, Max Welkanoz, seinem ehemaligen Lehrer während des Ersten Weltkrieges einen Brief, der fragmentarisch erhalten geblieben ist.55 In ihm teilte er Kellermann mit, dass er trotz des Krieges „an die Kraft des Guten in der Menschheit glauben kann, dass ich mit ruhiger Seele für mich selbst stehe und weiterschaue“. Dies verdanke er seinem „verehrten Lehrer, der unsere suchenden Seelen auf Höhen führte und schwindelfrei zu wandern uns lehrte, nicht auszuruhen in satter Gedankenbequemlichkeit – uns die schwere, freudige Aufgabe lehrte, immerdar Mensch zu 52 Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 3. Vgl. auch Sachs, Kellermann zum Gedenken. 53 Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1907 bis 31. März 1910, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 88–91, hier : Bl. 90. 54 Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1904 bis 31. März 1907, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 81–85, hier : Bl. 82. 55 Die Todesanzeige findet sich: GJB 7/9 (1917), 98.

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sein. Und nicht nur dies – lehrten Sie mich doch zuerst verborgene Schönheit zu sehen; so sah ich zum ersten Mal, dass ein kahler Baum schön sein kann, als Sie davon sprachen. Sie lehrten uns, Kämpfer sein und Schönheit suchen“.56 Die ehemalige Schülerin Rachela Holelez konnte ihrem Lehrer nicht mehr persönlich danken und holte dies in ihrem Kondolenzschreiben an dessen Witwe nach. Sie berichtete von einem faszinierenden und anregenden Unterricht Kellermanns, der den Schülern „als Lehrer und Mensch ein Typus von seltener Vollkommenheit bedeutete“57. Auch Jahre nach dem Schulabschluss war sie ihm für den „Reichtum des Denkens und Erkennens“ dankbar und erinnerte seine „Persönlichkeit als die eines ethisch Unerschütterlichen, [der] feste Wurzeln in unsere Gedanken und Gefühlswelt geschlagen hat“.58 Das schon bei Welkanoz vorhandene Motiv der suchenden Seele wird im Schreiben von Holelez ebenfalls ausdrücklich angesprochen: Viel verdanke sie ihm in der „Zeit stärksten geistigen und seelischen Suchens […] an Klarheit und dem Wunsche nach absoluter Wahrhaftigkeit“. Kellermann wurde von den ehemaligen Schülern als ein in seiner Gesinnung feststehender Mensch gezeichnet, der die Jugendlichen zu grenzüberschreitendem Denken anregte und dadurch Einfluss auf ihre Persönlichkeitsentwicklung nahm. Sie dankten ihm diese Anleitung in Zeiten des Erwachsenwerdens und erinnerten sich seiner mit großer Verehrung.59

1.2 Religionslehrer am Dorotheenstädtischen Realgymnasium Zu den jüdischen Bildungseinrichtungen kam die Arbeit an verschiedenen nichtjüdischen höheren Berliner Schulen hinzu. Seit 1903 wirkte Kellermann als Lehrer für jüdischen Religionsunterricht am Dorotheenstädtischen Realgymnasium und gehörte damit zu der langsam, aber stetig anwachsenden Gruppe von jüdischen Pädagogen an öffentlichen und christlich geprägten Schulen. Dennoch gab es, wie schon im 19. Jahrhundert, auf Seiten der Verwaltung immer 56 Max Welkanoz an Benzion Kellermann, undatiert (nach August 1914), LBI New York, AR 1197, 3. 57 Rachela Holelez an Thekla Kellermann, 2. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 3 Bl., hier : Bl. 1. 58 Ebd. Folgendes Zitat: ebd., Bl. 2. 59 In der „Benzion Kellermann Collection“ existieren noch zwei ähnliche Kondolenzbriefe. Henri Friedländer schrieb: „[…] seine [Kellermanns, T. L.] Stunden waren mir die liebsten der letzten Schuljahre und die menschlich wertvollsten; und die Notizen aus seinem Unterricht bilden fast das einzige Schulheft das ich immer wieder mit Freude und Dankbarkeit in die Hand nehme“ (Henri Friedlaender an Thekla Kellermann, 25. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier : Bl. 1). Gertraud Reiß spricht von einer „grosse[n] Dankesschuld“ ihrem Lehrer gegenüber (Gertraud Reiß an Thekla Kellermann, 2. 8. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier : Bl. 1).

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noch ein Unbehagen jüdischen Lehrern gegenüber. Während es für Religionslehrer meist unproblematisch war, an einer nichtjüdischen öffentlichen Schule angestellt zu werden, hatten es die jüdischen Elementarlehrer, die die Schüler in nahezu allen Disziplinen unterwiesen, schwerer, da sie angeblich den christlichkonfessionellen Charakter der Schulen gefährden würden. Wenn sie dann doch eine Anstellung bekamen, für deren Erhalt sie wie die christlichen Lehrer ein staatlich anerkanntes Volksschullehrerseminar besucht haben mussten, war es ihnen beispielsweise dennoch untersagt, Deutsch zu unterrichten. Denn „Juden galten nicht als zuverlässige Sozialisationsagenten, soweit es die Vermittlung christlich-abendländischer Kulturwerte und preußisch-deutscher Untertanentreue betraf.“60 Ferner durften sie keinen christlichen Religionsunterricht erteilen, was jedoch beiden Seiten keinen Anstoß zur Erregung bot. Das 1836 eröffnete Dorotheenstädtische Realgymnasium bot lange Zeit überhaupt keinen jüdischen Religionsunterricht an, obwohl die Anstalt auch eine hohe Anzahl jüdischer Schüler hatte. So gab es im Schuljahr 1896/1897 104 Schüler jüdischer Herkunft, die entweder den evangelischen Religionsunterricht oder zusätzlich eine jüdische Religionsschule besuchten.61 Die hohe Zahl entsprach dem allgemeinen Trend, denn Juden waren an allen königlichen und städtischen Gymnasien vertreten, „wo sie zumeist mehr als ein Drittel der Schülerschaft ausmachten“.62 Hierin zeigten sich die jüdischen „Integrationsbemühungen ins Bildungsbürgertum“, die mit dem Wunsch nach einem Universitätsstudium der Kinder oder einer gehobenen Ausbildung, etwa im kaufmännischen Bereich, einhergingen. Erst seit dem Wintersemester 1899/1900 wurde an dem Realgymnasium durch Alexander Neumann jüdischer Religionsunterricht erteilt,63 Kellermann nahm im Sommerhalbjahr 190364 seine Tätigkeit auf. Es ist wahrscheinlich, dass der ausgewiesene Lehrer von der jüdischen Gemeinde für diese Stelle vorgeschlagen wurde. Die Stadt hatte jedoch das Entscheidungsrecht und musste die Anstellung bewilligen.65 In den zwei Stunden, die Kellermann im Schuljahr 1903/ 1904 wöchentlich in jeweils sechs bzw. sieben Klassen der Oberstufe unterrichtete, wurden folgende Themen behandelt: Überblick der jüdischen Ge60 Vgl. Brämer, Der preußische Staat und das jüdische Elementarschulwesen in der Emanzipationszeit, 792f. Zitate: ebd., 792. Zum Folgenden: ebd. 61 Vgl. Schwalbe, B.[ernhard], Schulnachrichten, in: Jahres-Bericht über das Dorotheenstädtische Realgymnasium zu Berlin für das Schuljahr 1896–97, Berlin 1897, 25. 62 Fehrs, Jüdische Schulen in Berlin, 93. Folgendes Zitat: ebd. 63 Vgl. Schwalbe, B.[ernhard], Schulnachrichten, in: Jahres-Bericht über das Dorotheenstädtische Realgymnasium zu Berlin für das Schuljahr Ostern 1899–1900, Berlin 1900, 19. 64 Vgl. Ulbrich, [Oskar], Schulnachrichten, in: Jahres-Bericht über das Dorotheenstädtische Realgymnasium zu Berlin für das Schuljahr Ostern 1903–1904, Berlin 1904, 4–7. Zum Folgenden vgl. ebd., 19. 65 Vgl. generell zu diesem Vorgang: Fehrs, Jüdische Schulen in Berlin, 93.

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schichte bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels mit „[e]ingehendere[r] Berücksichtigung der Propheten“, „Grundzüge der allgemeinen Ethik mit besonderer Berücksichtigung der Ethik des Judentums“ oder „Kultus und Moral bei den Propheten“.66 Während Neumann in der Unter- und Mittelstufe neben geschichtlichen Überblicken in der Religionslehre vermehrt über Gebete, Feste oder den jüdischen Kalender las, dozierte Kellermann in den oberen Klassen über komplexere Gegenstände, die häufig seine eigenen wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkte widerspiegelten. Wenn er über den „Gottesbegriff der Propheten“ oder über „[d]ie Messiasidee in ihrer geschichtlichen Entwickelung“ sprach, dann waren dies auch zentrale Punkte seiner eigenen religionsphilosophischen Überlegungen. In diesem Zusammenhang forderte er in dem bereits erwähnten Aufsatz die „Reform des Religionsunterrichts an höheren Schulen“, dessen Qualität er weithin negativ beurteilte.67 Zum einen aus äußeren Gründen, weil im Gegensatz zum christlichen der jüdische Religionsunterricht ab dem vierzehnten Lebensjahr in der Schule nicht mehr obligatorisch sei und die fachlichen und didaktischen Qualifikationen der Lehrer nicht ausreichend geprüft würden. Zum anderen aus inneren Gründen, wie dem Aufbau und Inhalt des Unterrichts. Kellermann zufolge könnten die äußeren Probleme durch weitere Lehrerexamen und die Verpflichtung des jüdischen Religionsunterrichts bis zur letzten Klasse behoben werden, die inneren durch Umgestaltung des Lehrplans. In der Mittelstufe (Quarta–Obertertia) würde die biblische Geschichte bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels wiederholt, der sich dann in der Oberstufe (Untersekunda–Prima) die nachbiblische jüdische Geschichte und ein Einblick in die Religionslehre anschlössen. Kellermann schlug dagegen einen Lehrplan vor, den er in Teilen schon in seiner Religionsschule eingeführt hatte. Die biblische Geschichte solle in der Mittelstufe nicht wiederholt werden, stattdessen müsse dort „im Gewande rein historischer Darstellung eine ausführliche Behandlung des Prophetismus“ stattfinden. Die Auseinandersetzung mit den Ideen der Propheten solle auch in der Oberstufe bis zur letzten Klasse fortgesetzt werden, denn „Juda Hanassi oder Rab, oder Samuel, ja auch Raschi und ähnliche Persönlichkeiten wiegen nicht im mindesten die Bedeutung eines Amos, Hosea oder Jesaias auf.“ Neben dem Prophetismus, der „den Höhe- und Konzentrationspunkt des Religionsunterrichts bilden“ müsse, sollten noch zwei weitere Fächer gelehrt werden: Die vergleichende Religionsgeschichte, durch die „die Superiorität des prophetischen Judentums“ erwiesen werde, und die allgemeine Ethik inklusive 66 Vgl. Ulbrich, Schulnachrichten 1903–1904, 19. Zum Folgenden vgl. ebd. 67 Kellermann, Reform des Religionsunterrichts. Folgende Zitate: ebd., 497 (Hrvh. im Orig.).

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der damit verbundenen philosophischen Propädeutik. Bezüglich des letzteren Gegenstandes „muß gezeigt werden, daß die Ethik der Tat, wie sie im Judentum in all seinen geschichtlichen Phasen in Erscheinung tritt, eine weit höhere und gediegenere Ethik repräsentiere als das Christentum; es muß ferner gezeigt werden, wie mit der wahren wissenschaftlichen Ethik nur der Erlösungsgedanke der prophetischen Religion sich vereinbaren lasse.“68 Mit der Betonung der aus den prophetischen Ideen abgeleiteten jüdischen Ethik legte Kellermann den Jugendlichen am Realgymnasium eine liberaljüdische Perspektive vor, die dem Christentum gegenüber selbstbewusst auftrat. Bis zum Sommerhalbjahr 1905 blieb Neumann sein Kollege, die nächsten zwei Jahre war Kellermann allein für den jüdischen Unterricht verantwortlich. Neben der Oberstufe, in denen er jährlich dieselben Kurse gab, versorgte er auch die Mittel- und Unterstufe und hatte ein Arbeitspensum von insgesamt zwanzig Stunden pro Woche in zehn Klassen. Neben geschichtlichen Überblicken, Einführungen in prophetische Bücher und die Psalmen, lehrte er erneut über komplexe Gegenstände wie „Nationaler und universalistischer Prophetismus“, „Die Sittenlehre des Idealismus mit besonderer Berücksichtigung der prophetischen Ethik“ oder „Nationale und universale Strömungen im nachexilischen Judentum“.69 In seinem letzten Semester 1907/0870 wurde Robert Hirschfeld sein Kollege, mit dem Kellermann bereits an der IV. Religionsschule zusammenarbeitete. An dem Gymnasium versorgte Hirschfeld zunächst vor allem die Unterstufe,71 nach Kellermanns Weggang übernahm er den jüdischen Religionsunterricht allein. Beide engagierten sich für das liberale Judentum und die damit verbundene Jugendarbeit in Berlin.72 Hirschfeld wurde 1923 in die Repräsentantenversammlung aufgenommen, wo er neben anderen Reformgesinnten wie Gutmann, Türk oder Stern das liberale Projekt in der Berliner jüdischen Gemeinde orga-

68 Ebd., 498. 69 Ulbrich, [Oskar], Schulnachrichten, in: Jahres-Bericht über das Dorotheenstädtische Realgymnasium zu Berlin für das Schuljahr Ostern 1905–1906, 19. 70 In den Jahresberichten der Schule nach dem WS 1907/08 taucht Kellermann nicht mehr auf. Damit stimmt die Angabe bei Kössler, Kellermann nicht, der von einer Beschäftigung Kellermanns an der Schule zwischen 1903 und 1910 ausgeht. 71 Vgl. Ulbrich, [Oskar], Schulnachrichten, in: Jahres-Bericht über das Dorotheenstädtische Realgymnasium zu Berlin für das Schuljahr Ostern 1907–1908, Berlin 1908, 6f. 72 Zu Hirschfelds Rolle im „Jüdisch-liberalen Jugendverein zu Berlin“: Stern, Heinrich, Die Arbeitsgemeinschaft jüdisch-liberaler Jugendvereine Deutschlands, in: O. Hg., Jüdisch-Liberaler Jugendverein Abraham Geiger Breslau. Festschrift zum zehnjährigen Bestehen, Breslau 1923, 33–38, hier : 34: „Besonders dankbar gedenke ich an dieser Stelle meines Freundes Robert Hirschfeld in Berlin, der den fast auseinandergebrochenen Jugendverein [in Berlin] durch die schwierigste Zeit hindurch [im I. Weltkrieg, T. L.] allein führte und ihn aus völliger Stagnation wieder zu lebhafter Arbeit herausriß.“

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nisatorisch vertrat.73 Er hielt mit Kellermann sein Leben lang Kontakt und sprach im Juni 1923 im Namen der „Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Lehrer und Lehrerinnen zu Berlin“ auf dessen Begräbnisfeier.74

1.3 Familienleben Nach Kellermanns Rückkehr aus Konitz machte Joseph Lehmann den Freund und Kollegen mit seiner Schwester Thekla bekannt, die er dann 1909 heiratete. Sie kam am 11. August 1876 in der westfälischen Kleinstadt Warburg als Tochter des Kaufmanns Jakob Lehmann (1837–1921) und seiner Frau Amalie, geborene May (1842–1913), zur Welt.75 In der Stadt an der Diemel gab es ein wenig Industrie, ein Gymnasium, zudem mehrere katholische Kirchen und ein protestantisches Gotteshaus. Die Ansiedlung von Juden ist seit Mitte des 16. Jahrhunderts urkundlich belegt, seit dem 17. Jahrhundert ist ein eigener Friedhof und eine Synagoge mit angeschlossener jüdischer Schule nachweisbar.76 Jakob Lehmann hatte eine Versicherungsagentur und führte den von seinem Vater Eduard übernommenen Textilwaren- und Krämerladen in der Warburger Altstadt, der genügend Gewinn abwarf.77 Das Haus, in dem in der unteren Etage das Geschäft und das Büro untergebracht waren und oben die Familie wohnte, grenzte direkt an den Marktplatz und lag somit im Zentrum der Stadt. Die Lehmanns hatten sich, ohne je an die Taufe zu denken, akkulturiert und lebten als eine Familie des höheren Mittelstands ein bürgerliches Leben. Dies zeigt sich auch in der stark patriotischen Gesinnung von Jakob Lehmann, der 1864 auf preußischer Seite gegen Dänemark und zwei Jahre später gegen die österreichischen Truppen kämpfte.78 Auch im Krieg gegen Frankreich, dem sich die Gründung des Deutschen Kaiserreiches anschloss, gehörte er zu den preußischen Truppen, denn er wird in der offiziellen Liste der Warburger Kriegsheimkehrer von 1870/71 aufgeführt.79 Er nahm bis ins hohe Alter hinein an dem 73 Vgl. GJB 13/3–4 (1923), 20. 74 Vgl. GJB 13/5–7 (1923), 31. 75 Zum Vater : StadtA Warburg, Sterberegister Warburg 49/1921; zur Mutter: StadtA Warburg, Sterberegister Warburg 21/1913. Zu Thekla: Familien-Stammbuch für die Familie Benzion Kellermann zu Berlin (Kopie in Privatbesitz des Verf.), 4. 76 Vgl. Alicke, Klaus-Dieter, Art. Warburg (Nordrhein-Westfalen), in: LJGDS 3 (2008), 4301–4306, hier : 4301–4303. 77 Für das Geschäftsjahr 1887/88 ist überliefert, dass er einen Gehilfen, einen Zuschneider und sieben Schneider beschäftigte, was für einen mittelgroßen Betrieb spricht, der einige Angestellte aus Platzgründen auch ausgelagert haben muss. Vgl. dazu StadtA Warburg, D 1675. 78 Vgl. Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 1; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 4. 79 StadtA Warburg, D 0830.

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jährlichen Marsch der Kriegsveteranen teil80 und als der in der Stadtbevölkerung allseits respektierte Kaufmann 1882 verstarb, „nearly the whole town turned out to give him the last escort“.81 Für Mädchen aus bildungsbürgerlichen deutsch-jüdischen Familien war es im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich, eine Ausbildung an einer höheren säkularen Schule zu erlangen und so ging auch Thekla Lehmann auf die höhere Töchterschule in Warburg. Die Mädchenschulen, deren Besuch neun oder zehn Jahre umfasste, boten ein anderes Profil als die Gymnasien, auf die die Jungen geschickt wurden. Hatte dort vor allem der anschließende Besuch einer Universität oder eine wirtschaftliche Ausbildung Priorität, wurden die Schülerinnen an den Töchterschulen daraufhin ausgebildet, „kultiviert Konversation machen zu können“82, um den Haushalt und die Familie in angemessener Weise zu repräsentieren. „Im Vordergrund standen ethische und Herzensbildung.“ Wegen der Stellung des Vaters in der Stadt und des Wohlstands der Familie, ist davon auszugehen, dass auch die Geschwister eine adäquate höhere Ausbildung erhielten. Alle Kinder der Familie Lehmann besuchten zusätzlich den jüdischen Religionsunterricht, den der Gemeindelehrer Juda Oppenheim erteilte.83 Thekla Lehmann qualifizierte sich nach dem Abschluss der Warburger Schule zudem als Pädagogin.84 Wo sie ihre Ausbildung erhielt und welche Klassenstufen und Fächer sie unterrichtete ist jedoch nicht bekannt. Später unterrichtete sie einige Jahre in Hamburg, wo sie zwischen August 1906 und Oktober 1908 mit der Adresse Grindelhof 52 gemeldet war.85 Den Erinnerungen ihrer Söhne zufolge, hatte sie vor oder nach der Hamburger Zeit auch einige Jahre als „au pair“ in einer englischen Familie gearbeitet, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern.86 Theklas ältester Bruder Joseph stellte den Kontakt zu Kellermann her und die beiden über Dreißigjährigen hätten sich Hals über Kopf ineinander verliebt, was in einer Zeit, in der junge und arrangierte jüdische und christliche Ehen der Normalfall waren, etwas Außergewöhnliches darstellte.87 Kellermann war seinem Sohn zufolge ein großgewachsener, attraktiver Mann, der sich für das 80 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 1. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 5. Steer, Bertha Badt-Strauss, 38. Folgendes Zitat: ebd. Emil Herz an Henry Kellermann, 19. 4. 1965, USHMMA Washington, 2007.96, Box 22, Series 16, Folder 1, 1 Bl. Vgl. Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 2; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 5, 18. Polizeibehörde Hamburg (Meldeamt), Meldebescheinigung für Thekla Lehmann, 2. 3. 1909, StadtAWarburg, PS 0012. – Den Aufenthalt in Hamburg erwähnt auch: Kellermann, Henry J., Five Germanys, 5. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 18; Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 10. Zum Folgenden: ebd., 10f.

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Schwimmen und das Wandern begeisterte. Er liebte die Berge und durchstreifte oft mit seiner Familie die Natur. Durch den Schnurrbart in Kaiser-WilhelmManier und den Kneifer erweckte er einen strengen Eindruck, der aber getäuscht habe. Er sei ein freundlicher Mann gewesen, ausgestattet mit Sinn für Humor und einem „real belly laugh“. Nach der Verlobung im Herbst 1908, die auch in den intellektuellen jüdischen Kreisen Berlins vernommen wurde,88 beantragte Thekla Lehmann am 13. März des folgenden Jahres beim Standesamt in Warburg, wo sie zu diesem Zeitpunkt wieder bei ihren Eltern lebte, die Vermählung.89 Die Hochzeit fand dort im Kreise der Familie am 30. März 1909 statt.90 Als Trauzeugen waren sein Bruder Samuel aus Frankfurt und Theklas Schwester Johanna aus Wien ausgewählt wurden.91 Ferner ist davon auszugehen, dass seine Stiefmutter Blümchen und andere Geschwister aus Frankfurt in das nicht allzu weit entfernte Warburg kamen, um dem Festakt beizuwohnen. Nach der Hochzeit bezog das Paar eine Wohnung in der Knesebeckstraße 56–57 im gehobenen Charlottenburg,92 das erst 1920 Groß-Berlin als eigenständiger Bezirk eingemeindet wurde. Während er dort seine Manuskripte, Vorträge und Unterrichtsstunden vorbereitete, war seine Frau Thekla laut dem Familienstammbuch „ohne Beruf“, eine damals für Hausfrauen völlig übliche Bezeichnung.93 Sie versorgte den Haushalt und die zwei Kinder und hielt ihrem Mann den Rücken für seine Arbeit als Lehrer, Rabbiner und Wissenschaftler frei. Henry Kellermann fasste die häusliche Ordnung mit einem Augenzwinkern so zusammen: „Father was the head of the family – there was no doubt about that; but mother was the manager“94. Thekla engagierte sich ferner ehrenamtlich in Religionsklassen, in denen Nichtjuden zur jüdischen Religion konvertierten und war als überzeugte Feministin in der Frauenbewegung tätig.95 Dies verband sie mit ihrem Mann, der gegenüber der zu Beginn des 88 Ismar Elbogen an Abraham S. Yahuda, 12. 10. 1908, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.16, File 702, 1 Bl.: „Das Neueste ist, dass Kellerm.[ann] mit Lehm[ann]’s Schwester verlobt ist.“ 89 Thekla Lehmann, Beantragung des Aufgebots der Eheschließung mit Benzion Kellermann, 13. 3. 1909, StadtA Warburg, PS 0012. 90 Die Vermählung am 30. 3. 1909 belegen: Familien-Stammbuch für die Familie Benzion Kellermann zu Berlin (Kopie in Privatbesitz), 4; StadtAWarburg, Heiratsregister Nr. 5/1909. 91 StadtA Warburg, Heiratsregister Nr. 5/1909. 92 Der erste Eintrag im Berliner Adressbuch findet sich in: Adressbuch für Berlin und seine Vororte 1909. Unter Benutzung amtlicher Quellen. Mit der Beigabe: Großer Verkehrs-Plan von Berlin und Vororten, Bd. 1, Berlin 1909, 1287. 93 Familien-Stammbuch für die Familie Benzion Kellermann zu Berlin (Kopie in Privatbesitz), 4. 94 Kellermann, Henry J., Five Germanys, 10. 95 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 23; Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 4.

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20. Jahrhunderts intensiv diskutierten Frage nach der Rolle der Frau in Gesellschaft, Familie, Alltag und Kultur progressiv eingestellt war.96 In einer undatierten, nach 1917 gehaltenen Predigt erläuterte der Rabbiner seinen Zuhörern, dass mit der von den Propheten erkannten „Gottes-Einheit“ die „Einheit der Menschen“ einhergehe.97 Doch „nicht nur unter den verschiedensten Nationen und Glaubensgemeinden sollte Einheit und Gleichberechtigung herrschen – auch unter den Geschlechtern sollten gleiche Rechte, gleiche Pflichten walten. Nicht die Sklavin, sondern eine Gehilfin sollte die Gattin dem Gatten sein, dieweil auch sie im Ebenbilde Gottes geschaffen war.“ In diesem Sinn forderte er die Gleichberechtigung der Frau auch auf beruflichem Gebiet, denn „wie häufig wird dem Bestreben der Töchter Widerstand geleistet, wenn sie [sich] in richtiger Würdigung der Zeitverhältnisse einem Berufe widme[n], der mit den Traditionen des Hauses nicht in Einklang steht. Als ob die Frau nicht auch das Recht und die Pflicht hätte, ihre geistigen Kräfte für die allgemeinen Kulturaufgaben nutzbar zu machen.“98 Obwohl er haargenau dem Typ des Intellektuellen entsprochen habe, habe Kellermann nicht asketisch gelebt, sondern die Freuden des Lebens geschätzt.99 Insbesondere hätte er eine Vorliebe für gutes Essen und Zigarren gehabt, bis ihm sein Arzt, der langjährige Freund und Kardiologe Hans Sachs, diesen Genuss versagte. In seinen letzten Jahren pflegte Thekla dann ihren von immer öfter auftretenden Herzattacken geplagten Ehemann.100 Thekla Kellermann besaß eine große Leidenschaft für die deutsche und europäische Literatur, Musik und Kunst und konnte noch mit 86 Jahren fehlerfrei Goethe und Schiller zitieren.101 Sie nahm Anteil an der Textproduktion ihres Mannes und unterstützte ihn intellektuell in der Ehe, die von verschiedener Seite als ausgeglichen und respektvoll,102 von Henry Kellermann und Julius Galliner

96 Vgl. überblickend: Beuys, Barbara, Die neuen Frauen – Revolution im Kaiserreich (1900–1914), München 2014. 97 Kellermann, Benzion, [Ms] ohne Titel [Andächtige Gemeinde 1], undatiert [nach 1917], Privatbesitz Susan Kellermann, 1f. Folgendes Zitat: ebd., 2. 98 Ebd., 14. 99 Kellermann, Henry J., Five Germanys, 10f; Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. 100 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London; Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 1. 101 Oral Interview with Henry Kellermann, June 18, 1992, USHMMA Washington, RG50.030*0103. 102 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London; Yella Herz an Heinz [= Henry] Kellermann, 4. 8. 1939, USHMMAWashington, 2007.96, Box 4, Series 4, Folder 6, 1 Bl.: „Ich gratuliere Dir [Henry] also aufs wärmste zu Deiner Ehe, die eine so gute Kameradschaft ergeben möchte, wie sie zwischen Deinen Eltern bestanden hatte“.

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Benzion und Thekla Kellermann, zwischen 1907 – 1913

als „glücklich“103 beschrieben wurde. Sie brachte ihren Ehemann in Kontakt mit Personen aus ihrer Zeit in Warburg, beispielsweise mit Emil Herz.104 Dieser hatte mit seiner „Jugendgespielin“105 Thekla die Nachmittage in den Gassen und Wäldern der Stadt verbracht und kannte deren Familie seit vielen Jahren. Nach seinem Literatur- und Geschichtsstudium arbeitete er für den Berliner Ullsteinverlag und zeichnete für den Aufbau des Propyläen-Verlags innerhalb dessen verantwortlich. Zu Kellermann baute sich eine intensive Beziehung auf und in seinen Erinnerungen bezeichnete der acht Jahre jüngere Verleger ihn gar als „mein guter Freund“, der „ein Rabbiner und Gelehrter von ungewöhnlicher Vielseitigkeit [war], der jüdisches Schrifttum, allgemeine Religionswissenschaft und Philosophie souverän beherrschte“.106 103 Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 4. Bei Kellermann, Henry J., …And not to Yield, 18 heißt es sogar „very happy“. 104 Herz wurde am 5. April 1877 in Essen geboren, zog aber nach dem frühen Tod des Vaters Aron Herz mit seiner Mutter Amalie 1880 nach Warburg. Dort lebten sie bei dem Großvater Juda Oppenheim, bei dem die jüdischen Kinder der Stadt – auch die der Familie Lehmann – Religionsunterricht erhielten. – Zu Leben und Werk vgl. seine Autobiografie: Herz, Emil, Denk ich an Deutschland in der Nacht – Die Geschichte des Hauses Steg (1951), hg. v. Museumsverein Warburg, unveränderter Nachdruck der Auflage Warburg 1994, Borgentreich 2005. 105 Ebd., 280. Vgl. auch Kellermann, Henry J., Five Germanys, 39. 106 Herz, Denk ich an Deutschland in der Nacht, 279f. Die innige Freundschaft zu Thekla und

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Emil Herz, der schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mit seiner Familie flüchtete und schließlich nach New York emigrierte, förderte unter anderem die Entstehung von Erich Maria Remarques Im Westen Nichts Neues. Der 1929 veröffentliche Anti-Kriegs-Roman löste eine heftige Debatte zwischen den Verfechtern der Weimarer Republik und ihren Gegnern auf Seiten der Konservativen, Ultra-Rechten und Nationalsozialisten aus. Bei den ersten Lesungen Remarques aus seinen Manuskripten in Herz’ Villa im Berliner Grunewald war neben anderen Freunden auch die verwitwete Thekla Kellermann eingeladen.107 Dass sich nach dem Tod ihres Mannes die Beziehungen zu „Uncle Emil“ und seiner Familie noch intensivierten, zeigt sich daran, dass sie und ihre zwei Söhne zusammen mit anderen Gästen, wie dem vielgelesenen Schriftsteller Arnold Zweig, regelmäßig zu Festen wie Chanukka, dem Lichterfest, oder dem zweiten Pessachabend eingeladen wurden. An letzterem besaß sie das Privileg, am Kopfende der Tafel sitzend aus Heinrich Heines Der Rabbi von Bacherach vorzutragen, der bewegenden Geschichte um den mittelalterlichen Rabbiner Abraham und seiner Frau Sara, die zusammen mit der jüdischen Gemeinde des Ortes Bacherach mit Hostienschändungs- und Ritualmordvorwürfen konfrontiert werden und einem Pogrom nur knapp entkommen können. Theklas Bruder Joseph Lehmann, der sich selbst als Connaisseur und Förderer der Kunst inszenierte und als Markenzeichen stets einen schwarzen Rembrandt-Hut trug, war unter anderem mit dem Professor an der Berliner Akademie der Künste Erich Wolfsfeld bekannt.108 Zudem verband den Reformrabbiner „eine langjährige Freundschaft“ mit dem Maler Lesser Ury, von dem er einige Bilder besaß und auf den er 1931 die Grabrede hielt.109 Lehmann brachte seine Schwester und seinen Schwager in Kontakt mit solchen Persönlichkeiten und öffnete ihnen dadurch einen Zutritt zur Berliner Kunstszene. Es bestand weiterhin eine Bekanntschaft mit dem aus Polen stammenden Henryk Glicenstein (1870–1942), der vor allem für seine Skulpturen bekannt ist. Neben denjenigen mit biblischen Bezügen, wie die des Propheten Jeremia, schuf er 1918 auch eine Skulptur Hermann Cohens.110 Als Zeichner hatte er sich ebenfalls einen Namen gemacht und fertigte eine Federzeichnung von Benzion Keller-

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Benzion Kellermann unterstreicht Herz auch in einem Brief an Henry J. Kellermann vom 19. 4. 1965, USHMMA Washington, 2007.96, Box 22, Series 16, Folder 1, 1 Bl. Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 39f. Zum Folgenden vgl. ebd., 40f; Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 26. Vgl. Ladwig-Winters, Freiheit und Bindung, 154; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 26. Die Büste Cohens ist abgebildet innerhalb des Nachrufs von Lewkowitz, Julius, Hermann Cohen, in: OuW 18/5–6 (1918), 129–134, hier : 131f.

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mann an.111 Lehmann besuchte mit seinen Neffen Henry und Ernst häufig Museen in Berlin und brachte ihnen die Welt der Kunst näher.112 Die Wohnung der Kellermanns lag in „einem hochherrschaftlichen, piekfeine[n] Vier-Etagengebaeude mit Portier, Aufzug und einem Gartenhaus“ im Berliner Vorort Charlottenburg.113 Das „war das Berlin der Aristokratie, des höheren Beamtentums und des gehobenen Mittelstandes.“114 Er hatte als Direktor einer Religionsschule und durch verschiedene Lehrertätigkeiten ein ordentliches Einkommen, das die Kellermanns zu einer für diese Zeit „typically prussian middle class family“115 machte. Am 12. Januar 1910 wurde der erste Sohn Heinz Josef in der Wohnung geboren,116 der seinen Namen nach der Emigration in die USA 1941 in Henry Joseph anglisieren wird.117 Er gibt in seinen Erinnerungen ein farbiges und lebendiges Bild nicht nur des geistigen und Alltagslebens Berlins von der Kaiserzeit bis zum Nationalsozialismus, sondern auch von seinem Elternhaus.118 Die Wohnung in der Nähe des Kurfürstendamms umfasste vier Zimmer und war einer bildungsbürgerlich geprägten Familie angemessen eingerichtet. Zwar seien regelmäßig Ausflüge ins Grüne unternommen wurden, nach Ost-Berlin, in dem vorwiegend Arbeiterfamilien lebten, wurde jedoch nicht gefahren, denn die „Mütter fanden das nicht der Mühe wert […], man gehörte da nicht hin.‘“119 Henry und sein fünf Jahre später geborener Bruder Ernst besuchten die KaiserFriedrich-Schule, ein humanistisches Reformgymnasium,120 und erfuhren dort und durch die Eltern eine Bildung unter den europäischen und deutschen Leitsternen der Musik, Kunst und Literatur sowie in Griechisch und Latein. In den 1920er Jahren besaß Berlin eine vielseitige Theater-, Opern- und 111 Die Zeichnung befindet sich im Privatbesitz von Susan Kellermann. 112 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 26f. 113 Kellermann, Henry J., [Ts] Rueckkehr nach Berlin. Rede vor der GLS [German Language Society Washington D. C., T. L.] am 14. 1. 1993, Version 2, USHMMA Washington, 2007.96, Box 15, Series 12, Folder 1, Bl. 2. 114 Kellermann, Henry J., [Ts] Rueckkehr nach Berlin. Rede vor der GLS am 14. 1. 1993, Version 1, USHMMA Washington, 2007.96, Box 15, Series 12, Folder 1, 10. 115 Oral Interview with Henry Kellermann, June 18, 1992, USHMMA Washington, RG50.030*0103. 116 Vgl. Familien-Stammbuch für die Familie Benzion Kellermann zu Berlin (Kopie in Privatbesitz), 5f. 117 James Q. May über Namensänderung von Heinz Kellermann Ende 1941, 31. 8. 1945, USHMMA Washington, 2007.96, Box 1, Series 1, Folder 2, 1 Bl. 118 Vgl. neben Five Germanys auch die autobiografisch geprägten Artikel: Youth Leader ; Settling Accounts – The Nuremberg Trial, in: LBIYB 42 (1997), 337–355. 119 Kellermann, Henry J., [Ts] Rueckkehr nach Berlin. Rede vor der GLS am 14. 1. 1993, Version 1, USHMMA Washington, 2007.96, Box 15, Series 12, Folder 1, 10. 120 Für Henry : Zeugnis-Buch der Kaiser-Friedrich-Schule, USHMMA Washington, 2007.96, Box 1, Series 2, Folder 2. Für Ernst: Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 5.

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Klassiklandschaft, so dass auch die Kellermanns Stücken von Beethoven und Händels Judas Makkabeus in der Berliner Philharmonie lauschten.121 Der Vater habe zudem eine große Vorliebe für die Werke Richard Wagners gehabt und Geige sowie Klavier gespielt. Von jeher auf eine gute Allgemeinbildung bedacht, sei er von den Entwicklungen der zeitgenössischen Ingenieurskunst fasziniert gewesen. Wenn die Familie mit dem Zug nach Warburg fuhr, haber er es nicht versäumt, den Kindern die neuesten Lokomotiven in all ihren technischen Details zu erklären. Henry berichtet von vielen schönen Besuchen im Haus der Großeltern, wo häufig die gesamte Familie zusammenkam. Die Lebensweise der Lehmanns kam Kellermann weit mehr entgegen, als die „strict observance of the orthodox ritual“ in seiner eigenen Familie.122 Viele seiner Geschwister lebten seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankfurt und der mittleren Mainregion, wo sie dem traditionellen Judentum treu blieben, in dem sie erzogen wurden. Kellermann und seine Frau hatten dennoch ein gutes Verhältnis zu ihnen und es gab gegenseitige Besuche in Berlin und Frankfurt.123 Sie respektierten im persönlichen Umgang stets die Lebensweise der orthodoxen Familienmitglieder, lehnten diese für sich selbst jedoch ab. Wenn Henry seine Onkel und Tanten besuchte, respektierte auch er immer ihre Lebensweise, verschwieg in den Erinnerungen aber nicht sein Unverständnis und die Schwierigkeit des Zusammenlebens in jenen Tagen.124 Angesichts seiner liberaljüdischen Erziehung verwundert dies freilich nicht. Sowohl in den Memoiren seiner Kinder als auch in den zahlreichen Nachrufen wird Kellermanns bedingungslose Prinzipientreue herausgestellt: „A kind and forgiving person he made no concessions in matters of principle. He was a man of exceptional integrity and almost fanatical honesty who would speak the truth regardless consequences. His whole life was governed by the moral precepts of his faith and he would tolerate no compromise when his standards were challenged.“125 Die Abkehr von der Orthodoxie und Hinwendung zum liberalen Judentum war die Folge seiner Erkenntnis, dass nicht die Halacha, sondern der „ethische Monotheismus“ das Zentrum des Judentums ausmache: The religion he practiced was a religion of reason and of substance and not of form. Judaism to him was not an intricate web of ordinances regulating the daily calendar but a system of values and ideals that gave meaning and direction to human life, precisely 121 Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 11f. 122 Ebd., 37. Vgl. auch ders., [Ts] Religion – In Action or Inaction, a personal statement delivered on March 12, 1986 at the Catholic-Jewish Dialogue, USHMMA Washington, 2007.96, Box 15, Series 12, Folder 11, 2. 123 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 36. 124 Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 37. 125 Ebd., 12.

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what the prophets had postulated in speaking to Israel and mankind. He would never agree to see what he regarded the essence of religion, the golden rule of ethics, the categorical imperative diminished to the mere practice of rituals.126

In diesem Sinn habe er keinen großen Wert auf das Religionsgesetz gelegt und darauf verzichtet, seinen Kindern dessen Feinheiten zu erklären, befolgte aber „in deference to his upbringing and his rabbinical position [ab 1917, T. L.] a modicum of religious usages“. Zu der jüdischen Tradition gehörte auch die Bar Mitzwa, auf die er seinen ältesten Sohn vorbereitete. Er führte ihn in einer gesellschaftskritischen Auslegung so in die Welt der Propheten ein, wie er es auch mit den Schülern, Synagogenbesuchern und Lesern seiner Aufsätze und Bücher tat: His interpretation of their life and their teachings established them in my mind’s eye as gigantic pioneers of human evolution, fearless dissenters, moral reformers, social revolutionaries who made front not only against the establishment of their days, but against the sorry state of society at large.127

Aufgrund der schweren Krankheit in seinen letzten Lebensjahren, konnte Kellermann bei der Bar Mitzwa-Feier seines Sohnes am 20. Januar 1923 in der Synagoge Fasanenstraße nicht mehr selbst als Rabbiner amtieren.128 Henry verfasste angesichts dieses ihn stark berührenden Ereignisses ein kleines Heft für seine Eltern, in dem er sich für deren bisherige Unterstützung bedankte und auf diese auch noch in den folgenden Jahren hoffte. An das Ende setzte er den Spruch „Durch Kampf zum Leid, durch Leid zur Kraft“,129 ein Motto, das ihm sein Vater einmal in ein Buchgeschenk geschrieben hatte und zweifellos auch auf dessen eigenen Lebensweg angewendet werden kann.130 Wie Benzion Kellermann das liberale Judentum philosophisch legitimierte und damit auch die eigene Abkehr von der Orthodoxie bestätigte, soll in der folgenden Untersuchung seiner Einstellung zum Christentum und der Entwicklung seiner Religionsphilosophie nachgezeichnet werden. 126 Ebd. Auch Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 214 sagt über seinen Vater, „he thought that religion can only be justified if it leads to an improvement of society. It is for this reason that he gave absolute priority to the books of the Prophets who demand ethical behaviour and define moral goals.“ 127 Kellermann, Henry J., Five Germanys, 13. 128 Vgl. ebd.; H. J. Kellermann zur Erinnerung an die am 20. 1. 1923 in der Synagoge Fasanenstraße erfolgte Einsegnung überreicht von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, USHMMA Washington, 2007.96, Box 1, Series 2, Folder 1. 129 Heinz [= Henry] Kellermann, Heft „Meinen lieben Eltern“, 20. 1. 1923, USHMMA Washington, 2007.96, Box 2, Series 2, Folder 1, 8. 130 Kellermann, Henry J., Five Germanys, 16. Es handelte sich um den 1918 erschienenen Roman Jaakobs Traum. Ein Vorspiel von dem österreichischen Schriftsteller Richard BeerHofmann (1866–1945).

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2. Kellermanns Auseinandersetzung mit der christlichen Religion Obwohl Kellermann seinen Lebensunterhalt hauptsächlich mit den verschiedenen Lehrerstellen und ab 1917 als Rabbiner verdiente, vernachlässigte er nie das Arbeiten auf wissenschaftlichem Gebiet. Nach seiner Rückkehr aus Konitz finden sich seit 1902 immer wieder Vorträge und Publikationen, in denen er in Anknüpfung an die vergleichende Religionsgeschichte Christentum und Judentum theologisch und religionsphilosophisch analysierte und normativ bewertete. Er gehörte zu den Vertretern der Wissenschaft des Judentums, die es als eine Selbstverständlichkeit ansahen, in den akademischen Zirkeln als gleichberechtigte Forscher aufgenommen zu werden, mit nichtjüdischen Gelehrten zusammenzuarbeiten und Lehrstühle an staatlichen Universitäten zu erhalten. Doch viele christliche Theologen empfanden die Beiträge jüdischer Gelehrter zu ,christlichen‘ Fragestellungen oft als anmaßend und wehrten ihre Forderungen nach Partizipation am wissenschaftlichen Diskurs ab.1 Kellermann teilte mit anderen jüdischen Forschern den „Anspruch, bei der Erforschung und Bewertung der hebräischen Bibel und der talmudischen Tradition gehört und in ihrem Urteil ernstgenommen zu werden“.2 Hinzu kam in dieser Zeit ein starkes Interesse jüdischer Intellektueller an der Entstehungsgeschichte des Christentums sowie an einer Auseinandersetzung mit Jesus und Paulus. Während sich die Beschäftigung mit ersterem als ein Prozess der zumeist positiv ausgerichteten „Heimholung Jesu ins Judentum“ (Ben-Chorin) beschreiben lässt, fand eine deutlich kritischere Diskussion über Paulus statt. Mit dessen Theologie habe der Abgrenzungsprozess von der jüdischen Religion erst wirklich begonnen, weshalb er als der eigentliche Begründer des Christentums charakterisiert wurde. 1 Vgl. die umfassende Studie von Wiese, Schrei ins Leere? – Dass die jüdischen Wissenschaftler im Kaiserreich von den christlichen Theologen jedoch nicht völlig ignoriert wurden, belegen allein die vielen Rezensionen von Schriften jüdischer Gelehrter in der ThLZ, der ThR und weiteren Zeitschriften und die Publikationen von christlichen Forschern wie Carl Siegfried oder Heinrich L. Strack in jüdischen Periodika. Ferner rezipierten christliche Theologen in ihren Werken die Literatur jüdischer Gelehrter, etwa Harnack, Cornill, König oder Holtzmann. Vgl. dazu Hasselhoff, Görge K., „Sapientes docent traditiones“. Der Rabbiner Moritz Rahmer und der Kirchenvater Hieronymus, in: ders. (Hg.), Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums, 137–163, hier: 160, Anm. 110; ders., Ideen und Leitgedanken des Bandes, in: ebd., 3–16, hier : 5f u. 6, Anm. 14–16. – Abraham Geigers Beiträge zur christlichen Theologie und deren Reaktionen auf den jüdischen Gelehrten stellt dar : Heschel, Susannah, Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie, Sifria/Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 2, Berlin 2001. 2 Wiese, Christian, Jahwe – ein Gott nur für Juden? Der Disput um das Gottesverständnis zwischen Wissenschaft des Judentums und protestantischer alttestamentlicher Wissenschaft im Kaiserreich, in: Siegele-Wenschkewitz, Leonore (Hg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, Frankfurt a. M. 1994, 27–94, hier : 73.

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In dieser angespannten Atmosphäre um die Jahrhundertwende versuchte Kellermann mit seinen Texten die Gleichwertigkeit der Wissenschaft des Judentums mit der protestantischen Theologie zu erweisen. Zudem unternahm er es, noch weit darüber hinausgehend, mit Verweis auf den durch die Propheten herausgebildeten „ethischen Monotheismus“, die Höherwertigkeit der jüdischen gegenüber der christlichen Religion argumentativ zu belegen.

2.1 Die Debatte um Harnacks Wesen des Christentums Der protestantische Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851–1930), zu dessen berühmten Schülern Rudolf Bultmann, Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer zählten, hielt im Wintersemester 1899/1900 an der Berliner FriedrichWilhelms-Universität vor über 600 Hörern aller Fakultäten sechzehn Vorlesungen über das Wesen des Christentums, von denen Kellermann bis zu seiner Abreise nach Konitz Ende Januar 1900 möglicherweise als Student einige noch selbst besuchte. Die Vorlesungen wurden dann einige Monate später in erster Auflage vom Leipziger Hinrichs-Verlag unter demselben Titel publiziert.3 Harnack hatte in der nach dem religionskritischen Hauptwerk Ludwig Feuerbachs (1804–1872)4 benannten Vorlesung versucht, die seiner Meinung nach grundlegenden Wesenszüge der christlichen Religion innerhalb eines kulturprotestantischen Programms herauszuarbeiten. Sein Lob eines, auf dem Evangelium Jesu als „Froher Botschaft“ gründenden, liberalprotestantisch definierten Christentums als höchster Stufe der Religion ging jedoch einher mit einer altbekannten Abwertung des Katholizismus und des Judentums. Harnack, dessen Relevanz für die Erneuerung der protestantischen Theologie unbestritten bleibt, engagierte sich zwar mit Theodor Mommsen und anderen einflussreichen Intellektuellen im „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ gegen den politischen Judenhass, doch blieb dies ohne Wirkung auf sein theologisches Bild vom Judentum. In seinen Büchern erschien die jüdische Religion wie bei den meisten zeitgenössischen christlichen Theologen als Negativfolie, von der sich deren ,Tochterreligion‘ strahlend abhob. In seiner erstmals 1921 veröffentlichten 3 Harnack, Adolf von, Das Wesen des Christentums. Neuausgabe. Mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann, Berlin 1950. Zur Biografie: Nottmeier, Christian, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2004; Hauschild, Wolf-Dieter, Art. Harnack, 2. Adolf, in: RGG4 3 (2008), 1457–1459. Stärker auf seine Theologie zugeschnitten: Wenz, Gunther, Der Kulturprotestant. Adolf von Harnack als Christentumstheoretiker und Kontroverstheologe, München 2001. Die Zahl der Hörer findet sich: Kantzenbach, Art. Harnack, 453. 4 Feuerbach, Ludwig, Das Wesen des Christentums (1841). Mit einem Nachwort von Karl Löwith, Stuttgart 2008.

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Schrift Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott ging er sogar soweit, die Hebräische Bibel aus Kirche, Theologie und Katechese zu verbannen: Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.5

Innerhalb der christlichen Theologie kam es bald nach der Veröffentlichung der Vorlesungen zu einer intensiven Diskussion über die Thesen Harnacks: Während etwa Friedrich Loofs, Karl Holl und Ernst Rolffs die Aussagen als moderne Art, Theologie zu treiben, befürworteten, kritisierten ihn konservativere Theologen wie Theodor Zahn und Eduard Rupprecht scharf. Ungewöhnlich war das Echo auf diese Publikation auch innerhalb der Wissenschaft des Judentums, denn so einheitlich, selbstbewusst und öffentlichkeitswirksam waren die jüdischen Forscher im Kaiserreich bislang noch nicht aufgetreten. Es erschienen in den folgenden Jahren unzählige Aufsätze und Monografien aus ihren Federn, die den Thesen Harnacks argumentativ begegneten und die Ehre der jüdischen Religion zu verteidigen suchten.6 Aus der Fülle der Publikationen soll hier nur eine der umfassendsten und mehrere Auflagen erlebenden genannt werden: Das Wesen des Judentums (1905) von Leo Baeck. Mit einer stringenten Argumentation und Leidenschaft für den Gegenstand verteidigte er hier nach seiner Rezension von 19017 die jüdische Religion nicht nur vor Harnack, sondern vor allen Angriffen, mit denen christliche Theologen ihre jüdische ,Mutter‘ seit Jahrhunderten attackierten.8 Wie Kellermann, der die Auseinandersetzung mit christlichen Gelehrten nicht scheute und während des Ersten Weltkriegs mit Ernst Troeltsch über die jüdische Prophetie disputieren wird, in seinem Gesamtwerk auf die von Harnack angestoßenen Debatte reagierte, Paulus bewertete und an der „Heimholung 5 Harnack, Adolf von, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, unveränd. photomechan. Nachdruck der 2., verb. u. verm. Aufl. 1924, Berlin 1960, 217 (Hrvh. im Orig.). Diese Schrift wurde detailliert untersucht von Kinzig, Wolfram, Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain, AKThG, Bd. 13, Leipzig 2004. 6 Die Debatte wurde – jedoch ohne Hinweis auf Kellermann – umfassend dargestellt in: Tal, Uriel, Theologische Debatte um das „Wesen“ des Judentums, in: Mosse, Werner (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, SchrLBI, Bd. 33, 2., mit einem Vorw. erg. Aufl., Tübingen 1998, 599–632; Mendes-Flohr, Paul, Neue Richtungen im jüdischen Denken, in: Meyer (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, 333–355, hier : 335–345. 7 Baeck, Leo, Harnack’s Vorlesungen über das Wesen des Christentums, in: MGWJ 45/2 (1901), 97–120. 8 Ders., Das Wesen des Judentums, SGFWJB, Berlin 1905. Die zweite, neu bearbeitete Auflage erschien 1922.

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Jesu“ partizipierte, soll im nächsten Unterkapitel aufgezeigt werden. Aufgrund des Stellenwertes, den in diesem Zusammenhang nicht nur Kellermann, sondern sowohl die zeitgenössische protestantische Theologie als auch die Wissenschaft des Judentums den alttestamentlichen Propheten zugestand, wird im Folgenden zunächst ein Überblick dieser Prophetenbegeisterung auf christlicher und jüdischer Seite gegeben. Dies dient nicht nur der Kontextualisierung von Kellermanns auf das Christentum bezogenen Schriften, sondern auch derjenigen seines im Zeichen eines prophetischen Judentums stehenden Gesamtwerks.

2.2 Prophetenrezeption in Christentum und Judentum um die Jahrhundertwende 2.2.1 Prophetenbegeisterung in der protestantischen Theologie Reformorientierte Theologen entfalteten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Prophetenbegeisterung. Dafür rekurrierten sie auf Wellhausens Neudatierung der Propheten vor das Gesetz, was „zu einer kopernikanischen Wende in der alttestamentlichen Wissenschaft“ geführt hatte, denn die „Propheten erscheinen nicht mehr als Ausleger des Gesetzes, sondern als eigenständige Gestalten, deren Wirken allererst zur Entstehung der jüdischen Tora führt“.9 Die oftmals dem Kulturprotestantismus zuzurechnenden Theologen versuchten, die Frage nach der Verbindung von Religion und Moderne in einem Modell zu bearbeiten, in dem es nicht mehr um die in ihren Augen kritiklose Aneignung und Ausführung überkommener Rituale und Dogmen ging. Sie wollten dagegen eine mit der Vernunft nicht in Widerspruch stehende, individuelle, freiheitliche und ethisch verantwortungsvolle Theologie entwerfen.10 Dafür schienen die sittlichen Passagen der alttestamentlichen und neutestamentlichen Texte geeigneter zu sein, als ein als starr empfundenes Gesetz, das den Menschen dieser Ansicht nach heteronom bestimmen würde. In Bezug auf die Hebräische Bibel seien die Forderungen der Propheten nicht nur deswegen normativ höherstehend, weil sie vor dem Gesetz entstanden und damit älter seien, sondern auch, weil sie vorwiegend sittlichen Charakter trügen. Alttestamentler wie Julius Wellhausen und Bernhard Duhm fokussierten auf „die Persönlichkeit und Individualität der Propheten, die dank ihres schöpferischen religiösen Genius dem Volk Israel ein vollkommen neues Ethos eingeprägt hätten“.11 9 Claussen, Johann H., Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie, BHTh, Bd. 99, Tübingen 1997, 66. 10 Vgl. überblickend Graf, Friedrich W. (Hg.), Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung, TSt 7 (1993); ders., Art. Kulturprotestantismus, in: RGG4 4 (2001), 850f. 11 Wiese, Schrei ins Leere?, 199.

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In der Folge wurden die Propheten in der „kulturprotestantischen Deutung“ zu „Vertreter[n] des religiösen Universalismus“.12 Die halachischen Forderungen der Tora wurden von den Theologen hingegen als „Zeremonialgesetz“ ebenso verworfen wie nicht mehr nachvollziehbare Riten, Kultpraktiken und Glaubenssätze in der christlichen Tradition. Komplementär zum Alten Testament wurde auch hinsichtlich des Neuen Testaments versucht, ein ethisches Substrat herauszufiltern. Dieses wurde dann als Kern der christlichen Religion betrachtet, während andere nichtsittliche Passagen als historisch bedingt aufgefasst wurden und in der aktuellen Zeit normativ nicht dieselbe Geltung beanspruchen könnten. In Ansehung der Vorrangigkeit einer ethisch zentrierten Religionsauffassung, die nicht hinter Kant zurückgehen konnte und vor den Herausforderungen der Moderne bestehen sollte, folgten protestantische Theologen wie Cornill oder Troeltsch der Darstellung der jüdischen Geschichte durch Abraham Kuenen und Wellhausen, die ihren positiven Ausgang bei den als individualistisch und charismatisch aufgefassten Königen und Propheten nahm. Kuenen zufolge ging aus „der Auffassung der Propheten, die Jahwe seit alters einen sittlichen Charakter beigelegt hatten, […] ein ethischer Monotheismus hervor, der die Einzigkeit Gottes und die Allgemeinverbindlichkeit seines Gebotes bekennt.“13 Auf diese positiv gewertete israelitische Zeit sei der negativ beurteilte Judaismus gefolgt, der, gekennzeichnet durch Priesterherrschaft, strikte Gesetzesobservanz und die pharisäische Bewegung, „die Religion Israels nach Kuenen erneut in einen Partikularismus hineintrieb und dessen Exklusivität ins Maßlose steigerte“. Der Höhepunkt der Sittlichkeit im zeitgenössisch so bezeichneten „Spätjudentum“ sei das Auftreten Jesu gewesen, der Wellhausen zufolge „die universalistischen Ansätze der Propheten konsequent zu Ende“14 gedacht habe. Da im bald entstehenden Christentum ebenfalls „der individualreligiöse Gedanke eines charismatischen Einzelnen [d. i. Jesus, T. L.] institutionell verfestigt und modifiziert“ worden sei, habe auch hier eine Art Verfallsgeschichte aufgrund ebenso starrer Dogmatisierung eingesetzt. In Auseinandersetzung mit dem Katholizismus entstand die Reformation, die sich aber auch bald wieder in Orthodoxie verwandelt habe, und führte schließlich zu der im 18. und 19. Jahrhundert begonnenen und im Kontext der Aufklärung stehenden liberalen Theologie, die den Menschen Jesus als Vorbild sittlichen Handelns proklamierte. Dabei teilten die reformorientierten Theologen die Hochschätzung der als universalistisch erachteten Botschaft der Propheten, die in folgendem 12 Ders., Gegengift, 269. 13 Wenz, Gunther, Gott. Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie, StST, Bd. 4, Göttingen 2007, 73. Folgendes Zitat: ebd. 14 Claussen, Jesus-Deutung, 72. Folgendes Zitat: ebd., 71, Anm. 40.

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Wort des Wellhausen-Schülers Carl Heinrich Cornill zum Ausdruck kommt, das auch von jüdischer Seite häufig zitiert wurde: Die Geschichte der gesamten Menschheit hat nichts hervorgebracht, was sich auch nur entfernt mit dem israelitischen Prophetismus vergleichen ließe: durch seinen Prophetismus ist Israel der Prophet der Menschheit geworden. Möchte das doch niemals übersehen und vergessen werden: das köstlichste und edelste, was die Menschheit besitzt, sie verdankt es Israel und dem israelitischen Prophetismus.15

2.2.2 Die Propheten in der Wissenschaft des Judentums und der jüdischen Reformbewegung Die Neupositionierung und Hochschätzung der Propheten innerhalb der protestantischen Universitätstheologie wirkte befruchtend auf reformorientierte jüdische Denker seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Zweifellos verfolgten jüdische Gelehrte dieser Zeit unabhängig und unapologetisch ihre eigenen Themen und Fragestellungen und trugen zum Erkennntnisgewinn innerhalb der Wissenschaft des Judentums bei. Dennoch beobachteten sie genau die Forschungen der christlichen Theologen, besonders im Bereich der Bibelkritik, und arbeiteten sich affirmativ, pejorativ oder vermittelnd an deren Methoden und Ergebnissen ab.16 Hinzu kam, dass innerhalb des deutschen Judentums um 1900 harte Grabenkämpfe zwischen Progressiven, Orthodoxen und Zionisten um das ,richtige‘ Judentum ausgetragen wurden. In dieser Situation dachten liberal gesinnte Intellektuelle wie Geiger, Baeck, Cohen, Wiener oder Kellermann neu über ihre Religion und deren Verhältnis zu ihrer Zeit nach. In den prophetischen Büchern entdeckten sie an die aufgeklärte Moderne anschließbare Texte, mit denen sie am Diskurs der protestantischen Theologie um eine freiheitliche und vorwiegend von sittlichem Handeln bestimmte Religiosität partizipierten und dieses Themenfeld auch innerjüdisch intensiv verhandelten. Voraussetzung für die neue Wahrnehmung der Prophetie war deren Neudatierung vor das Gesetz durch Wellhausen, wodurch sie „nicht mehr nur die Wiederholung des gegebenen Gesetzes [ist], sondern ein entscheidender Impuls in seiner Konstituierung. Israels Frömmigkeit entsteht nicht mehr aus der Offenbarung des Kultgesetzes, sondern aus dem religiösen Ethos einzelner Per15 Cornill, Carl H., Der israelitische Prophetismus. In fünf Vorträgen für gebildete Laien geschildert, Straßburg 1894, 177. Ebd. heißt es über das Verhältnis zwischen Jesus, Christentum und Prophetie: „Die israelitische Prophetie ist die Maria, welche das Christenthum geboren hat“. – Der Hinweis auf die Verwendung des Zitats durch jüdische Gelehrte findet sich: Wiese, Schrei ins Leere?, 199. 16 Vgl. aktuell den Sammelband: Hasselhoff (Hg.), Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums.

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sönlichkeiten.“17 Die liberaljüdischen Denker, die auf der Suche nach einem neuen Umgang mit der Bibel und dem Talmud waren und deren – zumindest in Teilen – gegenwärtige Relevanz zu legitimieren versuchten, nahmen dieses ,Geschenk‘ der christlichen Theologie dankbar an, war es ihnen doch damit möglich, das „Zeremonialgesetz“ wenn nicht aufzulösen, so doch zu historisieren und in seiner gegenwärtigen Bedeutung herabzusetzen. „[D]ie von protestantischer Seite zur normativen ,Mitte‘ der hebräischen Bibel erhobene Prophetie mit ihrer universalen und sozial geprägten Botschaft“ war „in der jüdischen Reformbewegung spätestens seit Abraham Geiger zum Kern einer Neuinterpretation des Judentums geworden […], die ihrerseits dem prophetischen Element, entgegen der traditionellen Betonung der mosaischen Gesetzgebung, eine normative Funktion zuschrieb.“18 Denn „[o]ffensichtlich sind ,Idealismus‘ und subjektive religiöse Gesinnung der Propheten für ein modernes, liberales Bewußtsein leichter verständlich als die um die Halacha zentrierte Lebensform“19. Gegenüber christlichen Superioritätsansprüchen bildeten die Propheten zugleich „die wichtigste Grundlage“ für eine Verteidigung der gegenwärtigen und zukünftigen Existenzberechtigung des Judentums, denn es „galt nicht nur als Schöpfer, sondern – mit seinem Glauben an den einen Gott, seinem Universalismus und seinem sozialen Ziel einer messianischen Menschheit – auch als nach wie vor wichtigster Träger der universal gültigen Idee des prophetischen ,ethischen Monotheismus‘“.20 Dieser von christlichen und jüdischen Gelehrten im 19. Jahrhundert stark rezipierte Begriff bezeichnet den sich vor allem auf die prophetischen Bücher der Bibel stützenden Glauben an einen überweltlichen Gott, der „die menschliche Verwirklichung seines heiligen Willens“ fordert. Christian Wilke hielt in diesem Zusammenhang zu Recht fest, dass der „ethische Monotheismus“ als Ergebnis einer „moralisierende[n] Umdeutung des Religionsgesetzes“ in der Folge enorme Wirkung auf das Denken deutscher Juden hatte und „das deutsch-jüdische Religionsideal ausdrückt[e]“.21 George Y. Kohler zufolge sei der Terminus zwar erst im 19. Jahrhundert durch jüdische Gelehrte geprägt wurden, habe aber eine viel ältere Tradition innerhalb der jüdischen Theologie: If monotheism means the belief in a unique God who is absolutely transcendent to the universe, then the difference between God and world is the same as the difference between what ,ought‘ to be and what ,is‘. In this view monotheism must be inherently ethical for it 17 Weidner, Daniel, ,Geschichte gegen den Strich bürsten‘. Julius Wellhausen und die jüdische ,Gegengeschichte‘, in: ZRGG 54/1 (2002), 32–61, hier : 50. 18 Wiese, Gegengift, 264. 19 Weidner, ,Gegengeschichte‘, 50. 20 Wiese, Schrei ins Leere?, 200. Folgendes Zitat: ebd. 21 Wilke, Art. Emanzipation, 223.

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poses regulative ideals (in Kantian language), that is, it confronts humanity with moral imperatives directly derived from the notion of God as creator of the world.22

Dieser Glaube nimmt starke Anleihen an der kritischen Philosophie Immanuel Kants und ist universalistisch und ethisch ausgerichtet, da jeder Mensch von Gott zur Mitarbeit am sittlichen Fortschritt der Menschheit aufgerufen sei. Das in der Zukunft leuchtende Ziel ist das messianische Reich Gottes oder, mit Kant gesprochen, der ewige Frieden, wie in der vorliegenden Arbeit noch ausgeführt werden wird. Damit hatten die Reformer die überlieferte Vorstellung des Messias entpersonalisiert und verstanden den Messianismus von nun an als eine raumzeitliche Kategorie und als ein Projekt unter menschlicher Mitwirkung. Obwohl Kellermann und andere Vertreter des liberalen Judentums die Observanz des sogenannten „Zeremonialgesetzes“ weitgehend ablehnten, da sie ihm einen ethischen Sinn absprachen, darf daraus nicht eine generelle Ablehnung des im Judentum so wichtigen Gedankens der Weisungen und Gebote (Mitzwot) geschlussfolgert werden. Denn „ethical monotheism is not a replacement for the centrality of the Biblical commandments in Judaism but turns the concept of ,mitzvah‘ into rational cognitive morality.“23 Für Abraham Geiger, dessen theologischen Ansichten Kellermann weitgehend folgte, sprachen „Propheten und Psalmisten […] mit tiefster sittlicher Überzeugung von der Wertlosigkeit der Opfer, die Gott nicht wohlgefällig seien“24, versuchten, „in bitterstem Kampfe mit dem Volke dasselbe von allen Wahnvorstellungen und Wahngebilden, von Riten und Bräuchen, von Lippendienst und Werkheiligkeit zu befeien“ und hatten insgesamt „die Anbetung 22 Kohler, Reading Maimonides’ Philosophy, 9, Anm. 23. – Auch Patterson, David, Ethischer Monotheismus, in: JPolTh 4 (22005), 68–80, hier : 68, geht in seinem, von Leopold Zunz bis Emil Fackenheim reichenden, Überblick davon aus, dass der Begriff „[u]rsprünglich […] von jüdischen Philosophen im 19. Jahrhundert benutzt“ wurde, um ein Judentum zu beschreiben, „das durch die begrifflichen Grenzen der Vernunft eingeschränkt und den enthüllenden Methoden der Wissenschaft unterworfen worden war.“ Wiese, Schrei ins Leere?, 200, Anm. 69 behauptet hingegen, der niederländische Theologe Kuenen habe den Terminus in den 1870er Jahren geprägt: Kuenen, Abraham, De Profeten en de Profetie onder Israel, Leiden 1875. Eine detaillierte Analyse der Kuenenschen Rede vom „ethischen Monotheismus“ bietet Mulder, M. J., Kuenen und der „ethische Monotheismus“ der Propheten des 8. Jahrhunderts v. Chr., in: Dirksen, P. B./Kooij, A. van der (Hg.), Abraham Kuenen (1828–1891): his major contributions to the study of the Old Testament: a collection of Old Testament studies published on the occasion of the centenary of Abraham Kuenens death (10 December 1991), OTS, Bd. 29, Leiden 1993, 65–90. Zwar wird der Begriff „ethischer Monotheismus“ in der Forschungsliteratur immer wieder benutzt, jedoch fehlt eine Detailstudie zu seiner Genese und Rezeption in der jüdischen und christlichen Theologie. 23 Kohler, Reading Maimonides’ Philosophy, 9, Anm. 23. 24 Vogelstein, Heynemann [sic, zumeist Heinemann], Systematische Theologie, in: Geiger, Ludwig u. a., Abraham Geiger. Leben und Lebenswerk, hg. v. Elbogen, Ismar, Reprint der 1. Aufl. Berlin 1910, Berlin/New York 2012, 243–276, hier: 269. Folgende zwei Zitate: Klein, Gottlieb, Praktische Theologie, in: ebd., 277–315, hier : 300.

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Gottes im Geiste gelehrt“. In einem solchen Sinn und stark von der christlichen Bibelforschung geprägt, begriff auch Cohen seit frühester Zeit den „Prophetismus […] als die Seele der jüdischen Religion“25 und beeinflusste damit massiv seinen Schüler Kellermann. Der aus dem oberschlesischen Oppeln stammende liberale Rabbiner, Theologe und Philosoph Max Wiener (1882–1950)26 war ebenfalls von Cohen und protestantischer Bibelkritik beeinflusst, ging aber in der Beurteilung der Propheten auch eigene Wege. Seine beiden Schriften Die Anschauungen der Propheten von der Sittlichkeit (1909) und Die Religion der Propheten (1912) versuchten, deren Aktualität in der zeitgenössischen Diskussion zu erweisen, „widerstritten jedoch ihrer antijüdischen Tendenz und der Usurpation des prophetischen Erbes für das Christentum.27 Für ihn lag „the essence of Judaism in the teaching of the prophets“28, deren universalistisch-ethisches Programm sich ihm zufolge durch alle Epochen der jüdischen Geschichte zog. Da es auch schon in vorprophetischer Zeit angelegt gewesen sei, sei die verfallsgeschichtliche Darstellung der jüdischen Historie durch die protestantischen Theologen abzulehnen und das Judentum selbst als die einzig wahre Erbin des Prophetismus anzuerkennen.29 Beeinflusst durch Studien bei Troeltsch und der positiven Rezeption der Religionssoziologie, wird es bei Wiener während des Ersten Weltkriegs zu einer Neubewertung der Propheten kommen. Er wird Troeltschs Auffassung vom weitgehend nationalen und damit partikularen Charakter der Propheten teilen, wogegen Cohen und Kellermann in der zu dieser Zeit stattfindenden Debatte um das „Ethos der hebräischen Propheten“ heftig protestieren werden.30 Indem die reformgesinnten jüdischen Denker von den christlichen Theologen die ethische Priorisierung der Propheten über den als legalistisch aufgefassten Pentateuch übernahmen, wurde die Prophetie zu einem der wenigen Bindeglieder zwischen der protestantischen Universitätstheologie und der 25 Cohen, Hermann, Die Eigenart der alttestamentlichen Religion (1913), JS 2, 410–415, hier: 414 (Hrvh. im Orig.). 26 Zu Leben und Werk: Petuchowski, Jakob/Berenbaum, Michael, Art. Wiener, Max, in: 2EJ 21 (2007), 48; Schine, Robert S., Jewish Thought Adrift. Max Wiener 1882–1950, BJSt, Bd. 259, Atlanta 1992. 27 Vgl. dazu Wiese, Schrei ins Leere?, 200–205. Zitat: ebd., 201. – Wiener, Max, Die Anschauungen der Propheten von der Sittlichkeit, SWJ, Bd. 1, Heft 3/4 , Berlin 1909; ders., Die Religion der Propheten, Volksschriften über die jüdische Religion, Jg. 1, Heft 1, Frankfurt a. M. 1912. 28 Petuchowski/Berenbaum, Wiener, 48. 29 Vgl. Wiese, Gegengift, 263. 30 Vgl. Stünkel, Knut M., Die letzte Entdeckung des Christentums durch die Wissenschaft des Judentums bei Max Wiener, in: Hasselhoff (Hg.), Die Entdeckung des Christentums in der Wissenschaft des Judentums, 301–342, hier : 315f; Wiese, Schrei ins Leere?, 205. – Vgl. zu der Debatte Kap. II.4.4.

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Wissenschaft des Judentums im Deutschen Kaiserreich. Dennoch unterschieden sich die Vertreter der letzteren in einem Punkt fundamental von ihren christlichen Kollegen: Sie übernahmen freilich nicht die sogenannte „Prophetenanschlusstheorie“, die Behauptung, dass sich die prophetische Botschaft am reinsten in Jesus Christus und dem Urchristentum zeige, welche damit zum Zielpunkt der Propheten und der jüdischen Geschichte gerieten. Kellermann lehnt eine solche teleologische Kontinuitätslinie von den Propheten zu Jesus ebenfalls ab, den er wegen des ihm unterstellten Partikularismus – aufgrund des Festhaltens an der jüdischen Nationalität und an der Halacha – scharf kritisiert.

2.3 Weder Prophet noch Messias: Jesus in Kellermanns Gesamtwerk Als die Diskussion über Harnacks Wesen des Christentums in der christlichen Theologie und in der Wissenschaft des Judentums 1900/1901 begann, verfolgte Kellermann die Auseinandersetzungen, beteiligte sich selbst aber zunächst noch nicht. Er war bis Mitte 1901 in Konitz und versuchte die dortige Gemeinde praktisch-seelsorgerlich durch die schwere Zeit des Ritualmordvorwurfs zu bringen. Aber sofort nach der Rückkehr nach Berlin, nahm er sein Studium an der HWJ wieder auf und wurde eingeladen, am 24. Februar 1902 eine ihrer renommierten Montagsvorlesungen zu halten, in der der Rabbinatskandidat auch an verschiedenen Stellen Harnack kritisierte. In dem mit „Paulinismus und Judentum“ betitelten Vortrag, der die aktuellste christliche und jüdische Forschungsliteratur rezipierte und im Juni 1903 in zwei Teilen in der AZJ erschien,31 reagierte Kellermann auf die Diskussion und ordnete sich in den Chor der liberaljüdischen Stimmen ein. Denn, wie Paul MendesFlohr richtig feststellte, [b]esonders liberale Juden konnten nicht gleichgültig bleiben gegen die negative Schilderung des Judentums in einem ungeheuer populären Buch, das im Namen des liberalen Ethos sprach. Seit der Emanzipation hatten Juden in liberalen Protestanten stets ihre Verbündeten gesehen, die mit ihnen die gemeinsame Vision einer Gesellschaftsordnung im Zeichen der Aufklärung und ihren optimistischen Glauben an die Wirksamkeit von universaler Bildung, Wissenschaft und staatsbürgerlicher Gleichheit teilten.32

In seinem Vortrag behandelt Kellermann zum ersten Mal die Frage nach dem historischen Jesus, mit der er sich in den folgenden zwanzig Jahren immer wieder direkt oder indirekt beschäftigen wird. Grund dafür ist das auf den 31 Kellermann, Benzion, Paulinismus und Judentum. Nach einem in der Montagsvorlesung vom 24. Februar 1902 gehaltenen Vortrag, in: AZJ Nr. 24 vom 12. 6. 1903, 283–285 u. Nr. 25 vom 19. 6. 1903, 296–299. Zum Datum des Vortrags: BLWJ 20 (1902), 9. 32 Mendes-Flohr, Neue Richtungen im jüdischen Denken, 336.

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Forschungen Wellhausens aufruhende und wirkungsgeschichtlich bedeutsame Konzept der jüdischen Verfallsgeschichte, in die christliche Theologen, aber auch Philosophen wie Nietzsche, die Entwicklung des Judentums einrahmten und die das Erscheinen Jesu beendet hätte.33 Wellhausen stellte mit seiner historisch-kritischen Lektüre des Alten Testaments die „kanonischen Schriften auf den Kopf“34, wodurch am Anfang seiner „Gegengeschichte“ nicht mehr der Exodus und die Offenbarung des Gesetzes am Sinai standen, sondern die große Zeit der Könige und Propheten, in denen der israelitische Gott noch ein nationaler gewesen sei, die Gesellschaft in einer Einheit mit der Natur gelebt habe, monolatrisch ausgerichtet und dem Mythos ergeben gewesen sei. Das politische Gemeinwesen dieser Epoche von der Landnahme bis zur Zerstörung des I. Tempels 586 v. d.Z. bezeichnete Wellhausen als Israel und grenzte es scharf vom Judentum der nachfolgenden Zeit ab, das sich vor allem durch einen Kampf gegen den Mythos, rationales theologisches Denken und die künstliche Gegenüberstellung von Mensch und Natur ausgezeichnet habe.35 Im sechsten Jahrhundert habe mit der Verschleppung der Israeliten ins babylonische Exil demnach ein „Niedergangsprozeß durch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Stärkung des Adels und des Priestertums eingesetzt“, und 33 Als zentrales Werk haben dabei Wellhausens Prolegomena zur Geschichte Israels (1878), unveränd., photomechan. Nachdr. der 6. Aufl. von 1927, mit einem Stellenregister, Berlin/ New York 2001 zu gelten, in denen „die Methode der Quellenscheidung in gewisser Weise zum Abschluß [geführt wird]“ (Weidner, ,Gegengeschichte‘, 37f). Für Wellhausen führte die jüdische Geschichte zur „Zentralisation des Kultus“ und damit zu dessen „Denaturierung“ (Wellhausen, Julius, Israelitische und jüdische Geschichte (1894), Berlin 91958, 130). In seinem Antichrist (1888) übernahm Nietzsche diese neue Sicht auf die Geschichte Israels und sah in den (exilisch-nachexilischen) Juden die Urheber der widernatürlichen Moral, die das Christentum dann weiterführte. 34 Weidner, ,Gegengeschichte‘, 47. 35 Vgl. ebd., 38–41. Nach ebd., 32–37 wurde der Begriff erstmals 1979 von David Biale in einer Arbeit über Gershom Scholem verwendet und fand eine kritische Weiterentwicklung durch Amos Funkenstein. Die „Gegengeschichte“, die von dem Konzept „Geschichte gegen den Strich bürsten“ von Walter Benjamin geprägt ist, entwirft durch Neulektüre historischer Zeugnisse eine andere Erzählung des Vergangenen, wobei es ihr Ziel nicht ist, „ein breiteres Bild zu schaffen oder von Dogmen zu befreien, sondern die Identität des Gegners anzugreifen“ (33). Wellhausen ging es nicht einfach darum, „die Wertvorzeichen zu verkehren“ (ebd.), sondern durch Re- und Neulektüre die „eigentliche“ Geschichte ans Licht zu holen, die er zudem mit gegenwärtigen Prozessen in Beziehung setzte. Denn er kritisierte mit der Darstellung der jüdischen Verfallsgeschichte hin zum ,Rabbinismus‘ zugleich die behauptete institutionelle Erstarrung und Versteinerung der Kirche in Dogmen nach der fruchtbaren Zeit des Urchristentums. Diese „Gegengeschichte“ hielt jedoch keine neue positive Wertung des Judentums bereit, sondern wurde benutzt, „to claim the superiority of a Christianity that stood in the moral tradition of the Hebrew prophets, over a Judaism that followed Pharisaic legalism“ (Kohler, George Y., Moses as a Superhuman: Criticism of Maimonides’ Theory of Prophecy by Wissenschaft des Judentums Scholars in Early 20th-Century Germany, in: JSQ 22/1 [2015], 86–107, hier : 87).

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dieser „Prozeß der Versteinerung und Degenerierung [habe dann] seinen Gipfel erreicht mit dem, was man die Herrschaft des Gesetzes und der Pharisäer nannte.“36 In diese Zeit des Untergangs und der Krise sei den christlichen Theologen zufolge der Messias Jesus Christus gekommen, habe die Menschheit durch sein Opfer mit Gott versöhnt und an die Stelle des alten Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel sei nun der neue Bund zwischen dem „wahren Israel“, also den Christen, und Gott getreten. Kellermann konstatiert in verschiedenen Publikationen, dass es den meisten zeitgenössischen protestantischen Bibelwissenschaftlern nach dieser Lesart unproblematisch erscheine, „in der Religion der Propheten die absolute Religion, die Vollendung des sittlichen Geistes [zu] erblicken“, aber zugleich „in der jüdischen Religion den Ausdruck einer minderwertigen Weltanschauung, die hinter dem Protestantismus weit zurückbliebe“ zu sehen.37 Nicht das Judentum, sondern das Christentum sei diesen Theologen „die gradlinige Fortsetzung des Prophetismus“.38 Diese „Prophetenanschlusstheorie“ will er entkräften, denn bliebe „die neutestamentliche Wissenschaft im Recht, so wäre das heutige Judentum konsequenterweise gezwungen, auf sein religiöses Selbst zu verzichten – zu gunsten einer wahren und reineren Religion, wie sie im Christentum ihre klassische Ausprägung gefunden haben soll.“39 Die Annahme der christlichen Theologen, es sei innerhalb des ganzen jüdischen Lebens allein Jesus gelungen, „aus dem beengenden Wuste der Gesetzesvorschriften das Ewig-Wahre, rein Menschliche herauszuschälen, es durch Wort und Tat zu beleben“, war eines ihrer wichtigsten Argumente für die Behauptung von der Verfallsgeschichte des Judentums bis zur Erlösung Israels und der gesamten Menschheit durch Christus. Deshalb war es für Kellermann von entscheidender Bedeutung, die neutestamentlichen und andere antike Texte unter Berücksichtigung der aktuellen christlichen und jüdischen Forschungsliteratur historisch-kritisch zu untersuchen, um die Behauptungen auf quellengesättigter Grundlage zu widerlegen und dem Judentum seinen rechtmäßigen Platz in der Religionsgeschichte zuzuweisen zu versuchen. Folgende zwei Punkte sind es, mit denen sich Kellermann zuerst in „Paulinismus und Judentum“ und dann auch in anderen Schriften bezüglich Jesus immer wieder auseinandersetzt: Zum einen die Frage nach der Historizität und Originalität Jesu, zum anderen

36 Vgl. Tal, Theologische Debatte um das „Wesen“ des Judentums, 612–614. Zitat: 611. 37 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 283. 38 Ebd. Auch: ders., Liberales Judentum, 21. Es muss festgehalten werden, dass Wellhausen diese Auffassung nicht teilte, sondern ihm zufolge waren die Propheten ebenso wie die Priester für die Kodifizierung des ,starren‘ Gesetzes verantwortlich. Vgl. dazu und zu seinem ambivalenten Propheten-Bild: Weidner, ,Gegengeschichte‘, 51. 39 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 284. Folgendes Zitat: ebd., 283f.

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die Bestimmung des Charakters der jesuanischen Ethik und ihr Vergleich mit der prophetischen Ethik. Mit der Frage nach der Originalität Jesu partizipierte Kellermann an einer zentralen Diskussion der zeitgenössischen protestantischen Theologie seit dem 18. Jahrhundert, angestoßen durch die Forschungen von Hermann S. Reimarus (1694–1768), Ferdinand Chr. Baur (1792–1860) und David F. Strauß (1808–1874), und in der Wissenschaft des Judentums spätestens seit Samuel Hirschs (1815–1889) und Abraham Geigers Betrachtungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Beschäftigung mit dem historischen Jesus.40 Diese beinhaltete neben Diskussionen über seine Existenz und die über ihn berichtenden Quellen auch die zum Teil scharf geführten Auseinandersetzungen um die Frage, ob Jesus etwas Originelles gesagt oder getan habe, das in dem zeitgenössischen jüdischen Kontext nicht schon gesagt oder getan wurde oder nicht zumindest möglich gewesen wäre. Kellermann war in dieser Frage neben Wellhausen auch von dem Alttestamentler Baudissin geprägt, der seine diesbezügliche Auffassung 1913 in folgenden Worten zusammenfasste: „Was der Prophet von Nazareth verkündete, war im einzelnen kaum etwas Neues“41. Dem ließ er noch den positiv gewerteten Zusatz folgen, „neu, noch nicht dagewesen war die Zusammenfassung dieser Einzelheiten, die er in seiner Person darstellte. Das, was er lebend und sterbend verkündete, war damit als Ganzes nicht eine Fortbildung der Religion des Volkes Israel, sondern eine neue Religion für die Menschheit.“ Dem ersten Teil stimmte Kellermann zu, dem zweiten, aufgrund der impliziten Behauptung der endgültigen Universalisierung der jüdischen Religion durch Jesus und das Christentum, nicht. Stattdessen folgt er in „Paulinismus und Judentum“ Abraham Geiger, aus dessen Schrift Das Judenthum und seine Geschichte er zitiert: „Einen neuen Gedanken sprach er [Jesus, T. L.] keineswegs aus, auch brach er nicht etwa die Schranken der Nationalität.“42 Diese Auffas40 Für die christliche, v. a. protestantische Theologie vgl. die erste umfassende Zusammenschau von Schweitzer, Albert, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906), 2 Bde., München/ Hamburg 1966. Aktuell, die Forschungen der letzten 100 Jahre einbeziehend: Strotmann, Angelika, Der historische Jesus: eine Einführung, Paderborn 2012; Theißen, Gerd/Merz, Annette, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, 3., durchges. u. um Literaturnachtr. erg. Aufl., Göttingen 2001. – Für die Wissenschaft des Judentums vgl. Homolka, Walter, Jesus von Nazareth. Im Spiegel jüdischer Forschung, Jüdische Miniaturen, Bd. 85, Berlin 32011; Vahrenhorst, Martin, „Nichts Neues zu lehren, ist mein Beruf…“. Jesus im Licht der Wissenschaft des Judentums, in: Hasselhoff (Hg.), Entdeckung des Christentums, 101–136; BenChorin, Schalom, Das Jesusbild im modernen Judentum, in: ZRGG 5/3 (1953), 231–257. 41 Baudissin, Wolf W. von, Die alttestamentliche Wissenschaft und die Religionsgeschichte. Rede zum Antritt des Rektorates der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Gehalten in der Aula am 15. Oktober 1912, Berlin 1912, 19. Folgendes Zitat: ebd. 42 Geiger, Abraham, Das Judenthum und seine Geschichte, Bd. 1: Bis zur Zerstörung des zweiten Tempels, Breslau 1865, 117. Das Zitat findet sich: Kellermann, Paulinismus und Judentum, 284.

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sung wiederholt er einige Jahre später in den Kritischen Beiträgen, wenn er Jesus trotz dessen Toratreue eine möglicherweise „etwas freiere Auffassung vom Gesetze“ zugestand, die er mit den Pharisäern „teilte“.43 Für Kellermann war Jesus nicht mehr und nicht weniger als ein gelehrter Jude seiner Zeit, den er wie Geiger und Baeck als einen Rabbiner, einen Pharisäer identifizierte. So könnte Kellermann an diesem Punkt Harnack zunächst einmal zustimmen, der wie Wellhausen die These vertrat, dass Jesus nichts Originelles verkündet habe, was nicht schon bei den Propheten und bei den Pharisäern zu finden gewesen wäre. Laut Harnack bestand nun aber das Problem darin, dass deren Botschaften „leider noch sehr viel anderes daneben“ hatten, wodurch der Inhalt „beschwert, getrübt, verzerrt, unwirksam gemacht und um seinen Ernst gebracht“ wurde.44 Jesus „atmete in der Gegenwart Gottes“, aber die jüdischen Priester und Schriftgelehrten „dachten sich Gott als den Despoten, der über dem Zeremoniell seiner Hausordnung wacht“. Ganz im Sinne der jüdischen Verfallsgeschichte hatten sie nach Harnack „aus der Religion ein irdisches Gewebe gemacht – es gab nichts Abscheulicheres –, er [Jesus, T. L.] verkündete den lebendigen Gott und den Adel der Seele.“ Als erster sittlich vollkommen handelnder Mensch habe Jesus die Botschaft der Nächsten- und Gottesliebe „rein und […] kraftvoll“, also unverfälscht vorgetragen,45 was ihn nicht nur von den Pharisäern abgegrenzt, sondern auch generell aus seiner jüdischen Umwelt herausgehoben habe. Kellermann widerspricht dieser These in seinen Texten immer wieder und verweist darauf, dass Jesus neben der Predigt von der Gottes- und Nächstenliebe keineswegs auf die Halacha verzichtet habe und somit die Predigt ebenso wie die Pharisäer „beschwerte“ und „trübte“. Antike jüdische Gelehrte wie Hillel, Jochanan ben Zakkai und Akiba hätten wie er auf Levitikus 19,18 rekurriert und „die Nächstenliebe als die Summe des ganzen Gesetzes“46 zusammengefasst, und „[s]o wenig wie Jesus wollten auch sie ein Jota vom Gesetz sich rauben lassen.“47 Um die Hervorhebung dieser Bibelstelle, die sogenannte „Mitte der Tora“, angemessen würdigen zu können, muss unbedingt Kellermanns Hinwendung zum liberalen Judentum beachtet werden. Denn an sich stimmt er wie der Kellermann, Kritische Beiträge, 19. Harnack, Wesen des Christentums, 29 (Hrvh. im Orig.). Folgende Zitate: ebd., 31. Ebd., 29 (Hrvh. im Orig.). Kellermann, Paulinismus und Judentum, 284. – In Lev 19,18 heißt es: „Du sollst dich nicht rächen und den Kindern deines Volkes nichts nachtragen und sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR.“ Im Talmud, Traktat Schabbat 31a, findet sich folgender, Hillel zugeschriebener Ausspruch: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Erläuterung“ (Goldschmidt, Lazarus, Der babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials neu übertragen, 12 Bde., Berlin 1929–1936, hier : Bd. 1, 522). 47 Kellermann, Liberales Judentum, 10. Er spielt hier auf Mt 5,18 an.

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Großteil der zeitgenössischen liberalen jüdischen Wissenschaftler in der Bewertung jüdischen Lebens und Denkens seit dem Exil als Verfallsgeschichte in weiten Teilen mit der protestantischen Theologie überein.48 Wie sie unterscheidet er zwischen dem „für die ganze Menschheit gültigen Sittengesetz“ und dem von der „Psyche bestimmter einzelner Menschen […] erdichtet[en] […] partikularistische[n] Ritengesetz“49 : […] unmittelbar nach dem Abschluß der Prophetenreligion erhielt die Priesterreligion das Wort. Und alle jene starren Volks- und Kultelemente, wie Opfer, Speise- und Reinheitsgesetze, die der Prophetismus aus jenem Pflichtenkomplex ausgeschieden wissen wollte, all diese mythischen und toten Reste feierten im Priesterkodex, in dem Geisteswerk Ezechiels und seiner Schule ihre Auferstehung. Freilich kam auch das Sittengesetz zur Geltung. Und es sind nicht die unbedeutendsten Forderungen, die in cap. 19 des Leviticus ihre Stimme vernehmen lassen. Aber neben diesen streng sittlichen Forderungen standen ebensoviele außersittliche Forderungen, nicht nur auf der gleichen Stufe, sondern noch auf höherer als die sittlichen.50

Weil für Kellermann „das ganze Prinzip des Ritualgesetzes ethisch verfehlt ist“, sieht er in ihm eine Belastung der sittlichen Ideen, wie sie von den Propheten verkündet wurden.51 Jesus aber habe wie die Pharisäer neben den rein moralischen Geboten am „Ritualgesetz“ festgehalten und damit „jene partikularistische Schranke der universalen Ethik, nicht zu überwinden vermocht[…].“52 Deshalb stelle er, gegen Harnack, eben keine originelle Ausnahme in seiner Umwelt dar. Da die halachischen Weisungen zudem allein für Juden gelten, sei diese ethisch partikularistische zugleich eine „nationale Schranke“ gewesen, die Jesus nie durchbrochen habe, wie er im Anschluss an die Forschungen von Oskar Holtzmann (1859–1934), Heinrich J. Holtzmann (1832–1910) und Julius Wellhausen behauptet.53 Dies werde besonders an seiner Haltung zur Tora deutlich, wie sie Kellermann zufolge exemplarisch in Mt 5, 18f aufscheine: 48 Vgl. dazu Tal, Theologische Debatte um das „Wesen“ des Judentums, 617: „[…] nach innen, wie in der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie und vielleicht auch mit sich selbst, argumentierten die Führer des liberalen Judentums ebenso wie ihre protestantischen Gesinnungsfreunde. So bei der Verneinung der normativen Authorität [sic] der Halacha und des sogenannten rabbinischen Judentums; bei der Erklärung, daß das Judentum nach der zweiten Tempelzerstörung und im Mittelalter versteinert sei; bei Kritik am engen partikularistischen Charakter des jüdischen Nationalismus […].“ 49 Kellermann, Liberales Judentum, 6. 50 Ebd., 19. 51 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 285. 52 Ders., Paulinismus und Judentum, 285. Folgendes Zitat: ebd. 53 In „Paulinismus und Judentum“ beruft er sich hierzu auf Holtzmann, Oskar, Das Messiasbewußtsein Jesu und seine neueste Bestreitung, Gießen 1902. In den Kritischen Beiträgen, 19 zitiert er aus Holtzmann, Heinrich J., Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie, 2 Bde., Freiburg i. Br. 1897 und Wellhausen, Julius, Das Evangelium Lucae. Übers. u. erklärt von dems., Berlin 1904.

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(18) Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. (19) Wer nun eins dieser geringsten Gebote auflöst und so die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Reich der Himmel; wer sie aber tut und lehrt, dieser wird groß heißen im Reich der Himmel.54

Weil Jesus das „ethisch widerspruchsvoll[e] und haltlos[e]“55 Religionsgesetz nicht zu überwinden vermochte, habe er genauso wenig wie die Pharisäer und andere jüdische Gruppen der Zeit den unverfälschten, reinen „ethischen Monotheismus“ der Propheten vertreten. Deshalb könne er auch weder als deren Nachfolger noch als einzigartiger Charakter in seiner Umwelt gelten. Sondern eine mit der Rezeption Kantischer Philosophie verbundene, wirkliche Aufnahme prophetischen Gedankenguts habe, von wenigen Ausnahmen jüdischer Philosophen in der Antike und im Mittelalter abgesehen, erstmals wieder seit dem Ende des 18. Jahrhunderts mit der jüdischen Aufklärung, der Etablierung der Wissenschaft des Judentums und dem Aufstieg des auf die praktische Ethik zentrierten liberalen Judentums seit dem 19. Jahrhundert stattgefunden.56 In allen Schriften, die auf Jesus und die Frage nach dessen Originalität Bezug nehmen, nähert sich Kellermann ihm entweder als einem historischen Juden, der im ersten Jahrhundert in Palästina lebte und den er in das Umfeld der Pharisäer einordnet, oder er thematisiert die Frage nach der geschichtlichen Existenz nicht eigens. Die einzige Ausnahme davon bildet die 1906 beim Berliner Verlag M. Poppelauer veröffentlichte Monografie Kritische Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Christentums.57 Das Manuskript der Salomon Neumann (1819–1908) zugeeigneten Publikation,58 die im Gesamtwerk völlig aus dem Rahmen fällt, verfasste Kellermann wahrscheinlich nach „Paulinismus und Judentum“. Am 4. November 1905 hielt er vor der „Wissenschaftlichen Vereini-

54 Parallel Lk 16,17: „Es ist aber leichter, daß der Himmel und die Erde vergehen, als daß ein Strichlein des Gesetzes wegfalle.“ 55 Kellermann, Benzion, Universalistisches und partikularistisches Judentum, in: AZJ Nr. 35 vom 1. 9. 1911, 417–419 u. Nr. 36 vom 8. 9. 1911, 428–430, hier : 428. 56 Vgl. ders., Liberales Judentum, 11. 57 Ders., Kritische Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Christentums, Berlin 1906. Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. 58 Salomon Neumann war ein Armenarzt und Statistiker in Berlin, der auch Mitglied der Stadtverordnetenversammlung war. Als Freund von Leopold Zunz, Gründungsmitglied der HWJ und ihr Kuratoriumsmitglied zwischen 1895–1905, förderte er sein Leben lang die Wissenschaft des Judentums. Zum 100. Geburtstag Neumanns am 22. 10. 1919 fand an dessen „Grabe eine Feier statt[…], bei der Herr Rabbiner Dr. Kellermann die Gedenkrede hielt“ (GBAZJ Nr. 45 vom 7. 11. 1919, 1, Hrvh. d. Verf.). Zur Biografie: Regneri, Günter, Salomon Neumann. Sozialmediziner – Statistiker – Stadtverordneter, Jüdische Miniaturen, Bd. 107, Berlin 2011.

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gung jüdischer Schulmänner zu Berlin“ einen darauf beruhenden Vortrag mit dem Titel „Kalthoffsches Christentum und prophetisches Judentum“.59 Zuvor hatte er das Manuskript, in dem er einen großen Teil der zeitgenössischen christlichen und jüdischen bibelwissenschaftlichen Literatur verarbeitet hatte, an Cohen nach Marburg geschickt, der sich im August 1905 über den Text wie folgt äußerte: „[D]en westöstlichen Orient haben Sie himmlisch beleuchtet, daß ich Ihre Schrift mit Wonne verschlungen habe. Vivant sequentes.“ Er sei „so tief in der Kritik der darüberliteratur [sic]“, nun müsse es aber darum gehen, „die Quellen selbständig [zu] mustern“, um zu einer eigenen Analyse der Gestalt und Geschichte der frühchristlichen Religion zu gelangen.60 Die von Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung zur Kenntnis genommene Schrift61 besteht aus zwei Teilen: „Albert Kalthoffs soziale Theologie“ und „Das Minäerproblem“. Im ersten, umfassenderen Teil, der zugleich eine kritische Würdigung des in jenem Jahr Verstorbenen darstellt, referiert er die theologischen Positionen des Bremer Reformtheologen und Philosophen Albert Kalthoff (1850–1906), die jener in Das Christus-Problem und Die Entstehung des Christentums vertreten hatte, und setzt sie zu seinen eigenen Anschauungen in Beziehung.62 Kalthoff, der Vorsitzender des deutschen Monistenbundes und „eine schillernde Persönlichkeit auf der Suche nach der Einheit von theologischem Diskurs, kirchlicher Existenz und gesellschaftlicher Verantwortung“63 war, wurde durch die radikale Bibelkritik geprägt, bezweifelte die Historizität Jesu und die Echtheit der paulinischen Briefe. Er wurde von den Kirchenoberen des Atheismus beschuldigt und blieb immer ein Außenseiter der Theologie. Kellermann übernimmt in den Kritischen Beiträgen eine von dessen zentralen Thesen und geht damit weit über die in allen anderen Schriften am Christentum geäußerte Kritik hinaus, denn hier behauptet er, „daß Christus selbst kein historisches

59 Vgl. o. Verf., Festschrift aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin, Berlin 1905, 27; GBAZJ Nr. 1 vom 5. 1. 1906, 1. 60 Hermann Cohen an Benzion Kellermann, 16. 8. 1905, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. 61 Vgl. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd. 2, 365, Anm. 19 u. 370, Anm. 25. Er enthält sich zwar jedes direkten Urteils über Kellermann, verurteilt aber umso deutlicher Kalthoff. 62 Kalthoff, Albert, Das Christus-Problem, Leipzig 1902; ders., Die Entstehung des Christentums. Neue Beiträge zum Christusproblem, Leipzig 1904. In diese Reihe gehört thematisch auch noch folgende Schrift Kalthoffs: Was wissen wir von Jesus? Eine Abrechnung mit Professor D. Bousset in Göttingen, Berlin 1904. – Zu Leben und Werk im Folgenden: Wesseling, Klaus-Gunther, Art. Kalthoff, Albert, in: BBKL 3 (1992), 987–990, URL: http:// bautz.de/, abgerufen am 9. 1. 2013; Auwärter, Thomas, Albert Kalthoff. Ein Bremer Pastor im Übergangsfeld von linkem Reform-Protestantismus und freigeistiger Bewegung, in: ZRGG 62/1 (2010), 28–51. 63 Wesseling, Kalthoff.

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Individuum ist, sondern die personifizierte Idee ,das transzendente Prinzip der Kirche bedeutet‘“ (22).64 Die neutestamentliche und außerneutestamentliche Quellenlage sei so ungünstig, dass unmöglich die Existenz Jesu weiter behauptet werden könne. Es gebe, wie schon 1898 in „Bibel und Wissenschaft“ dargelegt, nur eine nach objektiven Maßstäben verfahrende wissenschaftliche Methode und diese müsse auf alle Phänomene gleichermaßen angewendet werden. Wenn die Bibelwissenschaft zu Recht den masoretischen Text des Alten Testaments in dutzende Textschichten seziert und die Erzväter Israels als literarische Fiktion entlarvt habe, dann müsse dies auch in gleicher Art und Weise mit dem Neuen Testament geschehen (vgl. 16). In der Konsequenz dürften dann auch hier Jesus und seine „Ergänzungspersönlichkeit Paulus“, wie Wellhausen ihn nannte, nicht mehr als historisch reale Personen aufgefasst, sondern müssten als „freie Schöpfungen einer dichterischen Phantasie erblickt“ werden (16). Kellermann begründet seine These, die schon von den protestantischen Bibelkritikern Ferdinand Chr. Baur und Bruno Bauer (1809–1882) vertreten wurde, mit mehreren philologischen und historischen Argumenten: a) Für Kellermann steht außer Frage, „daß wir mit absoluter Gewißheit auch nicht ein Wort der Evangelien als aus Jesu Mund stammend bezeichnen können“ (13)65, b) „die spärlichen Zitate bei Tacitus und Josephus [beruhen] teils auf unsicherer Überlieferung, teils auf direkter Fälschung“ (13), c) „die talmudische Literatur schweigt“ zu Jesus (13), d) „die paulinischen Briefe [würden] die Evangelien direkt desavouieren“ (13), e) die Schätzung des Volkes während der Herrschaft des Statthalters Quirinius, während der Jesus geboren sein soll, habe es nie gegeben (vgl. 23),66 f) eine Kreuzigung Jesu unter Pontius Pilatus sei historisch falsch, vielmehr habe hier eine Projektion in vergangene Zeiten stattgefunden: „Das Leiden [Jesu am Kreuz, T. L.] ist nichts anderes, als die erste große Christenverfolgung unter Trajan, unter dessen Regierung zuerst von Staats wegen den Christen das Todesurteil gesprochen wurde, das Plinius vollzog“ (24), 64 Im zwei Jahre später publizierten Idealismus und Religion, 47 heißt es zwar zurückhaltend: „[…] versäumen wir nicht, darauf hinzuweisen, dass wir hier die Frage nach der historischen Persönlichkeit völlig übergehen.“ Seine Skepsis gegen die Annahme eines historischen Jesus wird aber dennoch deutlich, wenn er sagt, dass der Protestantismus Christus „nicht als Idee“ auffasse, sondern „Christus soll Person, soll ein Mensch gewesen sein“ (ebd.). 65 Diese Meinung bekräftigt Kellermann auf Seite 38 mit Verweis auf Wrede, William, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Marcusevangeliums, Göttingen 1901 sowie Wernle, Paul, Die Quellen des Lebens Jesu, Religionsgeschichtliche Volksbücher für die deutsche christliche Gegenwart 1,1, Halle 1904. 66 Unter Berufung auf Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie.

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g) die Darstellung der Festtage während Jesu Passion seien inhaltlich falsch dargestellt (vgl. 26) und h) die geografischen Schilderungen in Bezug auf Jesu Wirken seien widerspruchsvoll (vgl. 26f.). Trotz dieser Argumente würde Kellermann zufolge in der zeitgenössischen Bibelwissenschaft an der Existenz Jesu festgehalten und dadurch an die Quellen verschiedene Maßstäbe angelegt werden: „Was für das Alte Testament gut ist, ist noch lange nicht recht und billig für das Neue“ (63). Ferner habe jeder liberale Theologe auch noch einen eigenen „historischen Jesus“, den er seinen Vorstellungen und Vorlieben gemäß konstruiere. Darin zeige sich eine unwissenschaftliche Herangehensweise an den Gegenstand, denn den Vorannahmen und Tendenzen der Forscher müsse sich dann „die Methode in ihren logischen und ethischen Forderungen […] unterwerfen“ (10). Somit scheine „hier die historisch-kritische Methode völlig zu versagen“ (9), da die Gelehrten die letzten Konsequenzen scheuen würden. Trotz erschlagender Belege seien sie nicht bereit, ihre Vorannahmen aufzugeben, die sie in die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Quellen hineintragen: Jesus sei eine historische Gestalt, „ein Übermensch“, der „das absolute Ideal reiner Sittlichkeit vorbildlich gelebt haben“ soll, nach Harnack sogar „der Genius wahrer Humanität“ (10). Eine rühmliche Ausnahme bilde dagegen Kalthoff, dem „der ganze historische Jesus der liberalen Theologie als das Werk einer wissenschaftlichen Entgleisung, als ein rein fiktiver Begriff, der als leeres inhaltsloses ,Gefäß‘ sich nur zur Aufnahme politischer Tagestendenzen eignet“, erscheine (10f.). Ihr berühmtester Vertreter sei Harnack, den Kellermann für die psychologisierende „Methode“ seiner „Geschichtsforschung“ direkt kritisiert (25).67 Ferner gibt der jüdische Theologe auf ganzen zwei Seiten zustimmend eine Bemerkung Kalthoffs über den Berliner Professor wieder, wodurch er sich vier Jahre nach „Paulinismus und Judentum“ erneut in die Debatte um das Wesen des Christentums einmischte. In dem Zitat bezeichnet Kalthoff Harnack als großpreußischen Staatstheologen und attackiert ihn heftig, da er einen historischen Jesus konstruiert habe, „,der für die herrschenden politischen Strömungen völlig ungefährlich ist‘“ und damit nicht den Quellen entspräche (vgl. 11). Mit diesem Jesus-Bild sei es nur konsequent, ein Christentum zu vertreten, das dem „Kultus des absoluten Staates […] huldigt‘“ (12). Die ganze Widersprüchlichkeit der liberalen christlichen Theologie offenbare sich Kellermann zufolge in Harnack, dem „modernen Vertreter des Hegelianismus“ (62), für den Jesus zugleich 67 Hierbei bezieht sich Kellermann auf Harnacks Äußerung, die Juden hätten die Christenverfolgungen durch Nero „angezettelt“ (Harnack, Adolf von, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 1902, 41).

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Wundertäter und nicht Wundertäter, Auferstandener und nicht Auferstandener, Messias und nicht Messias sei. Kalthoff hingegen habe die Quellenlage ernstgenommen und die Frage nach dem historischen Jesus radikal zu Ende gedacht, denn er gebe zu Recht „die Persönlichkeit Jesu preis“ (13). Im Gegensatz zu den Ergebnissen der liberalen Theologie, habe es für den Pfarrer, wie Kellermann zustimmend referiert, den Messias Jesus nie gegeben, sondern dessen vollkommenes sittliches Handeln, Kreuzestod und Auferstehung waren Ideen einer, in griechisch-philosophischen und messianisch-jüdischen Denktraditionen stehenden, revolutionären Bewegung, die ihren historischen Ort im 1. Jahrhundert n.d.Z. in Rom gehabt habe (vgl. 27 u. passim).68 Damit schreibt Kalthoff, und in seinem Gefolge Kellermann, eine „Gegengeschichte“ zu Harnacks Bild der Entwicklung des frühen Christentums, das auch heute noch Geltung besitzt. Am Anfang stehen den beiden zufolge nicht mehr die paulinischen Briefe und Evangelien, die die judenchristlichen und heidenchristlichen69 Gemeinden in ihrem religiös-praktischen Leben rezipierten und die zur Grundlage der christlichen Theologie und Kirche wurden, sondern die Evangelien setzen für Kellermann „die Kirche als eine bereits bestehende Institution voraus“ (22). Die frühe und noch keine Texte besitzende Kirche sei durch diese sozial ausgerichtete revolutionäre Bewegung in Rom repräsentiert worden, welche Kalthoff zufolge aus den folgenden vier Gruppen bestand: Die „Kleinbauern, Handwerker und Tagelöhner“; „die Gruppe der Sklaven“; „das römische Proletariat“ und „die stoische Schule“ (29f.). Sie alle hätten sich „von der messianischen Erlösung ihr Heil“ (29) erhofft. Zudem hätten sie in „zu Trajans Zeiten“ (25) literarisch fixierten Texten sowohl ihre Hoffnungen als auch ihre historisch erlittenen Gewalterfahrungen, wie etwa massenhafte Hinrichtungen von Sklaven durch Kreuzigung nach Aufständen, synthetisiert. Ganz in der Tradition der Apokalyptik stehend, hätten die in römischen Vereinen zusammengeschlossenen Mitglieder jener heterodoxen Bewegung in der Figur Jesu „ihre Ideen personifiziert und vermenschlicht“ (23).70 68 Für Rom spreche u. a. „die Bedeutung Petri […] in den Evangelien“, deren „griechische Originalsprache“, „ihre Beziehung auf den Text der Septuaginta“, die geschilderten „sozialen Verhältnisse“ und die „Anrede Kyrios“ (alle Zitate: 27). 69 Der Verf. ist sich der Problematik des Begriffs im Anschluss an Martin Hengel durchaus bewusst: „Der Begriff ,heidenchristlich‘ klingt freilich zu einseitig. Es handelte sich bei den Heidenchristen zunächst vor allem um Gottesfürchtige“ (Hengel, Martin, Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung, WUNT 224, Tübingen 2008, 256, Anm. 750). Aufgrund einer fehlenden Alternative innerhalb der Theologie, wird der Terminus hier jedoch im Bewusstsein seiner normativen Implikationen weiter verwendet. 70 Kalthoff selbst konnte den Verzicht auf die Existenz Jesu problemlos mit seiner praktischseelsorgerlichen Arbeit vereinen, denn wichtiger als der historische Jesus seien die von der

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Zum einen liege daher „in der Tat der Gedanke nicht fern, daß das Kreuz als das Symbol für die Leiden der Elendesten und Ärmsten der Gesellschaft figurieren konnte“ (29). Zum anderen hätten sie ihre aus eleusinischen, eranisch-thiasischen und anderen Mysterien gewonnenen naturmythischen Anschauungen von dem Tod und der Auferstehung der Götter, etwa des Gottes Attis, auf Jesus übertragen und die Eucharistie als Umbildung der weit älteren Kultpraxis des gemeinsamen Mahls zu Ehren des Gottes oder Heros des jeweiligen Vereins gefeiert (24, 34–38, 46–49). Mit dieser Argumentation versucht Kellermann, ähnlich wie der Berliner Schriftsteller und Religionsphilosoph Samuel Lublinski (1868–1910), „die Gestalt Jesu aus den antiken Mysterienkulten zu erklären“, wodurch er „zu einer jüdischen Version altsemitischer und hellenistischer Mythen und Mysterien“ wurde, wie Schalom BenChorin richtig schlussfolgerte.71 Kalthoff war bei der Negierung der Historizität Jesu nicht stehen geblieben, sondern „er bestreitet auch die von liberalen Theologen so viel gerühmte Neuheit und Originalität der Lehren Jesu“ (13). Dies behaupteten schon vor Kalthoff viele liberaljüdisch gesinnte Denker des 19. Jahrhunderts und auch Kellermann stimmt der These der Unoriginalität, wie schon ausgeführt wurde, bedingungslos zu. Er bettet davon ausgehend die nicht historisch verstandene, literarische Jesusfigur und die in Rom zu lokalisierenden neutestamentlichen Autoren in den zeitlichen Kontext ein und übernimmt die Behauptung Kalthoffs, daß die grundlegendsten Gedanken dieser Jesuworte, der Glaube an Gott als den Vater der Menschen, die Bruderliebe und Feindesliebe, die individuelle Wertschätzung des Menschen, die Befreiung der Religion von der Last statutarischer Bestimmungen, die Zurückführung der Moral auf die Gesinnung beim Ausgange der alten Zeit längst vorbereitet, daß sie sogar schon feste Bestandteile der damaligen geistigen Kultur geworden waren, Produkte sowohl der aus dem Judentum hervorgegangenen religiösen Entwickelung, wie der durch den Weltverkehr und die philosophischen Schulen bewirkten Humanisierung der Gottesidee. (13)

Mit den Kritischen Beiträgen liegt eine ambivalente Würdigung der Kalthoffschen Gedankenwelt vor. Kellermann stimmt den Hauptthesen bezüglich der Entstehung des Urchristentums und dessen Schriften zu und hatte sich damit weit aus dem Fenster gelehnt. Dies schied ihn von der Mehrheit der christlichen

Urgemeinde, in der Überzeugung vom Versöhnungshandeln Gottes an den Menschen, angestoßenen ethischen Forderungen und praktischen Konsequenzen für das Leben der Gläubigen. 71 Ben-Chorin, Das Jesus-Bild im modernen Judentum, 242. Lublinski publizierte zu diesem Thema 1910 gleich drei Publikationen: Die Entstehung des Christentums aus der antiken Kultur und Das werdende Dogma vom Leben Jesu im Jenaer Diederichs Verlag (Der urchristliche Erdkreis und sein Mythos, Bd. 1 u. 2) sowie im Leipziger Verlag Die Tat Falsche Beweise für die Existenz des Menschen Jesus.

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und jüdischen Forscher der Zeit und er riskierte damit ernsthaft seinen Ruf als gelehrter Kenner der vergleichenden Religionsgeschichte.72 Andererseits kritisiert er hier und an späterer Stelle Kalthoffs philosophische Grundannahmen und die aus der These gewonnenen Konsequenzen scharf. Er moniert wiederholt die als marxistisch charakterisierte Geschichtsphilosophie Kalthoffs, nach der die Projektion ethischer Forderungen auf die Christusfigur vorwiegend aus ökonomischen Zwängen erwachse und bemängelt, dass der Hypothese noch „ihre Wahrheit erzeugende Kraft in der exegetischen Detailarbeit“ fehle (63).73 Ferner verurteilt Kellermann den von Kalthoff vertretenen und angeblich von Hegel verschuldeten Monismus, durch den Sollen und Sein identisch und die Ethik durch den Mythos vernichtet werde. Mit ihm falle „die Willensfreiheit, die Unendlichkeit der Menschenseele – die Schellingsche Identität triumphiert.“74 Der Monismus wiederum sei die Grundlage dafür, dass es auch Kalthoff nicht gelungen sei, „den Christusglauben zu beseitigen“, sondern dass er dagegen „Christus als den Typus des Nietzscheschen Übermenschen auftreten läßt“ und dass des Hamburger Predigers am Zarathustra geschulter Autonomie-Begriff „schrankenloseste[r] Subjektivismus“ sei (66). Cohen, der sich zur historischen Existenz Jesu selbst oft „skeptisch“ äußerte75, hatte in dem Aufsatz „Gedanken über Jugendlektüre“ vom September 1906 Kellermanns „Schrift allen Gebildeten empfohlen“76. Das in der schon zitierten Postkarte vom August 1905 verlangte intensivere Quellenstudium, schien Kellermann zu seiner Zufiedenheit erfüllt zu haben, denn einer Mitteilung Ismar Elbogens zufolge war der Professor von dem Buch „begeistert, der alte Mann, der

72 Dieser gute Ruf zeigt sich u. a. darin, dass ihn 1903 der jüdische Historiker Martin Philippson um einen Beitrag über Christentum und Judentum zum geplanten „Grundriss der jüdischen Wissenschaft“ bat, der von der GFWDJ herausgegeben wurde. Vgl. dazu Kapitel II.2.5. 73 Vgl. zum Marxismus Kalthoffs: Kellermann, Kritische Beiträge, 33, 56f u. passim. 74 Kellermann, Die philosophische Begründung des Judentums, 83 (Hrvh. im Orig.). Folgendes Zitat: ebd., 84 (Hrvh. im Orig.). 75 Eine detaillierte Aufarbeitung von Cohens Jesus-Bild im Gesamtwerk fehlt bislang. Überblickend: Erlewine, Robert, Hermann Cohen and the Jewish Jesus, in: Modern Judaism 34/ 2 (2014), 210–232; Holzhey, Helmut, Hermann Cohen und der Glaube an Jesus Christus, in: Dober/Morgenstern (Hg.), Religion aus den Quellen der Vernunft, 147–161. Zitat: ebd., 155. 76 Wolbe, Eugen, [Rez.] Kellermann, Kritische Beiträge, in: IDR 12/11 (1906), 673f, hier: 674. In Cohen, Hermann, Gedanken über Jugendlektüre (1906), JS 2, 126–132, hier: 130 heißt es diesbezüglich: „Für uns, für unsere Religiösität und für unsere Sittlichkeit bleibt die Person Jesu, das Bild seines menschlichen Lebens wie seines Todes, ebenso widerspruchsvoll wie die Gottheit Christi. (Für diesen wichtigen Punkt werden weite gebildete Kreise unter uns Belehrung und Aufklärung erlangen aus einer jüngst erschienenen Schrift von Dr. B. Kellermann, Kritische Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Christentums […]. Sie ist mit Beherrschung der neueren neutestamentlichen Literatur aus dem Herzpunkt des Judentums heraus fest und klar geschrieben.)“. Ebd., 127 bezeichnet Cohen Jesus als „legendarische Person“.

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ziemlich munter ist, stolz darauf“77. Kellermann teilt mit seinem Lehrer das „jüdische[…] Missbehagen“78 an der Notwendigkeit einer religiösen Stifterfigur, die die Religion mythisch gefährde. In seiner Rede auf dem „Weltkongress für freies Christentum und religiösen Fortschritt“ in Berlin 1910 formulierte Cohen seine dahingehende Kritik deutlich: Alle Anknüpfung der Religion aber an eine Person setzt sie der Gefahr des Mythos aus. Denn der Grundsinn des Mythos ist die Personifikation alles Unpersönlichen. Darin bewährt sich daher die Unterscheidung, welche das Judentum überall vom Mythos an sich durchzuführen sucht, daß sie die höchste Tat, die sie von Gott erwarten kann, die Vereinigung seiner Kinder in Eintracht und Treue, durchaus nicht von einer Person erwartet.79

Ferner charakterisiert Kellermann die der literarischen Jesusfigur in den Mund gelegten Worte wie Cohen als zum Teil in prophetischer Tradition stehend und ist seine von Platon herkommende Definition Gottes „als ethisches Wesen“80 ein abstrakter philosophischer Begriff. Ebenso positiv wie Cohen äußerten sich die Rezensenten des Jahrbuchs für jüdische Geschichte und Literatur und der Zeitschrift des CV Im deutschen Reich. Sie besprachen das Buch zwar nicht in der Tiefe, waren aber begeistert von den „[s]ehr wertvolle[n] Beiträge[n]“81 Kellermanns zur Frühgeschichte des Christentums und lobten seine Kritik an Harnack, seinen „ungewöhnliche[n] Scharfsinn“ und die „seltene[…] Vertrautheit mit der gesamten neutestamentlichen Literatur.“82 Auf nichtjüdischer Seite fand eine intensivere Auseinandersetzung mit den Kellermannschen Thesen statt. Neben einer Buchanzeige in den katholischen Biblischen Studien, finden sich weitere Rezensionen in einem theologischen Blatt, in der Deutschen Literaturzeitung und vor allem in Tageszeitungen.83 In seiner kurzen Besprechung im Theologischen Literaturblatt Leipzig stellte der evangelische Theologe Richard H. Grützmacher (1876–1959) lediglich fest, dass Kellermanns Schrift „ein interessanter Beweis“ dafür sei, wie sich das „aufge77 Ismar Elbogen an Abraham S. Yahuda, 28. 8. 1906, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.16, File 702, 1 Bl. 78 Homolka, Walter, Jesus der Jude. Die jüdische Leben-Jesu-Forschung von Abraham Geiger bis Ernst Ludwig Ehrlich, Antrittsvorlesung an der Universität Potsdam, 1. 11. 2007, URL: www.jcrelations.net/Jesus_der_Jude.3177.0.html?L=3, abgerufen am 10. 1. 2013. 79 Cohen, Hermann, Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt (1910), JS 1, 18–35, hier: 31 (Hrvh. im Orig.). Auch in Die religiösen Bewegungen der Gegenwart (1914), JS 1, 36–65 wiederholte Cohen diese Kritik. Vgl. dazu auch Holzhey, Cohen und der Glaube an Jesus Christus, 152. 80 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 299. 81 Karpeles, Gustav, Litterarische Jahresrevue [1907], in: JJGL 10 (1907), 21–48, hier: 31. 82 Wolbe, [Rez.] Kellermann, Kritische Beiträge, 673. 83 Sickenberger, J.[oseph], [Rez.] Kellermann, Kritische Beiträge, in: BSt(F) 5 (1907), 199. – In den tonangebenden evangelischen (ThLZ; ZNW; ThR) und katholischen (ThRv ; ThQ; ZKTh) wissenschaftlichen Zeitschriften fand sich jedoch keine Besprechung.

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klärte Judentum“ neuerdings von der liberalen christlichen Theologie abwenden und „die Zukunft aller Religionen“ im prophetischen Judentum erblicken würde, enthielt sich jedoch einer Bewertung dieser Beobachtung.84 Der protestantische Neutestamentler Heinrich J. Holtzmann, dessen Forschungen Kellermann in seiner Schrift sowohl positiv als auch negativ rezipierte, zerriss das Werk innerhalb eines großangelegten Überblicks über den Stand der Leben-Jesu-Forschung um die Jahrhundertwende.85 Er warf der „Kalthoff-Kellermannschen Schule“ einen Mangel an „methodischer Zucht und historischer Urteilsfähigkeit“ vor, der sich unter anderem in der These zeige, dass „es nie eine judenchristliche Urgemeinde, also auch nie einen Gegensatz derselben zum Paulinismus gegeben habe“. Dies könne er „selbst beim besten Willen zu verstehen leider nur als barocken Unsinn bezeichnen“ und schloss sich dem Wort seines Kollegen Ernst von Dobschütz (1870–1934) an, dass „derartige ,Freischärler nicht viel bedeuten für die große Marschroute unserer Wissenschaft‘“. Der liberale Theologe Johannes Kübel (1873–1953) beurteilte Kellermanns Werk in der Allgemeinen Zeitung ebenfalls sehr negativ. Der Behauptung Kalthoffs, eine römische Sekte habe ihre messianisch-philosophischen Ideen auf eine Figur Jesus projiziert, stand er generell skeptisch gegenüber: Kellermanns unterstützende „Detailarbeit […], vermag der Hypothese keine günstigen Aussichten zu eröffnen“. Ferner stimme dessen Aussage, Kalthoff habe dem Subjektivismus in der neutestamentlichen Forschung Einhalt geboten, keineswegs, denn „[w]o herrscht der Subjektivismus kühner, rücksichtsloser als eben bei Kalthoff?“86 An dieser Stelle scheint dem Rezensenten jedoch entgangen zu sein, dass Kellermann Kalthoff für seinen subjektivistischen Autonomie-Begriff scharf kritisierte. Auch die Rezension in der Königsberger Hartungschen Zeitung gegenüber diesem „Produkt moderner Hyperkritik“ war deutlich kritischer als die der jüdischen Kollegen. Kellermann schaffe es zwar, durch die Rezeption religionsund sozialgeschichtlicher Forschungen den Leser zum Nachdenken anzuregen und auf „Umstände [hinzuweisen], die der bisherigen Auffassung Schwierigkeiten bereiten“. Aber letztlich erscheine „die Umstoßung der gesamten Tradi-

84 Grützmacher, R. H., [Rez.] Kellermann, Kritische Beiträge, in: ThLbl 28 (1907), 128f. 85 Holtzmann, Heinrich J., Zur Leben-Jesu-Forschung III, in: DLZ Nr. 11 vom 16. 3. 1907, 645–658. Folgende Zitate: ebd., 648f. – Interessant ist, dass sich ein Kellermann betreffender Auszug der Rezension in Form eines Typoskripts in den Unterlagen bzgl. des an der HWJ geführten Disputs um dessen Übersetzung des Gersonides findet, Holtzmann für ein Urteil über Kellermann also ebenfalls angefragt wurde: NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3 Bl. Zu dem Disput vgl. Kap. II.4.2. 86 Kübel, J.[ohannes], [Rez.] Kellermann, Kritische Beiträge, in: Allgemeine Zeitung Nr. 223 vom 26. 9. 1906, 591.

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tion als eine unnötige und gewaltsame Lösung […], bei der ungleich schwerere wissenschaftliche Probleme herauskämen.“87 Die Kritischen Beiträge bleiben in ihrer Deutlichkeit eine Ausnahme im Œuvre Kellermanns. Denn sowohl in den Publikationen vor als auch nach 1906 begegnet Jesus entweder als historische Person oder aber diese Frage wird nicht weiter thematisiert. Das zweite Leitmotiv in der jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Nazarener in Kellermanns Werk ist die eng mit dem ersten Motiv der Unoriginalität Jesu verbundene, kontinuierlich vorgebrachte These, dass diesem keineswegs die Verkündigung und Praktizierung einer universalen Ethik zugeschrieben werden könne, wie es die christlichen Theologen immer wieder tun würden. Sie sei vielmehr eine Individualethik, die partikularen Charakter trage und damit nicht als Fortsetzung des prophetischen Gedankenguts gelten könne. In „Paulinismus und Judentum“ formuliert Kellermann, dass als Reich Gottes „[s]eit Kant […] ganz im messianischen Sinne der Propheten“ in seinen Augen zu Recht Folgendes bezeichnet werde: „[D]ie Zeit der Verwirklichung der sittlichen Aufgabe, de[r] Weltfrieden.“88 In dem Aufsatz „Kantianismus und Judentum“ von 1911, in dem er zu erweisen sucht, dass nicht der Protestantismus, sondern das Judentum seinem Wesen nach mit Kants Kritik der reinen Vernunft übereinstimme, präzisiert er das Gottesreich als „Tempel der Humanität“, an dem durch sittliches Handeln des Individuums „[t]äglich und stündlich“ gearbeitet werde.89 Die Apokalyptiker und Pharisäer um die Zeitenwende, denen er Jesus zuordnet, hätten aber in Abkehr von dem prophetischen Ideal, in den Begriff des Reiches Gottes noch die Dimension „des Jenseits, das Reich des Himmels“90 eingeschoben, das fortan als ein Zwischenraum bis zum Beginn der „ewigen Seligkeit“ galt, „in welchem den Frommen ein vorläufiger Ersatz für ihre sittlich-religiösen Leistungen zuerkannt wird.“ Dadurch werde über eine Verdienstlogik eine Individualethik etabliert, die den von Kellermann behaupteten universalethischen Vorstellungen der hebräischen Propheten diametral entgegenstehe. Denn werde „Israel als priesterlicher Erzieher des Universums“ anerkannt, wie es viele zeitgenössische jüdische und christliche Gelehrte in ihrer Prophetenbegeisterung taten, dann sei die Etablierung eines solchen Himmelsreiches für sittlich und halachisch verdienstvolle Einzelindividuen des jüdischen Volkes „nicht mehr und nicht weniger als eine Verkennung des universalen Charakters der prophetischen Ethik, der reinen Messiasidee“. Weil Jesus seine Botschaft vorwiegend an Juden 87 Tr. [?],[Rez.] Kellermann, Kritische Beiträge, in: Königsberger Hartungsche Zeitung Nr. 289 vom 23. 7. 1907, o. S. 88 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 284. Vgl. auch ders., Die philosophische Begründung des Judentums, 93f. 89 Ders., Kantianismus und Judentum, in: AZJ Nr. 1 vom 6. 1. 1911, 4–7, hier : 6. 90 Ders., Paulinismus und Judentum, 284. Folgende Zitate: ebd.

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adressiert, an der Tora festgehalten und damit die „nationale“ und „partikularistische Schranke der universalen Ethik“ nicht durchbrochen habe, sei er in dieselben pharisäischen Koordinaten einzuschreiben und könne unmöglich als reinste und vollkommenste Verkörperung des jüdischen Prophetismus gelten. Wie der Begriff Reich Gottes aufgrund seiner engen Bindung an die „Beobachtung des statutarischen Ritualgesetzes“91 partikularen Charakter trage, so auch die jesuanische Anrede Gottes als Vater, die zeitgenössisch schon verbreitet war und sich durch das Neue Testament zieht. Jesus lehrte seine Jünger das Vater-Unser, das in seiner Zusammensetzung der einzelnen Bitten „ein kernjüdisches Gebet“92 ist. Während christliche Theologen in dieser Personalisierung des Gottesverhältnisses zugleich einen verinnerlichenden und einen universalisierenden Prozess sehen würden, bestreitet Kellermann letzteren: In dem Ausdruck ,mein Vater‘ ,unser Vater im Himmel‘ kommt wohl die intimste Beziehung zwischen dem Individuum und seinem Gotte zum Ausdruck, aber in ethischer Hinsicht bedingt dieser Begriff absolut keinen Fortschritt. Denn, wenn sich die göttliche Liebe nur auf seine Anbeter erstreckt, so bleibt sie in allen Fällen ebenso partikularistischen Charakters wie die religiöse Anschauung seiner Verehrer.93

Damit die Ethik universalen, also allgemeinen und notwendigen Charakter tragen kann – was nur möglich sei, wenn sie „eine unendliche Aufgabe“94 darstelle –, dürfe sie nicht an eine historische Person rückgebunden und der Weg zu Gott von dieser abhängig gemacht werden. Denn „,Personen‘“ seien „trotz aller Idealität und Ueberidealität dem Bereiche der Empirie verfallen.“95 Ganz im Sinne der Cohenschen Mythos-Kritik an Helden und religiösen Stifterfiguren lehnt Kellermann den Erlösergedanken und die seiner Meinung nach zentrale These des Christentums: „Ohne Christus gibt es keine Sittlichkeit“, ab,96 da sie einen „durch keine Tatsache der Erfahrung gerechtfertigten Kultus des Individuums“97 hervorbringe. Cohen warnte auch vor einer „rückhaltlose[n] Sympathie für diese komplizierteste Persönlichkeit der Mythologie und der Sagengeschichte“98 und kritisierte den für sie betriebenen „Ahnenkultus“99, der letztendlich zu einer Einschränkung der Gotteskindschaft aller Menschen führen würde. Wäre die Nachfolge Jesu Bedingung der menschlichen Sittlichkeit, dann wären Kellermann zufolge „,alle diejenigen 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Ebd., 285, Anm. 3. Ben-Chorin, Das Jesus-Bild im modernen Judentum, 253. Kellermann, Paulinismus und Judentum, 285, Anm. 2. Ders., Die philosophische Begründung des Judentums, 94. Ders., Kantianismus und Judentum, 6. Ders., Idealismus und Religion, 23. Ders., Kritische Beiträge, 33. Cohen, Gedanken über Jugendlektüre, 127f. Ders., Die religiösen Bewegungen der Gegenwart, 48.

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welche die Sittlichkeit ohne Jesus erreichen, gottlos.‘ Welch furchtbare partikularistische Konsequenzen in diesem Satze enthalten sind, erzählen uns die Scheiterhaufen des Mittelalters und der Neuzeit.“100 Abgesehen von dem Sonderfall der Kritischen Beiträge partizipiert Kellermann in seiner Auseinandersetzung mit dem historischen Jesus an dem im 19. Jahrhundert angestoßenen Projekt von dessen „Heimholung ins Judentum“. Er identifiziert Jesus als einen die Tora in seiner Zeit auslegenden Pharisäer mit allen Stärken und Schwächen, die damit verbunden seien. Als progressiver Jude, der die Zukunft der Religion allein in dem auf die Sittlichkeit konzentrierten prophetischen Judentum sieht, lehnt er deshalb die jesuanische Ethik, die für ihn nichts anderes als eine pharisäische ist, ab, da sie sich nicht durch den geforderten Universalismus, sondern durch einen nationalen und sittlichen Partikularismus auszeichne. Mit dieser Auffassung unterscheidet er sich deutlich von anderen liberaljüdischen Gelehrten wie Leo Baeck, der Jesus „das Gepräge des jüdischen Idealismus, des Besten, was es im Judentum gab und giebt“101 zugestand oder Claude G. Montefiore (1858–1938), der „in Jesus den Gipfel der jüdischen Ethik“102 erblickte und ihn in die Linie des Prophetismus stellte.

2.4 Das Missverständnis des Paulus In seinen Veröffentlichungen beschäftigt sich Kellermann nicht nur mit Jesus, sondern ebenso intensiv mit Paulus, dessen theologisches System zwar sittlich verkehrt sei, der aber „auf alle Fälle unsere Bewunderung herausfordert.“103 Auch diesbezüglich fallen die Kritischen Beiträge aus dem Rahmen, denn sie sind der einzige Text, in dem Kellermann nicht nur die Existenz Jesu, sondern auch die des Paulus bestreitet. Für seine Argumentation beruft er sich unter anderem auf die zweibändigen Blicke in die Religionsgeschichte des Breslauer gemäßigten Reformrabbiners und Gelehrten der mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophie Manuel JoÚl (1826–1890)104 als auch auf die bibelkritischen Ergebnisse „der Holländischenund Schweizer-Schule“105. Die „Schweizer Schule“ wurde etwa durch Rudolf Steck (1842–1924), einem Lehrer Karl Barths, repräsentiert, die „Holländische 100 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 299. Ähnlich: ders., Kritische Beiträge, 67f; ders., Kantianismus und Judentum, 7. 101 Baeck, Harnack’s Vorlesungen, 118. 102 Ben-Chorin, Das Jesus-Bild im modernen Judentum, 237. 103 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 298. 104 Joël, Manuel, Blicke in die Religionsgeschichte, 2 Bde., Breslau 1880/1883. Zur Biografie: o. Verf., Art. Joel, Manuel, in: 2EJ 11 (2007), 363f. 105 Kellermann, Kritische Beiträge, 14.

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Schule“ durch ihren bedeutendsten Vertreter Gustaaf Adolf van den Bergh van Eysinga (1874–1957). Beide zeichneten sich durch eine weitestgehende Kritik der Historizität Jesu sowie nahezu aller Paulusbriefe aus.106 Im Anschluss an JoÚl und die christlichen Theologen gebe es Kellermann zufolge drei philologischhistorische Argumente dafür, „daß der Paulus der Briefe in das Reich der Dichtung und des Mythos gehört“107: 1. Den zeitgenössischen und gegenwärtigen bibelwissenschaftlichen Untersuchungen zufolge, sind die Apostelgeschichte und etliche der paulinischen Briefe als Pseudepigrafen zu bewerten.108 Während sich Kellermann in seinen anderen Schriften zum Christentum diesem Konsens anschloss, da „die Echtheit vieler Paulusbriefe zweifelhaft ist“109, ging er in den Kritischen Beiträgen soweit, zu behaupten, dass alle paulinischen Briefe „vor der Zeit Trajans [98–117 n.d.Z., T. L.] unmöglich entstanden sein konnten“, da er mit JoÚl davon ausgeht, „daß überhaupt der ganze Kampf zwischen Juden und Christen [auf den die paulinischen Briefe nach Kellermann reagieren, T. L.] erst im zweiten Jahrhundert entbrannte“.110 Somit könnten die Briefe auch nicht Paulus zugeschrieben werden, der nach altkirchlicher Überlieferung um 65 n.d.Z. in Rom den Tod fand. Weil das Markusevangelium aber – er beruft sich hier auf Stecks Galaterbrief111, Kalthoffs Entstehung des Christentums und die holländischen Exegeten – eine „starke paulinische Färbung“ besäße und er dieses ganz in der Tradition der neutestamentlichen Bibelwissenschaft als das älteste der vier Evangelien ansieht, „können auch die Evangelien unmöglich vor 116 verfaßt sein.“112 2. Es müsse im Anschluss an JoÚl befremden, dass frühchristliche Theologen wie Papias und Justin der Märtyrer über Paulus schwiegen.113 3. Rätselhaft sei die Figur des Paulus ferner, und hier zitiert Kellermann erneut 106 Weitere holländische Vertreter waren Gerardus J. P. J. Bolland (1854–1922) und Willem C. van Manen (1842–1905). Einen Überblick gibt Eysinga selbst: Die holländische radikale Kritik des Neuen Testaments, ihre Geschichte und Bedeutung für die Erkenntnis der Entstehung des Christentums, Jena 1912. Zur Geschichte der „Holländischen Schule“ und ihrer Pauluskritik vgl. Detering, Hermann, Paulusbriefe ohne Paulus? Die Paulusbriefe in der holländischen Radikalkritik, Kontexte, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1992. 107 Kellermann, Kritische Beiträge, 16. 108 Vgl. den Überblick bei Wischmeyer, Oda (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen 22012. 109 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 296 (Hrvh. d. Verf.). 110 Ders., Kritische Beiträge, 16. Ebd., 50 fügt er noch folgende Argumentation hinzu: Da das Christentum in Rom zur Zeit Trajans entstanden sei, und die Kirche vor den Texten existiert habe, „rückt sofort die Datierung der Paulusbriefe vom ersten Jahrhundert ins zweite herab“. 111 Steck, Rudolf, Der Galaterbrief nach seiner Echtheit untersucht nebst kritischen Bemerkungen zu den paulinischen Hauptbriefen, Berlin 1888. 112 Kellermann, Kritische Beiträge, 16. 113 Vgl. ebd., 15.

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JoÚl, weil der „,antinomistische und antinationale Standpunkt des Paulus […] in Palästina allen Anzeichen nach lange keinen Vertreter [hat].‘“114 Solche Tendenzen seien erst im zweiten Jahrhundert aufgetreten, in dem dann auch der Autor der paulinischen Briefe gesucht werden müsse. Trotz dieser schwerwiegenden historisch-philologischen Zweifel, würden konservative wie liberale Theologen an der Authentizität der meisten unter Pauli Namen veröffentlichten Briefe und somit an seiner Existenz festhalten, was nur möglich sei, „wenn man wie [Adolf] Jülicher und seine Anhänger das Paulusbild schon fertig in der Tasche hält“115 und damit die, seiner Auffassung nach objektive, wissenschaftliche Methode verletze. In den Kritischen Beiträgen erscheint Paulus nicht mehr als historische Person, wie noch in „Paulinismus und Judentum“ drei Jahre zuvor, sondern als literarische Verkörperung des religionsgeschichtlichen Entstehungsprozesses des frühen Christentums, den Kellermann als Paulinismus bezeichnet. Dabei schreibt er den „Minim“ eine tragende Rolle zu. Diese im Talmud und noch heute in der zwölften Benediktion des Achtzehn-Bitten-Gebets (Amida) verfluchten „Ketzer“/„Sektierer“116 seien gnostische Juden gewesen, die schon vor dem Christentum existiert und mit einem Bein im Pharisäismus, mit dem anderen im Heidentum gestanden hätten. Sie seien partiell auch Teil der differenzierten, sozialrevolutionären römischen Bewegung gewesen, die ihre Erfahrungen und Hoffnungen auf die Christusfigur projizierte. Während des Überlebenskampfes zur Zeit der trajanischen Verfolgungen, seien die „Minim“ die treibende Kraft gewesen, die die einzelnen Gruppen zu einem Christentum verschmolz, wobei mehr „Jüdisches“ als „Heidnisches“ auf der Strecke geblieben sei, wie die Abrogation des sittlichen und zeremoniellen Gesetzes belege. Dieser Prozess der Abkehr sei einhergegangen mit einer harten Kritik an den jüdischen Traditionen, was wiederum den

114 Ebd. – Vgl. dazu Joël, Blicke, 26–28. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass JoÚl weder hier noch an anderer Stelle die Historizität Pauli bezweifelt, höchstens seinen Einfluss als gering einschätzt. 115 Kellermann, Kritische Beiträge, 15. – Jülicher (1857–1938) war Neutestamentler, Kirchenhistoriker und während Kellermanns Aufenthalt an der Universität Marburg der Dekan der dortigen Theologischen Fakultät. Kellermann bezieht sich hier auf das Standardwerk: Jülicher, Adolf, Einleitung in das Neue Testament (1894), 5. u. 6. neubearb. Aufl., Freiburg i. Br. 1906, das er auch an anderen Stellen immer wieder negativ zitiert. 116 Vgl. dazu Sperber, Daniel, Art. Min, in: 2EJ 14 (2007), 263f. Zum sog. „Ketzersegen“ in der Amida und der Frage, ob damit Christen verflucht wurden/werden: Ehrlich, Uri, Art. Birkat Ha-Minim, in: 2EJ 3 (2007), 711f; Langer, Ruth, Cursing the Christians? A History of the Birkat haminim, Oxford/New York 2012.

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im Talmud überlieferten Widerstand der antiken Gelehrten wie Rabbi Akiba oder Rabbi Jischmael hervorgerufen habe.117 Wie im Fall von Jesus, hat Kellermann in seinen Texten nach 1906 die geschichtliche Existenz Pauli weder dezidiert bestritten noch verteidigt. Er thematisiert diese nicht mehr eigens, da er sich nunmehr auf die religionsphilosophischen Implikationen des Vergleichs zwischen Judentum und Christentum konzentriert. Wenn im Folgenden also von Paulus die Rede ist, läuft im Hintergrund immer die Chiffre mit: Paulus = minäisch geprägter Paulinismus = Prozess der Verschmelzung jüdischer und heidnischer Elemente im Hinblick auf die Christus-Idee. Paulus, ein in neutestamentlicher Überlieferung das römische Bürgerrecht besitzender jüdischer Zeltmacher aus Tarsus, habe nach seiner Bekehrung vom Pharisäismus zum Jesus-Anhänger den Glauben an Jesus als den erhofften Messias „zum Centralpunkt einer völlig neuen Anschauung erhoben“, ihn somit angesichts „der ihm widerstreitenden geschichtlichen Tatsachen“ vor der „Vergessenheit“ bewahrt und so überhaupt erst den theologischen Grundstein dafür gelegt, dass die kleine jüdische Bewegung der Christusgläubigen zur Weltreligion aufsteigen konnte.118 Zwei Fragen sind es, die Kellermann an Paulus besonders interessierten: 1. Wie gelang es diesem vormals pharisäischen Juden bzw. der hinter den paulinischen Texten stehenden Autorengruppe, das Urchristentum in eine Universalreligion zu transformieren? 2. Daran anschließend die in seinen Augen existentielle Frage für das Judentum: „Ist der Universalismus des Paulus identisch mit dem Universalismus der Propheten?“ Kellermann befand sich weitgehend im Konsens mit der zeitgenössischen neutestamentlichen Forschungsliteratur, wenn er die Sozialisation des Paulus in einem griechisch-jüdischen Kontext beschreibt. Kennzeichen hierfür seien „seine bedeutende Fertigkeit im Gebrauch der griechischen Sprache“, die vorwiegende Benutzung der Septuaginta, die Vorliebe allegorischer Textauslegung und „die ausschließliche Betonung derjenigen Ceremonialgesetze, die besonders bei den alexandrinischen Juden noch in Ansehen standen“. Daher nehme es auch nicht Wunder, wenn der Leser in den paulinischen Texten „einer großen Bekanntschaft mit der Agada, dagegen einer völligen Gleichgültigkeit gegenüber der Halacha“ begegne. Aus diesen Gründen ist Paulus für Kellermann kein

117 Im zweiten Teil der Kritischen Beiträge beschreibt Kellermann diesen Prozess ausführlich („Das Minäerproblem“, 69–91). Dabei versucht er im Anschluss an Holsten, Lipsius, Grafe u. a. „die Haltlosigkeit“ (91) der These Moritz Friedländers (1844–1919) zu erweisen, Paulinismus und Minäismus seien nicht miteinander zu identifizieren: Friedländer, Die religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums im Zeitalter Jesu, Berlin 1905. 118 Alle Zitate: Kellermann, Paulinismus und Judentum, 285. Folgende Zitate: ebd.

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„großer Schriftgelehrter […], was aber“, nach Apg 22,3, „doch die Möglichkeit offen läßt, daß er zu Füßen des Rabban Gamaliel gesessen hat.“119 In der neutestamentlichen Chronologie der Ereignisse, sei Paulus nach Jerusalem gekommen und habe trotz seiner hellenistisch-jüdischen Sozialisation auf der Seite der Pharisäer gestanden und in ihrem Auftrag Anhänger der neuen Jesus-Bewegung verfolgt, unter anderem sei er auch an der Exekution des Stephanus beteiligt gewesen. Mit dem Damaskus-Erlebnis (Apg 9,1–19), als dem Paulus in einer Vision Jesus Christus erschienen sei, war dann „aus dem Verfolger […] ein Anhänger Jesu geworden.“120 Als Pharisäer sei er sich der „Unerfüllbarkeit der sittlichen Aufgabe“, wie sie die Tora stellte, bewusst gewesen, doch während der Großteil von diesen an ihr nicht verzweifelt sei, habe sich bei Paulus eine tiefe „Angst um sein Seelenheil“ entfaltet. „Paulus vermochte nicht die Antinomie zwischen dem Endlichkeitscharakter des Individuums und dem Unendlichkeitscharakter der ethischen Aufgabe, also zwischen phaenomenon und noumenon zu schlichten“121 und müsse deshalb zu den wenigen „Schwächlingen“122 unter den Pharisäern gerechnet werden, die die unlösbare Spannung zwischen Forderung und Erfüllung des Sittengesetzes lebenspraktisch und theologisch nicht auffangen konnten. So habe Paulus einen neuen Weg finden müssen, mit dem von Gott gegebenen Gesetz und damit der Frage nach Liebe und Gerechtigkeit umzugehen. In der jüdischen Geschichte sind es Kellermann zufolge die Propheten, die erstmals verkündeten, „daß Gott den Inbegriff der sittlichen Attribute bildete: Liebe und Gerechtigkeit“. Dieses Begriffspaar, mit dem sich Cohen in einem Aufsatz eigens beschäftigt hatte, beschreibe „weniger den Charakter tatsächlicher Eigenschaften […], als vielmehr die Forderungen […], die Gott selbst an die Menschheit stellt“, doch in den folgenden Jahrhunderten seien diese Attribute immer mehr zu Wesensbeschreibungen Gottes selbst geworden.123 Da aber für Paulus in der Sicht Kellermanns die unendliche Liebe und die unendliche Gerechtigkeit „unmöglich gleichzeitig in Gott auftreten [konnten], da ja ein Attribut das andere ausschloß“124, sei es zu einer scharfen Entweder-Oder-Forderung gekommen: Entweder ist Gott nur ein Gott der Gerechtigkeit, dann war das Gesetz und die Verbindlichkeit der sittlichen Aufgabe gerettet, aber bei der Unerfüllbarkeit des Gesetzes die ewige Seligkeit zweifelhaft. Diese Ansicht war die Meinung der Pharisäer. Oder Gott 119 Ebd. – In Apg 22,3 spricht Paulus: „Ich bin ein jüdischer Mann, geboren in Tarsus in Zilizien; aber auferzogen in dieser Stadt [Jerusalem, T. L.], zu den Füßen Gamaliels unterwiesen nach der Strenge des väterlichen Gesetzes […]“. 120 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 296. Folgende zwei Zitate: ebd., 297. 121 Ders., Kritische Beiträge, 86. 122 Ders., Paulinismus und Judentum, 296. 123 Ebd., 297. – Cohen, Hermann, Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch (1900), JS 3, 43–97. 124 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 297. Folgende Zitate: ebd.

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war nur ein Herr der Liebe, ohne Gerechtigkeit und die damit verbundene Gesetzesleistung, dann war zwar die ewige Seligkeit gerettet, aber jedwede sittliche Gesinnung von vornherein preisgegeben. Diese Ansicht vertrat Paulus.

Der ehemalige Pharisäer habe mit seiner im Römerbrief entfalteten Theologie den Nachweis zu erbringen versucht, „daß in der Tat das Gesetz nur negative Bedeutung habe“ und von seiner Unerfüllbarkeit auf seine Unverbindlichkeit für den Menschen geschlossen, da es durch die „hohe sittliche Persönlichkeit“ Jesu in seiner Gänze und für die gesamte Menschheit erfüllt worden sei. Damit habe Paulus neben der Verpflichtung des Individuums auf das „Ritualgesetz“ auch die des Einzelnen auf das Sittengesetz aufgegeben, was für Kellermann Verrat am „ethischen Monotheismus“ der Propheten ist.125 Nachdem die theologischen Grundpfeiler eingerichtet waren, habe sich Paulus der Mission widmen können, zunächst unter den Juden, dann aufgrund der dortigen Erfolglosigkeit unter den Nichtjuden. Da es auch unter den Nichtjuden der Zeit eine immer größere „Sehnsucht nach Erlösung“ gegeben habe und sie mit des Paulus „Hasse gegen jedes Gesetz, sittlicher oder zeremonieller Natur“ übereingestimmt hätten, sei dessen Lehre vom Versöhnungshandeln Gottes in Jesus Christus auf fruchtbaren Boden gefallen: „Wie gerufen kam nun die Lehre des Paulus. Ohne Gesetz, ohne Anstrengung, mühelos ward ihnen das höchste Pfund der Götter verliehen: die Erlösung durch Auferstehung von dem Tode und Teilnahme am ewigen Leben.“126 Nicht ohne ironischen Unterton erzählt Kellermann in „Paulinismus und Judentum“ und in den Kritischen Beiträgen von den sich durch die Parusieverzögerung ergebenden Problemen innerhalb der frühchristlichen Gemeinden. Die „Wiederkunft des Messias“ und die damit einhergehende Auferstehung der Toten, für ihn der Dreh- und Angelpunkt der paulinischen Lehre, ließ „doch länger auf sich warten, als Paulus selbst vermutete.“127 Zugleich sei aber „schon seine Lehre von der Verwerflichkeit des Sittengesetzes auf fruchtbaren Boden gefallen“ und habe in den Gemeinden zu einem „unsittliche[n] Lebenswandel“ geführt. Um den daraufhin einsetzenden sittlichen Verfall und den Abgang von Gemeindemitgliedern aufzuhalten, sei Paulus gezwungen gewesen, seine Lehre vollständig zu modifizieren: „Er mußte das Gesetz nun wieder zu Ehren bringen, damit eine dauerhafte Basis geschaffen wurde.“128 Dies sei ihm durch eine völlige Neubewertung des Handelns Jesu gelungen. Hatte dieser in der bisherigen 125 Diese These findet sich auch in ders., Kritische Beiträge, 60; ders., Universalistisches und partikularistisches Judentum, 428 u. passim. 126 Alle Zitate: ders., Paulinismus und Judentum, 298. – Die Aussage, „daß Paulus nicht nur das Ritualgesetz, sondern auch das Sittengesetz ablehnte“ findet sich auch später : ders., Universalistisches und partikularistisches Judentum, 428. 127 Kellermann, Paulinismus und Judentum, 298. Folgende zwei Zitate: ebd. 128 Ebd. Vgl. auch ders., Kritische Beiträge, 84.

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theologischen Konzeption durch seinen Sühnetod stellvertretend das für Menschen unerfüllbare Gesetz erfüllt und damit „,abgetan‘“, sei er nun zu einem sittlichen Vorbild geworden, das „der Menschheit zeigte, wie man das Gesetz erfüllen soll und erfüllen kann.“129 Jenes Gesetz, das Paulus wieder eingesetzt habe, ist nach Kellermanns Ansicht nicht „das von halachischen Grundsätzen durchflochtene der palästinensischen Christen [also etwa der Jerusalemer Urgemeinde, T. L.]“, sondern „das von halachisch-rituellem Beiwerk entkleidete Moralgesetz der alexandrinischen Juden“, in dem auch er zunächst sozialisiert worden sei. Mit dieser von hellenistischem Denken geprägten Auffassung von dem Gesetz, „das in erster Reihe die reine Moral predigte, den wahren israelitischen Prophetismus, der in dem Sittengesetz und nur in dem Sittengesetz die Summe aller Religion erblickt“, habe er die zeremoniellen und rituellen Vorschriften verworfen und es auf seinen ethisch-sittlichen Gehalt reduziert.130 Paulus erscheine durch diese Transformation innerhalb seines theologischen Systems auf den ersten Blick als ein „Nachfolger der alten Propheten“ und als „Vertreter des prophetischen Universalismus“.131 Doch der Einordnung in die Linie des Prophetismus und damit in die höchste Stufe der Religion, stehe Pauli Auffassung entgegen, Jesus habe das Sittengesetz endgültig erfüllt. Kellermann zufolge ist jenes aber im Anschlus an Kant ein „ewiges, unerreichbares Ideal“132 und Jesus als ein Mensch unter anderen könne diese Aufgabe nicht erfüllt haben, „da ja gemäß dem Begriffe des Ideals seine Erfüllung durch empirische Größen ausgeschlossen ist“133. Paulus habe Jesus unrechtmäßig zu einem sittlichen Vorbild der Menschheit gemacht. Nicht mehr allein Gott als die Idee des Guten und die Macht ihrer Verwirklichung sei Vorbild und Ziel des menschlichen Strebens, sondern dieser vorbildliche Gottesbegriff sei noch um „anthropologische und kosmologische Zusätze“ erweitert worden, wodurch der Glaubensinhalt nicht mehr Gottes „Wollen“, sondern sein „Wesen“ sei.134 Dies sei eine Verunreinigung des ethi129 Ders., Paulinismus und Judentum, 298. Folgende Zitate: ebd., 299. 130 Diese Gesetzesauffassung der vom „Menschheitsgeiste der Propheten erglüht[en]“ hellenistischen Juden findet auch Kellermanns Beifall in Liberales Judentum, 9. 131 Ders., Paulinismus und Judentum, 299. 132 Ebd. (Hrvh. Im Orig.). 133 Kellermann, Kritische Beiträge, 21. – In Kant, KpV, A 220 (Hrvh. im Orig.) heißt es diesbezüglich: „Die völlige Angemessenheit des Willens aber zum moralischen Gesetze [um das höchste Gut zu bewirken, T. L.] ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist. Da sie indessen gleichwohl als praktisch notwendig gefodert wird, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist, nach Prinzipien der reinen praktischen Vernunft, notwendig, eine solche praktische Fortschreitung als das reale Objekt unseres Willens anzunehmen“. 134 Kellermann, Idealismus und Religion, 23 (Hrvh. im Orig.).

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schen Gottesbegriffs, mit der Paulus in seinem theologischen System auch den Individualbegriff belastet habe, was ihn deutlich von den Propheten unterscheide. Über zehn Jahre nach den Kritischen Beiträgen wird Kellermann 1917 in der Debatte mit Troeltsch diesbezüglich ausführen, dass das „prophetische Individuum […] zu seinem Korrelat die Allheit der Menschen“ habe, hier also von einem „sittlich autonomen Individualbegriff“ gesprochen werden müsse. Dagegen fordere „der paulinische [Individualbegriff]“ durch die Rückbindung des ethischen Handelns der Christen an Jesus „als sein Korrelat eine Gemeinschaft auf durchaus mythisch-dogmatischer Basis“.135 Es hat sich hier schon die Antwort Kellermanns auf die Frage nach der Deckungsgleichheit des prophetischen und paulinischen Universalismus angedeutet. Solch eine Kongruenz liege nicht vor, denn durch den folgenschweren Denkfehler, der Mensch Jesus hätte das sittliche Ideal vollkommen erfüllt, habe sich Paulus zugunsten eines ethischen Partikularismus von dem sittlichen Universalismus der Propheten verabschiedet: […] Paulus hat die Schranken niedergerissen, die zwischen der göttlichen Transzendenz und der menschlichen Empirie durch die Propheten errichtet waren. Das Judentum aber steht und fällt mit seinem Gottesbegriff. Denn ,die Transzendenz Gottes ist die tiefste Sicherung der Immanenz der menschlichen Sittlichkeit‘ (Cohen). Wer die Transzendenz preisgibt, der vernichtet die Ethik.136

Kellermann sieht im jüdischen Gottesbegriff, wie er von den Propheten verkündet wurde, im Anschluss an Cohen eine scharfe Trennlinie zwischen der empirischen Welt der Menschen und der Transzendenz Gottes. In Anknüpfung an seinen Marburger Lehrer und dessen Platoninterpretation, begreift Kellermann Gott ideell als Realisierungsgrund der praktischen Sittlichkeit und damit als einen abstrakten philosophischen Begriff, der nichts mehr mit der Vorstellung eines persönlichen und empirisch daseienden Gottes gemein hat: Gott selbst ist nichts anderes als die Macht jener Idee, die auf die Verwirklichung des Sittengesetzes hinsteuert, die den Garanten seiner dereinstigen Erfüllung bildet.137

Dieser Idee als höchstes Prinzip durch konkrete sittliche Handlungen im Hier und Jetzt entgegen zu streben, müsse die Aufgabe jedes Menschen sein, auch 135 Alle Zitate: ders., Monotheismus, 64 (Hrvh. im Orig.). Die behauptete Allheitsethik der Propheten zieht sich durch das Gesamtwerk. Vgl. ders., Idealismus und Religion, 25; ders., Universalistisches und partikularistisches Judentum, 417. 136 Ders., Kritische Beiträge, 21. – Das Zitat übernimmt Kellermann gekürzt aus Cohen, Hermann, Die Errichtung von Lehrstühlen für Ethik und Religionsphilosophie an den jüdisch-theologischen Lehranstalten (1904), in: ders., JS 2, 108–125, hier : 118. Dort heißt es vollständig: „Der Grund des Menschen, des sittlichen Menschen liegt in Gott. Darum kann Gott nicht zugleich Mensch sein. Die Transzendenz Gottes ist die tiefste Sicherung der Immanenz der menschlichen Sittlichkeit.“ 137 Kellermann, Liberales Judentum, 5.

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wenn jenes Ziel in der empirischen Welt, in der Jetzt-Zeit nie erreicht werden könne. Das Gute muss jedoch absolut transzendenten und unerreichbaren Charakter tragen, um unendlicher, ewig gültiger und universaler Ansporn des Menschen zu ethisch verantwortlichem Handeln dem Nächsten gegenüber zu sein: „Allein, nicht nur Gott fällt als ethisches Wesen, die Ethik selbst wird durch die Zerstörung ihres Unendlichkeitscharakters annulliert.“138 Während das Judentum, im Anschluss an die Propheten ausgerüstet mit dieser ,ethischen Triebfeder‘, der zukünftigen Universalreligion im Kantischen Sinn zumindest inhaltlich nahestehe, müsse dies für das von Paulus geformte Christentum negiert werden: „Die Lehre des Paulus ist universal, weil sie einen großen Teil des Universums beherrscht“. Also nicht von ihrem ethischen Gehalt her, sondern allein in ihrer globalen Verbreitung und Bedeutung als gesellschaftliche und politische Kraft könne der christlichen Religion ein universaler Charakter zugestanden werden. Dies sei jedoch nur von sekundärer Relevanz, denn von ihrem ,Wesen‘ her sei sie „im höchsten Grade partikularistisch, weil sie mit dem prophetischen Gedanken von der Einheit des Menschengeschlechts nichts gemein hat“.139 Sie trage den Titel Weltreligion zu Unrecht, denn in ihren theologischen Anschauungen stehe nicht der Weg aller Menschen auf das unendliche, sittliche Ideal hin im Zentrum. Stattdessen gehe es um das Seelenheil einer zwar großen, aber dennoch partikularen Sondergruppe, die ihre Handlungen fälschlicherweise an das Vorbild eines historischen Menschen beziehungsweise einer literarischen Figur binde und damit einer universal strukturierten Ethik verlustig gehe.

2.5 Die zwingende „Prophetisierung“ des Christentums Mit seinen Arbeiten hatte sich Kellermann innerhalb entscheidender Kreise der Wissenschaft des Judentums einen guten Ruf erarbeitet. Der Schüler Schreiners und Cohens galt als ernst zu nehmender Forscher auf dem Gebiet der Religionsphilosophie und der vergleichenden Religionsgeschichte und wurde kurz nach Abschluss seines Rabbinerexamens um die Mitarbeit an einem umfassenden enzyklopädischen Projekt gebeten. Der jüdische Historiker und geschäftsführende Vorsitzende des „Vereins zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“ Martin Philippson schrieb Kellermann am 18. Juni 1903 und wünschte im Namen des Komitees des Ausschusses der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“ 138 Ders., Paulinismus und Judentum, 299 (Hrvh. d. Verf.). Folgendes Zitat: ebd. 139 Ebd. Vgl. ders., Kritische Beiträge, 68: „Der Begriff der Autonomie bleibt verkümmert. Dogmatische und partikularistische Schranken versperrten den Weg zur Menschheit.“

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dessen Mitarbeit an einem auf 36 Bände angelegten „Grundriss der jüdischen Wissenschaft“, der „in einzelnen Monographien den gesamten Umfang der Wissenschaft des Judentums befassen [sic] soll“.140 Die „Gesellschaft“ hatte sich 1902 unter Beteiligung Cohens konstituiert und verfolgte ihren Statuten zufolge rein wissenschaftliche Zwecke: Neben der „Herausgabe von Schriften, die die Wissenschaft des Judentums betreffen“, die „Gewährung von Jahresstipendien an jüdische Gelehrte, die die Wissenschaft des Judentums auszubilden bestrebt sind“ und die „Schaffung und Subventionierung von Lehrstühlen an jüdischen höheren wissenschaftlichen Lehranstalten“.141 Kellermann teilte diese Ziele, wurde zwischen 1904 und 1905 selbst Mitglied der später weit über 1000 Mitglieder aus dem In- und Ausland zählenden „Gesellschaft“ und förderte deren Zwecke mit einem jährlichen Beitrag von 8 Mark.142 Auch die über ganz Deutschland verteilten „Vereine für jüdische Geschichte und Literatur“ hatten den Anspruch, die fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Judentum einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.143 Der Dachverband gab seit 1898 das Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur heraus, das aufgrund der renommiertesten Autoren qualitativ eines der wichtigsten Publikationsorgane der Wissenschaft des Judentums wurde. Kellermann teilte die Ziele des Vereins und trat der Berliner Abteilung um 1904 bei.144 Aus unbekannten Gründen beendete er seine Mitgliedschaft aber 1906 oder 1907 schon wieder und ist in den Mitgliederlisten nicht mehr aufzufinden. Cohen, der dem Ausschuss der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“ angehörte und für die Sektion „Ethik und Religionsphilosophie“ verantwortlich zeichnete,145 wird Kellermann sicherlich für das geplante Werk unter 140 Martin Philippson an Benzion Kellermann, 18. 6. 1903, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl. 141 Vorstand der GFWDJ an Innenministerium, 14. 12. 1905, GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 76, Vc, Sekt. 2, Tit. XVI, Nr. 2, 2 Bl., hier: Bl. 1. Zur Geschichte der „Gesellschaft“ und des „Grundrisses“ vgl. Soussan, Henry C., The Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums in Its Historical Context, SchrLBI, Bd. 75, Tübingen 2013; Adelmann, Dieter, Die „Religion der Vernunft“ im „Grundriss der Gesamtwissenschaft des Judentums“, in: Holzhey, Helmut/Motzkin, Gabriel/Wiedebach, Hartwig (Hg.), „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“. Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk = „Religion of reason out of the sources of Judaism“. Tradition and the concept of origins in Hermann Cohen’s later work, Internationale Konferenz Zürich 1998, Philosophische Texte und Studien, Bd. 55, Hildesheim u. a. 2000, 3–35; Wilhelm, Kurt, Einführung, in: ders. (Hg.), Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich, Bd. 1, 1–58, hier: 43–46. 142 Mitgliederliste der GFWDJ, 1905, CJA, 1, 75 C Ge 4, Nr. 48/1, # 12441, Bl. 2–27, hier: Bl. 5. Auch in der letzten erhalten gebliebenen Mitgliederliste von 1919 findet sich Kellermann als zahlendes Mitglied: 17. Jahresbericht der GFWDJ (1919), 13. 143 Zur Geschichte: Soussan, The Gesellschaft, 49–52. 144 Bericht über die Tätigkeit des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur e. V., Berlin, 1904–1906, Berlin 1907, CJA, 1, 75 C Ve 5, Nr. 2, # 13153, Bl. 12–27, hier : Bl. 21. 145 Adelmann, Die „Religion der Vernunft“ im „Grundriss der Gesamtwissenschaft des Ju-

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dem Titel „Judentum und Christentum“ vorgeschlagen haben. So schrieb Philippson, der einige Jahre später selbst seine Neueste Geschichte des jüdischen Volkes146 im „Grundriss“ herausbringen sollte, 1903 an Kellermann: „Da Sie auf diesem Gebiete schon mit großem Erfolge gearbeitet haben, bestände die Aufgabe hauptsächlich darin, die Ergebnisse dieser Ihrer Arbeit zusammenzufassen. Deshalb haben wir uns erlaubt, uns hierfür in erster Reihe an Sie zu wenden.“147 Es handelte sich bei der genannten „Arbeit“ wohl um die Dissertation, den Aufsatz „Bibel und Wissenschaft“ sowie das Manuskript des 1902 an der HWJ gehaltenen Vortrags „Paulinismus und Judentum“. Noch drei Jahre später wusste Eugen Wolbe in seiner Rezension zu den Kritischen Beiträgen zu berichten, dass die „Redaktion der in Vorbereitung befindlichen, großartig angelegten ,Enzyklopädie der Wissenschaft des Judentums‘ […] ihn […] mit der Bearbeitung des Artikels ,Judentum und Christentum‘ betraut“ hatte.148 Dass Kellermann die ihm angetragene Aufgabe übernahm, geht aus dem ersten Jahresbericht der „Gesellschaft“ hervor, in der der Gesamtplan vorgestellt und in dem er ausdrücklich als Autor benannt wurde. Innerhalb des Grundrisses gehörte er zur Sektion „C. Systematische Fächer“ und darin zur „[v]ergleichende[n] Religionswissenschaft“. Diese Abteilung war wiederum aufgeteilt in die zwei geplanten Monografien „Judentum und Islam“ von Ignaz Goldziher und „Judentum und Christentum“ von Kellermann.149 Ferner findet sich Ende 1904 die Notiz, dass „mit allen Autoren des Grundrisses die verabredeten Verträge abgeschlossen“ wurden, somit also neben Cohen, Baeck und anderen auch Kellermann verbindlich zugesagt hatte.150 Sein Buch erschien jedoch nie im „Grundriss“, da er sich zwischen 1905 und 1906 ohne Angabe von Gründen von dem Projekt zurückgezogen hatte.151 Möglicherweise war er zu stark auf die Fertigstellung der Kritischen Beiträge konzentriert oder zu sehr als Lehrer eingespannt, dass er die vergleichende

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dentums“, 20 zufolge ist dies das Grundkonzept der Religion der Vernunft, die aber erst 1919 posthum erscheinen sollte. Philippson, Martin, Neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 1, SGFWJB, Leipzig 1907. Martin Philippson an Benzion Kellermann, 18. 6. 1903, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl. Seitens der „Gesellschaft“ wurden ihm pro Oktavbogen der ersten Auflage 50 Mark zugesagt, wenn er die Aufgabe übernehme. Wolbe, [Rez.] Kellermann, Kritische Beiträge, 673. Das Wort „Artikel“ ist hier irreführend, denn es handelte sich um eine geplante Monografie vom „Umfang eines handlichen Bandes (zwischen fünfundzwanzig und vierzig Druckbogen)“ (Martin Philippson an Benzion Kellermann, 18. 6. 1903, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl.). 1. Jahresbericht der GFWDJ (1903), o. S. Vgl. auch MGWJ 47/6 (1903), 572f, hier : 573. Philippson, Martin/Lucas, Leopold, Protokoll der Ausschuss-Sitzung der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“, in: MGWJ 48/11–12 (1904), 751–755, hier : 751. Die Sitzung fand dem Bericht zufolge am 31. 10. 1904 in Breslau statt. Im 4. Jahresbericht der GFWDJ (1906), 1 heißt es lediglich: „[…] hat Herr Dr. B. Kellermann (Berlin) seinen Beitrag über ,Judentum und Christentum‘ zurückgezogen“.

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Studie nicht fertigstellen konnte. 1912 gab es innerhalb des „Grundrisses“ Umstrukturierungen, da mehrere Autoren von ihren Aufträgen zurückgetreten waren, unter anderem auch Goldziher. Während dieser von J. Pollak ersetzt wurde, übernahm der Mannheimer Rabbiner Steckelmacher Kellermanns Projekt zu „Judentum und Christentum“.152 In allen Texten, in denen Kellermann sich mit dem Christentum beschäftigt, wird deutlich, was sich schon in dem Aufsatz „Bibel und Wissenschaft“ von 1898 zeigt und sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk des jüdischen Gelehrten zieht: Ein komplexes, zwischen Zustimmung und Ablehnung changierendes Verhältnis zu der protestantischen Bibelwissenschaft und liberalen Theologie seiner Zeit. Er war wie Cohen und Schreiner einerseits sehr dankbar für die historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments und den von Wellhausen und anderen zu Tage geförderten Erkenntnissen um die Entstehung und Datierung der einzelnen Textschichten, die er auch in seinen eigenen Arbeiten, seiner Auffassung nach zum Wohle des Judentums, anwandte. Andererseits reagierte er sehr empfindlich auf jene Theologen, die über ihre philologischen Forschungen hinaus begannen, die Texte in einer Weise zu interpretieren, die das vergangene und gegenwärtige Judentum disqualifizierte. Wie andere jüdische Bibelforscher, argumentierte Kellermann dann scharf gegen die protestantischen Souveränitätsansprüche und die Substitutionstheologie und versuchte stattdessen, die Höherwertigkeit des prophetischen Judentums zu erweisen. In der Harnack-Debatte als auch darüber hinaus versuchte er wie die anderen liberaljüdischen Intellektuellen aufzuzeigen, „daß das Judentum seine Existenzberechtigung nicht verloren habe, sondern daß es im Gegenteil das paulinische Christentum sei, welches nicht der Verstandeskritik des modernen, religiösen Menschen standhalte.“153 Nicht anders kann das Schlusswort des ersten Teils in den Kritischen Beiträgen gelesen werden: Nur eine Heteronomie der Allgemeinheit, aber keine Autonomie der Allheit kennt die junge Kirche. Erst wenn die letzte Fessel des Mythos und des zum Ritus erstarrten Symbols gefallen ist, wird die Idee der Allheit zur Herrschaft gelangen und die reine Messiasidee ihre Triumphe feiern. Auf die Einheit der Menschheit bleibt der Blick aller wahren Kulturentwicklung gerichtet. Die Zukunft aller Religionen ist deshalb das prophetische Judentum, dessen Formulierung am klarsten und reinsten bei Micha [6,8, T. L.] sich vollzieht: ,Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was Jahwe von dir fordert. Nichts als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln vor deinem Gotte.154 152 10. Jahresbericht der GFWDJ (1912), 3f. 153 Tal, Theologische Debatte um das „Wesen“ des Judentums, 617. 154 Kellermann, Kritische Beiträge, 68. – Mit dem Begriff der „Allheit“ verwendet Kellermann einen terminus technicus Cohens, mit dem dieser die Summe aller Menschen beschreibt. Die „Mehrheit“ dagegen umfasst Gruppen, die nicht die ganze Menschheit repräsentieren. Auf den Bereich der Ethik bezogen, stellt die „Allheit“ eines ihrer Instrumente

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Für die meisten protestantischen Theologen seiner Zeit war das Judentum eine überholte und durch das Christentum abgelöste Religion, von der sich deren Anhänger mit dem Ziel der vollständigen Assimilation, das heißt, des durch die christliche Taufe ermöglichten endgültigen ,Aufgehens‘ in eine wie auch immer beschriebene deutsche Gesellschaft abtrennen sollten. Für Kellermann hingegen, der an solch einem Missionsbegriff kein Interesse hatte und um „Verständnis für alle anderen Religionen“155 warb, sollten Christen nicht Mitglieder einer bestimmten jüdischen Gemeinde und damit von partikularen Sondergruppen werden, sondern sie sollten mitarbeiten an der Etablierung einer rationalen und universalen „Religion der Zukunft“, an der alle Menschen Anteil haben.156 Diese Forderung lag in seiner generellen Auffassung von Religion begründet, die als entwicklungsgeschichtlich zu definieren ist: Alle Religionen in ihrer historischen Gestalt trügen in sich Mythen und Partikularismen, die nach und nach ausgeschaltet werden müssten. Im Judentum seien dies das „Ritualgesetz“ oder der Glaube an die leibliche Auferstehung, im Christentum vor allem „das Dogma von der übermenschlichen Persönlichkeit Jesu“157 und die Bindung der Sittlichkeit an sie. Diesen Prozess der Verwissenschaftlichung und „radikalen Ethisierung des Gottesbegriffs“158 durch Aufgabe zentraler theologischer Inhalte, nennt er „Prophetisierung“ der Religion, in Anlehnung an die alttestamentlichen Propheten. Sie hätten intuitiv die Forderungen des reinen Sittengesetzes erfasst und verkündet und dann durch Kant ihre philosophische Verifizierung erfahren: „Die Kritik der reinen Vernunft enthält die philosophische Rechtfertigung des Judentums.“159 Treten die historischen Religionen in den Prozess der „Prophetisierung“ ein, werde „die religiöse Einheit erreicht, die als letzte Vorstufe der ethischen gilt.“160 Diese ethische Einheit sei die höchste Stufe des geschichtlichen Entwicklungsprozesses der Menschheit, auf der die „Religion in Ethik, also in Wissenschaft sich verwandeln“ werde.161 Ganz im Sinne des Cohenschen Religionsbegriffs – der erst in Der Begriff der Religion im System der Philosophie (1915) eine Modifizierung erfahren wird –, ergänzt Religion hier nicht die Ethik oder beansprucht gar Eigenständigkeit, sondern ist allein eine Funktion der Ethik. Auch

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dar : „Der Ethik aber ist kein anderes Mittel gegen das Individuum gegeben als die Allheit, die Erhebung des Individuums zu ihr und seine Auflösung in sie“ (Cohen, Hermann, Der Begriff der Religion im System der Philosophie (1915), Werke 10, 55 [Hrvh. im Orig.]). Kellermann, Liberales Judentum, 16. Folgendes Zitat: ebd., 8. Das Folgende muss hier in der gebotenen Kürze dargestellt werden. Ausführlich dazu: Kap. II.3. Kellermann, Liberales Judentum, 21. Ders., Idealismus und Religion, 22. Folgendes Zitat: ebd., 50. Ders., Kantianismus und Judentum, 6 (Hrvh. d. Verf.). Ders., Liberales Judentum, 21. Ders., Idealismus, 43.

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Cassirer, zusammen mit seinem Freund Kellermann der wichtigste neukantianische Schüler Cohens, vertrat vor seiner „anthropologischen Wende“, wie sie sich etwa im Essay on Man (1944) zeigt, ebenfalls die Auffassung, dass die Religionen allein eine praktische Funktion der Ethik erfüllen und nicht eigenständig und unabhängig von ihr existieren könnten.162 Trotz aller berechtigten Kritik an seiner gegenwärtigen Form und der noch ausstehenden Aufgaben, habe das Judentum Kellermann zufolge durch die Entdeckung des „ethischen Monotheismus“ die „Superiorität […] über alle anderen Kulturreligionen“ erreicht.163 Mit diesem Urteil knüpft er erneut an religionsphilosophische Überlegungen Cohens an, der ebenfalls „für einen Führungsanspruch des Judentums als der paradigmatischen Religion der Vernunft“164 eintrat. Deshalb sei das prophetische Judentum Vorbild für das Christentum und die anderen historischen Religionen, wie Kellermann in einem Aufsatz von 1911 zusammenfasste: „Es ist keine seiner schlechtesten Funktionen, wenn es gegenüber dem Christentum als dessen ewiger Ansporn einer dauernden Selbstrevision erscheint. Das ist auch eine messianische Aufgabe des Judentums, und für eine solche Aufgabe zu kämpfen und zu leiden, ist des Schweißes der Edlen wert.“165 Für Kellermann stimmt die universale Ethik der Zukunft mit dem sich aus jüdischen Quellen speisenden Prophetismus inhaltlich überein, weshalb er in Liberales Judentum (1907) selbstbewusst die folgenden Worte spricht: „[D]eshalb lieben wir mit der ganzen Glut des Pietätsgefühls unsere Religion, die Religion unserer Ahnen.“166

162 Vgl. u. a. Cassirer, Ernst, Die Idee der Toleranz und die Grundlegung der natürlichen Religion, in: ders., Die Philosophie der Aufklärung (1932), Hamburg 1998, 168–190. 163 Kellermann, Liberales Judentum, 15. 164 Zank, Michael, Inauthentizitätsverdacht und Anspruch auf Authentizität. Reflexionen über Hermann Cohens Auseinandersetzung mit dem Christentum, in: Holzhey/Motzkin/Wiedebach (Hg.), Tradition und Ursprungsdenken, 303–329, hier : 315. 165 Kellermann, Universalistisches und partikularistisches Judentum, 419. 166 Ders., Liberales Judentum, 20.

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3. Die Entwicklung der Religionsphilosophie Kellermanns bis 1914 Das prophetische Judentum ist das Salz der Erde. Benzion Kellermann1

Kellermann hatte um die Jahrhundertwende viel vergleichende Religionsgeschichte betrieben. Als Lehrer und Student an der HWJ und der Berliner Universität referierte er häufig in der „Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin“ und im „Akademischen Verein für jüdische Geschichte und Literatur“. Oft sind nur die Titel, aber keine inhaltlichen Ausführungen oder Manuskripte überliefert: 1898 sprach er etwa über die „Geschichte der Barmizwahinstitution“ und im Wintersemester 1902/03 über „Parsismus und Judentum“.2 Daneben hielt er auch in diesen Jahren schon Vorträge zu religionsphilosophischen Themen, etwa im Januar 1900 über die kurz zuvor erschienene Ethik des Judentums von Moritz Lazarus, nach seiner Rückkehr aus Konitz im WS 1901/02 über „Die Philosophie des Maimonides“ oder im Sommersemester 1902 über „Die Messiasidee in ihrer historischen Entwickelung“.3 In größerem Rahmen veröffentlichte er seine philosophischen Überlegungen mit der Auslegung der 1904 von seinem Lehrer Cohen publizierten Ethik des reinen Willens und der Monografie Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion (1908). Um die religionsphilosophischen Überlegungen Kellermanns angemessen verstehen und in ihren fachlichen und historischen Kontext einordnen zu können, ist es unabdingbar, zunächst in knapper Form Immanuel Kants Konzept einer Vernunftreligion nachzuzeichnen. Denn neben Platon, Sokrates und Cohen war ihm Kant einer der wichtigsten Denker überhaupt, dessen Philosophie er mit dem „ethischen Monotheismus“ der Propheten zusammendachte. Darauf aufbauend, wird die Entwicklung der Religionsphilosophie Kellermanns zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg anhand einzelner Aufsätze, Artikel und Monografien dargestellt.

1 Kellermann, Universalistisches und partikularistisches Judentum, 430. 2 Vgl. zum Vortrag vom 4. 6. 1898: o. Verf., Festschrift der Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin, 16. Zu „Parsismus [d. i. Zoroastrismus, T. L.] und Judentum“: Cohen, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, 29. 3 Zum Vortrag über Lazarus’ Ethik am 6. 1. 1900: o. Verf., Festschrift der Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin, 20. Die beiden anderen Vorträge finden sich in dieser Reihenfolge in: Cohen, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, 27 u. 29.

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3.1 Das Konzept der Vernunftreligion bei Kant Vernunftreligion ist ein mit der Aufklärung einsetzender Begriff in der Philosophie und beschreibt eine zu erreichende Form des Denkens und Handelns, die sich vor allem durch ihren rationalen Charakter auszeichnet. Ihre Vertreter bestritten „den Anspruch der Offenbarungsreligion auf alleinige oder vorrangige Kompetenz zur Beantwortung der letzten Fragen“ und sahen es dagegen als Aufgabe der Philosophie an, „dem Menschen einen zuverlässigeren, weil rein rationalen Weg zur Erkenntnis der Wirklichkeit im Ganzen, zur Orientierung über höchste Normen und letzte Zwecke des Handelns sowie zur Bewältigung der Kontingenzerfahrung [zu] weisen“.4 Diese Philosophen gingen davon aus, dass es eine Art ursprüngliche Form von Religion gab, die einzig rational, also für jeden einsichtbar und allgemeingültig strukturiert gewesen sei, dann aber durch irrationale und partikularistische Elemente erweitert wurde, wie sie sich in den historischen Religionen wiederfinden lassen. Damit ist oft die Forderung verbunden, letztere Elemente im theologischen und praktisch-kirchlichen Bereich auszuscheiden und zu der ursprünglichen Religion zurückzukehren, die den Wesenskern aller historischen Religionen darstelle. Reimarus definiert in Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754) diese „als lebendige Erkenntnis von Gott, sofern sie durch die natürliche Kraft der Vernunft (d. h. ohne Rekurs auf Offenbarung) zu erhalten ist“ und hält diese „für ausreichend“, während auf jegliche Offenbarungsreligion verzichtet werden könne.5 Lessing, der mit den Fragmenten eines Ungenannten Bruchstücke aus der Apologie des Reimarus anonym herausgab, was zum „Fragmentenstreit“ führte, betrachtet das Begriffspaar Vernunft und Offenbarung differenzierter. In Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) „interpretiert Lessing die ,Offenbarung‘ als Geschichte der Religionsvorstellungen und diese als eine stufenweise Entfaltung der Vernunft.“6 Den drei Lebensaltern des Menschen entsprechend, identifiziert er die jüdische Religion mit der „,Kindheit‘“ und das Christentum mit dem „Knaben- bzw. Jünglingsalter“. Am Horizont erscheint eine Form von Religion, die darüber hinausgeht und Hermann Deuser zufolge 4 Gawlick, Günter/Emsbach, Michael/Schröder, Winfried, Einleitung, in: Reimarus, Hermann S., Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, GS I, hg. v. Gawlick, Günter, Göttingen 1985, 9–50, hier : 9f. Vgl. dazu auch Schneider, Hans Julius, Religion. Grundthemen Philosophie, Berlin/New York 2008, 6. 5 Gawlick/Emsbach/Schröder, Einleitung, 10f. 6 Fick, Monika, Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, 3., neubearb. u. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2010, 479. Folgendes Zitat: ebd., 479f. Zur Herausgabe der Fragmente und dem „Fragmentenstreit“: ebd., 408–441.

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als eine „vernünftige Religion im Namen der Ethik“7 beschrieben werden kann, wie sie etwa auch in Nathan der Weise (1779) eingefordert wird. Leibniz dagegen versteht die Offenbarung als eine von „Gott auf außergewöhnliche Weise“ an die Menschen ergangene „Wahrheit“, die den „Gegenstand des Glaubens“ bilde.8 In seiner Theodicee (1710) unternimmt er es, zwischen der Offenbarung und der Vernunft, unter der er das Reflektieren vorwiegend derjenigen Wahrheiten versteht, „zu denen der menschliche Geist auf natürliche Weise gelangen kann, ohne vom Licht des Glaubens erleuchtet zu werden“, zu harmonisieren, da er ihnen den gleichen Wert zuerkennt: „[I]m Grunde genommen kann keine Wahrheit einer anderen widersprechen und das Licht der Vernunft ist ebenso ein Geschenk Gottes wie das Licht der Offenbarung.“9 Immanuel Kant entwickelte ebenfalls ein Konzept von Vernunftreligion, das auf die weitere Philosophiegeschichte großen Einfluss ausübte.10 Die in der Kritik der reinen Vernunft vorgestellte transzendentale Methode lässt es nicht zu, dass dogmatischen Begriffen eine Realität zugesprochen wird, „der notwendigerweise die Anschauung fehlen muss“.11 Dadurch trennt „Kant zwischen (unwissenschaftlichem) ,Bibelglauben‘, der historischen und textlichen Zufälligkeiten verpflichtet ist, und ,Vernunftreligion‘, die im Rahmen von Kants Moralphilosophie legitimiert wird“ und neben der Kritik der praktischen Vernunft (1788) vor allem in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und in Der Streit der Fakultäten (1798) ausgearbeitet wurde. Nicht das vernünftige Denken, dem im „Rahmen der empirisch-gegenstandsbezoge-

7 Deuser, Hermann, Religionsphilosophie, Berlin/New York 2009, 243. Diese ethisch geprägte Vernunftreligion ist bei Lessing jedoch untrennbar mit dem Gefühl verbunden, was Brenner, Peter J., Gotthold Ephraim Lessing, Stuttgart 2000, 249 anhand pietistischer und teilweise mystischer Denkfiguren im Gesamtwerk und in der Korrespondenz differenziert herausgearbeitet hat: „Es geht Lessing keineswegs darum, die Religion der aufklärerischen Vernunft zu unterwerfen, sondern er propagiert ganz im Gegenteil das ,Gefühl‘ als die eigentliche Grundlage der Religion.“ 8 Leibniz, Gottfried W., Einleitende Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft, in: ders., Die Theodizee (1710), Neu übersetzt mit Anmerkungen von Artur Buchenau (1925), zweite, durch ein Literaturverz. und einen einführenden Essay von Morris Stockhammer erg. Aufl., Hamburg 1968, 33–94, hier: 33. Folgendes Zitat: ebd. 9 Ebd., 55. 10 Gute Einführungen in Kants Religionsphilosophie bieten: Essen, Georg/Striet, Magnus (Hg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005; Deuser, Religionsphilosophie, 197–215. Vgl. besonders zu Kants RbV die Beiträge in: Höffe, Otfried (Hg.), Klassiker Auslegen, Bd. 41: Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Berlin 2011; La Sala, Cohens Spinoza-Rezeption, 75–112. – Zum Begriff der Vernunftreligion in Kants Gesamtwerk: Mosayebi, Rezi, Die „Definition“ der Vernunftreligion, in: Höffe (Hg.), Klassiker Auslegen, Bd. 41: Kant, RbV, 249–270. 11 Deuser, Religionsphilosophie, 205. Folgendes Zitat: ebd.

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nen Verstandeskategorien“12 Grenzen gesetzt sind, sondern die Moral bildet den praktischen Grund, die Existenz Gottes zu postulieren: Auf solche Weise führt das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Objekt und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanktionen, d. i. willkürliche für sich selbst zufällige Verordnungen, eines fremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst, die aber dennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehen werden müssen, weil wir nur von einem moralisch-vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleich auch allgewaltigen Willen das höchste Gut, welches zum Gegenstande unserer Bestrebungen zu setzen uns das moralische Gesetz zur Pflicht macht, und also durch Übereinstimmung mit diesem Willen dazu zu gelangen hoffen können.13

Für Kant ist ein Glaube vernünftig, wenn er „sich auf keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten sind“14, diese also rational begründet werden können und somit allgemeingültigen Charakter tragen. Dem stehen die rational nicht zu begründenden, kirchlichen Dogmen entgegen, deren Befolgung er im Vierten Stück der RbV als „Afterdienst“ bezeichnet. Kant trennt also zwischen den „Zwangs- und Gehorsamsformen kirchlichen Verhaltens, [die] die ethische Einsicht Lügen strafen“15 und der Vernunftreligion, die sich allein an den sittlichen Kategorien orientiere. Praktisch bedeute das, dass eine auf der „reine[n] Vernunftreligion“ aufbauende Kirche nur „die bloße Idee einer Kirche (nämlich einer unsichtbaren)“ sein könne und kein spezifisches Personal benötige, sondern „alle wohldenkende[n] Menschen zu ihren Dienern […] haben“ würde.16 Jesus könne Kant zufolge „zwar nicht als Stifter der von allen Satzungen reinen in aller Menschen Herz geschriebenen Religion (denn die ist nicht vom willkürlichen Ursprunge), aber doch [als Stifter, T. L.] der ersten wahren Kirche verehrt werden“, da seine Lehren nichts anderes als „reine Vernunftlehren“ gewesen seien.17 Anhand einer längeren Auslegung der Bergpredigt kommt Kant zu dem Schluss, dass Jesu Verkündigung als „eine vollständige Religion, die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann“ bezeichnet werden müsse.18 Ähnlich wie in der liberalen Theologie seit dem 19. Jahrhundert

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Ebd., 206. Kant, KpV, A 233 (Hrvh. im Orig.). Ders., WhD, A 318. Deuser, Religionsphilosophie, 214. Kant, RbV, B 227f. Ebd., B 239 (Hrvh. Im Orig.). Ebd., B 245.

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ist Jesus für Kant ein moralisches Vorbild, der „,Lehrer des Evangeliums‘, der keine positive Religion, sondern die Vernunftreligion errichten wollte“.19 Damit führe das Christentum vom „ersten Anfange an den Keim und die Prinzipien zur objektiven Einheit des wahren und allgemeinen Religionsglaubens bei sich“20, obwohl die christliche Geschichte in den Jahrhunderten nach Christus vor allem mit Statuten und Dogmen belastet worden sei, die der Vernunftreligion diemetral entgegenstünden. Dafür sei vor allem das Judentum verantwortlich, dessen Inhalte die ersten Christen mit Jesu Verkündigung verknüpft hätten, die jedoch eigentlich eine „völlige Verlassung des Judentums“ vorgesehen habe. Das Judentum enthalte „in seiner Reinigkeit genommen, gar keinen Religionsglauben“, sondern sei in Absehung der für die Vernunftreligion zentralen ethisch-moralischen Dimension lediglich ein „Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war“, also ein politisches Gemeinwesen.21 Durch die Vermischung der jesuanischen Lehre mit dem rein legalistisch und heterodox verstandenen Judentum erkläre sich für Kant die weitere, von ihm negativ beurteilte Kirchengeschichte. Da das Judentum für Kant lediglich ein politisches Gemeinwesen war, sprach er ihm die Fähigkeit ab, in seinem Kern die Anlage zur Vernunftreligion zu besitzen. Diese finde sich nur im Christentum und dabei vor allem im Protestantismus, dem Kant noch „eine bevorzugte Stellung vor der orthodoxen und katholischen Kirche zu[weist]“.22 Gegen diese Herabsetzung der jüdischen Religion als „ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze“ protestieren Cohen und Kellermann, indem sie behaupten, es gebe eine von Kant selbst nicht gesehene Vereinbarkeit zwischen seiner kritischen Philosophie und einem prophetischen Judentum, das den „ethischen Monotheismus“ und die mit diesem verbundene messianische Mission der Humanisierung der Menschheit in seinen Mittelpunkt stelle.

3.2 Die Entwicklung der Religionsphilosophie Kellermanns bis zum Ersten Weltkrieg Kellermann unternahm es in seinem Gesamtwerk, die Inhalte des Judentums philosophisch zu untersuchen, wobei für ihn der Primatcharakter der Philoso19 Brachtendorf, Johannes, Die Kritik des Judentums und die Geheimnisse der Vernunft, in: Höffe (Hg.), Klassiker Auslegen, Bd. 41: Kant, RbV, 151–172, hier: 154. 20 Kant, RbV, B 185 (Hrvh. im Orig.). Folgendes Zitat: ebd., B 189. 21 Ebd., B 187. – Kants Bild des Judentums beruht vor allem auf der „äußerst einseitig[en]“ Lektüre Spinozas sowie auf seiner impliziten Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) in der RbV (vgl. La Sala, Cohens Spinoza-Rezeption, 102–104, Zitat: 102). 22 La Sala, Cohens Spinoza-Rezeption, 99.

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phie außer Frage stand. Wie er mit der Methode des kritischen Idealismus Philosophie des Judentums betrieb und das Ziel verfolgte, die jüdische Religion aufgrund ihrer zugeschriebenen universellen Grundkonstitution als „ein selbständiges und notwendiges Kulturmotiv“ in der Geschichte der Menschheit zu erweisen, soll im Folgenden aufgezeigt werden.23 3.2.1 Die Auslegung der Ethik des reinen Willens Am 4. Juli 1902 erschien von Kellermann in der AZJ eine, als Gruß zu Cohens 60. Geburtstag verpackte, Besprechung von dessen soeben veröffentlichtem ersten Teil des Systems der Philosophie, Logik der reinen Erkenntnis24, als auch einiger anderer Publikationen. Er bezeichnet Cohen aufgrund seiner „Vertiefung und Systematisierung der Kant’schen Gedanken […] mit Fug und Recht als das Haupt der Neukantischen Schule“ und lobt an dessen LrE und anderen Schriften, dass er „bei völliger Voraussetzungslosigkeit und kritischer Reinheit ein System entwirft, dessen Krönung in einen Hymnus auf die Sittenlehre und den Gottesbegriff des prophetischen Judenthums ausklingt.“25 Kellermann besprach auch den zweiten Teil des Cohenschen Systems, jedoch in ungewöhnlicher Form. Er erklärte dessen Ethik des reinen Willens (1904)26 zwischen Januar und Mai 1905 in neun Teilen in der AZJ27 einem „Lesepublikum […]“, „dem es mehr an der Befriedigung literarischer Tagesbedürfnisse als an der Vertiefung in philosophische Probleme gelegen sein muß.“ (250) Kellermann gibt auf beinahe 30 Seiten die begrifflichen Voraussetzungen der Cohenschen Ethik wieder und bedient sich dabei desselben Vokabulars, was den 23 Kellermann, Liberales Judentum, 4. – Zu Geschichte, Form und Inhalt sowie dem Problem einer angemessenen Definition von jüdischer Philosophie gibt es eine umfassende und differenzierte Sekundärliteratur. Gute Einführungen inkl. weiterführender Literaturhinweise bieten: Jospe, Raphael u. a., Art. Philosophy, Jewish, in: 2EJ 16 (2007), 67–114; Guttmann, Julius, Philosophie des Judentums, München 1933; Simon, Heinrich/Simon, Marie, Geschichte der jüdischen Philosophie, Leipzig 1999; Kilcher/Fraisse (Hg.), Metzler Lexikon jüdischer Philosophen; Krochmalnik, Daniel, Modelle jüdischen Philosophierens, in: Trumah 11 (2001), 89–107. 24 Cohen, Hermann, Logik der reinen Erkenntnis (1902). System der Philosophie. Erster Teil, Werke 6. 25 K..n [sic, = Kellermann, Benzion], Hermann Cohen. Zum 4. Juli 1902, in: AZJ Nr. 27 vom 4. 7. 1902, 315–317, hier : 316. 26 Cohen, Hermann, Ethik des reinen Willens (1904). System der Philosophie. Zweiter Teil, Werke 7. 27 Kellermann, Benzion, Hermann Cohens „Ethik des reinen Willens“, in: AZJ Nr. 3 vom 20. 1. 1905, 32f; Nr. 5 vom 3. 2. 1905, 54–56; Nr. 7 vom 17. 2. 1905, 80–83; Nr. 9 vom 3. 3. 1905, 103–105; Nr. 11 vom 17. 3. 1905, 127–129; Nr. 14 vom 7. 4. 1905, 163–166; Nr. 17 vom 28. 4. 1905, 200–202; Nr. 18 vom 5. 5. 1905, 211–213; Nr. 21 vom 26. 5. 1905, 248–250. Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im folgenden Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu.

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angesprochenen literarisch interessierten Leser durchaus überfordert haben dürfte. Er bezeichnet das „Buch als eine phänomenale Schöpfung deutscher Kultur, deutschen Geisteslebens“ (250) und liest es auf der Hintergrundfolie des Konzepts des „ethischen Monotheismus“. Seine Hauptthese ist, dass Cohens Werk „eine der wichtigsten Etappen auf dem Wege der Weiterbildung der jüdischen Religion“ und „nichts geringeres als die wissenschaftliche Verifizierung“ dieser bedeute (250). Kellermann behauptet, dass Cohen in seiner Methodik „nur von den Voraussetzungen des reinen Denkens, des reinen Willens sich bestimmen ließ und dennoch in den ethischen Lehren des Judentums, in dem prophetischen Gottesbegriff die Substanz aller wahren Philosophie erkannte. Das ist das große Leitmotiv seines Systems: Von der Vernunft zum Judentum, aber nicht umgekehrt.“ (32) So definiert Kellermann wahres jüdisches Philosophieren: Nicht die Philosophie dürfe von „jüdische[n] Theoreme[n]“ her bestimmt werden, denn dies wäre „tendenziöse Forschung [und] könnte weder als logisch noch als ethisch bezeichnet werden“, sondern jedwede Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Judentum habe den „Ausgangspunkt“ im reinen Denken, also in der wissenschaftlich-aufgeklärten Philosophie, zu nehmen (32). Kritik an dem vorgestellten Buch und generell an der Philosophie seines Lehrers, erlaubt sich Kellermann, im Gegensatz zu späteren Schriften, hier noch nicht. Ganz anders dagegen die zwanzigseitige Besprechung in der MGWJ durch den jungen Breslauer Rabbiner und Religionsphilosophen Julius Guttmann (1880–1950), mit dem Kellermann später in der „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ zusammenarbeiten wird.28 Guttmann erkennt zwar ebenfalls positiv an, dass Cohen mit der Ethik „keine spezifisch jüdische Religionsphilosophie, sondern allgemeine Philosophie geben will“ und lobt, „dass bei aller Schärfe der religiösen Kritik“, sie „doch ein im ernstesten Sinne religiöses Buch ist, dass sie in jüdischem Geiste die grossen sittlichen Kernfragen behandelt und damit ein neues Zeugnis ablegt von der Unerschöpflichkeit des Gedankengehaltes des Judentums.“29 Dennoch sei dem Verfasser die Durchführung der wissenschaftlichen Begründung der Ethik an vielen Stellen missglückt, was zumeist der falschen Verwendung diesbezüglicher Begriffe und ihrer strengen Orientierung an der Rechtswissenschaft geschuldet sei. Für Kellermann hingegen besteht genau darin das unvergleichliche Verdienst Hermann Cohens, daß er es war, der in der Rechtswissenschaft das wissenschaftliche Faktum der Ethik erkannte, daß er durch die Entdeckung einer solchen Grundlage zum ersten Male der Ethik einen wissenschaftlichen 28 Guttmann, Julius, Hermann Cohens Ethik, in: MGWJ 49/4 (1905), 385–404. Folgendes Zitat: ebd., 385. 29 Ebd., 404.

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Rückhalt schuf, der endlich den Charakter der Subjektivität ersetzte durch erkenntnistheoretische Objektivität. (56)

Mit gegenwärtigen Forschern wie Ulrich Sieg teilt Kellermann die Auffassung, dass mit der Ethik eine Fortsetzung der 1902 erschienenen Logik vorliege, die Cohen „mit Hilfe der Mathematik zu begründen“30 suchte und in der er „alle Arten der Metaphysik und des Skeptizismus so gründlich entwurzelt“ habe (33). Darunter zählt Kellermann die folgenden „Abarten der Philosophie“: „Materialismus oder Spiritualismus, Pantheismus oder Skeptizismus“, die zusammen „nichts anderes als das ,Schwungbrett vom Untermenschen zum Uebermenschen‘“ seien (33). Neben dieser sich auch an anderen Stellen seines Werks findenden Kritik an der Philosophie Nietzsches,31 macht Kellermann erneut dem Christentum den Vorwurf, irrationale philosophische Ideen in die Welt gebracht zu haben. Denn „die paulinische Lehre vom Gottmenschen“ – also die Auffassung von Jesus Christus als Sohn Gottes – habe „die Vernunft entthront“ (33), den Menschen vergöttlicht, indem sie „das Individuum mit all seinem naturalistischen Beiwerk zum Quellpunkt der Ethik erhebt“ (55) und durch die Einschmelzung der Differenz zwischen Natur und Gott die Ethik vernichtet. Der „Grundbegriff der Ethik“ sei für Cohen die „Allheit“ der Menschen und die in der Unendlichkeit angesiedelte Aufgabe des sittlichen Individuums liege in der Herausbildung einer „Einheit der Allheit der Menschen“ (33). Das „Allheitsprinzip“, in dem alle menschlichen Äußerungen und Handlungen aufgehoben sind, könne, in der Sicht Kellermanns, Cohen zufolge weder durch die Psychologie (die das Individuum im Blick habe und damit der Gefahr des Naturalismus ausgeliefert sei), noch durch die Geschichte und die Soziologie, die vielmehr selbst von der Ethik abhängig seien, sondern allein durch die Ethik begründet werden, wodurch „auch der Beweis für die Selbständigkeit der Ethik als Wissenschaft erbracht“ sei (33). Die Ethik sei in den Augen Cohens diejenige Wissenschaft, die nach dem Sollen des Menschen fragt und damit über die ledigliche Beschreibung des menschlichen Seins hinausgeht. Der Unterschied zwischen Sollen und Sein dürfe nicht vernichtet werden, wie es der Pantheismus tue, indem er die Natur und die Menschheit in Gott aufhebt und somit das gegebene Sein als sittlich, da göttlich, rechtfertigt. Die Natur und der Mensch seien aber nicht sittlich und nicht göttlich, sondern streng von der Sphäre Gottes geschieden. Die implizite Kritik 30 Sieg, Marburger Neukantianismus, 243. Ebd. heißt es: „Cohens Ethik knüpft direkt an Überlegungen der ,Logik der reinen Erkenntnis‘ an.“ – Eine verständliche Einführung in das Werk bietet: Holzhey, Helmut, Ethik als Lehre vom Menschen. Eine Einführung in Hermann Cohens Ethik des reinen Willens, in: Gibbs, Robert (Hg.), Hermann Cohen’s Ethics, SJHC, Bd. 14, Leiden 2006, 17–36. Holzhey sieht die Ethik ebenfalls „methodisch“ auf der Logik aufbauen (ebd., 18). 31 Vgl. etwa Kellermann, Universalistisches und partikularistisches Judentum, 417.

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Cohens an Spinoza und dem Pantheismus wird auch Kellermann sein ganzes Leben lang beschäftigen. Besonders sein letztes Hauptwerk, Die Ethik Spinozas (1922), bietet eine intensive Auseinandersetzung mit der spinozistischen Philosophie, der er das idealistische Denken im Anschluss an Kant und Cohen gegenüberstellt. Nur indem der Gottesbegriff weiterhin in der Transzendenz belassen werde, sei es möglich, Gott als den „Gott der Sittlichkeit“ (213) zu identifizieren, der dem Menschen die ewige Aufgabe der Selbstvervollkommnung durch sittliches Handeln auferlegt habe. Für Cohen sei Gott „Idee und nur Idee in der methodologischen Bedeutung des Wortes“ (250). Auch Guttmann erkannte, dass die Cohensche „Gottesidee […] nur ein methodologisches Prinzip bedeutet“, wodurch ausgeschlossen sei, dass solch einem Gott als dem „Grundgesetz der Wahrheit […] ein Dasein zukommt.“32 Gott als Idee ist hier nicht mehr als ein Vermittlungsbegriff zwischen dem in der ewigen Zukunft liegenden sittlichen Ideal und dem gegenwärtigen unvollkommenen Zustand der Menschheit und der Natur. Kellermann zufolge setzt Cohen mit der Ethik die Logik aber nicht nur fort, sondern gehe über sie hinaus und zeige „klar und deutlich, wie weder die offiziell anerkannten Kulturreligionen noch die mit ihnen verbündeten philosophischen Systeme und sonstigen Kulturgebilde den Gesetzen der reinen Vernunft jemals entsprochen haben.“ (33) Für sie gebe es nur „eine Rettung: Rückkehr zu jener ethischen Weltanschauung, wie sie von den Propheten auf rein intuitivem Wege erdacht worden war.“ (33) Das gegenwärtig existierende Judentum entspreche dem Ideal der Vernunft ebensowenig wie die anderen Kulturgebilde und müsse sich daher „prophetisieren“, denn der „Prophetismus bildet die ewige Revisionsinstanz für alle Kulturschöpfungen.“ (33) Der Reformrabbiner Paul Rieger (1870–1939), wie Kellermann im CV aktiv, war ebenfalls der Überzeugung, dass Cohen, aber auch Geiger und andere Gelehrte, in ihrem Denken zwar einen Schritt zurückgemacht hätten, „der aber unendlichen Fortschritt bedeutete“, nämlich die Rückkehr „zu den Ideen der prophetischen Zeit. […] Diese Reaktion kann und wird das Judentum zu dem ausgestalten, zu dem es geboren ward, zur Menschheitsreligion.“33 Durch jene Rückkehr zum Prophetismus werde sich das Judentum in den Augen Kellermanns universalisieren und an dem Aufbau der Menschheitsreligion partizipieren. Dann verpflichte es sich einer allgemein gültigen Sittlichkeit, deren Grundlegung Cohen in seiner Schrift vollzogen habe. Bereits nach dem Erscheinen des zweiten Teils der Erklärung am 3. Februar 32 Guttmann, Hermann Cohens Ethik, 402. 33 Rieger, Paul, Das Judentum an der Wende des Jahrhunderts. Ein Vortrag, in: MLVAJGB 10 (1900), CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 276, # 506, Bl. 56–59, hier : Bl. 56. – Zur Biografie: Roth, Cecil, Art. Rieger, Paul, in: 2EJ 17 (2007), 293f.

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1905, bedankte sich Cohen am darauffolgenden Tag, einem Schabbat, bei seinem Schüler : „Mein lieber Herr Dr.! Gut Woch sei Ihnen mit herzlichem Danke zugerufen für die Sabbathlust, die Sie mir heute bereitet haben, indem Sie mich in der Einleitung unserem Publikum klar u. warm u. instruktiv vorgestellt haben.“34 Es sei Kellermann gelungen, mit „wissenschaftliche[r] Gründlichkeit u. Klarheit […] eine so schwierige Materie durchsichtig zu machen“35, wodurch er einen nicht geringen Anteil daran habe, dass die Ethik einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht wurde und auch das Interesse von deutschen Rabbinern an der von der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“ subventionierten, ermäßigten Ausgabe schlagartig zunahm: „In kaum 8 Tagen sind an 100 Bestellungen eingelaufen.“36

3.2.2 Liberales Judentum: Das Bekenntnis zum Reformjudentum Zwei Jahre nach dem Kommentar zur Ethik und ein Jahr nach den Kritischen Beiträgen wurde Kellermann von dem „Liberalen Verein für die Angelegenheiten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ 1907 zu einem Vortrag über sein Verständnis des Judentums eingeladen. Der 1895 gegründete Verein, dem er als Mitglied angehörte,37 hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das jüdische Gemeindeleben nicht nur genau zu beobachten, sondern auch aktiv mitzugestalten. Sein Profil war dezidiert progressiv und so setzte er sich vor allem für die Belange des liberalen Judentums ein, das unter den Berliner Juden zu dieser Zeit den meisten Anklang fand. In seinen Aufrufen zu den alle drei Jahre stattfindenden Wahlen für die Repräsentantenversammlung warb der Verein dennoch stets für „Toleranz von und für Jedermann“ und wollte die Berliner Gemeinde als eine Einheitsgemeinde verstanden wissen, in der auch Platz für die Orthodoxie mit altem Gottesdienstritus sei.38 Toleranz müsse aber auch den Liberalen gegenüber gelten, wie der Verein forderte. Wenn fast ein Drittel aller Gemeindemitglieder für den Sonntagsgottesdienst votiere, müsse dieser neben der „Reformgemeinde“ auch endlich in einigen Gemeindesynagogen eingeführt werden, da er den Schabbat keineswegs entweihe. Der Anteil der deutschen Sprache in den Gottesdiensten nach neuem Ritus müsse erhöht werden, es müsse Religionsschulen mit reformjüdischem und orthodoxem Profil geben und schließlich müsse die Einheit der Gemeinde 34 35 36 37

Hermann Cohen an Benzion Kellermann, 4. 2. 1905, LBI New York, AR 1197, 4 Bl., hier : Bl. 1. Ebd., Bl. 2. Ebd., Bl. 2f. Vgl. Julius Seligsohn an Thekla Kellermann, 2. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier : Bl. 1. 38 Liberaler Verein für die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Wahlaufruf, in: MLVAJGB 4 (1898), CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 276, # 506, Bl. 15f, hier : Bl. 15.

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durch die Wiedereingliederung der abgespaltenen „Adass Jisroel“ und der „Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin“ wieder hergestellt werden, denn „[s]ie alle beten mit uns zu dem einen Gotte Israels“.39 Kellermann, der 1907 in der Wichmannstraße 2 im Bezirk Tiergarten wohnte, erhielt in diesem Jahr zum ersten Mal das Recht, bei den Repräsentantenwahlen seine Stimme abzugeben, denn der „Religionsschuldirigent“ wurde in das Verzeichnis der wahlfähigen Mitglieder der jüdischen Gemeinde aufgenommen.40 Durch die bisherigen Veröffentlichungen, die Arbeit als Rektor und Lehrer an eher progressiv gesinnten Schulen und die Zustimmung zum zusätzlichen Sonntagsgottesdienst in der Kontroverse 1901, hatte er sich einen Ruf als überzeugter Vertreter des Reformgedankens erworben und wurde vom „Liberalen Verein“ gebeten, seine Position darzulegen und zugleich Stimmung für die liberale Fraktion innerhalb der jüdischen Gemeinde zu machen. Im Folgenden soll das noch im selben Jahr gedruckte Referat Kellermanns nachgezeichnet werden, denn die hier verwendeten Denkfiguren stehen paradigmatisch für seine immer wiederkehrende Argumentation für die Existenzberechtigung und Notwendigkeit eines an den Propheten ausgerichteten liberalen Judentums als Vorstufe der universalen Menschheitsreligion der Vernunft.41 Das Judentum betrachtet und bewertet er von der Philosophie her, ebenso wie Cohen, den er dafür in der Besprechung von dessen Ethik in den höchsten Tönen gelobt hatte. Denn religiöse Ideen sind für Kellermann nur dann wahr, wenn sie philosophisch begründet werden können. Seine „theologische Haltung [war] in prachvoller Wahrheitsliebe von seiner philosophischen Grundeinstellung beherrscht“, schrieb diesbezüglich 1924 der Offenbacher Rabbiner Max Dienemann zu Recht in seinem Nachruf auf den Berliner Kollegen.42 Zu Beginn spricht Kellermann einleitend über „den Begriff der Bewegung“ und es „bleibt ein unvergängliches Verdienst Kants, diesen Begriff zum Zentralmotiv der Wissenschaft erhoben zu haben“ (3). Mit ihm „war endlich das Dogma des Absoluten aus dem Felde geschlagen. Kein Gebiet des Denkens, kein Gebilde der Vernunft durfte mehr den Anspruch auf ewige, unbeschränkte Geltungskraft erheben“ (3), formuliert Kellermann gegen Hegel. Anschließend fragt er, ob auch die Religion in der Lage sei, sich zu dynamisieren und ob „auch 39 Ebd. 40 Jüdische Gemeinde zu Berlin (Hg.), Verzeichnis der wahlfähigen Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu Berlin im Jahre 1907, Berlin 1907, 91. Dort findet sich auch die Adresse, die er seit 1906 bewohnte (Königliches Polizeipräsidium [Einwohner-Meldeamt], Meldebescheinigung für Benzion Kellermann, 13. 3. 1909, StadtA Warburg, PS 0012). 41 Kellermann, Benzion, Liberales Judentum. Vortrag, gehalten im Liberalen Verein für die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde, Berlin 1907. Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im folgenden Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. 42 Dienemann, Kellermann zum Gedächtnis, 4.

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ihr durch eine zuerkannte Bewegungsmöglichkeit das Heimatsrecht in der modernen Kultur bewiligt werden [kann]“ (4). Kants Antworten darauf seien „mißlungen“, denn indem er „in seiner Kritik der praktischen Vernunft den kirchlichen Gottesbegriff zu retten suchte, den er in seiner Kritik der reinen Vernunft als unlogisches Gebilde bezeichnete, hatte er selbst der Religion den wissenschaftlichen Boden entzogen.“ (4) Kellermann macht es sich hier und auch in weiteren Schriften und Vorträgen zur Aufgabe, der Religion, und dabei vor allem der jüdischen Religion, ein wissenschaftliches Fundament zu geben, um sie dadurch als „ein selbständiges und notwendiges Kulturmotiv“ (4) zu erweisen. Dies gelinge nur, wenn die „Religion als ein Gebilde der Bewegung, als ein Objekt der Entwickelung“ definiert werden kann, was der Philosoph in vorliegendem Referat in Beantwortung der folgenden Frage versucht: „Läßt die jüdische Religion eine Modernisierung und Liberalisierung ihrer Inhalte zu, insofern unter dem Begriffe der Liberalisierung der Ausgleich zwischen naivem und wissenschaftlichem Denken, zwischen Tradition und Vernunft verstanden werden soll?“ (4) Er bejaht diese Frage mit einer zweifachen Argumentationslinie, indem er zuerst nach der logischen, dann nach der historischen Begründung des liberalen Judentums fragt, um den Vortrag mit Forderungen an das Judentum der Gegenwart und der Zukunft zu beschließen. Kellermann rechtfertigt die Existenz des liberalen Judentums logisch-philosophisch durch den Verweis auf Kant und den oben dargelegten Bewegungsbegriff, den er auf den „Gesamtkomplex von Pflichten, ethischer und ritualer Natur“ und auf den jüdischen „Gottesbegriff“ sowie auf ihr Verhältnis zueinander anwendet (4f). Während die Orthodoxie an den „starre[n] Elemente[n]“ der Tora, den halachischen Vorschriften, festhalte, sei das liberale Judentum bereit, Veränderungen zuzulassen, worin erst „die kulturelle Legitimation für jedes Denkgebilde liegt“ (5). Hier folgt Kellermann nicht nur Cohen, sondern auch Geiger, der „den Entwicklungsbegriff zum schöpferischen Grundprinzip der wissenschaftlichen Ausgestaltung der jüdischen Religion erhob“43. Das progressive Judentum orientiere sich nicht an dem „Ritualgesetz“, sondern an dem „Moralgesetz“, welches ein „bewegliches Element in jenem Pflichtenkomplex“ sei (5). Das moralische Gesetz sei der stetig wechselnde Inhalt der Ethik, der „ewig neu erzeugt [wird], und nur in dieser ewigen Zeugung und Schöpfung neuer Werte wird die sittliche Vernunft ihres eigenen Selbst sich bewußt. Jede Zeit hat ihre besonderen sittlichen Aufgaben, ihre bestimmten sozialen und wirtschaftlichen Pflichten.“ (5) An dieser Stelle erläutert Kellermann seinen Gottesbegriff, der einmal mehr verdeutlicht, inwieweit er sich von seiner orthodoxen Herkunft entfernt hatte. Gott sei „[n]icht der Schöpfer jener 43 Kellermann, Cohens „Ethik des reinen Willens“, 250.

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sittlichen Werte“, sondern der „Mensch selbst in seiner Vernunft erzeugt das Sittengesetz, kein Gott und keine Offenbarung kann ihn von diesem heiligen Dienste befreien“ (5). Somit ist Gott für ihn „nichts anderes als die Macht jener Idee, die auf die Verwirklichung des Sittengesetzes hinsteuert, die den Garanten seiner dereinstigen Erfüllung bildet“ (5). Diese teilweise von Cohen geprägte Auffassung ist in dem gesamten Werk Kellermanns anzutreffen. In dem Aufsatz „Kantianismus und Judentum“ (1911) und dem systematischen Hauptwerk Das Ideal im System der Kantischen Philosophie (1920) ermöglicht die „Gottesidee“ ebenfalls den Übergang von der Möglichkeit der Ethik „in die Wirklichkeit“, sie „bedeutet den restlosen Ausgleich zwischen Sollen und Sein, die harmonische Vereinigung zwische Logik und Ethik: Methodisch – wird die Ethik von der Logik bestimmt, inhaltlich – hat die Logik in der Ethik ihr Ziel und Heil zu erblicken.“44 Da die „Gottesidee“ die mögliche ethische Handlung in eine wirkliche transformiere, stünden „Ethik und Gottesbegriff in einem streng korrelativen Verhältnis zueinander“, wie er es in einem anderen Text aus dem Jahr 1911 formuliert: „So wenig eine endgültige Erfüllung der Ethik ohne Gott möglich ist, so wenig können Gott andere als ethische Attribute beigelegt werden, wenn er nicht zu einem dualistischen Prinzip herabsinken soll.“45 Im Kommentar zu Cohens Ethik 1905 bezeichnet Kellermann Gott im Anschluss an Platon und Maimonides ebenfalls als „eine Idee, eine ewige Aufgabe, eine Forderung, die in der ewigen Verbindung zwischen Logik und Ethik, zwischen Natur und Ideal ihr Wesen erblickt“ und somit nicht mehr „als den methodischen Charakter einer Idee zu bedeuten habe.“46 Wer Gott dagegen „zu einem Inhalte des Glaubens“ mache und „als persönliches Wesen“47 denke, habe dessen allein in der Forderung der Sittlichkeit liegendes Sein nicht verstanden, sondern „bleibt für alle Zeiten im Mythos befangen“ und sei verantwortlich für die „Vernichtung der Sittlichkeit überhaupt“. Kellermann, der hier mit der Ablehnung jedweder Vermischung der Natur und der Menschheit mit dem Gott der Sittlichkeit zugleich erneut Kritik an der christlichen Auffassung der Gottessohnschaft Jesu übt und der christlichen Religion damit indirekt einen die Ethik zerstörenden Pantheismus unterstellt, vertritt einen wissenschaftlichen, einen epistemologischen Begriff Gottes, der ihm nichts anderes ist als der Verwirklichungsgrund des „ewigen sittlichen Fortschritt[s] in der Weltgeschichte“ (5f). Dabei sei die „Gottesidee“ (6) ebenso wenig starr wie die Ethik, sondern entwickele sich wie diese fort und erfahre stetige Umbildung. 44 45 46 47

Ders., Kantianismus und Judentum, 6 (Hrvh. im Orig.). Zum Ideal vgl. Kap. II.6.1. Ders., Universalistisches und partikularistisches Judentum, 419. Ders., Cohens „Ethik des reinen Willens“, 249. Folgendes Zitat: ebd., 250. Ebd., 249. Folgende zwei Zitate: ebd.

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Die Orthodoxen – er meint hier zum einen die jüdische, aber auch andere religiöse Orthodoxien – hingegen hätten kein angemessenes Verständnis von dem sich verändernden Charakter des Sittengesetzes, Gottes und ihres wechselseitigen Verhältnisses. Sie hielten an rituellen Vorschriften fest, denen sie zeitlose Gültigkeit zusprechen. Dabei würden sie verkennen, dass diese Forderungen nicht von Gott, sondern aus der „Psyche bestimmter einzelner Menschen“ (6) stammen würden und ihre Zeit und ihren Ort gehabt hätten. Die rituellen Gebote seien nicht zeitlos, sondern „ewig starr und unveränderlich“ und die Anhänger, die daran festhalten, bildeten nichts anderes als „partikularistische Sondergemeinden, welche die Menschheit entzweien und zerreißen“ (6). Hier bestätigen sich die Worte Dienemanns, der von Kellermann als „einem glühenden und zielbewußten Verfechter eines radikalen Liberalismus“ sprach, der in unanfechtbarer „Ueberzeugungstreue“ in seinen theologischen Positionen nicht nachgab und „in der religiösen Entscheidung dem Kompromiß abhold war“.48 Kellermann zufolge ist das liberale Judentum der Orthodoxie gegenüber deshalb philosophisch gerechtfertigt, weil es den Gedanken verinnerlicht habe, dass „jenes zum Teil starre Verhältnis zwischen Gesetz und Gott in ein ausschließlich bewegliches verwandelt werden“ müsse und dass diese Transformation „nur durch Ausschaltung des starren Ritengesetzes aus jenem Pflichtenkomplex sich vollziehen“ könne (6). Dadurch bleibe die jüdische Religion beweglich und zeitgemäß und könne „als die wahrhaft reine Vorbereitungsinstanz für die reine Religion, für die reine Ethik gelten“ (7). Eine solche universale Ethik sei das Endziel des sittlichen Fortschritts der Menschheit und habe ihre Quellen in den Religionen. Denn in Kellermanns Augen ist sie „doch nichts anderes, als die reife Frucht am Baume der geschichtlichen Religionen.“ (7) Nach dieser philosophischen Legitimation des liberalen Judentums als Geburtshelfer der zukünftigen reinen Menschheitsreligion der Vernunft, gibt Kellermann einen historischen Überblick der jüdischen Religion von ihren Anfängen bis in seine Zeit und versucht, das liberale Judentum als prophetisches und damit höchststehendes zu erweisen. Er weiß um die Wichtigkeit „des geschichtlichen Zusammenhangs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, falls das liberale Judentum nicht den Boden unter seinen Füßen verlieren will“ und will hier auch die stets von orthodoxer, konservativer und zionistischer Seite gestellte Frage: „Kann ein so liberalisiertes Judentum überhaupt noch Judentum genannt werden?“ (7), beantworten. Er beginnt den historischen Überblick mit den „Propheten Israels und Juda“, die seiner Meinung nach „klassische[n] Vertreter der Humanität, die uns das Recht, die Pflicht der Liberalisierung bezeugen“ (7). Wie in vorherigen als auch in folgenden Schriften, beschreibt Kellermann die Propheten als selbstbewusste 48 Dienemann, Kellermann zum Gedächtnis, 4.

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Individuen, die den „Kultus als Selbstzweck“ (7) ausgeschieden und sich damit von „einer starren statutarischen Ritenreligion, die erst auf rein empirischem Wege erlernt werden soll“ (8), abgewendet hätten. Dagegen forderten sie ihm zufolge die „Religion des Herzens49, der Vernunft, die in jedem sittlichen Menschen schlummert, sie allein soll die Religion der Zukunft sein.“ (8) Zwar sei bei den Propheten das Sittengesetz „noch nicht begrifflich formuliert“ gewesen und „der Gottesbegriff noch keine Idee der Erkenntnis“, wie es Kant und Cohen durchführten, aber „Ethik und Gottesgedanke standen in einem unauflöslichen Wechselverhältnis zu einander.“ (8) Damit sei „die Grundidee des Messianismus“ geboren worden, nach der nur sittliche Handlungen in Beziehung zu Gott stehen: „Die sittliche Handlung allein ist Gottes Reich. […] Denn Gott ist ein Herr der sittlichen Taten.“ (8) Einige Jahre später präzisiert er den Begriff des „prophetischen Messianismus“ in diesem Sinn als „den Glauben an die Erfüllbarkeit der Ethik auf Erden, an die Möglichkeit der Humanisierung der Weltgeschichte. Den Garanten einer solchen Erfüllung bildet die Gottesidee.“50 In der Beschreibung der weiteren jüdischen Religionsgeschichte folgt Kellermann Wellhausen und der zeitgenössischen protestantischen Bibelwissenschaft und damit größtenteils auch dem Konzept der Verfallsgeschichte. Dabei differenziert er einzelne Epochen und Regionen nicht genau, sondern skizziert, einem Vortrag vor zum Teil nichtakademischem Publikum angemessen, die jüdische Geschichte in groben Zügen mit dem Ziel, das liberale Judentum als einzig wahren Nachfolger der Propheten zu erweisen. Es sei nicht am Prophetismus festgehalten worden, sondern „unmittelbar nach dem Abschluß der Prophetenreligion erhielt die Priesterreligion das Wort“ (9). Entgegen „Hegel“, der sage, „daß alles, was wirklich ist, auch vernünftig sein müsse“ (8), sei durch die Wiederaufnahme der „starren Volks- und Kultelemente, wie Opfer, Speise- und Reinheitsgesetze“ (9) erneut dem Irrationalismus Raum gegeben worden. Auch an anderen Stellen seines Werkes findet sich die scharfe Kritik an Hegel, wenn er etwa 1911 behauptet: „Von dem aristotelischen Kultus der sinnlichen Empfindung bestimmt, prägt Hegel eine ,philosophische‘ Parole, die mit geradezu erschreckender Macht das moderne Kulturleben zersetzt und zerstört: Alles was ist, ist vernünftig, und nur das Vernünftige ist.“51 Gegen das bei Kant und Cohen vorherrschende Konzept der „Allheitsethik“, würde Hegel „die logische Begründung“ der „Mehrheitsethik“ liefern und könne somit als Vater der Philosophien Stirners und Nietzsches gelten. Diese kritisiert Kellermann als „Kulturdefizit“, da sie sich in ihrer falschen Anwendung des 49 Kellermann zitiert an dieser Stelle Jer 31,33 in folgender Übersetzung: „,Ich lege mein Gesetz in ihr Inneres und schreibe es Ihnen ins Herz“‘. 50 Kellermann, Universalistisches und partikularistisches Judentum, 419. 51 Ebd., 418. Folgende Zitate: ebd., 417f.

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„Begriff[s] der Entwicklung im Darwinschen Sinne“ auf die Ethik durch den „nackteste[n] Solipsismus“ auszeichnen würden. Neben dem in Kellermanns Augen irrationalen Opferkult in Jerusalem, habe auch eine „kleine[…] prophetische[…] Partei“ bestanden und sich ein Judentum entwickelt, das er als das „griechische“ bezeichnet (9). Letzteres sei noch „von dem Menschheitsgeiste der Propheten erglüht“ (9) gewesen und finde sich etwa in den Büchern Ruth, Jona, vielen Apokryphen und etlichen Psalmen. Davon hätten sich die Pharisäer „als natürliche Fortsetzung des Priesterjudentums“ jedoch „streng und scharf“ geschieden, indem sie „die Thora vergöttert“ und „den Unterschied zwischen Moral und Kultus für Jahrhunderte hinaus theoretisch vernichtet“ hätten (10). Kellermann nahm in seinem Vortrag „eine kritische Destruktion der talmudischen ,Gesetzlichkeit‘“ vor, „die dem protestantischen Bild nahezu spiegelbildlich entsprach“.52 Christian Wiese zufolge ist diese „extreme reformjüdische Position […] in ihrer kritiklosen Rezeption der antithetischen Entgegensetzung von prophetischem und pharisäisch-rabbinischen Judentum für die damalige Wissenschaft des Judentums“ möglicherweise „singulär“. Jedoch lassen sich nicht an allen Stellen des Werks solch scharfe Formulierungen gegenüber dem rabbinischen Judentum finden. So rühmt er 1898 in dem Disput mit Benno Jacob die „großen Gesetzeslehrer“53 Hillel und Akiba für ihre Weisheit und ihre Verdienste um die Bewahrung des Judentums und lobt in der Festschrift für Hermann Cohen diesen dafür, dass er neben dem prophetischen „auch das talmudische“ Judentum „einer kritischen Würdigung“ unterzogen und nachgewiesen habe, „daß der große prophetische Zug in keiner Entwickelungsphase des Judentums völlig ignoriert wurde.“54 Auch das mittelalterliche Judentum, das sich vor allem durch philosophisches Denken auszeichnete, habe es nicht geschafft, „die Piesterschranken der starren Gesetzesreligion zu durchbrechen.“ (10) Repräsentativ für diese Epoche sei Maimonides, vor dessen Werk Kellermann ohne Zweifel Respekt zeigt. Zugleich ist er aber selbstbewusst genug, Maimonides zu kritisieren, da er „das starre Ritengesetz […] nicht nur nicht beseitigt [hat], sondern er hat es durch seine Systematisierung noch mehr befestigt.“ (11)55 Auch den sechshundert Jahre später wirkenden Moses Mendelssohn kritisiert er für seine Treue der Halacha und der aufgeklärten Philosophie gegenüber. Zwar schätzt es Kellermann, dass er „den Juden die deutsche Sprache erschlossen und dadurch ihre Beteiligung am allgemeinen Kulturleben ermöglicht [habe]“, aber er habe „für die innere Entwicklung der Religion nicht viel mehr als Maimonides geleistet“ (11). Denn 52 53 54 55

Wiese, Gegengift, 262f. Folgende Zitate: ebd. Kellermann, Bibel und Wissenschaft, 583. Ders., Die philosophische Begründung des Judentums, 95. Ausführlich zu Kellermanns Kritik an Maimonides: Kap. II.4.2.2.

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auch Mendelssohn habe dem „Ritengesetz unverändert seine theoretische und praktische Geltungskraft“ zugestanden und in der „Thora in ihrem gesetzlichen Gesamtbestand das Werk göttlicher Offenbarung“ gesehen (11). „Eine wirklich neue Epoche“ beginnt für Kellermann „mit dem Aufblühen der Wissenschaft des Judentums“, vertreten durch Forscher wie „Rappaport, Krochmal, Frankel, Zunz, Abraham Geiger und Grätz“ (11). Sie hätten die Bibel philologischen Standards entsprechend kritisch untersucht, das Judentum mit dem Instrumentarium „eine[r] objektive[n] Geschichtswissenschaft“ bearbeitet und ihm damit „seinen Absolutheitscharakter, seine durch die Gottheit sanktionierte Starrheit genommen“ (11). Genauso wenig wie das Christentum Absolutheit beanspruchen könne, wie dies etwa Ernst Troeltsch im Sinne Hegelscher Geschichtsphilosophie fünf Jahre zuvor behauptete,56 dürfe das Judentum diesen Anspruch erheben, sondern es müsse „seine Stelle neben den anderen Gebilden des Menschengeistes an[ge]wiesen“ (12) bekommen. Den letzten Schritt hätten jedoch auch die erwähnten Gelehrten nicht vollzogen: Die „Ausscheidung des starren Ritenelements“, so dass „das Sittengesetz mit seiner Gottesidee den Zentralpunkt der jüdischen Religion bilden würde“ (12). So habe keine „Weiterbildung“ dieser Ideen stattgefunden, sondern die angestoßenen Bemühungen hätten durch den zunehmenden Antisemitismus57 und die Austritte aus dem Judentum sogar „eine Rückbildung erfahren“ (12).58 Das oberste Ziel des liberalen Judentums müsse sein, eine „Renaissance des Prophetismus“ (12) einzuleiten, womit Kellermann bei den Gegenwartsforderungen angelangt ist, die den Vortrag beschließen. Es müsse zu einem „rückhaltlosen Ausgleich des Judentums mit den Ergebnissen und den Methoden des modernen Denkens“ kommen (15). Die jüdische Religion wird in diesem Sinn verwissenschaftlicht, wenn sie weder dem Moralgesetz, „den Grundgesetzen der mathematischen Naturwissenschaft noch denen der historisch-kritischen Geschichtswissenschaft widerspreche[…]“ (15). Kellermann schreibt hier in aller Deutlichkeit als Marburger Neukantianer und Schüler Cohens, für den Religion und Gott nichts mit Mythos und Irrationalismus, sondern mit Universalismus, Logik und Ethik zu tun haben. Würde 56 Troeltsch, Ernst, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/ 1912), KGA 5. – Kellermann bezeichnet Hegel als den „Philosoph[en] des ,absoluten Christentums‘“ und beklagt sich von daher über die Versuche von jüdischer Seite, ihn „als philosophische[n] Eideshelfer des ,historischen Judentums‘“ anzurufen (Universalistisches und partikularistisches Judentum, 418). Kellermann spielt hier wohl auch auf Heinrich Graetz an, dessen Geschichte der Juden von Hegels Geschichtsphilosophie beeinflusst ist. 57 Kellermann selbst benutzt den Ende der 1870er Jahre aufgekommenen Begriff nicht, sondern spricht von „furchtbare[n] Angriffe[n], die eine von Haß und Neid erfüllte Gegnerschaft gegen das Judentum richtet“ (Liberales Judentum, 12). 58 Die fehlende „Weiterbildung“ der jüdischen Religion beklagte er schon früher : Kellermann, Cohens „Ethik des reinen Willens“, 250.

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diese Verwissenschaftlichung des religiösen Grundbestandes vollzogen, dann „fällt für das Judentum jedes vernunftwidrige Dogma“ und „wird heute die Superiorität des Judentums über alle anderen Kulturreligionen ins rechte Licht gesetzt.“ (15) Selbstbewusst spricht er davon, dass „einzig und allein die jüdische Religion den höchsten Forderungen der wissenschaftlichen und ethischen Vernunft entspricht“ (16). In der Konsequenz würden sich daraus folgende zwei Hauptforderungen an das Judentum ergeben, die sich in weitere Forderungen zergliedern: a) „Die rituelle Satzung muß als Gesetz aus dem religiösen Bewußtsein schwinden.“ (15) Wenn einzelne Gruppen sich aus Pietät verpflichtet fühlen, bestimmte Speise- und Reinheitsvorschriften zu wahren, sei ihnen dies unbenommen. Jedoch dürfe eine solche Observanz nicht „zum Gegenstand der allgemeinen Pflicht erhoben werden.“ (14) Kellermann zitiert in diesem Zusammenhang zustimmend Abraham Geiger, der das „Ritualgesetz“ einen „,geschundenen Vogelfuß‘“ nannte (12). b) Die „Liberalisierung des Gottesdienstes“, da auch er „den Grundforderungen modernen Denkens entsprechen muß, in logischer, ästhetischer und ethischer Hinsicht“ (17). Im Detail heißt dies: Die Veränderung des Gottesbegriffs und die Ausscheidung von Gebeten, die mythisch verstanden werden könnten (17); die Ablehnung des „Mythos von der leiblichen Auferstehung“ der Toten (17); die Abhaltung des Gottesdienstes in der deutschen „Heimatssprache […] als die wahre und reine Muttersprache“ (18); die stärkere „Mitwirkung der Musik und der Architektonik“, um auf das religiöse Gefühl einzuwirken; die Verkürzung des Gottesdienstes, da mit den zahlreichen Wiederholungen von Gebeten nur eine „Überschätzung starrer Kultformen“ vorliege (19); statt der liturgisch zentralen Tora-Vorlesung, solle „[a]n erster Stelle […] die Verlesung der Propheten und Psalmen und der rein ethischen Gedanken des Pentateuchs stehen. Und nur die Interpretation der Propheten und Psalmen (also der ethischen Partieen in der Bibel) soll Gegenstand der religiösen Belehrung und Erbauung sein“ (19). Würden diese Forderungen eingelöst, käme es zu der notwendigen „Kulturisierung“ (20) der Religion, ein Anspruch, der sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk Kellermanns zieht. Dabei steht für ihn außer Frage, dass die Kultur, die von der Philosophie beschrieben wird, der Religion übergeordnet ist und ihr die „Direktiven“ vorgibt (20). Religion habe der Kultur zu dienen, indem sie sie fördere, was wiederum nur möglich sei, wenn sie sich universalisiere und damit der Allgemeinheit zugänglich werde. Das Judentum habe durch den „prophetischen Monotheismus“ als erste Religion die universale Vernunftreligion „intuitiv erschaut“ und sei nun damit beauftragt, diese, in Anleitung zu sittlichem Handeln, zu verwirklichen (20). Dazu würden auch die „nichtjüdischen Reli-

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gionen“ (20) gehören, die sich ebenfalls an den Idealen des Prophetismus orientieren müssten, „erst dann ist die religiöse Einheit erreicht, die als letzte Vorstufe der ethischen gilt“ (21). Kellermann verfolgt mit seinem Vortrag zwei Ziele: Zum einen das Judentum in seiner liberalen Form über eine historische und philosophische Argumentationslinie theoretisch als ein „kulturnotwendiges Postulat“ (6) zu legitimieren, zum anderen praktische Vorschläge zu formulieren, die zu seiner Weiterentwicklung hin zu einer universalen und rationalen Menschheitsreligion führen. Damit liegt er eindeutig auf der Linie des gastgebenden Vereins und der von diesem formulierten „Grundprinzipien des liberalen Judentums“59. In ihnen wird ebenfalls eine zeitgemäße Neugestaltung des Gottesdienstes sowie im Religionsunterricht die Konzentration auf „die religiösen und sittlichen Ideen des Judentums“ gefordert. Ferner findet sich die Forderung, die jüdische Religion „von überlebten Kulturformen zu befreien“, um sie als „messianische[…] Idee“ in eine universale „Weltreligion“ zu transformieren. Die „Grundprinzipien“ werden durch das folgende Diktum besiegelt, das das Selbstverständnis der Vertreter des liberalen Judentums zusammenfasst und sich auch mit der Position Kellermanns deckt: Das Judentum als Religion, nicht als Gesetz, nach seinem lebendigen Geiste, nicht nach dem toten Buchstaben, in seiner ewigen Idee, nicht in seiner wandelbaren äußeren Erscheinung dauernd lebensfähig zu erhalten, das ist das Hochziel aller wahrhaft liberalen Bestrebungen im Judentum.60

Exakt das tut Kellermann in seiner Religionsphilosophie, wenn er die „ewige Idee“, den ethischen Gehalt, aus dem Judentum herauszuschälen sucht. Dieses rein sittlich verstandene und als prophetisch bezeichnete Judentum, welches er in seiner Zeit nicht vollständig, aber am ehesten durch die liberale Bewegung repräsentiert sieht, könne dann als Vorstufe einer in der Zukunft liegenden reinen Religion gelten, deren Verwirklichung das gemeinsame Ziel von Christentum und Judentum sein müsse. Wie dieser Prozess der „Prophetisierung“, also der Ethisierung der Religion aussehen müsse, beschreibt Kellermann detailliert in seiner 1908 erschienenen Schrift Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion, die nachfolgend vorgestellt wird.

59 Grundprinzipien des liberalen Judentums, in: MLVAJGB 20 (1904), CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 276, # 506, Bl. 125. Alle folgenden Zitate: ebd. (Hrvh. im Orig.). 60 Ebd.

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3.2.3 Die Auflösung der Religion in Philosophie: Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion Viele der Grundgedanken, die Kellermann im „Liberalen Verein“ vorstellte, hatte er kurz zuvor bereits in einem Vortrag über die Verhältnisbestimung von jüdischer Religion und Wissenschaft ausgeleuchtet. Denn vom „Akademischen Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ in Berlin war er im Wintersemester 1906/07 eingeladen worden, über „Der wissenschaftliche Idealismus und das Judentum“ zu sprechen.61 Dem Verein war er seit den 1890er Jahren verbunden und aufgrund seines dortigen Engagements und seiner bisherigen Publikationen wurde er ausgewählt, bei dessen viertägigen Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum 1908 die Festrede zu halten. In „packenden und tiefdurchdachten Worten“62, wie es im Berliner Gemeindeblatt hieß, referierte Kellermann am 20. Februar vor über 1000 Gästen über die Bedeutung des Vereins für den Fortschritt des Judentums: Er hatte das Farbenspiel des Vereins zum Leitmotiv seiner Ausführungen gewählt. Grün, Weiss, Rot. Das bedeutete Hoffnung, Frohsinn, Wissenschaft. ,Ohne Hoffnung, ohne Zukunft keinen Frohsinn, keine Freude an der Gegenwart, ohne Freude an dem Rechte der Gegenwart kein Verständnis für die Vergangenheit, für die Kenntnis der Vergangenheit, für die Geschichte.‘ Damit soll in kürze gesagt werden: Ohne Zukunft keine Gegenwart, keine Vergangenheit. An die Erforschung unserer Geschichte und Literatur sollen wir im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit herantreten. Das heisst im Geiste des prophetischen Judentums leben und handeln.63

Kellermann fordert hier, dass die Wissenschaft des Judentums nicht um ihrer selbst willen, sondern mit Rücksicht und im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung des Judentums betrieben werde. Solle es weiterhin vor der aufgeklärten Vernunft und der modernen Welt bestehen, könne diese Zukunft nur in der „Prophetisierung“, das heißt Liberalisierung, Verwissenschaftlichung und Ethisierung, bestehen, „[d]enn das Judentum der Zukunft wird prophetisch sein oder – es wird nicht sein“, wie es in Liberales Judentum hieß.64 Diese Gedanken finden sich ebenfalls in dem Vortrag 1906/07, der dann 1908 in ausgearbeiteter Form als Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion publiziert wird und dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des „Akademischen

61 Vgl. Cohen, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur, 33. 62 GBAZJ Nr. 9 vom 28. 2. 1908, 1. 63 Galliner, Julius, [Ts] Akademischer Verein für jüdische Geschichte und Literatur (A.J.G.V.). Zu seinem fünfzigjährigen Jubiläum, undatiert [1933], LBI New York, AR 3070, Series 4, Folder 13, 2f. 64 Kellermann, Liberales Judentum, 21.

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Vereins“ gewidmet ist.65 Kellermann tritt hier für eine Transformierung des Protestantismus und des liberalen Judentums durch den Prozess der „Prophetisierung“ ein: „Als das Ziel der Religion betrachte[…]n wir die Auflösung aller Religion in reine Erkenntnis, in die wissenschaftlich begründete Ethik“ (56). Dazu will er in seiner Abhandlung zunächst „über die Stellung orientieren, welche das religiöse Problem im System des ,wissenschaftlichen Idealismus‘ einnimmt“, wobei er Cohen und Natorp und damit die Marburger Schule als „Vertreter dieses Systems“ und Referenzpunkte seiner Untersuchung betrachtet (3). Dies entspricht der zeitgenössichen philosophischen Zuschreibung, denn auch Rudolf Eisler identifizierte 1904 in seiner Definition den wissenschaftlichen Idealismus, „nach welchem die Welt der Objecte im wissenschaftlichen Denken gesetzt ist“, vornehmlich mit „H. Cohen, Natorp und anderen Neukantianern“.66 Kellermann überprüft Cohens und Natorps kurz zuvor erschienene oder wieder aufgelegte Schriften Religion und Sittlichkeit und Religion innerhalb der Grenzen der Humanität daraufhin, ob die dortigen Ergebnisse bezüglich des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft „mit den Grundprinzipien des Systems [des wissenschaftlichen Idealismus, T. L.] in Einklang stehen“ (3).67 Dabei geht er an einigen Punkten auch über sie hinaus, entdeckt Lücken und versucht „für die Formulierung und Begründung mancher Probleme eigene Wege zu finden“ (3). Der wissenschaftliche Idealismus als erkenntnistheoretische Philosophie mit einem starken Fokus auf ethische Fragen, wie er in Marburg gelehrt und weiterentwickelt wurde, war von einem rationalen Denken geprägt, das sich in seinem Wissenschaftsbegriff an den Methoden und dem Selbstverständnis der Mathematik orientierte. Natorp, Cohen, aber auch Cassirer, Kellermann und anderen Neukantianern zufolge sind Erfahrungen und Erkenntnisse über die Welt und damit die Objekte, die der Mensch wahrnimmt, nicht unabhängig von den epistemologisch explizierbaren Bedingungen, denen der Mensch als erkennendes Subjekt unterworfen ist, sondern diese konstruieren die sie umgebende Welt hinsichtlich ihrer allgemeinen Bedingungen mit. Das von Cohen seit 65 Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. 66 Eisler, Rudolf, Art. Wissenschaftlicher Idealismus, in: ders. (Hg.), Wörterbuch der Philosophischen Begriffe. Historisch-quellenmäßig bearbeitet, 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin 1904, Bd. 2, 804. 67 Cohen, Hermann, Religion und Sittlichkeit (1907), JS 3, 98–168. Unter dem Titel Religion und Sittlichkeit. Eine Betrachtung zur Grundlegung der Religionsphilosophie zuerst veröffentlicht in: JJGL 10 (1907), 98–171. Im selben Jahr dann im Berliner Verlag Poppelauer als Broschüre erschienen und ergänzt durch ein Vorwort und eine Voranstellung. Der Abdruck in JS 3 folgt dieser Broschüre (vgl. ebd., 373). – Natorp, Paul, Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel zur Grundlegung der Sozialpädagogik (1894), 2., durchges. u. um ein Nachw. verm. Aufl., Tübingen 1908.

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der Jahrhundertwende niedergeschriebene System der Philosophie versucht eine solche philosophisch gerechtfertigte Grundlegung eines aufgeklärten Verständnisses der modernen Welt und Kultur. Die Religion spielt Kellermann zufolge in diesem System nur eine untergeordnete Rolle, da ihr nicht die Funktion zukomme, die Teile „des modernen Kulturbewusstseins“ (7) – Naturwissenschaft (Logik), Kunst (Ästhetik) und Sittlichkeit (Ethik) – zu begründen, sondern sie lediglich ein Faktor innerhalb der Ethik sei. Dies ist auch die Tendenz der Schrift Natorps, der versucht, „die Religion in den Grenzen der Humanität zu halten, sie zu einem bloßen Bestandteil der Menschenbildung zu erklären.“68 Kellermann folgt dieser Überlegung, denn es könne „nur die Ethik als Begründerin des Sittlichen in Frage kommen“ (10), nicht jedoch die Religion, wie es Theologen mit der These „Ohne Religion keine Sittlichkeit“ (7) immer wieder behaupten würden. Zeitgenössische Philosophien wie der „immer mehr um sich greifende Subjektivismus und falsch verstande Individualismus“ müssten überwunden werden, es „muss wieder die Vernunft, die philosophische Vernunft es sein, die über alle subjektive Stimmung hinweg Ewigkeitswerte erzeugt und erhält“ (7). Nicht der mit Nietzsche identifizierte „moderne Übermenschkultus, der in jeder individuellen und sozialen Perversität die Offenbarung des sittlichen Kultur-Genius vernimmt“ (7), sondern die „Klassiker der Philosophie“, namentlich „Socrates und Plato“ (7f) müssten wieder Grundlage des Nachdenkens über eine vernünftige Begründung der Sittlichkeit werden. Für Kellermann darf die Religion also nicht ein selbständiger Kulturfaktor neben der Ethik sein, sondern es müsse sich innerhalb des menschlichen Fortschritts auf das in der Unendlichkeit liegende sittliche Ideal hin, die „Religion in Ethik, also in Wissenschaft sich verwandeln“ (43). Dazu müssten sich zunächst die historischen Religionen – er spricht explizit nur von Protestantismus und liberalem Judentum, alle anderen Religionen und Konfessionen scheinen ihm nicht einmal aufgeklärt genug zu sein, um überhaupt eine Rolle in diesem Prozess zu spielen – „prophetisieren“, das heißt, alle mythologischen und partikularen Teile ausscheiden. Das Christentum kritisiert Kellermann wie in anderen Schriften sehr scharf, da es viele mythische Elemente in sich trage. Zum einen, da hier die „radikale Ethisierung des Gottesbegriffes“ (22) unterblieben sei, zum anderen wegen des „Erlöserbegriff[s]“ (23). Die Erlösung – die zudem noch von einem historischen, also empirischen Individuum Jesus abhängig sei, in dessen Worten sich eine „Antinomie zwischen Universalismus und Partikularismus“ (47) zeige – gelte nur dem einzelnen Gläubigen oder der „Glaubensgemeinschaft“ (23), nicht aber 68 Albertini, Francesca, Das Verständnis des Seins bei Hermann Cohen. Vom Neukantianismus zu einer jüdischen Religionsphilosophie, Würzburg 2003, 58.

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der Allheit der Menschheit. Der Protestantismus habe „die Person Jesu als Grundlage der Sittlichkeit preiszugeben“ (49), müsse „an Stelle des Jesuglaubens den prophetischen Begriff des Messias treten lassen“ und damit das „Dogma“ ausscheiden (56). Nur so sei es möglich, die mythologischen Inhalte zu beseitigen und dem Ziel der reinen Religion entgegenzustreben. Das Judentum sei in seiner gesamtgeschichtlichen Entwicklung zwar „weit energischer auf die Abwehr einer mythischen Trübung seines ethischen Kernes, des Gottesbegriffes bedacht“ gewesen „als das Christentum“ (20), aber auch hier hätten sich immer wieder mythologische und partikularistische Elemente eingeschlichen. Erstere sieht Kellermann im Anschluss an Cohen unter anderem in den Überlegungen Philos über den Begriff des Logos (vgl. 21)69 und in „der Wiedererwachung des nationalen Selbstbewusstseins“ unter den Juden, das heißt im Zionismus, den er als materialistische „Vergottung der Nationalität“ ablehnt (52). Partikularismen fänden sich im jüdischen Religionsgesetz, das er als „ethische Absurdität“ (26) bezeichnet. Als „Vorschriften auf heteronomer Grundlage“ würden sie die „autonome[…] Sphäre“ menschlichen Handelns zerstören, „der jüdischen Gemeinschaft den caracter indelebilis verleihen“ (25) und „die endgültige Versöhnung des Judentums mit der sittlichen Gemeinschaft der Allheit [verhindern]“70. Zudem erscheint ihm die Observanz der Halacha als Verschwendung der schon knapp bemessenen menschlichen Lebenszeit, denn „jede Erfüllung einer endlichen ritualen Aufgabe absorbiert Willenskräfte, die einzig und allein der Lösung unendlicher moralischer Aufgaben gewidmet sein dürfen“ (28).71 Die liberalen Kräfte als Vorbild innerhalb des Judentums sollen die „Eliminierung des partikularistischen Ritengesetzes in die Wege leiten“ (56), die Sondergemeinschaft zur Menschheitsgemeinschaft erheben und das Judentum der reinen Religion annähern. Die Transformation der beiden historischen Religionen bezeichnet Kellermann als „Prophetisierung“ (50, 56), das heißt am Konzept des „ethischen Monotheismus“ und des darin enthaltenen Gottesbegriffs der Propheten ausgerichtet. Dieses Konzept inkludiere den Gedanken, dass „das Ich der Menschheit zur Gottheit in einem korrelativen Verhältnis“ steht, „denn der Eine 69 Kellermann zitiert die Kritik Cohens an Philo, der durch den Logos-Begriff einen Mittler zwischen Gott und Mensch gesetzt und somit eine „Profanierung der Transzendenz Gottes“ vorgenommen habe, „wie sie innerhalb des prophetischen Monotheismus nicht schroffer erdacht werden kann“ (Cohen, Religion und Sittlichkeit, 131). 70 Kellermann, Universalistisches und partikularistisches Judentum, 419. 71 Dieselbe Argumentation: Universalistisches und partikularistisches Judentum, 428: „Wenn nun trotz der ewigen Unerfüllbarkeit des Sittengesetzes die endliche Willenskraft des Menschen durch einen weiteren Gesetzeskomplex belastet wird, so werden dem sittlichen Arbeitsprozeß genau so viele Willenskräfte entzogen, als die rituelle Praxis erfordert.“

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Gott vertritt die Eine Menschheit“ (17). Mit dem Begriff der Korrelation verwendet Kellermann affirmativ einen Gedanken, mit dem zuerst Cohen den prophetischen Gottesbegriff charakterisierte und der später vor allem in dessen Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums sehr präsent werden sollte: „[D]as Verhältnis zwischen Mensch und Gott“ habe „in dem Verhältnis zwischen Mensch und Mensch seine unmittelbare Voraussetzung“ (22).72 Jedoch dürfe Gott nicht als etwas materiell Existierendes gedacht werden, denn „Gott hat kein empirisches Dasein“ und „[n]ur in den sittlichen Handlungen des Individuums tritt die Gottheit hervor“ (33). Gott sei von den Propheten „der logischen Sphäre entrückt“ worden, um „desto sicherer in der ethischen Welt seine begriffliche Wirkung zu vollziehen“ (18). Dieser Gott, dem durch die Ethisierung das mythische Element nicht mehr anhafte, sei der „Ausgangspunkt für das Gute“ (18). Da es nun auch Aufgabe der griechischen Philosophie gewesen sei, im Gegensatz zum Mythos „das begriffliche Rüstzeug des ,Guten‘ zu schmieden“, bestehe nach Kellermann „eine innige Beziehung zwischen Prophetismus und Philosophie“, wenn er auch den „prinzipielle[n] Unterschied zwischen den intuitiv erschauten Gedanken der Propheten und dem logisch begründeten Begriff der Philosophie“ nicht leugnet (18). Würde die „Prophetisierung“ des liberalen Judentums und Protestantismus vollzogen, würden sich die beiden getrennten und „in ethischen Grundfragen […] entgegenstehende[n] Religionssystem[e]“73 insofern ethisieren, dass sie zu einer „prophetischen Religion“ (56) zusammenschmelzen würden. Diese sei aber noch immer nicht identisch mit der geforderten reinen Religion, denn den Propheten, die er als „in erster Reihe religiöse Dichter“ bezeichnet, wäre „die Idee der Menschheit in ihrer erkenntniskritischen Bedeutung […] nicht zum Bewusstsein gekommen“, sondern „ihr Begriff der Menschheit war ästhetisierte Ethik“ (40). Aufgrund jener „Objektivierung subjektiver Gefühlswerte“ (41) sei im Prophetismus zwar „der Mythos versittlicht“, aber „nicht beseitigt“ (28f), weshalb er nicht mit der reinen Religion gleichgesetzt werden dürfe: Erst wenn der letzte mythische Rest auch in der prophetischen Religion getilgt ist, wenn die Verwandlung des psychologischen Denkens in transzendentales Denken errungen ist, dann und nur dann kann die Reine Religion, die Reine Erkenntnis ihren Gel-

72 Vgl. zu dem Begriff der Korrelation in Cohens Werk, deren „grundsätzliche[r] Charakter in ihrem terminologischen Gebrauch […] sie […] geradezu als Begriffsrepräsentanten des Cohenschen philosophischen Idealismus erscheinen“ lasse: Wiehl, Reiner, Identität und Korrelation in Hermann Cohens System der Philosophie, in: Trumah 11 (2001), 29–49, hier : 29. Ferner : Poma, Andrea, Die Korrelation in der Religionsphilosophie Cohens: eine Methode, mehr als eine Methode, in: Orth, Ernst W./Holzhey, Helmut (Hg.), Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, Würzburg 1994, 343–365. 73 Kellermann, Kantianismus und Judentum, 4.

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tungsbereich entfalten, so gewiss die Reine Religion einzig und allein in der Reinen Ethik ihr eigenstes Selbst behauptet. Jenseits der Ethik blüht für sie kein Heil. (56)

Obwohl es scheint, dass die Religion mit ihrer Auflösung in „reine Erkenntnis“ zu verschwinden droht, bleibt sie in Kellermanns Ausführungen erhalten. Denn so, wie der „prophetische Gottesbegriff“ die Sittlichkeit nicht begründe, sondern ihren „Erfolg“ garantieren und damit „das Gute unter den Menschen stiften, d. h. verwirklichen“ (18) würde, so fungiere die Religion in ihrer reinen Form als notwendiger Beitrag zur Realisierung der „reinen Ethik“, womit er sich Cohen anschließt: Die Idee der Realität als Realität der Verwirklichung, die Gottesidee bildet ein Glied im System der Ethik, sie ist selbst eine rein ethische Idee. Darin liegt die Originalität der Cohenschen Philosophie (56).74

Ist die Gottesidee objektiv als, in der Ewigkeit liegender, Zielbegriff menschlichen sittlichen Handelns und somit als notwendig für die Ethik erwiesen, so könne auch kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sie für die Philosophie, deren Teil die Ethik ist, ebenfalls eine unverzichtbare Voraussetzung und sogar „eine Lebensfrage“ (38) darstelle. Cohen zeigte sich in einem Brief an Kellermann von dessen Schrift beeindruckt, sparte aber auch nicht an Kritik. So glaubte er zwar, dass es „auf die Protestanten einen starken Eindruck machen [müsse], dass nun auch ein philosophischer Anhänger von mir aus dem jüdischen Lager so ernst & streng gegen den Ritualismus auftritt aus der Tiefe der ethischen Forderung heraus. Darin sehe ich den hauptsächlichen öffentlichen Wert Ihrer Schrift.“75 Dennoch verschwieg er ihm nicht, dass er „in Bezug auf Gott doch nicht zufrieden sein kann. […] Für mich deckt sich der Seinswert Gottes nicht mit dem Ideal der Ewigkeit. Ich kann daher neben der sittlichen Handlung eine Verehrung der Gottesidee ethisch fordern. Damit bleibt der Kultus für mich bestehen. Und damit der Hauptteil des Ritus.“ Kellermann dagegen definiert Gott als ein die sittlichen Handlungen des Menschen anleitendes Ideal der Ewigkeit und sieht für die rituellen und kultischen Elemente in Christentum und Judentum keine Zukunft. Zwar gesteht er denjenigen Juden, die in der Gegenwart aus Gründen der Pietät weiterhin am „Zeremonialgesetz“ festhalten wollen, zu, dies zu tun. Auf den Prozess des sittlichen Fortschritts der Menschheit bezogen, stand für ihn jedoch außer Frage, dass diese als partikular bezeichneten Schranken in der Zukunft fallen müssen. Cohen hoffte zwar, „dass hier keine eigentlichen Differenzen vorliegen“, 74 Vgl. auch 38: „Die Ethik bedarf der Gottesidee zur Realisierung ihrer Forderungen, damit sie Wirklichkeit auf Erden werde.“ 75 Hermann Cohen an Benzion Kellermann, 16. 2. 1908, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. Folgende Zitate: ebd.

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doch scheinen bereits jene inhaltlichen Unterschiede auf, die Kellermanns eigene Weiterentwicklung von Gedanken Cohens und des Marburger Neukantianismus belegen. Diese werden sich besonders prägnant in Das Ideal im System der Kantischen Philosophie von 1920 zeigen, in dem Kellermann nicht nur bezüglich des Gottesbegriffs, sondern auch bezüglich der Ethik, Logik und Ästhetik eigene Wege gehen wird. In den Zeitschriften der Wissenschaft des Judentums wurde Kellermanns Religionsphilosophie nicht besprochen, lediglich eine Anzeige des Buches findet sich in der Zeitschrift für hebräische Bibliographie.76 Dies lag auch daran, dass er trotz der erwähnten Differenzen zu Cohen lediglich als dessen Epigone wahrgenommen wurde, wie interne Mitteilungen von Dozenten an der HWJ bestätigen. Siegmund Maybaum urteilte über diese und andere Schriften Kellermanns, dass sie „keine selbständige Arbeit, sondern höchstens Lesefrüchte enthalten, die K. auf dem Gebiete religionsphilosophischer Forschung, speziell aus den einschlägigen Werken Hermann Cohens gesammelt hat“.77 Auch Ismar Elbogen sah in der Monografie nichts anderes als eine Zusammenfassung des Cohenschen Systems, dass der Verfasser perfekt beherrsche.78 Auf christlicher Seite gab es dagegen eine Auseinandersetzung mit der Schrift Kellermanns, was auch in seiner Kritik am Christentum als mythologischer Religion begründet lag. Der Pfarrer der reformierten Gemeinde in Leipzig und Dozent an der Hallenser Theologischen Fakultät Max Scheibe weist in der Theologischen Rundschau79 die Behauptung Kellermanns zurück, daß das ganze moderne Kulturbewusstsein allein in Logik, Ethik und Ästhetik grundgelegt werde und der Religion in dieser Begründungsstruktur kein eigener Platz zukomme. Dagegen votiert er für „die Möglichkeit, die Religion als tragenden Grund für jene drei Gesetzmäßigkeiten aufzufassen“, und beruft sich dafür auf Rudolf Eucken und Wilhelm Windelband, also Vertreter des Südwestdeutschen Neukantianismus. Im Ton noch weitaus schärfer war die ablehnende Besprechung des italienischen katholischen Historikers, Philosophen und späteren antifaschistischen Politikers Benedetto Croce (1866–1952) in der von ihm 1903 mitbegründeten und herausgegebenen wichtigsten Literaturzeitschrift des Landes La Critica. 76 Zeitschrift für hebräische Bibliographie 12 (1908), 75. Dort angezeigt unter „Judaica“. 77 Siegmund Maybaum an das Lehrerkollegium der HWJ, undatiert [wahrsch. Juni 1912] (Abschrift), NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 2 Bl., hier : Bl.1. 78 Elbogen, Ismar, Urteil über Kellermanns wissenschaftliche Qualifikation, undatiert [wahrsch. Juni 1912], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3 Bl. 79 Scheibe, Max, [Rez.] Kellermann, Idealismus und Religion, in: ders., [Rezensionsüberblick] Systematische Theologie/Religionsphilosophie, in: ThR 13/5 (1910), 183–198, hier: 188f. Das Zitat: 189.

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Rivista di Letteratura, Storia e Filosofia, „die wesentlich zur Durchsetzung des Neuhegelianismus in Italien beitrug“.80 Croce stand dem katholischen Modernismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, der sich ähnlich der liberalen Bewegung im Protestantismus und im Judentum, für eine Harmonisierung zwischen der überlieferten Religion und der modernen Welt einsetzte, ablehnend gegenüber. Demzufolge musste Kellermann in dem weit über die allgemeinen Positionen des liberalen Judentums hinausgehenden Versuch, die „komplette Auflösung der Religion in Philosophie“ zu betreiben, für Croce scheitern. Zudem verwahrt er sich gegen die behauptete Überlegenheit des prophetischen Messianismus „gegenüber der christlichen Idee des Heilands“ und „[n]och weniger überzeugend“ erscheint ihm, dass Kellermann „dem Judaismus eine Funktion in der modernen Welt zuspricht“, ohne Gründe für diese Auffassung zu benennen. Insgesamt beurteilt er dessen Programm als „widersprüchlich“ und bezeichnet dessen philosophische „Spekulationen“ als „Fantasterei eines Taugenichts“. Der Rezensent in der katholischen Theologischen Revue besprach dagegen zurückhaltend die Leitmotive der Schrift.81 Er erkennt in ihr „eine konsequente Fortbildung Kantischer Philosophie“ und einen Ausdruck des liberalen Judentums. Dieses stehe in einer inhaltlichen Kongruenz zum „modernen Christentum“, also des liberalen Protestantismus, da sich beide Bewegungen bemühen würden, „die überkommene Religion für die heutige Zeit wertvoll zu machen durch Überwindung dessen, was in ihr als zeitgeschichtliche Einkleidung gilt, und durch Herausheben dessen, was in ihr ewiger Gehalt ist“. Der Autor gibt kein deutliches Urteil ab, aber aufgrund der Zurückhaltung kann vermutet werden, dass er diesen radikalen Auffassungen von einer empirielosen, rein ethischen Idee Gottes und der Auflösung der Religion in Philosohie nicht zustimmend gegenüberstand.

80 Croce, Benedetto, [Rez.] Kellermann, Idealismus und Religion, in: La Critica 6 (1908), 389f, URL: http://www.fondazionebenedettocroce.it/lacritica.fbbc/index.php/critica/article/ view/1483/1482, abgerufen am: 19. 11. 2013. Folgende Zitate: ebd. – Zu Leben und Werk vgl. Büttemeyer, Wilhelm, Art. Benedetto Croce, in: Volpi, Franco (Hg.), Großes Werklexikon der Philosophie, 2 Bde., Stuttgart 1999, hier : Bd. 1, 341–343. Ebd., 341 auch das Zitat. – Die Behauptung, Croce hätte mit dieser Rezension „wohl als erster“ vom „,modernismo ebraico‘“ gesprochen (Arnold, Claus, [Rez.] Botti, Alsonso/Cerrato, Rocco (Hg.), Il modernismo tra cristianit— e secolarizzazione. Atti del convegno internazionale di Urbino (1–4 ottobre 1997), Studi e testi 6, Urbino 2000, in: ZNThG 9 (2002), 162–168, hier : 163f) lässt sich anhand des Textes nicht verifizieren, dort taucht lediglich der Begriff „,guidaismo liberale‘“ [liberales Judentum] auf, als dessen Vertreter er Kellermann identifiziert (Croce, [Rez.] Kellermann, 389; Hrvh. im Orig.). 81 S., [Rez.] Kellermann, Idealismus und Religion, in: ThRv 7/13–14 (1908), 429f. Zitate: ebd., 430.

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3.2.4 Mitarbeit an den Festschriften zu Cohens 70. Geburtstag Nach der Veröffentlichung von Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion verfasste Kellermann zunächst nur kürzere und längere Aufsätze und es vergingen sechs Jahre, bis 1914 mit dem ersten Teil der kommentierten Übersetzung der Kämpfe Gottes des mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen Lewi ben Gerson wieder eine größere Arbeit erschien. Die lange Dauer liegt zum einen in der intensiven Arbeit an diesem Manuskript, zum anderen in seinen pädagogischen Verpflichtungen begründet. Zu dieser Zeit stand er nicht nur weiterhin der IV. Religionsschule vor, sondern unterrichtete auch jüdischen Religionsunterricht an der Knabenschule und seit dem Frühjahr 191282 an dem humanistischen Mommsen-Gymnasium in Charlottenburg. Die Kollegen hatten Kellermann, der seine Tätigkeit schon nach einigen Jahren aus „Gesundheitsrücksichten“ wieder aufgab, als „liebenswürdigen, ernsten und wissenschaftlich so vielseitigen und gründlichen Mitarbeiter“83 wahrgenommen, wusste der Direktor Alfred Przygode in seiner Kondolenz Thekla Kellermann im Juni 1923 zu berichten. Einer seiner dortigen Schüler im jüdischen Religionsunterricht war Herbert Marcuse (1898–1978), Sohn eines vermögenden jüdischen Textilfabrikanten, später Vertreter der Kritischen Theorie und „der philosophische Kopf der 68er Studentenbewegung“ in der BRD.84 Kellermann sah in der Heranführung von jüdischen Kindern und Jugendlichen an eine moderne und ethisch zentrierte Auffassung der Religion eine der vordringlichsten Aufgaben des Lehrers und Rabbiners,85 weshalb er die seit der Jahrhundertwende zunehmende, sich für das liberale Judentum einsetzende pädagogische Literatur aufmerksam verfolgte. Im November 1910 rezensierte er die im gleichen Jahr erschienenen Schriften Der Am-hoorez und Die schwarze Chaje seines Kollegen an der Knabenmittelschule Isidor Borchardt (1865–1942) und überprüfte sie auf ihre Übereinstimmung mit dem Prophetismus.86 Im ersten Text, der vom „Verein für jüdische Geschichte und Literatur“ preisgekrönt und „in einem explizit pädagogischen Kontext verfasst“ wurde, präsentiert der Autor einen Konflikt zwischen den traditionellen und reformerischen Kräften innerhalb des deutschen Judentums im 19. Jahrhundert. Dieser wird dargestellt anhand des traditionell lebenden Hausierers Wolf Aron und 82 Vgl. Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 113. 83 Alfred Przygode an Thekla Kellermann, 26. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier: Bl. 1. 84 Vgl. Kellermann, Henry J., …And not to Yield, 15. Von Marcuse selbst ist darüber nichts überliefert. – Zu Leben und Werk Marcuses: Ruffing, Reiner, Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Paderborn 2005, 174–179. Zitat: ebd., 174 (Hrvh. im Orig.). 85 Vgl. Kellermann, Reform des Religionsunterrichts. 86 Ders., Zur Belletristik des liberalen Judentums, in: LJud 2/11 (1910), 258f. – Borchardt stammte aus dem westpreußischen Jastrow, studierte in Berlin und war seit 1894 an der dortigen Knabenmittelschule angestellt (Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 111).

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eines namenlosen fortschrittlichen Lehrers, der viele Neuerungen in das jüdische Gemeindeleben und den Gottesdienst einführt, wodurch sich ersterer zutiefst in seiner jüdischen Identität verunsichert fühlt.87 In Die schwarze Chaje schildert Borchardt die Entwicklung eines aus einem reichen und mit der jüdischen Tradition nur noch lose verbundenen Elternhaus stammenden jungen Mannes, der sich in die Tochter eines armen Synagogendieners verliebt.88 Über die Beschäftigung mit der Tradition gelangt er schließlich zu einer liberalen Sicht auf das Judentum, die ethisch zentriert ist. Kellermann äußerte sich trotz geringfügiger Kritik an der noch nicht ganz ausgereiften Darstellung des Prophetismus insgesamt positiv über die beiden Werke des Lehrers und Leiters zweier Ortsgruppen der Berliner Dependance des CV, da sie „zweifellos ein geeignetes Mittel für die Popularisierung des prophetischen Judentums“ bilden würden.89 Zwei größere Arbeiten Kellermanns entstanden im Rahmen der Feierlichkeiten zu Hermann Cohens 70. Geburtstag am 4. Juli 1912.90 Dem Marburger Philosophen, der in diesem Jahr nach Berlin umziehen und bis 1917 an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums lehren sollte, wurden aus diesem Anlass zwei im Berliner Verlag von Bruno Cassirer gedruckte Festschriften überreicht. Der Marburger Kollege Paul Natorp zeichnete als Herausgeber und Beiträger verantwortlich für die Philosophischen Abhandlungen, in denen sich Autoren wie Kellermann, Cassirer, Otto Buek, Arthur Buchenau, Albert Görland oder Karl Vorländer mit zentralen systematischen Fragen des Marburger Neukantianismus als auch mit philosophiegeschichtlichen Problemen auseinandersetzten. Einem Rezensenten war es, als ob „gerade in diesen historisch-kritischen Studien (z. B. dem Aufsatz von Kellermann über das ,Nusproblem‘ bei Aristoteles und seinen Nachfolgern) die Strenge und Schärfe der Marburger Schulung sich am erfreulichsten zu dokumentieren“ scheine.91 87 Borchardt, Isidor, Der Am-hoorez, in: JJGL 13 (1910), 212–272. – Details zum Preisausschreiben: IDR 15/12 (1909), 695. – Zur Einordnung in den literarisch-historischen Kontext: Glasenapp, Gabriele von, Zwischen Selbstinszenierung und Publikationsstrategie. Der Lehrer als Autor und Akteur in der deutschsprachigen Ghettoliteratur, in: Herzig, Arno/ Horch, Hans O./Jütte, Robert (Hg.), Judentum und Aufklärung. Jüdisches Selbstverständnis in der bürgerlichen Öffentlichkeit, Göttingen 2002, 216–240, hier : 234–239. Zitat: ebd., 237. 88 Borchardt, Isidor, Die schwarze Chaje. Ein Kulturbild. Preisgekrönt von der Großloge für Deutschland VIII U.O.B.B., Frankfurt a. M. 1910. 89 Kellermann, Belletristik, 259. – Borchardt war zunächst Vorsitzender der Ortsgruppen N. und NO., ab 1917 dann Hauptvorstandsmitglied. Vgl. dazu IDR 15/12 (1909), 695; Schoeps, Julius H., Art. Borchardt, Isidor, in: Kotowski, Elke-Vera (Hg.), Juden in Berlin. Biografien, Juden in Berlin, Bd. 2, Berlin 2005, 47. 90 Die Feierlichkeiten in Marburg werden beschrieben in: AZJ Nr. 29 vom 19. 7. 1912, 340. 91 Metzger, Wilhelm, [Rez.] Natorp, Paul (Hg.), Philosophische Abhandlungen. Hermann Cohen zum 70sten Geburtstag (4. Juli 1912) dargebracht, Berlin 1912, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie 37/2 (1913), 331f, hier : 331. – Keller-

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Kellermann untersucht in seinem Beitrag „Das Nusproblem“, wie dieser charakteristische Begriff der griechischen Philosophie seit Anaxagoras von Aristoteles und den in seiner Tradition stehenden antiken und mittelalterlichen Denkern Alexander von Aphrodisias, Lewi ben Gerson, Maimonides, Averroes, Themistius, al-Farabi und Avicenna, ferner bei seinem Zeitgenossen Franz Brentano (1838–1917), der ein Verteter des Kreatianismus war, verwendet wurde. Gegen die aristotelische Philosophie hatte Kellermann schon in anderen Aufsätzen angeschrieben und diese als Ursprung des verhassten Hegelschen Denkens bezeichnet, ein Topos, der sich durch das weitere Werk ziehen wird. Nous oder nus, aus dem Griechischen mit Geist oder Vernunft zu übersetzen, ist, auf den Bereich des Menschen bezogen, im Denken Platons und Aristoteles „neben dem vegetativen und sensitiven Bestandteil, einer der drei Seelenteile“ und ist „zugleich das höchste und edelste Vermögen des Menschen“.92 Da der Starigite seinen Lehrer Platon missverstanden und versucht habe, „durch die Welt der konkreten Einzeldinge die Welt der vermeintlich abstrakten Ideen zu ersetzen“ (152), sind für Kellermann viele Begriffe seiner Philosophie systematisch nicht stringent, jedoch sei „keiner so sehr mit dem Vorwurfe logischer Unklarheit behaftet, wie der Begriff des Nus“ (152). Mit der Ersetzung der Welt der Ideen durch die der Einzeldinge, ergab sich in den Augen Kellermanns für den griechischen Philosophen das Problem, zum einen „das Recht der Sinnlichkeit zu vertreten“, zum anderen durch platonische Prägung am „Prioritätscharakter des Geistes“ (152) festzuhalten. Dies wiederum habe ihn und auch andere Denker zu der zentralen Frage geführt, wie „das Verhältnis zwischen Denken und Sinnlichkeit derartig bestimmt werden“ (152) müsse, dass die Sphäre des Intellekts und die der Erfahrung ihren rechtmäßigen Charakter behaupten können. Aristoteles sei an diesem Problem gescheitert, „weil er die beiden Begriffen gemeinsame Seinsgrundlage, die Einheit ihrer Verschiedenheit, nicht zur eindeutigen Bestimmung brachte“ (152). Vielmehr zeige sich in seinem Denken die „Preisgabe der Seinseinheit“ (153), wodurch „der Dualismus auf den Schild gehoben“ werde: „Ueberall waltet Zweiheit der Prinzipien als der konstituierenden Komponenten des Seins“ (153). Aristoteles stand Kellermann zufolge nun vor dem Problem, wie er angesichts der Hervorhebung der Sinnlichkeit und der Falle des Dualismus, in die er getappt sei, am platonischen „Prioritätscharakter des Denkens“ (153) festhalten könne und würde an dieser Stelle auf den Begriff des Nus, der bei ihm in aktiver und passiver Form existiere, zurückgreifen. Der Nus „dirigiert die Bewegung“, gebe ihr ein Ziel, eine Richtung, jedoch mann, Benzion, Das Nusproblem, in: Natorp (Hg.), Philosophische Abhandlungen, 152–169. Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im folgenden Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. 92 Bräuer, Holm, Art. Nous, in: HPh, 503f, hier : 503.

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bleibe die Bewegung bei Aristoteles auch ohne Nus noch Energie, wenn auch nur in „potentielle[r]“ Form (153). Deshalb könne „von einer schöpferischen, universellen Einheitsbildung, nach welcher die Bewegung als reines Denkprinzip aus dem Nus zu deduzieren wäre, […] mithin keine Rede sein. So bildet der Nus nur eine Hypostase der Zweckidee, die aber nicht wie bei Kant in der Entfaltung ihrer regulativen Funktion nur die Vorarbeit für die mathematisch-naturwissenschaftliche Forschung leistet, sondern gerade diese Forschung zum Mittel des Zweckes degradiert“ (153). Somit könne bei Aristoteles durch das Fehlen „reine[r] Logik“ nicht von reinem Erkennen gesprochen werden, und „so gibt es auch keine Ethik“, denn ganz im Sinne Cohenscher Systematik empfange „die Methode des reinen Willens […] von der Logik ihre Direktive“ (154). Philosophie ist für Kellermann, wie für Cohen, gleichbedeutend mit der Einheit des Denkens und es gelinge nur mit dem auf Platon und Kant aufbauenden kritischen Idealismus der Marburger Schule, diese Einheit zwischen Denken und Sinnlichkeit angemessen zu beschreiben: „Kein Denken ohne Natur, keine Ethik ohne Logik – aber der Geist [= Ethik, T. L.] steht über der Natur, verleiht ihr Richtung und Sinn“, so dass „die Logik von der Ethik gekrönt wird“ (160). Die Einheitsbildung gelinge jedoch nicht mit Aristoteles und seiner im letzten Sinn empirischen Verwendung des Nus, denn das „ist der grosse logische Fehler des Aristoteles, dass er die Empfindung, die empirisch begriffene Sinnlichkeit, hypostasierte, sie über das Denken erhob“ (157). Das heißt, die Begriffe Denken und Sinnlichkeit müssten dem Prinzip der Korrelation folgend in einen Erkenntniszusammenhang eingeordnet werden, demzufolge die Einheit des Denkens die Verschiedenheit der einzelnen sinnlichen Erfahrungen voraussetze, ebenso wie letztere notwendigerweise im einheitlichen, idealistischen Denken zusammengefasst werden müssten. Kellermann verfolgt auch in dem Aufsatz „Die philosophische Begründung des Judentums“ in der zweiten Cohen zugeeigneten Festschrift das Ziel, die Methodik des Marburger Neukantianismus als einzig angemessene Form rationalen Philosophierens zu erweisen. Er geht jedoch noch insofern über den anderen Beitrag hinaus, in dem er hier darzustellen sucht, wie Cohens System die jüdische Religion philosophisch begründe und verifiziere. Kellermann war nicht nur Beiträger, sondern gab die Festschrift Judaica zusammen mit dem Dozenten an der HWJ Ismar Elbogen und dem Orientalisten Eugen Mittwoch (1876–1942), die zu diesem Zeitpunkt beide in die Beratungen um die Übersetzung der Kämpfe Gottes involviert waren, heraus.93 Zu den weiteren Initia93 Kellermann, Benzion, Die philosophische Begründung des Judentums, in: Elbogen, Ismar/ Kellermann, Benzion/Mittwoch, Eugen (Hg.), Judaica. Festschrift zu Hermann Cohens siebzigstem Geburtstage, Berlin 1912, 75–102. Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im folgenden Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Her-

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toren gehörten Philipp Bloch, Jacob Guttmann, Leo Munk, Nehemias Anton Nobel und Felix Perles, wobei Kellermann für den Schriftverkehr und die pünktliche Fertigstellung der Druckvorlage verantwortlich zeichnete.94 Diese Festschrift hatte eine andere Färbung als die von Natorp überreichte. War jene eine Sammlung vorwiegend systematischer und historischer Abhandlungen zu philosophischen Spezialproblemen, war diese unter Beteiligung ausgezeichneter Gelehrter wie Max Wiener, Julius Guttmann und den Initiatoren selbst eine Zusammenstellung von Aufsätzen, die der Wissenschaft des Judentums zugehörten, wie es auch in der Zueignung zum Ausdruck kommt: Hermann Cohen, dem begeisterten Verkünder der Lehren der Propheten, dem wissenschaftlichen Verfechter der ewigen Wahrheiten des Judentums überreichen wir zum siebzigsten Geburtstage diese Sammlung von Aufsätzen aus dem Gebiete der Wissenschaft des Judentums als Zeichen der Dankbarkeit und Verehrung.95

Kellermann war mit seinen Beiträgen der einzige Autor, der in beiden Festschriften veröffentlichte. Dies verdient Beachtung und spricht für dessen zeitgenössische Wahrnehmung als „kundiger Einführer in die Gedankenwelt der Cohenschen Philosophie“96, der nicht nur zu dem Bereich der klassischen Philosophie und Philosophiegeschichte, sondern eben auch zu den Gebieten der jüdischen Religionsphilosophie, Theologie und Geschichte und damit der Wissenschaft des Judentums beitrug. In seinem Aufsatz gibt Kellermann eine großangelegte Nachzeichnung aller Gegner seiner Philosophie und damit des Cohenschen Systems. Alle als gegnerisch eingestuften Denkweisen, wie die von Schopenhauer, Schelling, Windelband und Nietzsche würden letztlich auf Hegel zurückgehen, der die Einheit zwischen Sein und Sollen, Natur und Sittlichkeit, Logik und Ethik behauptet und damit letztere vernichtet habe. Der Ursprung einer solchen Philosophie liegt jedoch einzig und allein in der fälschlich vollzogenen Identität zwischen Kausalität und Teleologie, zwischen Idee und Begriff.

vorhebungen originalgetreu. – Die Positionen seines Aufsatzes fasste Kellermann in dem Artikel „Die philosophische Bedeutung Hermann Cohens“ in der AZJ Nr. 26 vom 28. 6. 1912, 305–307 zusammen. – Zur Involvierung Mittwochs und Elbogens in die Übersetzung Kellermanns vgl. Kap. II.4.2. 94 Erhalten ist ein Brief Kellermanns an den Dozenten am Breslauer Seminar und Herausgeber der MGWJ Markus Brann, den er um die Zusendung eines Beitrags für die Festschrift bis zum 1. März 1912 bat: Benzion Kellermann an Markus Brann, Oktober 1911, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. 308, Subs. 1.37, File 688, 1 Bl. (Diesem Dokument zufolge sollten „[s]ämtliche Zuschriften“ die Festschrift betreffend an Kellermanns Privatadresse geschickt werden). Brann sagte unter Vorbehalt von ausreichender „Zeit und Kraft“ zu: Markus Brann an Benzion Kellermann, 17. 10. 1911, ebd. 95 Elbogen/Kellermann/Mittwoch (Hg.), Judaica, V. 96 Porges, Nathan, [Rez.] Elbogen/Kellermann/Mittwoch (Hg.), Judaica, in: DLZ Nr. 36 vom 2. 9. 1916, 1541–1546, hier : 1542.

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Diese Fehlerquelle in ihrer ganzen logischen und ethischen Tragweite erkannt und eliminiert zu haben, ist die philosophische Tat Hermann Cohens (84).

Wie er dies unternahm, zeigt Kellermann in einer zusammenfassenden und auf eigenen Publikationen aufbauenden Exegese des Cohenschen Systems, bestehend aus LrE, ErW und ÄrG. Diese Schriften seien nötig geworden, weil Kant zwar angetreten sei, den „Aristotelismus mit seiner Vergottung des Daseins“ (84) zu überwinden und seine erkenntnistheoretischen Überlegungen Meilensteine gewesen seien, hinter die in der Philosophie nicht mehr zurückgegangen werden dürfe. Jedoch „wies das Kantische System doch noch manche Lücken auf, die der von ihm bekämpften Ontologie neue Nahrung boten“, würden die „Fortschritte der mathematischen Naturwissenschaft“ teilweise über ihn hinausgehen und „sich Mängel in der Disposition, in der Präzision der Terminologie und in der Absage an scholastische Doktrinen“ zeigen (84). Den Vorwurf scholastischen Denkens erhebt Kellermann vor allem angesichts der Beobachtung, dass Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Begriffe der reinen Anschauung denjenigen des reinen Verstandes überordne, wodurch er schließlich die „Einheit des Denkens“ (87) zerstört habe.97 Diese Lücke könne dann nur eine postulierte „metaphysische Realität“ (87) harmonisieren, womit Kant seiner eigenen Philosophie widerspreche. Cohen habe es nun unternommen, diese Mängel zu beseitigen und das Kantische Denken kritisch fortzuführen: Indem nun Cohen […] bei seinem Zurückgehen auf Leibniz in dem Gesetze der Kontinuität den Ursprungsbegriff der Realität neu entdeckte und zum fundamentalen Zentralpunkte des Systems erhob, indem er ferner die Glieder des Systems in die erforderliche Wechselwirkung zueinander brachte, zweideutige Termini durch neugefeilte ersetzte, und die Fortschritte der modernen Naturwissenschaften berücksichtigte, muß er als der Wieder- und Neuentdecker des Idealismus, als der Fort- und Weiterbildner der Meistergedanken bezeichnet werden. (84)

Kellermann bleibt in seinem Aufsatz jedoch nicht bei der Behauptung stehen, Cohen habe Kant fortgebildet und den Hegelianismus endgültig als unhaltbare Philosophie erwiesen. Es sei ihm ferner gelungen, mit den Schriften des Systems der jüdischen Religion eine philosophische Begründung zu geben. Die Suche nach Legitimationsstrukturen sei nicht nur möglich, sondern geradezu gefordert, denn solch einer „[s]ystematische[n] Begründung“ dürfe sich „kein historisches Gebilde […] entziehen, wenn es sich als aktueller Kulturwert behaupten will.“98 97 Kellermann zitiert in diesem Kontext zustimmend Natorp, Paul, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, Leipzig 1910, 276: „Nach diesem allen ist die Voranstellung der Zeit und des Raumes vor die Gesetze des Denkens des Gegenstandes im System der Kantischen Transzendentalphilosophie ein ernster Fehlgriff“. 98 Kellermann, Universalistisches und partikularistisches Judentum, 419.

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Kellermann zufolge könne sich der Kulturwert des Judentums für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur durch folgende Argumentationslinie erweisen. Das Judentum in seiner gegenwärtigen Form kenne zwei Arten von Gesetzen, denn „neben den ethischen Forderungen und den durch sie bedingten Rechtsvorschriften stehen Vorschriften heteronomer Gattung, die nicht durch den wissenschaftlichen Ursprungsbegriff der Allheit, sondern in dem partikularistischen Gedanken der Vielheit ihre zureichende Begründung erfahren“ (75). Um „von einer Philosphie des Judentums“ sprechen zu können, „muß vor allen Dingen eine Ausscheidung aller partikularen Vielheitsgesetze oder doch wenigstens ihre Herabstimmung und Relativierung zu subjektiven Maximen in die Wege geleitet werden“ (75). Nach der Ausscheidung solcher, keinen normativen Wert besitzenden, Partikularismen, würden „Gesetze mit Allheitscharakter einerseits und damit in notwendiger Wechselwirkung stehende religiöse Vorstellungen andererseits“ übrig bleiben (75). Da sie in „notwendiger Wechselwirkung“ stehen, würden sie sich Kellermann zufolge „gegenseitig“ begründen und „die gleiche logische Basis“ haben (76). Damit trügen auch die religiösen jüdischen Vorstellungen „den Charakter von Gesetzen, Aufgaben, Ideen“, wodurch sie „zur Idee, zum Denkwerte der Wissenschaft“ (76) werden. Kellermann skizziert in dem Beitrag einen „Idealisierungsprozess“, in dem „sich die Erhebung des Judentums als Religion zur Erkenntnis, zur Philosophie“ vollziehe (76). Cohen komme das Verdienst zu, die Beweise dafür geliefert zu haben, dass „das Judentum einer derartigen Idealisierung fähig ist“ (76). Deshalb gebe es „,innere Beziehungen‘“ (77)99 zwischen dem Judentum und den „philosophischen Klassiker[n]“ (93) Platon, Kepler, Galilei, Descartes, Leibniz und Kant, und sei „die inhaltliche Identität zwischen Idealismus und Prophetismus erwiesen: In der Einheit der Idee vollzieht sich die philosophische Begründung des prophetischen Judentums“ (77). 3.2.5 Jüdisches Leben und philosophisches Denken In den religionsphilosophischen Schriften zeigt sich, dass für Kellermann die Religion ihre Direktiven von der Ethik, also der wissenschaftlichen Philosophie empfange: Damit ist nichts anderes gesagt, als die ausnahmslose Geltung des Sittengesetzes. Konfession und Nationalität, ästhetische und historische Empfindungen, Rassenbewußtsein und Individualkultus müssen schweigen, wenn die Ethik ihre Stimme vernehmen läßt. Es gibt keine Instanz, vor welcher die Ethik zu kapitulieren hätte.100 99 Kellermann spielt hier auf einen Aufsatz Cohens an, der zuerst 1910 erschien: Innere Beziehungen der Kantischen Philosophie zum Judentum, JS 1, 284–305. 100 Kellermann, Universalistisches und partikularistisches Judentum, 417 (Hrvh. im Orig.).

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In dem sittlichen Fortschrittsprozess der Menschheit, wie er ihn prägnant in Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion vorgezeichnet hatte, erscheint dann als das endgültige Ziel der historischen Religionen ihre Auflösung in die Ethik. Dennoch führte Kellermann als Ehemann, Vater, Religionslehrer und später Rabbiner der Berliner Gemeinde ein Leben, das ganz selbstverständlich auch Handlungen beinhaltete, die der jüdischen Tradition und dem Festkreis entstammten und äußerte sich stets stolz über das Judentum und seine jüdische Herkunft. Dies führt zu der Frage, in welchem Verhältnis seine Überlegungen einer ethisierten „reinen Religion“ zu diesem Verhalten stehen. Henry Kellermann erinnerte sich, dass seine Eltern observed some ritual but much less and far less strictly. Ceremonial usages were practiced on a selective basis. We celebrated, of course, the high holidays, Passover, Chanukkah and other major events in the Jewish calendar ; all of them were high points of the year. And we went to the service.101

Sein Bruder Ernst berichtete, dass im Haushalt kein Schweinefleisch gegessen und Milch- und Fleischprodukte getrennt wurden,102 zudem feierten die Söhne ihre Bar Mitzwa und hatte Kellermann seine Frau nach jüdischer Zeremonie geheiratet. Wie konnte er also einerseits die Forderung nach der Transformation der Religion in Ethik und Wissenschaft aufstellen und andererseits auf selektiver Basis an bestimmten Zeremonien festhalten, also in seinen Worten „partikularistischen“ Traditionen folgen, die Juden von Nichtjuden separieren würden? Diese Frage muss mit dem Begriff der Pietät beantwortet werden, der in Kellermanns Werk immer wieder auftaucht. Weil er den sittlichen Fortschritt der Menschheit als Prozess begreift, der auf das in der Ewigkeit liegende Ideal hinführt, fordert er nicht die sofortige Abkehr von jedweder religiösen Handlung, sondern eine schrittweise „Prophetisierung“ der Religionen. Dringend auszuscheiden sei im Protestantismus das Festhalten an Christus als dem Erlöser, im Judentum das „Ritualgesetz“. Dagegen solle sich auf die ethischen Inhalte konzentriert werden, wie er es 1907 in Liberales Judentum mit vielen Beispielen praktisch forderte. Durch diese Ethisierung könne eine „wahrhaft historische[…] Kontinuität zwischen begrifflicher und transzendentaler Religion, zwischen begrifflicher und idealer Erkenntnis“ erzeugt werden, die „die Pietät für die angestammte 101 Kellermann, Henry J., [Ts] Religion – In Action or Inaction, a personal statement delivered on March 12, 1986 at the Catholic-Jewish Dialogue, USHMMAWashington, 2007.96, Box 15, Series 12, Folder 11, 2. 102 Auskunft von Ernst W. Kellermann, 26. 3. 2012. Auch wenn er sich hierbei möglicherweise auf das Familienleben nach dem Tod des Vaters bezieht, lässt das Rückschlüsse auf die Zeit bis 1923 zu. Denn es ist unwahrscheinlich, dass Thekla Kellermann nach dem Tod ihres Mannes sofort alle häuslichen Praktiken änderte, da sie – wie die Kinder berichteten – in der Kritik an der Observanz der rituellen Gebote mit ihm übereinstimmte.

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Religion ethisch fundiert“.103 Würden die historischen Religionen von den in seinen Augen schlimmsten Mythen und Partikularismen ,gereinigt‘, könne der einzelne Mensch sehr wohl überzeugter und praktizierender Protestant oder Jude sein. Die Bedingung sei aber, dass die religiösen Handlungen einen ethischen Sinn in sich tragen müssen, wodurch „kritiklose Pietät“104 ausgeschlossen sei. Die ethisch aufgeladenen Handlungen würden den sittlichen Fortschrittsprozess aktiv voranbringen, denn die im jüdischen oder christlichen Gottesdienst gesprochenen Worte sollen zu Taten werden, die der Mensch seinem Nebenmenschen und damit der Menschheit angedeihen lässt. Somit wüchsen die Menschen schrittweise zur Menschheit zusammen, wie auch die historischen Religionen schrittweise zur „prophetischen Religion“ zusammenwüchsen. Auch letztere müsse dann noch die letzten mythologischen und partikularistischen Reste ausscheiden, um sich in dem weiteren Prozess der sittlichen Entwicklung auf das in der Unendlichkeit liegende Ideal hin in die „reine Religion“ zu transformieren. Aufgrund der in seinen Augen größeren Übereinstimmung des Prophetismus mit dem Judentum als mit dem Christentum, konnte Kellermann ein überzeugter Vertreter des liberalen Judentums sein, ohne in Konflikt mit seiner Religionsphilosophie zu geraten.105 Ganz offen kritisiert er die „naiven Anhänger der Tradition, die in jeder Modernisierung des Kultus eine Anlehnung an das Christentum erblicken“ und stand mit seiner „Sympathie und […] Gesinnung auf seiten der Modernen“, „denen es keineswegs um Assimilationsgelüste zu tun ist“, sondern „die vielmehr durch eine lebensfrische und lebenswarme Ausgestaltung des Alten […] die Harmonie zwischen Pietät und Fortschritt erstreben.“106 Dennoch besteht er im Hinblick auf das zukünftige Ideal immer darauf, dass es auch unter den „Modernen“ noch viel zu „prophetisieren“ gebe, was er, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, in Vorträgen und Schriften immer wieder einforderte. Zugleich versuchte er seine theoretischen Überlegungen auch praktisch 103 Kellermann, Idealismus und Religion, 52. 104 Ders., Belletristik, 259. 105 Vgl. z. B. ders., Universalistisches und partikularistisches Judentum, 429: „Ein Gefühl des Stolzes und der Ehre muß jeden Juden bewegen, wenn er sieht, wie sich seine Religion in ihrer [prophetisch-allheitsethischen, T. L.] Grundstruktur erhält, obgleich sie sich einem fortdauernden Idealisierungsprozeß unterwirft.“ 106 Ders., Belletristik, 258. – Dass im Hause Kellermann bewusst die jüdischen und nicht die christlichen Feste gefeiert wurden, illustriert auch folgende von Henry Kellermann überlieferte Anekdote über seine Schulzeit um 1925. Von dem Mathematiklehrer um seine Meinung zum Weihnachtsfest gefragt, habe er geantwortet: „[I]ch feiere nicht Weihnachten. Wir haben unser Chanukkah“ (Kellermann, Henry J., [Ts] Chanukkah 1934, USHMMA Washington, 2007.96, Box 14, Series 12, Folder 3, 3 Bl., hier: Bl. 1).

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umzusetzen, wofür sein Engagement in verschiedenen reformgesinnten Organisationen spricht. Nach seiner offiziellen Berufung zum Rabbiner der jüdischen Gemeinde Berlins 1917, wurde er Mitglied der 1898 gegründeten „Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands“ und der 1908 von Hermann Vogelstein und Caesar Seligmann begründeten „Vereinigung für das liberale Judentum in Deutschland“.107 Letztere war eine „Laienorganisation zur Ausweitung liberaler Aktivitäten“108, hatte eine eigene Jugendorganisation und gab die Zeitschrift Liberales Judentum heraus, in der auch Kellermann publizierte. Zusammen mit der Rabbinervereinigung begann sie 1910 mit den Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum ihr „ideologisches Programm auszuarbeiten“, in dem „eine liberale Theologie auf der Grundlage der Idee des ethischen Monotheismus […] und eine liberale Form des religiösen Lebens“ gefördert werden sollte. Eine erste Version der Richtlinien erklärte bestimmte Gebote wie die Beschneidung oder den Schabbat für den einzelnen Juden als verpflichtend109 und wurde von den liberalen Rabbinern „mit überwältigender Mehrheit“110 angenommen. Kellermann findet sich jedoch nicht unter den Unterzeichnern dieser Version, zum einen, weil er erst einige Jahre später offiziell als Rabbiner amtieren und der Organisation beitreten wird, zum anderen ist es zweifelhaft, dass er mit seinen religionsphilosophischen Anschauungen einer allgemeinen Verpflichtung des Individuums auf einzelne Gebote und Pflichten zugestimmt hätte.111 Die von 107 Die Mitgliedschaft in der „Vereinigung der liberalen Rabbiner“ ist belegt: o. Verf., Verhandlungen und Beschlüsse der Versammlung der Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands zu Berlin, am 5. Januar 1922, in: LJud 14/1–3 (1922), 3–32, hier : 4. Als Gast einer Versammlung, bei der er an einer lebhaften Diskussion über Priestertum und Opferwesen teilnahm und eine Resolution gegen die Wiederaufnahme dieser Elemente im modernen Judentum mit verabschiedete, wird er schon 1907 aufgeführt: Vogelstein, Hermann/Baron, [?], Bericht über die Mitgliederversammlung der „Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands“, Berlin, 1. Januar 1907, in: AZJ Nr. 12 vom 22. 3. 1907, 136–138, hier : 136. – Zur Mitgliedschaft in der „Vereinigung für das liberale Judentum in Deutschland“: LJud 9/9–10 (1917), 103; o. Verf., Hauptversammlung der Vereinigung für das liberale Judentum, in: JLZ Nr. 2 vom 13. 1. 1922, 1f, hier: 1. – Zur Geschichte der beiden Vereinigungen: Italiener, Bruno, Art. Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands, in: JL 4/2 (1930), 1177; Joseph, Max, Art. Vereinigung für das liberale Judentum e. V., in: JL 4/2 (1930), 1175–1177. Im letzteren Artikel wird unter weiterführender Literatur auch Kellermanns Liberales Judentum genannt (ebd., 1177). 108 Lowenstein, Das religiöse Leben, 117. Folgendes Zitat: ebd. 109 Richtlinien zu einem Programm für das liberale Judentum nebst den Referaten und Ansprachen auf den Rabbinerversammlungen zu Berlin und Frankfurt am Main und auf der Delegiertenversammlung der Vereinigung für das liberale Judentum zu Posen, Berlin 1912, 56–68. 110 Lowenstein, Das religiöse Leben, 118. 111 Richtlinien, 67f. Auch in einem zeitlich früheren Typoskript, in dem noch einige der späteren Unterzeichner fehlen, findet sich Kellermann nicht: Richtlinien zu einem Programm fuer das liberale Judentum, undatiert, AJA Cincinnati, MSS Coll. No. 16, Box A 1, Folder 1, 6.

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Laien dominierte Vollversammlung der „Vereinigung für das liberale Judentum in Deutschland“ lehnte im Oktober 1912 die von den Rabbinern gebilligte Version ab. Die dann publizierten Richtlinien erschienen ohne die erwähnten kontroversen Passagen, sondern „die religiöse Observanz [wurde] ganz dem Gewissen jedes einzelnen“ überlassen.112 Kellermann war zudem Mitglied des „Jüdisch-liberalen Jugendvereins zu Berlin“ (Ili Berlin), in dem er bei verschiedenen Gelegenheiten seine Anschauungen über das liberale Judentum und die zwingende „Prophetisierung“ darlegte. Während sein Schwager Joseph Lehmann dort im Semester 1911/12 einen Vortragszyklus über „Leben und Wirken der großen Propheten“ hielt, sprach Kellermann zur selben Zeit in mehreren Vorträgen über „Die logischen und ethischen Grundlagen des liberalen Judentums“.113 Da Manuskripte oder Mitschriften nicht erhalten geblieben sind, können über die einzelnen Themen keine verlässlichen Aussagen gemacht werden. Der Titel deutet aber in Richtung der 1907 erschienenen programmatischen Schrift Liberales Judentum und der bis 1911 publizierten Aufsätze, die sich alle mit der philosophischen Begründung der Vorrangstellung des liberalen Judentums auseinandersetzten.114 3.2.6 Zusammenfassung Die Kritik der reinen Vernunft enthält die philosophische Rechtfertigung des Judentums. Benzion Kellermann115

In den zwischen 1902 und 1912 publizierten Artikeln, Aufsätzen und Monografien untersucht Kellermann das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, von Offenbarung und Vernunft. Diese zentrale Frage der Religionsphilosophie beantwortet er dahingehend, dass die Religion ihre Direktiven stets von der Philosophie erhalten müsse, ihr in den Inhalten und praktischen Forderungen nicht widersprechen dürfe und ihr somit immer nachgeordnet sei. In diesem Zusammenhang beschäftigt er sich mit der Bedeutung religiösen Denkens und 112 Lowenstein, Das religiöse Leben, 118. Vgl. auch: Dienemann, Liberales Judentum, 56f. 113 Vgl. LJud 3/10 (1911), 240. 114 Am 8. April 1929 schrieb der Sekretär der „Jüdischen Reformgemeinde“ und Herausgeber der JLZ Bruno Woyda (1900–1968) an die seit sechs Jahren verwitwete Thekla Kellermann (LBI New York, AR 1197, 1 Bl.). Er bedankte sich für eine Fotografie ihres Mannes, die sie zur Verfügung gestellt hatte und erinnerte sich seiner. Woyda dachte „noch gern an die Stunden zurück, in denen Ihr gesch.[eiter] Mann über jüdische Dinge im jüdisch-liberalen Jugendverein sprach“. Diese Stunden hätten prägenden Einfluss auf ihn gehabt, denn sie „dürften in erster Linie dazu beigetragen haben, mich zum Wirken in der jüdischen Gemeinschaft anzuspornen, weil er uns lehrte, dass nicht Form der Vergangenheit sondern die Idee das Wesen des Judentums ausmacht“. 115 Kellermann, Kantianismus und Judentum, 6.

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Handelns für die Grundlegung und praktische Umsetzung einer universalistischen, zeitlos gültigen Ethik. Eine knappe Zusammenfassung dieser Gedanken bietet Kellermann in dem Vortrag „Ethik und Gottesidee“, den er am 26. Oktober 1907 vor der Berliner Abteilung der „Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur“, zu deren Mitgliedern unter anderem Theobald Ziegler und Ferdinand Tönnies gehörten, hielt. Das Hauptziel der 1892 begründeten Gesellschaft116 war, „die Menschheit in ihrem sittlichen Streben zu einigen, ohne nach ihrem religiösen Bekenntnis zu fragen“117. Dadurch gab es Überschneidungspunkte mit dem Kellermannschen Denken, aber auch Differenzen, die vor allem in der positiven Hegel-Rezeption118 der Organisation und in ihrer Auffassung begründet lagen, „die Sittlichkeit aus der Natur des Menschen als dem konstanten Faktor, und dem Gesellschaftsleben als dem beweglichen Faktor [zu] entwickeln“119. Der exakte Text oder ein Manuskript Kellermanns ist zwar nicht überliefert, das Publikationsorgan der Gesellschaft, die Zeitschrift Ethische Kultur, berichtete jedoch inhaltlich sowohl von dem Vortrag als auch von der sich anschließenden Diskussion. Dort bringt der Neukantianer deutlich zum Ausdruck, dass „nicht die scharfe Trennung von Ethik und Religion die Menschheit weiter bringen werde, sondern die philosophische Durchdringung der Religion mit ethischen Gedanken“, weshalb das Referat als eine kompimierte Darstellung

116 Die ethische Bewegung hatte ihre Ursprünge im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den USA und war mit Felix Adler, William M. Salter, Stanton Coit u. a. verbunden. Adler, säkular und jüdischer Herkunft, sprach 1892 in Berlin und forderte die Errichtung ethischer Gesellschaften nach dem Vorbild Kants (RbV, B 129f). Noch im selben Jahr gründeten Wilhelm Foerster, Georg von Gizycki u. a. die „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“. Vgl. zur historischen Entwicklung: Lanser, Edith, Friedrich Jodl: Von Feuerbach zur Gesellschaft für ethische Kultur, in: newsletter Moderne. Zeitschrift des SFB Moderne [an der Universität Graz] 6/2 (2003), 16–20, URL: http://www-gewi.kfunigraz.ac.at/moderne/ heft11 l.htm, abgerufen am: 14. 12. 2013; Groschopp, Horst, Die drei berühmten Foersters und die ethische Kultur. Humanismus in Berlin um 1900, URL: http://hpd.de/node/4512, abgerufen am: 14. 12. 2013, 4. 117 Henning, Max, Handbuch der freigeistigen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Jahrbuch des Weimarer Kartells 1914, hg. i. A. des Weimarer Kartells, m. e. Übersichtskarte, Frankfurt a. M. 1914, 35. Zit. n.: Groschopp, Die drei berühmten Foersters, 4. 118 Kellermann, Die philosophische Begründung des Judentums, 83: „Ja so weit geht die Verwirrung in philosophischen Grundbegriffen, daß die ,Ethische Kultur‘ [Zeitschrift der Gesellschaft, T. L.], deren Ziel in der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Ethik gegenüber der Religion besteht, daß auch sie ihr auf dem Entwickelungsgedanken basierendes Fundament in jenem Philosophen geborgen sieht, der gerade die Religion als den letzten Schlußgedanken aller Kultur preist“. 119 Ethische Kultur. Halbmonatsschrift für ethisch-soziale Reformen Nr. 22 vom 15. 11. 1907, 175. Die inhaltliche Darstellung folgt diesem Bericht (falls nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Zitate, inkl. Hrvh., aus ebd.).

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seiner Religionsphilosophie bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus gelten kann und hier kurz nachgezeichnet werden soll. Kellermann grenzt den Begriff der „wissenschaftliche[n] Ethik“ von der Naturwissenschaft ab und beschränkt ihn mit Sokrates und Platon „auf den Begriff des Menschen und die Idee der Gattung“. Er fundiert ihn im Anschluss an Cohen in der Rechtswissenschaft, wodurch er dessen Kritik an Kant teilt, dem eine methodische Grundlegung der Ethik in Form der „transzendentale[n] Deduktion, wie sie in der Kritik der reinen Vernunft formuliert wird“ nicht gelungen sei.120 Die juristische Person, unabhängig von „Bekenntnis oder nationale[r] Bestimmtheit“, verwirkliche sich als „eigentliche moralische Persönlichkeit“ im „autonomen Staate“. Diese Autonomie dürfe nicht mit dem von Kant als gegeben verstandenen, die Handlung beginnenden physischen Individuum und Nietzsches daraus folgender egoistischer Selbstgesetzgebung verwechselt werden, sondern bedeute nach der notwendigen Cohenschen Modifikation dieses Kantischen Begriffs, dass „das gesetzgebende Selbst das Ich der Menschheit“ sei. Das „Ich der Menschheit“ ist ein auf ein zukünftiges Ideal ausgerichteter Begriff, der das konkrete Handeln des Individuums in der Gegenwart bestimme. An diesem Punkt setze die Bedeutung der Religion ein, denn sie „sichere die Verwirklichung“ dieser „idealistische[n] Ethik“.121 Jedoch nicht durch den historischen und die Ethik zerstörenden Begriff von Gott als dem „Schöpfer der Natur und des Menschen“, denn dieser sei konsequenterweise auch verantwortlich für das Böse. Die „Gottesidee“ allein „bürge für die Realisierung des Guten“, denn sie „sei kein Anfang, sondern das Ziel einer unendlichen Entwickelung“. Da die „einzige Manifestation dieses Gottes […] die sittliche Handlung“ sei, also „die Geschichte als das Realitätsfeld der Ethik“122 fungiere, sei die Gottesidee mit dem unendlichen Fortschritt gleichzusetzen, den jedes einzelne Individuum durch seine konkreten sittlichen Handlungen vorantreibe, wodurch es das Subjekt der Geschichte werde: „,Handle frei und sittlich und du verwirklichst in dir Gott.‘“ Diese ethisierte Gottesidee könne Kellermann zufolge durch die korrekt angewendete transzendentalphilosophische Methode Kants begründet und logisch gerechtfertigt werden, was diesem selbst jedoch nicht gelungen sei, denn „in seinem Gottesbegriff kann sich Kant der empirischen Fesseln nicht entschlagen.“123 Hatte dieser Kellermann zufolge mit der KrV zu Recht eine empirische Substanz Gott aus dem reinen Denken ausgeschieden, hätte er diese in der KpV 120 Kellermann, Kantianismus und Judentum, 5. 121 Vgl. auch ebd., 6: Die „Gottesidee […] verwandelt die Möglichkeit [der Ethik, T. L.] in die Wirklichkeit.“ 122 Ebd., 7. 123 Ebd., 5. Folgendes Zitat: ebd., 7.

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und besonders in der RbV inkonsequenterweise wieder postuliert, wodurch er „für die philosophische Begründung des Christentums […] eine neue, dem Christentum konforme Philosophie entdecken mußte, die sich freilich zur Kernphilosophie Kants verhält wie die Subjektivität gefühlsmäßiger Reflexionen zur strengen Nüchternheit logischer Objektivität.“124 Die zeitgenössische christliche Theologie, mit der Kellermann hier den Kulturprotestantismus meint, richte sich, aufgrund ihres Festhaltens an Jesus Christus als dem empirischen Zentrum des Glaubens, in der systematischen Fundierung ihrer Ethik und Dogmatik an der RbV und ihren „ethischen Fehlschlüsse[n]“125 aus. Dagegen sei das prophetische Judentum wegen seiner Auffassung Gottes als der Idee des Guten schlechthin und der damit verbundenen Entwicklung „von der konventionellen Kultusreligion zur reinen Ethik“ an der KrV orientiert: „Der Kant des Judentums ist der Kant der reinen Vernunft“. Die Propheten hätten der Menschheit mit dem „ethischen Monotheismus“ den Gedanken der Gleichheit des Menschengeschlechts im Gegenüber zu Gott als der Idee des Guten geschenkt, der aufgrund der notwendigen „Kulturisierung“ und „Ethisierung“ der gegenwärtigen Religionen für eine aktuelle Religionsphilosophie wieder ernst genommen werden müsse. Die Religionen müssten sich auf ihre inhaltlichen Kernelemente besinnen und im Zuge der „Prophetisierung“ alles Partikulare ausscheiden: „Hier zeigt es sich wieder einmal deutlich, wie alle Rationalisierung in Halbheit befangen bleibt, so lange sie vor einer energischen Beseitigung mythischer Gebilde zurückschrickt. Das gilt ebenso sehr von bestimmten Richtungen des Judentums wie vom Christentum.“126 Erst nach der Ausscheidung könne sich eine „prophetische Religion“ ausbilden, die wiederum die letzte Vorstufe der universalen, „reinen Religion“ sei, die die Einheit der Menschheit in der Allheit realisiere. Bezüglich der Gottesidee, des Prophetismus und der weiteren Entwicklung der historischen Religionen, gab es in Kellermanns Religionsphilosophie nicht nur Überschneidungen mit Cohen, sondern auch Unterschiede. Denn in den vorgestellten Publikationen und Vorträgen finden sich erste Emanzipationsbemühungen von dessen System der Philosophie, die er noch deutlicher in seinem nach dem Weltkrieg erscheinenden Hauptwerk ausformulieren wird. Er fasst den Begriff Gottes zwar wie Cohen als „Idee und nur Idee in der methodologischen Bedeutung des Wortes“, damit aber zugleich auch allein als ein Ideal der Ewigkeit.127 Während Cohen in seinem Brief davon spricht, dass er neben der

124 Auch in ders., Idealismus und Religion, 34 findet sich eine scharfe Kritik am Kantischen Postulat Gottes als „absolute[r] Substanz“ aus einem „subjektiven Bedürfnis“ heraus. 125 Kellermann, Kantianismus und Judentum, 5. Folgende zwei Zitate: ebd., 4. 126 Ebd., 7. 127 Vgl. ders., Idealismus und Religion, 39. Zitat: ders., Cohens „Ethik des reinen Willens“, 250.

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sittlichen Handlung, aus ethischen Gründen, auch noch eine Verehrung der Gottesidee fordern könne,128 ist das für Kellermann nicht konsequent genug. Für ihn konnte nichts mehr neben der sittlichen Handlung existieren, schon gar nicht ein „Ritualgesetz“, das zum einen aufgrund seines Partikularismus das Judentum separiere und damit die prophetische Idee der Einheit der Menschheit vernichte, zum anderen dem einzelnen Individuum Kraft und Zeit raube, an der sittlichen Vervollkommnung der Menschheit mitzuarbeiten: „Je mehr Kräfte durch die Befreiung von partikularistischen Sondergesetzen für die Allgemeinheit gewonnen werden, um so stärker und energischer kann sich das sittlich-soziale Leben entfalten. […] So nur kann und wird es möglich sein, die jüdische Religion als die wahrhafte Kulturreligion wirksam zu gestalten.“129 Die „Prophetisierung“ ist für Kellermann ein in der Vergangenheit beginnender, in der Gegenwart fortzusetzender und in die Unendlichkeit weisender Prozess, an dem der reflektierende Anhänger einer Religion Anteil habe. Somit konnte der Berliner Philosoph, wie anhand des von ihm verwendeten Begriffs der Pietät dargestellt, ein überzeugter und teilweise praktizierender liberaler Jude seiner Zeit sein. Mit dem Versuch, ein Judentum zu entwerfen, das vor der aufgeklärten Vernunftphilosophie bestehen könne, befand sich Kellermann nicht nur in Gesellschaft mit liberalen Köpfen wie Geiger, Cohen oder Vogelstein, sondern auch mit Vertretern der Kant-affinen Haskala wie Lazarus Bendavid (1762–1832) und Saul Ascher (1767–1822).130 Der in Berlin wirkende Ascher veröffentlichte 1792 das Buch Leviathan, in dem er versucht, „ein Judentum zu skizzieren, das vor der Kritik der reinen Vernunft bestehen kann“.131 Er reduziert das, als „Menschenwerk“ historisch verstandene, Gesetz auf vierzehn Glaubensartikel, die genügen sollten, „um die Bindung des Juden an die Glaubenswahrheiten zu symbolisieren“. Für die Formulierung des ,Wesens‘ der jüdischen Religion seien also nicht partikulare Vorschriften, sondern die mit „,Prinzip und Lehre‘“ bezeichneten „universalrationalen Glaubenswahrheiten“ bestimmend. 128 Hermann Cohen an Benzion Kellermann, 16. 2. 1908, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. 129 Kellermann, Benzion, Das liberale Judentum und seine Führer, in: JLZ Nr. 17 vom 28. 4. 1922, 1. 130 Zur Begeisterung besonders der späteren Maskilim für Kant vgl. Graupe, Heinz M., Die Entstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden 1650–1942, 2. rev. u. erw. Aufl., Hamburg 1977, 142–152. Sehr präzise ist der zeitgenössische Vortrag von Guttmann, Julius, Kant und das Judentum, Leipzig 1908. 131 Graetz, Michael, Jüdische Aufklärung, in: Meyer, Michael A. (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 1: Tradition und Aufklärung 1600–1780, München 1996, 251–355, hier : 328. Folgende Zitate: ebd., 328f. – Zu Aschers durchaus kritischer Auseinandersetzung mit Kant vgl. Hess, Jonathan M., Philosophy, Antisemitism and the Politics of Religious Reform. Saul Ascher’s Challenge to Kant and Fichte, in: ders., Germans, Jews and the Claims of Modernity, New Haven/London 2002, 137–167.

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Kellermann war ein überzeugter und streitbarer Vertreter der liberalen Sache, ihr gegenüber jedoch nie unkritisch. Stattdessen kritisierte er immer wieder neben der Orthodoxie und der aufkommenden zionistischen Bewegung, die das Judentum vordergründig als Nation und nicht wie er selbst als Religion begriff, auch die Entwicklungen innerhalb des liberalen Judentums und forderte stets Korrekturen und die Ausrichtung am Ideal des Prophetismus.

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4. Im Ersten Weltkrieg 4.1 Einstellung zum Krieg und Arbeit als Seelsorger Mit den gegenseitigen Kriegserklärungen der europäischen Großmächte und der Generalmobilmachung im Deutschen Kaiserreich unter Wilhelm II. am 1. August 1914 schien für die Kellermanns zunächst keine Welt zusammengebrochen zu sein.1 Da sich Benzion Kellermann jedoch nie öffentlich zum Kriegsgeschehen äußerte und sich diesbezüglich auch im Nachlass keine Bemerkungen fanden, sind verlässliche Aussagen über seine Einstellung zum Krieg schwer zu treffen. Die folgende Darstellung folgt deshalb zum einen den Erinnerungen seiner beiden Söhne, zum anderen der Tatsache, dass er sich als „Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ betrachtete. Wie Cohen war er von der Hoffnung auf eine Synthese von jüdischer (Propheten, „ethischer Monotheismus“) und deutscher Kultur (Kant, Goethe, Schiller) beseelt und von der Möglichkeit ihres Zustandekommens überzeugt. Henry Kellermann zufolge benahmen sich seine Eltern „like everyone else“ und waren von der Rechtmäßigkeit der deutschen Sache im Ersten Weltkrieg, zumindest nach außen hin und den Kindern gegenüber, zunächst überzeugt.2 Zuhause wurden „Deutschland über alles“, „Heil Dir im Siegerkranz“ und „Die Wacht am Rhein“ gesungen, die ersten Siege der deutschen Reichswehr in Frankreich und Russland bejubelt und der Vater spielte auf dem Klavier neben Wagner auch die von ihm geliebten Militärmärsche. Während der am 2. April 1915 geborene Ernst3 dafür zu klein war, spielte sein Bruder Henry mit seinen Zinnfiguren die großen Schlachten nach und wurde von den Eltern in Uniformen der Kürassiere, Ulanen und Husaren gesteckt, die er mit Stolz getragen habe.4 In diesem Sinn beschreibt er seine Eltern als patriotisch und „,kaisertreu‘“. Wilhelm II. und den Hohenzollern loyal ergeben, wurde zu verschiedenen Anlässen stolz die schwarz-weiß-rote Flagge geschwungen und wenn am 27. Januar Kaisergeburtstag gefeiert wurde, sahen auch die Kellermanns den Paraden in Berlin zu und schmückten ihre Aufschläge mit Bildnissen der kaiserlichen Familie. 1 Zum Ersten Weltkrieg existiert eine nicht mehr zu überblickende Forschungs- und Populärliteratur, die mit der 100. Wiederkehr des Ausbruchsdatums inflationär zugenommen hat. Unverzichtbar bleibt die von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz hg. Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2004. Eine sehr gute globalhistorische Darstellung der Ereignisse bietet Leonhard, Jörn, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014. 2 Kellermann, Henry J., Five Germanys, 57. Zum Folgenden vgl. ebd. 3 Ernst W. Kellermann wurde in einer Privatklinik in Berlin-Charlottenburg geboren. Vgl. Familien-Stammbuch für die Familie Benzion Kellermann zu Berlin (Kopie in Privatbesitz), 5f. 4 Vgl. Kellermann, Henry J., Youth Leader, 309f. Folgendes Zitat: ebd., 309.

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Diesen Erinnerungen zufolge befürwortete Kellermann, zumindest anfänglich, den Krieg, so wie dies auch viele andere deutsche Juden taten, die mehr oder weniger starken Patriotismus in der Öffentlichkeit zeigten. In diesem Zusammenhang muss jedoch das in der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung bis heute stark kolportierte Bild des bedingungslosen jüdischen ,Hurra-Patriotismus‘ als Legende bezeichnet werden. Wie Ulrich Sieg überzeugend darstellen konnte, gab es unter deutschen Juden neben der unbestreitbaren Kriegsbegeisterung weit mehr Skepsis, Ablehnung und sich mit dem Kriegsverlauf wandelnde Positionen als bisher angenommen, weshalb die bislang zur Verfügung stehenden „historische[n] Deutungsmuster […] ihre Überzeugungskraft eher narrativen Konventionen als empirischer Überprüfung verdanken.“5 Die Einschätzungen des Krieges durch deutsche Juden wären „vielstimmig und komplizierter“ als bislang in der Forschung angenommen und müssten, um zu historisch korrekten Ergebnissen zu gelangen, in differenzierten Einzelstudien bearbeitet werden. Zwischen 1914 und 1918 kämpften auf deutscher Seite insgesamt 13,3 Millionen Offiziere und Soldaten, davon 96 000 jüdischer Herkunft, von denen sich wiederum zwölf Prozent freiwillig gemeldet hatten.6 Mit Blick auf die neu geschaffenen Verhältnisse beschloss die loyale jüdische Gemeinde Berlins schon bald nach Ausbruch des Krieges Veränderungen im Kultus aller ihrer Synagogen: „In das Gebet für den Landesherrn wird ein besonderer, auf den Krieg bezüglicher Abschnitt eingeschaltet“.7 Rabbiner wie Leo Baeck und Max Wiener meldeten sich freiwillig als Militärseelsorger für die jüdischen Soldaten und verrichteten ihren Dienst neben den katholischen und evangelischen Kollegen. Sie betrieben die persönliche Seelsorge der jüdischen Soldaten, begingen mit ihnen Schabbat- und Feiertagsgottesdienste, sofern die militärischen Aktivitäten dies zuließen, und sorgten für Literatur wie das von Baeck bearbeitete Feldgebetbuch.8 Zugleich wurde in Berlin von der jüdischen Gemeinde die Seelsorge in Lazaretten und Krankenhäusern eingeführt, wie es sie auch auf christlicher Seite gab, und an der sich Kellermann beteiligte. Zwar wurde er erst 1917 offiziell zum 5 Vgl. Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, 53–172 u. passim. Zitat: ebd., 55. Folgendes Zitat: ebd., 53. 6 Die Zahlen beruhen auf: Hank, Sabine/Simon, Hermann/Hank, Uwe, Einleitung, in: dies., Feldrabbiner in den deutschen Streitkräften des Ersten Weltkrieges, hg. v. der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, SchrCJ, Bd. 7, Berlin 2013, 7–15, hier: 7. 7 Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1913 bis 31. März 1916, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 163–172, hier: Bl. 164. Zum Folgenden vgl. ebd. 8 Verband der Deutschen Juden (Hg.), Feldgebetbuch für die jüdischen Mannschaften des Heeres, Berlin 1914.

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Rabbiner der Gemeinde berufen, da er das Diplom an der HWJ aber schon längst erworben hatte, war er seit 1915 als Seelsorger in 24 Lazaretten tätig, wo er neben seinen Kollegen Hochfeld, Galliner, Warschauer, Lewkowitz und anderen die „jüdischen Verwundeten […] in regelmäßigen Zeitabständen besucht[e]“.9 Mit den zunehmenden Verlusten der deutschen Armee seit dem zweiten Kriegsjahr und der damit verbundenen Suche nach einem Sündenbock, kehrte eine radikale Form von Judenfeindschaft in die gesellschaftliche Debatte zurück, die zwar nie verschwunden, aber infolge des vom Kaiser ausgerufenen „Burgfriedens“ aus der Öffentlichkeit verdrängt worden war. Einschneidendstes Erlebnis war dabei die „Judenzählung“ im deutschen Heer im Herbst 1916. Die Zählung sollte den Vorwürfen nachgehen, viele deutsche Juden seien ,Drückeberger‘ und würden sich dem Frontdienst entziehen.10 Die Ergebnisse der Untersuchung, die während des Krieges nie veröffentlicht wurden, brachten das Gegenteil zum Vorschein: Viele Juden kletterten die militärische Karriereleiter um einige Stufen nach oben, wurden mit Orden und Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet, kämpften prozentual nicht weniger jüdische als nichtjüdische Männer und standen insgesamt 77 Prozent aller Soldaten jüdischer Herkunft an der Front.11 Allein 180 Beamte der jüdischen Gemeinde Berlins wurden von der Armee eingezogen, weshalb viele diätarische Hilfskräfte eingestellt werden mussten, um den Verwaltungsbetrieb aufrechterhalten zu können.12 Die Gemeinde organisierte 1919 eine Gedächtnisfeier für ihre im Krieg verstorbenen Beamten, auf der Kellermann die, nicht erhaltene, Gedenkrede hielt.13 Der Antisemitismus, der nie verschwunden, sondern von oben herab offiziell verdrängt und damit latent war, brach mit der Zählung, den wieder zunehmenden Abbildungen gehässiger Karikaturen und den judenfeindlichen intellektuellen Debatten erneut hervor. Der „Geist von 1914“, der in Folge des vom Kaiser ausgerufenen „Burgfriedens“ die nationale Einheit beschwor und mo9 Die vor allem im Süden und in der Mitte Berlins gelegenen Lazarette, die Kellermann besuchte, sind aufgeführt in: Liste der Lazarette und Gefangenenlager in Berlin und deren Seelsorger, 1916/17, CJA, 1, 75 C Ve 1, Nr. 353, # 12976, Bl. 14–16. Zitat: Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1913 bis 31. März 1916, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 163–172, hier: Bl. 167. 10 Vgl. Sieg, Ulrich, Art. Judenzählung, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 599f; ders., Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, 89–96; Rosenthal, Jacob, „Die Ehre des jüdischen Soldaten“. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Campus Judaica, Bd. 24, Frankfurt a. M. 2007. – Daneben gab es noch eine weitere, bis heute kaum bekannte, „Judenzählung“, die im März 1918 von Ludwig von Schröder, Admiral des Marinekorps, angeordnet, deren Ergebnisse aber ebenfalls nicht veröffentlicht wurden (vgl. Hank/Simon/ Hank, Feldrabbiner, 13). 11 Vgl. Hank/Simon/Hank, Feldrabbiner, 7. 12 Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1913 bis 31. März 1916, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 163–172, hier: Bl. 164. 13 Vgl. GBAZJ Nr. 49 vom 5. 12. 1919, 4.

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bilisierte, verflog und ließ die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen wieder abkühlen.14 Dies betraf nicht nur das Verhältnis der Soldaten untereinander im Feld, sondern auch die Heimatfront. Dieser durch rechtspolitische und völkische Kräfte wieder in den Vordergrund drängende Antisemitismus bildete den Hintergrund, vor dem Kellermann im Oktober 1917 anlässlich seiner Einführung in das Amt des Gemeinderabbiners von neueren „Angriffen“ sprach, „die das Recht des Judentums bestritten. Religiöse, geschichtliche und ethnische Vorurteile erheben heute wieder drohender denn je ihr Haupt.“15 Die Juden müssten sich dagegen wehren, jedoch nicht mit Gegengewalt, sondern „mit den Waffen des jüdischen Geistes und der jüdischen Wissenschaft“, weshalb dem Rabbiner durch Lehre und Verkündigung eine solch wichtige Bedeutung zukomme. Ähnlich Cohen und vielen anderen jüdischen Deutschen hatte Kellermann den mit dem fortschreitenden Krieg einhergehenden Mentalitätswandel sehr genau registriert. Zudem lernte er bei seinen Besuchen der Verwundeten in den Lazaretten die ganze Grausamkeit des hochindustrialisierten Krieges aus nächster Nähe kennen und erlebten er und seine Familie die Schattenseiten des Krieges auch persönlich. Wie Henry Kellermann in seinen Memoiren illustrierte, änderte sich mit dem sich immer weiter verhärtenden Stellungskrieg auch das Leben in Berlin. Nahrungsmittel wurden rationiert, Geschirr, Pfannen und Kirchenglocken eingeschmolzen. Seine Familie war wie viele andere von Kälte und Hunger betroffen, bekam aber von Zeit zu Zeit Pakete mit Lebensmitteln und anderen Gegenständen von den Verwandten aus Frankfurt und Warburg.16 In der Folge scheint es bei Kellermann und seiner Frau einen Umschwung in der Beurteilung des Krieges und des Kaiserhauses hin zu Skeptizismus und Ablehnung gegeben zu haben, so dass der Sohn über das Kriegsende schrieb: „Nobody in my family […] shed any tears when His Majesty Himself packed his things and disappeared for good in the direction of Doorn, Holland“. Ähnlich standen Ernst Kellermann zufolge der Patriotismus und die Loyalität zu Deutschland nicht im Widerspruch zu einer allgemeinen pazifistischen Haltung des sozialdemokratisch gesinnten Vaters17 und habe nach dessen Tod die Mutter 14 Vgl. überblickend: Jochmann, Werner, Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: Mosse, Werner E. (Hg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923. Ein Sammelband, Tübingen 1971, 409–510. 15 O. Verf., Amtseinführung des Rabbiners Herrn Dr. Kellermann, in: GJB 7/11 (1917), 116. Folgendes Zitat: ebd. 16 Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 57–59. Folgendes Zitat: ebd., 60. 17 Sein Vater war zwar kein Parteimitglied, aber „always social democrat“ und habe immer die SPD gewählt (Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London). Am 26. 3. 2012 teilte Ernst W. Kellermann mit: „My father was a loyal German but fundamentally a pacifist“. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 64 nimmt an, dass die Eltern mit Beginn der Weimarer Zeit demokratisch, dann sozialdemokratisch wählten.

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den Kindern berichtet, dass er den Krieg gehasst habe.18 Ergänzt werden diese Erinnerungen durch einen um 1921/22 zu datierenden Vortrag Kellermanns vor dem „Jüdisch-liberalen Jugendverein zu Berlin“, indem er sich öffentlich zum Sozialismus als einzig möglicher Form, den Prophetismus Wirklichkeit werden zu lassen, bekannte.19 Obwohl die Arbeit als Seelsorger in den Lazaretten sicherlich anstrengend, zeitaufwendig und emotional erschütternd war, fand Kellermann wie andere Kollegen die Kraft, in weiteren Bereichen und Projekten aktiv tätig zu sein. Er arbeitete an der Übersetzung der Kämpfe Gottes des Lewi ben Gerson, an der Edition von Schriften Immanuel Kants für die von Ernst Cassirer zwischen 1911 und 1922 herausgegebene Gesamtausgabe und war weiterhin als Pädagoge tätig. An der Knabenschule unterrichtete er bis 1917, die IV. Religionsschule in Berlin-Moabit leitete er bis zum Ende des Sommerhalbjahres 1914.20 Zum Winterhalbjahr 1914/15 wechselte er als Direktor an die VIII. Religionsschule, die sich unweit des Bayerischen Platzes in der Berchtesgadener Straße 10–11 im Stadtteil Schöneberg befand.21 Sein Stellvertreter wurde Hirschfeld, den er seit der gemeinsamen Zeit am Dorotheenstädtischen Realgymnasium kannte und schätzte.22 An der Religionsschule erfüllte Kellermann Verwaltungsaufgaben und unterrichtete einige Stunden in der Woche. Die Anzahl der Schüler lag immer bei über 100 Personen, im Dezember 1922 wurden 49 Jungen und 62 Mädchen gezählt.23 Wie aus dem Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin hervorgeht, war er noch im Sommerhalbjahr 1923 als Direktor der Religionsschule angestellt.24 Damit ist belegt, dass er neben seinem 1917 offiziell angetretenen Rabbineramt weiterhin den Schuldienst versah und von 1889 an über 30 Jahre lang durchgängig als Pädagoge an jüdischen und nichtjüdischen Schulen wirkte. Die Schöneberger Religionsschule führte bisher Julius Lewkowitz, der nun die IV. Gemeindeschule von Kellermann übernahm.25 Der ebenfalls progressiv gesinnte Lewkowitz hatte Ende der 1890er Jahre an der Berliner Universität und ohne Abschluss am Rabbiner-Seminar studiert.26 Nachdem er seine Studien 18 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. 19 Kellermann, Benzion, [Ts] Was ist uns ser [sic, der] heutige jüdische Liberalismus und was sollte er sein?“, undatiert, LBI New York, AR 1197, 4 Bl., hier : Bl. 2. 20 Vgl. GJB 4/3 (1914), 37. 21 Vgl. GJB 4/10 (1914), 134. 22 Bericht über die jüdische Gemeinde zu Berlin [Januar] 1915, Berlin 1915, CJA, 1, 75 E, Nr. 16, # 14315, Bl. 1–15, hier. Bl. 15. 23 Vgl. GJB 13/2 (1923), 13. 24 Vgl. GJB 13/4 (1923), 23. 25 Vgl. GJB 4/10 (1914), 133. 26 Vgl. zu seiner Biografie BHRabb II/1, 399–401; Hildesheimer, Studenten am Berliner Rabbinerseminar, 179. Rabbiner-seminar zu Berlin, Das (Hg.), Bericht über die ersten fünfundzwanzig Jahre, 49 zufolge studierte er zwischen 1897–1898 am Rabbinerseminar.

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dann am Breslauer Seminar beendet hatte und zehn Jahre in Schneidemühl als liberaler Rabbiner tätig war, kam der Mitunterzeichner der Richtlinien 1913 nach Berlin. Dort predigte er in verschiedenen Synagogen, unter anderem in der 1914 eröffneten und dem neuen Ritus folgenden in der Levetzowstraße, und veröffentlichte Schriften zur Philosophie und zum liberalen Judentum.27 Beide verband nicht nur ein Interesse an der Philosophie Spinozas, zu dessen Ethik Kellermann 1922 einen Kommentar publizierte und über den Lewkowitz schon 1902 promoviert wurde,28 sondern sie waren auch Mitglieder der „Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Schulmänner zu Berlin“ und werden sich bei Veranstaltungen des „Liberalen Vereins für die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde zu Berlin“ oder der „Vereinigung für das Liberale Judentum“ als Redner und Zuhörer begegnet sein.

4.2 Die Übersetzung der Kämpfe Gottes von Lewi ben Gerson29 Mitten im Ersten Weltkrieg, zwischen 1914 und 1916, veröffentlichte Kellermann seine Übersetzung der Milchamot haSchem (Kämpfe Gottes) des mittelalterlichen Philosophen Lewi ben Gerson (auch Gersonides, 1288–1344), womit er „die erste, allerdings unvollendet gebliebene Übersetzung des philosophischen Hauptwerkes von Gersonides […] in eine moderne europäische Sprache“ vorlegte.30 Dem Druck des bereits 1911 vorliegenden Manuskripts ging eine intensive Diskussion an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums voraus. Diese führte nicht nur zu einer Verzögerung des Erscheinungstermins, 27 Z.B.: Lewkowitz, Julius, Die Philosophie Henri Bergsons, Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Lehrer und Lehrerinnen zu Berlin, Bd. 1, Berlin 1913. 28 Zu Kellermanns Die Ethik Spinozas vgl. Kap. II.6.2. Die Dissertation von Lewkowitz erschien 1902 in Breslau unter dem Titel Spinoza’s Cogitata metaphysica und ihr Verhältnis zu Descartes und zur Scholastik. 29 Vorliegendes Kapitel ist eine erweiterte Version meines Aufsatzes: Benzion Kellermann’s German Translation of Gersonides’s Milhamot ha-Shem (1914–1916). The History of a Scholarly Tragedy, in: Elior, Ofer/Wirmer,˙ David/Freudenthal, Gad (ed.), Gersonides’ Afterlife: Studies on the Reception of Levi ben Gerson’s Thought in the Medieval and Early Modern Hebrew and Latin Cultures (im Erscheinen). Der Aufsatz ist eine stark veränderte Version des früheren Kapitels aus der vorliegenden Arbeit. 30 Kellermann, Benzion, Die Kämpfe Gottes von Lewi ben Gerson. Uebersetzung und Erklärung des handschriftlich revidierten Textes, 2 Teile, SWJ 3, Heft 1/2 u. SWJ 5, Heft 1/3, Berlin 1914 u. 1916. Der jeweilige Band und die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im folgenden Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. – Zitat: Freudenthal, Gad, Rabbi Lewi ben Gerschom (Gersonides) und die Bedingungen wissenschaftlichen Fortschritts im Mittelalter : Astronomie, Physik, erkenntnistheoretischer Realismus und Heilslehre, in: AGPh 74/2 (1992), 158–179, hier: 160. Ich danke Gad Freudenthal und George Y. Kohler für Hinweise zu diesem Kapitel.

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sondern schließlich auch zur endgültigen Ablehnung Kellermanns als Kandidaten für die dortige vakante Dozentur für jüdische Religionsphilosophie. 4.2.1 Vorspiel Aus den einleitenden Worten Hermann Cohens zum ersten Band geht hervor, dass dieser seinen Schüler dazu ermutigt hatte, das großangelegte Projekt der Übersetzung des bis dato nur Spezialisten zugänglichen Mathematikers, Astronomen und Philosophen zu beginnen: „Ich habe sie [die Übersetzung, T. L.] veranlasst; ich habe Herrn Dr. Kellermann für diese schwierige Aufgabe ausersehen und zu gewinnen gesucht“ (I, VII).31 Obwohl Kellermann sich bis zu diesem Zeitpunkt in noch keiner Publikation dezidiert mit einem mittelalterlichen jüdischen Philosophen beschäftigt hatte, war es ihm, so scheint es, unmöglich, das Ersuchen seines verehrten Lehrers auszuschlagen, der zudem versuchte, ihn als Dozenten an der HWJ unterzubringen. Die Übersetzung war nicht Kellermanns ureigene Idee, sondern entsprang einem langjährigen LehrerSchüler-Verhältnis, was noch dadurch unterstrichen wird, dass er den ersten Band Cohen widmete. Die Unerfahrenheit auf dem Gebiet war der Arbeit schließlich anzumerken, die von vielen Experten aufgrund ihrer zahlreichen technischen Fehler und philologischen Schwächen stark kritisiert wurde und keinen Einfluss auf die weitere Gersonides-Forschung hatte. Um übersetzen zu können, musste Kellermann aus dem Abgleich des gedruckten hebräischen Textes (Riva di Trento, 1560 und Nachdruck Leipzig, 1866) mit Handschriften aus Paris, Oxford und Parma zunächst einen philologisch korrekten Text herstellen, ein Anspruch, den die bis dahin vorliegenden Drucke nicht erfüllten.32 Laut eigener Aussage plante er auch, später den hebräischen Text herauszugeben, wozu es aber nicht kommen sollte. Da sich das in der jüdischen Philosophie des Mittelalters verwendete Hebräisch in Grammatik und Vokabular stark von dem üblichen, wie es in der Bibel und der antiken jüdischen Philosophie zu finden ist, unterschied, musste Kellermann sich dieses erst aneignen. Im Vorwort spricht er davon, wie „schwierig“ es sei, „das Idiom der jüdischen Religionsphilosophen zu beherrschen“ (I, XIV); eine Aussage, die vermuten lässt, dass ihm seine nicht 31 Auch aus der Stellungnahme Cohens über die Arbeit geht dies hervor: ders., Gutachten über Kellermanns Übersetzung, undatiert [bei der HWJ eingegangen am 24. 11. 1911], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3. 32 In Kämpfe Gottes, Bd. 2, VII schreibt Kellermann bezüglich der Arbeit am zweiten Teil, dass sie „durch den Ausbruch des Weltkrieges besonders erschwert [wurde]. Weder war es mir möglich, das Pariser Msc. 721 zu benutzen, noch konnte ich die Abschrift des Msc. Parma mit dem Originale vergleichen lassen. Gleichwohl glaube ich, dass der Text einwandfrei hergestellt ist, zumal das Msc. Oxford gerade für diese Traktate [II–IV, T. L.] ausserordentlich zuverlässig ist.“

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ausreichenden Sprachkenntnisse womöglich bewusst waren. Gelungen sei ihm dies nach eigener Aussage schließlich „[n]ur durch langjährigen Besuch der Vorlesungen“ (I, XIV) bei dem Orientalisten und Begründer der modernen hebräischen Bibliografie Moritz Steinschneider.33 Kellermann benutzte unter anderem dessen Allgemeine Einleitung in die jüdische Literatur des Mittelalters und die Bücher über Alfarabi und Die Hebräischen Übersetzungen.34 Bei Steinschneider, der über Gersonides zudem „eine erschöpfende Bio-Bibliographie“ vorlegte, „die der weiteren Forschung neue Perspektiven öffnete“,35 hatte Kellermann um die Jahrhundertwende auch „die Grundlagen für wissenschaftliche Arbeitsmethodik auf dem Gebiete der jüdischen Religionsphilosophie“ gelernt,36 die in seinen bereits vorgestellten Schriften Anwendung fanden und ihm die Arbeit an der Übersetzung überhaupt erst ermöglichten. Da Steinschneider der Überzeugung war, dass die Wissenschaft des Judentums und die jüdische Theologie als ein Teil von ihr nur an staatliche Universitäten und nicht an eigene jüdische Bildungseinrichtungen gehörten, weigerte er sich, an der HWJ Unterricht zu erteilen und lehnte Berufungen ab.37 Demnach hörte Kellermann während und nach seinen Studien in Berlin dessen Kurse an der 1783 als Jeschiwa gegründeten „Veitel Heine Ephraimschen Lehranstalt“ in der Oranienburgerstraße 27, nahe der Neuen Synagoge.38 An dieser Bildungseinrichtung für Talmud und

33 Vgl. zu Leben und Werk: Schmelzer, Menahem/Pelger, Gregor, Art. Steinschneider, Moritz, in: 2EJ 19 (2007), 197–199; Figeac, Petra, Moritz Steinschneider (1816–1907). Begründer der wissenschaftlichen hebräischen Bibliographie, Jüdische Miniaturen, Bd. 53, Teetz/Berlin 2007; Leicht, Reimund/Freudenthal, Gad (ed.), Studies on Steinschneider. Moritz Steinschneider and the Emergence of the Science of Judaism in Nineteenth-Century Germany, SJHC, Bd. 33, Leiden 2011. 34 Steinschneider, Moritz, Allgemeine Einleitung in die jüdische Literatur des Mittelalters (1903–1905), Jerusalem 31964; ders., Alfarabi, des arabischen Philosophen Leben und Schriften, St. Petersburg 1869; ders., Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Berlin 1893, Reprint: Graz 1956. Ferner : ders. Mathematik bei den Juden, zuerst in: Bibliotheca Mathematica. Zeitschrift für Geschichte der Mathematik, Neue Folge 7–13 (1893–1899), gesammelt: Frankfurt a. M. 1901; ders., Art. Gersoni, in: Ersch, Johann S./Gruber, Johann G. (Hg.), Allgemeine Enzyklopaedie der Wissenschaften und Künste (erste Sektion), Bd. 62, Leipzig 1856, Reprint: Graz 1969, 62f.; ders., Art. Levi ben Gerson, in: Ersch, Johann S./Gruber, Johann G. (Hg.), Allgemeine Enzyklopaedie der Wissenschaften und Künste (zweite Sektion), Bd. 43, Leipzig 1889, Reprint: Graz 1969, 295–300; ders., Zu Levi ben Gerson, in: Magazin für die Wissenschaft des Judenthums 16 (1889), 137–155. 35 Freudenthal, Rabbi Lewi ben Gerschom, 159. 36 Sachs, Kellermann zum Gedenken, 2. 37 Vgl. dazu Schmelzer/Pelger, Steinschneider, 199. Zum Folgenden: ebd., 198. 38 Vgl. zur Geschichte der Anstalt: Weil, Gotthold, Art. Veitel Heine Ephraimsche Lehranstalt, in: JL 4/2 (1930), 1160f. Aus ebd., 1161 geht auch hervor, dass es nur diese Anstalt sein kann, an der Kellermann Steinschneider hörte, denn dieser hielt „nur an diesem Institut wissen-

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jüdische Wissenschaft, die auch Abraham Geiger zu ihren Lehrern zählte, wirkte Steinschneider von 1859 bis zu seinem Tod und prägte dort spätere Gelehrte von Weltrang wie Ignaz Goldziher oder Solomon Schechter. Nachdem Kellermann in den Jahren nach der Rabbinerprüfung 1903 einen hebräischen Text und eine Übersetzung hergestellt hatte, musste ein Verlag für den Druck gefunden werden. Die Stimme Cohens als Mitglied des Kuratoriums der HWJ hatte starkes Gewicht und so versuchte er, das Werk in der renommierten Reihe „Schriften der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ (SWJ) unterzubringen, in der unter anderem Ismar Elbogen sein Werk zum jüdischen Gottesdienst und Max Wiener über die Propheten publiziert hatte.39 Deshalb hatten sowohl das Kuratorium als auch die Schriftenkommission der Hochschule Mitspracherecht, deren früheste Beratungen über den Druck schon 1909 begannen. Nach dem positiven Bescheid der Schriftenkommission sprach sich grundsätzlich auch das Kuratorium im Januar 1910 für die Publikation innerhalb der SWJ aus und bestellte Cohen und den Direktor der „Veitel Heine Ephraimschen Lehranstalt“ Eugen Mittwoch zu Gutachtern.40 Die mit Kellermann ausgehandelten Bedingungen waren, dass zunächst „nur die deutsche Übersetzung unter Angabe der Varianten gegen“ die hebräische Ausgabe publiziert werden solle, dass der „Umfang der jährlichen Veröffentlichung sowie das Honorar […] sich in den durch den Etat [der HWJ, T. L.] gezogenen Grenzen halten“ solle und die Publikation „jederzeit unterbrochen werden“ könne, „wenn sich andere aktuelle Arbeiten bieten“.41 Nachdem das Manuskript den beiden Gelehrten zugesandt worden war, lagen deren Gutachten dann im November 1911 vor und bescheinigten dem Übersetzer und Kommentator eine gelungene Leistung.42 Mittwoch war gebeten worden, die Arbeit aus philologischer Sicht zu bewerten und kam zu folgendem Urteil: „Es ist K.[ellermann] gelungen, den beiden hauptsächlichen Erfordernissen einer guten Übersetzung gerecht zu werden, als die ich bezeichnen

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schaftliche Vorlesungen“. – Dass die Kurse gratis erteilt wurden, geht hervor aus: GBAZJ Nr. 43 vom 23. 10. 1896, 2. Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Kuratoriums der HWJ vom 5. 12. 1911, Anlage 1: Protokoll der gemeinsamen Sitzung von Kuratorium und Lehrerkollegium am 25. 10. 1909, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287. Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Kuratoriums der HWJ vom 5. 12. 1911, Anlage 2: Auszug des Sitzungsprotokolls der Kommission für Schriften, Montagsvorlesungen, Bibliothek der HWJ vom 10. 11. 1909, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287; Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Kuratoriums der HWJ vom 5. 12. 1911, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287. Biram i. A. des Sekretariats der HWJ an Hermann Cohen, 18. 2. 1910, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3 Bl., hier : Bl. 1. Alle für die Gersonides-Übersetzung relevanten Gutachten werden vollständig transkribiert abgedruckt in: Lattki, Kellermann’s German Translation (im Erscheinen).

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möchte: auf der einen Seite: Treue gegenüber dem zu übersetzendem [sic] Texte und auf der anderen: Eine in sich klare und deutliche und dabei auch gefällige Form der Darstellung […].“43 Somit sei K.’s Arbeit mehr als eine blosse Übersetzung. Er hat es verstanden, das Werk des Gersonides, das bisher im hebräischen Original nur einigen wenigen Forschern zugänglich war […] neu zu erschliessen und in der verständlichen Form einer modernen Sprache so zur Darstellung zu bringen, dass es von jedem Forscher auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie benutzt werden kann und fortan benutzt werden muss.44

Dieses Gutachten ist verfehlt, denn die Übersetzung muss, an den auch damals gültigen wissenschaftlichen Standards gemessen, als unbefriedigend gelten.45 Bei der Beantwortung der Frage, wieso Mittwoch solch ein Urteil fällte, muss beachtet werden, dass er nicht nur die Identität des Übersetzers kannte, sondern den Text auch von Cohen selbst erhielt.46 Ferner war er zur gleichen Zeit zusammen mit Kellermann und Elbogen in die Herausgabe der Judaica, der Festschrift zu Cohens siebzigstem Geburtstag involviert. Ob sein Gutachten der Motivation entsprang, Cohen und letztendlich auch dem Mitherausgeber Kellermann einen Gefallen zu tun, kann anhand der Quellenlage nicht beantwortet werden. In jedem Fall aber unternahm Mittwoch, der zwar ein renommierter Gelehrter der semitischen Sprachen, nicht aber speziell der mittelalterlichen jüdischen Philosophie war, hier eine Aufgabe, die seine Kompetenzen überstieg. Cohen äußerte sich naturgemäß ebenfalls positiv über die Arbeit, die neben der philologischen auch eine philosophische Brillanz zeige. Kellermann beherrsche die arabischen und hebräischen philosophischen Termini der Zeit und verknüpfe in seiner kommentierenden Übersetzung auf gekonnte Art und Weise das systematische und historische Interesse an „unsere[m] philosophischen Klassiker“ Gersonides.47 Das historische Interesse war für Cohen deshalb gegeben, da ihm zufolge mittelalterliche jüdische Philosophie ein signifikantes Element der Philosophiegeschichte war, das die Scholastik in entscheidenden Punkten beeinflusste. Das systematische Interesse war gegeben, weil die rationalistischen Schriften mittelalterlicher jüdischer Gelehrter demonstrieren würden, dass philosophisches Denken immer Teil des Judentums war, dass Wissenschaft und rationale 43 Eugen Mittwoch an Heinrich V. Simon, Anlage: Gutachten über Kellermanns Übersetzung, 21. 11. 1911, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 1. 44 Ebd., 2. 45 S. dazu unten Kap. II.4.2.3. 46 Eugen Mittwoch an Heinrich V. Simon, Anlage: Gutachten über Kellermanns Übersetzung, 21. 11. 1911, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 2. 47 Cohen, Hermann, Gutachten über Kellermanns Übersetzung, undatiert [bei der HWJ eingegangen am 24. 11. 1911], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 2.

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Philosophie im Judentum aus einer religiösen Motivation erwuchsen. Diese Annahme war entscheidend für Cohens Verständnis des Judentums als Religion der Vernunft. In der Betonung der mittelalterlichen jüdischen Philosophie und ihrer Einflüsse ergab sich zugleich die Möglichkeit, dem immer wieder von christlicher Seite erhobenen Vorwurf zu begegnen, dass aufgeklärtes Judentum lediglich eine Imitation des aufgeklärten Protestantismus sei. Da Cohen das mittelalterliche Hebräisch und Arabisch nicht ausreichend beherrschte, benötigte er die vorbereitenden philologischen Studien und Übersetzungen anderer, um sich mit diesen Werken philosophisch auseinanderzusetzen. Dies war der Hauptgrund, Kellermann mit der Übersetzung zu beauftragen.48 Gersonides ist Cohen zufolge nicht nur für das Verständnis der mittelalterlichen Scholastiker eine bedeutende Instanz, sondern auch für die modernen Wissenschaften, wobei er in dem Gutachten namentlich die Psychologie nennt. In seiner Einschätzung wurde Cohen möglicherweise schon als junger Mann von Manuel JoÚl geprägt.49 Jener legte 1862 mit der auch von Kellermann benutzten Religionsphilosophie des Gersonides das erste Werk innerhalb der Wissenschaft des Judentums vor, das versuchte, diesen mittelalterlichen Denker aus einer nachkantischen Perspektive zu lesen und auf eine mögliche Relevanz für gegenwärtiges Philosophieren zu prüfen.50 Die Kämpfe Gottes, diesen Schatz jüdischer Geistesgeschichte, in deutscher Sprache mit solch einem „Grad überzeugender Klarheit“ zugänglich gemacht zu haben, sei das Verdienst Kellermanns, schließt Cohen in seinem Gutachten.51 Ganz anderer Meinung war das Lehrerkollegium der HWJ, das zu jener Zeit aus Elbogen, Abraham S. Yahuda, Maybaum und Baneth bestand und ebenfalls um Beurteilung angefragt wurde.52 Der Grund dafür lag zunächst in der Frage nach der 48 Ich danke George Y. Kohler für wertvolle Hinweise in diesem Kontext. 49 Dafür argumentiert der späte Dieter Adelmann. Vgl. für Details und bibliografische Angaben: Kohler, Reading Maimonides’ Philosophy, 22. 50 Joël, Manuel, Lewi ben Gerson (Gersonides) als Religionsphilosoph. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und der philosophischen Exegese des Mittelalters, Breslau 1862. Siehe zu JoÚls Zugang zu moderner Philosophie über mittelalterliche jüdische Philosophen: Hasselhoff, Görge K., Manuel Joel and the Neo-Maimoniden Discovery of Kant, in: Robinson, James T. (ed.), The Cultures of Maimonideanism. New Approaches to the History of Jewish Thought, Leiden 2009, 289–307. – Ich danke George Y. Kohler für diesbezügliche Hinweise. 51 Cohen, Hermann, Gutachten über Kellermanns Übersetzung, undatiert [bei der HWJ eingegangen am 24. 11. 1911], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3. 52 Elbogen, Baneth und Maybaum waren Kellermann noch als Dozenten aus der eigenen Studienzeit vertraut. Abraham S. Yahuda (1877–1951) wurde erst nach dessen Examen „für ,die biblischen Fächer und die Grammatik der semitischen Sprachen‘“ ins Lehrerkollegium aufgenommen (Elbogen, Entstehung und Entwicklung, 87). Zu Leben und Werk vgl. Plessner, Martin M., Art. Yahuda, Abraham Shalom, in: 2EJ 21 (2007), 272.

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Besetzung der schon lange vakanten Dozentur für jüdische Religionsphilosophie, für die Kellermann schon einmal 1908 erfolglos gehandelt wurde. Der Religionslehrer und Philosoph war promoviert und erfüllte damit die wichtigste Voraussetzung, die in dem Statut der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums die Anstellung der Lehrer betreffend genannt ist: „Die anzustellenden Lehrer müssen denjenigen wissenschaftlichen Grad besitzen, welcher zur Habilitation an einer deutschen Universität berechtigt“.53 Die Lehrer konnten „sowohl auf Lebenszeit als auf eine Reihe von Jahren angestellt werden“ und waren „verpflichtet, in jedem Semester über diejenige Disziplin, für welche sie berufen sind, Vorlesungen zu halten respektive die Übungen und Disputationen zu leiten“. Daneben konnten sie in Absprache mit dem Kuratorium auch über andere Gebiete dozieren, insofern diese einen Bezug zum Programm der Hochschule hatten. Einer Postkarte Elbogens an Yahuda zufolge, hatte Cohen vorgeschlagen, neben dem vom Lehrerkollegium favorisierten „[Julius] Guttmann auch Kellermann provisorisch über Philosophie lesen zu lassen, und zwar K.[ellermann] Systematik, G.[uttmann] Geschichte.“54 In einer weiteren Mitteilung heißt es, Cohen habe darauf bestanden, „dass auch sein Freund K.[ellermann] genommen wird. Ich [Elbogen, T. L.] bin neugierig, was wird, bin persönlich dagegen […].“55 Trotz des Einsatzes für seinen Schüler blieb Cohen erfolglos, denn zwischen Ende September und Anfang Oktober 1908 lehnte das Kuratorium nicht nur Guttmann, sondern auf Betreiben des Lehrerkollegiums auch eine Dozentur Kellermanns ab, da „seine Schriften sehr unselbständig sind. Überdies sind sie unklar und es ist zu bezweifeln, ob er verständlich vortragen kann.“56 Als drei Jahre später wieder Beratungen über die Besetzung der Dozentur aufkamen, war der aus Breslau stammende Guttmann erneut der Wunschkandidat des Lehrerkollegiums. Der spätere Verfasser der Philosophie des Judentums (1933) schlug im Dezember 1911 die angebotene Stelle jedoch aus. Zum einen aufgrund des in seinen Augen für eine Stadt wie Berlin zu geringen, da halbierten Dozentengehalts, zum anderen, weil er sie nach dem Wunsch des Kuratoriums – und hier gewiss unter Druck Cohens – erneut mit Kellermann teilen sollte. In 53 Statut der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, Berlin 1917, GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 76, Vc, Sekt. 2, Tit. XVI, Nr. 1, Bd. 3, Bl. 482–489, hier : Bl. 487. Folgende Zitate: ebd. 54 Ismar Elbogen an Abraham S. Yahuda, 7. 9. 1908, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.16, File 702, 1 Bl. 55 Ismar Elbogen an Abraham S. Yahuda, 13. 9. 1908, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.16, File 702, 1 Bl. 56 Zur Ablehnung beider Kandidaten: Ismar Elbogen an Abraham S. Yahuda, 12. 10. 1908, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.16, File 702, 1 Bl. – Das Zitat findet sich: Ismar Elbogen an Abraham S. Yahuda, 19. 9. 1908, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.16, File 702, 1 Bl.

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dieser Doppelbesetzung sah Guttmann jedoch eine Gefahr für die Entfaltung seiner wissenschaftlichen Arbeit: „Ich fürchte vielmehr, dass bei der beschränkten Hörerzahl der Lehranstalt meine Wirksamkeit durch eine solche Teilung derart beengt und eingeschränkt wird, dass ich keinen mich befriedigenden Erfolg von ihr erhoffen kann.“57 Erst acht Jahre später wird er dann den „Hermann-Cohen-Lehrstuhl“ an der HWJ besetzen und in Berlin an der „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ ausgezeichnete Kontakte zu Kellermann pflegen. Nach Guttmanns Absage 1911 stand der Name Kellermann allein im Raum, das Kuratorium wollte ihn anstellen und bat das Lehrerkollegium um eine Stellungnahme zu dessen wissenschaftlichen Leistungen.58 Dieses setzte dann im Mai 1912 eine Kommission ein, die anhand von internen und externen Gutachten Teile seines bisherigen Werkes59 und das Gersonides-Manuskript beurteilen sollte. Aus dieser Zeit haben sich insgesamt sechs Stellungnahmen erhalten, drei von den Dozenten an der HWJ Baneth, Elbogen und Maybaum sowie drei externe von Samuel Landauer, Gottlieb Klein und Ignaz Goldziher.60 Allein der Mitbegründer der modernen europäischen Islamwissenschaft Ignaz Goldziher, dem die Proben aus dem Gersonides-Manuskript ohne Nennung des Übersetzers zugesandt worden waren, äußerte sich positiv, jedoch im Duktus zugleich auch verlegen. Der Übersetzer zeige ein „tüchtiges Verständnis“ des von Gersonides behandelten Problems und sei mit dessen Terminologie vertraut, deshalb könne die Arbeit „im allgemeinen als gelungen bezeichnet werden.“61 Goldziher erhielt später auch ein Rezensionsexemplar des ersten Teils der Übersetzung, „deren Schwächen er erkannt hat“, wie Jacob Kramer zu berichten wusste.62 Aus „Rücksicht“ auf das dort abgedruckte Vorwort Cohens und „noch aus anderen Gründen, (die er nicht genannt hat) enthielt er sich einer Kritik.“ Alle anderen Gutachter sprachen hingegen in detaillierten Einzelberichten ein vernichtendes Urteil über die Übersetzung und andere Schriften Kellermanns. Der liberale Rabbiner Gottlieb Klein (1852–1914), der selbst eine kleine Schrift zur Frage 57 Julius Guttmann an Heinrich V. Simon, 29. 12. 1911, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.22, File 1036, 1 Bl. 58 Abraham S. Yahuda i. A. des Lehrerkollegiums an das Kuratorium der HWJ, 8. 5. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 1 Bl. 59 Dabei handelte es sich um die Kritischen Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Christentums (1906) und Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion (1908). Die Dissertation von 1896 und die zahlreichen Aufsätze in jüdischen Periodika wurden nicht begutachtet. 60 Alle Stellungnahmen finden sich in: NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287 und werden im Folgenden an passender Stelle einzeln zitiert. 61 Ignaz Goldziher an Lehrerkollegium der HWJ, 14. 6. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 2 Bl., hier : Bl. 1. 62 Jacob Kramer an Philipp Bloch, 24. 5. 1917, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC 48 1158, File 11, 1 Bl. Folgende zwei Zitate: ebd. – Zu Kramer siehe unten, 274f.

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der historischen Existenz Jesu verfasst hatte, beurteilte den „historisch-wissenschaftliche[n]Wert“ der Kritischen Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Christentums als „gleich Null.“63 Maybaum, Dozent für Homiletik an der HWJ, urteilte über die Christentumsschrift und über Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion, dass diese „keine selbständige Arbeit, sondern höchstens Lesefrüchte enthalten, die K. auf dem Gebiete religionsphilosophischer Forschung, speziell aus den einschlägigen Werken Hermann Cohens gesammelt hat“.64 Auch Elbogen warf Kellermann in seinem Gutachten Unselbständigkeit vor, wenn er darauf verwies, dass der Verfasser in seiner Christentumsschrift sich lediglich auf andere Autoren verlasse, ohne die Quellen ausreichend gemustert zu haben und dass das Werk zu Idealismus und Religion nichts anderes sei als eine Zusammenfassung des Cohenschen Systems, das er perfekt beherrsche.65 Moderater zeigte er sich gegenüber der Übersetzung, die zwar etliche bedenkliche und noch zu verbessernde Fehler aufweise, aber „im ganzen brauchbar“ sei. Nachdem im Juni 1912 die Beurteilungen eingetroffen waren, fasste das Lehrerkollegium sie in einem siebenseitigen Gutachten für das Kuratorium zusammen. Die Publikationen Kellermanns „zeugen zwar von grosser Belesenheit des Verfassers in der einschlägigen Litteratur, bekunden jedoch keine genügende Vertrautheit mit den Quellen. Die Resultate, zu denen er gelangt, können nicht als selbständige angesehen werden, und im ganzen bedeuten jene Schriften keine Bereicherung der Wissenschaft auf den Gebieten, denen sie gewidmet sind.“66 Bei der Bewertung der Übersetzung hielt sich das Lehrerkollegium weitgehend an die scharfe Kritik von Baneth und Landauer, die Kellermanns Leistung als schülerhaft charakterisiert hatten.67 Landauers (1846–1937) Urteil kam dabei besonderes Gewicht zu, denn von allen Gutachtern war er der einzige, der ein weithin anerkannter und hochspezialisierter Experte für mittelalterliche ara-

63 Gottlieb Klein an Heinrich V. Simon, 20. 5. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 1 Bl. (Hrvh. im Orig.). – Klein, Gottlieb, Ist Jesus eine historische Persönlichkeit?, Freiburg 1910. Zu Leben und Werk: BHRabb II/1, 331f. 64 Siegmund Maybaum an Lehrerkollegium der HWJ, undatiert [wahrsch. Juni 1912] (Abschrift), NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 2 Bl., hier: Bl. 1. – Eine genaue Lektüre der Schrift zeigt jedoch, dass Kellermann sich dort schon von bestimmten Postionen Cohens und Natorps entfernt hatte. Vgl. Kap. II.3.2.3. 65 Elbogen, Ismar, Urteil über Kellermanns wissenschaftliche Qualifikation, undatiert [wahrsch. Juni 1912], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3 Bl. Folgendes Zitat: ebd., Bl. 3. 66 Lehrerkollegium an Kuratorium der HWJ, undatiert [17. 6. 1912], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 7 Bl., hier : Bl. 1f. 67 Eduard Baneth an Abraham S. Yahuda, 10. 6. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 3 Bl.; S. Landauer an Abraham S. Yahuda, 6. 6. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 1 Bl. und 10. 6. 1912, 1 Bl.

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bisch- und hebräischsprachige Philosophie war.68 Dem Lehrerkollegium zufolge beinhalte das Manuskript durchgehend „Mängel von tiefgreifender Natur“, da „Kellermann „nicht durchweg das nötige Verständnis für die Terminologie der jüdischen Philosophen des Mittelalters besitzt“, was auch an ungenügenden arabischen Sprachkenntnissen liege.69 Es sprach sich deshalb mit deutlichen Worten gegen eine Dozentur Kellermanns aus, da seine vorliegenden Leistungen durchaus nicht den Anforderungen entsprechen, die an einen Dozenten für die Geschichte der jüdischen Philosophie ge[s]tellt werden müssen. Das Lehrerkollegium würde es weder vor der Lehranstalt, noch vor der wissenschaftlichen Oeffentlichkeit mit gutem Gewissen verantworten können, einen Mann zu empfehlen, der nicht nur keine selbständigen Arbeiten aufzuweisen hat, sondern nicht einmal den Nachweis dafür erbracht hat, dass er wenigstens für die Sprache der jüdischen Philosophie des Mittelalters, die doch den grössten, ja bedeutendsten Raum in der Geschichte der jüdischen Philosophie einnimmt, das richtige Verständnis besitzt.70

Ferner weigerte sich das Lehrerkollegium, die Verantwortung für eine Aufnahme in die SWJ im aktuellen Zustand zu übernehmen und empfahl die weitere Überarbeitung des Manuskripts und der schon gedruckten, aber noch nicht publizierten Stücke.71 Dem Nachruf Sachs’ zufolge wurde Kellermann die Stelle betreffend dann doch noch ein Kompromiss vorgeschlagen. Er hätte eine Dozentur für jüdische Religionsphilosophie bekleiden können, jedoch „ohne die Berechtigung, als Volldozent Abschlußprüfungen in seinem Lehrfach vorzunehmen“.72 Damit hätte er zu der zweiten Kategorie der Dozenten gehört, die an der Hochschule lehren konnten: „Außer den angestellten Lehrern können auch andere Gelehrte zur Haltung von Vorlesungen und zur Anstellung praktischer Übungen vom Kuratorium berufen respektive zugelassen werden, ohne daß sie deshalb zu den Mitgliedern des Kollegiums der angestellten Lehrer zählen“.73 Diesen Kompromiss lehnte Kellermann ab und verzichtete damit auf die wissenschaftliche Karriere an der renommierten Institution, die den bürgerlichen 68 Samuel Landauer, geboren in Hürben (Bayern), lehrte seit 1875 semitische Sprachen an der Straßburger Universität. Als das Elsaß nach dem Ersten Weltkrieg französisch wurde, wurde er 1918 entlassen und zog nach Augsburg. Neben seinen Forschungen zu Saadiah und Onkelos edierte er zusammen mit der Preußischen Akademie der Wissenschaften hebräische und lateinische Versionen der Werke des Themistius. Zu Leben und Werk: Loewinger, David S., Art. Landauer, Samuel, in: 2EJ (2007), 468. 69 Lehrerkollegium an Kuratorium der HWJ, undatiert [17. 6. 1912], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 7 Bl., hier : Bl. 2f. 70 Ebd., Bl. 6 (Hrvh. im Orig.). 71 Ebd., Bl. 7. 72 Sachs, Kellermann zum Gedenken. Ebenso: Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. – In den relevanten Akten in der NLI Jerusalem finden sich dahingehend jedoch keine Hinweise. 73 Statut der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, Berlin 1917, GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 76, Vc, Sekt. 2, Tit. XVI, Nr. 1, Bd. 3, Bl. 482–489, hier: Bl. 487.

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Status der Familie weiter gefestigt hätte. Denn die Hochschule hatte „es übernommen, ihren Dozenten die vom Staate den Professoren der hiesigen Universität gezahlten Gehälter zu gewähren.“74 Trotzdem ein Arbeitsvertrag nicht zustande kam und er diese „Kränkung […] nie überwunden“75 habe, blieb er der Hochschule bis zu seinem Lebensende freundschaftlich verbunden, war mit finanziellen Spenden weiterhin beitragendes Mitglied und hielt gelegentlich eine der etablierten „Montagsvorlesungen“. Um die seit Jahren vakante Religionsphilosophie wieder zu besetzen, wurde nach den erfolglosen Verhandlungen um Kellermann und Guttmann schließlich Cohen selbst angefragt. Der 1912 von Marburg nach Berlin übergesiedelte Professor nahm an und las seit dem Wintersemester 1912/13 am „MosesMendelssohn-Lehrstuhl“ jüdische Religionsphilosophie.76 Kellermann musste den Text und die Fußnoten stetig verbessern und Proben aus dem Manuskript den Dozenten der HWJ, unter anderem Baeck und Baneth, zur Begutachtung vorlegen.77 Cohen, der wegen der Verzögerung der von ihm geförderten Arbeit sicherlich enttäuscht war, wollte wenigstens Kellermanns finanzielle Absicherung gewährleisten und beschaffte ihm für drei Jahre ein Stipendium aus den Mitteln der „Brünn’schen Stiftung“ an der HWJ.78 Dafür hätte er mindestens eine seiner Lehrerstellen niederlegen müssen. Da Kellermann dazu nicht bereit war, sein „Arbeiten auf wissenschaftlichem Gebiete“ ihm „stets Selbstzweck“ gewesen sei und er befürchtete, mit dem Geld von der HWJ seine Unabhängigkeit zu verlieren, lehnte er das Stipendium jedoch ab.79 In einem Entwurf dieses Briefes begründete er seine Ablehnung ausführlicher vor allem damit, dass ihm die Freude an der Wissenschaft per se die volle Kompensation seiner Anstrengungen bedeute und er deshalb nicht denke, „that I have the right to claim a subvention which could be of great service to someone truly needy.“80 Der Widerstand des Lehrerkollegiums verzögerte das Erscheinen der Übersetzung bis 1914, drei Jahre nachdem das Manuskript das erste Mal fertiggestellt 74 Arnold Seligsohn an Stephen S. Wise, 2. 3. 1923, AJA Cincinnati, MSS Coll. No. 19, Box 8, Folder 14, 1 Bl. 75 Sachs, Kellermann zum Gedenken. 76 Protokoll der gemeinsamen Sitzung des Kuratoriums und Lehrerkollegiums der HWJ am 23. 6. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 4 Bl., hier : Bl. 3. – Erst im Oktober 1917 berief das Kuratorium der HWJ Guttmann auf den „Mendelssohn-Lehrstuhl“: BLWJ 36 (1918), 6. 77 Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Kuratoriums und des Lehrerkollegiums der HWJ vom 30. 11. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 1 Bl.; Ismar Elbogen an Abraham S. Yahuda, 14. 4. 1914, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.16, File 702, 1 Bl. 78 Kuratorium HWJ an Benzion Kellermann, 25. 8. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 1 Bl. 79 Benzion Kellermann an Kuratorium HWJ, 31. 8. 1912, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. Ms. Var. Yah 38, Subs. 1.6, File 287, 1 Bl. 80 Kellermann, Henry J., Five Germanys, 16.

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worden war. Der zweite Band folgte dann aufgrund der Kriegssituation und weiteren Veränderungen am Manuskript 1916. Obwohl keine Details des Entscheidungsprozesses oder der Verhandlungen zwischen Kellermann und der HWJ in den Archiven überliefert sind, muss angesichts der vernichtenden Kritik der Gutachter angenommen werden, dass die Publikation hinter den Kulissen der Hochschule vor allem von Cohen vorangetrieben wurde. Dieser verfasste schließlich ein wohlwollendes Vorwort für den ersten Band, von dem er „Heil und Segen erhoff[t]e für die Kenntnis und das Verständnis der mittelalterlichen Philosophie des Judentums“81. Zudem lobte er schon in einer Postkarte vom 28. März 1914 das Manuskript und beglückwünschte Kellermann zu seiner „mächtigen u. bedeutenden Arbeit“.82

4.2.2 Übersetzung und Kommentar Gersonides, der als „einer der originellsten jüdischen Denker des Mittelalters“ gilt, hat ein breites Werk verfasst, das Schriften zur Astronomie, Mathematik und Logik umfasst.83 Zudem kommentierte er nahezu alle Bücher der Hebräischen Bibel – Kellermann bezieht sich unter anderem auf dessen Genesis- und Hiob-Kommentare – und verfasste Superkommentare zu Aristoteles, das heißt Kommentare zu den Kommentaren des Averroes (1126–1198) zu Aristoteles. Die 1329 fertig gestellten Milchamot haSchem bilden Lewi ben Gersons religionsphilosophisches Hauptwerk und waren unter anderem aufgrund seiner Beschäftigung mit Aristoteles für Kellermann interessant. Wie gezeigt wurde, kritisierte Kellermann Aristoteles häufig für seine angeblich hemmungslos empiristische Philosophie, die dem kritischen Idealismus entgegenstehe. Entgegen Kellermanns Absicht, den kompletten von ihm hergestellten hebräischen Text sowie dessen vollständige Übersetzung zu publizieren, erschienen nur zwei Bände der Übersetzung, die die ersten vier Traktate enthalten. In der Vorrede und dem ersten Traktat, welchen der gesamte erste Band gewidmet ist, behandelt Gersonides die Frage nach dem Wesen des Intellekts, seiner Unterteilung in eine aktive und eine hylische (passive) Form und nach der Unsterblichkeit der Seele. Kellermann begleitet die Übersetzung in Fußnoten mit textkritischen Anmerkungen zu den einzelnen Überlieferungsvarianten in den Manuskripten und ge81 Cohen, Vorwort, in: Kellermann, Kämpfe Gottes, Bd. 1, VII. 82 Hermann Cohen an Benzion Kellermann, 28. 3. 1914, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. 83 Zu Leben und Werk Lewi ben Gersons: Touati, Charles/Goldstein, Bernard R., Art. Levi ben Gershom, in: 2EJ 12 (2007), 698–702; Feldman, Seymour, Gersonides. Judaism within the Limits of Reason, Littman Library of Jewish Civilization, Oxford 2010; Freudenthal, Gad (ed.), Studies on Gersonides. A Fourteenth-Century Jewish Philosopher-Scientifist, Collection de travaux de l’Acad¦mie Internationale d’Histoire des Sciences, Bd. 36, Leiden 1992. – Zitat: Freudenthal, Rabbi Lewi ben Gerschom, 161.

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druckten Ausgaben und mit inhaltlichen Erklärungen, für die er auf philosophische und theologische Primär- und Sekundärliteratur zurückgriff. Darüber hinaus fügte er dem Band drei ausführliche Endnoten – „Zur Theorie der Emanation“ (A), „Das Universalienproblem“ (B) und „Des Averroes Ansicht (Msc. de Rossi) über die spekulative Kraft“ (C) – und ein Personenregister hinzu. Der zweite Band übersetzt und erklärt fortlaufend die folgenden drei Traktate, die Lewi ben Gerson mit „Über Traum, Zauberei und Prophetie“ (II), „Über das Wissen Gottes“ (III) und „Über die Vorsehung“ (IV) überschrieb. Kellermann fügte zudem erneut ein Personenregister, eine auch als Sonderabdruck erschienene Endnote „Licht und Logos bei Philo“84 sowie Berichtigungen zum ersten Band bei, die er „zu einem grossen Teile brieflichen Anregungen verdank[t]e“ (II, VIII). Kellermann hatte an den Kämpfen Gottes nicht nur wegen der dortigen Aristoteles-Rezeption Interesse, sondern auch wegen der des hoch geschätzten Platons. Während Aristoteles Platons Lehre vom „Wissenschaftswert der Idee als der Hypothesis des Seins […] völlig missverstanden[…]“ (I, XI) habe, gehe Gersonides teilweise auch eigene Wege. In seiner „idealistische[n] Auffassung des Unendlichen in der Geometrie, in gewissen apriorischen Oberbegriffen, wie man sie klarer bei keinem Denker der Frührenaissance zu entdecken vermag“, lasse sich ein „nicht geringer[…] Einschlag platonischen Denkens“ (I, XI) aufzeigen, was ihn in einigen Punkten in die Nähe zu der kritischen Philosophie eines Leibniz und Kant rücke.85 Ähnliches gelte für dessen Bemühen, der Zauberei und Astrologie „eine rationale Grundlage zu geben“, den Mythos also zu „ethisieren“, wodurch er „hart die Autonomie der Vernunft streift“ (II, VIf). In beiden Bänden bemüht sich Kellermann, ein differenziertes Bild des Philosophen zu zeichnen und seine als negativ (Aristoteles) bzw. positiv (Platon) gewerteten Abhängigkeiten und Potentiale dazustellen. Zu diesem Bild gehören auch die Parallelen zum Denken Spinozas, dessen Philosophie Kellermann in seinem Gesamtwerk durchgehend bekämpft, da sie ihm zufolge in ihrem Pantheismus die Ethik vernichte.86 Er behauptet, Spinoza 84 Kellermann, Benzion, Licht und Logos bei Philo. Sonderabdruck der Endnote in dem Buche: Die Kämpfe Gottes von Lewi ben Gerson, Teil II, o. Ort u. Jahr [1916/17], in: Privatvbesitz Susan Kellermann. 85 Wie stark der Humanismus und die Naturphilosophie auf der platonischen Ideenlehre beruhen, habe Kellermann zufolge Ernst Cassirer in seinem mehrbändigen Werk Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit erwiesen. Er kritisiert Cassirer einzig dahingehend, dass bei diesem Nikolaus von Kues zwar zu Recht „in einer ganz exzeptionellen Art dem Geiste platonischer Philosophie Rechnung trägt“, er aber den früher wirkenden Maimonides vernachlässige, dessen „Lehre von den negativen Attributen durchweg von der Lehre Platos abhängig ist“ und der auf Nikolaus von Kues eingewirkt habe, wofür Cohen in seiner Charakteristik der Ethik Maimunis (1908) „den schlüssigen Beweis“ (I, XI) ebracht habe. 86 Zu seiner Kritik an Spinoza vgl. besonders Kap. II.6.2.

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und Gersonides würden „an der gleichen erkenntniskritischen Unsicherheit“ leiden, da sie „den idealistischen Charakter der Zahl und der Zeit nicht richtig erfasst“ (I, XIII) hätten. Diese Gemeinsamkeiten muss er angesichts der „in neuerer Zeit“, etwa von Eugen Kühnemann, gemachten Versuche, „Spinoza in engere Beziehungen zu Kant zu bringen“ (I, XII), herausstellen, um zu zeigen, dass bei Spinoza sowohl eine Abhängigkeit von Aristoteles als auch zu Lewi ben Gerson als Superkommentator von dessen Werken bestehe.87 Da aber in Kellermanns Augen die Philosophie Kants allein von Platon, nicht aber von Aristoteles abhänge, würden solche Behauptungen einer Nähe zwischen Spinoza und Kant nichts taugen. Trotz des differenzierten Bildes, das Kellermann von Lewi ben Gerson zu zeichnen versucht, wird mit diesem mittelalterlichen Philosophen, den er an einer Stelle aufgrund von dessen „Verehrung für Ptolemaeus“ letztlich doch als „unverbesserliche[n] Aristoteliker“ (I, 2, Anm. 1) bezeichnet, auch gegen Spinoza und dessen Fruchtbarmachung für Kant argumentiert. Denn dies wäre in Kellermanns Augen für den auf Platons Ideenlehre und Kants Erkenntnistheorie beruhenden Marburger Neukantianismus verhängnisvoll. Aus dem Vorwurf vieler Rezensenten, Kellermann verzerre in Übersetzung und Kommentar Gersonides durch eine Interpretation im Sinne der Marburger Schule und werde ihm durch eine solche „Tendenzwissenschaft“ (I, XV) nicht gerecht, macht dieser in seiner Einleitung zum ersten Band kein Geheimnis. Er bekennt „[i]nbezug auf den systematischen Standpunkt“ offen, „dass die Methode des kritischen Idealismus die Rolle des philosophischen Wertmessers vertritt“ und hier also die „Durchführung eines solchen Schulstandpunktes“ (I, XV) vorgelegt werden müsse. Dies begründet er zum einen damit, dass selbst in der Philosophiegeschichtsschreibung kein gänzlich „objektives Referieren“ möglich und „in gewissem Sinne jedes Referieren ein Kritisieren“ sei. Damit hat er sich von der Einforderung nach unbedingter Objektivität, wie noch in „Bibel und Wissenschaft“, emanzipiert. Zum anderen reiche eine reine „literar-kritische“ (I, XV) Darstellung nicht aus, sondern müsse vielmehr eine „Einreihung“ des Gersonides und anderer jüdischer Philosophen „in das allgemeine Kulturbewusstsein“ geschehen, damit „die moderne allgemeine Philosophie an den Erzeugnissen des jüdischen Geistes“ nicht mehr „achtlos vorübergeht“ (I, XVf). Das Judentum als ein unverzichtbares Kulturmotiv in der Weltgeschichte zu erweisen, ist der rote Faden, der sich durch das Gesamtwerk Kellermanns zieht und deshalb legt 87 Kühnemann, Eugen, Über die Grundlagen der Lehre des Spinoza, in: Philosophische Abhandlungen. Dem Andenken Rudolf Hayms gewidmet von Freunden und Schülern, Halle 1902, 203–272. – Für „die Abhängigkeit Spinozas von Gersonides und Kreskas [= Chasdaj Crescas, T. L.]“ (I, XIII) beruft sich Kellermann auf Joël, Lewi ben Gerson (Gersonides) als Religionsphilosoph.

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er hier bewusst keine rein historisch-kritische Ausgabe der Kämpfe Gottes vor, sondern unterzieht dieses Werk mit den Mitteln des kritischen Idealismus Marburger Prägung einer „logisch-kritische[n] Behandlung“, denn nur durch eine solche „kann den Erzeugnissen jüdischer Philosophen der Charakter notwendiger Durchgangspunkte in der allgemeinen kulturellen Entwickelung gesichert werden“ (I, XVI). In seinem Kommentar behandelt Kellermann nicht nur unterschwellig Spinoza, sondern wesentlich prominenter Maimonides. Dies ist möglich, weil sich Gersonides in seinem Werk oft selbst mit diesem auseinandersetzt. Es fällt auf, dass Kellermann dem mittelalterlichen Philosophen gegenüber wesentlich kritischer ist als Cohen, von dem sein Schüler in einem der späteren Nachrufe sagen wird, dass für jenen Maimonides „in gewisser Hinsicht […] noch höher als Kant“ gestanden habe.88 Im Zusammenhang mit der Frage nach dem Zustandekommen der Prophetie interessiert sich Kellermann besonders für die Theorie der Emanation, die im zweiten Traktat „Über Traum, Zauberei und Prophetie“ eine wesentliche Rolle spielt und mit der er sich in einer Endnote auseinandersetzt. Im Gegensatz zu Cohen gehe es Kellermann, George Y. Kohler zufolge, darum, zu verstehen „how Maimonides conceived of the psychological background of prophecy“.89 Bei Maimonides und Gersonides empfange der Prophet eine „seelische Kraft“ (II, 62), die ihm das Verkündigen des Willens Gottes erst ermögliche. Damit dies geschehen könne, müssten sich von dieser zu empfangenden Kraft die anderen seelischen Kräfte des Menschen zunächst isolieren, was der Bibel zufolge bei allen Propheten mit „Zittern und Beben“ einhergegangen sei, außer bei Moses, der „in der Prophetie eine Stufe [erreichte], die alle anderen Stufen der Prophetie überragte“ (II, 62). Maimonides und Lewi ben Gerson hätten hier einen schweren „psychologische[n] Fehler“ begangen, denn in der Isolierung werde der hylische Intellekt, der bei ihnen die Offenbarung rein passiv trage, zu Unrecht seiner „natürlichen Attribute“ entkleidet und somit „die momentane Ausschaltung aller rationalen Prozesse gefordert“ (II, 63, Anm. 1). In der Verteidigung der absoluten Unterschiedenheit zwischen Transzendenz und Immanenz bezeichnet Kellermann den „Empfang von oben aus einer transzendentalen Sphäre“ abwertend als „Mythologie“, denn „nur der Empfang aus dem sublunarischen Materiale kann das natürliche Funktionsrecht des hylischen Intellekts bilden“ (II, 62f, Anm. 1). Demzufolge hätten beide Philosophen zu Unrecht den „Menschen zum völligen

88 Kellermann, Benzion, Die religionsphilosophische Bedeutung Hermann Cohens, in: NJMH 15/16 (1918), 369–374, hier : 372. 89 Kohler, Reading Maimonides’ Philosophy, 150.

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passiven Untermenschen“ (II, 63, Anm. 1) degradiert, „instead of elevating him to the pinnacle of human perfection as was originally intended.“90 Aufgrund seiner Auffassungen von Autonomie, Gottesidee und Ethik hebt Kellermann das aktive Moment des Menschen in der jüdischen Geschichte hervor und argumentiert gegen eine Vorstellung von Offenbarung, die diesen als bloß passiven Empfänger gelten lässt. Religiöse Botschaften und Prophezeihungen in der Bibel seien demnach keine ,Einflüsterungen von oben‘, sondern menschliche Gedankenarbeit unter Einbeziehung sowohl des religiösen Fühlens als auch des Wissens um einen Gott, der das Ideal der Sittlichkeit sei. Bezüglich des Empfangs der Tora am Sinai hatte er sich bereits 1898 in dem Aufsatz „Bibel und Wissenschaft“ unmissverständlich geäußert. Der klassischen Inspirationslehre nach seien die Juden bei diesem Ereignis „nur der empfangende Theil“, was jedoch falsch sei, da diese Passage nicht „Wort Gottes“ im literalen Sinne sei, sondern in einer historischen Lesart so verstanden werden müsse, dass „das Judenthum durch eigene Arbeit sich seine Ideale selbst erstritten und erkämpft hat.“91 Neben dem psychologischen Hintergrund der Prophetie kritisiert Kellermann Maimonides ferner für dessen als elitär aufgefasste Theorie der Unsterblichkeit, dessen Meinung zum Problem der Providenz und dessen Annahme eines Anfangs der Welt, wodurch sie ihren Ewigkeitscharakter verliere. Zudem behauptet Kellermann im Gegensatz zu Cohen, dass der Theoretiker des attributenlosen Gottes unfähig gewesen sei, Metaphysik und Ethik widerspruchsfrei zusammenzudenken und „not Maimonides but Gersonides is the actual originator of ethical teleology – simply because he taught the eternity of matter“.92 Aufgrund dieser Missstände in Maimonides’ Philosophie sieht Kellermann diesen keineswegs nur als einen mittelalterlichen Vordenker eines sich auf rein rational-ethischer Grundlage erhebenden Judentums, wie dies seit dem ausgehenden 18. und besonders im 19. Jahrhundert viele deutschjüdische Gelehrte, besonders unter Verweis auf dessen Führer der Unschlüssigen, propagierten.93 Stattdessen kann Kellermann einer Strömung innerhalb der Wissenschaft des Judentums zugerechnet werden, deren Vertreter aufgrund ihres Anti-Aristotelismus dem Aristoteliker Maimonides „no contemporary relevance, neither philosophically nor religiously“ mehr zusprachen.94 Sowohl der Kommentar, in 90 Ebd. 91 Kellermann, Bibel und Wissenschaft, 583. 92 Vgl. zu dieser weiteren Kritik Kellermanns an Maimonides: Kohler, Reading Maimonides’ Philosophy, 150–152 u. 180–182. Zitat: ebd., 151. 93 Vgl. dazu die detailreiche Studie von Kohler, Reading Maimonides’ Philosophy. 94 Ebd., 101. Dazu zählen etwa Salomon Rubin und Adolf Schmiedl. Auch Kellermanns großes Vorbild Abraham Geiger war der Philosophie des mittelalterlichen Philosophen gegenüber stets reserviert eingestellt. Vgl. dazu: Kohler, George Y., Eine verpasste Gelegenheit: Abraham Geigers lebenslang spannungsvolles Verhältnis zur Religionsphilosophie des

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dem Lewi ben Gerson aus der Perspektive des kritischen Idealismus teilweise sogar noch über Maimonides steht als auch die Aussagen in anderen Publikationen lassen daran keinen Zweifel. In seinem Gruß zu Cohens 60. Geburtstag 1902 behauptet Kellermann, dass die mittelalterliche jüdische Religionsphilosophie und damit auch Maimonides „so sehr den Ausgleich mit dem jeweiligen Kulturbewußtsein erstrebte“, dass darin auch eine „Schwäche“ gelegen habe. Denn [d]das Streben nach einem Ausgleich setzt den Bestand des auszugleichenden Objektes als einen dauernden voraus, wenn auch kleine Modifikationen mit in den Kauf genommen werden sollen. Daß aber bei einem derartigen Verfahren die Unabhängigkeit und Freiheit der Forschung nicht zur Geltung kommt, bedarf keiner weiteren Begründung. Aus diesem Grunde bleibt auch die Originalität der jüdischen Religionsphilosophen fraglich, sofern es sich um einen Fortschritt der reinen Erkenntniß handelt; günstigsten Falles erreichten sie einen harmonistischen Eklektizismus.95

Das „Objekt“ war hierbei die jüdische Religion, die sich in Kellermanns Augen stets fortentwickeln müsse, wozu aber „kleine Modifikationen“ nicht ausreichen würden. In dem Stillstand und der unkritischen Bewahrung überkommener religiöser Traditionen sieht er aus seiner religionsphilosophischen Perspektive heraus eine ernstzunehmende Gefahr nicht nur für das Judentum selbst, sondern auch für den gesamten Prozess der Humanisierung der Menschheit, als deren Motor das messianisch ausgerichtete prophetische Judentum agieren müsse. Im Gegensatz zu vielen seiner liberalen Zeitgenossen findet Kellermann in Liberales Judentum sehr scharfe Worte gegen Maimonides, der schlicht überschätzt werde und darum wenig zur notwendigen Reformierung des Judentums tauge: […] wenn wir fragen, was Maimonides für den religiösen Fortschritt geleistet, so werden wir nicht allzuviel Rühmenswertes vernehmen. Gewiß, er hat den Gottesbegriff seiner letzten sinnlichen Hülle entkleidet, er hat auch die Ethik als den wichtigsten Teil der Religion betont. Aber das starre Ritengesetz hat er nicht nur nicht beseitigt, sondern er hat es durch seine Systematisierung noch mehr befestigt. Ja, wenn ein Freidenker wie Maimonides sich einer solchen Aufgabe widmet, so hatten die Naiven seiner Zeit wahrlich keine Veranlassung, neue Bahnen zu wandeln. Und ziehen wir gar noch in Betracht, daß derselbe Maimonides, der in Gott nur das sittliche Ideal erblicken wollte, der Verfasser der dreizehn Glaubensartikel ist, dann hat dieser Denker die religiösen Probleme noch mehr verwirrt als alle seine Vorgänger.96 Maimonides, in: Wiese/Homolka/Brechenmacher (Hg.), Jüdische Existenz in der Moderne, 249–274. 95 Kellermann, Hermann Cohen. Zum 4. Juli 1902, 316. 96 Ders., Liberales Judentum, 11. Dieselbe Kritik übte er ein Jahr später in: Idealismus und Religion, 28. Eine eher positive Würdigung Maimonides’ – jedoch bei völliger Ausklammerung der Frage nach der Observanz der Halacha – findet sich: Kellermann, Die philosophische Begründung des Judentums, 96: „So ist es Cohen gelungen, nicht nur die

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Mit der Übersetzung der Milchamot haSchem legte Kellermann keine rein historisch-kritische Edition dieses bedeutenden Werkes der jüdischen Philosophiegeschichte vor, sondern zeigte in der, in Fuß- und Endnoten stattfindenden, Auseinandersetzung mit Lewi ben Gerson und seinen Vorgängern und Nachfolgern in konzentrierter Form auch sein eigenes, an Kant und Cohen ausgerichtetes philosophisches Programm. In ausgewogener Form prüfte er den mittelalterlichen Philosophen mit den Mitteln des kritischen Idealismus auf „kulturerzeugende“ Momente und sah trotz deutlicher Kritik an vielen Stellen „Philosophie und Kultur in dem von ihm edierten Text ständig ineinandergreifen, wodurch für ihn der Nachweis der Modernität dieses mittelalterlichen Textes erbracht war.“97

4.2.3 „Eine Versündigung an der jüdischen Wissenschaft“ Nach der Veröffentlichung der beiden Bände erschien zwischen 1914 und 1919 etwa ein Dutzend Rezensionen, die zwischen positiver Bewertung, Nüchternheit und vehementer Ablehnung schwankten. Eine der wohlwollendsten Aufnahmen fand Kellermann bei Viktor Aptowitzer (1871–1942), der an der „Jüdischen Lehranstalt“ in Wien Talmud, Bibel und jüdische Philosophie lehrte, jedoch kein Spezialist für das Mittelalter war. In einem Brief aus dem Jahr 1916 beglückwünschte er Kellermann zu der „hervorragenden Leistung“ und teilte ihm mit, dessen Übersetzung „schon oft in [s]einen Vorlesungen zitiert“ zu haben.98 Ferner hoffte er, dass dieser nun „auch den hebräischen Text mit Ihrer mustergültigen Sorgfalt und gediegenen Bearbeitung der Forschung zugänglich“ mache, denn „[k]einer wäre dazu berufener als Sie, nach dieser Ihrer Vorarbeit.“ Aptowitzers kurz darauf erschienene Besprechung bestätigt das Urteil. Zwar sei nicht jede Schwierigkeit „restlos“ aufgelöst worden, jedoch habe Kellermann „eine schöne, glatte und fließende Übersetzung hergestellt, der man die Schwierigkeit des Originals und die Mühe des Übersetzers nicht im geringsten ansieht.“99 Aptowitzers Wiener Kollege Samuel Krauss (1866–1948), der ebenfalls eher ein Spezialist für antikes Judentum war und vor allem für Das Leben Jesu nach jüdischen Kontinuität zwischen Maimonides und den Propheten evident zu machen, sondern auch zwischen Maimonides und Kant, zwischen philosophischem Judentum und kritischer Philosophie“ (Hrvh. im Orig.). 97 Meyer, Benzion Kellermann, 318. 98 Viktor Aptowitzer an Benzion Kellermann, 5. 3. 1916, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl. Folgendes Zitat: ebd. – Zu Aptowitzer : Landesmann, Peter, Rabbiner aus Wien. Ihre Ausbildung, ihre religiösen und nationalen Konflikte, Wien 1997, 259–261. 99 Aptowitzer, V.[iktor], Zwei Schriften auf dem Gebiete der jüdischen Religionsphilosophie. [Doppelrez. zu Die Kämpfe Gottes, 2 Bde., Berlin 1914–1916 und Guttmann, Jakob, Die religionsphilosophischen Lehren des Isaak Abravanel, Breslau 1916], in: Freie Jüdische Lehrerstimme 5/7–8 (1916), 95–97, hier: 96.

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Quellen (1902) und die dreibändige Talmudische Archäologie (1910–1912) bekannt ist, äußerte sich ausgewogen. Er bemängelte einige Fehler, aber im Ganzen lobte er die Anstrengungen Kellermanns und fasste zusammen: „Kein jüdischer Philosoph des Mittelalters, selbst der große Maimonides nicht, der doch vielfach übersetzt wurde, ist uns durch die Tatsache der Uebersetzung so nahe gerückt worden als unser Gersonides, und das ist Kellermanns Verdienst.“100 Andere Rezensenten bewerteten die Qualität der Übersetzung hingegen als vollends misslungen. Der Posener Rabbiner Philipp Bloch (1841–1923) urteilte in der evangelischen Theologischen Literaturzeitung, dass Kellermann „mit der Begriffs- und Gedankenwelt des philosophischen Mittelalters nicht hinlänglich vertraut“ sei und somit „in seiner Übersetzung leider versagt“ habe.101 Der aus Ungarn stammende und in Karlsruhe wirkende Lehrer Jacob Kramer (1876–1921), der über ein Thema aus der mittelalterlichen jüdischen Philosophie promoviert wurde, veröffentlichte 1917 gar eine neunzehnseitige Streitschrift unter dem Titel Eine Versündigung an der jüdischen Wissenschaft, in der er Aptowitzers und Krauss’ positive Rezensionen scharf kritisierte und noch weit über Blochs negative Besprechung hinausging.102 Der heutzutage vergessene, an verschiedenen ungarischen Jeschiwot, am Hildesheimerschen Rabbiner-Seminar und der Berliner Universität ausgebildete Kramer zeigte wie Husik, dessen Rezension er wohl nicht kannte, die philologischen Mängel an vielen Beispielen auf und forderte: „[D]ie Arbeit muß von der Bildfläche verschwinden, daß keine Spur von ihr übrig bleibe.“103 100 Krauss, S.[amuel], [Rez.] Die Kämpfe Gottes, Bd. 2, in: LZD Nr. 30 vom 28. 7. 1917, 737. Die Rezension zu Band 1 erschien in: LZD Nr. 34 vom 21. 8. 1915, 836f. – Zu Krauss’ Leben und Werk: Landesmann, Rabbiner aus Wien, 256–259. – Aktuell zur Talmudischen Archäologie: Eliav, Yaron Z., Samuel Krauss and the early study of the physical world of the rabbis in Roman Palestine, in: JJS 65/1 (2014), 38–57. 101 Bloch, Philipp, [Rez.] Die Kämpfe Gottes, 2 Bde., Berlin 1914–1916, in: ThLZ Nr. 12 vom 10. 6. 1916, 273f. – Der Bonner Orientalist Horten, Max, [Rez.] Die Kämpfe Gottes, Bd. 1, in: DLZ Nr. 17 vom 24. 4. 1915, 859f und ders., [Rez.] Die Kämpfe Gottes, Bd. 2, in: DLZ Nr. 15 vom 14. 4. 1917, 476 lobte die „reiche Belehrung“ durch Kellermanns fleißigen Kommentar, „wenn auch die wissenschaftliche Durcharbeitung im einzelnen oft viel zu wünschen übrig läßt“ (476). 102 Kramer, Jacob, Eine Versündigung an der jüdischen Wissenschaft, Karlsruhe 1917. – Die Dissertation Das Problem des Wunders in Zusammenhang mit dem der Providenz bei den jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters von Saadia bis Maim˜ni erschien 1903 in Straßburg. Vgl. zu ihm o. Verf., Zum Tod von Stiftsrabbiner und Lehrer an der Schule der Israelitischen Religionsgesellschaft Dr. Jakob Kramer, in: Israelit vom 21. 7. 1921 (http:// www.alemannia-judaica.de/images/Images%20310/Karlsruhe%20Israelit%2021071921.jpg). 103 Kramer, Versündigung, 2 (Hrvh. im Orig.). Zum Folgenden vgl. ebd., 15–19. – Bernfeld, Simon, Literarische Jahresrevue, in: JJGL 18 (1915), 15–55, hier : 35–38 und ders., Literarische Jahresrevue, in: JJGL 20 (1917), 17–40, hier : 25f bespricht Kellermanns Arbeit zunächst wohlwollend, da sie einen Philosophen zugänglich gemacht habe, der in seinem

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Das scharfe Urteil war auch in seinen erfolglosen persönlichen Interventionen gegen die Arbeit begründet. Denn er hatte sich im Juni 1915 brieflich nicht nur an Cohen gewandt und auf die Schwächen der Übersetzung hingewiesen, sondern schon bald nach Erscheinen des ersten Bandes auch an die HWJ mit der Forderung, die Finanzierung des Projekts einzustellen.104 Das Schweigen der „offiziellen Vertreter der jüdischen Wissenschaft“ zu dem Projekt sei ungerechtfertigt, denn „[e]s ist doch kein unverbrüchliches Gesetz, dem man sich bedingungslos unterwerfen muß, daß die Offiziellen ein von der Lehranstalt herausgegebenes, von H. Cohen befürwortetes Werk nicht ablehnen dürfen!“105 Mit seiner scharfen Polemik brach Kramer das respektvolle Schweigen gegenüber der Übersetzung. Zudem verstarb Cohen im April 1918. Die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, das vom Breslauer Seminar herausgegebene Flagschiff der Wissenschaft des Judentums, in der wahrscheinlich aus Respekt vor Cohen auf eine zeitnahe Besprechung verzichtet wurde, veröffentlichte bald nach dessen Tod eine vernichtende Kritik. Der Verfasser war der aus Galizien stammende Rabbiner und Lektor am Wiener Bet haMidrasch (Lehrhaus) Simon Rubin (1865–1945), der das Werk „als total mißlungen“ bezeichnete, denn „Kellermann versteht den hebräischen Text nicht, wie soll er ihn übersetzen können?“106 Zudem fügte der Herausgeber der MGWJ, Markus Brann, am Ende der Besprechung eine Fußnote hinzu, in der er erklärte, dass „[i]nzwischen“ der zweite Teil herausgekommen sei und den Leser auf Kramers Schrift verwies, um sich „über den Wert der Fortsetzung [zu] unterrichten“.107 Mitten im Krieg hatte die Übersetzung die USA erreicht und wurde von dem Historiker und Philosophen Isaac Husik (1876–1939) in der Jewish Quarterly Review besprochen.108 Seine Kritik an Kellermanns Methode, der in seinem

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„Freimut“ sogar Maimonides „übertraf“ (36). Während er jedoch hier keine philologische Bewertung vornimmt, stimmt er Kramer in: JJGL 21 (1918), 16–44, hier : 34f „inhaltlich“ zu, „da seine Ausstellungen und Berichtigungen gerechtfertigt sind“. Er rügt jedoch „die persönlichen Angriffe Kramers“, denn eine „ruhige und sachliche Kritik“ würde der Sache der Wissenschaft des Judentums mehr nützen. Vgl. Kramer, Versündigung, 15–18. Ebd., 15. Rubin, Simon, [Rez.] Die Kämpfe Gottes, Bd. 1, in: MGWJ 63/1 (1919), 71–74, hier : 71f. – Zu Rubin, der über Die Erkenntnistheorie Maimons in ihrem Verhältnis zu Cartesius, Leibniz, Hume und Kant (Bern 1897) promoviert wurde und Talmud, Midrasch und Bibel lehrte: Art. Rubin, Simon, in: Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft: 18. bis 20. Jahrhundert, hg. v. d. Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, in Zusammenarbeit mit Blumesberger, Susanne/Doppelhofer, Michael/Mauthe, Gabriele, Bd. 2: J-R, München 2002, 1160; Landesmann, Rabbiner aus Wien, 99–105. MGWJ 63/1 (1919), 74. Husik, Isaac, Studies in Gersonides, in: JQR 7 (1916/1917), 553–594; JQR 8 (1917/1918), 113–156 u. 231–268. (wieder abgedruckt in: Strauss, Leo/Nahm, Milton C. (ed.), Philosophical Essays of Isaac Husik, Oxford 1952, 186–254).

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Kommentar Lewi ben Gersons „doctrines sub specie aeternitatis, so to speak, or, to be more exact, sub specie Hermanni Cohen“ diskutiere,109 lag in Husiks Auffassung begründet, dass seit dem Aufkommen der Moderne „[t]here are Jews now and there are philosophers, but there are no Jewish philosophers and there is no Jewish philosophy.“110 Für Husik war die Möglichkeit jüdischen Philosophierens in moderner Zeit ausgeschlossen und dies war ein diametraler Gegenentwurf zu dem Denken Kellermanns und Cohens. Als ob Kellermann solche Kritik erwartete, hat er in seinem Vorwort deutlich gemacht, dass er nicht nur eine philologisch-kritische Edition der Milchamot haSchem vorlegen, sondern anhand der Methodik des kritischen Idealismus auch den „kulturerzeugenden“ Wert der Gersonidischen Philosophie herausstellen wollte. Damit unterschied er sich von Forschern, die vornehmlich bibliografisch arbeiteten und lässt sich vielmehr dem Zweig innerhalb der Wissenschaft des Judentums zurechnen, dessen Vertreter, wie der bereits erwähnte JoÚl, versuchten, die mittelalterlichen Philosophen für aktuelle Fragen fruchtbar zu machen. Die philosophische Kritik Husiks besteht unabhängig von der philologischen, die weitaus stärkere Nachwirkungen hatte. Der Rezensent kritisierte die technischen Mängel in „no less than 311 passages“,111 die er in der Folge detailliert auf 120 Seiten darlegte und verbesserte. Damit war das Schicksal der Übersetzung besiegelt. Cohen als Initiator und vehementester Fürsprecher des Werkes war tot und die desaströsen Rezensionen verboten es, an die Publikation weiterer Bände zu denken. Zudem verlagerte sich seit dem Beginn des Nationalsozialismus das Zentrum der Wissenschaft des Judentums von Deutschland nach Palästina/Israel und in die USA. Die Vertreter der eigenständige Wege gehenden Jewish Studies bedienten sich statt des Deutschen von nun an vornehmlich des Englischen und Hebräischen. In Anknüpfung an Husik wurde die Übersetzung von Experten als gescheitert bewertet und hatte dementsprechend keinen Einfluss auf das Studium der mittelalterlichen jüdischen Philosophie im Allgemeinen und des Denkens Lewi ben Gersons im Speziellen.112 109 Ebd., 554. 110 Husik, Isaac, A History of Mediaeval Jewish Philosophy, New York 1916, 432. Ich danke dem anonymen Leser meines Aufsatzes „Kellermann’s German Translation“ für diese Beobachtung. 111 Husik, Studies in Gersonides, in: JQR 7 (1916/1917), 555. 112 1947 kritisierte Georges Vajda scharf: „La traduction allemande de Benzion Kellermann […] ne m¦rite aucune confiance“ (Introduction — la pens¦e juive du moyen –ge, Paris 1947, 234). Charles Touati, der Autor der umfassenden Monografie über Gersonides, geht noch weiter : „En 1914, para„t — Berlin la premiÀre traduction en langue occidentale des Milhamot (Livre I) […] Malheureusement, ce travail ex¦cut¦ avec des moyens nettement ˙ insuffisants est d¦par¦ par d¦plorables contresens […]“ (La Pens¦e philosophique et th¦ologique de Gersonide, Paris 1973, 557). Seymour Feldman bewertete die Übersetzung

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Nachdem Cohen in den Jahren 1908 und 1912 zweimal mit dem Versuch gescheitert war, Kellermann die Dozentur für jüdische Religionsphilosophie an der HWJ zu beschaffen, erwies sich dieses Unternehmen nach Erscheinen der Übersetzung als endgültig aussichtslos. Elbogen korrespondierte zwar mit Gelehrten wie Felix Perles (1874–1933) und Philipp Bloch und bat neben den Gutachten noch einmal um eine Beurteilung der Kämpfe Gottes, bekam jedoch nur dieselben negativen Rückmeldungen. Perles gestand, „kein großes Verlangen“113 nach dem Werk zu haben und Bloch wiederholte in einem Brief seine Fundamentalkritik in noch schärferen Worten als in der ThLZ und unterstützte Kramers Position: Bei meiner Rezension habe ich an ihm gelobt, was ich nur konnte, habe überall meine Vorwürfe durch ein „fast“ zu mildern gesucht u. mich bemüht, jede Schärfe und Spitze zu vermeiden. Aber wer sich in eine Gesellschaft hineindrängen läßt, in die er absolut nicht hineingehört – u. er hat schon im ersten Band gemerkt, daß er nicht hineingehört – , der muß darauf gefaßt sein, daß er hinausgeschmissen werden wird, wenn er es nicht vorzieht, freiwillig fortzugehen. Wenn Sie mir noch dazu berichten, daß er sich 10 Jahre damit abgemüht hat, so ist er gar nicht @69EB für die jüdische Religionsphilosophie. Haben Sie denn einen Begriff von der bodenlosen Unwissenheit, die er auf jedem Blatt entwickelt? […] Überdies ist die Übersetzung, abgesehen von allen Fehlern u. aller Ignoranz – mordsschlecht. […] Es war mir daher eine große Befriedigung, als mir Kramer seine Streitschrift zuschickte114 u. ich habe ihm meine volle Anerkennung ausgesprochen. Er wird sich wohl auch zufrieden geben, wenn Sie ihm mitteilen od. mitteilen lassen, daß das Weitererscheinen der famosen Übersetzung vorläufig eingestellt wird.115

Trotz eigener Vorbehalte suchte Elbogen bezüglich der Dozentur für Kellermann nach einer Kompromisslösung. Dies hatte wohl auch damit zu tun, dass er das Verhältnis der Hochschule zu Hermann Cohen nicht verderben wollte. Doch das Lehrerkollegium stimmte mit den kritischen Rezensenten weitgehend überein und hätte es als eine Blamage empfunden, Kellermann in ihren Reihen zu wissen. Da sich dessen „sehnlichster Wunsch […], als Dozent für jüdische Religionsphilosophie an der Hochschule zu wirken“116 endgültig erledigt hatte, widmete

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als „not reliable“ (Levi ben Gershom/Gersonides, The Wars of the Lord. Book One, translated with an introduction and notes, Philadelphia 1984, 63), ebenso Charles Touati und Bernard R. Goldstein als „unreliable“ (Art. Levi ben Gershom, 699). Dies ist bis heute der Konsens unter Gersonides-Experten, die nie auf Kellermanns Übersetzung oder dessen Kommentare zurückgreifen. Felix Perles an Ismar Elbogen, 2. 2. 1915, LBI New York, AR 64, Box 1, Folder 15, 3 Bl., hier: Bl. 2. Vier Briefe Kramers an Bloch von 1917–1918 finden sich: NLI Jerusalem, Archives Dept, ARC 48 1158. Philipp Bloch an Ismar Elbogen, 11. 3. 1917, LBI New York, AR 64, Box 1, Folder 6, 3 Bl., hier : Bl. 2f. Das hebräische Wort mesogel bedeutet „fähig“. Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York AR 1197, Bl. 4.

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er sich in den folgenden Jahren weiterhin dem Schuldienst, der wissenschaftlichen Textproduktion und -edition und wurde 1917 zum Rabbiner der jüdischen Gemeinde Berlins berufen.

4.3 Mitarbeit an Cassirers Kant-Ausgabe Ernst Cassirer und Benzion Kellermann verband nicht nur eine fachliche Beziehung, sondern die beiden und ihre Frauen pflegten auch eine lebenslange Freundschaft, wie sie sich in den zwei Kondolenzbriefen an Thekla Kellermann vom 26. Juni 1923 ausdrückt. Toni Cassirer sprach der Witwe in bewegten Worten ihr Mitgefühl aus, bezeichnete den Verstorbenen als „einen guten Freund“ und beklagte, ihn aufgrund ihres eigenen „miserable[n] Gesundheitszustand[s]“ schon „seit Jahren nicht mehr gesehen [zu] habe[n]“, wofür es nun zu spät sei.117 Ernst Cassirer zeigte sich trotz des Wissens um Kellermanns schwere Krankheit ebenfalls von dessen Tod „erschüttert“ und stand „in tiefstem und aufrichtigstem Schmerz vor diesem jähen Ende“118 : Jeder, der Ihrem Mann auch nur einigermaßen nahegestanden hat, muss eigentlich das Gefühl haben, daß die Lücke, die sein Tod reisst, sich nie wieder ganz füllen kann. Denn er gehörte zu jenen ganz sicheren und ganz starken Charakteren, die man heute mehr als jemals so notwendig braucht, und denen man doch immer seltener und seltener begegnet. Als den Grundzug seines Wesens habe ich immer eine unbedingte Treue gegen sich und andere und seine unbedingte Wahrheitsliebe empfunden – und an beidem habe ich mich, [1 Wort unleserlich] wenn es sich um wissenschaftliche und philosophische, als wenn es sich um persönliche Fragen handelte, immer von neuem [1 Wort unleserlich] erfreut und gestärkt.

Cassirer und Kellermann hatten beide bei Cohen in Marburg studiert, wurden entscheidend von diesem geprägt und dessen wichtigste Schüler. Darüber hinaus pflegten sie eine lebenslange Freundschaft zu Martha und Hermann Cohen, von dem sie um Mithilfe bei der Drucklegung der dritten Auflage seines Buches Kants Theorie der Erfahrung gebeten wurden, die aber erst nach dessen Tod im Herbst 1918 erschien.119 Kellermann las und zitierte die Schriften Cassirers und auch dieser hatte Kellermanns philosophische Entwicklung nach der Jahrhundertwende verfolgt. 117 Toni Cassirer an Thekla Kellermann, 26. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier: Bl. 1. 118 Ernst Cassirer an Thekla Kellermann, 26. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier: Bl. 1. Folgendes Zitat: ebd. 119 Vgl. Hermann und Martha Cohen an Ernst Cassirer, 16. 3. 1917, in: Cassirer, Ernst, Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen. Mit einem Anhang: Briefe Hermann und Martha Cohens an Ernst und Toni Cassirer 1901–1929, hg. v. Bohr, Jörn, ECN, Bd. 17, Hamburg 2014, 285f. Vgl. dazu den Kommentar von Bohr in: ebd., 286.

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Cassirer lud Kellermann ein, an seiner innerhalb der Universitätsphilosophie hochgelobten120 Edition von Kants Schriften mitzuwirken, die unter der weiteren Beteiligung von Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland und Otto Schöndörffer zwischen 1911 und 1922 in elf Bänden im Berliner Verlag Bruno Cassirer erschien und aufgrund „ihrer hervorragenden Ausstattung auch international ein Erfolg“121 wurde. Kellermann nahm das Angebot an und gab deshalb 1914 nicht nur den ersten Band der von ihm übersetzten Milchamot haSchem heraus, sondern auch Kants Kritik der praktischen Vernunft als fünften Band der Edition.122 Zwei Jahre später zeichnete er verantwortlich für die Herausgabe des siebenten Bandes mit Kants Metaphysik der Sitten und Der Streit der Fakultäten.123 In allen Bänden sind die Interpunktion und Orthografie der Gegenwart angepasst, um ein flüssigeres Lesen zu ermöglichen, nicht aber der Sprachgebrauch Kants selbst, der authentisch abzubilden versucht wird. Zwar gibt es stets ein umfangreiches Lesartenverzeichnis, jedoch fehlt sowohl in den von Kellermann edierten Bänden als auch in den anderen Teilen eine Einführung in das jeweilige Werk Kants, sondern der Anspruch der Ausgabe war es, die Texte bereit zu stellen. Cassirer selbst übernahm diese Aufgabe dann in dem 1918 erschienenen „Erläuterungs- und Ergänzungsband“ Kants Leben und Lehre, in dem er ein glänzendes Portrait Kants, seiner Epoche und seines Denkens zeichnete. Entgegen der „Detailforschung“, die „die lebendige Anschauung von dem, was Kants Philosophie als Einheit und als Ganzes bedeutet, häufig eher gehemmt als gefördert“ habe und „sich vor allem in der Aufdeckung der ,Widersprüche‘ Kants zu gefallen scheint“, zielt Cassirer hier auf eine „Gesamtansicht von Kant und seiner Lehre […], wie Schiller oder Wilhelm von Humboldt sie besessen

120 Während die „Akademie-Ausgabe“ „mit manchem (auch für die wissenschaftliche Arbeit) unnützen Ballast überhäuft ist“, konzentriere sich die vorliegende Ausgabe auf die „authentischen Werke“ Kants und ermögliche dadurch einen besseren Zugang zu dessen Denken, lobte etwa der Gießener Philosophieprofessor Walter Kinkel: [Rez.] Cassirer, Ernst (Hg.), Immanuel Kants Werke, Bd. 1–4, Berlin 1912/13, in: DLZ Nr. 50 vom 12. 12. 1914, 2645–2647, hier: 2646. 121 Meyer, Ernst Cassirer, 61. 122 Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Kellermann, Benzion, in: Cassirer, Ernst (Hg.), Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, Benzion Kellermann, Otto Schöndörffer, 10 Bände + 1 Ergänzungsband, Berlin 1911–1922, Bd. 5, Berlin 1914 (2. Aufl. 1922: 3.–5. Tsd.) (in Bd. 5 ebenfalls: ders., Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft u. Kritik der Urteilskraft, hg. v. Buek, Otto). – Dass kein die Edition betreffender Briefwechsel vorhanden ist, sollte nicht befremden, denn sowohl Cassirer (bis 1919) als auch Kellermann lebten zu der Zeit in Berlin und werden die Details der Ausgabe vor Ort besprochen haben. 123 Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten u. Der Streit der Fakultäten, hg. v. Kellermann, Benzion, in: ebd., Bd. 7, Berlin 1916 (2. Aufl. 1922: 3.–5. Tsd.).

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haben.“124 In dem Vorwort weist der Herausgeber prominent auf die besondere Rolle Cohens für die Ausgabe hin. Jener konnte zwar aufgrund seines Todes im April 1918 nicht mehr den von ihm geplanten Band Kants Bedeutung für die deutsche Kultur beisteuern, doch „bildete seine Denkart zugleich die ideelle Einheit und bezeichnete die gemeinsame sachliche und methodische Grundüberzeugung, die für sie [die Mitarbeiter der Ausgabe, T. L.] in ihrer Arbeit bestimmend und leitend geblieben ist.“ Kellermann stellte dem von ihm bearbeiteten siebenten Band das Faksimile der „Rostocker Handschrift“ Kants voran, auf der sich die Abschrift einer Rezension Friedrich Bouterweks zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre sowie diesbezügliche Randbemerkungen Kants finden lassen. In der Forschung wurde unterschiedlich auf die von ihm edierten Bände reagiert und bis heute gilt Kellermann als „philologisch umstrittene[r] Kant-Herausgeber“.125 Arthur Warda und Gerhard Lehmann ließen kein gutes Haar an Kellermanns Arbeit und warfen ihm, teils berechtigt, teils übertrieben, schwere Fehler in der Transskription der „Rostocker Handschrift“ und der gesamten Editionsarbeit vor.126 Der Philosoph Walther Sange dagegen besprach den Band 1916 überaus positiv und sah den „Hauptwert dieser bisher unbenutzten Rostocker Niederschrift“ darin, „einen genauen Einblick“ in „die Arbeitsweise Kants“ zu geben.127 Die vorherigen Kant-Ausgaben griffen für den Abdruck der Metaphysik der Sitten auf die zweite Auflage (1798) zurück, da die Herausgeber annahmen, dass Kant diese noch redigierte. Kellermann unterstützte mit Blick auf die „Rostocker Handschrift“ diese Annahme, edierte den Text jedoch aufgrund vieler Druckfehler in der zweiten nach der ersten Auflage (1797) und gab die verschiedenen Lesarten dazu. Sange zufolge könne die Edition der Metaphysik der Sitten durch Kellermann „nicht nur als ein gewissenhafter Abdruck, der hier und da Verbesserungen aufweist, angesehen werden, sondern in vieler Hinsicht und vor allem durch die Wiedergabe der Rostocker Handschrift stellt sie bisherigen Ausgaben gegenüber eine Verbesserung dar“. Die Edition des Streits der Fakultäten einbeziehend, urteilte der Rezensent insgesamt: „Mit peinlichster Sorgfalt ist der Text hergestellt und bei der Ausstattung ist an nichts gespart worden. Abgesehen von der Ausgabe der Akade124 Cassirer, Ernst, Aus der Vorrede zur ersten Auflage, in: ders., Kants Leben und Lehre (1918), Berlin 1921 (4.–6. Tausend), Vf. Folgendes Zitat: ebd., VIII. 125 Bayerer, Wolfgang, Charakter als Politikum. Bemerkungen zur Hintergrund-Motivation der überzogenen Negativbewertung des Kant-Herausgebers Benzion Kellermann durch den Kant-Herausgeber Gerhard Lehmann während des Dritten Reiches, Buseck 1986, 19. – Zu Lehmanns überzogener Bewertung im Kontext des Nationalsozialismus vgl. Kap. II.6.1. 126 Dazu differenziert: Bayerer, Wolfgang, Hinweis auf eine Lücke im Text der AkademieAusgabe von Kants Bemerkungen zur Bouterwek-Rezension, in: KantSt 77 (1986), 338–346. 127 Sange, [Walther], [Rez.] Cassirer, Ernst (Hg.), Immanuel Kants Werke, Bd. 7, in: LZD Nr. 37 vom 14. 9. 1916, 727. Folgende Zitate: ebd.

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mie, die einen anderen Zweck verfolgt und ihres hohen Preises wegen nur für Wenige käuflich ist, ist die vorliegende Ausgabe von allen bisherigen die beste und am reichsten ausgestattete.“ Die Neue Zürcher Zeitung besprach 1918 die Edition im Allgemeinen und den von Kellermann herausgegebenen siebenten Band im Besonderen in der gleichen Weise und lobte die Ausstattung, Gestaltung und Unabhängigkeit von der „Akademie-Ausgabe“. Als „von gewaltigster Aktualität“ sah der Rezensent dabei Kants „Beschluß über den Krieg wider den Krieg“ in der Metaphysik der Sitten, in dem es heißt: „Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches Veto aus: Es soll kein Krieg sein“.128

4.4 Die Debatte um die Propheten mit Ernst Troeltsch Von dieser Forderung Kants nach Frieden weit entfernt, hatten sich die Kriegshandlungen 1916 in bisher unbekanntem Maße noch brutalisiert. Die Materialschlachten und der zermürbende Grabenkampf waren neue Kriegsnormalität geworden, die Siegeszuversicht nach den Niederlagen an der Somme und bei Verdun ließ nach und in Deutschland wurde mit immer größerer Verve nach einem Sündenbock129 gesucht. Der Blick traf neben Pazifisten und Sozialdemokraten auch Juden, die als feige beschimpft und mit der „Judenzählung“ diffamiert wurden. In dieser aufgeheizten Situation stieß der protestantische Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch mit seinem Aufsatz „Das Ethos der hebräischen Propheten“ eine vorgeblich religionshistorische Diskussion um die Deutung der biblischen Propheten an, die aber tatsächlich eine gesellschaftspolitische Debatte um die Identität, den Platz und die fortwährende Existenzberechtigung der deutschen Juden als deutsche Juden im Kaiserreich war. Hier lassen sich Parallelen zu anderen, seit der Jahrhundertwende zwischen Christen und Juden geführten Debatten aufzeigen. Beispielsweise der „Babel-Bibel-Streit“130, die von Moritz Goldstein „am Vor128 Bst., [Rez.] Cassirer, Ernst (Hg.), Immanuel Kants Werke, Bd. 7, in: NZZ Nr. 135 vom 27. 1. 1918, 3. Sonntagsblatt. – Das Kant-Zitat: MS, A 233 (Hrvh. im Orig.). 129 Vgl. Mommsen, Auslöschung, 15; Bruendel, Steffen, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, 191–204. Zu Verdun aktuell: Jessen, Olaf, Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts, München 2014. 130 Der „Babel-Bibel-Streit“ wurde 1902 durch den Assyrologen Friedrich Delitzsch (1850–1922) ausgelöst, der weite Teile des Alten Testaments und des Judentums durch die babylonische Kultur und Religion beeinflusst sah. Letztere beurteilte er als dem Judentum religiös und sittlich überlegen. – Vgl. dazu die detaillierten Studien von Johanning, Klaus, Der Bibel-Babel-Streit. Eine forschungsgeschichtliche Studie, Frankfurt a. M. u. a. 1988 und

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abend des Ersten Weltkrieges“ ausgelöste „zentrale Debatte über die Beteiligung der Juden an der deutschen Kultur“131 oder die von Harnack angestoßene Diskussion um das ,Wesen‘ von Christentum und Judentum, an der auch Kellermann partizipiert hatte. Christian Wiese sah korrekt, dass letztere Debatte zwar „im Medium eines Streits über das Verständnis des Judentums zur Zeit Jesu und der Entstehung des Neuen Testaments“ ausgetragen wurde, tatsächlich aber ein „Streit über die Legitimität der Fortexistenz des Judentums in der Moderne“ war.132 Troeltsch deutet die hebräische Prophetie und ihr Ethos national, kulturkritisch und vorwiegend partikular und behauptet von daher, Juden hätten keinen Eigenanteil an der Entwicklung Europas und könnten aufgrund ihrer ,Wesensart‘ an seiner Kultur schwerlich partizipieren. Nicht nur, aber besonders das liberale Judentum fühlte sich von dieser Absage an die erhoffte „christlichjüdische Kultursynthese“ (Eckart Otto) scharf angegriffen und verteidigte seinen Platz in der Geschichte Deutschlands und Europas. Vor allem Cohen und Kellermann widersprachen Troeltsch und bildeten das Zentrum der Diskussion. In der Forschung wurde der Disput zwar des Öfteren dargestellt, jedoch ist eine detaillierte Nachzeichnung der Auseinandersetzung unter Einschluss Kellermanns und seines Werkes ein Desiderat geblieben.133 Ulrich Sieg beschäftigt sich in Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg mit der Debatte zwischen 1915 und 1920.134 Dabei geht er zwar etwas genauer auf die Troeltsch-Replik Kellermanns ein, verwendet aber kaum andere Literatur von ihm und gibt auch keine Auskünfte zu Leben und Werk.

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Lehmann, Reinhard G., Franz Delitzsch und der Babel-Bibel-Streit, Orbis biblicus et orientalis, Freiburg 1994. Sieg, Ulrich, Die Macht gewohnter Deutungsmuster. Zionistische Intellektuelle in Deutschland und der Erste Weltkrieg, in: Seidel, Carlos C. (Hg.), Geheimdienste, Diplomatie, Krieg. Das Räderwerk der internationalen Beziehungen, FS Karsten Krieger, Studies in Intelligence History, Bd. 3, Berlin/Münster 2013, 351–364, hier : 355. – Generell zur sog. „Kunstwartdebatte“: Willemsen, Martina, Fritz Mordechai Kaufmann und die „Freistatt“. Zum ,alljüdischen‘ Literaturkonzept einer deutsch-jüdischen Monatsschrift, Conditio Judaica, Bd. 63, Tübingen 2007, 92–117. Wiese, Schrei ins Leere?, 9. – Vgl. dazu Kap. II.2. Der Verfasser hat versucht, dieses Desiderat zu beheben. Zum einen mit seiner unveröffentlichten Master-Thesis, die von Prof. Dr. Rainer Kampling und Prof. Dr. Michael Bongardt betreut und 2010 von der Freien Universität Berlin unter dem Titel Die Debatte um das „Ethos der hebräischen Propheten“ zwischen Troeltsch, Cohen und Kellermann 1916–1917. Ein Beitrag zum jüdisch-christlichen Disput angenommen wurde. Zum anderen mit einem diese Arbeit zusammenfassenden Aufsatz, der 2011 publiziert wurde: Die Debatte um das „Ethos der hebräischen Propheten“. Ein gesellschaftspolitischer Streit um die Zugehörigkeit des deutschen Judentums im Ersten Weltkrieg, in: Judaica 67/3 (2011), 263–288. Das vorliegende Kapitel verwendet in weiten Teilen Material der zwei genannten Studien. Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, 217–231. Das Kapitel ist bis auf den Schluss unverändert übernommen in: ders., Der Streit um das „Ethos der hebräischen Propheten“, in: METG 15 (2002), 1–20.

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Darüber hinaus wurde die Debatte in weiteren Monografien und Aufsätzen untersucht. Ihnen allen ist dabei gemeinsam, dass auf eine nähere Erforschung des wichtigsten Opponenten Kellermann verzichtet und übersehen wird, dass die Diskussion einen gesellschaftspolitischen Subtext hatte. In Judentum und Modernisierung gelingt es Karlheinz Schneider, in einem knappen Überblick die Vehemenz der Verteidigung der wissenschaftlich-rationalen Methode Kellermanns gegenüber der erfahrungswissenschaftlichen Methode Troeltschs zu erweisen und ordnet die Debatte zu Recht in den Kontext der erwähnten christlichjüdischen Auseinandersetzungen seit der Jahrhundertwende ein. Aber sowohl die politische Dimension der „Kellermann-Troeltsch-Kontroverse“135 als auch die Biografie und das Werk Kellermanns bleiben unberücksichtigt. Die Debatte wird ebenfalls in Wendell S. Dietrichs Cohen and Troeltsch und in Robert Schines Jewish Thought Adrift untersucht, aber auch hier ohne kontextuelle Informationen zu Kellermann.136 Der Alttestamentler und Max Weber-Herausgeber Eckart Otto setzt sich in einem Aufsatz mit dem Disput um die Propheten auseinander, erwähnt Kellermann trotz dessen umfassender Antwort auf Troeltsch jedoch nur in einer Fußnote.137 Für die Forschung bedeutende Hinweise zur Entstehung von Troeltschs Schrift im Kontext der Weberschen Publikationen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik lieferte Otto schon in seiner 2002 erschienenen Monografie zu Max Webers Studien des Antiken Judentums.138 Im Folgenden soll die Debatte zwischen Kellermann und Troeltsch anhand einer systematischen Lektüre ihrer Texte ausführlich nachgezeichnet und auf ihr gesellschaftspolitisches Moment hin befragt werden.

135 Schneider, Karlheinz, Judentum und Modernisierung. Ein deutsch-amerikanischer Vergleich 1870–1920, Frankfurt a. M. 2005, 356–361, hier: 357. 136 Dietrich, Wendell S., The Prophetic Ethos in Dispute, in: ders., Cohen and Troeltsch. Ethical Monotheistic Religion and Theory of Culture, BJSt, Bd. 120, Atlanta/Georgia 1986, 29–43; Schine, Max Wiener, 54–67. – Erwähnt wird die Debatte auch bei Meyer, Ernst Cassirer, 78; Wiese, Schrei ins Leere?, 205. – Sowohl die Biografie von Köhler, Walther, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, 166f, als auch von Drescher, Hans G., Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, 482–484 gehen auf den Propheten-Aufsatz ein, erwähnen aber mit keinem Wort die sich daran anschließende Debatte. 137 Otto, Eckart, Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese, in: Schluchter, Wolfgang/Graf, Friedrich W. (Hg.), Asketischer Protestantismus und der Geist des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, 201–255. 138 Ders., Max Weber und Ernst Troeltsch zur hebräischen Prophetie. Eine Interaktion zwischen Soziologie und Religionsphilosophie, in: ders., Max Webers Studien des Antiken Judentums. Historische Grundlegung einer Theorie der Moderne, Tübingen 2002, 246–275.

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4.4.1 Troeltsch: Die universalistische Transformation des partikularen prophetischen Ethos durch das Christentum Der in ein nationalliberales, protestantisches, bildungsbürgerliches Elternhaus hineingeborene Arztsohn Ernst Peter Wilhelm Troeltsch studierte evangelische Theologie in Erlangen, Berlin und Göttingen, wo er von den Philosophen Hermann Lotze und Gustav Claß, den Systematischen Theologen Albrecht Ritschl und Julius Kaftan, dem Alttestamentler Bernhard Duhm, den Orientalisten Wellhausen und Lagarde sowie dem Historiker und Auslöser des „Berliner Antisemitismusstreits“ Treitschke geprägt wurde.139 Sie alle hatten Einfluss auf das vielfältige Œuvre des später national und international renommierten Theologen und Kulturphilosophen, der 1891 fast zeitgleich mit den Kollegen Heinrich Hackmann, Alfred Rahlfs, Wilhelm Bousset, Johannes Weiß, William Wrede und Hermann Gunkel habilitiert wurde. Zusammen bildeten sie den Kern der „Kleinen Göttinger Fakultät“140, aus der später die bedeutsame „Religionsgeschichtliche Schule“141 mit ihrer Forderung nach unbedingter Historisierung des Christentums hervorging. Nach einer außerordentlichen Professur in Bonn 1892 wurde er zwei Jahre später Ordinarius für Systematische Theologie in Heidelberg. Der als führender theologischer Krisendiagnostiker um 1900 geltende Troeltsch verfolgte ähnlich seinem Freund, Kollegen und zeitweiligen Mitbewohner Max Weber das Ziel, die moderne Gesellschaft in ihrer Wertpluralität zu untersuchen.142 Der diagnostizierten kultu139 Zu Leben und Werk: Wesseling, Klaus-Gunther, Art. Troeltsch, Ernst, in: BBKL 12 (1997), 497–562, URL: http://bautz.de/, abgerufen am 19. 5. 2014; Graf, Friedrich W., Ernst Troeltsch, in: ders. (Hg.), Klassiker der Theologie, Bd. 2: Von Richard Simon bis Karl Rahner, München 2005, 171–189; ders./Ruddies, Hartmut (Hg.), Ernst Troeltsch Bibliographie, Tübingen 1982. – Zum Studium vgl. Renz, Horst, Troeltschs Theologiestudium, in: ders./ Graf, Friedrich W. (Hg.), Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte, TSt 1 (1982), 48–59. – Zum ambivalenten Verhältnis zu Lagarde, gegen den Cohen im „Marburger Antisemitismusprozess“ 1888 die Ehre des Talmuds und des Judentums verteidigt hatte: Troeltsch, Ernst, Theologie und Religionswissenschaft des 19. Jahrhunderts (1902), KGA 1, 895–923, hier : 922f; Drescher, Hans-Georg, Ernst Troeltsch und Paul de Lagarde, in: METG 3 (1984), 95–115; Sieg, Ulrich, Ernst Troeltschs Haltung zu Paul de Lagarde. Einige unbekannte Dokumente, in: METG 19 (2006), 31–54. 140 Vgl. Graf, Friedrich W., Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: TSt 1 (1982), 235–290. 141 Vgl. dazu Lüdemann, Gerd/Schröder, Martin, Die religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987. Kritisch dazu: Köpf, Ulrich, Kirchengeschichte oder Religionsgeschichte des Christentums. Gedanken über Gegenstand und Aufgabe der Kirchengeschichte um 1900, in: Graf, Friedrich W./Müller, Hans Martin (Hg.), Der deutsche Protestantismus um 1900, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Bd. 9, Gütersloh 1996, 42–66. 142 Vgl. Graf, Friedrich W., Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu Max Weber und Ernst Troeltsch, in: Mommsen, Wolfgang J./Schwentker, Wolfgang (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen/Zürich 1988, 313–336; Schluchter/Graf (Hg.), Weber

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rellen Krise wollte er durch ihre Versöhnung mit einem erneuerten, auf die aktuell drängenden Fragen antwortenden, christlichen Glauben begegnen. In den 1912 erschienenen Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen versucht er, den christlichen Glauben von den in seinen Augen überkommenen Dogmen zu befreien.143 Statt ihrer stellt Troeltsch die Geschichte in den Mittelpunkt seines Nachdenkens über Kultur, Philosophie und Religion, wie es 1922 in dem groß angelegten, aber unvollendet gebliebenen Der Historismus und seine Probleme Niederschlag fand. Er war sich aber dennoch stets der Probleme der „grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte“144 bewusst und versuchte zu begründen, wie in der wertepluralen Moderne mit Hilfe der christlichen Ethik noch allgemeingültige Handlungsnormen ausgebildet werden können. In die philosophischen Diskurse der südwestdeutschen Neukantianer und in den Methodenstreit der deutschen Historiker über den Historismus eingebunden, wollte Troeltsch das Christentum in das 20. Jahrhundert hinüberretten und fragte eben deshalb nach den Möglichkeiten seiner Verbindung mit den zeitgenössischen Wissenschaften und kulturellen Lebensformen. Nur ein ausreichend historisch reflektiertes und modernitätskompatibles Christentum könne seine Attraktivität in einer Umbruchszeit wie der seinen bewahren. Den Ersten Weltkrieg rechtfertigte Troeltsch, wie viele zeitgenössische Intellektuelle, als Verteidigungskrieg und begrüßte seinen Ausbruch als „Erwachen des ,Volksgeistes‘“145. Doch die Begeisterung über die auch religiös geeinte ,Volksgemeinschaft‘, die er in dem 1916 verfassten Essay „Die Ideen von 1914“146 mit nationalistischem Pathos zum Ausdruck bringt, schlug ähnlich wie die Webers an der Wende zum Jahr 1917 in eine Gesinnung um, die einen Ver-

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und Troeltsch. – Zu Webers Biografie knapp, aber prägnant: Kaube, Jürgen, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 22014. Troeltsch, Ernst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, GS I, Tübingen 1912. Ders., Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), KGA 16/1, 281. Pfeiffer, Arnold, Art. Troeltsch, Ernst, in: Asendorf, Manfred/Bockel, Rolf von (Hg.), Demokratische Wege. Ein biographisches Lexikon (1997), Sonderausgabe Stuttgart/Weimar 2006, 645–647, hier : 646. – Zu Troeltschs Wirken zwischen 1914 und 1918 vgl. Ruddies, Hartmut, Gelehrtenpolitik und Historismusverständnis. Über die Formierung der Geschichtsphilosophie Ernst Troeltschs im Ersten Weltkrieg, in: Graf, Friedrich W. (Hg.), Ernst Troeltschs „Historismus“, TSt 11 (2000), 135–163, bes. 146–160; Flasch, Kurt, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000, 36–47, 55–61 u. 147–173; Sösemann, Bernd, Das „erneuerte Deutschland“. Ernst Troeltschs politisches Engagement im Ersten Weltkrieg, in: Renz, Horst/Graf, Friedrich W. (Hg.), Protestantismus und Neuzeit, TSt 3 (1984), 120–144. Troeltsch, Ernst, Die Ideen von 1914 (1916), in: ders., Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hg. v. Baron, Hans, Tübingen 1925, 31–58.

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ständigungsfrieden mit den Kriegsparteien und innenpolitische Reformen mit dem Ziel einer demokratischen Sozialmonarchie147 forderte. Troeltsch war liberal ausgerichtet und betätigte sich vor, während und nach dem Krieg aktiv politisch. Seit dem zweiten Kriegsjahr war er ein Berater des Reichskanzlers Bethmann Hollweg und kandidierte nach dem Krieg für die Deutsche Demokratische Partei.148 Nach über 20 Jahren in Heidelberg wechselte Troeltsch 1915 an die Berliner Universität und wurde der Nachfolger Wilhelm Diltheys. Indem er dort weiter die Frage nach der Geltungsmöglichkeit des christlichen Glaubens in einer sich säkularisierenden kapitalistischen Moderne stellte, bedachte Troeltsch die Grundlagen des Christentums systematisch neu und gelangte Ende 1917 zu der Forderung einer die radikalen Nationalismen überwindenden „Kultursynthese des Europäismus“, die aber in ihrer religiösen Identität christlich grundiert blieb. Dieser Ansatz Troeltschs, die Theologie der Moderne als eine historisch und psychologisch fundierte Kulturwissenschaft des Christentums zu verstehen, wurde nach den Erschütterungen des Weltkrieges und nach seinem Tod am 1. Februar 1923, vier Monate vor dem Dahinscheiden Kellermanns, in der protestantischen Theologie alsbald von einem antihistoristischen, offenbarungstheologischen Denken verdrängt, für das repräsentativ Karl Barth, Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann, Paul Tillich und ihre Schüler stehen.149 Am 17. Dezember 1915 hielt Troeltsch einen Vortrag über „Israelitische Prophetie“ vor der „Religionswissenschaftlichen Vereinigung zu Berlin“, die zwei Jahre zuvor von dem jüdischen klassischen Philologen und Religionswissenschaftler Ernst Samter (1868–1926) gegründet wurde. Dem Referat schloss sich eine Diskussion mit dem von Samter eingeladenen Kellermann als Vertreter der jüdischen Religion an.150 Kellermann verwandt, den nationalen Standpunkt 147 Vgl. Sato, Shinchi, Die Polarisierung der Geister im Ersten Weltkrieg am Beispiel eines Vergleichs von Ernst Troeltsch zu Gottfried Traub, in: METG 9 (1995/96), 11–17, hier: 12f. u. 17. 148 Troeltsch verfasste nach 1918 die sog. „Spektatorbriefe“, die als Glanzstücke der zeitgenössischen politischen Publizistik gelten: Troeltsch, Ernst, Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Johann Hinrich Claussen, Frankfurt a. M. 1994. 149 Vgl. dazu Fischer, Hermann, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 9–61; Nowak, Kurt, Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Renz, Horst/Graf, Friedrich W. (Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, TSt 4 (1987), 133–171. 150 Vgl. Cohen, Hermann, Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, Werke 17, 493–501, hier : 495; o. Verf., Ein Vortrag von Geheimrat Dr. Troeltsch, in: Berliner Tageblatt und Handelszeitung Nr. 645 vom 18. 12. 1915, 2. Beiblatt; o. Verf., Ernst Troeltsch über die israelitische Prophetie, in: Heidelberger Tageblatt Nr. 298 vom 21. 12. 1915.

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jedoch noch deutlicher als dieser formulierend, forderte Samter „ein auf die ethischen Lehren der Propheten gegründetes deutsches Judentum“ und war Gründungsmitglied der „Vereinigung für das liberale Judentum“, in der auch Kellermann aktiv war.151 Das von Troeltsch zwischen Oktober und Dezember 1915 ausgearbeitete Vortragsmanuskript152 wurde dann im Juli 1916, im ersten Heft des Jahrgangs 1916/17 der Zeitschrift Logos, bei der er selbst Redakteur war, unter dem Titel „Das Ethos der hebräischen Propheten“ veröffentlicht.153 Eine geringfügig überarbeitete und mit Zusätzen versehene Fassung des Essays findet sich in dem 1925 posthum von Hans Baron herausgegebenen vierten Band der „Gesammelten Schriften“.154 Der Logos hatte zu dieser Zeit an intellektueller Strahlkraft eingebüßt und Troeltsch, der nach Auskunft des zeitgenössischen Theologen Bruno Violet „in der Wissenschaft wirkt wie die Unruhe in der Uhr“155, beabsichtigte zum einen, mit dem Aufsatz das Renomee der Zeitschrift wieder zu steigern und eine die Fachgrenzen übersteigende Debatte anzuregen. Zum anderen machte Troeltsch in zwei Briefen an Heinrich Rickert deutlich, dass der Essay für ihn vor allem kulturphilosophischen Wert besitze156 und ihm bei dessen Abfassung „jede religiöse Tendenz ganz fern gelegen [habe]“157. Seine Relevanz bestehe dagegen in der Darstellung und Beurteilung des prophetischen Ethos sowie seiner Aufnahme und Weitervermittlung durch das Christentum in die europäischen Gesellschaften. Als Angriffsfläche dient ihm dabei der Marburger Neukantianismus, besonders dessen Oberhaupt Cohen, der das Judentum mit Hilfe der Philosophie Kants unrechtmäßig in eine reine Vernunftreligion verwandeln wolle. Dies muss auch auf der Folie der beinahe persönlichen Feindschaft der beiden Gelehrten gesehen werden, die bis zu Cohens Tod anhielt und seit etwa 1910 bestand, als sie beim „Fünften Weltkongress für freies Chris151 Vgl. Unte, Wolfhart, Art. Samter, Ernst, in: NDB 22 (2005), 410f, URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd116779306.html, abgerufen am 9. 3. 2014. Zitat: Samter, Ernst, Deutsches Judentum, in: LJud 9/1–2 (1917), 1–4, hier : 4 (Hrvh. im Orig.). 152 In einem Brief an Heinrich Rickert vom 9. Dezember 1915 gibt Troeltsch an, dass er den Prophetenaufsatz „fertig“ habe und an den „Logos“ schicken will (Troeltsch, Ernst, Briefe an Heinrich Rickert, eingeleitet u. hg. v. Graf, Friedrich W., in: METG 6 (1991), 108–128, hier : 114). – Vgl. zur Datierung auch Otto, Webers Studien des Antiken Judentums, 265–269; Graf/Ruddies (Hg.), Ernst Troeltsch Bibliographie, 143f. 153 Troeltsch, Ernst, Das Ethos der hebräischen Propheten, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie und Kultur 6 (1916/17), 1–28. 154 Ders., Glaube und Ethos der hebräischen Propheten, in: ders., Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, GS IV, hg. v. Baron, Hans, Tübingen 1925, 34–65 (Zusätze: 818–821). – Eine kritische Edition wird in der KGA 11 vorgelegt werden. 155 Violet, Bruno, [Rez.], Kellermann, Benzion, Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung (1917), in: ChW 32/40–41 (1918), 381f, hier : 381. 156 Vgl. Troeltsch, Brief an Rickert vom 9. 12. 1915, in: Briefe an Rickert, 114. 157 Ders., Brief an Rickert vom 9. 1. 1917, in: ebd., 116–119, hier : 119.

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tentum und religiösen Fortschritt“ in Berlin ihre Auffassungen über die Aufgaben und den Inhalt der jüdischen und christlichen Religion dargelegt hatten.158 In weiten Teilen bezieht Troeltsch sein Quellenmaterial für den Prophetenaufsatz aus Bernhard Duhms (1847–1928)159 exegetischen Arbeiten, dessen Vorlesungen über „Psalmen“ und „Religionsgeschichte“ er zwischen 1886 und 1887 gehört hatte.160 Bereits 1898 setzt er sich in seinem Aufsatz „Zur theologischen Lage“ intensiv mit Duhm und der alttestamentlichen Prophetie auseinander und erkennt deren Relevanz für die jüdische und christliche Religion.161 Bei dem Alttestamentler findet er seine Überzeugung wieder, dass Frömmigkeit „aus einer innern [sic] Berührung mit der übersinnlichen Welt hervorgehe, daß sie nicht ein Erzeugnis des Menschen, sondern ein Werk Gottes sei“162. Für die Erforschung von Religionen seien demnach weniger das religiöse Durchschnittsbewusstsein, als vielmehr die außergewöhnlichen Gestalten mit ihrem geheimnisvollen, mystischen, undogmatischen und irrationalen Habitus wichtig, weshalb den Propheten in der Religionsgeschichte eine solch außerordentliche Rolle zukomme.163 Tief in der historisch-kritischen Tradition der Bibelwissenschaft verwurzelt, übernimmt der „Religionsintellektuelle“ (Friedrich W. Graf) in seinem Aufsatz häufig deren Ergebnisse und Urteile über die jüdische Religion, was neben Duhm etwa die starke Rezeption von Thesen Wilhelm Vatkes164 und Wellhausens beweist.165 Soziologisch und historisch rezipiert Troeltsch die 1912 erschienene Monografie Sociological Study of the Bible von Louis Wallis, die er auch rezensiert

158 Cohen, Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt; Troeltsch, Ernst, Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums im Verhältnis zur modernen Philosophie (1910), in: GS 2, hg. v. Baron, Hans, Tübingen 1922, 837–862. 159 Zu Leben und Werk vgl. Smend, Rudolf, Art. Duhm, Bernhard, in: RGG4 2 (1999), 1013. 160 Vgl. Drescher, Ernst Troeltsch, 48; Renz, Troeltschs Theologiestudium, 52 u. 56. – Vgl. zu seiner Prägung durch Duhm: Otto, Prophetie, 213f; Drescher, Troeltsch und Lagarde, 97–100. 161 Troeltsch, Ernst, Zur theologischen Lage (1898), KGA 1, 683–704. Der zweite Teil des Aufsatzes würdigt die Arbeit Duhms: 692–704. 162 Ebd., 690. 163 Vgl. etwa Duhm, Bernhard, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn 1875; ders., Das Geheimnis in der Religion. Vortrag gehalten am 11. Februar 1896, Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, Bd. 1, Tübingen 2 1927; ders., Israels Propheten, Lebensfragen, Bd. 26, Tübingen 1916. 164 Zur Auseinandersetzung mit Vatke: Troeltsch, Theologie und Religionswissenschaft, 916f. 165 Die zumeist antijüdisch konnotierte Sicht auf das Judentum unter deutschen Alttestamentlern zwischen 1850–1950 untersucht: Kusche, Ulrich, Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler. Zur Kritik theologischer Geschichtsschreibung, SKI, Bd. 12, Berlin 1991.

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hatte.166 An dem Buch faszinierte ihn Eckart Otto zufolge die „Problemkonvergenz zwischen dem antiken Israel und dem modernen Deutschland“, denn wie das prophetische Ethos Jahrtausende zuvor heilend in den wirtschaftlichen Kreislauf eingegriffen habe, könne auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts die (christliche) Religion „eine produktive Funktion in der Überwindung der ökonomischen Krisen [ausüben]“167. Daran wird deutlich, dass der Aufsatz über die Propheten „in der Rekontextualisierung von biblischen Ideen der Antike in einer Kultursynthese in der Moderne“ nicht allein eine historische Darstellung bieten will, sondern von dieser ausgehend Antworten auf politische, soziale und ökonomische Fragen sucht, die sich zu Beginn des Jahrhunderts und während des Ersten Weltkrieges stellten. Ferner übernimmt Troeltsch Behauptungen Max Webers, etwa die These vom Judentum als „Pariavolk“. Zudem fasziniert ihn methodisch dessen idealtypisches Denken, dass davon ausgeht, dass Ideen, von ihrem historischen Entstehungskontext losgelöst, Entwicklungen entfalten können, die in ihren „Ursprungselementen gar nicht enthalten waren“: „Von der Entstehungsgeschichte löst das Entstandene sich ab, holt aus sich einen eigenen und neuen Sinn hervor und formt sich in tausend neuen Beziehungen bis zur Unkennbarkeit um“ (4).168 Weber untersucht in der Protestantischen Ethik in diesem Sinn die Bedeutung von Elementen des protestantischen, vor allem puritanisch-calvinistischen Glaubens für die neuzeitliche Entwicklung einer spezifisch okzidentalen Rationalität und des in ihr vorherrschenden Kapitalismus.169 Die Frage, „wie Ideen in der Geschichte wirken“170 hatte großen Einfluss auf Troeltsch und ist für ihn der hermeneutische Schlüssel, um die Ethik der alttestamentlichen Propheten in ihrer Aufnahme und Transformation durch Jesus und die christliche Religion zu untersuchen. Troeltsch erkennt innerhalb der zeitgenössischen Religionswissenschaft eine „positivistisch-empiristische“ und eine „idealistisch-transzendentale“ Strömung (1f). Ersterer gelte die Religion und ihre praktische Ausübung allein als ein Anhängen an alten romantisch-primitiven Vorstellungen, die, nach dem 166 Wallis, Louis, Sociological Study of the Bible, Chicago 1912; Troeltsch, Ernst, [Rez.] Wallis, Sociological Study of the Bible, in: ThLZ 38 (1913), 454–458. 167 Otto, Prophetie, 215. Folgendes Zitat: ebd., 220. 168 Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die Seitenzahlen im Fließtext im Folgenden auf Troeltsch, Das Ethos der hebräischen Propheten (1916) und sind alle Hervorhebungen originalgetreu. 169 Weber, Max, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Frankfurt a. M. 2006, 23–183. 170 Vgl. Schluchter, Wolfgang, „Wie Ideen in der Geschichte wirken“. Exemplarisches in der Studie über den asketischen Protestantismus, in: ders./Graf (Hg.), Weber und Troeltsch, 49–73.

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„Drei-Stadien-Gesetz“ Auguste Comtes,171 seit der Aufklärung durch die modernen, empirisch verfahrenden, Wissenschaften schrittweise überwunden werden. Die zweite Strömung hingegen versuche im Anschluss an die Philosophie Kants den einen Ursprungspunkt, der alle Religionen der Welt miteinander verbinde, „innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft herauszuarbeiten und zur Menschheitsreligion der Zukunft werden zu lassen“ (2), in der die religiöse mit der moralisch-ethischen Idee koinzidiere. Dies ist ein Seitenhieb auf die Verbindung der jüdischen Religion mit Kant durch Cohen und weite Teile des zeitgenössischen Judentums. In diesem Zusammenhang weist Troeltsch auch den religiösen Sozialismus Cohens und Kellermanns zurück, den diese vor allem auf den prophetischen Messianismus stützten und als Antwort auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Zeit propagierten: „Es ist also schlechterdings kein Vernunftrecht, keine Verkündigung sozialer Sittlichkeit an sich. Mit Humanität und Freiheit oder gar Demokratie und Sozialismus im modernen Sinne hat diese [prophetische, T. L.] Ethik keinen Faden gemeinsam“ (18). Beide oben genannten Theorien würden die von Troeltsch abgelehnte „Entwickelungslehre“ (2) und den Versuch teilen, durch unangemessene Rationalisierung den Offenbarungscharakter von Religion zu negieren. Sie würden der Realität von religiösen Individuen und Gruppen aber nicht gerecht, die „vielmehr eine immer und überall, wenn auch verschieden stark auftretende Erregbarkeit und Reizbarkeit des religiösen Gefühls“ zeigten (3). Dies sei nur „zu verstehen und nachzufühlen, aber wenig zu erklären und herzuleiten“ (3), denn das religiöse Gefühl müsse als eine Konstante menschlichen Lebens anerkannt werden, die nicht rational-wissenschaftlich erklärt werden könne. Religion sei, wie Troeltsch es schon 1902 formuliert, immer ein subjektives Erlebnis, denn die „Offenbarung des Göttlichen […] ist jedesmal ein rein innerer Vorgang, […] von uns erst instinktiv und unbewußt und dann reflektierend und denkend ausgesprochen in Bildern und Symbolen“172. Die Methodik des Nachfühlens ist möglicherweise von der „Erzähltechnik einschmiegsamen Nachempfindens“173 des mit Troeltsch im Heidelberger „Eranos-Kreis“ zusammentreffenden Erich Marcks geprägt. Mit Sicherheit ist sie jedoch von der „divinatorische[n] Hermeneutik“174 in Duhms Exegese inspiriert: „,Das beste, 171 Vgl. Bock, Michael, Auguste Comte (1798–1857), in: Kaesler, Dirk (Hg.), Klassiker der Soziologie, Bd. 1: Von Auguste Comte bis Alfred Schütz, 5., überarb. u. akt. Aufl., München 2006, 39–57, hier: 43f. 172 Troeltsch, Theologie und Religionswissenschaft, 906f. 173 Graf, Friedrich W., [Rez.] Nordalm, Jens, Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861–1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft, Berlin 2003, in: METG 17 (2004), 131–133, hier : 131. 174 Otto, Max Webers Studien, 247.

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was man tun kann, ist versuchen, in die Persönlichkeit des Schriftstellers selber so tief wie möglich einzudringen‘“175. Methodisch stand Troeltsch den Marburgern um Cohen größtenteils ablehnend gegenüber, denn bezüglich der angemessenen Erkenntnis und Beurteilung von kulturgeschichtlichen und religiösen Phänomenen müsse gegen deren sich als objektiv verstehende Methodik die des „nachfühlenden Verstehens“ gesetzt werden. Der Kulturphilosoph versucht in seinem Essay, tief in das Phänomen der Prophetie vorzustoßen, und durch Einfühlen ihrem Wahrheitsgehalt näher zu kommen. Er referiert die Entwicklung der Sittlichkeit und Prophetie innerhalb der Geschichte Israels, wie sie in der zeitgenössischen Bibelwissenschaft dargestellt wurde. Dabei versteht er unter Propheten und „Prophetismus“ nicht nur die eigentlichen prophetischen Gestalten wie Jesaja oder Ezechiel, sondern auch „das Prophetengesetz, das sog. Deuteronomium, und die prophetisch gefärbte Urgeschichte“ (16), deren Umfang er aber nicht näher definiert. Die Propheten hätten die Existenz einer alten idealen Ethik der vorstaatlichen und Königszeit propagiert, zu der zurückzukehren sie von den Israeliten verlangten. Dafür würden sie die Form „der orgiastischen Mantik mit Orakeln, Visionen und Offenbarungen, Fluchformeln und Defixationen, Namenzauber und Zwang durch symbolische Handlungen“ verwenden (9). Die Propheten hätten dazu aufgefordert, den in der Tora niedergelegten Forderungen Treue zu erweisen, um Unheil abzuwenden. „Diese Gebote sind teils religiös-kultische […], teils sind sie sittliche und rechtliche und bedeuten die gute alte Sitte Israels.“ (14) In ihren Aussagen lasse sich keine „religiöse und keine allgemeine rationale Sittlichkeit“ erkennen (16), sondern die prophetischen Zeugnisse selbst trügen vielmehr „Züge einer alten einfachen bäuerlichen und kleingewerblichen Sitte mit manchen Resten aus der alten Nomadenzeit“ (16), in denen sich immer dieselben „einfachen Forderungen“ fänden: „Gerechtigkeit gegen Witwen und Waisen“, „Freiheit und Ehre“, „Unterhaltspflicht gegenüber dem Armen“ und „Milde“ (17). Diese auf dem biblischen Text beruhende Behauptung war keineswegs auf christliche Theologen beschränkt. So hat bereits Max Wiener 1909 in Die Anschauungen der Propheten von der Sittlichkeit argumentiert, obwohl er zu dieser Zeit noch nicht bei Troeltsch studierte, sondern als treuer Schüler Cohens galt. Zwar geht auch er von einem Primat des Sittlichen bei den Propheten aus, aber besteht dennoch darauf, „dass die philosophische Interpretation der Propheten nicht deren Selbstverständnis entspreche: Sie sahen sich gar nicht als Begründer einer neuen, reinen Sittlichkeit, sondern glaubten, bloß die gute alte Sitte wie175 Duhm, Bernhard, Vorwort zur 1. Auflage 1892, in: ders., Das Buch Jesaia. Übersetzt und erklärt von demselben. Mit einem biographischen Geleitwort, beruhend auf der 4., neu durchges. Aufl. von 1922, Göttingen 51986, 3f, hier : 3.

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derherzustellen.“176 Cohen und Kellermann schätzen die „einfachen Forderungen“ nach „Milde“ und „Gerechtigkeit“ zwar ebenso hoch ein, der trennende Unterschied besteht aber in der rationalen Überhöhung dieser Ideen. Während Troeltsch sie historisch als die „gute alte Sitte“ eines partikularen Stammesverbandes versteht, sehen diese hier zwar nicht eine rein philosophisch erkannte, aber intuitiv erfasste universale Ethik. In der Geschichtsdeutung der Propheten habe Israel Troeltsch zufolge diese reine Ethik verlassen, wofür es durch den Schöpfer- und Weltgott JHWH verschiedene Strafen, wie die Zerstörung des Ersten Tempels oder das Exil erlitten habe. Durch dieses Erziehungskonzept hätten sich die Leidensbereitschaft und das Mitleid erweitert und sei die Fürsorge gegenüber dem Volksgenossen zur Menschenliebe ausgedehnt worden. Somit hätte sich die prophetische Ethik schon ein Stück von der „bäuerlichen Härte und Selbstgerechtigkeit“ der alten Sitte in der vorstaatlichen und Königszeit entfernt (20). Die exilischen Propheten hätten mit ihren Botschaften das Verhältnis Israels zu seinem Gott so transformiert, dass eine Form der „alte[n] Nachbarschaftsethik ohne ihren harten Vergeltungscharakter und ihren derben Nützlichkeitsstandpunkt“ entstanden sei, die als „Ethik der Brüderlichkeit“ bezeichnet werden könne (21f). Sie hätten also in Erinnerung an das ethische Ideal der vorexilischen Zeit, durch das Drängen auf die „strengste Beschränkung auf das eigene völkische Dasein“ (10) und die Forderung nach unbedingter JHWH-Treue die Reste des Volkes in Israel und in der Diaspora zusammengehalten und deswegen am Überleben der Stämmegemeinschaft den entscheidenden Anteil gehabt. Die Situation der aus dem babylonischen Exil Zurückkehrenden sei den prophetischen messianisch-utopischen Vorstellungen eines Gottesreiches, „wo Jahves Wille überall geschehen und Israel über seine Dränger und Feinde glanzvoll herrschen werde“ (7) aufgrund der Fremdherrschaft der Perser nicht gerecht geworden. Die Israeliten hätten durch strengste Observanz „im Gesetze den strengen Zaun um sich [gezogen]“ und somit den prophetischen Monotheismus in eine „enge Verschalung“ (7) eingeschlossen. Wellhausen fasste diesen Vorgang mit folgenden Worten zusammen: „Aus dem Exil kehrte nicht die Nation zurück, sondern eine religiöse Sekte“177. Troeltsch übernimmt die einseitige These Vatkes und Wellhausens von der nachexilischen Ausbildung der „Jerusalemer Kultgemeinde“, die die Trennungsscheide zwischen dem ,alten Israel‘ mit seinem „urwüchsigen“ Glauben und dem ,Judentum des Gesetzes‘

176 Weidner, Daniel, Max Wiener. Säkularisierung und das Problem der jüdischen Philosophie, in: Transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien 6/1 (2005), 41–63, hier : 45. 177 Wellhausen, Julius, Prolegomena zur Geschichte Israels (1878), unveränd., photomechan. Nachdr. der 6. Aufl. von 1927, mit einem Stellenregister, Berlin/New York 2001, 28.

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markiert.178 Deutlich wird das an seiner steten Trennung der Begriffe Hebraismus (vorexilisch) und Judentum (nachexilisch), wie sie sich in der Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatten. Die Ethik der Propheten habe „mit der endgültigen Verinnerlichung Jahves zum Gott der Seele“ zwar das Potenzial gehabt, „auch eine Forderung an die Menschheit [zu] werden“ (16). Da es aber nie zur völligen Loslösung JHWHs von seinem Volk gekommen sei, sei der hebräische Prophetismus den letzten Schritt zur Universalreligion nicht gegangen und mit seinen Idealen auf dem Boden des geschichtlich gewordenen Volkes verblieben. Die Forderungen seien utopisch und fern jeder gesellschaftlich-politischen Realität gewesen, und würden eine „Kulturindifferenz“ und einen „Weltgegensatz“ zeigen (16). Als Beispiele hierfür zitiert Troeltsch die im Deuteronomium stehenden Befehle an des Königs Verhalten179, das dortige Militärgesetz180 oder das „Zukunftsprogramm Ezechiels“, das mit seinem Eintreten für gegenseitige Fürsorge, gereinigtes Leben und Zentralisation des Kultus ein „prophetisch-orientalisches Gegenstück der platonischen Politeia“ (24) darstelle. Israel erscheine in dieser politisch-religiösen Utopie als „das sittliche Vorbild der Menschheit“, welches von JHWH erwählt wurde und erzogen wird (15). Von jenem Gedanken ausgehend, hätten manche Zeitgenossen in „eine[r] gründliche[n] Mißdeutung der Propheten“ in ihren Schriften „die Erhöhung Jahves zur sittlichen Weltordnung gesehen“, was auf „eine Art Kantischer Religionsphilosophie vor Kant“ hinauslaufe (15). Der Verweis auf Cohen und das liberale Judentum ist nicht zu überhören, wenn er ferner schreibt, dass jene Personen eine „reine sittliche Menschheitsreligion“ entwerfen wollen (15). So wie die Propheten Ideen der alten israelitischen Sitte aufgenommen und umgewandelt hätten, so hätten auch ihre Worte selbst einer Rezeption unterlegen, die sich teilweise von ihnen entfernt und unabhängig vom sozialen und historischen Kontext der Unheilsprophetie etwas Neues erschaffen habe. In der Periode der angeblichen Isolierung durch strenge Gesetzesobservanz habe sich die Ethik „Jahve vertrauender, an der Vätersitte hängender Bauern immer mehr zu de[r] von Händlern und Gewerbetreibenden“ geändert, die gegen die Heiden und Nichtjuden „die Moral des Ressentiment entfalteten“ (26). Mit der Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels durch die Römer 70 n.d.Z. sei es nach dem babylonischen Exil zur „zweiten großen Katastrophe“ gekommen, womit das Judentum „endgültig dem Schicksal der Pariavölker […] verfallen“ sei (7).

178 Vgl. dazu Blum, Erhard, Volk oder Kultgemeinde? Zum Bild des nachexilischen Judentums in der alttestamentlichen Wissenschaft, in: KuI 10 (1995), 24–42. 179 Dtn 17,15–20. 180 Dtn 20,1–8.

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Wie das neue Ethos der Juden dann ausgesehen habe, beschreibt Troeltsch im Anschluss an Max Weber : […] die Moral eines auf Handel und Zinsgeschäft abgedrängten Pariavolkes, das in antiker Weise eine hohe Moral gegenüber seinen eigenen Gliedern behauptet, den Fremden gegenüber sie einschränkt und im Ressentiment sich entschädigt, sein Händlerwesen mit seinem erhabenen Jahveglauben durch den Glauben an göttlichen Lohn für fleißige Arbeit verbindet (26).

Die „Paria“-These Webers, die er hier rezipiert und selbst als „höchst erleuchtend“ benennt (7, Anm. 1), findet sich schon in dessen Protestantischer Ethik und detaillierter in den zwischen 1917 und 1920 verfassten Aufsätzen zur Wirtschaftsethik des Antiken Judentums.181 Die Juden würden ohne eigenes Staatsgebiet innerhalb verschiedener europäischer Gesellschaften leben, die sie aber ausschlössen. Zwischen ihnen und der Mehrheitsgesellschaft gebe es einen Gegensatz zwischen ,orientalischer‘ und ,okzidentaler‘ Lebensweise, der sich auch im wirtschaftlichen Handeln niederschlage. Juden könnten nur einen „politisch oder spekulativ orientierten Abenteurer-Kapitalismus“, das heißt, einen „Paria-Kapitalismus“182 hervorbringen, der sich von dem ,okzidentalen‘ rational-bürgerlichen Industriekapitalismus deutlich unterscheide. Insgesamt hätte sich eine jüdische Ethik entwickelt, die nur noch wenig mit den Idealen der Propheten zu tun hatte. Troeltsch interessiert dabei vor allem das „schwierige Verhältnis des reinen Ghetto-Judentums zur abendländischen Kultur“, denn diese Frage nach Einbezug der jüdischen Mitbürger in die europäischen Gesellschaften stehe „heute noch im Zionismus als lebendiges Problem vor uns“ (26). Auf den ersten Blick scheint es, Troeltsch problematisiere nur die zionistische Bewegung. Dies wäre aber zu kurz gegriffen, denn eine genaue Lektüre des Aufsatzes und der Zusätze zeigt, dass er die Juden generell als ,Andere‘ zeichnet, die dem deutschen Volk, als ebenso konstruierter homogener Abstammungsgemeinschaft im Sinne Fichtes, kaum zu integrieren seien. Da das Judentum „mit einer ursprünglich kriegerischen Stammesreligion und mit einer einfach persönlichen Ethik zusammen[hängt]“, wie es Toeltsch zufolge auch bei dem Islam der Fall sei, vermag es „die rein humane abendländische Kultur und ihre verwickelten Weltinteressen nur schwer aufzunehmen“ (26). In den Zusätzen führt er aus, dass diese „Hindernis[se] einer dem Abendlande analogen wirtschaftlichen Entfaltung“183 entgegenstehen würden. Dies bedeutet, dass Muslime und Juden für Troeltsch ein Defizit haben, das es

181 Vgl. Weber, Max, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen III. Das antike Judentum, II: Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes, in: ders., RuG, 1101–1193. 182 Ders., Protestantische Ethik, 162 (Hervorh. im Orig.). 183 Troeltsch, Glaube und Ethos, 819.

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ihnen schwer, wenn nicht unmöglich macht, an der europäischen, und das heißt hier : christlichen Kultur und Lebensweise teilzunehmen. Ferner könne das Judentum keinesfalls den Anspruch erheben – wie es unter dem Stichwort des „ethischen Monotheismus“ eine Grundüberzeugung besonders seiner liberalen Vertreter war –, die abendländische Kultur aktiv vorbereitet und mitgestaltet zu haben. Stattdessen sieht er mit dem Ende des 1. Jahrhunderts n.d.Z. eine Entwicklung des jüdischen Ethos ansetzen, in der sich der prophetische Monotheismus „endgültig in Talmudismus und Apokalyptik verkapselt[e]“ (8). Schon 1898 formuliert er, dass die „jüdische Theologie“ paradigmatisch aufzeige, wie „das religiöse Erlebnis sich in einen Inbegriff rechtlicher Satzungen“184 verwandeln könne. Mit der Darstellung des ,Verfalls‘ des prophetischen Ethos ist Troeltsch in der frühchristlichen Zeit angelangt, in der er die Transformation des Prophetismus erreicht sah. Hier „befreite sich der prophetische Geist in einer neuen Belebung und Verinnerlichung durch Jesus und riß als Christentum sich von der jüdischen Verengung los, um dann in enger Verbindung mit der hellenistischen Erlösungsund Mysterienreligion eine neue und universale, national nicht mehr gebundene Entwickelung zu nehmen“ (8). Dennoch beschreibt Troeltsch Jesus in weiten Teilen noch in der Ideenwelt der hebräischen Propheten. So sei auch bei ihm die Folgerung der notwendigen Universalisierung der brüderlichen Ethik und Verinnerlichung JHWHs „nur zurückhaltend gezogen“ worden und galt alle Hilfe „zunächst nur den Kindern vom Hause Israel“ (22). Auch bei ihm gebe es Unheils- und Heilsprophetie sowie die Anschauung, dass nur ein geringer Rest am Ende der Zeiten „durch die schmale Pforte geht“ (27). Wie sie trete er für „die Innerlichkeit der Gesinnung und gegen die Selbstberuhigung bei Kult und Ritus“ (27) ein und predige, dass es keine Werte und Normen außerhalb der religiösen Verbindung zwischen Mensch und Gott geben könne. Die geforderte Sittlichkeit orientiere sich also wie bei den Propheten nicht an den Gegebenheiten und Bedingungen der Welt, sondern bleibe eine ideale Größe, die auch in der Predigt Jesu eine „Welt- und Kulturindifferenz“ aufscheinen lasse. An anderer Stelle schreibt er diesbezüglich, Jesus stehe der „jüdisch-apokalyptische[n] Erregtheit und entsprechend [einer] Spannung gegen die Welt“185 nahe. Trotzdem trete, ohne dass Troeltsch hier stringent argumentieren würde, die globale Wirkung der Prophetie erst mit der Botschaft Jesu zutage. Er sei „die Verkörperung des Menschlichsten und Innerlichsten im

184 Ders., Zur theologischen Lage, 695. 185 Ders., Die alte Kirche (1917), in: ders., GS IV, 65–121, hier : 71.

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hebräischen Prophetismus“186, denn bei ihm sei alles „noch viel innerlicher, persönlicher, allgemein-menschlicher […], jenseitiger geworden“ (27). Die von Jesus begonnene Entschränkung der nationalen Gebundenheit der prophetischen Ideale hin zu einer alle Menschen umfassenden Gottesbeziehung, von der auch andere Kulturprotestanten wie Harnack sprachen,187 habe sich dann noch mit Paulus und dem Verfasser des Johannes-Evangeliums verstärkt: „Hier haben wir nun wirklich eine neue ,Religion‘, einen von Juden und Heiden getrennten Kult, eine bedingungslos universalistische Propaganda vor uns“188. Letztlich sei dem Christentum mit der Aufnahme des „mächtigste[n] religiöse[n] Prinzip[s] der Welt“ aber auch das Problem der Welt- und Kulturindifferenz erwachsen, deren Pole von ihm in „der sittlich-persönlichen Gottesidee und der schicksalhaften, weltumfassenden Sündenidee“ beschrieben werden.189 Die Frage nach der Vereinbarkeit der modernen Welt mit der Religion sei, trotz „ähnliche[r]“ Problematik in Judentum und Islam, in Europa vor allem „das ethische Problem des Christentums“, da nur dieses „den Gegensatz aus einer Tiefe und Innerlichkeit des rein menschlichen Gemütes heraus empfunden und bei seiner Universalität die abendländisch humane Kulturwelt mit einer Nachdrücklichkeit aufgenommen [hat], daß bei ihm das Problem des Verhältnisses religiöser und weltlich-kultureller Lebenswerte zu seinem höchsten und allgemein menschlichen Ausdruck gekommen ist“ (28). Das mit Jesus „vollkommen humanisierte“ prophetische Ethos sei in dieser transformierten Gestalt „zu einer geistigen Großmacht des Abendlandes“ und „zur Seele des europäischen Lebens“190 geworden. Das Christentum sei nicht mit dem „Hebraismus“ identisch, habe von ihm aber Elemente aufgenommen, die sich mit anderen vermischten. Troeltsch bewertet den durch die Propheten verinnerlichten Gottesgedanken und die Ausbildung ethisch-moralischer Grundsätze, die es ermöglichen, eine Gesellschaft im Gleichgewicht zu halten, auf der einen Seite positiv. Ihre Sozialkritik vermöge auch aktuell, die gegebenen sozialen Missstände zu benennen und eventuell zu beheben. Grundsätzlich sei dies jedoch nur mit dem christlich transformierten prophetischen Ethos möglich. Auf der anderen Seite erscheint es ihm aber schwer, mit den utopischen Idealvorstellungen der Propheten Lösungen für die politischen oder wirtschaftlichen Probleme der Gegenwart zu finden, da der Prophetismus kaum geeignet sei, gesellschaftspolitische Fragen in 186 Ebd., 70. 187 Adolf von Harnack war überzeugt davon, dass das Christentum zu Ende führt, was das Judentum selbst probiert habe, aber nicht durchzusetzen vermochte: Die „Entschränkung der jüdischen Religion und ihre Transformation zur Weltreligion“ (ders., Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 1902, 50). 188 Troeltsch, Die alte Kirche, 73. 189 Ders., Glaube und Ethos, 820. 190 Ebd.

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ihrer komplexen Realität zu erfassen und zu beantworten. Hierin ist er Wellhausens Prophetendeutung verwandt, denn für diesen „sind die Propheten Verkünder eines hochstehenden ethischen Ideals, aber ihre radikale Moral ist auch verantwortlich für den Niedergang Israels als staatlichen Gebildes“.191 Die militärischen Auseinandersetzungen, während derer der Aufsatz entstand, können mit einer solchen weltindifferenten Haltung nicht gewonnen werden. Der hebräische Prophetismus wird von Troeltsch in dieser Krisenzeit als ein vom Christentum aufgenommenes und in ihm fortwirkendes, zum Teil negatives Element identifiziert, das für politische, wirtschaftliche und militärische Missstände der deutschen, und das heißt für ihn christlichen Gesellschaft Verantwortung trägt. Er vertrat während des Krieges ein homogenes Bild einer christlich-deutschen Nation und Kultur, an denen Juden und andere Minderheiten aufgrund ihrer ,Eigenart‘ nur schwer partizipieren können. Im Diskurs um die Frage nach dem ,Wesen‘ deutscher Identität, steht für ihn die Verschiedenheit von ,westeuropäischem‘ und ,deutschem‘ Geist in politischer, kultureller und religiöser Hinsicht außer Frage.192 In diesem Kontext darf nicht vergessen werden, dass Juden während des Krieges von völkischer Seite aus besonders häufig der Vorwurf des Kosmopolitismus und Internationalismus gemacht wurde, um sie in der deutschen Gesellschaft zu diskreditieren. Indem Troeltsch im Aufsatz von 1916 und in den Zusätzen Juden eine „Händlermentalität“ zuschreibt, durch welche sich beispielsweise auch die Briten auszeichnen würden,193 sie als defizitär betrachtet und ihnen deshalb unterstellt, Europa und damit auch Deutschland geistig nicht recht zu verstehen, begibt er sich auf eine Deutungsebene, die ein ,jüdisches Wesen‘ im Gegensatz zu einem ,deutschen‘ konstruiert und sich mit den Vorstellungen des zeitgenössischen politischen und rassischen Antisemitismus zumindest berührt. Da er strikt den „Eigencharakter der jüdischen Kultur“194 behauptet, gefährdet er den „,Burgfrieden‘ mit dem Judentum“ und erteilt dem „liberal-jüdischen Programm einer Kultursynthese von Judentum und Christentum eine Absage“195. In Troeltschs Analyse der „Krisis der Moderne“ und der damit verbundenen Suche nach absoluten Werten und Normen, um diese zu „bemeistern“ (Wilhelm Dilthey), spielt das nachbiblische und damit aktuelle Judentum „keine eigentliche historische Rolle mehr“196. Der Religionsintellektuelle ist vom partikularen und tendenziösen Charakter der jüdischen Religion 191 192 193 194 195 196

Weidner, Max Wiener, 44f. Vgl. Troeltschs Aufsätze in Deutscher Geist und Westeuropa. Vgl. ders., Deutscher Glaube und deutsche Sitte in unserem großen Kriege, Berlin 1914, 7. Otto, Prophetie, 243. Ebd., 222. Sieg, Die Macht gewohnter Deutungsmuster, 358.

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überzeugt. Er schätzt die Prophetie und die jüdische Sittlichkeit für ihre Zeit hoch ein, mit der nachexilischen Periode beginne aber die Verfallsgeschichte des Judentums, welches sich dann in der Tora verkapselt habe. Schleiermacher nannte es „eine tote Religion“ und „unverwesliche[…] Mumie“197 und auf dieser Linie liegt auch Troeltsch, wenn er geschichtsphilosophisch an jene „protestantisch gefärbten Kulturstufentheorien“ anknüpft, die „das Judentum als antiquiertes und erstarrtes Überbleibsel des Mittelalters betrachteten“198. Troeltsch fasst schon früh die „Geschichte als eine[…] Entfaltung der göttlichen Vernunft“ auf und benennt auch die Herkunft dieses Denkens: „Hier liegen die unveräußerlichen Verdienste der Hegelschen Lehre“.199 In seiner hegelianisch geprägten Geschichtsphilosophie200 gerät das Christentum zum Ziel der jüdischen Religion und der allgemeinen Geistesgeschichte, da es aus allen Epochen und Phänomenen die besten Elemente in sich vereinigt habe. Dem zeitgenössischen Judentum kann er hingegen keinen Wert für die abendländische Geschichte und Kultur zugestehen, da es mit seiner unterstellten religiösen und ethnischen Partikularität zu dieser nur wenig beigetragen habe.

4.4.2 Kellermann: Die Verteidigung der „übervölkischen Menschheitskultur“ in Zeiten des Krieges Kellermann, der Troeltsch bei dessen Vortrag im Dezember 1915 opponierte, wurde von der apologetischen Kommission des „Verbands der Deutschen Juden“ mit einer umfassenden Stellungnahme zu dessen Aufsatz betraut. Cohen knüpfte die Kontakte zum Logos und erhielt zunächst positive Antwort. Troeltsch aber war als Redaktionsmitglied strikt gegen die Publikation, wie aus einem Brief an Rickert vom 9. Januar 1917 hervorgeht. Kellermanns Argumentation bei dem Vortrag sei „ein furchtbares rationalistisches Gewäsch“ gewesen und der nun eingereichte Essay falle „aus Stil u[nd] Geist des Logos ganz heraus“, zudem sei „solche Polemik von schlechter Provenienz“201. Nach acht 197 Schleiermacher, Friedrich, Fünfte Rede: Über die Religionen, in: ders., Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1899), hg. v. Otto, Rudolf, Göttingen 8 2002, 161–206, hier: 191. – Vgl. dazu Blum, Matthias, „Ich wäre ein Judenfeind?“ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, Beiträge zur historischen Bildungsforschung, Bd. 42, Köln 2010; Wolfes, Matthias, Schleiermacher und das Judentum. Aspekte der antijudaistischen Motivgeschichte im deutschen Kulturprotestantismus, in: Aschkenas 14/2 (2005), 485–510. 198 Sieg, Streit, 14. 199 Troeltsch, Ernst, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1900), GS II (dort mit der falschen Jahresangabe 1898), 729–753, hier: 747. 200 Vgl. dazu Dietrich, Cohen and Troeltsch, 45–60 u. passim; Sieg, Jüdische Intellektuelle, 226. 201 Troeltsch, Briefe an Rickert, 117.

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Wochen wurde Cohen das Manuskript Kellermanns unter „Entschuldigungsfloskeln“202 zurückgeschickt, so dass diese umfassendste Replik 1917 als Monografie erschien.203 Kellermann stützt sich auf verschiedene Quellen. Zunächst die Bibel selbst, aus der er unzählige Zitate verwendet, um seine Beweisführung zu untermauern. Damit wirft er Troeltsch implizit eine unsaubere Arbeitsweise vor, da dieser sich für seinen Essay deutlich weniger biblischer Verse bedient. Kellermann benutzt Texte aus allen Teilen der Hebräischen Bibel, wobei das Deuteronomium, das Dodekapropheton und die „großen“ Propheten eine herausgehobene Rolle einnehmen. Besondere Bedeutung haben bei ihm die im 6. Jh. v. d.Z. wirkenden Deuterojesaja und Ezechiel. Hier folgt er Cohen und stellt sich gegen die protestantische Bibelwissenschaft, die den „Priesterpropheten“ Ezechiel an den Anfang der Verfallsgeschichte Israels setzte, während sie in Jeremia den Höhepunkt der alttestamentlichen Ethik erreicht sah. Trotzdem verteidigt Kellermann in allen seinen Publikationen die Notwendigkeit der historisch-kritischen Bibelforschung, durch die „die Fiktion von der göttlichen Niederschrift der Religionsurkunden schwindet“ und sich erst dadurch „das ethisch Bedeutungsvolle vom ethisch Wertlosen abhebt“204. Er spricht von verschiedenen Textschichten, verwendet Begriffe wie „Deutero“und „Tritojesaja“, erkennt die These vom „deuteronomistischen Geschichtswerk“ an und geht auf literarkritische Forschungen zu Jeremia ein. Besonders Wellhausens Pentateuchkritik mit der These der jüngeren Entstehungszeit der Tora und ihrer Gebote rezipiert er auch hier positiv. Nur die philologisch genaue Analyse eines Textes und seiner Wechselwirkung mit anderen Texten erbringe die einzelnen Ergebnisse, die dann für ein überempirisches Gesamturteil über den Inhalt synthetisiert werden müssten (12). Methodisch bedient er sich zudem des kritischen Idealismus Marburger Prägung, ohne dessen epistemologische Grundannahmen seine Argumentation für den universalen Charakter des prophetischen Ethos nicht zu verstehen ist. Er versucht zunächst, die „nachfühlende“ Methodik Troeltschs als ungeeignet darzustellen, um das Phänomen der Prophetie zu untersuchen. In ihr erkennt Kellermann, der als Marburger Neukantianer eher antipsychologisch gesinnt ist, 202 Cohen, Würdigung, 495. 203 Kellermann, Benzion, Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, Berlin 1917. Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im folgenden Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. – Dass die Ablehnung Kellermanns im Logos durch Troeltschs Kritik motiviert war und nicht durch ein etwaiges generelles Publikationsverbot für jüdische Autoren, beweist der Umstand, dass z. B. Ernst Cassirer dort veröffentlichte: Hölderlin und der deutsche Idealismus, in: Logos 7 (1917), 262–282 u. Logos 8 (1918), 30–49. 204 Kellermann, Rationales oder irrationales Judentum, 1.

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keine neutrale, wissenschaftliche Betrachtungsweise. Troeltsch wende sie an, um der Subjektivität von Geschichtskonstruktionen zu entgehen, jedoch würde es hier nur eine „Korrektur des einen Subjektivismus durch den anderen“ in Ermangelung einer „übergreifend objektiven Kontrollinstanz“ (68) geben. Kellermann versucht, das Bekenntnis zur unhintergehbaren Subjektivität des Forschers mit der geforderten Objektivität der Analyse anhand der Transzendentalphilosophie Kants in Einklang zu bringen, die davon ausgeht, dass alle menschliche Erkenntnis zwar durch Erfahrung und Anschauung seine Grenze findet, aber bestimmte durch die Erfahrung gewonnene Erkenntnisse und Urteile dennoch apriorischen Charakter tragen. Jede Forschung müsse sich logisch vor der reinen Vernunft ausweisen, also im Bereich der letztlich von der Erfahrung unabhängigen Urteile angesiedelt sein, wie er es immer wieder einfordert: Das Denken erzeugt die in den einzelnen Wissenschaften latenten Grundlagen der Erkenntnis. Das Denken ist rein, das heißt frei von allen Beimischungen der Sinnlichkeit, die in der Empfindung ihre Rechte vertritt.205

Die „ethisch-evolutionistische Hypothese“ – bei Troeltsch ist das die „idealistisch-transzendentale“ Religionswissenschaft – als „Ergebnis apriorischer Vernunftreflexion“ erfülle diese Bedingungen (69). Indem Troeltsch der erfahrungswissenschaftlichen Methode Alleingeltung zuspreche, verliere er den Sinn für den Gesamtblick auf die Geschichte und spalte „den überempirischen Zusammenhang geschichtlicher Einheit in lose Aggregate von Einzelphänomenen“ (3). Ein weiterer Vorwurf Troeltsch gegenüber, der die ganze Replik implizit begleitet, ist dessen Beeinflussung durch Hegel. Wie bereits aufgezeigt, ist Hegel für Kellermann der Ursprung aller Übel des zeitgenössischen und in seinen Augen subjektverherrlichenden philosophischen Denkens: „Vom Hegelianismus zum Monismus, vom Monismus zum Animismus, vom Animismus zum Solipsismus führt eine gerade Linie.“206 Die Abhängigkeit von diesem, den „Bankerott der Kultur“ verantwortenden, Philosophen zeige sich in Troeltschs Auffassung der christlichen als höchststehenden Religion, wofür er ihn und die anderen „Vertreter der wissenschaftlichen Theologie, die als Hegelianer im Christentum die ,absolute Religion‘ erblicken“ bereits früher kritisiert.207 Neben der Übernahme Hegelscher Geschichtsphilosophie partizipierte Troeltsch selektiv an Diskursen der Südwestdeutschen Neukantianer, etwa über den Historismus. Diesen bezeichnet Kellermann an anderer Stelle als „kulturfälschende[s] Prinzip“, da er mit Hegels Wort „Alles, was ist, ist ver205 Ders., Kantianismus und Judentum, 5. 206 Ders., Die philosophische Begründung des Judentums, 84. Folgendes Zitat: ebd., 83. 207 Ebd. Kellermann benennt Troeltsch nicht explizit, hat aber dessen Absolutheitsschrift von 1902 und dessen Auseinandersetzungen mit Cohen, unter anderem 1910 beim „Berliner Weltkongress für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt“, mit Sicherheit verfolgt.

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nünftig, und nur das Vernünftige ist“ operiere und „durch diese Losung allen kulturellen Entgleisungen die philosophische Sanktion erteilt“ würde.208 Wilhelm Windelband als Mitbegründer der Südwestdeutschen Schule – und wie Rickert Troeltsch wesentlich näherstehend als Cohen – erfuhr für seine Geschichte der neueren Philosophie durch Kellermann in dem Beitrag zur Cohen-Festschrift eine scharfe Kritik, da hier eine „Rettung Hegels“ versucht worden sei, die jedoch „nicht als gelungen bezeichnet werden“ könne.209 Mit seiner Replik arbeitet sich Kellermann also nicht nur inhaltlich an den Thesen Troeltschs über die Propheten ab, sondern in methodischer Hinsicht auch an den zeitgenössichen philosophischen Strömungen, die er bis auf die Marburger Schule allesamt als von Hegel ,infiziert‘ und somit als kulturell defizitär ansieht. Anhand der historischen, philosophischen und methodischen Kriterien, wirft Kellermann Troeltsch neben christlicher Voreingenommenheit eine ungenaue Arbeitsweise vor, die den Grund für dessen These von der nationalpartikularistischen Ethik der Propheten bilde. Dagegen behauptet er den universalen Charakter der Propheten, weil sie in ihrem Gottesbild und Ethos schon das intuitiv empfunden und verkündet hätten, was Kant und im Anschluss an ihn Cohen logisch-rational systematisiert hätten: Die Einheit der überempirischen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden. Dass „die Ethik als allgemeine Vernunftforderung […] bei den Propheten das Apriori ihres Ethos [bildet]“ (13), erkenne Troeltsch mit Blick auf die damals vorherrschenden sozialen und ökonomischen Strukturen nicht an. Auch Kellermann bestreitet nicht, dass „Israel-Juda ein primitives Bauernvolk“ (13) gewesen sei, weshalb seine Sitten und Gebräuche dementsprechende Züge getragen hätten. Jedoch sei aus dieser Feststellung noch nichts über den allgemeinen Charakter der sich in diesem Kontext entwickelnden prophetischen Ideen gesagt. Im Anschluss an Kants Vorstellung der überempirischen Idee behauptet er: „[D]er historische Anlaß eines gedanklichen Komplexes ist niemals identisch mit seinem logischen Ansich“ (14). Jahre später wiederholt er diesbezüglich, dass die Propheten „wohl aus dem Volke kamen, aber über das Völkische hinaus zum Reinmenschlichen vordrangen“ und damit „das Nationale ins Rationale“ verwandelten.210 Kellermann versucht, die universale Gleichheit und Gerechtigkeit als Charakteristika des Prophetismus exegetisch zu erweisen. Dabei bedient er sich zunächst Dtn 5,12–15, wo bezüglich des Schabbat nicht nur gefordert wird, sich selbst jeder Arbeit an dem Ruhetag Gottes zu enthalten, sondern diese Ruhe auch dem Sklaven und der Sklavin zuzugestehen. Die jüdischen wie nichtjüdischen Sklaven hätten das „Recht 208 Kellermann, Die philosophische Begründung des Judentums, 77. 209 Die Kritik an Windelband findet sich ebd., 78–82. Zitat: ebd., 82. – Windelband, Wilhelm, Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften dargestellt, 2 Bd., Leipzig 1878 u. 1880. 210 Kellermann, Rationales oder irrationales Judentum, 1 (Hrvh. im Orig.).

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auf den sozialen Ruhetag, weil sie den gleichen Persönlichkeitswert vertreten, den ihr Dienstherr für sich beansprucht“ (15). An anderer Stelle schreibt er, in dem Gebot der Schabbatheiligung sei „aller Mythos in den Hintergrund gedrängt. Nur die Idee von der Einheit und Gleichheit aller Menschen, ohne Unterschied ihrer sozialen Stellung, bildet das Motiv des Gesetzgebers.“211 Der Fremdling besitze aufgrund der Idee der Gleichheit denselben Rechtsschutz wie der jüdische Vollbürger und den Anspruch auf Liebe, wie mit Dtn 10,19 bewiesen wird: „Auch ihr sollt den Fremden lieben, denn Fremde seid ihr im Land Ägypten gewesen“. Die protestantische Bibelwissenschaft behaupte zwar stets den christlichen Primat der Nächstenliebe, indem sie den Begriff rea (FL) in Lev 19,18 nur mit dem Nächsten als israelitischen Nachbarn identifiziere und damit eine niedere „Nachbarschaftsethik“ konstruiere (17). Aus Lev 19,34 gehe aber eindeutig hervor, dass der Begriff rea „nicht [den] Nachbar[n], sondern den Nächsten schlechthin, den Anderen“ meint (17), eine Behauptung, die stark von Cohen geprägt ist und sich durch das Gesamtwerk zieht.212 Angesichts der Pflicht der Fremdenliebe sei es unmöglich, dem von dem prophetischen Geist getragenen Judentum eine partikulare Stammes- oder Nachbarschaftsethik zu unterstellen. Wenn im Buch Ruth eine „heidnische Frau […] für würdig befunden wird, die Stammmutter der Davidischen Dynastie zu werden“ (62) und bei Jona die nichtjüdischen Einwohner Ninives aufgrund ihrer Umkehr gerettet werden, scheine vielmehr ein Verhalten auf, das eine entgegengesetzte Bewertung der Ethik fordere. Die Israeliten hätten sich nicht gegen Fremde abgeschlossen, sondern „da stand auch das Tor zum Eintritt in die israelitische Gemeinschaft für jeden Nichtisraeliten offen“ (17). Es habe keine Absonderung und Isolation gegeben, sondern aus dem Judentum seien der „ethische Monotheismus“ und damit das individuelle Gleichheitsprinzip aller Menschen hervorgegangen. Troeltsch behauptet, die Ethik der Propheten sei nicht „die Sittlichkeit der Menschheit, sondern die Israels in der ganzen Ungeschiedenheit von Sitte, Recht und Moral, die allen antiken Völkern eigen ist“213. Dem widerspricht Kellermann vehement, denn im antiken Israel seien zwar Moral und Recht ungeschieden gewesen, jedoch standen sie nicht mit der ethisch niedriger anzusiedelnden Sitte, also den zeittypischen kultisch-religiösen Gebräuchen, auf einer Stufe. Ferner unterstellt er Troeltsch den „Standpunkt paulinischer Gesinnungsethik“ (19), da er das Nebeneinander von Moral und Recht negativ bewerte. Das zeuge

211 Ders., Schowuaus, das Fest der Offenbarung, in: GJB 12/6 (1922), 42. 212 Vgl. etwa ders., Cohens „Ethik des reinen Willens“, 127–129. Dort heißt es: „Es ist deshalb schon sehr viel gewonnen, wenn wir den berühmten Satz nach dem hebräischen Original korrigieren: ,Liebe Deinen Anderen, d. h. Deinen Nebenmenschen wie Dich selbst‘“ (127f). 213 Troeltsch, Das Ethos der hebräischen Propheten, 15.

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von mangelnder rechtsphilosophischer Kenntnis, denn beide bestünden nur in Korrelation und seien gegenseitig aufeinander angewiesen. Mit Am 5,21–25; Hos 6,6; Jes1,10–17; Jer 7,21–23 und anderen Stellen zitiert Kellermann in diesem Zusammenhang Texte, die er als harte Kritik an der Sitte des Opferwesens im Jerusalemer Tempel liest. Die rituellen Vorschriften der Tora versteht er als „äußere[…] Werkheiligkeit“ (22), die er als „Zeremonialgesetz“ von dem „Moralgesetz“ abgrenzt. Während die Sitte in Kellermanns Augen zeitlich bedingt sei und Wandlungsprozessen unterliege, seien die sittlichen Fundamente von Recht und Moral unveränderlich. Für die Propheten sei nicht der Opferkult entscheidend gewesen, sondern die Erfüllung der ethischen Forderungen, die in Mi 6,8 zentral zusammengefasst seien: Man hat dir mitgeteilt, o Mensch, was gut ist. Und was fordert der HERR von dir, als Recht zu üben und Güte zu lieben und demütig zu gehen mit deinem Gott? Mit der Opfer- und Kultkritik der Propheten ist für Kellermann die These von der Ungeschiedenheit von Sitte, Recht und Moral widerlegt. Zugleich gebe es hier nicht den „versteckteste[n] Hinweis auf eine kulturfeindliche oder kulturindifferente Stimmung“ der Propheten (23), wie sie Troeltsch behauptet, sondern werde der Mensch von ihnen vielmehr dazu aufgefordert, seinen Beitrag in der Welt und Kultur zu leisten. Das hätte der Berliner Professor zwar auch erkannt, widerspreche sich dann aber selbst. Kellermann schlussfolgert: „Gewiß, wenn man die universalistische Kultur der Humanität der jeweilig völkischen Tageskultur gleichsetzt, dann müssen allerdings die Propheten als Kulturfeinde“ angesehen werden (23). Bereits 1908 kritisiert er scharf die „Vergottung der Nationalität“214, die mit dem Materialismus einhergehen und der humanistischen Menschheitsidee widerstreben würde. Ein Jahr zuvor warnt er vor dem in seinen Augen mythischen Judentumsbild des Zionismus: „Das Hurrajudentum feiert heute seine Triumphe. Alle Titel einer dekadenten Kultur werden zum Feldgeschrei erhoben: Rasse, Volk, Nationalität und wie sie alle heißen mögen“215. In einem seiner letzten Texte von 1922 kritisiert er den Zionismus dahingehend, dass seine Vertreter „das Nationale höher werte[n] als das Ethische“, wodurch die „Kapitulation der Vernunft vor dem ethisch-indifferenten Masseninstinkt“ geschehe.216 Kellermann verteidigt im Prophetenaufsatz von 1917 und in früheren Texten einen universalen Humanismus, dessen Entwicklung sich auch aus jüdischen Quellen speist. Dennoch steht es außer Frage, dass er sich als „Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“217 betrachtete und der deutschen Kultur eng 214 215 216 217

Kellermann, Idealismus und Religion, 52. Ders., Liberales Judentum, 13. Ders., Das liberale Judentum und seine Führer, 1 (Hrvh. im Orig.). Belege für eine Mitgliedschaft Kellermanns im CV konnten zwar archivalisch nicht ge-

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verbunden war. So trat er selbstverständlich für die Zugehörigkeit der Juden in der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft ein und verteidigte den Status des emanzipierten deutschen Judentums. Zudem fordere die universale Menschheitsidee, wie er 1916 in einem Vortrag ausführt, eben gerade nicht die „Auflösung aller historisch gewordenen Gemeinschaften“, sondern „– gemäß dem methodischen Charakter der Idee – eine unermeßliche Fülle individueller Verbände, mögen sie Stadt, Staat, Nation, Religion, Schule, Heer und wie auch immer heißen. Worauf es für die Menschheitsidee einzig und allein ankommt, ist dies, daß jede Gemeinschaft von dem Geiste getragen ist, der den ethischen Allheitsforderungen entspricht.“218 Troeltsch sitze einer völkischen Begriffsdefinition von Kultur auf und könne deshalb die welthistorische Bedeutung des prophetischen Ethos erst nach seiner angeblichen „nationalen Entschränkung“ im Christentum erkennen. Kellermann hingegen versteht Kultur im Sinne Kants idealistisch als „die unendliche Zusammenfassung der Individuen, die Allheit der Menschen und ihrer Handlungen“ (24). Aus diesem universalen Konzept heraus, „kann es keine größere Kulturfreudigkeit als die des Prophetismus geben“, denn die dort gestellten „Forderungen können auch in der modernsten Ethik kaum überboten werden“ (24). Bereits 1907 spricht Kellermann von der herausgehobenen Bedeutung, die die Propheten in der Entwicklung der Menschheit einnehmen würden, denn der „Prophetismus ist die wahre Religion der Kultur, weil er selbst die höchste Kultur bedeutet“219. Begründet aber würden alle moralischen Forderungen „in dem überempirischen Gedanken von der Einheit und Gleichheit der Menschen“ (25), welchen er mit Gen 1,27 unterstreicht: Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie. Die prophetischen Appelle hätten ihren Geltungswert also nicht dadurch erhalten, dass sie jüdisch seien, sondern durch ihren Anteil an der universalen Idee der Gleichheit, die explizit auch die Heiden einschließt. Von diesem Standpunkt aus, sei die Unterstellung Troeltschs, an der Sittlichkeit Israels könnten die Heiden nur durch Glauben an JHWH teilhaben, zurückzuweisen. Das Gegenteil scheine bei Amos auf, wenn nichtjüdische Völker für unsittliches Verhalten gegen andere bestraft werden. Nicht durch den Glauben an JHWH hätten sie Anteil an der Sittlichkeit gewonnen, sondern durch sittliches Verhalten hätten sie Anteil an der Gnade Gottes erlangt. In diesem Zusammenhang funden werden, dennoch ist aus seiner Biografie und seinem Werk auf eine Verbundenheit mit den Zielen des Vereins zu schließen: Hochschätzung deutscher Kultur und Bildung, Antizionismus etc. Während der antisemitischen Zwischenfälle in Konitz arbeitete Kellermann als dortiger Rabbiner eng mit dem CV zusammen (vgl. Kap. I.3). 218 Kellermann, Benzion, [Ms] Der Begriff des Ideals (Vortrag gehalten in der Kant-Gesellschaft), undatiert [Ende 1915/Anfang 1916], Privatbesitz Susan Kellermann. 219 Ders., Liberales Judentum, 8.

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sei auch auf das alte Vorurteil hinzuweisen, Israel sei aufgrund seiner Erwählung von sittlichen Handlungen freigesprochen. Stattdessen hätten die Israeliten, die Kellermann mit dem Gottesknecht in Jesaja gleichsetzt, mit dem Bundesschluss eine „erhöhte sittliche Verantwortlichkeit“ zu tragen (25). Die Propheten seien gegen den Mythos aufgetreten und hätten JHWH deshalb nicht in Naturgesetzen gesucht, sondern „die Wirkungssphäre der Gottheit […] einzig und allein auf den teleologischen Zusammenhang sittlicher Zwecke beschränkt“ (28). Das bezeichnet Kellermann als „Ethisierung der Kausalität“ (28), die das besondere Merkmal der biblischen Geschichte sei. Obwohl die Propheten gelegentlich orgiastisch gewirkt hätten, sei die These Troeltschs, die hebräische Prophetie sei der antiken Mantik verwandt, unhaltbar. Denn der Geist der Mantik sei „mythisch-fatalistisch“, während der der Prophetie „sittlich-religiös“ (61) sei. In einem späteren Aufsatz bekräftigt er dahingehend, dass es ihm „gleichgültig“ sei, ob die Propheten „bei der Entdeckung ihrer neuen Lehre bis ins Pathologische versanken“, sondern ihm gehe es nur „um die Wertung ihrer Gedanken, und die sind und waren neu, und es hat vor ihnen und nach ihnen keine Religion gegeben, die die Idee von der Einheit des Menschen, von der Einheit Gottes so scharf, so wuchtig geprägt hat, wie die Propheten es getan haben.“220 Gott habe bei den Propheten keine „außersittliche[n] Interessen“, sie interessiere nur, „was er will“ (26). Bei ihnen sei ethisch richtiges Handeln am Nächsten Dienst an Gott und Bedingung der „Teilnahme an der Beziehung zu Jahve“ (26). Die Texte Am 5,4.14; Hos 2,21; 4,1; 5,4; 6,6 und Jer 9,22f würden belegen, „daß bei den Propheten nur von einem praktischen, nicht aber von einem theoretischen Gottesglauben gesprochen werden kann: Wer sittlich handelt, der glaubt an Gott, und wer Gott leugnet, offenbart diese Leugnung in seiner Verachtung und Preisgabe der Sittlichkeit“ (27). Dieser Topos der Einheit zwischen monotheistischer Religion und Ethik war im reformorientierten Judentum Allgemeingut geworden und wurde von dem Rabbiner Siegmund Jampel (1874–1934) in die griffige Formel „Ohne Monotheismus keine Moral“ gefasst.221 In dieser Wechselwirkung von Gottesgedanke und Ethik erlange die Sittlichkeit „Transzendenzcharakter“ (30), was verschiedene Konsequenzen habe. Zum einen sei den prophetischen Forderungen damit ein apriorisches, normatives Fundament gegeben, das „ewiglich“ gelte (30). Damit habe das Ethos der Propheten und die Sittlichkeit des Judentums gegenwärtig und zukünftig normsetzende Relevanz. Die zweite und weniger positive Tendenz scheine die transzendente Ethik in ihrer beinahe unmöglichen irdischen Realisierung zu

220 Ders., Rationales oder irrationales Judentum, 1. 221 Jampel, S[iegmund], Der Weltkrieg und die biblische Kulturmission, in: JJGL 21 (1918), 56–83, hier : 68 (Hrvh. im Orig.).

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haben. Es müsse aber einen Ausgleich, ein Ergebnis geben, um jenem von Troeltsch behaupteten „kulturzersetzenden Skeptizismus“ zu entgehen (30). Die Propheten hätten das Dilemma mit der Vorstellung des Messianismus gelöst, der „als Zielbegriff des prophetischen Judentums“222 gelten könne und durch den der Ausgleich zwischen Ideal und Wirklichkeit in eine unendlich ferne Zukunft verlegt worden sei. Das zukünftige messianische Reich, als sittlich vollkommene Zeit, sei die Gesamtsumme aller individuellen, autonomen, sittlichen Handlungen, es sei der Antrieb der Menschen für den „ewige[n] Fortschritt in der Humanisierung der Welt“ (30). An Gott als der „Idee von der Macht des Guten“ (69) partizipiere der Mensch nur, indem „er im Dienste des Unendlichen zu dessen Gunsten auf die Ansprüche seiner empirisch bedingten Individualität verzichtet“ (31). Im Anschluss an Kant konkretisiert Kellermann: „Jede wahre Betätigung im Sittlichen verlangt eine Entselbstung des physischen Ichs zugunsten des überempirischen idealen Ichs“ (31). Troeltsch widerspreche sich selbst, wenn er Gott zwar die universellen sittlichen Attribute zugesteht, aber die ethischen Forderungen allein auf Israel eingrenzt. Kellermann gibt zwar auch zu, „daß eine völlige Loslösung Jahves von seinem Volke nicht stattgefunden hat“, nun aber „alles darauf an[komme], was man unter dem Begriff des ,Volkes‘ zu verstehen hat“ (31). Diese Frage war nicht nur vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg eine hochaktuelle, sondern ist es bis heute, wie die vielen unaufgeklärten Debatten der letzten Jahre im deutschsprachigen Raum zeigen. Intensiv wurde zur Zeit des Prophetendisputs über Identitäten und Selbst- und Fremdzuschreibungen diskutiert und es war ebenso unklar wie heute, was unter den Begriffen Deutscher, Jude, deutscher Jude oder jüdischer Deutscher im einzelnen eigentlich genau zu verstehen sei. Cohen beispielsweise war neben dem Streit um die Propheten in zwei ähnlich gelagerte Debatten eingebunden: Die Auseinandersetzung mit dem Herausgeber der Kant-Studien Bruno Bauch um die Vereinbarkeit von „Deutschtum und Judentum“, an der sich auch Cassirer und Troeltsch beteiligten und die leidenschaftliche Verteidigung einer „deutsch-jüdischen Symbiose“ gegen die kulturzionistische Bestimmung eines jüdischen ,Wesens‘ durch Martin Buber.223 In Reaktion auf die antisemitischen Angriffe an der Heimatfront und in den Schützengräben bekam der politische und kulturelle Zionismus neuen Zulauf, der zum Teil auch völkischen Termini erlag, wenn etwa die Juden in zeitge-

222 Kellermann, Die philosophische Begründung des Judentums, 96. 223 Zum Streit mit Bauch: Sieg, Ulrich, Deutsche Kulturgeschichte und jüdischer Geist. Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit der völkischen Philosophie Bruno Bauchs. Ein unbekanntes Manuskript, in: BLBI 34 (1991), 59–91; ders., Jüdische Intellektuelle, 191f. – Zu Troeltsch in diesem Rahmen: Lattki, Debatte, 287. – Zum Disput mit Buber : Wiedebach, Die Bedeutung der Nationalität für Hermann Cohen, 27–37.

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nössisch üblicher Blutmetaphorik als besondere Rasse definiert wurden.224 Buber hatte bereits 1909 formuliert: „[Es kam zur] Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, daß die tiefsten Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, daß unser Gedanke und unser Wille zu innerst von ihm gefärbt sind“.225 Die unter Zionisten anzutreffende „beträchtliche Aufgeschlossenheit gegenüber völkischen und rassischen Ideologemen, solange diese nicht eindeutig antisemitsich dominiert waren“226, mag eventuell zunächst einmal verwundern. Angesichts des breiten und als Wissenschaft betriebenen rassischen Diskurses, „an dem jüdische Intellektuelle seit Jahrzehnten beteiligt waren“, wird dies jedoch erklärbar. Die angeblich genetisch und kulturell assimilierten, sogenannten „Westjuden“ hätten nach zionistischer Auffassung den Kontakt zu ihrem eigenen Volk und somit ihre ursprüngliche Identität verloren, weshalb ihnen das Idealbild des angeblich authentischen „Ostjuden“ gegenübergestellt wurde.227 Kellermann hingegen lehnt das Verständnis eines „Volk[s] in seiner physischethnischen Bestimmtheit mit den Atavismen einer partikularistisch gestimmten Gruppe“ ab, und verwendet dagegen einen Begriff von Volk, das sich in Erfüllung der von Gott begründeten Ethik „zur sittlichen Gemeinschaft emporgeläutet hat“ (31). Diese enge Beziehung zu Gott durch sittliches Handeln aufzunehmen, sei grundsätzlich jedem Volk möglich und kein Vorrecht der Juden, weshalb „die Behauptung von der apriorischen Unlösbarkeit des Verhältnisses zwischen Jahve und seinem empirisch gedachten Volke völlig haltlos und irreführend“ sei (36).228 Jüdisch-Sein ist für Kellermann vorwiegend eine ethische Kategorie, „so gewiß Jude sein nichts anderes heißen darf als: Mensch sein, Kämpfer sein für Menschenrecht und Menschenehre“229. Er untermauert dies mit dem Vers Jes 49,6, demzufolge Israel als das „Licht der Nationen“ nichts als reine Ethik verkündige und damit bleibenden Wert für alle Menschen habe. Seine politisch-theoretische Auffassung ist derjenigen Cohens verwandt, der 224 Vgl. dazu Sieg, Streit, 17; ders., Jüdische Intellektuelle, 216. 225 Buber, Martin, Das Judentum und die Juden [= 1., der sieben „Reden über das Judentum“, 1909], in: ders., Politische Schriften. Mit einer Einleitung von Robert Weltsch u. einem Nachw. v. Rupert Neudeck, hg. v. Melzer, Abraham, Frankfurt a. M. 2010, 244–251, hier : 247. 226 Sieg, Die Macht gewohnter Deutungsmuster, 355. Folgendes Zitat: ebd. 227 Zur „Verherrlichung des Ostjudentums“ im Ersten Weltkrieg: Sieg, Jüdische Intellektuelle, 195–217. Zitat: ebd., 195. Umfassend zum gesellschaftlichen und kulturellen Umgang mit „Ostjuden“ in Deutschland vom 19. Jh. bis zur Weimarer Republik: Aschheim, Steven E., Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison 1982. 228 Als Bestätigung seiner Argumentation zieht Kellermann den Alttestamentler Karl Budde heran: „Die Religion Israels [als Weg zur idealen Ethik, T. L.] ist losgelöst von seinem Bestand als Volk“ (32; Budde, Karl F. R., Die Religion des Volkes Israel bis zur Verbannung, Gießen 1900, 185.) 229 Kellermann, Liberales Judentum, 14.

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von den Juden als eigener „Nationalität“ in ihrer jeweiligen polynationalen „Heimatnation“ spricht,230 die damit beauftragt sei, den reinen Monotheismus zu bewahren und ihn allen Völkern der Welt zu bringen.231 Erst wenn diese Weltmission abgeschlossen sei und sich mit Hilfe des prophetischen Messianismus die Ethik immer mehr vervollkommne, würden sich die Nationalitäten in ein einheitliches Menschengeschlecht auflösen.232 Diese, gewissermaßen notwendige, Isolierung bedeutet Cohen zufolge aber nicht eine jüdische ,Wesensverschiedenheit‘ von der jeweiligen Umweltkultur, sondern es gebe eine tiefe, gegenseitige Durchdringung der Nationalitäten. Von daher hätte Cohen seine Identität wohl wie Jakob Wassermann in seiner nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten Autobiografie beschrieben: „Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen“233. Kellermann hätte dem zweifellos zugestimmt und sieht die Juden beauftragt, mit gutem Beispiel auf dem Weg des sittlichen Fortschritts voranzugehen und die Völker der Welt ethisch zu ,erziehen‘. Dennoch müsse auch die jüdische Religion einer strengen Revision unterzogen werden. Innerhalb dieses Bewertungsprozesses könne nur das bestehen bleiben, was universellen ethischen Geltungswert beanspruchen könne, während die historisch gebundenen Elemente wie das „Zeremonialgesetz“ aufzugeben seien. Aufgrund seiner unverzichtbaren Funktion für die Kulturentwicklung der Menschheit, musste Kellermann allein die Frage nach der Legitimation der Existenz und Partizipation eines lebendigen Judentums innerhalb der deutschen und anderen Gesellschaften unsinnig erscheinen, wie sie Troeltsch im Subtext seines Artikels aufwirft. Die Propheten haben Kellermann zufolge intuitiv am Reich der Vernunft teilgehabt und ihre daraus gewonnenen allgemeingültigen, sittlichen Forderungen dem Volk Israel vorgelegt. Das habe „das Menschenmöglichste“ getan, diese „höchsten Ideale sozialer Gesinnung“ (32) zu erfüllen, wie sie in Jes 9,6ff; 11,4; Ps 72; 101; 110 eingefordert würden. Zion als Symbol der ethisch vollkommenen Zukunft und des Friedens bilde das Ziel der Völkerwallfahrt, wie sie 230 Vgl. dazu Cohen, Hermann, Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus (1915), Werke 16, 465–560, hier : 523. Schon früher : ders., Religiöse Postulate (1907/09), Werke 15, 133–160, hier: 145. – Zur Bedeutung von Nation und Nationalität in Cohens Denken intensiv : Wiedebach, Die Bedeutung der Nationalität für Hermann Cohen. 231 Dieser Gedanke findet sich schon früh: Cohen, Hermann, Die Messiasidee (1892), JS 1, 105–124, hier : 124. 232 Vgl. Kohler, George Y., Finding God’s Purpose. Hermann Cohens Use of Maimonides to Establish the Authority of Mosaic Law, in: JJTP 18 (2010), 75–105, hier : 101. 233 Wassermann, Jakob, Mein Weg als Deutscher und Jude, in: ders., Deutscher und Jude. Reden und Schriften 1904–1933, hg. u. mit einem Komm. versehen v. Rodewald, Dierk, Heidelberg 1984, 35–131, hier : 130.

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bei Jes 2,2–5 eschatologisch beschrieben ist. Kellermann lässt sich in diesem Zusammenhang zu der These hinreißen, diesen „prophetische[n] Zukunftsstaat“ mit dem Ideal, das „Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation vertritt“ gleichzusetzen (33). Solche „nationalen Zukunftsträume“ würden keineswegs „von einem krankhaften Selbstgefühl oder einem nationalen Eigendünkel“ zeugen (33), sondern, als Symbol der sittlichen Vollkommenheit, als erstrebenswerter Zielpunkt aller Menschen gelten. Kellermann untermauert den Sachverhalt mit einem Zitat Wellhausens: „Die Propheten setzten der Nation das Ideal entgegen. […] Israel blieb auch ihnen das Korrelat zu Jahve, freilich nicht Israel, wie es war, sondern Israel, wie es sein sollte“.234 Der Prophet Ezechiel, dessen Beurteilung durch Kellermann sich gegenüber früheren Texten gewandelt hat, spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Ist er in der Replik auf Troeltsch ein unentbehrlicher Wegbereiter für die sittliche Autonomie des Individuums, gilt er ihm in vorherigen Publikationen im Anschluss an Wellhausen und andere Alttestamentler als Begründer des „mythischen und toten […] Priesterkodex“235 und damit als ein Mitverursacher der angeblich auf das Gesetz fixierten jüdischen Verfallsgeschichte. Im Prophetenaufsatz jedoch behauptet Kellermann, dass bei Ezechiel nicht nur deutlich werde, dass das Volk die Summe seiner Individuen sei und beide „zwei sich gegenseitig notwendig ergänzende Begriffe“ (39) bilden würden, sondern auch, dass der Einzelne eine „sittliche Freiheit“ besitze (44), die der göttlichen Gerechtigkeit entspreche und ethische Handlungen erst ermögliche. Die Auffassung von der „Freiheit und Absolutheit der Menschenseele“ (45) negiere konsequent die Vermischung von biologischem und sittlichem Individuum. Während das biologische Individuum durch die Gesamtheit seiner Lebensumwelt in Raum und Zeit geprägt sei, sei das sittliche Ich vom menschlichen Willen und den daraus fließenden sittlichen Handlungen bestimmt. Damit gehe Ezechiel noch über Jeremia hinaus. Während die gesamte alttestamentliche Bibelwissenschaft in Letzterem den Höhepunkt der Sittlichkeit sah, wird dieser bei Kellermann von den Psalmisten, Deuterojesaja und Ezechiel aufgrund deren intuitiver Erfassung der Idee von der Annäherung des moralisch handelnden Subjekts an die sittliche Vollkommenheit noch überflügelt.236 Kellermann bezeichnet Ezechiel als großen Individualisten und Altruisten, und obwohl dessen Adressat das, sich zu Teilen in Gefangenschaft befindende, Volk Israel ist, könne an dieser „Volksgemeinschaft“, die „fast ausschließlich sittlich“ geprägt sei (48), auch jeder Nichtisraelit teilnehmen, wie er mit Ez 18,5–9 zu belegen sucht. Die Ausführungen des Propheten zu den idealen Ge234 Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, 142. 235 Kellermann, Liberales Judentum, 9. 236 Vgl. ders., Die religionsphilosophische Bedeutung Hermann Cohens, 371.

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rechtigkeitsvorstellungen unter Ausschluss der kultischen Forderungen, wie Ez 11,19 und 36,26f belegen würden, kann Kellermann jedoch nur durch die quellenkritische Scheidung eines „vornomistische[n] Hesekiel“ von einem „nomistischen“ durchhalten (50). Dieser vorgesetzliche Prophet habe auch in seinen messianischen Visionen den Universalismus durchgehalten, der sich aus der Korrelation von Individuum und Allgemeinheit ergebe. Vollendet ausgedrückt sei der messianische Universalismus jedoch bei „jenem Propheten, der Israel zum Knecht Gottes, zum Licht und Heil der Völker, zum Weltenpriester erhebt – bei Deuterojesaja“ (52). Mit diesem Missionar, der als Knecht und Märtyrer Gottes daherkomme, „hat sich die individuelle Volksseelsorge Hesekiels zur universalen Weltseelsorge und damit zur Seelsorge schlechthin erhoben“ (52), wie Jes 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9 und 51–53 belegen würden. Weil er nur die allgemeingültige „Wahrheit“ und das „Recht“, jedoch keine „partikularistisch verengten ,Gesetzesbündel‘“gefordert habe (54), sei seine Botschaft „auf dem idealen Grunde der autonomen sittlichen Vernunft verankert“ (53). Auch der Psalter müsse „als eine ergiebige Fundgrube für universalistische Gesinnung im tiefsten Sinne des Wortes bezeichnet werden“ (55). Wie jeder Exeget, ist auch Kellermann mit dem Problem widersprüchlicher Textaussagen konfrontiert. Stehen in einem Psalm oder bei einem Propheten kultfreundliche (partikulare) und kultkritische (universale) Passagen nebeneinander, erklärt er dies historisch-kritisch mit „literarisch verschiedene[n] Teile[n]“, die von einem „späteren Redaktor“ zusammengefügt wurden (61). Mit dem tieferen Durchdringen der sittlichen Fragen, sei in Ps, Ez, Jer und DtJes der „religiöse Pragmatismus“ vom „Messianismus“ abgelöst worden (57). Das heißt, die Propheten hätten das Individuum von seinem geschichtlich-biologischen Hintergrund abgeschnitten, um es auf einen überempirisch idealen zu stellen: „Denn nur als Glied und Sprosse an der Himmelsleiter sittlicher Kultur vermögen Individuum und Volk ihr eigenes Selbst zu erobern“ (58). Obwohl Troeltsch das an verschiedenen Stellen erkannt habe, bleibe diese Erkenntnis wertlos, da er die prophetische Sittlichkeit generell als minderwertig betrachte. Insgesamt sei es so, dass sich im Psalter – etwa Ps 8.15.22.51.69.71 – und bei den genannten Propheten eine unerschütterliche Zuversicht in das Individuum und seine Fähigkeit zu sittlichem Handeln finden lasse, das den Menschen schon im Hier und Jetzt „der idealen Welt teilhaftig“ werden lässt (59). Dass das prophetische Ethos, das über die prophetischen Bücher hinaus auch im Deuteronomium, in der Weisheitsliteratur und in vielen Psalmen seinen Niederschlag gefunden habe, explizit nicht zwischen Juden und Nicht-Juden trenne, sei der stringenteste Beweis für seine Universalität. Während Troeltsch behauptet, dass das nachexilische Judentum in seiner Partikularität gefangen geblieben sei, unterstellt Kellermann diese Partikularität

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dem Christentum. Er sieht den Entwicklungsprozess auf das ethische Ideal hin mit den Propheten beginnen und sich in den Forderungen des liberalen Judentums fortsetzen. Es wurde bereits aufgezeigt, dass der Philosoph in seinem Gesamtwerk nicht nur jüdische Exegeten, sondern immer wieder auch die protestantische Theologie kritisiert. Nicht nur für die halbherzige Anwendung der historisch-kritischen Methode auf neutestamentliche Texte rügt Kellermann die Theologen,237 sondern es lassen sich in mehreren Publikationen auch scharfe Urteile über den angeblich partikularen und damit minder wertvollen Charakter der christlichen Religion finden, die auch hier gegen Troeltsch mit folgenden Argumenten begründet werden: Mit der dogmatisch verstandenen „paulinischen Gesinnungsethik“ (19), die den Mythos nicht überwunden habe, dem „neutestamentliche[n] Individualbegriff“, der bei den Synoptikern „nomistisch gefärbt“ (64) sei und dem „Problem“ des historischen Jesus.238 Kellermann versucht, den Vorwurf Troeltschs umzukehren, weshalb für ihn nicht der liberale Protestantismus, sondern das an den Propheten ausgerichtete liberale Judentum den Charakter einer rationalen und sittlichen „Kulturreligion“239 trägt. Juden hätten durch den „ethischen Monotheismus“ einen unbestreitbaren Anteil an der sittlichen Entwicklung der Menschheit, was sie dazu berechtige, in Deutschland und anderen Ländern auch weiterhin an Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur aktiv zu partizipieren. Eine christlich grundierte europäische Kultursynthese, wie sie Troeltsch vorschweben wird, würde Kellermann ablehnen, weil das Christentum in seinen Augen von Partikularismus und Mythos gezeichnet sei. Seine eigene Kultursynthese aus den Quellen des prophetischen Judentums und des kritischen Idealismus beansprucht hingegen, als weltbürgerliche von authentischer Universalität zu sein.

4.4.3 Vitalität der Debatte bis 1920 Unter reformorientierten Juden galt Troeltsch als ein Intellektueller, auf den bezüglich der christlich-jüdischen und deutsch-jüdischen Verständigung Hoffnungen gesetzt wurden. Umso erschütterter waren sie von dessen Aufsatz, mit dem er auf einen „Grundpfeiler des liberaljüdischen Selbstverständnisses, die Vorstellung vom ethischen Universalismus der Propheten“240 gezielt hatte. Dies erklärt die rege An237 Vgl. Kellermann, Kritische Beiträge, 9. 238 Zur Auseinandersetzung Kellermanns mit dem Christentum in seinem Gesamtwerk vgl. II.2. 239 Kellermann, Das liberale Judentum und seine Führer, 1. 240 Sieg, Streit, 9.

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teilnahme jüdischer, aber auch christlicher Gelehrter an der Debatte bis etwa 1920, die hier jedoch nur ausschnittweise dargestellt werden kann. Hermann Cohen griff im August 1917 mit zwei Artikeln direkt in die Debatte ein, in denen er uneingeschränkt für Kellermann eintritt: „Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung“ und „Der Prophetismus und die Soziologie“.241 Auch an anderer Stelle weist er implizit die Thesen Troeltschs zurück, ohne aber direkt auf den Disput einzugehen.242 Zudem findet sich in Cohens Gesamtwerk eine Fülle von Verweisen auf den „ethischen Monotheismus“ der Propheten und dessen behauptete Übereinstimmung mit dem kritischen Idealismus. In der hochgelobten Schrift Kellermanns, die sich durch gelungene philosophische Reflexion und religiösen Enthusiasmus auszeichne, gehe es Cohen zufolge „um nichts Geringeres als um das Ganze unserer Religion“243. Denn obwohl die Anerkennung der Propheten als „Begründer der sozialen Religion“244 Allgemeingut der protestantischen Bibelwissenschaft geworden sei, habe sich Troeltsch in seinem „verkehrten Materialismus“245 von dieser Ansicht emanzipiert. Materialismus definiert Cohen hier als Neigung, „die gesamte Kultur in allen ihren Leistungen und Bestrebungen aus dem Zwange der wirtschaftlichen Bedingungen herzuleiten“246. Das Bollwerk dagegen sei die Soziologie, die versuche, „die Eigenart aller Kulturkräfte aufrechtzuerhalten“, so dass nicht nur die Ökonomie als Kulturkraft gelte, sondern alle geistigen und sittlichen Ideen in dieses Wechselspiel einbezogen würden. Troeltsch gebe sich in seinem Essay zwar den Anschein rechten soziologischen Arbeitens, spiele aber doch nur dem Materialismus in die Hände. Die Charakterisierung der Ethik der Propheten als bäuerlich-archaisch und die Unterstellung des partikularen Gottesbegriffs würden Troeltsch allein aus dessen Überbewertung der sozioökonomischen und politischen Zustände im antiken Israel erwachsen. Damit habe er sich in „seiner Abart von Soziologie“247 unwiderruflich von einer Grundannahme des philosophischen Idealismus ver241 Cohen, Würdigung; ders., Der Prophetismus und die Soziologie (1917), Werke 17, 503–510. 242 Ders., Monotheismus und Messianismus (1916), Werke 17, 353–370, hier : 359; ders., Julius Wellhausen, 618. – Zu den philosophisch-theologischen Unterschieden zwischen Troeltsch und Cohen vgl. Dietrich, Cohen and Troeltsch; Kluback, William, A Critique of Historical Reality. Ernst Troeltsch and Hermann Cohen, in: ders., The Idea of Humanity. Hermann Cohens Legacy to Philosophy and Theology, Studies in Judaism, Lanham 1987, 215–237. 243 Cohen, Würdigung, 496. 244 Ders., Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten (1916), Werke 17, 297–335, hier : 307 (Hrvh. im Orig.). 245 Ders., Prophetismus und Soziologie, 506. 246 Ebd., 505. Folgendes Zitat: ebd., 506. 247 Ebd., 509. Ähnlich: ders., Monotheismus und Messianismus, 359.

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abschiedet: Vom kulturellen Eigenwert der Ideen. Cohen erkennt in der „Bauernmoral“ zwar auch die „natürliche Grundlage der Sozialethik“248 Israels. Ideen sind ihm nicht kontextlos, sie „erwachsen doch aus nationalen Engen, aus zeitlichen Bedingungen, ja sogar aus persönlichen Zufälligkeiten“249. Noch in der Religion der Vernunft wird er „das Ungeheuerliche der Ansicht“ Troeltschs kritisieren, „welche die bäuerliche Ursprünglichkeit der sozialen Verhältnisse in Gegensatz stellt zum ethischen Universalismus“, denn „[g]erade diese wirtschaftliche Enge hat die Weite des ethischen Horizontes mitbewirkt“.250 Obwohl sich Ideen also zunächst in nationalen und zeitlichen Kontexten formieren würden, trügen sie eine positive Entwicklungstendenz, einen größeren allgemeinen Zusammenhang in sich, in dem ähnliche Ideen vereinheitlicht würden. Die Propheten seien Patrioten gewesen und von einer nationalen Sittlichkeit ausgegangen, aber sie hätten diese schrittweise in eine universale transformiert: „[D]er Prophet verliert sein Vaterland, weil sein Vaterland die Menschheit wird“251. Indem ihnen Troeltsch aber Partikularismus vorwerfe, „wird das Judentum als Religion vernichtet“252. Denn Religion dürfe zwangsläufig nicht partikular sein, sondern müsse allen Menschen und Völkern offenstehen: „Die Wahrheit unserer Religion besteht in unserer Weltreligion“. Kellermann habe den Angriff Troeltschs auf das Judentum als Kulturträger abgewehrt, indem er bewiesen habe, dass der Gott der Propheten als die „Macht des Guten“253 der Gott der gesamten Menschheit sei. Die Propheten hätten die Inhalte des kritischen Idealismus intuitiv vorweggenommen, so dass „nur in der logischen Begründung ein Unterschied bestehe zwischen der Moral der Propheten und der Psalmen, mithin der Sittenlehre der jüdischen Religion und der Platonisch-Kantischen Ethik“254. Die Argumentation der beiden Neukantianer ist damit dieselbe, wenn sie behaupten, dass die Allgemeingültigkeit der prophetischen Verkündigung ihre normsetzende Relevanz in der Gegenwart beweise und damit Troeltschs These vom partikularen Charakter des Judentums widerlegt sei. Der Disput um das „Ethos der hebräischen Propheten“ fand neben den Besprechungen Cohens umfassenden Niederschlag in jüdischen und christlichen Periodika. Eine erste Sammlung von Stimmen findet sich bei Ulrich Sieg,255 die in der vorliegenden Arbeit ergänzt werden. Damit soll zum einen die Vielfäl-

248 249 250 251 252 253 254 255

Ders., Prophetismus und Soziologie, 507. Ders., Die Messiasidee, 106. Ders., 1RV, 176. Ders., Der Stil der Propheten, 275. Ders., Prophetismus und Soziologie, 506. Folgendes Zitat: ebd., 510. Ders., Würdigung, 500. Folgendes Zitat: ebd. Ebd., 497. Vgl. Sieg, Streit, 15–19.

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tigkeit der jüdischen Reaktionen, zum anderen die bisher außen vor gebliebene Anteilnahme weiterer christlicher Gelehrter an der Debatte aufgezeigt werden. Der evangelische Theologe Otto Eißfeldt (1887–1973) verfasste 1918 eine vermittelnde Besprechung in der Deutschen Literaturzeitung, die Kellermann zur Kenntnis genommen hatte.256 In ihr will der Rezensent aufzeigen, dass die beiden Positionen gar nicht so weit auseinanderliegen würden. Troeltsch wende mit der „nachfühlenden“ die richtige Methode in der Religionsgeschichtsschreibung an, die korrekt erweise, „daß die Propheten nicht als Verkünder einer sich anbahnenden universalen Gottesauffassung begriffen werden können, daß vielmehr der Zusammenhang von Volk und Gott für sie außerordentlich fest ist.“257 Das Hauptproblem Kellermanns sei, dass er Troeltsch zu Unrecht vorwerfe, den Prophetismus bewertet zu haben. Um darauf zu reagieren, könne er nicht mehr „allein als Historiker“ sprechen, wie es Troeltsch trotz mancher überspitzter Formulierung getan habe, sondern begebe sich in apologetischer Absicht selbst auf das Gebiet von Werturteilen, „auf dem er seinen Gegner nicht mehr trifft.“ Von daher ist Eißfeldt der Überzeugung: „[W]enn Troeltsch als Geschichtsphilosoph zu den Propheten das Wort nehmen würde, so würde sich sein Werturteil von dem K.[ellermann]s nicht allzu weit entfernen.“ Otto Procksch (1874–1947), Dozent für Altes Testament an den Universitäten Greifswald und Erlangen, sieht entgegen Eißfeldt in Troeltsch und Kellermann nicht Historiker, sondern „Humanisten“, die beide „als Philosophen“ schreiben.258 Er rezensiert die Schrift des Rabbiners scharf und von der Warte der protestantischen Universitätstheologie aus. Zwar sei es ihm „gut gelungen“, „in der Geschichte der Prophetie von Amos bis in die nachexilische Zeit übernationale Gedanken aufzuweisen“. Die dabei begangenen Fehler wögen aber umso schwerer, denn Kellermann habe zu Unrecht Religion und Sittlichkeit gleichgesetzt. Für den konservativen lutherischen Theologen muss aber jeder „Versuch, die Prophetie aus einem philosophischen Begriff der Sittlichkeit zu verstehen, […] stets fehlschlagen. Die Prophetie kann nur theologisch verstanden werden, weil Gott lebendige Person ist, der die Menschen ergreift und mit sich verbindet.“ Da Procksch das Alte Testament allein auf Jesus Christus hin liest, fordert er, dass die Prophetie „vom Christentum aus verstanden werden“ müsse. Indem er Kellermann vorwirft, „dem Christentum diese Schlüsselstellung“ nicht angewiesen zu haben und eine eigene jüdische Lesart der Hebräischen Bibel nicht 256 Eissfeldt, Otto, [Rez.] Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten, in: DLZ Nr. 19 vom 11. 5. 1918, 386–390. Die Rezension findet sich in Kellermanns Nachlass: Privatbesitz Susan Kellermann. 257 Ebd., 388. Folgende Zitate: ebd., 390. 258 Procksch, [Otto], [Rez.] Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten, in: unbekannter Zeitungsausschnitt, Privatbesitz Susan Kellermann, o. S. Alle folgenden Zitate: ebd.

Im Ersten Weltkrieg

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gelten lässt, ist an dieser Stelle ein christlich-jüdisches Gespräch über Inhalt und Relevanz der Prophetie auf Augenhöhe unmöglich geworden. Der Berliner Pfarrer und Kirchenhistoriker Bruno Violet ist in seiner Kurzrezension für die Christliche Welt fest davon überzeugt, dass es Troeltschs Absicht war, eine solch hohe Wogen schlagende Debatte auszulösen. Aufgrund der Relevanz der besprochenen Gegenstände wie Universalismus und Partikularismus bezeichnet er dies aber als einen „Segen“.259 Violet wirft Kellermann zwar „eine garzu abstrakte und mit Fremdwörtern verschwenderische Schreibweise“ vor, bleibt in seiner Darstellung ansonsten aber neutral: Das Ziel des Rabbiners sei es, aufzuzeigen, dass die Propheten „der ganzen Menschheit angehören und der ganzen Menschheit auch heut noch etwas zu sagen haben.“ Inhaltlich geht er nicht weiter auf die Streitschrift ein, sondern fordert die Mitarbeit jüdischer Gelehrter an den Übersetzungen jüdischer Texte und verficht somit die Ziele der Wissenschaft des Judentums: „Dann wird die Menschheit sehen, was sie vom Judentume lernen kann!“ Auf jüdischer Seite waren die Reaktionen auf die Debatte ebenfalls zahlreich. Rafael Seligmann verfasste in Bubers Juden aus zionistischer Perspektive einen beißenden Aufsatz über die Rezeption der Propheten durch das liberale Judentum, welches durch sie „mit einer erstklassigen Moral“260 versorgt werde. Zwar sei Troeltsch mit seiner These vom beschränkten Nationalismus und der primitiven Bauernmoral hin und wieder der Einseitigkeit erlegen, habe aber unwiderlegbar „die Idee einer ausschließlichen und zentralen Stellung des jüdischen Volkes auf geistigem Gebiet inmitten aller anderen Völkerschaften und Nationen“ bewiesen. „Insofern hat Troeltsch, wie gesagt, tausendmal Recht gegenüber den Emanzipationsjuden aller Gattungen und Schattierungen“. Unter jene zählt er auch Kellermann, der in noch „krassere[r] Einseitigkeit“ aus „den Propheten eine Art vaterlandsloser Gesellen höheren Stils, eine Art wandernder Philosophen ohne Boden, ohne Volkstum“261 mache. Max Wiener, zunächst ein Schüler Cohens, dann Troeltschs, schlug sich ebenfalls auf die Seite des christlichen Kulturphilosophen und argumentiert für eine Auffassung der Propheten als Sachwalter des jüdischen Nationalismus und gegen die Unterstellung eines reinen Universalismus.262

259 Violet, [Rez.] Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten, 381. Folgende Zitate: ebd., 382. – Diese Rezension befindet sich ebenfalls im Nachlass: Privatbesitz Susan Kellermann. 260 Seligmann, Rafael, Zur Frage des Prophetismus, in: Jude 3 (1918/19), 43–48, hier: 43. Folgende Zitate: ebd., 47. 261 Ebd., 45. 262 Wiener, Max, Nationalismus und Universalismus bei den jüdischen Propheten, in: JW 2/ 4–5 (1919–1920), 190–200.

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Innerhalb des liberalen Judentums wurde die Argumentation Kellermanns begeistert aufgenommen und sogar eine zweite, vermehrte Auflage war für den Sommer 1920 geplant.263 Caesar Seligmann lobt in seiner Rezension vom Oktober 1917 Kellermanns Einsatz für den Universalismus der Propheten in den höchsten Tönen.264 Michael Abraham hielt am 17. Januar 1918 im „Jüdisch-liberalen Jugendverein zu Berlin“ einen Vortrag mit dem Titel „Neuer Kampf um den israelitischen Prophetismus“.265 Es ist wahrscheinlich, dass sein im August desselben Jahres gedruckter Aufsatz „Um die Ethik unserer Propheten“ auf diesen Ausführungen beruht. Er verteidigt darin ebenfalls die „ausgezeichnet[e]“266 Argumentation Kellermanns für den Universalismus der hebräischen Propheten. Der Philosoph Arthur Buchenau (1879–1946), der auch an der Cassirerschen Kant-Edition beteiligt war, unterstützt Kellermanns „gelungene Widerlegung“ mit einer ähnlichen Argumentation.267 Troeltsch schreibe von einem „eigenartigen Standpunkt des ,religiösen Apriori‘ aus“, der ihn dazu verleite, den Propheten zu Unrecht eine Kulturindifferenz zuzuschreiben. Vielmehr dürfe aber an „dem universalistischen Grundcharakter der prophetischen Ethik nicht zu zweifeln sein“, der „freilich auch eine gewisse Gefahr der Abschwächung ins Kosmopolitische“ beinhalte, wie er kritisch schließt. Insgesamt war die Strategie der liberaljüdischen Autoren apologetisch motiviert und zudem darauf ausgerichtet, das gespannte Verhältnis zum Protestantismus nicht ganz abreißen zu lassen. Dies unterschied sie von dem Großteil der Zionisten und Orthodoxen, die das Judentum zwar in unterschiedlichen Kategorien beschrieben, sich aber darin einig waren, vom Christentum sowieso nichts erwarten zu können.

263 Die Lehren des Judentums. Nach den Quellen, Teil I: Die Grundlagen der jüdischen Ethik, hg. v. Verband der deutschen Juden, bearbeitet von Bernfeld, Simon, Berlin 1920, Bucheinband. In seinem Beitrag zum vierten Teil dieser populären Reihe benennt Leo Baeck die „apriorische Korrelation“ von „Jahve und Sittlichkeit“ und verweist dafür unter dem Stichpunkt „Neueres jüdisches Schrifttum“ auf Kellermanns Propheten-Buch: Inbegriff von Sittlichkeit, Liebe, Gerechtigkeit und Heiligkeit. Einleitung, in: Die Lehren des Judentums. Nach den Quellen, Teil IV: Die Lehre von Gott, hg. v. Verband der deutschen Juden, bearbeitet von Bernfeld, Simon, Berlin 1924, 7–27, hier : 20. 264 S.[eligmann], [Caesar], [Rez.] Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten, in: LJud 9/9–10 (1917), 101f. 265 O. Verf., Jahresbericht des jüdisch-liberalen Jugendvereins zu Berlin 1917–1918, in: LJud 10/5–6 (1918), 47f, hier : 47. 266 Abraham, M.[ichael], Um die Ethik unserer Propheten, in: LJud 10/7–8 (1918), 53–57, hier : 54. 267 Buchenau, Arthur, [Rez.] Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten, in: unbekannter Zeitungsausschnitt, Privatbesitz Susan Kellermann, o. S. Alle folgenden Zitate: ebd.

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5. Rabbineramt und öffentliches Wirken 5.1 Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin Aus mehreren Gründen begannen spätestens 1917 innerhalb der jüdischen Gemeinde Berlins Überlegungen, Kellermann offiziell als Rabbiner zu berufen: Wegen seiner Tätigkeit als Seelsorger in verschiedenen Lazaretten während des Kriegs und aufgrund der Jugendgottesdienste, die er seit Dezember 19151 gelegentlich in den Synagogen Lützowstraße und Levetzowstraße hielt. Ferner wurde sein Einsatz für das Judentum in der Debatte mit Troeltsch hoch geschätzt.2 Schließlich wurde es ihm angerechnet, dass er „bereits früher das Amt eines Rabbiners in einer kleinen Gemeinde [d. i. Konitz, T. L.] zu deren Nutzen und Frommen ausübte[…] und mit den Obliegenheiten und Pflichten, die sich mit dem Amte eines geistlichen Führers und Seelsorgers verknüpfen, durchaus vertraut“ sei. Nach der Aussage von Ernst Kellermann hatte es eine Weile gedauert, bis der Lehrerkollege und Freund Julius Galliner, der schon seit April 1917 offiziell als Jugendrabbiner amtierte, seinen Vater überreden konnte, sich für das Rabbineramt in der Gemeinde zu bewerben.3 Dies hatte zum einen mit dem nicht in Erfüllung gegangenen Wunsch zu tun, an der HWJ zu dozieren und dadurch vorwiegend wissenschaftlich arbeiten zu können. Zum anderen stand er für ein Reformjudentum, das in seinen Forderungen nach Veränderung noch weitaus radikaler war, als es zum Teil selbst in den progressiv gesinnten Strömungen in der Berliner Einheitsgemeinde vertreten wurde. Die Forderungen, die er programmatisch in Liberales Judentum aufstellte, stießen auch innerhalb des Gemeindevorstands teilweise auf starke Ablehnung und hätten an einigen Punkten eher in das Profil der 1845 begründeten „Jüdischen Reformgemeinde“ gepasst, die sich von der Einheitsgemeinde exkludiert hatte. Sein Schwager Joseph Lehmann amtierte dort als Prediger und konzentrierte das Judentum ebenfalls auf einen prophetischen Kern. Ein Zeitgenosse erinnerte sich dessen „,Warnrufs gegen die Trübung des reinen Quells prophetischen Judentums durch trübenden zeremonialgesetzlichen Beisatz‘“.4 In Liberales Judentum und an anderer Stelle sprach sich Kellermann gegen eine Überschätzung Moses Mendelssohns für die Entwicklung der jüdischen Reformbewegung aus, weil dessen Harmonisierung zwischen der Moderne und 1 Den ersten dokumentierten Gottesdienst, der ein Jugendgottesdienst war, hielt Kellermann am 4. 12. 1915 in der Synagoge Lützowstraße: GJB 5/11 (1915), 138. 2 Vgl. o. Verf., Amtseinführung des Rabbiners Herrn Dr. Kellermann, 115. Folgendes Zitat: ebd. 3 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. 4 Rosenthal, James J., Jüdische Reformgemeinde zu Berlin, in: Sinasohn, Die Berliner Privatsynagogen, 34–39, hier : 38. Vgl. dazu auch den programmatischen Artikel: Lehmann, Joseph, Jeremia und das prophetische Judentum, in: GJB 23/1 (1933), 8f.

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der traditionellen jüdischen Lebensweise dazu geführt habe, die partikularen „Ritualgesetze“ weiter zu zementieren, anstatt sie endgültig aufzugeben. Kellermanns historisierende und fortschrittsoptimistische Auffassung von Religion richtet sich dagegen wie bei den Vertretern der „Jüdischen Reformgemeinde“ stärker an Mendelssohns Freund Lessing aus. Die Überzeugung Mendelssohns, „die Wahrheit sei ihrem Wesen nach ewig und der Lauf der Zeit sei für sie ohne Bedeutung“, lehnten sie ab, stattdessen teilten sie die Auffassung Lessings, „Religionen seien historischen Veränderungen unterworfen und die Menschheit insgesamt schreite in ihrer religiösen Entwicklung voran.“5 Galliner konnte Kellermann aber dennoch überzeugen, nicht dort zu wirken. Er sagte, es würde der Einheitsgemeinde gut tun,6 wenn sein Freund mit seinen liberalen Ideen dort als Rabbiner tätig sei. Henry Kellermann vermutet in seinen Erinnerungen, dass sein Vater deshalb nicht in die „Reformgemeinde“ eintrat, da er die starke Formalisierung des Gottesdienstes ablehnte. Was er bei den Orthodoxen als störend empfand, sei bei der „Reformgemeinde“, mit ihrer radikalen Ablehnung beziehungsweise Umänderung nahezu der gesamten Liturgie, eine „over-emphasis on form in reverse“ gewesen.7 Innerhalb des Gemeindevorstands und der Repräsentantenversammlung kam es bald nach Bekanntwerden der Personalie zu einer intensiven Diskussion über die Anstellung Kellermanns, die an eine ähnliche Episode einige Jahre zuvor erinnert. 1912 hatte der orthodoxe „Verein zur Erhaltung des überlieferten Judentums“, unter dem Vorsitz des stellvertretenden Vorsitzenden der „Adass Jisroel“ und Vorstandsmitglied des CV Moritz A. Loeb (1862–1935), die „Enthebung des Herrn Dr. Kellermann von seinem Amte als Religionslehrer der jüdischen Gemeinde“ gefordert, weil er in dessen Augen „in Wort und Schrift das Judentum schmähende Aeußerungen getan hatte, und nachdem er durch seine Veröffentlichungen sich zu einem unverhüllten Pantheismus bekannt und damit sich selbst außerhalb der Lehre des Judentums gestellt hatte.“8 Dass der orthodoxe Verein mit den teils radikalen Forderungen nach einer „Prophetisierung“ des Judentums nicht übereinstimmte, lag in der Sache selbst begründet. Pantheismus kann Kellermann jedoch nicht unterstellt werden, da er aus seiner Religionsphilosophie heraus gegen diesen immer polemisierte: „Der Monotheismus der Propheten steht […] in einem scharfen Gegensatze zum Pantheismus.“9 Gegen die Vermischung von Natur und Gott sowie Natur und 5 6 7 8

Meyer, Von Moses Mendelssohn bis Leo Baeck, 40. Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 13. AZJ Nr. 35 vom 30. 8. 1912, 420. – Die Informationen zu Moritz A. Loeb stammen aus: Barkai, Avraham, „Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938, München 2002, 242. 9 Kellermann, Cohens „Ethik des reinen Willens“, 213.

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Sittlichkeit hätten die Propheten den „ethischen Monotheismus“ gesetzt. Der so verstandene Gott als sittliche Idee ist das von der Natur verschiedene, gänzlich andere Sein. Kritik am Pantheismus und dessen Begründer Spinoza findet sich in Kellermanns Gesamtwerk immer wieder, systematisch setzt er sich damit in Die Ethik Spinozas auseinander. Ein Artikel in der AZJ befasst sich unter der Überschrift „Ketzergerichte“ mit der Eingabe des Vereins.10 Der unter dem Pseudonym „Iwri“ schreibende Verfasser verweigert zwar, sich „mit den Anschauungen Kellermanns zu identifizieren“, müsse diesen aber vor den Anschuldigungen des Vereins in Schutz nehmen. Zum einen, weil sie das Potential hätten, ihn „auf das schwerste in seiner Ehre zu kränken und in seiner Existenz zu schädigen“, zum anderen, weil sie inhaltlich falsch begründet seien, denn „eines ist sicher, daß Kellermann alles andere lehrt, nur nicht Pantheismus […] und daß es das Ziel seiner Lehre ist, dem Pantheismus völlig den Garaus zu machen.“ Die Forderung des Vereins blieb aufgrund fehlender inhaltlicher Begründung folgenlos, denn der Gemeindevorstand gäbe dem Verfasser des Artikels zufolge „auf Eingaben von solcher Leichtfertigkeit nichts“ und hätte „sie nicht einmal einer Antwort [ge]würdigt.“11 Aber unter orthodoxen und konservativen, teils auch progressiv gesinnten Juden, hatte sich Kellermann den Ruf eines radikalen Reformers erworben, der nicht mehr auf dem Boden der gemeinsamen jüdischen Tradition stand. So zeigten sich auch bei dessen Berufung zum Rabbiner 1917 konservative und traditionelle Mitglieder der Repräsentantenversammlung und des Gemeindevorstands ablehnend, einige legten aus Protest sogar ihr Amt nieder. Die liberal gesinnten Gemeindevertreter votierten dagegen sowohl für Kellermann als auch für den ebenso reformerischen Julius Galliner.12 Trotz des Widerstandes wurde Kellermann schließlich „gewählt“13 und „vom 1. Oktober 1917 ab als Rabbiner der jüdischen Gemeinde zu Berlin auf Lebenszeit angestellt.“14 Die Amtseinführung fand am Freitag, den 5. Oktober vor dem Abendgottesdienst in der liberalen Synagoge Levetzowstraße statt: „Zu der feierlichen Handlung hatten sich Vertreter des Gemeindevorstandes, der RepräsentantenVersammlung und Mitglieder zahlreicher Verwaltungs-Kommissionen eingefunden. In feierlichem Zuge, dem Synagogendiener mit brennenden Kerzen voranschritten, wurde der neue Rabbiner unter Chorgesang zur heiligen Lade 10 Iwri, Ketzergerichte, in: AZJ Nr. 44 vom 1. 11. 1912, 517f. Folgende Zitate: ebd., 517 (Hrvh. im Orig.). 11 Dies bestätigt die Lektüre der zeitlich darauf folgenden Ausgaben des GJB: 2/10 (1912), 129–133; 2/11 (1912), 144–146; 2/12 (1912), 154–156, in denen sich nichts zu der Eingabe findet. 12 Vgl. GJB 7/12 (1917), 128f; GJB 8/1 (1918), 8; GJB 8/2 (1918), 21. 13 Gutmann, Geschichte der Knabenschule, 113. 14 Bestallungsurkunde für Benzion Kellermann, 23. 7. 1917, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl.

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geführt“15. Der Vertreter des Gemeindevorstands Stern machte ihn in seiner Ansprache mit den Bedingungen einer großen Stadtgemeinde wie Berlin vertraut, erläuterte das Konzept der Arbeitsteilung unter den Rabbinern und konzentrierte seine Aufgabe darauf, „unsere Jugend zu erziehen zu tüchtigen, wackeren und charaktervollen Menschen, zu treuen, opferfreudigen Söhnen und Töchtern unseres Vaterlandes, zu hingebungsvollen, glaubensstarken Söhnen und Töchtern Israels.“16 Galliner zufolge erhoffte sich Kellermann von seinem Wirken, dass „Abraham Geigers jüdische Theologie auch in dem Leben der Gemeinden zu sichtbarem Ausdruck kommen werde“.17 In der Rede, die Kellermann bei seinem Amtsantritt hielt, erwähnt er denn auch Rabbiner wie „Sachs, Geiger und Frankl“, die in der Vergangenheit „die Kanzeln der jüdischen Gemeinde zierten“ und fragt nach den „Ideen, die den Grundgehalt des Judentums bedeuten, und zu deren Verwirklichung der Rabbiner in erster Reihe berufen scheint.“18 Diese identifiziert er im Anschluss an die Mischna und die Propheten als die „Pflichten der sozialen Liebe und Gerechtigkeit“, die „Milde und Versöhnung“, das „gewissenhafte[…] Gebet[…]“ und das „Thorastudium“.19 Jene Ideen – und vor allem das immer neue Nachdenken über die Tora als gegen „Erstarrung und Versteinerung“ gerichtete religiöse Handlung – würden den „souveränen Geltungswert“ des Judentums als „kulturelle Substanz der Zukunft“ begründen und müssten, einer ewigen Aufgabe gleich, in der unendlichen Zukunft verwirklicht werden. Kellermann, der es als die Hauptaufgabe des Rabbiners ansieht, den „Ausgleich zwischen Judentum und Kultur […] durch Lernen und Lehren“ zu verwirklichen, stellt sich bewusst in die Tradition der, von der Wissenschaft des Judentums beeinflussten, jüdischen Reformer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. „Ja, meine Lehrer und Vorgänger sollen mir durch ihre Leistungen Ziel und Vorbild sein. An ihrem Eifer wird sich meine Kraft aufs neue stets entzünden“. Jene hatten sich unter anderem zum Ziel gesetzt, durch eine Modernisierung der Liturgie den sich in der Mehrheit deutsch-jüdisch und liberal definierenden Glaubensgenossen den Zugang zur Synagoge zu vereinfachen oder überhaupt erst wieder zu ermöglichen. Max Dienemann betont diesen Anspruch in seinem Nachruf auf Kellermann: „[M]an muß anerkennen, daß er als Rabbiner solcher Art unendlich vielen religiöses Leben nach ihre [sic] 15 Vgl. o. Verf., Amtseinführung des Rabbiners Herrn Dr. Kellermann, 115f. 16 Ebd. 17 Galliner, Julius, [Ts] ohne Titel [Nachruf auf Hans Sachs], undatiert [1934], LBI New York, AR 3070, Box 1, Series 4, Folder 11, 3 Bl., hier : Bl. 2. – Aktuell zu Denken und Wirken des jüdischen Reformers: Wiese/Homolka/Brechenmacher (Hg.), Jüdische Existenz in der Moderne. 18 O. Verf., Amtseinführung des Rabbiners Herrn Dr. Kellermann, 115. 19 Ebd., 115f. Folgende Zitate: ebd., 116.

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Ueberzeugung vorlebte und ihnen zu einer Bindung ans Judentum wieder verhalf, die sie sonst verloren hätten.“20 In der im Juli 1917 ausgestellten Bestallungsurkunde wird zunächst darauf hingewiesen, dass er den „neben ihm fungierenden Herren Rabbiner […] gleichgestellt“ ist, bevor auf die weiteren Rechte und Pflichten eingegangen wird. Er musste eine Religionsschule leiten und Religionsunterricht erteilen, auf Anfrage hin Unterricht inspizieren, „die rituellen Einrichtungen der Gemeinde“ beaufsichtigen und „religiös-kasuistische Fragen“ beantworten.21 Er hatte an vier Tagen in der Woche Sprechstunde und empfing in der häuslichen Wohnung, deren Adresse wie bei allen offiziellen Rabbinern der Gemeinde monatlich im Gemeindeblatt veröffentlicht wurde.22 Ernst Kellermann berichtet, dass viele Personen das Arbeitszimmer aufsuchten, um mit seinem Vater zu sprechen. Neben offiziellen Mitarbeitern der Gemeinde und Seelsorge Suchenden waren dies auch Philosophen und frühere Schüler, die ihn besuchten: „[H]e had many friends all over the world“.23 Mit der Bekleidung der offiziellen Rabbinerstelle verbesserte sich auch die finanzielle Situation der vierköpfigen Familie. Das Anfangsgehalt belief sich auf jährlich 9000 Mark, das alle drei Jahre um jeweils 1000 Mark bis auf maximal 14 000 Mark anstieg; für Trauungen und Bestattungen wurden zusätzliche Honorare gezahlt.24 Bedingt durch die Inflation und die steigenden Lebenskosten seit dem Kriegsende, wurde sein Gehalt am 1. April 1920 auf 25 400 Mark inklusive einer Teuerungs- und Kinderzulage angehoben.25 Zudem wurde ihm vertraglich ein Ruhegehalt sowie im Todesfall seinen „Hinterbliebenen Witwen- und Waisengeld“ zugesichert.26 1926, drei Jahre nach Kellermanns Tod erhielt dessen Frau, einer Liste des „Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden“ zufolge, dann auch jährlich 8568 Mark für sich und die beiden Kinder.27 Kellermann war der Bestallungsurkunde nach berechtigt, „in den Synagogen und Betsälen der Gemeinde an Sabbaten, Feiertagen und Halbfeiertagen, sowie an deren Vorabenden, ferner auch bei den an anderen Tagen stattfindenden Gottesdiensten und bei sonstigen die Gemeinde berührenden Veranstaltungen“ 20 Dienemann, Kellermann zum Gedächtnis, 4. 21 Bestallungsurkunde für Benzion Kellermann, 23. 7. 1917, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl. 22 Aus GJB 7/11 (1917), 120; GJB 8/5 (1918), 60 u. ö. geht hervor, dass er am Sonntag, Montag, Mittwoch und Donnerstag von 10 bis 11 Uhr Sprechstunde hatte. 23 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. 24 Bestallungsurkunde für Benzion Kellermann, 23. 7. 1917, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl. 25 Vorstand der jüdischen Gemeinde an Benzion Kellermann, 28. 7. 1920, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl. 26 Bestallungsurkunde für Benzion Kellermann, 23. 7. 1917, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl. 27 Nachtrag Nr. 3 durch den Preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden zur Aufstellung der erforderlichen Zuschüsse für die Rabbiner, 8. 3. 1926, GSTA PK Berlin, I. HA, Rep. 76, III. Sekt. 1, Tit. XIIIa, Nr. 73, Bl. 21–26.

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zu predigen. Daneben war es ihm auch formal gestattet, zu trauen und zu bestatten, jedoch sollte er dies „in der Regel nicht übernehmen“ und sich „[i]n erster Reihe“ den „Predigten bei den Jugendgottesdiensten“ widmen.28 Dies bekräftigt auch der Vertreter des Gemeindevorstands in seiner Ansprache an Kellermann bei der Amtseinführung: „Sie […] sollen Ihren Wirkungskreis vorzugsweise und in erster Linie haben auf dem Gebiete, das von jeher als das schönste und edelste, als das schwierigste allerdings, aber auch als das segensreichste und dankbarste gilt, auf dem Gebiete der Jugenderziehung.“29 Was Kellermann schon seit vielen Jahren in seinem Unterricht als Religionslehrer tat, wurde ihm hier noch einmal nahegelegt: Ihnen, sehr geehrter Herr Rabbiner erwächst nunmehr die besondere Aufgabe, die hohen ethischen und kulturellen Werte unserer Religion in die empfänglichen Gemüter und Herzen unserer Jugend zu pflanzen, ihr die tiefen und reichen Schätze unseres Schrifttums zu erschließen, sie vertraut zu machen mit der Leidens- und Heldengeschichte des Judentums, sie zu erwärmen und zu begeistern für die formvollendeten Dichtungen, die in den Psalmen leben, so beredten Ausdruck finden, der Jugend die Fundgrube der reichen Geistesschätze, die tiefen Lebenswahrheiten und Weisheiten zu erschließen, welche die Bücher unserer Propheten verkünden.

Die Jugendlichen sollten zu deutschen Juden erzogen werden, die mit Stolz und Selbstbewußtsein dem Antisemitismus, „in der Gegenwart, in der sie [die Jugend im Ersten Weltkrieg, T. L.] Leib und Blut auf dem Altar des Vaterlandes opfert und in der Zukunft, wenn das schaurige Völkerdrama, das sich vor unseren Augen abspielt, sein Ende gefunden haben wird“, entgegentreten. Der Jugendgottesdienst als ein Teil dieser religiösen Erziehung richtete sich an Kinder und Jugendliche zwischen acht und vierzehn Jahren,30 danach galten sie als religiös mündig und hatten meist ihre Bar Mitzwa oder Bat Mitzwa erlangt. Die Jugendgottesdienste führte Kellermann zumeist in seiner, im Bezirk Tiergarten gelegenen, Haussynagoge Lützowstraße 16 durch, welche von dem damals renommierten Architektenbüro „Cremer & Wolffenstein“ in neogotischem Stil entworfen und von 1897 bis 1898 erbaut wurde.31 Offiziell eingeweiht wurde das knapp 1900 Sitzplätze fassende Bethaus am 11. September 1898 unter Anwesenheit von Vertretern der Stadtverordnetenversammlung und einer vom 28 Bestallungsurkunde für Benzion Kellermann, 23. 7. 1917, Privatbesitz Susan Kellermann, 1 Bl. 29 O. Verf., Amtseinführung des Rabbiners Herrn Dr. Kellermann, 115. Folgende Zitate: ebd. (Hrvh. T. L.). 30 Dies geht hervor aus GJB 6/9 (1916), 111. 31 Zur Geschichte der Synagoge vgl. Rebiger, Bill, Das jüdische Berlin. Kultur, Religion und Alltag gestern und heute, 3. aktualisierte Aufl., Berlin 2007, 81. Eine Abbildung des Gotteshauses bietet: ders., Jüdisches Berlin. Photos aus Kaiserreich und Weimarer Republik, Berlin 2008. – „Cremer & Wolffenstein“ entwarfen u. a. auch die 1891 eingeweihte Synagoge in der Lindenstraße 48–50.

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Magistrat entsandten Deputation unter Führung des Bürgermeisters Kirschner. Das Gebäude lag, wie viele Berliner Synagogen der Zeit, verborgen auf einem Hinterhof, in dem Vordergebäude waren soziale Einrichtungen und Dienstwohnungen untergebracht. Dort befand sich ebenfalls die III. Religionsschule der jüdischen Gemeinde, die von Rabbiner Weiße geleitet wurde. In der Reichspogromnacht 1938 kaum beschädigt, wurden hier noch bis Pessach 1940 Gottesdienste abgehalten. Während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg wurde sie zerstört und 1954 endgültig abgerissen. Die Gottesdienste wurden hier nach liberalem Ritus inklusive Orgelmusik und deutschen und hebräischen Gesängen abgehalten, weshalb der reformerische Kellermann für diese Einrichtung in Frage kam. Die Gemeindeverwaltung hatte in der Lützowstraße und in den anderen offiziellen Gemeindesynagogen bereits 1911 die „Verdeutschung der Torahvorlesung“ eingeführt, um auch den Teilnehmern mit weniger guten oder gar keinen Kenntnissen des Hebräischen den Zugang zum rezitierten Text zu erleichtern. Nach der Verlesung übersetzte oder paraphrasierte der Rabbiner das Gelesene, woran sich eine Erklärung des Textes anschloss.32 Zudem wurde in allen Gotteshäusern mit Orgel im März 1913 die „Agende für die Verdeutschung der Prophetenabschnitte (Haftaroth)“ eingeführt, mit der jeder Gottesdienstbesucher in der Lage war, der allwöchentlichen Lesung aus den Propheten zu folgen.33 Kellermanns Jugendgottesdienste fanden immer am Samstagnachmittag34 statt und waren geprägt von vielen Liedern, die zumeist auf Deutsch, zum Teil auf Hebräisch, gesungen wurden. Falls er sich an das 1912 von der Gemeinde herausgegebene Liturgische Liederbuch hielt, was wahrscheinlich ist, richtete sich der Jugendgottesdienst nach folgender Ordnung: Die Eröffnung durch den Gesang „Wie schön sind deine Zelte [Jakob]“, dann das hebräische Gebet „Aschre“ in Anlehnung an Ps 145, die Tora-Lesung mit dazugehörigen Liedern, ein deutsches Lied zur Neumondsweihe, die Predigt Kellermanns, die „Keduscha“ (Heiligung des Gottesnamens) und ein abschließendes Lied namens „Darum beugen wir“, das die Einheit und Einzigkeit Gottes und seine Herrschaft über die Welt ausspricht.35 Ferner bereitete er seit April 1918 in seiner Religionsschule Jungen und Mädchen zwischen 13 und 15 Jahren auf ihre Bar Mitzwa und Bat Mitzwa vor.36

32 Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1910 bis 31. März 1913, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 100–109, hier: Bl. 101. 33 Ebd., Bl. 101f. 34 Vgl. etwa GJB 8/5 (1918), 60 u. ö. 35 Vgl. Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (Hg.), Liturgisches Liederbuch, 21–23. 36 Vgl. etwa GJB 8/4 (1918), 47; GJB 9/5 (1919), 42 u. ö.

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Später leiteten die beiden Jugendrabbiner Kellermann und Galliner auch Festtagsgottesdienste. Dem großen Andrang an diesen Tagen versuchte die Gemeinde mit vorher zu erwerbenden Platzkarten und der Anmietung weiterer Säle in der ganzen Stadt entgegenzukommen, so dass sie in verschiedenen Gegenden Berlins predigten. Die ersten überlieferten Hauptgottesdienste leitete Kellermann zu Rosch haSchana, dem jüdischen Neujahrsfest, am 6. September 1918 im Beethovensaal in der Köthenerstraße und neun Tage später zu Jom Kippur in den Prachtsälen des Westens in der Spichernstraße.37 Den letzten Festgottesdienst vor seinem Tod hielt er zu Erev Chanukka, dem Vorabend des Lichterfestes, am 14. Dezember 1922 in der Lützowstraße.38 Die regulären Schabbatgottesdienste am Freitagabend und Samstagmorgen wurden dort meistens von Rabbiner Samson Hochfeld abgehalten (1871–1921).39 Nach dem Erwerb des Rabbinerexamens an der HWJ40 amtierte Hochfeld zunächst in Frankfurt an der Oder und ab 1903 in Düsseldorf als Vorgänger Leo Baecks, bevor er ab 1907 das Rabbineramt an den Berliner Synagogen Fasanenstraße und Lützowstraße bekleidete. Zudem unterrichtete er von 1908 bis zu seinem Tod an der HWJ „Methodik des Religionsunterrichts“.41 Da er die IX. Religionsschule dirigierte42, kannte er den Rektor der IV. und später der VIII. Religionsschule Kellermann schon. Nachdem Hochfeld 1921 an einem Schlaganfall verstarb43, wurde Kellermann „auch mit Predigten an der Synagoge Lützowstraße betraut“44. Den ersten regulären Gottesdienst an einem Schabbatmorgen leitete er drei Monate nach dem Tod Hochfelds am 12. November 1921.45 Da Kellermann 1923 starb, war es ihm nur etwa zwei Jahre vergönnt, neben dem Rabbiner Weiße in der Lützowstraße Haupt- und Festgottesdienste abzuhalten. Kellermann predigte wie Galliner auch gelegentlich in der Synagoge in der Fasanenstraße, die am 28. Juni 1912 mit einem Festakt eingeweiht wurde. Das imposante Bethaus wurde nicht in einem Hinterhof versteckt, sondern stand frei und spiegelte das Selbstbewußtsein der jüdischen Gemeinde. Sie besaß eine Orgel und der Gottesdienst folgte dem neuen Ritus. Die Texte des Gebetbuchs beruhten auf dem liberalen Siddur der Synagogen Linden- und Lützowstraße, in dem vermehrt deutsche Gebete verwendet wurden, einige gekürzt und andere,

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Vgl. GJB 8/9 (1918), 93f. Vgl. GJB 12/12 (1922), 98. Zur Biografie: BHRabb II/1, 283f. Vgl. BLWJ 15 (1897), 3. Kaufmann, Hochschule, 44. Vgl. Vorstand des Liberalen Vereins für die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde zu Berlin (Hg.), Mitteilungen [1916], 49; GJB 5/9 (1915), 118. 43 Vgl. die Notiz in der JLZ Nr. 36 vom 12. 8. 1921, 2. 44 GJB 13/5–7 (1923), 31. 45 Vgl. GJB 11/10 (1921), Beilage.

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wie diejenigen um die Rückkehr nach Zion, ganz entfernt worden waren.46 Dem Kondolenzbrief Salomon Kalischers, des Vorsitzenden des dortigen Synagogenvorstandes, zufolge, hatte die Gemeinde zwar nicht viele Gelegenheiten, Kellermann predigen zu hören, aber „[u]m so eindrucksvoller waren seine stets gehaltvollen, von Liebe zum Judentum durchglühten Reden“.47 In den Predigten konfrontierte er das Publikum mit seiner Auffassung eines prophetischen Judentums und suchte nach Antworten auf die gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Moderne, wie die „Arbeiterfrage“ und die „Frauenfrage“. Dadurch habe er Henry Kellermann zufolge die Zuhörer in ungeahnte Höhen geführt, besonders wenn es um jene ethischen und sozialen Fragen ging, die ihn im Innersten bewegt hätten, und habe manchmal lauten Applaus bekommen, was kein gewöhnliches Verhalten in der Synagoge darstellte.48 Insgesamt wäre er mit seiner auf die Sittlichkeit konzentrierten und nicht immer leicht zu verstehenden Auslegung des Judentums als „ethischer Monotheismus“ zwar kein populärer Sprecher gewesen, hätte aber seine loyalen Zuhörer gehabt.

5.2 „Elijas“ Abschied: Zum Tod Cohens Die Freundschaft zwischen den Kellermanns und Cohens hatte sich seit dem Umzug der Letzteren von Marburg nach Berlin 1912 intensiviert. Henry Kellermann berichtete von Erinnerungen an Hermann Cohen, der ihn als kleinen Jungen auf dem Arm hielt, „to take a closer look at this latest product of his friend and pupil“, und an seine Frau, die eine begnadete Pianistin gewesen sei und bei der die Kellermanns nach dem Tod ihres Mannes hin und wieder Kammermusikabende erleben durften.49 Kellermanns luden die Witwe ebenfalls zu sich ein und unterstützten sie in der schweren Zeit des Verlustes und der Trauer. Zu Pessach 1919 feierte die Familie zusammen mit Martha Cohen den Sederabend, wofür sie sich in einem Brief ausdrücklich bedankte.50 Als Cohen am 4. April 1918 starb, zeigte sich das deutsche Judentum in seinen verschiedenen Lagern erschüttert und zollte dem Religionsphilosophen großen 46 Verwaltungsbericht des Vorstandes der jüdischen Gemeinde über die Zeit vom 1. April 1910 bis 31. März 1913, CJA, 1, 75 A Be 2, Nr. 3, # 226, Bl. 100–109, hier: Bl. 102. 47 [Salomon] Kalischer an Thekla Kellermann, 28. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. Auch Ernst W. Kellermann berichtet im Interview (14. 05. 2011, London) von einigen Predigten in der Synagoge Fasanenstraße. 48 Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 15. Zum Folgenden: ebd. 49 Ebd., 43. Von Einladungen der Kellermanns in das Haus der verwitweten Martha Cohen berichtet auch Ernst W. Kellermann im Interview (14. 05. 2011, London). 50 Martha Cohen an Benzion und Thekla Kellermann, 6. 4. 1920, LBI New York, AR 1197, 1 Bl.

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Respekt. Es erschienen zahlreiche Sonderseiten und Nachrufe von Weggefährten, Kollegen und Schülern in jüdischen Periodika, aber auch in führenden Zeitungen und Zeitschriften des Landes, etwa im Berliner Tageblatt oder in der Vossischen Zeitung.51 Als Cohen drei Tage später in der Ehrenreihe des jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee begraben wurde, hielten seine Freunde und Weggefährten Ernst Cassirer, Paul Natorp und Benzion Kellermann die Grabreden. Während die Eulogien Natorps und Cassirers im Mai 1918 in dem Sonderheft der von Cohen mitbegründeten Neuen Jüdischen Monatshefte erschienen, verzichteten die Herausgeber dort auf den Abdruck der Grabrede Kellermanns.52 Sie entschieden sich stattdessen für dessen programmatischen Aufsatz „Die religionsphilosophische Bedeutung Hermann Cohens“, in dem er den Gedanken der Korrelation von Ethik und Gottesidee in dessen Philosophie betont und daran den Nachweis führt, dass Cohen der Religion wie niemand anderes „eine solch dauernde und gesicherte Stellung im System der Kultur erworben“ habe.53 In Kenntnis von dessen Gesamtwerk und dem Manuskript der von ihm kurze Zeit später herausgegebenen Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, sah Kellermann Cohen stets „von dem Gedanken getragen, daß er im Grunde genommen die Arbeiten fortsetzt, die die talmudischen Gesetzeslehrer und die Religionsphilosophen des Mittelalters unternommen haben.“ Von daher verwundert auch das Urteil nicht, dass für Cohen das „Juwel“ unter den Letzteren Maimonides gewesen sei, der für ihn „in gewisser Hinsicht […] noch höher als Kant“ stehe, „denn für Kant ist die Idee des höchsten Gutes ein Postulat, für Maimonides aber eine Aufgabe, die in der dauernden Vervollkommnung des Menschengeschlechts ihrer eigenen Realität gewiß wird.“ In der Grabrede54 lässt Kellermann in bewegenden Worten die biografischen und philosophischen Stationen des „Vater[s] und Meister[s]“ (58) Revue passieren und gibt einen Einblick in Cohens Synthese aus jüdischem und philosophischem Denken. Als „Urerlebnis“, welches „den tiefsten Kern unseres Meisters Psyche bildete“, bezeichnet Kellermann den „Geist des Judentums“ 51 Cassirer, Ernst, Zur Lehre Hermann Cohens (4. April 1918), in: Berliner Tageblatt Nr. 184 vom 11. 4. 1918, 2; R. S., Hermann Cohen †, in: Vossische Zeitung Nr. 171 vom 4. 4. 1918 [Abendausgabe], 2f. 52 Cassirer, Ernst, Hermann Cohen. Worte gesprochen an seinem Grabe am 7. April 1918, in: NJMH 15/16 (1917–1918), 347–352; Natorp, Paul, Nachruf an Hermann Cohen, gesprochen bei der Trauerfeier auf dem israelitischen Friedhof, in: NJMH 15/16 (1917–1918), 353–357. 53 Kellermann, Die religionsphilosophische Bedeutung Hermann Cohens, 369. Folgende Zitate: ebd., 372 (Hrvh. im Orig.). 54 Die Grabrede wurde vom Verfasser im Privatbesitz von Susan Kellermann, New York City, gefunden und mit Einleitung und Kommentar versehen ediert: Lattki, Torsten, Die Gedächtnisrede von Benzion Kellermann auf Hermann Cohen. Eine unbekannte Grabrede, gehalten am 7. April 1918 auf dem jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee, in: ZRGG 65/1 (2013), 47–67. – Die Rede wird im Folgenden im Fließtext nach dieser Edition zitiert, jedoch sind alle hier kursivierten Stellen im Original unterstrichen.

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(59). Dieser Geist sei Cohen zufolge nicht starr und unveränderlich, sondern ein flexibler „Gedanke[…], der sich ewig selbst erneuerte, weil er in der ewigen Neuschöpfung und Neuerzeugung der Vernunft seinen Ursprung hat.“ (59) Für Cohen sei dieser „Geist der ewigen Selbsterneuerung“ die Substanz des Schma Israel, „dem Einheitsbekenntnis des Judentums“, welches Kellermann folgendermaßen wiedergibt: „,Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist Einheit.‘“ (59) Philosophisch gewendet sei diese Einheit der „Maßstab für die Beurteilung einer Kulturerscheinung“ und die „jüdische Vernunfteinheit“ habe generell nur eine Aufgabe zu propagieren und umzusetzen: „Das ist die Einheit der Menschen, wie sie dem messianischen Zukunftsbild der Propheten vorschwebt“ (59). Weil nur ein Gott sei, gebe es auch nur eine Einheit der Menschen, und der daraus resultierende „ethische Monotheismus“ führe „zu einer ewigen Verjüngung und Erneuerung menschlicher Gesittung und menschlichen Fortschritts.“ (59) Diesen Geist der Einheit aus den Quellen des Judentums habe Cohen „auf allen Gebieten der Wissenschaft, der Kunst, der sozialen Fürsorge“ ausgemacht und in seinem System der Philosophie durchdacht. Weil er in diesem Sinne „die universelle Richtung des jüdischen Geistes, seine eminent kulturerzeugende Kraft erkannte und für alle Zeiten festlegte, indem er diese geniale Synthese zwischen Judentum und Kultur prägte, muß er ebensosehr als der […] philosophische ,Vater‘ und Wiederentdecker des prophetischen Judentums bezeichnet werden, wie als der religiöse Begründer der modernen idealistischen Kultur.“ (59f) Der „ethische Monotheismus“ der Propheten sei für Cohen jedoch nicht nur der „Schlüssel“ für „das logisch-ethische Verständnis der modernen Kultur“ (60) gewesen, sondern auch für das Verstehen der antiken griechischen Philosophie. In ihr habe der Verstorbene ebenfalls monotheistische Gedanken rezipiert gesehen, wie an der „geradezu auffallende[n] methodische[n] Übereinstimmung zwischen Plato und Maimonides“ deutlich werde: „Denn hier wie dort hat nach Cohens Ansicht der Gedanke von der überlegenen Souveränität der Vernunft die gewaltigen Leistungen beider Denker hervorgerufen.“ (60) Cohen habe in seinem Gesamtwerk nicht nur die griechische Philosophie über den Vernunftgedanken mit dem prophetischen Judentum verbunden, sondern es sei ihm auch „ein Leichtes [gewesen], den klassischen Vertreter der ,deutschen Vernunft‘ Immanuel Kant als den genialsten Parteigänger der Propheten zu bezeichnen.“ (60) Diese Verbindung von Kant und dem Judentum ist zentral in der Cohenschen Philosophie und ist es in gleichem Maße auch für seinen Schüler Kellermann. Dieser votiert in der Grabrede bezüglich der Frage „Kam Cohen von Kant zu den Propheten oder von den Propheten zu Kant“ für Letzteres, denn zum einen habe Cohen mit seinen Arbeiten seit den 1870er Jahren erst „ein wahrhaftes Verständnis Kants“ ermöglicht, zum anderen scheine „nur der […] mit dem jüdischen Gottesbegriff der Propheten vertraute Denker […] berufen, den Idealismus Kants zu begründen und zu erhalten.“ (60)

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Über Kant stellt Kellermann auch die Verbindung Cohens mit dem „freien deutschen Protestantismus“ (60), also mit dem zeitgenössischen Kulturprotestantismus her. Aufgrund dessen behaupteter Nähe zu den Idealen des Prophetismus – kritische Bibellektüre, Abkehr von vernunftwidrigen Dogmen, die Propagierung einer universalen Ethik und Sittlichkeit – habe er diesem stets ein „warmes Interesse entgegengebracht“ (60). Der Prophetismus sei „wie für alle Kulturerscheinungen überhaupt“ (60), so auch für den Protestantismus „die ewige Revisionsinstanz“ (61) und substantielles Fundament seiner Existenz. Dies gehe etwa schon daraus hervor, dass es die „ethisch jüdischen Voraussetzungen“ gewesen seien, „denen das Urchristentum sich unterwarf“ (61). Deshalb würde das Fortschreiten des liberalen Protestantismus auch bedeuten, den auf jüdischen Quellen beruhenden „ethischen Monotheismus“ in der Öffentlichkeit zu verankern und als kulturtragendes und kulturerzeugendes Moment zu erweisen. Diese ideelle Förderung des liberal verstandenen Christentums habe jedoch bei Cohen stets in „völliger Wahrung seiner jüdisch prophetischen Gesinnung“ (60) Anwendung gefunden. Es sei ihm gelungen, die in den Propheten, Psalmen, in der Halacha und Haggada sich ausdrückenden jüdischen Traditionen mit Respekt und „hingebender Liebe zu erfassen und schöpferisch nachzuzeugen“ und somit „der überlieferten Lehre seiner angestammten Religion einen neuen Geist einzuhauchen“ (61). Aufgrund dieser tiefen Verbundenheit mit dem Judentum habe Cohen immer wieder mit der „Wucht der Diktion“ (61) Stellung gegen den Antisemitismus seiner Zeit bezogen und habe sich „[s]ein jüdisches Herz“ (62) in der Förderung wissenschaftlicher und sozialer jüdischer Einrichtungen gezeigt. Die jüdische Identität Cohens sei problemlos mit seiner deutschen einhergegangen und so spricht Kellermann ein halbes Jahr vor Kriegsende: „Hermann Cohen war Deutscher im tiefsten Grunde seines Wesens. Was er lebte + lehrte war deutsches Denken, deutsches Fühlen, deutsches Empfinden.“ (63) Der Universalismus, welcher die Grundtendenz des „ethischen Monotheismus“ sei, habe im Cohenschen Denken „stets erst den Weg über den Nationalismus“ genommen, weil „der Einzelstaat eine Krystallisation des universalen Allheitsstaates darstellt.“ (64) Ohne den scharfen Nationalismus Cohens vor allem zu Beginn des Krieges direkt zu erwähnen, konnte Kellermann diesen somit rechtfertigen, denn „für ihn [war] die Vaterlandsliebe gleichbedeutend mit der Menschheitsliebe.“ (64) Oft sei Cohen in seinem Leben diese „Deutschheit“ abgesprochen worden, habe er die Möglichkeit gehabt, „gegen Eintausch hoher äußerlicher Ehren“ zum Christentum zu konvertieren und hatte viele „Angriffe […] gegen sein geniales System“ abzuwehren (64). Rückhalt habe er jedoch immer in seinem Zuhause, bei seiner Frau Martha gefunden, die ihn in allem unterstützt und „seinem Geiste

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freie Entfaltung“ ermöglicht habe (65). Viele Freunde hätten den „Patriarch[en]“ besucht, „den Offenbarungen seines Geistes“ zugehört und auch Kellermann war es „vergönnt […], den Zauber [zu] erfühlen […], der diesem Tempel entströmte“ (65). Neben dem Heim habe Cohen tiefe Geborgenheit in der „religiöse[n] Feier in der Familie + im Gotteshause“ (65) gefunden, wobei Kellermann besonders den Schabbat und Jom Kippur hervorhebt, die „tatsächlich jene seelischen Kräfte in ihm auslösten, die nach seiner eigenen religionsphilosophischen Interpretation die typischen Wirkungen wahrhaft jüdischer Welt + Lebensanschauung bilden.“ (66) In der Grabrede vergleicht Kellermann Cohen mit dem Propheten Elija, sich selbst und das deutsche Judentum mit dessen Schüler Elischa, der den Verlust seines Lehrers und Meisters beklagt (57f). Der im 9. Jahrhundert v. d.Z. lebende Elija war ein Eiferer für JHWH, wurde der biblischen Erzählung zufolge zu diesem in den Himmel entrückt (2 Kön 2,1–18) und zählt in der jüdischen Tradition bis heute zu einem der wichtigsten Propheten. Dies äußert sich unter anderem darin, dass es bei jeder Beschneidung einen leeren Stuhl für ihn als den „,Engel des Bundes‘“ gibt, er als „volkstüml.[icher] Helfer in Nöten aller Art u. Anwalt der Armen“ gilt und für ihn in der Liturgie des Sedermahls an Pessach ein Becher Wein gefüllt wird, wodurch die Hoffnung auf seine Rückkehr am Ende der Zeiten und damit verbunden, des Messias, ausgedrückt wird.55 Indem Kellermann Cohen mit Elija, dem „Kämpfer für Wahrheit und Recht“ (58) identifiziert, unterstreicht er dessen herausgehobene Bedeutung für das Judentum. Zudem legt er die Hoffnung nahe, dass Cohens Denken ebenso wenig endgültig tot ist, wie der nur entrückte, aber nicht gestorbene Elija, sondern in der Zukunft weitere Wirkkraft entfalte und zur Einheit des Judentums beitrage: [E]r ist uns nicht gestorben. Sein Geist lebt […] weiter bis in die fernsten Zeiten, + sein Andenken soll sich uns mit dem Vorsatz vereinen, für seine Ideale, für seine Lehre zu kämpfen + zu wirken. Noch steht uns die große Aufgabe bevor, den Kern seiner Persönlichkeit + seiner Lehre nicht nur anzustaunen + zu verehren, sondern ihn zu erfassen + zu verbreiten. Gelingt uns dieses Werk, dann haben wir in seinem Sinne die Erhöhung + Förderung des Vaterlandes, der Menschheit, des Judentums vollbracht, so gewiß sich in seinem Werke alle diese idealen Werte zur kraftvollen Einheit zusammenschlossen. Und wie er sich bemühte, in jeder einzelnen Richtung der jüdischen Lebensauffassung Ewigkeitsziele zu erblicken, so wird denn auch der Blick auf seine Persönlichkeit jene Einheit im Judentum begründen, deren wir alle in Gegenwart + Zukunft so bedürftig sind. (66f)

55 Zu Elija in der Bibel und der nachbiblischen Tradition: Gutmann, Joshua u. a., Art. Elijah, in: 2EJ 6 (2007), 331–337; Stemberger, Günter, Art. Elija. II. Altes Testament, in: LThKS 3 (2009), 596. Zitate: ebd. – Zu Elischa vgl. Grintz, Yehoshua M./Sperling, S. David/ Hirschberg, Ham Z., Art. Elisha, in: 2EJ 6 (2007), 350f.

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Franz Rosenzweig (1886–1929) hielt kaum etwas von den Grabreden der drei Philosophen. Er hatte im WS 1913/14 kurz bei Cohen an der HWJ gehört, die an diesen gerichtete und wohlwollend aufgenommene Schrift Zeit ist’s (1917) verfasst und wurde später der Autor der berühmt gewordenen Einleitung in Cohens Jüdische Schriften. Im April 1918 stand er als Soldat an der Front und schrieb über zwei Wochen nach der Beisetzung Cohens an Margrit Rosenstock-Huessy : „Ich habe jetzt Auszüge aus den Grabreden für Cohen; es scheint wirklich alles schwach gewesen zu sein. Kellermann, sein jüdischer, Cassierer [sic] sein philosophischer Hauptschüler – alles Trauerklösse. Natorp hat wenigstens ausgesprochen, dass allein Marburg sein Renom¦e in der Gegenwart dankt.“56 Kurz zuvor hatte er in ähnlicher Weise der Mutter von seinem Ärger „über den jämmerlichen Cassirer im Berliner Tageblatt“ und über „Kellermann“, der „sicher auch nichts Gescheites gesagt“ habe, berichtet.57 „Diese Leute, die ihm alles verdanken, das ganze bischen [sic] Gehirnschmalz, das sie verkaufen!“ Aufgrund der ihm nichtssagend erscheinenden Reden war es Rosenzweig – der unter dem Titel „Der Dozent. Eine persönliche Erinnerung“ in demselben Cohen-Sonderheft der NJMH, in dem auch Kellermann schrieb, dem Verstorbenen selbst die Ehre erwies58 – „als ob ihn niemand gekannt hätte. Es hat ihm aber wohl bloss niemand – geglaubt“59. Angesichts von Rosenzweigs dort und durch Briefe belegte Unkenntnis des dreiteiligen Cohenschen Systems der Philosophie, Dieter Adelmann zufolge gar „bis zum April/Mai des Jahres 1918“60, muss dessen Aussage als ungerechtfertigt bezeichnet und in seinem Versuch begründet werden, sich selbst „als den Interpreten der Religion und der Philosophie Cohens darzustellen“. Kellermanns, Natorps und Cassirers umfassende Kenntnisse der Cohenschen Philosophie und die persönlichen und fachlichen Beziehungen zu ihm widersprechen dem Befund Rosenzweigs eindeutig. Natorp war der langjährige Kollege Cohens an der Philippina und vertrat eine anders gefärbte, aber auch neukantianische Philosophie Marburger Prägung. 56 Franz Rosenzweig an Margrit Rosenstock, 23. 4. 1918, URL: http://www.argobooks.org/ gritli/1918.html#apr, abgerufen am: 21. 5. 2014. 57 Franz Rosenzweig an Adele Rosenzweig, 18. 4. 1918, in: Rosenzweig, Franz, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. I/1: Briefe und Tagebücher 1900–1918, hg. v. Rosenzweig, Rachel u. Rosenzweig-Scheinmann, Edith. Unter Mitw. v. Casper, Bernhard, Den Haag 1979, 540f, hier : 540. Folgendes Zitat: ebd. (Hrvh. im Orig.). 58 Rosenzweig, Franz, Der Dozent. Eine persönliche Erinnerung, in: NJMH 15/16 (1917–1918), 376–378. 59 Franz Rosenzweig an Margrit Rosenstock, 23. 4. 1918, URL: http://www.argobooks.org/ gritli/1918.html#apr, abgerufen am: 21. 5. 2014. 60 Adelmann, Dieter, Über den Grund des Systems in Hermann Cohens „System der Philosophie“, in: ders., „Reinige dein Denken“. Über den jüdischen Hintergrund der Philosophie von Hermann Cohen, aus dem Nachlass hg., erg. u. mit einem einl. Vorw. versehen von Hasselhoff, Görge K., Würzburg 2010, 295–306, hier : 300. Folgendes Zitat: ebd., 303 (Hrvh. im Orig.).

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Cassirer wie Kellermann waren Cohens Studenten in Marburg, wo sie seine Philosophie aufnahmen und in eigenständigen Bahnen fortführten. Zudem sind für die Familien Cassirer und Kellermann persönliche Freundschaften mit Hermann und Martha Cohen belegt. In persönlicher wie fachlicher Hinsicht ist das Urteil, dass Cohen wohl „niemand gekannt hätte“, schlicht falsch und in Rosenzweigs Neulektüre weniger Schriften Cohens begründet. Dementsprechend ist Dieter Adelmann in seiner Fundamentalkritik zuzustimmen: Sowohl was die eigentliche Religionsphilosophie von Hermann Cohen betrifft, die er überhaupt nicht studiert hat, als auch die Philosophie des ,Systems der Philosophie‘, die er nicht kannte, kann bei Franz Rosenzweig von einem Schüler Cohens nicht die Rede sein, obgleich er sich selbst öffentlich so dargestellt, wenngleich er privat sehr wohl seine ,Nichtschülerschaft‘ eingestanden und im Brief an Martin Buber vom September 1923 bekannt hat, Cohen würde ,keinen Satz‘ aus seiner, Rosenzweigs, Einleitung in die Ausgabe von Hermann Cohens sogenannten Jüdischen Schriften ,anerkennen‘.61

Kellermann, der eigentlich für die Einleitung in die Jüdischen Schriften geplant war,62 wurde nach Cohens Tod verschiedentlich eingeladen, über seinen Lehrer zu sprechen. Auf einer Ende 1918 von der „Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Lehrer und Lehrerinnen zu Berlin“ abgehaltenen Gedächtnisfeier referierte er über „Hermann Cohen als Erzieher“63 und vor der 1913 gegründeten Breslauer „JüdischLiberalen Jugendgemeinschaft Abraham Geiger“ hielt er eine Gedenkrede auf den Verstorbenen, die auf die Zuhörer starken Eindruck machte. Für den Berliner Rechtsanwalt Ernst Emil Schweitzer war diese Rede auf Cohen neben einem anderen im Berliner Ili gehaltenen Referat Kellermanns sogar „bei weitem der bedeutendste Abend, den ich in einem Ili erlebt habe, und er ist in seinem ausserordentlichen Werte dort auch von den Teilnehmern empfunden worden“.64 Neben dem Text in den NJMH veröffentlichte Kellermann im Mai 1918 drei weitere philosophische Nachrufe auf Cohen, die teilweise auf das Manuskript der Religion der Vernunft rekurrierten. Im Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin will Kellermann zeigen, „wie Menschenliebe und Gottesliebe für Cohen identische Begriffe sind, und wie gerade das Judentum in der Vereinigung dieser 61 Ebd., 301 (Hrvh. im Orig.). 62 Vgl. dazu Kap. II.7.1. 63 Vgl. GBAZJ Nr. 2/3 vom 17. 1. 1919, 1f. Über den Inhalt schweigt die Notiz; ein Ms gibt es nicht. 64 Ernst E. Schweitzer an Thekla Kellermann, 3. 8. 1923, LBI New York, AR 1197, 4 Bl., hier : Bl. 2f. Ein Ms der Rede hat sich nicht erhalten. – Der Verein wurde am 19. 1. 1913 in Breslau gegründet: Einladung und Programm. Jubiläumsfeier der Jüdisch-Liberalen Jugendgemeinschaft „Abraham Geiger“ […] verbunden mit der Delegiertentagung der ARGE am 13., 14. und 15. Januar 1933, 1932/33, CJA, 1, 75 C Ar 1, Nr. 2, # 9776, Bl. 5f. Diese Tagung leitete Benzion Kellermanns Sohn Henry.

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beiden Ideen sein Wesen und seinen Kern erblickt“.65 Daran schließt er die Forderung, dass um einer „Erneuerung und Verjüngung des Judentums“ willen, „die Cohen selbst als das Programm seines Lebens und Wirkens erschien“, „sein System von den breitesten Massen erkannt, erfaßt und erlebt wird“. Das Begreifen und die kritische, fortführende Anwendung des Denkens Cohens forderte Kellermann auch in den Kartell-Convent-Blättern, dem Publikationsorgan der in diesem 1896 gegründeten Dachverein zusammengeschlossenen und gegen den Antisemitismus kämpfenden Studentenverbindungen. Cohens Philosophie sei ihrem „Charakter“ nach „von Hause aus – gleichsam a priori – auf das Problem der Jugend oder besser : auf das der Verjüngung aller wahren Kulturwerte angelegt“.66 Die Studenten müssen Kellermann zufolge in Politik, Wissenschaft und Kunst immer auf der Suche nach Veränderung und Fortschritt sein und in ihrem Bemühen Cohen als einen Gefährten erkennen, „der als Philosoph der Jugend an die Stelle der ewigen Ruhe den ewigen Kampf, die ewige Neuprägung und Neuerzeugung setzt“. Zum einen weil dieser das prophetische Judentum mit seiner auf die Zukunft ausgerichteten messianischen Hoffnung „logisch“ begründet, zum anderen das öminöse Kantische „Ding an sich“ mit der, über alle anderen Ideen erhobenen, Ethik identifiziert habe, wodurch „der ewige Fortschritt der Kultur verbürgt“ sei, als dessen Prüfmittel der kritische Idealismus fungiere. Einen vierten Nachruf verfasste Kellermann in Liberales Judentum, der Zeitschrift der „Vereinigung für das liberale Judentum in Deutschland“. Obwohl Cohen von verschiedenen Seiten innerhalb des Judentums als „Heros“ reklamiert würde und er „selbst in dem Zusammenschluss aller Richtungen das Ziel seiner philosophisch-religiösen Betrachtungen erblickte“, versucht Kellermann hier, über ihn hinausgehend, die These zu begründen, „daß das System Cohens die eigentliche Grundlage für das liberale Judentum geschaffen hat“, wie er es ähnlich auch an anderer Stelle durchführt.67 Martha Cohen war Kellermann für sein Engagement um ihren verstorbenen Ehemann sehr verbunden und bedankte sich in dem bereits erwähnten Brief vom April 1920 noch einmal ausdrücklich bei ihm „für Ihre Treue, Ihre Freundschaft, Ihre Liebe, die Sie unserem großen Toten bewahren im Gemüt, im 65 Kellermann, Benzion, Hermann Cohen, in: GJB 8/5 (1918), 49f, hier: 50. Folgendes Zitat: ebd. (Hrvh. im Orig.). 66 Ders., Hermann Cohen – der Philosoph der ewigen Jugend, in: K.C. Blätter 8/3 [=Heft 22] (1918), 1085–1087, hier : 1085 (Hrvh. im Orig.). Folgende Zitate: ebd., 1086 (Hrvh. im Orig.). Das 6 Bl. umfassende Ms mit gleichem Titel und Text findet sich im Privatbesitz von Susan Kellermann und trägt den Stempel „Die Redaktion der K.C. Blätter“. 67 Ders., Hermann Cohens System – die Begründung des liberalen Judentums, in: LJud 10/5–6 (1918), 33–37, hier : 33. Vgl. auch: ders., Die philosophische Begründung des Judentums; ders., Hermann Cohens philosophische Begründung der Religion, in: AZJ Nr. 48 vom 1. 12. 1916, 565–567.

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Wort, in der Tat. Wie glücklich u. wie dankbar bin ich, daß in Ihnen ihm ein so tief verständnisvoller Fortsetzer seiner Lehre erstanden, der einzige Vertreter seiner Doppelgröße, seines hohen, fast tragischen Dualismus“.68

5.3 Edition der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums Cohen hatte in der zweiten Hälfe des Jahres 1917 sein bereits um die Jahrhundertwende für den „Grundriß“ der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“ konzipiertes letztes Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums abschließen, die Veröffentlichung durch die „Gesellschaft“ jedoch nicht mehr erleben können.69 Er las das Manuskript zusammen mit Ernst Cassirer und Franz Rosenzweig,70 zudem sandte die „Gesellschaft“ die Druckfahnen nicht nur an Cohen selbst, sondern auf dessen Bitte hin auch an drei weitere Freunde und Kollegen: „Jeder Korrekturbogen des grossen Werkes wurde von [Anton Nehemias] Nobel in Frankfurt, von Rabbiner [Nathan] Porges in Leipzig und von Dr. Kellermann in Berlin gelesen.“71 Diesen fünf Freunden und Schülern vertraute er die ehrenvolle Aufgabe an, die Summe seines wissenschaftlichen und religiösen Lebens korrigierend zu begleiten, was einmal mehr die fachliche und persönliche Bindung zu Kellermann unterstreicht. Nach dem Tod Cohens suchte die „Gesellschaft“ einen neuen Herausgeber und dem von Martha Cohen verfassten Geleitwort zufolge, „leitete Herr Dr. Kellermann die Herausgabe des Werkes“72 und war somit der 68 Martha Cohen an Benzion und Thekla Kellermann, 6. 4. 1920, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. 69 Vgl. dazu Hermann Cohen an Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, 5. 7. 1917, LBI New York, AR 3753, Box 1, Folder 3, 1 Bl.: „Anbei das ganze Ms., zu dem nur noch etwa 50 Seiten für den Anhang hinzukommen.“ – Vgl. zu den Ursprüngen der RV 1903/ 04: Adelmann, Die „Religion der Vernunft“ im „Grundriss der Gesamtwissenschaft des Judentums“; ders., Zur Datierung einiger Schriften von Herman Cohen, in: ders., „Reinige dein Denken“, 120–150, hier : 121 u. 148. 70 Zur gemeinsamen Durchsicht der Fahnen mit Cassirer : Meyer, Ernst Cassirer, 25. Dass Rosenzweig das Manuskript kannte, belegt: Franz Rosenzweig an Adele Rosenzweig, 30. 8. 1918, in: Rosenzweig, GS I/1, 600. 71 Bruno Strauss an Eric Ahrens, 10. 8. 1964, LBI New York, AR 3753, Box 1, Folder 2, 2 Bl., hier : Bl. 2. Dies wird auch bestätigt durch: Hermann Cohen an Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, 5. 7. 1917, LBI New York, AR 3753, Box 1, Folder 3, 1 Bl.: „Ich bitte, die Fahnen ausser an mich selbst, wenn es nicht zu kostspielig ist, noch an drei Adressen schicken zu wollen: erstens Herrn Rabbiner Dr. Nobel Frankfurt a/M. Börneplatz. Ferner Prof. Porges, Leipzig. Drittens Rabbiner Dr. Kellermann“. 72 Cohen, Martha, Geleitwort, in: Cohen, Hermann, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, hg. von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, Grundriß der Gesamtwissenschaft des Judentums, Bd. 8, Leipzig 1919, IIIf, hier : IV (Hrvh. im Orig.). Folgendes Zitat: ebd. (alle Hrvh. im Orig.).

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erste Ansprechpartner in Fragen des Editionsprozesses. Die Witwe führte zu den Publikationsvorbereitungen weiter aus: Herr Dr. Kellermann sowohl wie Herr Professor Dr. Porges und Herr Dr. Nobel hatten sich der schwierigen und aufopferungsvollen Arbeit der Korrektur in liebenswürdigster Weise unterzogen. Herr Leo Rosenzweig, der lange Zeit mit meinem Manne das Quellenmaterial gesammelt hatte, übernahm die verantwortungsreiche Aufgabe, nach den Notizen meines Mannes die Anmerkungen zu sichten und zu vervollständigen. Herr Dr. Bruno Strauß fertigte den Index an.

Trotz der unsicheren politischen Situation aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Zustände nach dem verlorenen Weltkrieg und den Putschversuchen gegen die junge Republik, die die Kellermanns in Berlin seit Ende 1918 direkt beobachteten, konnte die Erstausgabe schließlich 1919 unter dem Titel Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums als achter Band der Reihe „Grundriß der Gesamtwissenschaft des Judentums“ im Leipziger Verlag von Gustav Fock herausgegeben werden, wobei der vom Verfasser gewählte Originaltitel fälschlicherweise um den Artikel „die“ ergänzt wurde.73 Der Verleger Fock veräußerte noch im Erscheinungsjahr die Restauflage der bedruckten Bögen an den Frankfurter Verlag J. Kauffmann, der das Buch dann mit eigenem Einband und ohne Hinweis auf die „Grundriß“-Reihe verkaufte.74 Cohen, der das Kriegsende und die Folgen nicht mehr erleben musste, unternimmt es in seinem letzten Werk, das als Summe seines Lebens und Denkens angesehen werden muss, die Jahrtausende alten literarischen Traditionen des Judentums als Quellen einer Vernunftreligion zu erweisen, wie sie seit dem aufgeklärten Diskurs als Idealbild der Religion erschien.75 Vernünftig und damit gerechtfertigt könne Cohen zufolge Religion nur dann sein, wenn sie allgemeinen, das heißt universellen Charakter trage, weshalb sein Vorhaben, was ihm selbst bewusst ist, zunächst widersprüchlich erscheint. Denn es „wäre daher ein unverbesserlicher Fehler in unserer Disposition, wenn wir die Religion der Vernunft auf die jüdische Religion auf Grund ihrer literarischen Quellen ein-

73 Vgl. zur Publikationsgeschichte dieser Ausgabe Adelmann, Die „Religion der Vernunft“ im „Grundriss der Gesamtwissenschaft des Judentums“. – Kellermann, Henry J., Five Germanys, 59 u. 62–67 beschreibt anschaulich, wie er als Junge die Anarchie auf den Straßen Berlins seit Ende 1918 wahrnahm. So verschanzten sich etwa Mitte März 1920, im Zusammenhang mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, für einige Tage der Feind der Weimarer Republik General Lüttwitz und seine Männer im Nachbarhaus der Familie Kellermann und lieferten sich Gefechte mit den republiktreuen Kräften. 74 Ich danke Hartwig Wiedebach vom Züricher Cohen-Archiv für diese Information. 75 Gute Einführungen in Cohens RV bieten die Aufsätze in: Holzhey/Motzkin/Wiedebach (Hg.), Tradition und Ursprungsdenken in Hermann Cohens Spätwerk. Speziell zu den verarbeiteten rabbinischen Texten: Morgenstern, Matthias, Hermann Cohen und seine Quellen des Judentums, in: ders./Dober (Hg.), Religion aus den Quellen der Vernunft, 3–27.

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schränken und abschließen würden.“76 Seine Lösung des Problems besteht darin, dass er die jüdischen Texte als „Urquelle für andere Quellen“ auffasst, „die ihrerseits immerhin auch für die Religion der Vernunft als Quellen in ungeschwächter Anerkennung bestehen bleiben“. Die jüdischen Texte könnten jedoch nur dann Urquelle sein, aus der die anderen Quellen „hervorgesprudelt sind“, wenn sie der Vernunft nicht widersprechen. Denn sie sei das Mittel, das „erst die Leitung gibt, für die Benutzung der literarischen Quellen“77, das also über Wert oder Unwert einer Meinung oder Anschauung entscheide. Die biblischen, rabbinischen und philosophischen jüdischen Texte würden dieses Kriterium nicht nur erfüllen, sondern hätten in diesem konstituierenden Prozess zudem einen unwiderlegbaren Primatcharakter : „Nur soweit die Urquelle, als solche, einen unverkennbaren geistigen und seelischen Vorsprung hat, muß diese Vormacht der Vernunft in der Ursprünglichkeit der Quellen des Judentums unbestreitbar bleiben.“ Somit beinhaltet Cohens, während des Ersten Weltkriegs zu Ende geschriebenes und von seiner wandelnden Einstellung zu diesem geprägtes, letztes Werk auch eine apologetische Dimension, in der das Judentum, aufgrund seiner messianischen Hoffnung, als Motor der Humanisierung der Menschheit begriffen wird und von daher jede christliche Überheblichkeit und auch jede Form von Antisemitismus in sich zusammenfallen müsse. Franz Rosenzweig hätte ebenfalls gern an den Editionsarbeiten mitgewirkt, denn wie dargelegt, kannte er das „unkorrigierte Exemplar“ der RV und es sei „fast keine Stelle drin, die ich nicht mir getraute herzustellen“.78 Cohen hatte ihm im Februar 1918 persönlich die fertigen Korrekturbögen überlassen und mit ihm über den Text gesprochen, der ihn schlicht umwarf: „Es ist ein Werk, dem schwerlich auf christlicher Seite etwas Gleichwertiges gegenüberzustellen ist seit Hegel und Schelling. Es ist weit mehr als ich mir je davon erhofft hatte. […] Es ist sogar mehr als Hegel und Schelling; denn es ist die Religio philosophiae eines frommen Menschen“79. Mit Kellermann als Editionsleiter hatte der an der Front stehende Rosenzweig zwar Probleme, da ihm das Cohensche Werk aber zu wichtig erschien, wollte er ihm seine Unterstützung anbieten: Ich will an Kellermann schreiben und ihm meine Mithilfe vom Feld aus anbieten. (Ich traue Kellermann nicht das genügende Sprachgefühl zu, um leicht das Richtige zu treffen.) Kellermann ist freilich zuzutrauen, daß er einfach nein sagt oder bürokratische Schwierigkeiten macht. […] Es würde genügen, wenn er mir einen Durchschlag 76 77 78 79

Cohen, 1RV, 9f. Folgende Zitate: ebd., 10 (Hrvh. im Orig.) Ebd., 5. Folgendes Zitat: ebd., 10. Franz Rosenzweig an Adele Rosenzweig, 30. 8. 1918, in: Rosenzweig, GS I/1, 600. Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 5. 3. 1918, in: ebd., 514f, hier : 514 (Hrvh. im Orig.). Vgl. zu der gemeinsamen Lektüre des Manuskripts auch: Franz Rosenzweig an Hermann Cohen, 9. 3. 1918, in: ebd., 521–524.

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schickte, eventuell Stellen die ihm besonders schwierig scheinen angestrichen. Ich will mir noch überlegen, wie ich ihm schreibe. ,Ist es nicht schade um mich‘ ist doch herrlich als ,letztes Wort‘. Wirklich, wie Tante Julie damals sagte: ,Ein Kind‘.80

In dieser Passage gibt es Parallelen zu seiner Äußerung über die „Trauerklösse“ Kellermann und Cassirer bei der Beerdigung Cohens. Es besteht kein Zweifel, dass Rosenzweig, der die beiden in einem Brief an seine Mutter zwar als Cohens „Schüler“81 bezeichnet hatte, allein sich selbst als denjenigen ansah, der Cohen richtig verstand und dessen Gedanken in die Welt tragen konnte. Gegenüber Kellermann, aber auch Cassirer und Natorp, war er sehr kritisch eingestellt, was in deren streng rational-systematischem Philosophieren im Sinne des kritischen Idealismus Marburger Prägung begründet lag. Rosenzweig dagegen begab sich in seinem Stern der Erlösung (1921) als auch in anderen Texten unter dem Schlagwort „Neues Lernen“ auf die Suche nach einem verloren gegangenen und zu erfühlenden ,Jüdisch-Sein‘, das eben nicht mit Rationalität und Systemphilosophie zu verstehen sei, sondern als eine innerliche Bewegung. Rosenzweig wurde an den Editionsarbeiten aus zwei Gründen dennoch nicht beteiligt. Zum einen hatte er zu jener Zeit noch nicht umfassend genug publiziert und sich wissenschaftlich ausgewiesen, denn die ausgebaute Dissertation Hegel und der Staat erschien erst 1920 in zwei Bänden, der Stern der Erlösung ein Jahr später.82 Zum anderen wurde er in der Wissenschaft des Judentums und in der Universitätsphilosophie nicht als Schüler Cohens und des Marburger Neukantianismus wahrgenommen. Der Schüler Eduard Zellers und Mitbegründer des Archivs für Geschichte der Philosophie Ludwig Stein (1859–1930) besteht in seinem Vortrag „Die Juden in der neueren Philosophie“ von 1919 darauf, „daß schon aus dem engsten Schülerkreise Cohens der hervorragendste, Ernst Cassirer, nur noch ein philosophierender Jude, aber kein jüdischer Philosoph mehr ist, als welche ich unter den treuen Anhängern Cohens recht eigentlich nur Dr. Benzion Kellermann und Professor David Neumark herausgreifen könnte.“83 Nathan Porges, der an der Drucklegung der RV beteiligt war, bezeichnet in seiner Rezension des Cohen zugeeigneten Sammelbandes Judaica (1912) in ähnlicher Weise Kellermann als

80 Franz Rosenzweig an Adele Rosenzweig, 30. 8. 1918, in: ebd., 600. 81 Franz Rosenzweig an Adele Rosenzweig, 15. 8. 1918, in: ebd., 592: „Ich möchte wohl wissen, ob die Schüler selbst, Cassirer oder Kellermann, ihn [Cohens LrE, T. L.] glatt verstanden haben“. 82 Rosenzweig, Franz, Hegel und der Staat, 2 Bd. in einem Bd., 2. Neudr. der Ausg. 1920, Aalen 1982; ders., Der Stern der Erlösung (1921). Mit einer Einführung von Reinhold Mayer und einer Gedenkrede von Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1988. 83 Stein, Ludwig, Die Juden in der neueren Philosophie unter besonderer Berücksichtigung Hermann Cohen’s, Verein für jüdische Geschichte und Literatur in Berlin e. V., Sammlung ausgew. Vorträge Nr. 1, Berlin 1919, 5.

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„kundige[n] Einführer in die Gedankenwelt der Cohenschen Philosophie“, dessen Aufsatz „wohl an die Spitze der Festschrift gehört hätte“.84 Nachdem die RV 1919 der Öffentlichkeit übergeben war, musste dafür auch geworben und rezensiert werden. Martha Cohen freute sich, dass Kellermann „so schön über das Buch gesprochen“85 hatte und sich über dessen Inhalt verbreitete. Als leitender Herausgeber konnte er, den wissenschaftlichen Gepflogenheiten entsprechend, keine eigene Besprechung verfassen, sondern lediglich in Gesprächen und Vorträgen auf das Vermächtnis Cohens hinweisen. Im Auftrag von Porges fragte Martha Cohen Kellermann an, „welche Zeitschriften zu Besprechungen in Frage kämen“, ob nur Fachpublikationen geeignet seien oder ob „auch an allgemeine“ gedacht werden müsse. Auch Rosenzweig wurde für eine feuilletonistische Besprechung angefragt, reagierte aber eher unschlüssig: „[…] ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich will vielleicht im Sommer ein Seminar darüber halten.“86 Die Witwe bemühte sich redlich, das Andenken ihres Ehemannes zu bewahren und Verbreitungsmöglichkeiten für dessen letztes Werk zu finden, in das seine ganze Kraft und das Denken vieler Jahrzehnte geflossen war. 1929, sechs Jahre nach dem Tod Kellermanns, erschien die zweite Auflage, diesmal mit dem richtigen Titel Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, einem Porträt Cohens von Max Liebermann und weiteren Korrekturen.87 Der Germanist und Philosophiehistoriker Bruno Strauss (1889–1969), der bei der ersten Ausgabe der RV für den Index verantwortlich zeichnete, übernahm die Herausgabe, verfasste ein Nachwort und konnte sich „an der Hand der noch vorhandenen Fahnenkorrekturen von der intensiven Arbeit ueberzeugen, die diese Männer [Nobel, Porges und Kellermann, T. L.] geleistet hatten. (Nebenbei gesagt: manche ihrer Bemerkungen und Diskussionsfragen waren nach dem Tode Cohens, der ihn mitten waehrend des Druckes hinwegnahm, in den Text geraten, und ich konnte in der zweiten Auflage das wieder in Ordnung bringen).“88 84 Porges, [Rez.] Judaica, 1542. 85 Martha Cohen an Benzion und Thekla Kellermann, 6. 4. 1920, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. Folgende zwei Zitate: ebd. 86 Franz Rosenzweig an Bruno Strauss, 7. 3. 1921, in: Rosenzweig, GS I/1, 696f, hier : 696. Keine Besprechung im eigentlichen Sinn, sondern Bemerkungen zu Cohens Werk ließ er neun Monate später in der Jüdischen Rundschau erscheinen: ders., Hermann Cohens Nachlaßwerk. Ein Brief an die Redaktion der „Jüdischen Rundschau“, in: JüdR Nr. 102/103 vom 23. 12. 1921, 729f. Wieder abgedruckt in: ders., Zweistromland. Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie. Mit einem Nachwort von Gesine Palmer, Berlin/Wien 2001, 157–161. 87 Cohen, Hermann, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, nach d. Ms. d. Verf. neu durchgearb. u. mit e. Nachw. vers. von Bruno Strauss. Mit e. Bilde d. Verf. von Max Liebermann, Frankfurt a. M. 1929. 88 Bruno Strauss an Eric Ahrens, 10. 8. 1964, LBI New York, AR 3753, Box 1, Folder 2, 2 Bl., hier : Bl. 2.

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5.4 Förderung des liberalen Judentums durch Publizistik und Bildungsarbeit Nach dem Ersten Weltkrieg wurde liberales Denken allerorts kritisiert. Innerhalb des Judentums erlitt die progressive Bewegung Verluste, der politische und kulturelle Zionismus bekam regen Zulauf, Rosenzweig propagierte in den 1920er Jahren das „Neue Denken“, Buber hatte vielgelesene Geschichten aus der Lebenswelt des Chassidismus veröffentlicht und sah wie andere Denker im traditionell lebenden „Ostjuden“ den authentischen Juden. In der evangelischen Theologie wurde der liberal ausgerichtete Kulturprotestantismus scharf angegriffen. Für Theologen wie Karl Barth hatte sich mit dem Krieg jede Art von Fortschrittsoptimismus und damit ein zentrales Motiv des protestantischen und jüdischen Liberalismus – die Annahme des ethischen Fortschritts der Menschheit – erledigt. In der Folge wurde eine antiliberale und antihistoristische Theologie entwickelt, die bei Barth „Dialektische Theologie“ hieß und die weitere Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflussen sollte. Für Kellermann dagegen hatten der Krieg und seine Folgen ein an der Vernunft ausgerichtetes liberales Judentum nur noch dringender gemacht, da es mit seinem „ethischen Monotheismus“ eine zutiefst humanistische Weltsicht vertrete, die in diesen Zeiten notwendiger denn je sei. Ein halbes Jahr nach Kriegsende sprach Kellermann angesichts der bevorstehenden Repräsentantenwahlen vor der Bezirksgruppe Charlottenburg des „Liberalen Vereins für die Angelegenheiten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ „über die Aufgaben des liberalen Judentums auf dem Gebiete des religiösen Lebens in der Gemeinde“ und forderte, Liberalismus nicht als Zerstörung des Judentums, sondern als mit diesem „gleichbedeutend“ zu begreifen.89 Auf Freiheit und Vernunft müsse das Judentum gebaut werden, wodurch es dem Ideal des prophetischen Judentums entgegenstrebe und damit Weltreligion werden könne. In dem Aufsatz „Zum Wiederaufbau des liberalen Judentums“ vom September 1921 und in einem undatierten Vortrag vor dem „Jüdisch-liberalen Jugendverein zu Berlin“ mit dem Titel „Was ist der heutige jüdische Liberalismus und was sollte er sein?“, von dem das Typoskript erhalten ist, unterzieht Kellermann das gegenwärtige liberale Judentum einer scharfen Kritik.90 Er konstatiert, daß seit der Verabschiedung der „Richtlinien“ 1912 „das liberale Ju-

89 GBAZJ Nr. 20 vom 16. 5. 1919, 1f, hier : 1. 90 Kellermann, Benzion, Zum Wiederaufbau des liberalen Judentums, in: MARGE 3/9 (1921), 182–186; ders., [Ts] Was ist uns ser [sic, der] heutige jüdische Liberalismus und was sollte er sein?“, undatiert [1921/22], LBI NY, AR 1197, 4 Bl. Auf Bl. 1 ist in der oberen rechten Ecke handschriftlich „Liberaler Jugendverein“ vermerkt. Aufgrund der inhaltlichen Nähe zu dem Artikel „Wiederaufbau“ von 1921, ist anzunehmen, dass das Ts zwischen 1921 und 1922 entstand.

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dentum sanft entschlafen ist“91 und als „etwas vollkommen Unzulängliches, etwas so durchaus Verflachtes und Verseichtes […] den Todeskeim bereits in sich trägt“92. Daran würden auch die vielen liberalen Publikationen nichts ändern, sondern diese würden „den Untergang der liberalen Bewegung“ eher nur noch bestätigen.93 Insgesamt, so hält er fest, sei der Liberalismus seit Geiger „nicht nur nicht vorwärts gekommen, sondern er befindet sich […] in einer dauernden Rückwärtsrevision.“ Es sei viel geredet und gefordert, aber zu wenig umgesetzt worden. Somit dürfe es nicht verwundern, wenn der Indifferentismus und die zum Christentum Konvertierenden, die er wie Cohen als die „Fahnenflüchtigen“94 verachtet, zunehmen würden. Schuld an diesem Zustand seien die starke Kluft zwischen „Idee und Wirklichkeit“, dass die liberale Bewegung „systemlos“ sei und kein Programm besitze, mit dem „der Geschlossenheit einer konservativen noch der einer zionistischen Anschauung“ begegnet werden könne. Ihm zufolge sei der Zionismus – hier findet sich erstmals eine moderatere Auffassung Kellermanns dieser Bewegung gegenüber als in früheren Schriften – Anfang der 1920er Jahre deshalb so attraktiv für junge Juden, weil er Ideen mit Taten verbinde und in Teilen „vom prophetischen Geiste“ beseelt sei.95 In diesem „Kulturprogramm […] versucht er [der Zionismus, T. L.] auf seine Weise, ob es der richtige Weg ist, lasse ich unerörtert, den Menschen im Menschen uns wiederzugeben“, indem er „eine Gemeinschaft von Menschen, die das Band von Individuum zu Individuum neu knüpfen will“ aufzubauen suche. Dazu gehöre auch der berechtigte Einsatz gegen den Materialismus, gegen „das kapitalistische System“, ein Kampf, den Kellermann unterstützt und mit einem öffentlichen politischen Bekenntnis verbindet: „Wollen wir aber die prophetischen Ideen Wirklichkeit werden lassen, […] so gibt es nur einen Weg, und dieser Weg ist, man kann es gar nicht laut und oft genug sagen, man sollte es heraus schreien, damit die erstarrte Masse der Liberalen und vor allen Dingen die liberale Jugend es vernimmt und begreift: Dieser Weg ist der Sozialismus!“96 Das liberale Judentum habe in der Fokussierung auf den „ethischen Monotheismus“ der Propheten zwar die korrekten Ideen erkannt und propagiert, aber „die Taten hat er andern überlassen“. Kosmetische Veränderungen würden demnach nicht ausreichen, sondern in der Zukunft müsse das liberale Judentum gänzlich neu aufgebaut werden. Es

91 92 93 94 95 96

Ders., Wiederaufbau, 182f. Ders., heutige jüdische Liberalismus, Bl. 1. Ders., Wiederaufbau, 182f. Folgendes Zitat: ebd., 183. Ebd., 184. Folgende Zitate: ebd., 183. Ders., heutige jüdische Liberalismus, Bl. 3. Folgende Zitate: ebd. Ebd., Bl. 2. Folgendes Zitat: ebd., Bl. 4.

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sollte seiner Idee nach die Bewegung sein, die durch ihre Tat, ihr Wirken, ihr Wollen das gesamte Judentum und damit die Menschheit mit sich fortreisst, immer vorwärts und hinauf der sittlichen, der prophetischen, der jüdischen Idee entgegen. Ein Fingerzeig in dieser Richtung bietet uns das Kulturprogramm des Zionismus. Greifen wir es auf, modeln wir es nach unserem Denken, Fühlen und Wollen um, gestalten wir es nicht national, sondern international, weisen wir die grossen, erhebenden Aufgaben nicht nur dem Juden, der seine Blicke nach Zion richtet, sondern allen Juden dieser Erde, den Juden der Diaspora zu, glauben wir an die Mission der jüdischen Idee und ihrer Vertreter, dann wird aus der, aus der Idee geborenen Tat neues Leben aus den toten Gefilden des Liberalismus erblühen. […] Das Ziel steht klar und leuchtend für beide Teile da [Liberalismus und Zionismus, T. L.]. Nur die Wege sind verschieden, die Taktik zur Erreichung dieses Zieles. Darum rufe ich noch einmal dem Liberalismus und vor allen Dingen der liberalen Jugend zu: ,Wacht auf, verjünget Euch, beeilet Euch, findet den Mut und werdet Tat, ehe es zu spät ist, sonst geht auch über Euch die Weltgeschichte zur Tagesordnung über[‘].97

Der Wiederaufbau des liberalen Judentums sei also eine der vordringlichsten Augaben aller Juden und müsse zum einen durch Politisierung im sozialistischen Sinn, zum anderen durch eine philosophisch-systematische Neubegründung ins Werk gesetzt werden. Einen solchen theoretischen Unterbau auszuarbeiten, habe Cohen mit der Religion der Vernunft begonnen. Das Werk „zeigt uns den Weg, den wir einschlagen müssen“, das heißt, an Cohens Identifikation zwischen jüdischem und philosophischem Denken ausgerichtet, müsse „eine Magna Charta geschaffen werden, die für das liberale Judentum grundlegend ist“.98 Werde diese Verfassung aus den Vernunftgesetzen abgeleitet, wozu neben Verstand auch Wille und Gefühl gehören, dann sei die Priorität des liberalen Judentums gegenüber allen anderen jüdischen Denominationen und Religionen erwiesen und schreite der Prozess der „Prophetisierung“ hin zu einer universalen Vernunftreligion fort. Von diesen Überlegungen ausgehend, fordert Kellermann ein „große[s] weitschichtige[s] Lehrbuch der jüdischen Religion, in dem die Grundprinzipien philosophisch und historisch erläutert werden“, so wie es in der jüdischen Geschichte von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit in jeder Epoche solch umfassende systematische Werke gegeben habe, die dem Judentum eine „gedankliche Begründung“99 haben angedeihen lassen. Das für den Beginn des 20. Jahrhunderts geforderte Werk dürfe demnach keine „abgeschlossene, katechismusartige Dogmatik“ sein, sondern als „stetige Vertiefung des religiösen Bewußtseins, das für jede Zeit und für jeden Ort eine Erneuerung, eine Sichtung, eine ständige Idealisierung der ererbten, religiösen Grundbegriffe sein muß“, 97 Ebd. 98 Ders., Wiederaufbau, 185 (Hrvh. im Orig.). Folgendes Zitat: ebd. (Hrvh. im Orig.). 99 Ebd., 184 (Hrvh. im Orig.). Folgende Zitate: ebd., 185 (Hrvh. im Orig.).

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müsse es immer wieder Änderungen unterzogen werden, um den Vernunftforderungen der Moderne nicht entgegenzustehen. Mit dem auszuarbeitenden Lehrbuch, das in „Schul- und Volksausgaben“100 zu drucken sei, müsse dann an Bildungseinrichtungen verschiedener Art gearbeitet werden, nicht nur an Religionsschulen und an staatlichen Schulen, sondern auch an höheren Lehranstalten. Denn Kellermann bezeichnet es als „große[n] Fehler“, dass an den theologischen Lehranstalten „[d]ie völlige Ignorierung einer philosophischen und systematischen Begründung des Judentums“ üblich sei. Damit bezieht er zugleich Position für eine eher philosophisch, denn philologisch-historisch ausgerichtete Wissenschaft des Judentums, die in seinen Augen nicht das Potential habe, jüdisches und das heißt hier universelles ethisches Denken und Handeln zu fördern. Kellermann blieb nicht bei den theoretischen Forderungen einer Neubegründung des liberalen Judentums stehen, sondern versuchte, diese auch selbst praktisch zu verwirklichen. Als Hauptaufgabe hatte er eine „gesteigerte, allgemeine philosophische und historische Bildung“ jüdischer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener proklamiert, um ihnen begriffliches Rüstzeug an die Hand zu geben, zu kritischem Denken und gegen den Indifferentismus zu erziehen.101 Deshalb gestaltete er seit vielen Jahren die jüdische Bildungsarbeit für alle Altersgruppen in der Hauptstadt aktiv mit. Neben den einzelnen Stellen als Rektor und Lehrer an jüdischen Volks- und Religionsschulen und dem Engagement in verschiedenen Vereinen, dozierte Kellermann seit 1919 auch an der „Freien Jüdischen Volkshochschule“. Die Bildungseinrichtung wurde am 1. Februar 1919 in Zusammenarbeit der Berliner jüdischen Gemeinde mit verschiedenen jüdischen Organisationen in einer konstituierenden Sitzung begründet102 und am 16. Oktober des Jahres mit einem Vortrag Max Wieners über „Jüdische Bildung“ in der Synagoge Prinzregentenstraße feierlich eröffnet.103 Kellermann hatte bereits 1917 in seiner Antrittsrede als Rabbiner eine solche Einrichtung gefordert, da die Synagoge als Ort der Bildung nicht ausreiche: Der „Glaube an die unvergleichliche Kulturkraft des Judentums kann nicht allein in der Synagoge gewonnen werden. Vielmehr müssen unsere Gemeindemitglieder in bestimmten Lehrstätten zum Selbststudium erzogen werden. Wir bedürfen auch für unsere jüdische Wissenschaft einer Art von Volkshochschulen, in denen der Laie nach Abschluß seiner Tagesarbeit Anregung und Erhebung findet. Wie einst im alten Judentum das Bethhamidrasch den Zellkern des jüdischen Organismus bildete, so muß 100 101 102 103

Ebd., 186. Folgende Zitate: ebd., 184 (Hrvh. im Orig.). Ebd., 185 (Hrvh. im Orig.). Vgl. AZJ Nr. 7 vom 14. 2. 1919, 63f, hier : 63. Eröffnungsplakat der Freien Jüdischen Volkshochschule, 1919, CJA, 1, 75 E, Nr. 38, # 14337, 1 Bl.

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auch für unsere Zukunft das Lehrhaus wieder in den Mittelpunkt des jüdischen Lebens rücken.“104 Durch die von der „Freien jüdischen Volkshochschule“ in verschiedenen, über ganz Berlin verteilten, Hörsälen angebotenen Lehrvorträge und mehrmonatigen Seminarkurse sollte jugendlichen und erwachsenen Juden die Möglichkeit gegeben werden, „sich systematisch von sachkundiger Seite über das Judentum belehren zu lassen“, mit dem Ziel der „Hebung des jüdischen Selbstbewusstseins“.105 Die Vermittlung neuester Erkenntnisse aus der Wissenschaft des Judentums würden weder Presse noch Bücher allein besorgen können, sondern sei auf Dozenten angewiesen, die eben in dieser aktiv seien und Begeisterung unter den Zuhörern auslösen könnten. Dabei seien drei Bedingungen notwendige Voraussetzung: „Möglichste Universalität der Wissensgebiete“ inklusive der wissenschaftlich objektiven Behandlung politischer, religiöser und sozialer Streitfragen; „keine dogmatisch-autoritative, sondern entwickelnd kritische Methode“, mit der die Zuhörer zum Selbstdenken angeregt werden sollten; Freiheit für alle jüdischen Richtungen und „vollständige Lehr- und Lernfreiheit für beide Geschlechter“.106 Die Dozenten deckten insgesamt sechs Fachgebiete ab: Hebräische Sprache, Bibel, Jüdische Literatur, Jüdische Geschichte, Volks- und Gesellschaftskunde sowie Ethik und Religionswissenschaft. Bereits im ersten Trimester zählte die „Volkshochschule“ 1560 Hörer und bot ein breites Angebot von Seminaren an.107 Kellermann dozierte seit der Eröffnung im „Lehrprogramm Ethik und Religionswissenschaft“, welches sich mit dem „Judentum als Religion und Weltanschauung“, mit „philosophischen Systemen in nicht-jüdischen Religionen“ und mit „Geschichte und System der jüdischen Ethik“ befasste. Hinzu kamen die Themenfelder „neuere[…] religiöse[…] Strömungen im Judentum“, der Gottesdienst und das „Ritualgesetz“.108 Im ersten Trimester hielt Kellermann, wie alle Dozenten gegen Honorar, einmal wöchentlich die Vorlesung „Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie“, sein Kollege Robert Hirschfeld referierte über die „Trennung von Staat und Kirche“ und der Philosoph und Direktor der „Volkshochschule“ Julius Guttmann sprach über „Der religiöse Gehalt der Bibel“.109 Am 3. Februar 1919 104 O. Verf., Amtseinführung des Rabbiners Herrn Dr. Kellermann, 116. 105 O. Verf., Denkschrift zur Gründung der freien jüdischen Volkshochschule in Berlin, 1918/ 19, CJA, 1, 75 C Ve 3, Nr. 54, # 13127, Bl. 1–5, hier : Bl. 1. Zum Folgenden: ebd. 106 Ebd., Bl. 2. 107 Vgl. o. Verf., Die Freie Jüdische Volkshochschule Berlin in den Jahren 1919 und 1920, in: GJB 11/3 (1920), 27. 108 O. Verf., Denkschrift zur Gründung der freien jüdischen Volkshochschule in Berlin, 1918/ 19, CJA, 1, 75 C Ve 3, Nr. 54, # 13127, Bl. 1–5, hier : Bl. 3. 109 Vgl. AZJ Nr. 7 vom 14. 2. 1919, 64.

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wurde Kellermann zudem für die erste der „Montagsvorlesungen“ des Jahres an der HWJ eingeladen, wo er über „Das Freiheitsproblem der jüdischen Religionsphilosophie“ sprach und damit seine kommende Vorlesung an der „Volkshochschule“ in konzentrierter Form zusammenfasste.110 Der Referent stellte einem Bericht zufolge zwei Pole als zentrale Elemente der jüdischen Religionsphilosophie heraus, die er nicht mit der Antike, sondern mit der Bibel selbst anheben lässt: Das Verhältnis von Naturgesetz und Freiheit des einzelnen Menschen sowie das Verhältnis des jüdischen „Moralgesetzes“ zur göttlichen Allmacht. Ihn habe also die Frage beschäftigt, ob und wie menschliche Freiheit möglich sei, wenn Gott der Tradition gemäß als „Inbegriff und Urheber aller Naturgesetze“ gelte. Kellermann habe die bekannten jüdischen Philosophen von Philo über Salomo ibn Gabirol bis zu Maimonides überblickt und ihre Auffassungen zu dem Freiheitsproblem angesichts der göttlichen Allmacht nachgezeichnet.111 Das neukantianische Denken als Höhepunkt der Philosophiegeschichte ausweisend, habe er jedoch festgestellt, dass die genannten „jüdischen Denker den Weg, den sie suchten, nicht gefunden haben, weil sie trotz des scharfen philosophischen Denkens als gläubige Juden in den Dogmen der Religion befangen waren. Erst durch Cohens gewaltiges Geisteswerk wurde das Problem des Freiheitsbegriffes in der jüdischen Religionsphilosophie so gelöst, wie es die Ansprüche des reinsten kritischen Denkens erfordern.“112 Orthodoxes Judentum sei unmöglich in der Lage, sich mit einer aufgeklärten kritischen Philosophie zu verbinden, die allein es ermögliche, eine Lösung des Problems der Freiheit angesichts zwingender Naturgesetze und einer wie auch immer vorgestellten Gottheit zu finden. Auch in den folgenden Semestern bot er immer wieder Kurse im Programmbereich der Ethik und Religionswissenschaft an. Im ersten Trimester 1920 las er über „Vergleichende Religionswissenschaft“ und ergänzte die Vorlesung durch ein sich daran anschließendes Seminar,113 im darauffolgenden widmete er sich der „Ethik des Judentums“. Die achtteilige Vorlesung fand von April bis Juni im Logenhaus des „Unabhängigen Ordens Bne Briss“ (U.O.B.B.) in der Kleiststraße 10 statt und behandelte folgende Themen: „1. Grundlegung. 2. Autonomie und Freiheit. 3. Die Gottesidee. 4. Die Seelenidee. 5. Die Weltidee. 6.

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Vgl. BLWJ 37 (1919), 11; GBAZJ Nr. 6 vom 7. 2. 1919, 1. Ein Ms ist nicht erhalten. Vgl. GBAZJ Nr. 7 vom 14. 2. 1919, 2. Ebd. Vgl. GBAZJ Nr. 2 vom 9. 1. 1920, 1; GJB 9/12 (1919), Beilage. Die Vorlesung fand jeden Mittwochvormittag von acht bis neun Uhr in der Leibniz-Schule statt, das Seminar schloss sich an von neun bis zehn Uhr.

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Individualismus u. Universalismus. 7. Das Jenseits, das Märtyrertum. 8. Die soziale Frage, die Tugendlehre.“114 Diese Themen waren für seine Religionsphilosophie zentrale Fragestellungen, die er in vielen Publikationen entfaltete und an der „Volkshochschule“ auf einem allgemeinverständlichen Niveau erklären musste. Es schien ihm gelungen zu sein, denn Julius Galliner zufolge scharte Kellermann in seinen dortigen Kursen „einen großen Zuhörerkreis“ um sich, die er „in die Gedankenwelt unserer jüdischen Religionsphilosophie einzuführen“ vermochte.115 Er war der „Volkshochschule“ sehr verbunden, denn er engagierte sich auch außerhalb seiner eigenen Veranstaltungen an dieser. Dies beweist eine Versammlung am 31. Mai 1920, in der es eine allgemeine Aussprache der Hörer gab und die Vertrauenspersonen gewählt wurden. Kellermann wurde vom Kuratorium ausgewählt, den Eröffnungsvortrag an diesem Abend zu halten, über den aber keine näheren Informationen überliefert sind.116 Einige Tage zuvor trug Kellermann seine religionsphilosophischen Gedanken erneut einem jungen, nichtwissenschaftlichen Publikum vor, denn er wurde von dem „Jüdisch-liberalen Jugendverein zu Berlin“ eingeladen, über „Das liberale Judentum und das Gesetz“ zu referieren.117 Obwohl sich kein Text erhalten hat, kann es angesichts seines Gesamtwerks als sicher gelten, dass er die Zuhörer mit seinem Verständnis eines, den „ethischen Monotheismus“ fordernden, prophetischen Judentums vertraut machte. Für dieses philosophisch aufgeklärte Judentum sind die „ritualgesetzlichen“ Forderungen in seinen Augen bedeutungslos geworden, normativen Wert behielten für ihn lediglich die universalistisch aufgefassten ethischen Weisungen der Hebräischen Bibel und anderer jüdischer Texte. Am 11. Oktober 1920 begannen die bis Dezember andauernden Herbstvorlesungen und -seminare an der „Volkshochschule“. Leo Baeck las über „Weltgeschichte und Judentum“, Simon Bernfeld über „Die Prophetischen Bücher der Bibel“ und Kellermann über „Die neuere Philosophie in ihrem Verhältnis zum 114 Freie Jüdische Volkshochschule e. V., Vorlesungen 5. Vierteljahr. Frühjahr 1920. 19. AprilAnfang Juni, CJA, 1, 75 E, Nr. 38, # 14337, Bl. 6–9, hier: Bl. 8. Der noch heute existierende und in aller Welt Dependancen besitzende U.O.B.B. wurde 1843 als geheime Loge in New York gegründet und verschrieb sich der Toleranz, humanitären Hilfe, Wohlfahrt und dem Kampf gegen den Antisemitismus. Vgl. dazu die offizielle Homepage: http://www.bnaibrith.org/index.cfm, abgerufen am: 10. 5. 2012. Zur Geschichte der deutschen U.O.B.B.Logen seit ihrer Gründung 1882 bis 1933: Independent Order of B’nai B’rith (Hg.), Zum 50jährigen Bestehen des Ordens Bne Briss in Deutschland. U.O.B.B. Mit einer Einleitung von Leo Baeck, Frankfurt a. M. 1933; Reinke, Andreas, „Eine Sammlung des jüdischen Bürgertums“: Der Unabhängige Orden B’nai B’rith in Deutschland, in: Gotzmann/ Liedtke/Rahden (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche, 315–340. 115 Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 4. 116 Vgl. GBAZJ Nr. 22 vom 28. 5. 1920, 4. 117 Vgl. o. Verf., Vom Berliner ILI, in: MARGE 3/7 (1921), 141–143, hier : 141.

Rabbineramt und öffentliches Wirken

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Judentum“.118 Seit jeher hatte Kellermann die gegenwärtigen philosophischen Strömungen zur Kenntnis genommen und sie mit dem neukantianischen Denken konfrontiert. In der drei Jahre zurückliegenden Debatte um die Propheten mit Troeltsch und in anderen Texten verteidigte er stets den systematisch-rationalen Zugang zum Judentum und verwahrte sich gegen ein in der Philosophie aufkommendes fragmentiert-existentielles Denken und dessen Übertragung auf das Judentum, das damit zu einer irrationalen „Gefühlsreligion“ werde.119 Es liegen keine Informationen über den Kurs vor, es ist jedoch gut möglich, dass er über nach dem Weltkrieg wieder stärker rezipierte Philosophen wie Kierkegaard, Schleiermacher, Nietzsche, Bergson oder Spinoza las, zumal er zu diesem Zeitpunkt die Arbeiten an seinem zweiten systematischen Hauptwerk Die Ethik Spinozas begonnen hatte, das dann 1922 erschien. Wahrscheinlich konnte Kellermann das Seminar nicht zu Ende führen, denn er erkrankte zwischen Ende 1920 und Anfang 1921 schwer. Galliner berichtet diesbezüglich Folgendes: Wohl sahen auch wir in den letzten beiden Jahren seine Körperkräfte schwinden, wohl waren wir um ihn oft in schwerer Sorge, wohl wußten wir, daß es schmerzte, seine heiligen Amtspflichten nicht mehr erfüllen zu können, und dennoch hofften wir, da sein Geist bis zuletzt frisch und ungebrochen war, daß er uns aus dem unerschöpflichen Baue seines Wissens uns noch vieles Herrliche und Schöne werde geben können.120

Ernst Kellermann zufolge sei sein Vater überlastet gewesen und hätte immer wieder Herzattacken gehabt.121 Er arbeitete zu dieser Zeit als Jugendrabbiner, führte eine Religionsschule, hielt viele Vorträge und Seminare und hatte 1920 sein umfassendes Werk Das Ideal im System der Kantischen Philosophie veröffentlicht. Von der Krankheit war auch ein anderer Kurs Kellermanns betroffen, der schon am zweiten Abend abgebrochen werden musste. Er sollte im Wintersemester 1920/21 im Ili Berlin über die „Grundlehren der jüdischen Religion“ dozieren und wurde von den Veranstaltern auch als ein Aushängeschild der jüdisch-liberalen Jugendarbeit in Berlin betrachtet. Denn im Rückblick auf das Verbandsjahr 1920 bis 1921 wird die Beteiligung an den angebotenen Veranstaltungen als „schlecht“ eingeschätzt und auch mit dem Ausfall seines Kurses begründet: „Gewiß läßt sich als Entschuldigungsgrund das Fehlen eines gemütlichen Heims und das plötzliche Unterbrechen des Kursus von Dr. Kellermann anführen.“122 Als der Verein in der ersten Novemberwoche in der Aula des 118 119 120 121 122

Vgl. GBAZJ Nr. 33 vom 1. 10. 1920, 1. Vgl. Kellermann, Rationales oder irrationales Judentum. Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 1. Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. O. Verf., Vom Berliner ILI, 143.

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Dorotheenstädtischen Realgymnasiums, Kellermanns ehemaliger Wirkstätte, sein zehnjähriges Bestehen feierte, fehlte denn auch der Rabbiner und Pädagoge als Redner der Veranstaltung.123

123 Vgl. GBAZJ Nr. 36 vom 12. 11. 1920, 2. Ansprachen hielten u. a. der Vorsitzende Bruno Woyda, der große Stücke auf Kellermann hielt (Bruno Woyda an Thekla Kellermann, 8. 4. 1929, LBI New York, AR 1197, 1 Bl.), und die Kollegen Hirschfeld und Baeck.

Das Hauptwerk

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6. Das Hauptwerk 6.1 Das Ideal im System der Kantischen Philosophie (1920) Wie aus dem Vorwort hervorgeht, beendete Kellermann im Herbst 1919 die Arbeit an Das Ideal im System der Kantischen Philosophie, das Anfang 1920 im Berliner Verlag Schwetschke & Sohn veröffentlicht wurde und zusammen mit der zwei Jahre später publizierten Ethik Spinozas als sein systematisches Hauptwerk angesehen werden muss.1 Die Vorarbeiten hingegen reichten bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück. Am 9. Februar 1916, kurz nach der Diskussion mit Troeltsch in Berlin und parallel zu der Vorbereitung des Drucks des zweiten Teils seiner Übersetzung der Kämpfe Gottes, hielt er vor der „KantGesellschaft“, deren Mitglied er seit 1914 war, einen Vortrag unter dem Titel „Der Begriff des Ideals“.2 Das erhalten gebliebene und für das vorliegende Kapitel verwendete Manuskript3 zeigt dabei Grundpositionen auf, die dann vier Jahre später in ausgearbeiteter Form veröffentlicht wurden. Für den in Marburg philosophisch ausgebildeten Kellermann als Vertreter des kritischen Idealismus ist der Begriff des Ideals einer der zentralen Termini in seinem religionsphilosophischen Gesamtwerk. So weist er immer wieder darauf hin, dass die Propheten die Ausrichtung des individuellen menschlichen Handelns am sittlichen Ideal einfordern würden, deren Garant und Ermöglichungsgrund die Gottesidee sei. Der einzelne Mensch und die Menschheit müssten in ihrem Wirken in der Welt auf die Erfüllung des Ideals hinstreben, auch wenn dies ein in die Unendlichkeit reichender Prozess sei und deshalb immer nur Annäherung sein könne. Kellermann verfolgt in seiner Untersuchung eine systematische und eine philosophiehistorische Zielsetzung. Systematisch will er „in den Spekulationen Kants den Punkt aufzeigen, der die kulturerzeugende Kraft des kritischen Idealismus ein für allemal sicherstellt“ (III). Diesen Punkt identifiziert er mit dem Begriff des Ideals, „der gerade die erzeugende und schöpferische Kraft der Kantischen Be1 Kellermann, Benzion, Das Ideal im System der Kantischen Philosophie, Berlin 1920. Das Vorwort datiert vom Oktober 1919. – Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im folgenden Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. 2 Neben Kellermann sprachen in der Berliner Abteilung der „Kant-Gesellschaft“ seit Oktober 1915 u. a. auch Ernst Cassirer („Freiheitsproblem und Formproblem in der deutschen Geistesgeschichte“) und Arthur Liebert („Wie ist die kritische Philosophie überhaupt möglich?“): KantSt 21 (1916–1917), 474. – Kellermann wurde zwischen Januar und April 1914 in die „KantGesellschaft“ aufgenommen (KantSt 19 [1914], 296), seine Frau trat ihr Anfang 1924 bei (KantSt 29 [1924], 643). 3 Kellermann, Benzion, [Ms] Der Begriff des Ideals (Vortrag gehalten in der Kant-Gesellschaft), undatiert [Ende 1915/Anfang 1916], Privatbesitz Susan Kellermann.

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griffswelt für das gesamte Kulturbewußtsein zu einer unangreifbaren Gewißheit erhebt“ und als „realisierende[r] Faktor des ganzen Systems“ (III) gelten könne. Deshalb untersucht Kellermann Kants Philosophie daraufhin, wie in ihr das Ideal bestimmt und zu anderen Begriffen, wie dem der Idee, ins Verhältnis gesetzt wird. Die Bewertung von Ideen und Gedanken anhand der Untersuchung, ob sie das Potential und die Kraft haben, Kultur zu erzeugen und Wissenschaftsdisziplinen grundzulegen, durchzieht sowohl die Geschichte des Marburger Neukantianismus als auch das eng mit ihr verbundene Werk Kellermanns. In vielen Publikationen fragt er danach, welche Elemente des Judentums kulturerzeugend wirken würden und entdeckt diese vor allem in den als universal aufgefassten ethischen Forderungen, die sich etwa bei den Propheten finden ließen. In dem Kommentar zu den Kämpfen Gottes kritisiert er Lewi ben Gerson zwar immer wieder, identifiziert aber auch universale Elemente in seiner Philosophie, die dem kritischen Idealismus nahe kämen und somit kulturerzeugenden Wert hätten. Ebenso urteilt er über Maimonides, den er für das Festhalten an dem „Zeremonialgesetz“ zwar tadelt, dessen Beschreibung Gottes in ethischen Kategorien aber überzeitlich, allgemeingültig und somit kulturerzeugend sei. Im Ideal kritisiert Kellermann, dass der Philosophie Kants häufig und zu Unrecht vorgeworfen werde, sie sei wirklichkeitsfremd und ein „leere[r] Begriffsformalismus“, vielmehr aber „muß sich die Überzeugung durchringen, daß die Gleichung: Kantianismus = Kultur apriorische Geltungskraft besitzt.“ (III) Er will somit neben der oft anerkannten Übereinstimmung Kantischen Denkens mit der „mathematische[n] Naturwissenschaft“ die „korrelative Beziehung zwischen Kant und den Geisteswissenschaften“ erweisen, das heißt, „den Nachweis […] führen, daß für alle Richtungen des Kulturbewußtseins nicht nur für die Logik, sondern auch für die Ethik, für die Ästhetik und für die Psychologie der Kantianismus grundlegende Kraft in sich birgt.“ (III) Kellermann ist überzeugt davon, dass mit der transzendentalen Methodik des Marburger Neukantianismus nicht nur die an der Mathematik orientierten Naturwissenschaften, sondern auch die Geisteswissenschaften grundgelegt werden können. Denn in dieser Schule „wurde stets im Anschluß an die Klassiker des Denkens, an Plato, Descartes und Leibniz, an Kepler, Galilei und Newton der Gedanke ventiliert, auf welche Weise der intime, d. h. der korrelative Zusammenhang zwischen Philosophie und Kultur bis zur Evidenz erwiesen und begründet werden kann.“ (IV) Damit ist das zweite, philosophiegeschichtliche Ziel der Studie angesprochen. Er will besonders die Vertreter des Marburger Neukantianismus, allen voran Cohen und Natorp, daraufhin überprüfen, inwiefern sie mit ihren Werken zu dieser engen Korrelation von Philosophie und Kultur beitrügen und zugleich an geeigneter Stelle deren „Begründung und systematische[…] Ausgestaltung des kritischen Idealismus“ (IV) fortführen. Denn die hier gegebenen „Lösungsver-

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suche“ könnten nicht „in jeder Hinsicht befriedigen“ und wiesen „Lücken“ (IV) auf, die er in selbständiger Weise zu füllen versucht, indem er sich dem Idealbegriff als dem Instrument bedient, mit dem ein für alle mal der Nachweis der kulturerzeugenden Kraft des Kantischen Denkens geführt werden könne. Somit greift Kellermann einerseits selbstverständlich auf das Vokabular und die Methodik des Marburger Neukantianismus zurück, zum anderen will er den dort vertretenen kritischen Idealismus fortbilden und beschreitet in diesem Sinn auch eigene Bahnen. In der 420 Seiten starken Untersuchung benutzt Kellermann weitgehend den Text der Cassirerschen Ausgabe von Kants Werken, an der er selbst mitarbeitete, nur für dort noch nicht edierte Texte griff er auf die Ausgabe von Hartenstein zurück.4 Die Studie ist unterteilt in neun Kapitel, die sich der skizzierten Fragestellung in verschiedener Weise annähern und zu beantworten suchen: I. Die Realisation der Idee; II. Der Schematismus und die logische Übervalenz der Zeit; III. Die empirische Einzelheit und das transzendentale Ideal; IV. Das Ideal des höchsten Gutes; V. Typik und Schematismus; VI. Urbild und Vorbild; VII. Ideal, Schema und Hypothese; VIII. Psychologische und transzendentale Einbildungskraft; IX. Schelling und Kant. Zu Beginn unternimmt er es, die Begriffe Idee und Ideal, wie sie bei Kant verwendet werden, zu erläutern und voneinander zu unterscheiden. Sich von der platonischen Ideenlehre abhebend, die die in der sichtbaren Welt zu erkennenden Einzeldinge als unvollkommene Abbilder der in den Ideen enthaltenen „Urbilder“ ansieht,5 gesteht Kant den Ideen eine neue systematische Bedeutung für das Denken zu. Innerhalb seiner Ausführungen zur transzendentalen Dialektik in der KrV beschreibt Kant das Streben der Vernunft nach Vereinheitlichung aller ihr vorliegenden Begriffe und Urteile, welches durch die Ideen befördert werde. Er erklärt deshalb „Ideen zu regulativen Prinzipien“, zu notwendigen Begriffen der reinen Vernunft, denen kein Gegenstand der Erfahrung entspreche und deren Zweck darin bestehe, „das menschliche Handeln zu leiten“6. Die Ideen, die Kant in psychologische, kosmologische und theologische unterteilt, werden von ihm also nicht nur erkenntnistheoretisch definiert, sondern auch immer mit dem Bereich der Ethik als dem des praktischen Handelns verknüpft. Über das Ideal, als einen neben den Ideen ebenso notwendigen Begriff in 4 Cassirer (Hg.), Immanuel Kants Werke. – Von Gustav Hartenstein gab es zur Zeit Kellermanns eine zehnbändige (Leipzig 1838f) und eine achtbändige (Leipzig 1867–69) Ausgabe der Schriften Kants. 5 Kant, KrV, B 370. Vgl. dazu das auch von Kellermann immer wieder zitierte Werk: Natorp, Paul, Platos Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Leipzig 1903. Die zweite, durchges. u. erw. Aufl. erschien 1921, kannte Kellermann bei der Abfassung also nicht. 6 Blume, Thomas, Art. Idee, in: HPh, 399f, hier: 400.

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seinem System, gibt Kant unter anderem in der KrVAufschluss. In dem dritten Hauptstück des zweiten Buchs der transzendentalen Dialektik, das von dem „Ideal der reinen Vernunft“ handelt, definiert Kant das Ideal als individuelle Idee: „Aber noch weiter als die Idee scheint dasjenige von der objektiven Realität entfernt zu sein, was ich das Ideal nenne, und worunter ich die Idee, nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding, verstehe.“7 Während sich Erfahrungsgegenstände Kellermann zufolge bei Kant „als eine Art objektiver Realität des Verstandesbegriffs“ (2) erweisen, könne dies für Ideen, besonders auf ethischem Gebiet, nicht behauptet werden, ohne ihren sittlichen Charakter zu gefährden. „Denn die objektive Realität des Sittlichen im Sinne einer Empirisierung ihrer Forderungen bedeutet eine Preisgabe des Sittlichen, dessen Kausalität von der der Logik grundsätzlich verschieden ist. Denn das Sein der praktischen Vernunft“, die laut Kant der spekulativen übergeordnet ist,8 „ist das Sollen – nicht das Dasein, die existentiale Wirklichkeit.“ (5) An dieser Stelle führe Kant den Begriff des Ideals in sein System ein, den er als eine „existente Idee“ verstehe, „in der sich die Funktion der Idee zu einer aparten, bildhaften Art des Seins konkretisiert […], um ihr freilich nicht wie Plato schöpferische, sondern praktische Wirkung zu vindizieren.“ (9) Aus der praktischen Grundverfassung des Ideals resultiere seine doppelte Funktion. Es verhilft einer Idee, mit der es die Herkunft aus derselben Bewusstseinssphäre teile, zur Realisation, führt sie also in die Wirklichkeit ein: „Weil die durch das Ideal verwirklichte Realität der Idee aus der Bewußtseinsrichtung der reinen praktischen Vernunft nicht herausfällt, können wir getrost die Behauptung wagen, daß sich das Ideal zur Idee genau so verhält, wie das Erzeugnis zur Erzeugung, d. h. die Realität der Idee vollzieht sich auf dem Wege der Idealerzeugung, die ihrerseits wieder den ewigen Fortschritt der sittlichen Handlung verbürgt.“ (14)9 Mit Letzterem ist die zweite Funktion des Ideals angesprochen, das „als unentbehrliches Richtmaß unserer Handlungen“ (11) zu gelten habe und somit im Bereich der Ethik von entscheidender Bedeutung sei. In dem Vortrag von 1916 präzisiert er folgendermaßen: „Lehrt mich die Idee, was ich soll, zeigt mir das 7 Kant, KrV, B 596. 8 Vgl. ders., KpV, A 215–219. 9 Im Anschluss an Cohens Beschreibung des reinen Denkens in LrE, 29: „Ferner aber kann der bildliche Ausdruck des Erzeugens die Charakteristik des Denkens schon deshalb nicht schädigen, weil es bei dem Erzeugen nicht sowohl auf das Erzeugnis ankommt, als vor allem auf die Tätigkeit des Erzeugens selbst. Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis. Es gilt beim Denken nicht sowohl den Gedanken zu schaffen, sofern derselbe als ein fertiges, aus dem Denken herausgesetztes Ding betrachtet wird; sondern das Denken selbst ist das Ziel und der Gegenstand seiner Tätigkeit. Diese Tätigkeit geht nicht in ein Ding über ; sie kommt nicht außerhalb ihrer selbst. Sofern sie zu Ende kommt, ist sie fertig, und hört auf, Problem zu sein. Sie selbst ist der Gedanke, und der Gedanke ist nichts außer dem Denken“ (Hrvh. im Orig.).

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Ideal, wie ich’s kann. Bedeutet die Idee die Aufgabe an sich, so bekundet das Ideal den ersten Ansatz zur Lösung.“10 Weil die sittliche Handlung eine „empirisierte Idee“ sei, müsse es „für die Empirisierung der Idee in der sittlichen Handlung genau so ein Maximum geben wie für die Empirisierung der Idee in der Forschung“ (11). Das heißt, wie in der Wissenschaft, „so muß auch jede sittliche Handlung rückwärts schließend ein Maximum der momentanen Handlung konstruieren, das als die Idee dieser Handlung erscheint. Diese rekonstruierte Handlung der Idee nennt Kant Ideal, weil sie nicht die Idee als solche, sondern die der Idee adäquate Handlung darstellt.“ (12) Daraus folge, dass allein die Idee „das ursprünglich Bestimmende der sittlichen Handlung“ (12) bleibt und dem Ideal die Aufgabe zukomme, die Differenz zwischen der sittlichen Handlung als Nachbild und dem Urbild (die Idee) aufrechtzuerhalten. Niemals gebe es Stillstand im Bereich des sittlichen Handelns, niemals könne sich der Mensch mit dem Geleisteten zufrieden geben, indem er denke, der Idee durch seine Handlung vollständig entsprochen zu haben. Dafür sorge das Ideal, in dem es „die Identität zwischen Sollen und Sein verhütet, um auf diese Weise den Ewigkeitscharakter der ethischen Idee zu retten“ (18), wodurch „der allgemeine sittliche Fortschritt gefördert wird“ (12). In den Schriften Cohens gebe es widersprüchliche Aussagen bezüglich des Ideals im ethischen Bereich, die Kellermann in seiner Untersuchung aufzulösen sucht. An dieser Stelle sei angemerkt, dass es nicht Aufgabe der vorliegenden, das ganze Lebenswerk umfassenden Biografie sein kann, die im Ideal gefällten Urteile über Cohen systematisch und in jedem Detail auf ihre Richtigkeit zu prüfen, was vielmehr nachfolgenden Einzelstudien vorbehalten bleiben muss. Das vorliegende Kapitel untersucht deshalb anhand ausgewählter Positionen, wie er seine philosophische Emanzipation von Cohen selbst darstellt und mit welchen Argumenten er sie begründet. Die das Ideal im ethischen Bereich betreffende „Antinomie“ (14) lasse sich vor allem an zwei Werken Cohens aufzeigen: Kants Begründung der Ethik und Die Ethik des reinen Willens. In der ersten Schrift verwahre sich Cohen streng gegen das von Kant postulierte „Ideal des höchsten Guts“11, unter dem der Königsberger „die Idee einer solchen Intelligenz [der höchsten Vernunft, T. L.]“ verstand, „in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit, glücklich zu sein) in genauem Ver-

10 Kellermann, [Ms] Der Begriff des Ideals, Privatbesitz Susan Kellermann, 19 (kursivierte Stellen sind im Original unterstrichen; dies gilt auch für nachfolgende Hervorhebungen aus diesem Manuskript). 11 Vgl. dazu Kant, KrV, B 832–847 u. ders., KpV, A 198–215. Folgendes Zitat: KrV, B 838.

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hältnisse steht“. Cohen sei dieses Ideal dagegen „überflüssig, ja den Reingehalt der Ethik sogar schädigend“ (14) erschienen. Der Grund liege darin, dass er in der „Realität der ethischen Idee“ selbst eine ausreichende „Bürgschaft für die Verwirklichung der Sittlichkeit erblickt“ (14) habe und das „Ideal vom höchsten Gut“ durch „die Maximen-Realität der Freiheit, als des sittlichen Endzwecks“12 ersetze. Zwar beziehe er sich speziell auf das „Ideal vom höchsten Gut“, aber für Kellermann steht fest, dass „die Begründung, mit welcher Cohen dieses Ideal ablehnt, für jede Art von Ideal gilt“, was „aus der Identität hervor [gehe], die er zwischen Maxime und Ideal aufrichtet“ (15). Da die Maxime also „all die Funktionen vertritt“, die Kant dem ethischen Ideal und demjenigen vom höchsten Gut zuschrieb, würde dieser Begriff Cohen in der KBE ausreichen, um „die Realisierung der Idee“ (15) zu ermöglichen. Kellermann hingegen hält unter der Bedingung, dass es einzig „auf das Diesseits eingestellt“ (172) werde, streng an dem „Ideal vom höchsten Gut“ fest, da es „durch dauernde Aufrichtung der Idee einer höchsten moralischen Intelligenz jeder geschichtlichen Leistung die sittliche Rechtfertigung antizipierend verheißt und verleiht“ (164f) und somit den sittlichen Fortschritt verbürge. Diese höchste moralische Intelligenz ist für Kellermann die Gottesidee, die sich des „Ideals vom höchsten Gut“ „zur Entfaltung ihrer funktionalen Aufgabe bedient“ (165f) und im Folgenden noch genauer beschrieben wird. Damit ist der Philosoph zugleich bei dem Begriff der Geschichte angelangt, die „als das eigentümliche Antizipationsfeld der Gottesidee anerkannt [werden müsse], sofern die Geschichte als die Verwirklichung des höchsten Gutes in der Gottesidee ihre Hypothesis zu erblicken hat“ (171). Somit bilde die Gottesidee „die methodische Voraussetzung der Geschichte als Wissenschaft“ (165). Während Cohen in KBE generell auf den Idealbegriff verzichtet habe, verwende er diesen in der ErW, die Kellermann als einen gewaltigen Fortschritt in dessen Denken begreift, was er auch in dem mehrteiligen Kommentar in der AZJ von 1905 deutlich machte. Wie er sich hier gegenüber dem Idealbegriff positioniert habe, sei zunächst ein „unbegreiflicher“ Akt, denn um die „der Freiheits-Maxime analoge Autonomie“ zu ermöglichen und abzusichern, deduziere Cohen die zwei Begriffe „Ideal“ und „Gottesidee“ (15). Nach der Errichtung des „logischen Unterbau[s]“ der Ethik im ersten Teil der ErW, frage er im Folgenden nach deren „Anwendbarkeit: Kann die Ethik Wirklichkeit auf Erden werden?“ (22). Die Antwort sei deutlich, denn die Ethik könne auf Erden niemals restlos verwirklicht werden, da der Wille „ewigen Sollcharakter“ trage, immer auf die Zukunft ausgerichtet und „jede Absolutheit der Gegenwart als eine Verfälschung des reinen Willens abzulehnen“ (24) sei. Völlige Realisierung sei nur möglich in einer „gegenwartsfreie[n] und 12 Cohen, KBE, Werke 2, 351.

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raumlose[n] Wirklichkeit“, die „ihren prägnanten Ausdruck in dem Begriffe der Ewigkeit findet“ und von Cohen als „die Wirklichkeit des Ideals“ (24) bezeichnet werde. An dieser Stelle gewinne der Begriff des Ideals Relevanz, indem ihn Cohen als „Vorschrift und Musterbild“13 und damit ganz im Sinne Kants als eine Richtschnur des Handelns vorstelle, die nie zu erreichen, sondern der sich lediglich anzunähern sei. Das sittliche Ideal realisiere also nicht nur die sittliche Idee, sondern sichere zugleich die notwendige „Indifferenz zwischen Idee und Wirklichkeit“ (25), denn „das ethische Selbst bleibt Aufgabe und immerdar Aufgabe, da die Vereinigung zwischen der ewigen Sollsetzung des regulativen Wollens und der ewigen Istsetzung des objektivierenden Denkens nur in der Unendlichkeit vollziehbar ist“ (31). Während Kellermann bezüglich der Bestimmung des Ideals, wie sie Cohen in der ErW vertritt, mit diesem weitgehend übereinstimmt, treten die Unterschiede zwischen beiden im Bereich der Ästhetik deutlicher hervor. Cohen nehme in seinen diesbezüglichen Überlegungen, die Kellermann vor allem anhand von dessen Ästhetik des reinen Gefühls darstellt,14 scheinbar eine entgegengesetzte Position zu den ethischen ein, denn während im Bereich der letzteren „das Ideal die Differenz zwischen Idee und Wirklichkeit bis in alle Ewigkeit hinein aufrechterhalten [muss], damit die Wirklichkeit eine immer größere Annäherung an die Idee erreicht“, habe das Ideal im Bereich der Ästhetik diese Differenz zu „vereitel[n]“ (33), also aufzulösen. Dies sei nur möglich, weil Cohen zufolge der entscheidende Unterschied zwischen Kunst und Sittlichkeit darin bestehe, dass in ersterer die für die letztere so konstitutive ewige Differenz zwischen Sollen und Sein keinen Bestand habe, sondern im Kunstwerk aufgelöst werden solle, das ihm deshalb selbst zu einem Ideal gerate. Diese Auffassung untermauert Kellermann (33) mit folgendem Zitat aus der ÄrG: „Das Kunstwerk ist Ideal, und es macht das Ideal zur Wirklichkeit. Denn nur als einzelne Wirklichkeit ist das Kunstwerk, also das Ideal zu erzeugen. Das Ideal vereitelt die Differenz, welche sonst zwischen Idee und Wirklichkeit besteht.“15 Für Cohen habe im Bereich der Ästhetik „das Ideal als Vermittlungsinstanz zwischen Sollen und Sein überhaupt keine Berechtigung“ (21), das heißt, er sei sich „darüber völlig im Klaren, daß mit der Identität zwischen Ideal und Kunstwerk die Differenz zwischen Idee und Empfindung, als dem Korrelat des Einzelnen völlig preisgegeben wird“ (34). Dies nehme Cohen billigend in Kauf, „verwirft“ (21) damit letztlich das Ideal in der Ästhetik und scheine im „Widerspruch mit der Methode seines Systems“ zu stehen (33). Schließlich gefährde er den „Reinheitscharakter der Kunst“ (33) und Kellermann fragt sich, warum 13 Cohen, ErW, Werke 7, 423 (Hrvh. im Orig.). 14 Ders., Ästhetik des reinen Gefühls (1912). System der Philosophie. Dritter Teil, Werke 8–9. 15 Ebd., Werke 8, 212.

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„nicht auch Cohen zwischen Idee und Wirklichkeit jene Wirklichkeit des Ideals ein[schiebt], deren sich Kant für das ästhetische Bewußtsein bedient“ (34). Die Antwort liege in dem „Begriff des Schönen“ (36), den Cohen an die Stelle des Ideals setze und als „Ausgleich“ von „restringierende[r] und astringierende[r] Unendlichkeit“ verstehe, der „in einer scheinbaren Ruhe zur Darstellung gelangt, aber in einer Ruhe, die von intensivster Bewegung zeugt, weil beide Arten der Unendlichkeit gleichzeitig wirken“ (39). Weil das Schöne, wie das Ideal, eine „rein realisierende“ Funktion habe, das heißt, „in dieser Richtung vollständige methodische Übereinstimmung“ (37) herrsche, sei nicht daran zu zweifeln, dass Cohen auch in der Ästhetik eine „Vermittelung zwischen Idee und Wirklichkeit“ als ebenso notwendig erachte, wie „auf ethischem Gebiete“ (40). Dass diese Vermittlungsinstanz nicht Ideal, sondern das Schöne heißt, habe demzufolge nur „terminologische, aber keine methodisch sachlichen“ (41) Gründe. Diese in Cohens Ästhetik zunächst widersprüchlich erscheinenden Momente, die von einer nicht immer konsequenten Verwendung der Terminologie herrühren würden, aufgelöst zu haben, ist ein Ziel der Kellermannschen Untersuchung. Indem er nachzuweisen sucht, dass Cohen den Idealbegriff auf das Kunstwerk selbst anwendet und an die leer gewordene Stelle der Vermittlungsinstanz zwischen Idee und Wirklichkeit den Begriff des Schönen setzt, will Kellermann zeigen, dass Cohen methodisch-sachlich bei Kant bleibt und somit die im Vorwort geäußerte Behauptung, dass der kritische Idealismus Marburger Prägung kulturerzeugende Kraft besitze, Geltung habe. Kant selbst hält in seiner Ästhetik, wie Kellermann an dessen Kritik der Urteilskraft aufzeigt, am Idealbegriff fest, der, kraft der Einbildungskraft, also der menschlichen Phantasie, die Realisierung der Idee durch Darstellung verbürgt. Eine von Kellermann angeführte Passage aus dem mit „Vom Ideale der Schönheit“ betitelten § 17 ist dabei für seine weitere Untersuchung so zentral, dass sie hier zitiert werden soll. Kant schreibt, daß das höchste Muster, das Urbild des Geschmacks, eine bloße Idee sei, die jeder in sich selbst hervorbringen muß, und wonach er alles, was Objekt des Geschmacks, was Beispiel der Beurteilung durch Geschmack sei, und selbst den Geschmack von jedermann, beurteilen muß. Idee bedeutet eigentlich einen Vernunftbegriff und Ideal die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens. Daher kann jenes Urbild des Geschmacks, welches freilich auf der unbestimmten Idee der Vernunft von einem Maximum beruht, aber doch nicht durch Begriffe, sondern nur in einzelner Darstellung kann vorgestellt werden, besser das Ideal des Schönen genannt werden, dergleichen wir, wenn wir gleich nicht im Besitze desselben sind, doch in uns hervorzubringen streben. Es wird aber bloß ein Ideal der Einbildungskraft sein, eben darum, weil es nicht auf Begriffen, sondern auf der Darstellung beruht; das Vermögen der Darstellung aber ist die Einbildungskraft.16

16 Kant, KdU, B 54f (Hrvh. im Orig.).

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Um Verwechslungen zu vermeiden, bezeichnet Kellermann das ästhetische Ideal bei Kant als „Idee-Ideal“, um dessen darstellenden Charakter zu verdeutlichen und unterscheidet es von dem, die Idee im ethischen Bereich durch Begriffe realisierenden, „Begriffsideal“ (18). Dennoch teile das „Idee-Ideal“ mit diesem den „gleiche[n] Funktionscharakter“, wie er mit Verweis auf die „Normalidee“ als einem Bestandteil der „Uridee des ästhetischen Bewußtseins“ (19) behauptet. Darum habe „das ästhetische Ideal zwei Funktionen gleichzeitig zu vertreten: Eine darstellende und realisierende.“ (19) Dennoch würden die Lösungsversuche Kants und Cohens nicht vollends befriedigen können, weshalb Kellermann über beide hinausgeht. Ihm zufolge könne weder die Identität zwischen Idee und Ideal (Kant) noch die zwischen Ideal und Kunstwerk (Cohen) „als Vollausdruck für die wahre ästhetische Vollendung gewertet werden, weil die wahre wirkliche Vollendung kraft des ästhetischen Realisationsbegriffs niemals Wirklichkeit werden darf, so wenig die konkretisierte sittliche Idee ein methodisch zulässiges Gebilde ist.“ (41f) Während Cohen behauptet: „Die Vollendung bleibt nicht etwa Aufgabe. […] Die Vollendung ist als Lösung der Aufgabe zu schaffen und zu fühlen“17, muss für Kellermann auch in der Ästhetik die ewige Aufgabe erhalten bleiben, und diese sichert ihm das Ideal. Zwar „muß das Kunstwerk im Gegensatze zu den ethischen Gebilden schon in einer isolierten Wirklichkeit das ihm adäquate Wirkungsfeld finden, weil ja für die ästhetische Erzeugung die Wirklichkeit der Natur der ethischen Wirklichkeit wertlogisch gleich ist“, das heiße aber nicht, „daß die an die Wirklichkeit der Natur geschmiedete ästhetische Wirklichkeit keiner weiteren Steigerung im Sinne einer ästhetischen Vollendung fähig wäre“ (35). Niemals könne also ein Kunstwerk Vollkommenheit darstellen, sondern müsse die Kunst ähnlich der Ethik in einer „Aufwärtsbewegung und Höherentwicklung“ (43) in Richtung der in der Unendlichkeit liegenden Vollendung fortschreiten. Bereits in dem Vortrag vor der „Kant-Gesellschaft“ formuliert er in diesem Sinn: „Mithin lautet die Formel der reinen Kunst im Sinne Kantischer Transzendentalphilosophie: Erzeuge nur solche Gefühlseinheiten, in welchen selbst bei der intimsten Vereinigung zwischen Sollen und Sein die ewige Spannung gewahrt bleibt.“18 Das ästhetische Bewusstsein sei auf das Ideal angewiesen, an dem es sich ausrichte. Deshalb sei das Ideal im ethischen und ästhetischen Bereich notwendig, indem es eben nicht die Differenz zwischen Wirklichkeit und Idee niederreiße, sondern vielmehr aufrechterhalte und somit zu dem „Begriff eines ewigen progressiven Aufstiegs vom Sein der Wirklichkeit zum Sein der Idee hin“ beitrage (36). Ein weiterer Grund, der gegen die empirisch gedachte „Vollendung der 17 Cohen, ÄrG, Werke 8, 212 (Hrvh. im Orig.). 18 Kellermann, [Ms] Der Begriff des Ideals, Privatbesitz Susan Kellermann, 6.

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künstlerischen Idee und damit für die notwendige Stabilierung des Idealbegriffs“ spreche, ist für Kellermann „der durchaus subjektive Charakter der Kunst überhaupt“ (42). Da es, wie Kant richtig dargelegt habe, einer „objektiven Geschmacksregel“ zur Schöpfung und Beurteilung von Kunstgebilden ermangele, „wird auch das vollkommenste Werk des vollkommensten Künstlers nicht frei von konventionellen Konstruktionen sein, die den grundsätzlichen Symbolcharakter der Kunst nur um so deutlicher hervortreten lassen“ (42). Als Beweis dafür gilt ihm der Künstler selbst, der mit seiner eigenen Leistung immer am unzufriedensten sei, „weil er nie die völlige Gewißheit der restlosen Kongruenz zwischen Idee und Darstellungsform besitzt“ (42). Kellermann besteht auf der „unausgleichbare[n] Differenz zwischen Idee und Darstellung“, die „das Kunstgebilde a priori“ aufweise (43), denn wo „Symbolik auf konventioneller Grundlage herrscht, da kann nur von einer Analogie zwischen Kunstwerk und Idee die Rede sein, niemals aber von einem restlos organischen Zusammenhang, geschweige denn von einer Identität beider Faktoren“ (42f). Deshalb sei auf dem Gebiet der Ästhetik das Ideal in seiner zweifachen Funktion „nicht zu entbehren“ (44). Zum einen helfe es, die Idee zu realisieren, zum anderen verhindere es die restlose Identität von Idee und Wirklichkeit, von Sollen und Sein. Nachdem Kellermann zu beweisen suchte, dass die Verwendung des Idealbegriffs für Ethik und Ästhetik unverzichtbar sei, will er dies auch für den Bereich der Logik leisten und grenzt sich dabei teilweise erneut von Cohen und Kant ab. Zunächst scheine es unsinnig, den Idealbegriff auch für die Logik einzufordern, weil „die Gesetze der Logik in der Natur oder genauer in der mathematischen Naturwissenschaft ihren adäquaten Ausdruck und dadurch ihre Realität restlos gewinnen, während die Ethik nur deshalb mit der Wirklichkeit ewig ringt, weil diese sich der Erfüllung der sittlichen Forderungen mit aller Kraft entgegenstemmt.“ (45) Wie und warum sollte also für die Logik der realisierende Begriff des Ideals verwendet werden, „der für die ethische Wirklichkeit in ihrem ausgesprochenen Gegensatze zur logischen gefordert und ermittelt wurde“ (45), ohne die Unterschiede beider Bewußtseinssphären zu nivellieren? Den Ausgangspunkt für die Antwort auf diese Frage findet Kellermann in Cohens Logik der reinen Erkenntnis, in der jener behauptet, Platon habe den Begriff rein „in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Terminologie“19 gerückt, ihn auf die Sinnlichkeit ausgedehnt und die reine Erkenntnis mit der Idee identifiziert. Kellermann zufolge liege die Konsequenz dieser Überlegungen darin, „das Wesen der Erkenntnis in einer fortwährenden Kritik ihrer Ergebnisse solange zu entfalten, bis schließlich auch die letzte begriffliche Relation als ein Gebilde des reinen Denkens, der Idee deklariert ist.“ (46) Mit dem „Vollzug 19 Cohen, LrE, Werke 6, 5.

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dieser Aufgabe kommt Einheit in das Sein“ (46), wobei diese Anstrengung nie restlos erfüllbar sei. Denn die „Einheit setzt doch zum Zwecke ihrer funktionalen Behauptung die Verschiedenheit voraus, und diese Verschiedenheit muß ebenso unendlichen Charakters wie die Einheit selbst sein.“ (46) Deshalb müsse sich die Logik ebenfalls des Idealbegriffs bedienen, die „Instanz […], die einerseits jene von der Idee geforderte Spannung zwischen Einheit und Verschiedenheit verewigt, um sie für die Einheitsbildung prozeßlicher Relationen zu befähigen, und die andererseits die von der Idee bedingte Einheit beider Faktoren ewig festhält, damit sie sich stets zu neuen Spannungen entfaltet.“ (47) Die Logik bilde „methodologisch das Fundament aller Bewußtseinsarten, so daß bei einer widerspruchsvollen Begründung ihrer Inhalte auch das ethische und das ästhetische Gebiet unweigerlich in Mitleidenschaft gezogen werden“ (55). Deshalb müssen der Begriff des Ideals und seine angesprochenen Funktionen im Bereich der Logik „derartig methodologisch“ begründet werden, „daß er als rein logisches Prinzip an kulturellem Geltungswerte nicht etwa den einzelnen Kategorien gleichkäme, oder den einzelnen Ideen als den Grundlegungen der verschiedenen Bewußtseinsarten, sondern der Idee überhaupt als der Hypothesis des gesamten Bewußtseins.“ (55) Das ist der Grund für Kellermanns über die ganze Untersuchung verteilte kritische Auseinandersetzung mit Kants in der KrV formulierten Schematismuslehre, in der dieser nach der vermittelnden Instanz zwischen den Begriffen des Verstandes und dem mannigfaltigen Anschauungsmaterial fragt und jene Instanz mit der Urteilskraft, die sich der Schemata bedient, identifiziert.20 Kellermann zufolge sei Kant bezüglich des Idealbegriffs immer bestrebt, „zwischen der Idee und dem Einzelnen als dem Sein der Empfindung einen Ausgleich zu schaffen“ (101). Im Bereich der Logik verwende er das Ideal jedoch nicht, was aber nicht daran liege, dass er „im Sinne Rickertscher Philosophie“ – dies ein Seitenhieb auf Heinrich Rickert und den Südwestdeutschen Neukantianismus – „den Begriff des Einzelnen nur für die Geschichtswissenschaft reserviert, sondern daran, daß für Kant im Anschluß an Winckelmann der Idealbegriff stets aufs innigste mit den Fragen des Sittlichen zusammenhängt“ (102). Da die mathematische Naturwissenschaft aber auch einen „Sollcharakter“ (102) trage, sei das logische Ideal ebenso notwendig wie das ethische und ästhetische, und Kellermann entdeckt es in Kants Begriff des Schemas. Er identifiziert Ideal und Schema, denn es handele sich bei beiden „um eine Projektion der Kategorie, bzw. der Idee auf die Ebene der Zeit“ (214), welche „an logischer Valenz nicht nur dem Raume, sondern auch der Kategorie der Kategorien, der Realität, überlegen ist“ (101). In diesem Zusammenhang kritisiert er an mehreren Stellen Natorps Aufsatz über „Bruno Bauchs ,Immanuel Kant‘ und 20 Vgl. dazu Höffe, Otfried, Immanuel Kant, 7., überarb. Aufl., München 2007, 111–119.

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die Fortbildung des Systems des Kritischen Idealismus“21, in dem der Marburger Professor aufgrund einer ungenügenden Kant-Exegese „der logischen Äquivalenz zwischen Zeit und Raum in der Frage des Schematismus das Wort rede[t]“ (159). Damit widerspreche er sich selbst, wie anhand von dessen Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften nachzuweisen gesucht wird,22 in dem Natorp „das logische Prius der Zeit gegenüber dem Raume nicht angezweifelt“ habe (148). Für Kellermann muss jedoch die logische Übervalenz der Zeit erhalten bleiben, denn „so gewiß die Zeit der umfassendere Begriff gegenüber dem Raume ist, so gewiß kann auch die schematisierte Kategorie alle Grenzen sprengen, die ihr durch den Raum gezogen werden. Dadurch erst ist die Priorität des Denkens gegenüber der Sinnlichkeit zum unzweideutigen Ausdruck gekommen – selbst für den Fall, daß auch die Sinnlichkeit ein Erzeugnis des Denkens bedeutet“ (146). In einem Brief an Kellermann vom Dezember 1919 bedankte sich Natorp für die Zusendung des Ideals, „dessen Grundabsicht“, den kulturerzeugenden Charakter des kritischen Idealismus nachzuweisen, sich mit seiner eigenen „völlig deckt“ und „unsere gemeinsame Sache jedenfalls nur fördern kann“.23 Dennoch habe er eine andere Intention, wenn er „nach der Realisierung u. Restriktion der durch die Kateg.[orien] ausgeschmückten reinen Aufbaugesetze des Denkens zum Erfahrungsgegenstand [fragt]. Diese ist ohne Frage nach Kant bedingt durch Zeit und Raum, nicht durch die Zeit allein.“ Darum besteht Natorp darauf, die Zeit nicht über den Raum zu stellen, sondern beide als sich gegenseitig bedingend und somit logisch gleichwertig aufzufassen. Für Kellermann verbürgt der Schematismus „die logische Homogenität zwischen Sinnlichkeit und Denken einerseits und Sollen andererseits“, was aber Kant, Natorp und Cohen „nicht folgerichtig ausgebaut“ (176) hätten, da sie die Bedeutung des Gedankens der Antizipation nicht ausreichend gewürdigt hätten. Weil Cohen „den Begriff der Antizipation nicht zum Zentralbegriff seines Systems erhob“, habe er lediglich auf „nicht ganz einwandfreie Weise den Unterschied zwischen Logik und Ethik“ (178) festlegen können. Kellermann hingegen erhebt die Antizipation, als „wahrhaft legitime Form der Zeit“ (158), zum Zentralbegriff seines Systems, denn dieser markiere „jenen Ursprungspunkt […], aus dem sich die Systemglieder des Idealismus organisch ableiten lassen“, weil „in keiner Phase des logischen Bewußtseins ein Moment vorhanden ist, das außerhalb der Antizipation steht“ (176). Sie übernehme durch ihren Ewig21 Natorp, Paul, Bruno Bauchs „Immanuel Kant“ und die Fortbildung des Systems des Kritischen Idealismus, in: KantSt 22 (1918), 426–459. 22 Kellermann verwendete die 1. Aufl., Leipzig 1910, denn die 2., durchges. Aufl. erschien erst 1921. 23 Paul Natorp an Benzion Kellermann, 29. 12. 1919, LBI New York, AR 1197, 1. Folgendes Zitat: ebd., 3 (kursivierte Stellen sind im Original unterstrichen).

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keitscharakter „in der Ablehnung aller Ansprüche auf absolute Souverenität der Gegenwartsgebilde die Rolle des Vermittlers zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Begriff und Anschauung, zwischen Sein und Werden“ (101). So verstanden, sei sie das Fundament aller Bewußtseinssphären mit ihren jeweiligen realisierenden Idealen und ermögliche von daher erst die Einheit des Denkens und die Erzeugung von Kultur. Obwohl das Ideal auf ethischem, ästhetischem und logischem Gebiet in funktionaler Übereinstimmung als „Hilfskonstruktion […] den prozessualen Charakter der Idee im Fluß hält“ (47), würden sich dennoch die drei Bewußtseinssphären und in der Folge auch die jeweilige „methodische Struktur des Idealbegriffs“ (48) unterscheiden. Kellermann zufolge ist es die Hauptaufgabe des Ideals im ethischen Bereich, die Ethik praktisch zu realisieren und im ästhetischen, eine Vereinigung von Theorie und Praxis zu bewirken, da „die Idee nur in der Form des Ideals, das Ideal in der Form des Kunstwerks in Erscheinung tritt“ (48). Auf logischem Gebiet dagegen liege die Aufgabe des Ideals vorwiegend in der „theoretische[n] Realisation“ der Logik, „weil sich ihre Wirklichkeit in den Gesetzen der mathematischen Naturwissenschaft manifestiert, während das Problem von der richtigen Anwendung ihrer Forderungen in dem Problem der theoretischen Realisation bereits mit enthalten ist“ (48). Erst mit der knappen Darstellung der Psychologie wird es Kellermann möglich, dem ethischen Ideal auch theoretische und dem logischen Ideal praktische Funktionen zuzuschreiben. Die Psychologie ist die letzte Sphäre des Kulturbewußtseins, für die er die „grundlegende Kraft“ (III) des Kantischen Systems nachweisen will. Er bezeichnet sie als „die Wissenschaft der Bewußtseinseinheit“ (49), denn sie fasse in vereinheitlichender Weise die drei Bereiche der Ethik, Logik und Ästhetik auf einer Art Metaebene zusammen, wodurch sie sich methodisch wesentlich von diesen unterscheide. Denn während jene drei aus sich selbst heraus erzeugend seien, habe die Psychologie „überhaupt keine eigene schöpferische Methode, sondern ihre Methode ist nur die Methode der Sichtung und Gliederung der übrigen Methoden, um durch eine Verhütung der Identität die ewige Entfaltungsmöglichkeit der Methoden zu erwirken.“ (49) In diesem Sinn erfülle sie „die gleiche Funktion“ wie das Ideal, denn auch dieses „erzeugt keine neuen eigenen Wissenschaftstypen, sondern es sorgt nur für deren ewige Realisation“ (49). Sie sei eine die ethischen, logischen und ästhetischen Methoden vereinheitlichende Wissenschaft und als solche hat sie praktischen und theoretischen Charakter. Ersterer zeige sich vor allem darin, dass sie „mehr den verwaltungstechnischen Apparat im Auge hat, der den internen methodischen Betrieb der Wissenschaften vor Entgleisung bewahrt“ (49), sie also von einer höheren Ebene auf die Strukturen schaue, die die Inhalte organisieren. Die Psychologie erwirke der Logik also neben der theoretischen

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auch „eine Art praktischer Realität“ (49). In ihrem Doppelcharakter bewirke sie zugleich, dass „die Ethik eine Art theoretischer Realität“ (49) besitze. In der Nachzeichnung der umfassenden Schrift wurde sichtbar, dass Kellermann in ihr anhand einer detaillierten Exegese von Texten Kants, Cohens, Natorps und anderer, wie Rickert, Cassirer oder Görland, seine Behauptung von dem Vorkommen des Ideals in allen Bewußtseinssphären und dessen kulturerzeugende Relevanz zu belegen sucht. Die Auseinandersetzung mit Cohen nimmt dabei über das ganze Werk verteilt den größten Raum ein. In ihr stimmt der Philosoph einzelnen systematischen Grundeinsichten seines Lehrers zu, aber es gibt zugleich eine starke Emanzipation, wie der Begriff der Antizipation zeigt. Daneben unterscheiden sich die Ansichten der beiden bezüglich der Gottesidee fundamental, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Bereits in früheren Werken traten diese Differenzen offen zu Tage, am prägnantesten in Kellermanns Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion von 1908. Wie schon dargestellt wurde, kritisierte Cohen in einem Brief an seinen Schüler dessen Definition der Gottesidee. Während Gott dort einzig als die Sittlichkeit garantierendes und ermöglichendes Ideal fungiert, deckt sich für Cohen „der Seinswert Gottes nicht mit dem Ideal der Ewigkeit. Ich kann daher neben der sittlichen Handlung eine Verehrung der Gottesidee ethisch fordern.“24 Kellermann hält dagegen noch im Ideal an seiner früheren Auffassung fest. In engem Anschluss an Kants Ausführungen zur Vorstellung Gottes als eines Postulates allein der praktischen Vernunft25 definiert Kellermann die Gottesidee als „Hypothesis der Geschichte“ (186). Denn in der Geschichte handele „es sich um die Vereinigung zweier Arten der unendlichen Antizipation, um die der Logik und Ethik“ und die Synthese der beiden Bereiche werde durch die Gottesidee „nicht nur methodisch ermöglicht, sondern auch existential verwirklicht“ (186). Damit wiederholt Kellermann die These, dass die Gottesidee die Antwort auf die entscheidende Frage: „Wie wird die Ethik Wirklichkeit auf Erden?“ ist (194). Sie sorge in Form der Geschichte für die Konkretisierung der Ethik, wodurch Sittlichkeit überhaupt erst ermöglicht und ihre Durchsetzung garantiert werde. Der implizite Vorwurf gegenüber Cohen lautet, sich von Kants in der praktischen Vernunft verankerten Gottesbegriff zu sehr entfernt zu haben, indem er seinen eigenen „zu einem Erkenntnisbegriff zu erheben“ (187) versuche. Der fundamentale und nicht zu vermittelnde Unterschied zwischen beiden Denkern liegt in der Stellung zur Möglichkeit der Realisierung der Ethik. Cohens 24 Hermann Cohen an Benzion Kellermann, 16. 2. 1908, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. 25 Kellermann zitiert auf 188f eine lange Passage aus dem § 88 der KdU. Der für seine Untersuchung zentrale Abschnitt lautet hierbei: „Die Wirklichkeit eines höchsten moralischgesetzgebenden Urhebers ist also bloß für den praktischen Gebrauch unserer Vernunft hinreichend dargetan, ohne in Ansehung des Daseins desselben etwas theoretisch zu bestimmen“ (Kant, KdU, B 434 [Hrvh. im Orig.]).

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Gottesbegriff in der ErW sichere das ethische Ideal lediglich theoretisch ab, denn es dürfe nicht praktisch verwirklicht werden, damit die Logik, also die Natur, nicht höher stehe als die Ethik. Für Kellermann liegt hier ein Denkfehler vor, denn die Gottesidee als ein „überlogische[r] Begriff“ (185), sei gerade in der Lage, zwischen Logik und Ethik zu vermitteln, was wiederum ermögliche, dass die „Sittlichkeit in die existentiale Wirklichkeit“ hinausgeführt werden könne (195). Gebe es aber keine Möglichkeit der Realisation der ethischen Antizipation im Raum, wie es Cohen behaupte, würde die Ethik ihren, auch von Kellermann zugestandenen, „Primatcharakter“ erst recht verlieren (194). Denn es zeichne sie aus, dass „die Logik von ihr beherrscht, weil begrenzt und bekrönt wird“ (194). Unbewusst schreibe Cohen in der ErW der Natur (Logik) aber „eine höhere Dignität“ zu, als sie die Sittlichkeit habe, „sofern diese niemals die Natur völlig meistern kann“ (195). Diesen Fehler habe er später erkannt und in seiner Religionsphilosophie der letzten Lebensjahre zu beheben gesucht. Kellermann setzt sich hier mit Cohens neuer Standortbestimmung der Religion im System der Philosophie einzig anhand von BR auseinander, was darin begründet liegt, dass im Jahr 1919 die RV und das Ideal in etwa gleichzeitig für den Druck vorbereitet wurden. Kellermann als leitender Herausgeber kannte zwar das Manuskript der RV, zitierte in seinem Werk aber generell nur offiziell erschienene Publikationen. Bereits in seiner Rezension von BR in der AZJ aus dem Jahr 1916 unterstützt er den Weg, den Cohen eingeschlagen hatte. Er betont aber mehrfach, dass die Religion durch ihre Aufnahme in das System nicht „Selbständigkeit“ erlange, sondern „Eigenart“, was darin begründet liege, dass „in der Religion der gleiche Inhalt des wissenschaftlichen Bewußtseins nur in neue Beleuchtung gerückt“ werde.26 Auch im Ideal teilt er weitgehend die Auffassung Cohens, „daß bestimmte Kulturrelationen, wie sie die Religion mit ihrem Pochen auf das Recht und die Erhaltung des Individuums vertritt, in der Ethik nicht ausreichend fundiert werden können“ (199). Die sich in der Religion aussprechende und von Cohen als zentral benannte Korrelation von Gott und Mensch sei ein Lösungsansatz für das Problem, das sich jedem einzelnen Menschen unbedingt stelle: „Ich selbst bin trotz meiner endlichen Natur verpflichtet, die sittliche Aufgabe mit ihrem unendlichen Charakter restlos zu erfüllen“ (201). Der religiöse Gottesbegriff sei aber „keine ,Eigenart‘ des ethischen Bewußtseins, 26 Kellermann, Hermann Cohens philosophische Begründung der Religion, 565. Im Privatbesitz von Susan Kellermann findet sich ein aus 8 Bl. bestehendes Ms, aus dem hervorgeht, dass die Rezension zunächst „Hermann Cohens philosophische Begründung der jüdischen Religion“ betitelt werden sollte („jüdischen“ wurde entweder von Kellermann selbst oder nachträglich durchgestrichen). – Zu Cohens veränderter Auffassung seit BR vgl. Poma, Die Korrelation in der Religionsphilosophie Cohens; dies., Einleitung, in: Cohen, BR, Werke 10, 7*–49*.

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wie Cohen meint, sondern seine Unterart, aber eine so notwendige Unterart, daß der Oberbegriff der Idee in der Luft schwebt, wenn er nicht durch das Ideal des religiösen Gottes Realisation erhält“ (203). In der Auslegung der Cohenschen Auffassungen über die Rolle der Religion und den damit zusammenhängenden Gottesbegriff gelingt es Kellermann, an seiner früheren Position der in einem unendlichen Prozess stattfindenden Auflösung der Religion in Ethik festzuhalten. Denn es bleibe dabei, dass für die Religion „selbständige Kulturinhalte […] nirgends nachweisbar sind“, weshalb sie eine der Logik, Ethik und Ästhetik gleichwertige „Stellung im System der Philosophie“ nicht beanspruchen könne: „[E]s sei denn, daß sie in ihrer restlosen Zurückführung auf die Ethik das Recht ihres Daseins zu erblicken vermag.“27 Der Primat der Ethik bestätigt sich für Kellermann durch die Gottesidee, denn sie sei in religiöser und ethischer Ausprägung zum einen „ein Erzeugnis der Ethik zur Sicherstellung ihrer Selbst“ (184), zum anderen ermögliche sie ihre irdische Realisierung. Durch beide Funktionen gerate sie zum „notwendige[n] Abschlußbegriff“ (214) der Ethik, die stets den „Mittel- und Grenzpunkt des Kulturbewußtseins“ (213) abgebe. Innerhalb der Universitätsphilosophie wurde Kellermanns Buch als ein tief im Marburger Neukantianismus verwurzeltes Werk verstanden, das jedoch in der intensiven Auseinandersetzung mit den Positionen Cohens und Natorps zugleich eigene Wege gehe. Natorp selbst hatte in einem Brief an Albert Görland diesen und Kellermann gar als den „schärfsten Ausdruck“ der Marburger Philosophie bezeichnet, von der er dort zugleich sagte, dass sie im universitären Establishment nicht mehr gewollt werde.28 Er beobachtete die philosophische Szene seit jeher und nahm den Attraktivitätsverlust des Neukantianismus während und vor allem nach dem Weltkrieg genau wahr. In einer Zeit, als die Existenz- und Lebensphilosophien das Interesse auf sich zogen und Hegel und Nietzsche eine Renaissance erlebten, veröffentlichte Kellermann in beinahe anachronistischer Weise noch einmal ein großes Werk, das zum einen die Zielsetzung und Methodik des Marburger Neukantianismus verteidigte, zum anderen in der besonders starken Betonung der behaupteten Korrelation von Kultur und Philosophie an entscheidenden Punkten diesen fortentwickelte und eigenständige Wege ging. Trotz inhaltlicher Differenzen zeigte sich Natorp nicht nur in dem erwähnten Brief an Kellermann selbst von dem Buch begeistert, sondern auch in einem

27 Kellermann, Hermann Cohens philosophische Begründung der Religion, 565. Auch in einem der Nachrufe auf Cohen spricht Kellermann der Religion lediglich eine „gesicherte Stellung im System der Kultur“, nicht jedoch im System der Philosophie zu (ders., Die religionsphilosophische Bedeutung Hermann Cohens, 369). 28 Paul Natorp an Albert Görland, 14. 2. 1920, in: Holzhey, Cohen und Natorp, Bd. 2, 493–495, hier : 494.

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undatierten Schreiben, dessen Adressat nicht überliefert ist.29 Den Hintergrund bildeten Bestrebungen – möglicherweise an der „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“, die Kellermann mitbegründete und als deren Mitglied er mit der Edition der Jüdischen Schriften Cohens betraut war –, für Kellermann „die Erteilung des Professorentitels […] zu erwirken“. Natorp wurde um ein Urteil gebeten und stimmte den Bestrebungen bedingungslos zu, denn das Ideal sei „eine Leistung von so entschiedenem und allgemeinem Verdienst, dass es schon für sich allein die bescheidene Ehre der Verleihung des Professorentitels mehr als rechtfertigt.“ Das Buch sei „weitaus die beste Leistung auf dem Gebiete der Kantforschung aus den letzten Jahren“, von dem auch gerade diejenigen lernen könnten, die nicht auf dem Boden des Neukantianismus stehen, und zeige einen „Mann von sicherem und klarem Charakter und reinstem Objektivitätsstreben“. Deshalb würde er es befürworten, „wenn die Fakultät durch seine Ehrung sich selber ehren würde.“ Der Gießener Philosophieprofessor Walter Kinkel (1871–1938) war selbst aus der Marburger Schule hervorgegangen und veröffentlichte 1924 eine Monografie über Cohen, in der er nicht nur in dessen System, sondern auf knapp einhundert Seiten auch in seine Biografie einführte.30 Kinkel rezensierte das Ideal 1921 ausgewogen in der DLZ und schickte seinem Kollegen Kellermann die Besprechung auch persönlich zu.31 In der weiträumigen Auseinandersetzung mit Cohen vollziehe sich eine Emanzipation von dessen Gedanken, so dass der Rezensent von einem „eigenen System“ Kellermanns spricht, in dem „die Fortbildung der Cohenschen Gedanken“ unternommen werde.32 Dabei hebt er zwar lobend hervor, dass der Verfasser als einer der wenigen von denen, die über Cohens Lehre urteilen, „den Geist dieser Philosophie wirklich verstanden hat“, hält aber zugleich verschiedentlich an Cohen vorgebrachte Kritik für unberechtigt. Dies betreffe etwa die Diskussion über die Infinitesimalzahl und die damit zusammenhängende Überbetonung des Gedankens der Antizipation. In allem aber habe Kellermann ein „wahrhaft philosophische[s] Werk“ vorgelegt, das sich durch Eigenständigkeit der Gedankenführung und ein „gründliches Wissen“ auszeichne.33 29 Paul Natorp an unbekannt, undatiert [wahrsch. 1920–1922], LBI New York, AR 1197, 1 Bl. Alle folgenden Zitate: ebd. 30 Kinkel, Walter, Hermann Cohen. Eine Einführung in sein Werk, Stuttgart 1924. 31 Ders., [Rez.] Kellermann, Ideal, in: DLZ Nr. 13 vom 2. 4. 1921, 183–185. Die Kellermann zugeschickte Rezension trägt die handschriftliche Notiz „Mit freundlichem Gruß! W. K.“ (Privatbesitz Susan Kellermann). 32 Ebd., 184. Folgendes Zitat: ebd. – Eine ähnliche Einschätzung, jedoch ohne von einem eigenen System zu sprechen, findet sich bei Moog, Willy, [Rez.] Kellermann, Ideal, in: LZD Nr. 42 vom 15. 10. 1921, 794. Dieser kritisiert v. a. einige „unfruchtbare Spekulationen“ und die Schwierigkeit, „sich durch die oft seltsam gewundenen Gedankengänge hindurchzuarbeiten“. 33 Kinkel, [Rez.] Kellermann, Ideal, 185. – Erich Cassirer hatte in seiner Besprechung

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In ganz anderer Weise besprach der Kant-Experte Raymund Schmidt (geb. 1890) das Werk in knapper Form in den von ihm zusammen mit seinem Lehrer Hans Vaihinger herausgegebenen Annalen der Philosophie.34 Obwohl das Buch „eine durchaus geschlossene und hochgradige gedankliche Leistung“ darstelle, die auch „Gegner[n]“ Respekt abverlange, sei es doch nicht viel mehr „als eine interne Marburger Angelegenheit“, da es Kellermann nicht ausreichend unternommen habe, sich „mit anderen Theorien vom ,Ideal im System der Kantischen Philosophie‘ auseinanderzusetzen“. Dass Schmidt selbst ein solcher Gegner des Marburger Neukantianismus war, geht nicht nur aus der Rezension hervor, sondern auch aus anderen Veröffentlichungen in den folgenden Jahren, besonders während des Nationalsozialismus. Schmidt, der später Mitglied der NSDAP und des Sicherheitsdienstes der SS wurde und an der Technischen Hochschule Dresden dozierte, partizipierte an dem in den 1930er und beginnenden 1940er Jahren durchgeführten diffusen Projekt einer ,deutschen Wissenschaft‘ und ,deutschen Philosophie‘.35 Während Kant selbst „zum Ahnherrn germanischen Philosophierens erklärt und sein kategorischer Imperativ ideologischen Zwecken dienstbar gemacht“ wurde, wurde neben anderen weltanschaulichen Gegnern vor allem mit dem Marburger Neukantianismus hart ins Gericht gegangen, der Kant durch ,Verjudung‘ angeblich entstellt habe.36 In der neuen, 42. Auflage des antisemitischen Handbuchs der Judenfrage von Theodor Fritsch veröffentlichte Schmidt den Artikel „Das Judentum in der Philosophie“, in dem er beklagte, dass mit Vertretern der Marburger Schule wie Cohen und Cassirer „die Juden erstmals dauerhaft in die akademische Philosophie eingedrungen seien“.37 Ähnlich äußerten sich die Philosophen Gerhard Lehmann (1900–1987) und Alfred Baeumler (1887–1968). Lehmann zeichnete in Die deutsche Philosophie der Gegenwart (1943) Natorp „als irregeleiteten christlichen Mystiker, während Hermann Cohen als Unperson abgestempelt und lediglich einmal erwähnt

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ebenfalls Vorbehalte gegen Kellermanns Betonung der Antizipation: [Rez.], Kellermann, Ideal, in: Geisteskultur und Volksbildung. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 30 (1921), 71–73. Schmidt, Raymund, [Rez.] Kellermann, Ideal, in: AnnPhil 2/4 (1921), 542. Folgende Zitate: ebd. Zur Biografie Schmidts: Leaman, George/Simon, Gerd, Die Kant-Studien im Dritten Reich, URL: http://www.kant.uni-mainz.de/ks/history/leaman.html, abgerufen am 29. 4. 2014. – Zur ,deutschen Wissenschaft‘ im NS vgl. Sieg, Ulrich, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013, 193–239. Vgl. dazu Sieg, Ulrich, ,Deutsche Wissenschaft‘ und Neukantianismus. Die Geschichte einer Diffamierung, in: Lehmann, Hartmut/Oexle, Otto G. (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 211, Göttingen 2004, 199–222. Zitat: ebd., 215. Ebd., 214. Folgendes Zitat: ebd., 215.

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wurde.“ Zudem war Lehmann während und nach dem Nationalsozialismus Mitherausgeber der „Akademie-Ausgabe“ der Schriften Kants und kritisierte dort 1942 die von Kellermann herausgegebenen Bände in der Cassirerschen Ausgabe maßlos. Wolfgang Bayerer zufolge lag dies nicht allein an den tatsächlichen editorischen Mängeln, sondern erkläre auch die Begeisterung für Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts und die NS-Rassenlehre, „inwiefern sich die Abneigung Lehmanns gegen den seines Judentums bewussten Benzion Kellermann so sehr verdichtet hatte“.38 Baeumler bekleidete seit 1933 an der Berliner Universität den für ihn eingerichteten Lehrstuhl für „Politische Pädagogik“, die Antrittsvorlesung trug den Titel „Wider den undeutschen Geist“.39 Zusammen mit 103 anderen Wissenschaftlern arbeitete er an der Festschrift Deutsche Wissenschaft. Arbeit und Aufgabe, die Adolf Hitler 1939 zum 50. Geburtstag überreicht und in der das Ziel verfolgt wurde, jene ,deutsche Wissenschaft‘ in ihren Einzeldisziplinen nachzuzeichnen. In seinem Beitrag für das Gebiet der Philosophie stellte Baeumler „die welthistorische Bedeutung Nietzsches heraus und forderte den Bruch mit der idealistischen Philosophietradition“. Seine 19 Jahre zuvor veröffentlichte, umfassende Besprechung des Ideals in den Kant-Studien war zwar noch nicht von dem Gestus einer inhaltsleeren und antisemitisch aufgeladenen ,deutschen Philosophie‘ getragen, dennoch war das Urteil vernichtend: „Kellermanns Versuch, zur ,Wirklichkeit‘ d. h. zum konkreten vorzudringen ist gescheitert: der methodische Begriff des Ideals kann nicht begründen, was er soll, denn er ist nur die zeitlich realisierte Idee; im übrigen aber bleibt alles wie es war.“40 Für Baeumler ist die Hauptfrage, mit der sich die Philosophie auseinanderzusetzen habe: „Wie ist Geschichte (d. i. geschichtliche Erfahrung) möglich?“41 Es geht ihm also um „die Begründung der Geschichtswissenschaft“, an der Kellermann ebenso wie Cohen aufgrund seiner methodischen Voraussetzungen scheitern müsse, denn der „Irrtum der Marburger Geschichtsphilosophie“42 bestehe darin, dass dort die „Aufgabe, die die Philosophie gegenüber der Geschichte zu erfüllen hat“ nicht „logisch-formal“, sondern „ethisch-material“ aufgefasst werde. Kellermann habe kein Gespür für die Relevanz des Individualitätsbegriffs, der bei ihm heimatlos umherirre und erkenne nicht, dass die

38 Bayerer, Charakter als Politikum, 19. 39 Vgl. Sieg, Geist und Gewalt, 207f. Zum Folgenden vgl. ebd., 220–224. Folgendes Zitat: ebd., 221. 40 Baeumler, Alfred, Kritizismus und Kulturphilosophie, in: KantSt 25 (1921), 411–426, hier: 416. 41 Ebd., 415. Folgendes Zitat: ebd., 416. 42 Ebd., 422. Folgende Zitate: ebd.

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Geschichte es nicht mit dem abstrakten ethischen Individuum, sondern „dem konkreten Menschen, der Fülle der Menschheit“43 zu tun habe. Genau dies habe Wilhelm Dilthey erkannt, worin „seine grundsätzliche Überlegenheit über den Ausgangspunkt Cohens“ und damit auch Kellermanns liege. Jedoch müsse der „logische Idealismus Cohens […] hier die Korrektur bringen“ und „Dilthey ins transzendental-logische durchgedacht“ werden.44 So steht am Ende des Aufsatzes eine Forderung, die Baeumler in den 1930er Jahren gewiss nicht mehr formuliert hätte. Denn es gelte, die kritische Philosophie wieder aufzurichten, ohne einer idealistischen Metaphysik zu verfallen: „Wir müssen, wie Dilthey, zu Schleiermacher und Hegel zurückkehren; aber wir müssen es als Schüler Cohens tun.“ Kellermann war ein weitaus treuerer Schüler Cohens als etwa Baeumler, was sich darin zeigt, dass er entgegen dem Zeitgeist des ausgehenden Weltkriegs und der Nachkriegsjahre die Rückkehr zu Hegel, Schelling oder Schleiermacher aufgrund der ihnen unterstellten romantischen Gefühlsphilosophie ablehnt. Vielmehr kommt es ihm darauf an, den kritischen Idealismus in Anknüpfung an die Marburger Schule fortzuentwickeln. Dazu gehört auch die starke, von Baeumler abgelehnte, Fokussierung auf die Ethik in der Bestimmung der Lebenswelt des Menschen. Auch wenn Kellermann im Ideal nicht ausdrücklich über Judentum, Prophetismus und „ethischen Monotheismus“ reflektiert, nimmt es in seinem religionsphilosophischen Gesamtwerk eine enorm wichtige Rolle ein. Denn hier unternimmt er die „philosophische Ausformulierung der korrelativen Beziehung zwischen Kultur und Philosophie“45, legt also die begrifflich-logischen Fundamente für seine in zahlreichen Aufsätzen, Monografien, Vorträgen und Predigten erläuterte Auffassung, dass das Judentum Kultur erzeugt und damit selbst ein Kulturwert ist. Den Beweis dafür führt er mit der Marburger transzendentalen Methode, mit der nach den allgemeinen und notwendigen Bedingungen, nach den universell gültigen Elementen gefragt wird. Wenn diejenigen Recht hätten, die behaupten, Kants Philosophie sei ungeeignet, Kultur und Geisteswissenschaften zu begründen, dann gelte das auch für die Marburger Schule und damit auch für sein eigenes Werk, das in eben jenem Geist versucht, Philosophie und Kultur, hier also Philosophie und Judentum miteinander zu verbinden. Das Denken des Berliner Philosophen zeichnet sich durch Eigenständigkeit und „eine Tendenz“ aus, „die mit ,Zurück zu Kant‘ am besten umschrieben werden kann“. Somit hält er bei aller deutlichen Kritik an dem Königsberger noch stärker an diesem fest, als es Cohen in seiner häufig sehr freien Auslegung tut und steht den historischen Ursprüngen des Neukantianismus nahe, 43 Ebd., 420. Folgendes Zitat: ebd., 424. 44 Ebd., 425. Folgendes Zitat: ebd., 426. 45 Meyer, Benzion Kellermann, 418. Folgende Zitate: ebd.

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der mit eben jenem Ruf „Zurück zu Kant“ in den 1850er Jahren angetreten war, die stark an Hegel orientierte Universitätsphilosophie neu auszurichten.

6.2 Die Ethik Spinozas (1922) Am 5. Januar 1922 hielt die „Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands“ in Berlin ihre ordentliche Mitgliederversammlung ab, bei der es nach verschiedenen Referaten zu einer intensiven Diskussion unter Beteiligung Kellermanns kam.46 Neben anderen rekurrierte der zu dieser Zeit schon stark von Troeltsch beeinflusste Max Wiener im Zusammenhang mit der Frage nach einer Wiederbelebung jüdischen Lebens in seinem Vortrag „Was heißt religiöse Erneuerung?“ auf die Bedeutung des Gefühls. Michael Brenner zufolge hatte Wiener mit „den liberalen Traditionen des 19. Jahrhunderts vollständig“ gebrochen, denn entgegen dem Ideal eines rein rationalen Judentums forderte er „eine religiöse Erneuerung durch stärkere Betonung nichtrationaler Elemente“.47 Kellermann hingegen hielt weiterhin an dem Konzept einer Vernunftreligion fest, woraufhin ihm Julius Lewkowitz vorwarf, den Rationalismus zu überschätzen und in Absehung des Gefühls den einzelnen Juden nicht mehr erreichen zu können. Die liberalen deutschen Rabbiner wandten sich nach dem Ersten Weltkrieg vielfach von dem religiösen Rationalismus ab, wie er in Cohens Religion der Vernunft noch einmal zur höchsten Ausgestaltung kam, und versuchten verstärkt „nichtrationale Elemente in die theologischen Deutungen des zeitgenössischen Judentums einzuführen.“ Neben Baeck, Dienemann und Wiener trifft dies auch auf den Leipziger Rabbiner Felix Goldmann (1882–1934) zu. Jener urteilte auf der oben genannten Versammlung, dass Kellermanns „Religion für die Massen etwas Fremdes, rein Theoretisches“ sei, da seine an Cohen geschulte wissenschaftlich-rationale Theorie jede Art von Gefühl und Irrationalität ausschließe und nicht mehr als ein „System“ sei.48 Aber Irrationalität gehöre zwangsläufig mit dem „Tatjudentum“ zusammen, das Goldmann von der liberalen Bewegung einforderte. Kellermann verteidigte seine Auffassung von einem liberalen Judentum, das zwar an den Gesetzen der Vernunft auszurichten sei, aber keineswegs Gefühl und 46 O. Verf., Verhandlungen und Beschlüsse der Versammlung der Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands zu Berlin, am 5. Januar 1922, in: LJud 14/1–3 (1922), 3–32. 47 Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, 57. Folgendes Zitat: ebd., 58. 48 O. Verf., Versammlung der Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands zu Berlin, am 5. Januar 1922, 29 (Hrvh. im Orig.). Folgendes Zitat: ebd. – Zu Goldmann: Jansen, Katrin N., Wirken und Lebenswerk im Spiegel von Gratulationen und Nachrufen: Der Leipziger Gemeinderabbiner Dr. Felix Goldmann, in: Klein/Müller (Hg.), Memoria. FS Michael Brocke, 477–490.

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Wille ausschließe.49 Für ihn schließe die Vernunft diese beiden Komponenten vielmehr ein, so dass er forderte, dass der Mensch Wille und Gefühl für die Entwicklung des Judentums im Sinne des „ethischen Monotheismus“, also für die Humanisierung der Menschheit, fruchtbar mache. Sind Wille und Gefühl in der Vernunft eingeschlossen und dienen dazu, dem prophetischen Ideal entgegenzustreben, dann sei jedoch jede Form von Irrationalität ausgeschlossen. Dies machte Kellermann nicht nur bei der Versammlung klar, sondern auch in zwei Artikeln aus dem Jahr 1922, die in ihrem Kampf für den Rationalismus zum Verständnis des im gleichen Jahr erschienenen Spinozabuches und des Gesamtwerks beitragen. In „Das liberale Judentum und seine Führer“ erneuert er seine Fundamentalkritik am gegenwärtigen Zustand der liberalen Bewegung, deren letzter wahrer Vertreter der vor knapp fünfzig Jahren verstorbene Abraham Geiger gewesen sei und die sich mit den „Richtlinien“ von 1912 kein Programm, sondern nur einen „neuen Gesetzeskodex“ gegeben habe.50 Angesichts des in seinen Augen bevorstehenden Untergangs des liberalen Judentums, sofern es nicht grundlegend philosophisch-systematisch neu fundiert werde, rechnet er noch einmal mit der erwähnten Versammlung ab. Gegen die dort vielfach präsentierte Auffassung, „daß das liberale Judentum keine Wissenschaft und keine Weltanschauung sei, sondern Leben und Erleben“ und dagegen, dass nun „Hegel als Eideshelfer für die Rehabilitation des liberalen Judentums angerufen wird“, legt der Neukantianer scharfen Protest ein. Mit dem Verweis auf das „so viel genannte Wort irrational, das nur zu oft das Feigenblatt für intellektuelle und moralische Entgleisungen bildet“, positioniert er sich gegen das ihm inhaltsleer erscheinende Reden von der Religion als Gefühl. Darin sieht er nichts anderes als einen furchtbaren Rückfall in die Romantik, verwoben mit Hegel und „Schleiermachersche[r] Morgenluft“. Nur dasjenige Judentum gilt Kellermann dagegen als wahrhaft liberal, das sich methodisch am kritischen Idealismus und inhaltlich an dem Messianismus der Propheten orientiere: „Denn das Wesen des prophetischen Judentums bekundet sich in seiner am jüdischen Gottesbegriff orientierten Ethik.“ Einige Monate später bekräftigt Kellermann den vernunftbezogenen Zugang zur Religion. In seinen Augen argumentiere die, sich im gegenwärtigen Judentum ausbreitende, Strömung des Irrationalismus, unter die er, ohne sie zu benennen, wohl auch Buber und Rosenzweig fasst, „daß gerade durch die Abwesenheit von Vernunftelementen […] die Religion des Judentums ihre tiefste Sicherung und Begründung finde.“51 Am kritischen Idealismus ausgerichtet, 49 Vgl. Kellermann, Wiederaufbau, 185. 50 Ders., Das liberale Judentum und seine Führer, 1 (Hrvh. im Orig.). Alle folgenden Zitate: ebd. (Hrvh. im Orig.). 51 Ders., Rationales oder irrationales Judentum, 1. Folgendes Zitat: ebd., 2.

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kann Kellermann gar nicht anders, als dieses Denken rundweg abzulehnen: Der Irrationalismus „ist Subjektivismus im höchsten Grade, der in seinen Auswirkungen die Größe, Würde und Hoheit des Judentums gefährdet. Er beraubt es seiner höchsten kulturellen Bedeutung.“ Wie ein roter Faden durchzieht der Kampf gegen Irrationalität, Mystik und falsch verstandene Lebens- und Gefühlsphilosophie sowie die Verteidigung des Rationalismus als methodisches Prinzip Kellermanns Gesamtwerk und demzufolge auch Die Ethik Spinozas. In dem im Herbst 1922 bei Schwetschke & Sohn veröffentlichten, der fortschreitenden Krankheit abgerungenen und seiner Frau gewidmeten Werk, kommentiert er detailliert die ersten zwei Teile der Ethica, ordine Geometrico demonstrata, die 1677 nach dem Tod Baruch Spinozas (1632–1677) posthum erschienen war : I. Von Gott, II. Von der Natur und dem Ursprung des Geistes.52 Kellermann hatte sich bereits früher immer wieder am Rand mit Spinoza beschäftigt und es lag nahe, sich einmal intensiv mit dessen Philosophie auseinanderzusetzen, wie es viele nichtjüdische und jüdische Intellektuelle vor, neben und nach ihm getan hatten.53 Keine Schrift schien dafür geeigneter zu sein, als die Ethik, in der Spinoza seine gesamte Philosophie zusammenfasst und das „Programm einer Befreiung des Menschen von unzureichendem Wissen durch zureichendes Wissen“54 verfolgt. Dafür entwickelt er in dem fünfteiligen Werk „ein Konzept Gottes, das dem dient, dem Menschen durchgängige Rationalität zu ermöglichen“. Auch die „an der Euklidischen Geometrie orientierte[…] Darstellungsform“55 mit Definitionen, Axiomen und Lehrsätzen soll der Philosophie Spinozas einen streng wissenschaftlichen Charakter sichern. Kellermann hingegen verteidigt in seiner Untersuchung stets die Behauptung, dass dessen Denken pantheistisch und deshalb irrational und die Ethik zerstörend sei. 52 Ders., Die Ethik Spinozas. Über Gott und Geist, Berlin 1922. Die Seitenzahlen der Zitate aus ebd. werden im Fließtext in Klammern angegeben; sofern nicht anders vermerkt, sind alle Hervorhebungen originalgetreu. – Das Vorwort datiert von Mai 1922. Zum Erscheinen im Herbst vgl. das Inserat in: DLZ Nr. 46 vom 18. 11. 1922, 1040. Dort heißt es, das Buch sei „[s] oeben erschienen“. 53 Vgl. dazu für den deutschsprachigen Raum die umfassenden, sich mit Moses Mendelssohn, Hermann Cohen, Leo Strauss u. a. auseinandersetzenden Studien von Levy, Ze’ev, Baruch Spinoza – Seine Aufnahme durch die jüdischen Denker in Deutschland, JuC, Bd. 2, Stuttgart/ Berlin/Köln 2001; Wulf, Jan-Hendrik, Spinoza in der jüdischen Aufklärung. Baruch Spinoza als diskursive Grenzfigur des Jüdischen und Nichtjüdischen in den Texten der Haskala von Moses Mendelssohn bis Salomon Rubin und in frühen zionistischen Zeugnissen, Berlin 2012. Ferner den Goethe, Fichte, Kant, Hegel u. a. behandelnden Sammelband von Förster, Eckart/Melamed, Yitzhak Y. (ed.), Spinoza and German Idealism, Cambridge u. a. 2012. 54 Bartuschat, Wolfgang, Einleitung, in: Spinoza, Baruch de, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch – Deutsch, neu übers., hg., mit einer Einl. vers. von dems., Sämtliche Werke 2, 3., verb. Aufl., Hamburg 2010, VII–XXV, hier: XVII. Folgendes Zitat: ebd., XVI. 55 Ebd., XIII.

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Während der Arbeiten zum zweiten Teil, in denen er den Kommentar zu den restlichen drei Abschnitten vorlegen wollte, verstarb er. Ein Fragment dieser Studien, das seine Witwe bereitstellte, wurde 1927 in der Festschrift für den Altphilologen Moritz Schaefer (1857–1931) abgedruckt, der seit den 1880er Jahren als Oberlehrer am Dorotheenstädtischen Realgymnasium wirkte und dort zwischen 1903 und 1908 Kellermanns Kollege war.56 In dem Nachlass gibt es keine weiteren diesbezüglichen Manuskripte, weshalb sich vorliegende Arbeit auf den publizierten ersten Teil und das Fragment stützt. Hatte sich Kellermann in früheren Publikationen mit Spinoza befasst, so tat er das nie im positiven Sinn, denn ähnlich wie Aristoteles und Hegel gilt ihm Spinoza, der oft auf Aristoteles und dessen mittelalterliche Kommentatoren zurückgriff, als ein Feind des kantischen und neukantianischen Denkens. Schon in der Vorrede der Ethik Spinozas macht er deutlich, dass es ihm um eine Demontage von dessen Philosophie geht, die umso wichtiger sei, da es zeitgenössische Versuche gebe, Spinoza in die Nähe Kants zu rücken. Namentlich erwähnt er, wie schon in seiner Übersetzung der Kämpfe Gottes, Eugen Kühnemann, zudem Ernst Cassirer, der im zweiten Band von Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit „Spinozas Substanzbegriff bis zu einem gewissen Grade im Kantischen Sinne erklären zu können glaubt“ (VI).57 Die Folgen einer solchen Übereinstimmung seien fatal, denn dann liege „der Pantheismus auch in der Richtung idealistisch kritischer Weltanschauung“ (VI), was für Kellermann unmöglich sei, da sie sich diametral gegenüberstünden. Deshalb will er die These von der teilweisen Übereinstimmung Kants und Spinozas mit Verweis auf den „Dogmatismus“ (V) des letzteren entkräften. Denn während bei dem Königsberger die obersten Begriffe des Systems in einer konstruktiven Nacherzeugung jener gesetzlichen Relationen hervortreten, die in Natur und Geist als deren Grundlegungen figurieren, schlägt Spinoza das umgekehrte Verfahren ein. In einem freien, d. h. von den Gegenständen der Wissenschaft unabhängigen Wurf der Konzeption, in Definition und Axiom, formuliert Spinoza die obersten Bedingungen des dem naiven Beschauer zu-

56 Kellermann, Benzion, (Fragment aus seinem Nachlaß) Die Ethik Spinozas. Dritter Teil: Über den Ursprung und die Natur der Affekte, in: Festschrift zum 70. Geburtstage von Moritz Schaefer. Zum 21. Mai 1927, hg.v. Freunden und Schülern, Berlin 1927, 107–117. In der Festschrift publizierten u. a. auch Baeck, Elbogen, Lehmann und Vogelstein. – Zu Schaefer: Kössler, Franz, Art. Schaefer, Moritz, in: ders., Personenlexikon von Lehrern des 19. Jahrhunderts. Berufsbiographien aus Schul-Jahresberichten und Schulprogrammen 1825–1918 mit Veröffentlichungsverzeichnissen, Bd.: Schaab-Scotti, Vorabdruck (Preprint), Universitätsbibliothek Gießen, Giessener Elektronische Bibliothek 2008, URL: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/ 2008/6124/, Stand: 18. 12. 2007, o. S., abgerufen am 16. 5. 2014. 57 Kühnemann, Über die Grundlagen der Lehre des Spinoza; Cassirer, Ernst, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, Berlin 1907.

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gänglichen Seins, um auf diese Weise den Inhalt des gesamten Kosmos, als diesen Bedingungen entsprechend, seiner intuitiv erfaßten Philosophie einzuordnen (V).58

Kellermann wirft Spinoza, wie einige Jahre zuvor auch Troeltsch, intuitives und damit unwissenschaftliches Denken vor, das deshalb in Opposition zu Kant und dem kritischen Idealismus stehe. Damit ist die Antwort auf die Frage bereits unverhüllt ausgesprochen, die die über 430 Seiten starke Untersuchung leiten soll: „Welchen objektiv sachlichen Geltungswert enthalten die einzelnen Fundamentalbegriffe in Spinozas Metaphysik, in seiner Psychologie und in seiner Freiheitslehre, inwieweit nähern sich diese Begriffe dem kritischen und kritizistischen Denken, inwieweit entfernen sie sich von ihm?“ (VII) Für den Kommentar benutzt Kellermann die 1888 erschienene Übersetzung von Jakob Stern,59 im Abgleich mit dem lateinischen Originaltext, den Karl H. Bruder in den 1840er Jahren veröffentlichte.60 Er gibt an, sich mit Spinozas Biografie und dessen Quellenrezeption nicht im Detail auseinanderzusetzen, für die er zum einen auf seinen Kommentar zu Gersonides’ Kämpfe Gottes und sein Ideal, zum anderen auf zeitgenössische Werke von Freudenthal, Dunin-Borkowski und JoÚl verweist.61 Stattdessen will er allein in „systematisch kritischer“ Weise „Spinozas Ethik daraufhin untersuch[…]en, inwieweit sie kritisch idealistischen Grundsätzen Rechnung trägt“ (VI). Ferner befasst sich Kellermann nicht mit Spinozas kritischer Lesart der Bibel, wie sie besonders in dessen Tractatus theologico-politicus (TTP) erscheint und oft als Vorläuferin der späteren historisch-kritischen Methode bezeichnet wird. Angesichts seines von dieser Methodik geprägten Gesamtwerks besteht jedoch kein Zweifel, dass der liberale Rabbiner und Vertreter der Wissenschaft des Judentums die historisierende Lektüre von als göttlich geoffenbart geltenden 58 Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit durchzieht das gesamte Werk. Vgl. etwa 34 (Hrvh. im Orig.): „Die Definition Spinozas [von der Substanz, T. L.] ist absolut, ohne Rücksicht auf den stetigen Gang der Wissenschaft, die Definition des Kritizismus ist relativ, weil sie nur im engsten Zusammenhang mit der Wissenschaft, aktiv und passiv, entsteht.“ 59 Spinoza, Benedictus de, Die Ethik, neu übers. u. mit einem Vorw. vers. von Stern, Jakob, Leipzig 1888. Spinoza wird im Fließtext unter Angabe der Seitenzahl nach Kellermanns Zitation dieser Ausgabe zitiert, da sich sein Kommentar auf diese bezieht; alle Hervorhebungen sind originalgetreu. Im Abgleich mit Kellermann wird in vorliegender Arbeit folgende Ausgabe verwendet: Spinoza, Ethik, übers. u. hg. v. Bartuschat, Wolfgang. 60 Bruder, Karl H. (Hg.), Opera quae supersunt omnia, ex editionibus principibus denuo edidit et praefatus, 3 Bd., Leipzig 1843–1846. 61 Er meint die Arbeiten von Freudenthal, Jakob (Hg.), Die Lebensgeschichte Spinozas in Quellenschriften, Urkunden und nichtamtlichen Nachrichten, Leipzig 1899; ders., Spinoza. Sein Leben und seine Lehre, Bd. 1: Das Leben Spinozas, Stuttgart 1904; Dunin-Borkowski, Stanislaus von, Der junge De Spinoza. Leben und Werdegang im Lichte der Weltphilosophie, Münster 1910; Joël, Manuel, Don Chasdai Creskas’ religionsphilosophische Lehren in ihrem geschichtlichen Einflusse, Breslau 1866; ders., Spinozas Theologisch-Politischer Traktat. Auf seine Quellen geprüft, Breslau 1870.

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Texten positiv bewertet hätte. Spinozas damit verbundene Charakterisierung des Judentums als ein rein politisches Gemeinwesen, nicht aber als Religion, hätte Kellermann aber sicher abgelehnt. Ze’ev Levy zufolge machte „Spinozas Konzeption […] einen starken Eindruck auf die Philosophie des 18. Jahrhunderts, den englischen und deutschen Deismus, die französische und deutsche Aufklärung“ und wurde die Ansicht, „daß das Judentum keine besonderen religiösen Kennzeichen besäße, sich aber als eine politische Gemeinde absonderte […] zur Standard-Auffassung vieler hervorragender Denker des 18. Jahrhunderts in Deutschland“, etwa bei Reimarus und Kant.62 Selbstverständlich wusste Kellermann um die Spinoza-Rezeption Kants, die diesen dazu bewog, im Judentum „in seiner Reinigkeit genommen, gar keinen Religionsglauben“, sondern lediglich einen „Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war“, zu sehen.63 Wie Cohen in seinem großen Aufsatz „Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum“ (1915)64, kritisiert Kellermann in anderen Texten Kants Sicht auf das Judentum und das Loblied auf die Jesusreligion, die sich in der RbV von der jüdischen Negativfolie strahlend abhebt. Im Spinoza-Kommentar kümmert er sich jedoch nicht um diese Frage, sondern untersucht stattdessen, wie das Verhältnis zwischen der Philosophie Spinozas, derjenigen Kants, wie sie vor allem in der KrV und der KpV gegeben ist, und dem kritischen Idealismus zu bewerten ist. Kellermann macht keine Kompromisse und sucht das spinozistische System zu demontieren. Damit verfolgt er ein Projekt weiter, das sein Gesamtwerk auszeichnet und besonders prägnant im zwei Jahre zuvor veröffentlichten Ideal Gestalt annahm: Den Nachweis der kulturerzeugenden Kraft des kritischen Idealismus, der mit einem prophetischen, das heißt, rationalen Judentum zu vereinbaren sei, jedoch nicht mit einem als irrational verstandenen Pantheismus Spinozas. Im Folgenden soll Kellermanns Auseinandersetzung mit Spinozas Denken besonders anhand von dessen Substanzlehre dargestellt werden, aus der, der geometrischen Methode gemäß, alle weiteren Überlegungen über die menschliche Erkenntnis und die Affekte resultieren. Aufgrund des Umfangs der Ethik Spinozas und der Zielsetzung der vorliegenden Arbeit kann dies nur in pointierter Form geschehen; eine detaillierte Nachzeichnung aller relevanten Gedankengänge unter Einbezug der zeitgenössischen und aktuellen Spinozaforschung muss weiteren Studien vorbehalten bleiben. Kellermanns Gottesbegriff als Gottesidee wurde bereits ausführlich darge62 Levy, Baruch Spinoza, 46. 63 Kant, RbV, B 187. Vgl. dazu La Sala, Cohens Spinoza-Rezeption, 102–104. 64 Cohen, Hermann, Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum (1915), JS 3, 290–372.

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stellt. Die Gottesidee ist ihm der Schlußstein der Ethik und hat funktionalen Charakter, in dem sie als Ermöglichungsgrund und Garant der Sittlichkeit fungiert, wie er es in seinem Gesamtwerk und vor allem im Ideal immer wieder ausführt. Für Spinoza ist Gott, den Definitionen des ersten Teils der Ethik zufolge, das „absolut unendliche[…] Wesen“, „dessen Existenz notwendig in ihm eingeschlossen ist, das keine Ursache außer sich hat, sondern Ursache seiner selbst ist (causa sui), nicht durch anderes, sondern nur durch sich selbst ist, dessen Begriff nicht den Begriff eines anderen Dinges voraussetzen muss. Es ist genau das, was Spinoza als Substanz bezeichnet.“65 Kellermann zufolge stellt Spinoza in diesen Definitionen „die methodische Struktur der Substanz-Definition auf eine völlig neue logische Grundlage“ (5), was ihm jedoch nicht zum Vorteil gereiche. Diese neue Logik könne nicht idealistisch, im Sinne der Platonischen Ideenlehre, interpretiert werden, wie aus der ersten Definition zu schlussfolgern sei: „,Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.‘“ (3) Die Substanz sei mit dieser „,Ursache seiner selbst‘“ identisch und „müßte in der Koinzidenz zwischen Essenz und Existenz den Kern ihres Wesens erblicken. Aber gerade diese Koinzidenz ist es, die mit dem Geiste Platonischer Ideenlehre aufs schärfste kontrastiert“, da diese die „ewige Spannung zwischen Essenz und Existenz“ verkündet (5). Hier sei der Punkt, wo Spinoza Gottesidee und Natur, Essenz und Existenz gleichsetze. Mit einem „ontologischen salto mortale“ (35) behaupte er die „Identität zwischen Sollen und Sein“ (28) und vernichte die Ethik, wie Kellermann und Cohen ihm dies immer wieder vorwerfen (vgl. 41 u. passim).66 Das Sein, die Natur, sei Kellermann zufolge eben nicht mit dem Sollen zu identifizieren, sondern zwischen ihnen herrsche das, die Spannung bewahrende, Verhältnis der ewigen Korrelation. Nur so könne die Ethik als eine ewige, den Menschen immer neu herausfordernde Aufgabe bestehen. Bei Spinoza hingegen walte „überall nicht das Verhältnis der Korrelation, sondern das der Identität“ (9). Weil die Ethik für den Neukantianer das System der Philosophie bekrönt und 65 Seidel, Helmut, Baruch de Spinoza zur Einführung, Hamburg 22007, 39 (Hrvh. im Orig.). 66 Vgl. Kellermann, Die philosophische Bedeutung Hermann Cohens, 305. – In Cohen, KBE, Werke 2, 187 heißt es etwa diesbezüglich: „Wer dagegen mit Spinoza die menschlichen Handlungen und Bestrebungen betrachten will, als ob es sich um Linien, Flächen oder Körper handelte; wer sich von der scheinbaren Grossartigkeit eines solchen Monismus imponieren lässt, wer die Falschheit in diesem Ansatze nicht erkennt, der mag auf alles Andere ausgehen, nur nicht auf Ethik. Beim Zirkel, sagt Kant, darf ich nicht fragen, was soll er sein, sondern was ist sein Gesetz. Beim Menschen hat die Anthropologie, und zwar die physische, ihrerseits zu erforschen, was er ist; die Ethik aber will wissen, was er soll; was er sein und wie er handeln soll; was unter Menschen, was für Menschen, was durch Menschen sein soll. Wer dieses Soll nicht anerkennt; nicht zum Problem macht, der will keine Ethik; der will das Gegenteil von Ethik.“

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wertlogisch am höchsten steht, muss er schon allein deswegen Spinozas Lehre zurückweisen. Denn bei ihm sei „die Ethik in der Natur enthalten“ (17), was für Kellermann nichts anderes als den Ausverkauf der Sittlichkeit bedeutet. Nicht idealistisch sei Spinozas Denken auch aufgrund des „Auseinanderreißen[s] von Gedanke und Körper“ (5) in der zweiten Definition: „,[…] Dagegen wird ein Körper nicht durch einen Gedanken, noch ein Gedanke durch einen Körper begrenzt.‘“ (4) Denken und Ausdehnung (Körper) sind für Spinoza zwei von unendlich vielen Attributen, also „Ausdrucksweisen der einen Substanz“, die selbst unendlich und ewig sei.67 Das sei problematisch, denn Kellermann versteht diese, das Wesen der Substanz ausdrückenden, Attribute als „Extreme“, weshalb die Substanz der Gefahr ausgesetzt sei, „selbst zum Träger unausgleichbarer Gegensätze“ zu werden (6). Während Descartes in einer „nicht hoch genug zu würdigende[n] Tat […] mit seiner Entdeckung der analytischen Geometrie zwischen Denken und Ausdehnung das Verhältnis der gegenseitigen Entsprechung aufrichtete“, geraten Kellermann zufolge Denken und Ausdehnung bei Spinoza zu „Antipoden“, die es kaum ermöglichen würden, von einer diesen „gemeinsamen Grundsubstanz [zu] sprechen“ (6). Deshalb könne bei dem niederländischen Philosophen von einer „Einheit des Systems“, die „das Lebenselement aller idealistischen und ganz besonders der Platonischen Philosophie“ bilde, nicht gesprochen werden (6). In diese idealistische Philosophietradition sei auch der Gottesbegriff des Maimonides einzuordnen, denn bei allem Verzicht der Zuschreibung positiver Attribute, sei „in seinem Gottesbegriff ein Rest übrig, der abseits aller SeinsRelationen steht […], nämlich die Ethik“ (7). Kellermann bezieht sich an dieser Stelle allein auf dessen Auffassung über Gott, klammert jedoch die Frage nach dessen Legitimation der Halacha, wie er sie an verschiedenen Stellen kritisiert hatte, gänzlich aus. Weil bei Maimonides „die Ethik als Aufgabe schon im Sinne Platos um so mehr ihr Sein behauptet, je weiter sie von den Relationen des Naturseins abrückt“, könne Spinoza trotz seiner Maimonidesrezeption68 in dieser Hinsicht nicht als dessen und damit des Idealismus „Parteigänger“ gelten, da er „den Unterschied zwischen Natur und Ethik prinzipiell bestreitet: deus sive natura, so bleibt nach dem Ausschluß aller Attribute positiver Art in Gott nur das leere Nichts übrig, dem allerdings dank ontologischer Spekulation ein Recht auf Sein verliehen wird“ (7). Durch den „formalistisch abstrakten Substanzbegriff“ (10), 67 Zu Spinozas Attributenlehre vgl. Seidel, Spinoza, 39–49. Zitat: ebd., 43 (Hrvh. im Orig.). 68 In der Forschung wird Spinozas Rezeption von Gedanken des Maimonides zumeist anhand des TTP dargestellt. So auch aktuell: Sacks, Elias, Spinoza, Maimonides and the Politics of Prophecy, in: JSQ 21/1 (2014), 67–98, der dafür argumentiert, „that we should read the TTP as an attempt to undermine Maimonides’ conception of the ideal state“ (67, Hrvh. im Orig.). Dort, auf Seite 68, Anm. 4, auch weiterführende Literatur.

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kämpfe Spinoza als „ein getreuer Parteigänger der Scholastik“ (16) mit dem Problem, dass das bei ihm „rein intuitiv“ (8) gewonnene „ontologische[…] Gebilde […] gänzlich abseits von allen Naturrelationen steht und doch als immanenter Hebel alles Naturseins gelten soll“ (7). Soll sich die Gottheit als verursachende Substanz zur Welt verhalten, dürfe sie nicht isoliert gedacht werden, sondern dann „steht sie nicht mehr außerhalb von Raum und Zeit, sinkt vielmehr in bezug auf kategoriale Geltung unter diese beiden Begriffe herab“ (8). Werde dies aber angenommen, dann geschehe „eine Relativierung der Gottheit zur Welt“ (7), was eigentlich nicht in Spinozas Sinn sein kann, der sich „krampfhaft“ bemühe, „die Substanz vor jeder Berührung mit der Welt zu bewahren“, um „hierdurch die Sonderstellung Gottes“ zu erhalten (6). Er teilt in diesem Bestreben das Schicksal aller Ontologen, die dem auf makroskopischer Erweiterung menschlicher Funktionen fußenden Gottesbegriff ein spiritualistisches Vorzeichen verleihen, um ihm, gegenüber der Vergänglichkeit irdischer Relationen, den Ewigkeits- und Absolutheitscharakter zu retten. Daß sie freilich mit einer solchen Spiritualisierung und Metaphysizierung ihrem Gotte notgedrungen den letzten begrifflichen und begreifbaren Rest rauben, liegt außerhalb ihrer Denkrichtung. Denn ein derartiges Hineinheben irdischer Relationen in die Sphäre der Transzendenz muß stets – rein logisch genommen – eine Auflösung aller Diesseitselemente nach sich ziehen. Was dann übrig bleibt, ist ein Begriff ohne Anschauung oder eine Anschauung ohne Begriff – beides Gebilde, über die Kant ein für allemal sein Verdikt gesprochen hat. (6f)

Für Kellermann muss „jeder Versuch, diese Aporie“ zwischen einer auf die Welt einwirkenden und zugleich von ihr völlig isolierten Substanz, „zu lösen, unbedingt fehlschlagen“ (8), was auch an Spinozas ungenügendem Zeitbegriff liege. Wie bereits im Ideal besteht Kellermann auch hier darauf, „daß als das oberste Prinzip der Methode nicht die Korrelation als solche, sondern die Antizipation angesehen wird“ (115; auch: 124 u. passim). Mit diesem Zentralbegriff seiner Philosophie behauptet er, „daß auch das ethische Sein ein unendliches Prozedieren bedeutet, das erst in der Ewigkeit seinen Halt und Abschluß gewinnt. Bei dieser Annahme müßte freilich die Zeit als der letzte methodische Ausgangspunkt figurieren, ja sie müßte geradezu die Substanz an sich bedeuten“ (14). Spinoza gelte die Zeit aber nicht als „Beurteilungsfaktor“ der Substanz und er behaupte zu Unrecht deren „völlige Apriorität“ (21). Es zeige sich, dass bei Spinoza die Substanz „für die Konstitution ihres Wesens völlig unabhängig von der Zeit ist, daß also der Begriff der Ewigkeit hier also gerade den Ausschluß der Zeit bedeutet“ (14). Dies lasse möglicherweise im ersten Moment „an Plato denken, für den ja die Idee des Guten jenseits des Seins, also jenseits von Zeit und Raum, ihre logische Stätte findet“ (15). Eine solche Annahme wäre jedoch verfehlt, weil es bei dessen „Idee des Guten“ „nicht nur mit der Zeit, sondern auch mit dem Raume keinerlei Vereinigung [gibt]. Bei Spinoza jedoch ist die Einheit der Substanz mit dem Raume geradezu ein

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Fundament des Systems“ (15). Dies führt Kellermann zu der behaupteten Differenz zwischen Spinoza und Kant, denn der spinozistische Raum sei „nicht wie bei Kant als eine prozessual wirkende Synthese aufzufassen, sondern als eine starre zeitfremde metaphysische Gegebenheit, bei der es keinerlei Entwicklung nach rückwärts oder vorwärts gibt: Ohne Anfang und ohne Ende, d. h. ohne jedwede Veränderung“ (15). Die Lehre von der Substanz, den Attributen und den Modi sei in ihrer Gesamtheit inkonsistent und nicht mit „den Kantischen Deduktionen“ zu vereinen, aus denen „folgt, daß Gott niemals Ursache der Welt sein kann, weil hierdurch Gott und Welt auf eine gemeinschaftliche Raumzeitebene gestellt werden müßten, wodurch der Absolutheitscharakter der prima causa beseitigt würde“ (19). Kellermann verteidigt hier erneut den Cohenschen Gedanken der absoluten Transzendenz Gottes, der für die Sicherung der Immanenz der menschlichen Sittlichkeit notwendig sei.69 Dieser Gedanke sei der pantheistischen Anschauung Spinozas, derzufolge „Gott und Welt[,] d. h. Idee und Gegenstand auf ein und derselben logischen Basis stehen“ und „zwischen ihnen völlige Äquivalenz herrscht“ (20), diametral entgegenzusetzen. In Cohens Beurteilung von Spinoza lässt sich eine Entwicklung ausmachen. Während der frühe Aufsatz über „Heinrich Heine und das Judentum“ (1867) von einer „durchweg positiven Pantheismus- und Spinozarezeption bei dem jungen Cohen“70 zeugt, verändert sich dessen Auffassung in den folgenden Jahrzehnten zu einem rhetorisch scharfen Anti-Spinozismus. Dies zeigt sich etwa in der zweiten Auflage der KBE (1910) sowie in dem bereits erwähnten Aufsatz „Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum“ und in der RV. Beate U. La Sala konnte jedoch zeigen, dass die inhaltlichen Unterschiede zu der Philosophie Spinozas zwar keineswegs nivelliert werden können, sie der Vehemenz der rhetorischen Diktion aber nicht immer entsprechen. Stattdessen gebe es von Cohen selbst nicht bemerkte oder verschwiegene Gemeinsamkeiten, etwa bei den Begriffen Offenbarung und heiliger Geist.71 Kellermann rekurriert im Spinozabuch allein auf das System der Philosophie, in dem er bei Cohen bezüglich des spinozistischen Substanzbegriffs Inkonsistenzen festzustellen meint. Aus der ErW zitiert er (111): „Die Substanz hat keinen andern Inhalt als den, das Substrat zu bilden für die Attribute, welche allein den Inhalt der Substanz erschöpfen. Die Identität bedeutet demnach hier

69 Vgl. Kellermann, Kritische Beiträge, 21. 70 La Sala, Cohens Spinoza-Rezeption, 139. 71 Vgl. ebd., 224–247. – Bereits Simon, [Akiba] Ernst, Zu Hermann Cohens Spinoza-Auffassung, in: MGWJ 79/2 (1935), 181–194 und Levy, Baruch Spinoza, 175–194 sahen eine Verschiebung in der Bewertung von Spinozas Lehre in Cohens Werk.

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die Bestimmung der allgemeinen Fiktion der Substanz durch eines der unendlichen Attribute, welche, eines wie das andere, jene Fiktion realisieren.“72 Natürlich könne Cohen kein spinozistischer Pantheismus unterstellt werden, jedoch gebe es unnötige Schwächen in der Verwendung der Termini. Denn mit der zitierten Passage rede er einer „idealistischen Auffassung der Substanz das Wort“, da „die Substanz erst durch die Attribute oder eines ihrer Attribute realisiert wird“ (111f). Dies sei im Falle Spinozas aber nicht angebracht, denn die von ihm definierte Substanz, die bereits „a priori die Realität als Gegebenheit schon deshalb darstellt, weil sie das Recht der Zeit bestreitet“, könne gar nicht realisiert werden (112). Ferner widerspreche Cohen mit der Auffassung, die Substanz sei das Substrat für die Attribute, seiner LrE, in der er „ausdrücklich hervor[hebt], daß der Substanzbegriff nicht das Substratum und nicht das Subjektum bedeuten darf, sondern die Subjektio, die Hypothesis“ (112).73 Aber nur diese Ansicht ermögliche die Korrelativität „zwischen Substanz und Bewegung, zwischen Subjekt und Prädikat“ (112) und sichere damit „aller Wissenschaft und Forschung [den] Prozeßcharakter […], der vor öder Erstarrung bewahrt“ (113). Neben Cohen kritisiert Kellermann auch Cassirer, denn dieser habe Spinoza trotz der eindringlichen und aus neukantianischer Perspektive verfassten Kritik zu Unrecht in die Nähe des kritizistischen Denkens gerückt.74 Dieses Urteil teilt er mit Spinoza-Forschern wie Carl Gebhardt, demzufolge Cassirer „in seinem Werke über Das Erkenntnisproblem, dem Vorgang Kühnemanns folgend, die Erkenntnistheorie Spinozas der kantischen Erkenntniskritik genähert“ habe.75 Das entscheidende Zitat aus einer längeren Passage bei Cassirer, die Kellermann in diesem Zusammenhang anführt (48), ist das Folgende: So fühlt man durch alle die metaphysischen Grundbestimmungen Spinozas hindurch das deutliche Bemühen, ein ,Sein‘ zu ergreifen, und zu beschreiben, das nur in der Korrelation zu den endlichen Dingen Bestand hat und das dennoch einer völlig anderen gedanklichen Dimension, als sie selber angehört. […] Wir müssen die Substanz jeglicher Individualität entkleiden, um in ihr rein und vollkommen den Charakter der allgemeinen geometrischen Gesetzlichkeit zu erkennen. Diese Gesetzlichkeit ist kein blosses Begriffswesen, kein blosser Gedanke in den Köpfen der Menschen, sondern sie

72 Cohen, ErW, Werke 7, 462. 73 Ders., LrE, Werke 6, 251. 74 Zur Kritik Cassirers an Spinoza in Band 2 des Erkenntnisproblems: Meyer, Thomas, Kulturphilosophie in gefährlicher Zeit. Zum Werk Ernst Cassirers, PiK, Bd. 3, Hamburg 2007, 74: „[…] das Festhalten am Aristotelischen Substanzbegriff, am Pantheismus, an der Attributenlehre gereicht ihm [d. i. Spinoza, T. L.] letztlich nicht zum Vorteil.“ Zu Cassirers veränderter Auffassung gegenüber Spinoza seit Beginn der 1930er Jahre vgl. ebd., 222–240. 75 Gebhardt, Carl, [Rez] Kellermann, Ethik Spinozas, in: Chronicon Spinozanum 3 (1923), 366f, hier : 366.

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steht in der Ordnung und dem tatsächlichen Verlauf der Einzeldinge konkret und wirklich vor uns.76

Cassirer benutze hier zu Unrecht Formulierungen, „die zu dem begriffstechnischen Repertoire des Kritizismus gehören“ (49). Damit würde der Anschein erweckt, Spinozas „inhaltsleere Substanz“ sei „ein genaues Pendant zu dem Demokritischen und Platonischen Nichtsein“, sei „ein Sollsein, eine Aufgabe“ und würde in einer korrelativen Beziehung „zum Sein der Dinge“ stehen (49). Eine solche Ansicht sei jedoch unbedingt zurückzuweisen. Denn zum einen würden bei Spinoza die Attribute Denken und Ausdehnung die „wertlogisch gleiche Valenz“ tragen, womit jedwede „Idealisierung der Sinnlichkeit“ unmöglich sei (49). Auf diese Idealisierung der Natur komme es aber an, soll eine sittliche Entwicklung der Menschheit verfolgt werden. Möglich sei dies wiederum nur bei der Annahme einer „Souverenität“ (49) des Denkens gegenüber der Sinnlichkeit: „Denken ist nicht gleich Ausdehnung. Damit kommen wir zu einer neuen Divergenz zwischen Spinoza und Kant“ (50). Ferner müsse die idealistisch anmutende Ansicht zurückgewiesen werden, die sich in Cassirers Standpunkt ausdrücke, „daß der Substanzbegriff Spinozas nur die überlogische methodische Ordnung bezeichnet, die weder außerhalb noch innerhalb der Einzeldinge zu suchen ist, sondern in dem gesetzmäßigen Verhalten der Dinge zueinander“ (48). Kellermann zufolge sei ein solcher Spinoza unterlegter Ordnungsbegriff jedoch nicht idealistisch, da dieser, wie bereits dargestellt, ein „absolute[r] Gegner[…] des Zeitbegriffs“ sei (51). Die Substanz sei bei ihm zwar „der Inbegriff einer gewissen logischen Gesetzmäßigkeit, aber diese Art der Gesetzmäßigkeit ist so wenig mit der transzendentalen Kants identisch, so wenig extensive Größe mit intensiver identisch ist. Das Fehlen der Zeit entscheidet alles“ (51). In der Untersuchung der ersten beiden Teile der Ethik will Kellermann nachweisen, dass bei Spinoza „weder ein Unterschied zwischen Gott und Geist noch ein solcher zwischen Geist und Körper aufrecht zu halten“77, sondern Identitätsphilosophie gegeben sei. In seiner Affektenlehre hingegen scheine er mehr dem kritischen Denken zu entsprechen, wie aus dem Fragment Kellermanns hervorgeht. Spinoza habe mit der Einicht in die „enge Beziehung […] zwischen dem Willen und den Affekten“ und der Auffassung des „Willen[s] als eine Welt für sich […] der kritischen und praktischen Vernunft Kants entsprochen, denn auch Kant sieht in dem ethischen Denken ein vom theoretischen Denken völlig verschiedenes Reflektieren“. Jedoch sei Spinoza in seiner Affektenlehre „auf halbem Wege stecken geblieben“, weswegen er letztlich doch wieder „als Gegner des Kritizismus“ er76 Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Bd. 2, 35f. 77 Kellermann, Fragment Spinoza, 107. Folgende Zitate: ebd., 108 (Hrvh. im Orig.).

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scheine. Dies liege daran, dass er sich der notwendigen Reinigung der Affekte nicht bewusst gewesen sei und sie rein mechanistisch verstanden habe. Im Anschluss an Cohens ErW schreibt Kellermann, dass ein Affekt, soll er „wirklich zur Grundlage des Willens erhoben werden“, „erst von allen natürlichen Beimischungen gereinigt werden“ und „also erst seine Apriorisierung erfahren“ müsse. Daraus entstehe eine „notwendige und allgemeine Einheitsform“, die jedoch ihren „spezifischen Affektcharakter“ behalte, was Cohen mit dem „Begriff der Tendenz“ bezeichnete. Spinoza aber habe den Affekt „restlos“ im Denken aufgelöst, „ohne daß auch nur eine Spur von affektivem Eigenwert übrig bliebe“.78 Somit habe der Wille kein Material mehr, auf das er sich richten könne, und „[d]amit ist natürlich der Ethik jedwede denknotwendige Grundlage entzogen“ und „alles Ethische ins Natürliche verwandelt“. Damit hat sich diese pantheistische Philosophie in Kellermanns Augen restlos disqualifiziert. Ebenso wie das Ideal wurde auch Die Ethik Spinozas in der Forschung verschieden aufgenommen. Der Philosoph Carl Gebhardt (1881–1934), der einer der angesehensten zeitgenössischen Spinoza-Forscher war und 1925 eine kritische Edition des lateinischen Gesamtwerks herausbrachte, verriss das Werk im Chronicon Spinozanum.79 Er erkennt zu Recht Kellermanns Ziel, „die völlige Unvereinbarkeit der Ethik Spinozas mit der Philosophie Kants darzutun; ja darüber hinaus möchte er Spinoza von der Seite der Ethik her in gleicher Weise vernichten, wie ihn Cohen von der Seite der [sic] Tractatus Theologico-Politicus her vernichtet zu haben glaubte. Wurde er dort moralisch bestritten, so hier systematisch.“ Dies sei Kellermann jedoch nicht gelungen, da ihm eine „Gesamtanschauung der spinozanischen Philosophie […] völlig ab[gehe]“ und er nichts anderes tue, als die Ethik „vom Standpunkt – ich möchte nicht sagen: Kants, sondern: des Marburger Neukantianismus“ zu verwerfen. Dennoch sieht Gebhardt in dem Werk keine Gefahr, denn weil „das Buch […] in einer wohl nur dem Eingeweihten ganz verständlichen Schulsprache geschrieben ist, dürfte es kaum viel Verwirrung anrichten.“ Hier wird erneut Kellermanns komplizierte Ausdrucksweise bemängelt und zeigt sich, dass er bis zu seinem Lebensende innerhalb der deutschen Philosophie als „Cohen-Schüler“ und fest im Marburger Neukantianismus verwurzelt wahrgenommen wurde. Mit einer solchen Sprache und einer historisch nicht gesicherten Interpretation aber müsse Gebhardt zufolge jeder Versuch, Spinozas Denken zu durchdringen, fehlschlagen. 78 Ebd., 110. Folgende zwei Zitate: ebd. 79 Gebhardt, [Rez] Kellermann. Alle folgenden Zitate: ebd. – Zur kritischen Edition: Spinoza, Benedictus de, Opera, im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Gebhardt, Carl, 4 Bd., Heidelberg 1925.

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Ähnlich kritisch äußerte sich 1927 der Rabbiner und Philosophiedozent am Breslauer Seminar Albert Lewkowitz (1883–1954), der ein ausgewiesener Kenner der allgemeinen und jüdischen Philosophiegeschichte war, über Die Religionsphilosophie des Neukantianismus schrieb und in etwa zeitgleich mit Ernst Cassirer die Philosophie der Renaissance analysierte.80 Der Bruder von Julius Lewkowitz, mit dem Kellermann in Berlin gut bekannt war, publizierte zudem häufig über Spinoza81 und urteilte über Kellermanns Buch, dass der „Nachweis immanenter Widersprüche im spinozistischen System“ zwar „notwendig“ sei.82 „Hingegen ist das zu Gericht sitzen über den Philosophen Spinoza vom Richterstuhl Cohenscher Philosophie aus peinlich, zumal fast auf jeder Seite dann notwendig ein Verdikt gefällt wird.“ Lewkowitz ging es in seinen Schriften nie allein um den Nachweis systematischer Schwächen bei einem bestimmten Philosophen, sondern er fragte stets nach dem Einwirken jüdischen Denkens auf die allgemeine Philosophiegeschichte. So hob er in seiner Schrift zur Renaissancephilosophie „den bisher allzu sehr unter den Tisch gekehrten Einfluss des Judentums auf die Epoche des Mittelalters, die Zwischenzeit und auf die Renaissance selbst hervor.“83 Auch Kellermann fragte, inwiefern jüdische Theoreme, etwa der „ethische Monotheismus“ der Propheten, Einfluss auf die allgemeine Geistesgeschichte von der Antike bis in seine Gegenwart ausüben. Im Spinozabuch tritt diese Analyse jedoch in den Hintergrund, da es ihm hier darum zu tun war, in apologetischer Weise jegliche Verbindung zwischen Spinoza und Kant zurückzuweisen, um den kritischen Idealismus nicht der Gefahr des Pantheismus auszusetzen. Eine positive Reaktion ist dagegen von dem Berliner Philosophen Arthur Liebert (1878–1946) überliefert, der selbst ein Neukantianer Marburger Prägung war und 1912 ein Spinoza-Brevier zusammengestellt hatte.84 Der Geschäftsfüh80 Lewkowitz, Albert, Die Religionsphilosophie des Neukantianismus. Ein Beitrag zur kritischen Lehre von der transzendentalen Realität, Leipzig 1911. – 1927 erschien von Cassirer Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1929 von Lewkowitz Das Judentum und die geistigen Strömungen der Neuzeit. Die Renaissance. Vgl. dazu Meyer, Thomas, Ernst Cassirer und Albert Lewkowitz. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Philosophiegeschichte, in: Trumah 11 (2001), 71–87. 81 Vgl. nur Lewkowitz, Albert, Die religionsphilosophische Bedeutung des Spinozismus, in: KantSt 32 (1927), 151–160; ders., Die Ethik Spinozas in ihrem Verhältnis zum Judentum, in: MGWJ 70/5 (1926), 355–366. 82 Ders., Neuere Spinoza-Literatur, in: MGWJ 71/1 (1927), 5–7, hier : 7. Folgendes Zitat: ebd. Neben Kellermann rezensierte er Bücher über Spinoza von Bernhard Alexander, Carl N. Starcke, Carl Gebhardt, Leon Roth und Jakob Klatzkin. 83 Meyer, Cassirer und Lewkowitz, 82. 84 Spinoza-Brevier, zusammengestellt u. mit einem Nachw. vers. von Liebert, Arthur, Berlin 1912. – Der in eine jüdische Berliner Familie hineingeborene Arthur Levy studierte Philosophie an der Friedrich-Wilhelms-Universität, trat 1905 zum Protestantismus über und änderte seinen Nachnamen in Liebert. 1910 übernahm er die Geschäfte der „Kant-Gesell-

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rer der „Kant-Gesellschaft“ hatte von dem Buch einen „ausgezeichneten Eindruck“, wie er Thekla Kellermann in seinem Kondolenzbrief mitteilte.85 Von dieser „hervorragenden Leistung“ sowie der gesamten Philosophie Kellermanns würde er „der ganzen Kant-Gemeinde durch eine eingehende Würdigung seines Werkes rühmende Kunde geben“ und hielt dieses Versprechen mit einem noch 1923 in den Kant-Studien publizierten Nachruf auch ein.86 Liebert sieht in dem Verfasser der Ethik Spinozas „eine[n] der treuesten Schüler“ Cohens und der Marburger Schule, die mit dem Tod Kellermanns und Franz Staudingers (1849–1921) „schwere Verluste erlitten“ habe.87 In seinem Buch zeige Kellermann, dass er „sowohl die Philosophie Spinozas als auch diejenige Kants mit vollkommener Meisterschaft“ beherrsche. Das ermögliche ihm, noch über Cohen, Natorp und Cassirer hinauszugehen und „nach[zuweisen], daß Spinoza nicht den Vertretern des Idealismus, geschweige denn denen des kritischen Idealismus zuzurechnen ist, daß sich in seinem System keine Anfänge und Spuren der Transzendentalphilosophie finden.“88 Während Kellermann zu dem Schluss komme, „daß sämtliche Kernpunkte des Spinozistischen Systems als überwunden zu betrachten seien“ und damit für eine gegenwärtige Philosophie keine Relevanz mehr beanspruchen könnten, hatte Liebert bei aller berechtigten Kritik ein aktuelles Potential des niederländischen Philosophen erkannt. Mit Spinoza könnten „die eigentlichen und schöpferischen Voraussetzungen der Metaphysik“ aufgezeigt werden, „jene Voraussetzungen, die mit einem bestimmten metaphysischen Habitus und Typ nun einmal gegeben sind, und die selber ebensowenig wie die aus ihnen gezogenen Folgerungen als ,wahr‘ oder ,falsch‘ bezeichnet werden können.“89 Für einen „solchen Einblick“ reklamiert er Kellermanns Untersuchung, die nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer eindeutig neukantianischen Positionierung dazu führe, „die Notwendigkeit der Korrelation von Kritizismus und Dogmatismus [zu] erkennen.“

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schaft“ und erwirkte ihr internationales Renomee. Den Nationalsozialismus überlebte er im englischen Exil. Vgl. dazu Wirth, Günter, Auf dem „Turnierplatz“ der geistigen Auseinandersetzungen. Arthur Liebert und die Kantgesellschaft (1918–1948/49), Ludwigsfelde 2004. Arthur Liebert an Thekla Kellermann, undatiert [nach 23. 6. 1923], LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier : Bl. 1. Folgende Zitate: ebd., Bl. 2. Liebert, Benzion Kellermann †. Eine Druckfahne des Nachrufs sandte er an Thekla Kellermann mit dem Vermerk „Erscheint im nächsten Heft der Kant-Studien. Hochachtungsvoll und ganz ergebenst A. Liebert“ (Privatbesitz Susan Kellermann). Ebd., 486. Der Philosoph und Gymnasiallehrer Staudinger „gehörte zu den politisch radikalsten Parteigängern des Marburger Neukantianismus“ und „bemühte […] sich um den Nachweis, daß der kategorische Imperativ einen sozialistischen Gesellschaftsaufbau verlange“ (Sieg, Marburger Neukantianismus, 231). Liebert, Benzion Kellermann †, 488. Folgendes Zitat: ebd. Ebd., 490. Folgende zwei Zitate: ebd.

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Liebert bewegte sich mit dieser Auffassung nicht mehr nur in den Grenzen der Marburger Schule, sondern versuchte, diese mit dem nach dem Ersten Weltkrieg zunehmenden Interesse an metaphysischen und ontologischen Fragestellungen zu vermitteln. Dies zeigt sich auch in einem 1924 erschienenen Zeitungsartikel, indem er neu erschienene Spinoza-Literatur besprach und darin „[m]anche Anzeichen“ für eine „Spinoza-Renaissance“ erblickte.90 Neben Werken von Constantin Brunner, dessen Schüler Ernst Altkirch, Carl N. Starcke und dem Hinweis auf die im Erscheinen begriffene Werkausgabe von Gebhardt, lobte er auch das „scharfsinnige und gelehrte Werk“ Kellermanns, das „von dem Ton schlichter, rein begrifflich orientierter Untersuchungen getragen“ sei. Besonders in der Wissenschaft des Judentums gab es mit Beginn der Weimarer Republik ein wieder erstarktes Interesse an Spinoza, ihre Vertreter förderten durch zahllose Aufsätze und Monografien „nicht unerheblich die internationale Diskussion“ und suchten Potentiale des spinozistischen Werks für aktuelle Fragestellungen aufzudecken.91 Der Diskurs über Spinoza changierte zwischen philosophischen, theologischen und politisch-theoretischen Fragen und diente auch der jeweils aktuellen Selbstvergewisserung der eigenen jüdischen Identität. Dies zeigt nicht zuletzt die intensive Auseinandersetzung mit Spinoza durch den an der „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ angestellten, in die USA emigrierten und dort heutzutage besonders einflussreichen Philosophen Leo Strauss. Über die Beschäftigung mit der Diskursfigur Spinoza begründete Strauss seinen Konservatismus und griff zugleich Cohen, dessen Religionsphilosophie und das liberale deutsche Judentum an.92 Kellermann mit seiner harschen Ablehnung des spinozistischen Denkens aus dem Geist des Neukantianismus und als ein programmatischer Vertreter des liberaljüdischen Projekts, ist, ohne genannt zu werden, in der Kritik Strauss’ inbegriffen. Der Berliner Rabbiner versuchte in seiner letzten Monografie aufzuzeigen, 90 Ders., Spinoza-Renaissance, in: Berliner Tageblatt, Dezember 1924. Folgende zwei Zitate: ebd. – Auch von diesem Artikel schickte er eine Fahne mit dem Vermerk „Mit verbindlichem Gruß. A. Liebert“ an Thekla Kellermann (LBI New York, AR 1197). 91 Vgl. dazu Wertheim, David J., Salvation through Spinoza. A Study of Jewish Culture in Weimar Germany, JCPS, Bd. 21, Leiden 2011; Walther, Manfred, Spinoza und das Problem einer jüdischen Philosophie, in: Stegmaier, Werner (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt a. M. 2000, 281–330. Mit besonderem Fokus auf Cassirer, Cohen und Leo Strauss: Meyer, Kulturphilosophie in gefährlicher Zeit, 223–240. – Zitat: Bartuschat, Wolfgang, Baruch de Spinoza, München 1996, 182. 92 Vgl. nur Strauss, Leo, Cohens Analyse der Bibelwissenschaft Spinozas, in: Jude 8/5–6 (1924), 295–314; ders., Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat, Berlin 1930. Dazu überblickend: Meyer, Kulturphilosophie in gefährlicher Zeit, 228–231 u. 226, Anm. 111. Umfassend zur Denkentwicklung Strauss’ inkl. dessen Spinoza- und Cohenkritik: Bluhm, Harald, Die Ordnung der Ordnung. Das politische Philosophieren von Leo Strauss, 2., bearb. Aufl., Berlin 2007.

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dass Spinozas pantheistisch gedeutete Philosophie die Ethik als ewige Aufgabe vernichte, nichts mit Kant gemein habe und deshalb keine Relevanz in der gegenwärtigen Philosophie beansprüchen dürfe. Während sich der kritische Idealismus mit dem Cohenschen Diktum „Die Erzeugung ist das Erzeugnis“ (114 u. passim)93 auf wissenschaftlichem Boden erhebe, definiere Spinoza auf unwissenschaftliche Weise einen in sich widersprüchlichen Begriff von Substanz. Nicht rationales Denken, sondern scholastische Metaphysik zeichne Spinoza aus, womit ihm, aus einer an Platon und Kant geschulten Sicht, der philosophische Todesstoß versetzt wird. Denn Spinoza könne „wie alle Vertreter religiöser Systeme ihren attributenfreien Gott nur so zu retten vermeinen, daß sie ihre bloß abstraktiv deduzierten Substanzgebilde unbewußt zu einer Hypostase erheben, wodurch sie auf intuitiv mystischem Wege die gleichen Attribute wieder aufnehmen, die sie auf logisch metaphysischem Wege hinausgewiesen hatten“ (17). Damit ist das Urteil über Spinozas als unaufgeklärt bewertete Philosophie gesprochen.

93 Vgl. dazu Cohen, LrE, 29.

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7. Die letzten Jahre 7.1 Die geplante Einleitung in Cohens Jüdische Schriften Obwohl Kellermann in seinen letzten Lebensjahren unter schweren Herzattacken litt, die ihn in seinen beruflichen und wissenschaftlichen Tätigkeiten einschränkten, unternahm er 1923 noch einmal den Versuch, Texte seines verehrten Lehrers zu edieren, wie er es bereits im Zusammenhang mit der Herstellung der Druckvorlage der RV getan hatte. Denn die „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ hatte ihn im Winter 1922 gemeinsam mit Bruno Strauss beauftragt, die Jüdischen Schriften Hermann Cohens herauszugeben.1 Die „Akademie“ ging auf Überlegungen Cohens zurück, die er zum ersten Mal 1907 äußerte, doch nicht in die Tat umsetzen konnte.2 Franz Rosenzweigs an ihn adressierter Aufruf Zeit ist’s von 1917 forderte „nicht mehr und nicht weniger als dies: eine Akademie für Wissenschaft des Judentums“ und regte diesen an, noch einmal neu über das jüdische Bildungsproblem, das heißt, über die Indifferenz gegenüber dem Judentum unter vielen Zeitgenossen nachzudenken und in seiner Antwort vom März 1918 ebenfalls eine solche Einrichtung zu fordern.3 Im gleichen Monat wurde unter der Ägide von Cohen, Kellermann, Elbogen, Franz Rosenzweigs Vater Georg und anderen die „Vereinigung zur Gründung einer Akademie der Wissenschaft des Judentums“ ins Leben gerufen, die es sich zum Ziel setzte, ein „Forschungsinstitut“ mit einem „grossen festen Stamm von forschenden Gelehrten“ aufzubauen.4 Gemäß Rosenzweigs Vorschlägen in Zeit ist’s und der Losung „,Lernen und Lehren‘“, sollte das dort gesammelte Wissen aber auch durch Bücher, Seminare, Vorlesungen und Vorträge an die jüdische Öffentlichkeit vermittelt werden, denn „[d]er Gegenstand unserer Wissenschaft ist die Religion. Deshalb muss von der reinen Wissenschaft eine Brücke zum Leben der jüdischen Gemeinde führen.“ Im Mai 1919 nahm die „Akademie“

1 Vgl. Guttmann, Julius, Bericht des wissenschaftlichen Vorstandes über das Jahr 1922/23, in: KVAWJ 4–5 (1924), 46–51, hier : 47 u. 51; Julius Guttmann an Thekla Kellermann, 2. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. 2 Cohen, Hermann, Zwei Vorschläge zur Sicherung unserer Fortbestandes (1907), JS 2, 133–141, hier : 140f. 3 Rosenzweig, Franz, Zeit ist’s… Psalm 119,126. Gedanken über das jüdische Bildungsproblem des Augenblicks. An Hermann Cohen (1917), in: ders., Zweistromland, 9–30, hier : 26; Cohen, Hermann, Zur Begründung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums (1918), JS 2, 210–217. – Zur Geschichte der Akademie: Myers, David N., The Fall and Rise of Jewish Historicism: The Evolution of the Akademie für die Wissenschaft des Judentums (1919–1934), in: HUCA 63 (1992), 107–144. 4 Cohen/Salomon/Loewe/Kellermann/Elbogen/Salomon/Hochfeld/Geballe/Bradt/Rosenzweig, Aufruf „An die deutschen Juden!“, undatiert [wahrsch. März 1918], NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. 48 1584, 2.19, 1 Bl. Folgende Zitate: ebd.

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dann offiziell ihre Geschäfte auf, was der ein Jahr zuvor verstorbene Cohen jedoch nicht mehr erleben konnte. Unter den Leitern Eugen Täubler und Julius Guttmann wurde die doppelte Zielsetzung jedoch bald aufgegeben, denn „both insisted that the Akademie be a house of pure science.“5 Die Einrichtung „became the home of an elite Research Institute devoted exclusively to scholarly investigations“, aber Franz Rosenzweig kämpfte nicht gegen diesen neuen Kurs an, sondern konzentrierte seine Energien ganz auf das „Freie Jüdische Lehrhaus“, das im Oktober 1920 in Frankfurt eröffnet wurde. Mit der neuen inhaltlichen Ausrichtung setzte sich die von Kellermann mitbegründete „Akademie“ „die Aufgabe, die Erforschung des Judentums in seinen sprachlichen, literarischen, geschichtlichen, religiösen und philosophischen Aeusserungsformen unmittelbar durch eigne Unternehmungen sowie durch Anregung und Unterstützung von Arbeiten und mittelbar durch Schulung jüngerer Gelehrter zu fördern.“6 Sie bestand aus einer akademischen Körperschaft und einem Forschungsinstitut. Letzteres wurde seit April 1922 von Guttmann geführt und gliederte sich in neun Sektionen inklusive einer philosophischen. Kellermann wurde aufgrund seiner „besonderen Kenntnisse auf dem betreffenden Spezialgebiet“ gleich nach ihrer Gründung 1920/21 in die philosophische Kommission aufgenommen, in der er mit den drei anderen „Gelehrten von anerkanntem Ruf“ Guttmann, Isaak Heinemann und Rosenzweig zusammenarbeitete.7 Das Verhältnis zwischen Kellermann und Rosenzweig war wegen der schon erwähnten herablassenden Bemerkungen des Letzteren im Zusammenhang mit der Begräbnisrede, der Herausgabe der RV durch Kellermann und wegen der grundverschiedenen Rezeption der Philosophie Cohens sicherlich angespannt. In den Augen des wissenschaftlichen Vorstandes hatte sich Kellermann jedoch durch seine religionsphilosophischen Publikationen und Herausgebertätigkeiten in den vergangenen zwanzig Jahren ausgezeichnet und galt als einer der treuesten Schüler „seines Lehrers“ Cohen.8 So wählte die innerhalb der „Akademie“ angesiedelte „Hermann-Cohen-Stiftung“ den „seinerzeit besten CohenKenner[…]“9 gemeinsam mit Strauss für das Editionsprojekt der Jüdischen Schriften aus. Bruno Strauss war der Sohn des Kantors und Volksschullehrers Abraham Strauss, mit dem Kellermann von 1890 bis 1891 an der Marburger Israelitischen 5 Myers, The Fall and Rise of Jewish Historicism, 107. Folgendes Zitat: ebd., 122. 6 Satzung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums, 1919, CJA, 1, 75 C Ve 10, Nr. 1, # 13173, Bl. 263–265, hier : Bl. 263. Zum Aufbau im Folgenden: ebd., Bl. 263f. 7 Vgl. Täubler, Eugen, Bericht des wissenschaftlichen Vorstandes, in: KVAWJ 2 (1921), 30–35, hier: 30f. Die Zitate: ebd., 30. 8 Guttmann, Bericht des wissenschaftlichen Vorstandes über das Jahr 1922/23, 47. 9 Meyer, Zwischen Philosophie und Gesetz, 211.

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Elementarschule zusammengearbeitet und zu dem Cohen eine Freundschaft aufgebaut hatte.10 Er studierte in der Lahnstadt Germanistik und Philosophie, bevor er 1908 auf Anraten seines Dozenten Cohen nach Berlin wechselte, wo er 1911 promoviert wurde. Der religiös liberal gesinnte Strauss heiratete die „aus einer angesehenen, sehr religiösen Gelehrtenfamilie“11 Breslaus stammende Bertha Badt (1885–1970), die 1908 als erste Frau an der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität promoviert wurde. Sie unterstützte leidenschaftlich den Zionismus und die Ziele der „Jüdischen Renaissance“ zur Erneuerung eines ,jüdischen Bewusstseins‘ unter den angeblich überassimilierten sogenannten „Westjuden“. 1929 gab Bruno Strauss die Religion der Vernunft in einer zweiten, neu durchgesehenen Auflage heraus und 1938 gemeinsam mit seiner Frau eine Auswahl von Briefen Cohens.12 Noch im gleichen Jahr emigrierten sie mit ihrem Sohn nach Amerika, wo sie auch beruflich wieder Fuß fassen konnten. Die beiden waren mit den Kellermanns befreundet und aus dem Kondolenzbrief geht hervor, dass sich Kellermann bei Besuchen immer wie ein Großvater um den „kleinen Jungen“ von Bertha und Bruno Strauss gekümmert habe.13 Im Januar 1923 fand eine konstituierende Sitzung des Verwaltungsvorstandes und des wissenschaftlichen Vorstandes der „Akademie“ statt, in der ausführlich die Rahmenbedingungen der geplanten Edition besprochen wurden. In Frage kamen „etwa 30–40 Bogen“ und die „Edition beanspruche nach heutigen Verhältnissen gerechnet etwa 3–4 Millionen Mark“.14 Die hohen Kosten lagen in der hohen Inflation begründet, die in diesem Jahr noch rasant ansteigen sollte. Guttmann als Direktor des Forschungsinstituts plädierte dennoch vehement für das Projekt, da „die Edition der bezeichneten Schriften für die jüdische Oeffentlichkeit von höchstem Interesse und Nutzen sein wird. Die Redaktion der Ausgabe ist den Herren Rab.[biner] Dr. Kellermann und Dr. Strauss, intimen Schülern und Kennern Hermann Cohens anvertraut. Der erstere wird das Philosophische, der Zweite das Philologische der Ausgabe behandeln. Ein Vorwort soll eine kurze biographische Skizze, Hermann Cohens Stellung zum Judentume und eine Würdigung seiner Ideen über dasselbe bringen.“15 10 Vgl. zur Biografie Steer, Martina, Art. Strauss, Bruno, IGL 3 (2003), 1826f; dies., Bertha Badt-Strauss, 90–92 u. passim. 11 Steer, Bertha Badt-Strauss, 9. 12 Cohen, Hermann, Briefe. Ausgewählt und herausgegeben von Bertha und Bruno Strauss, Bücherei des Schocken Verlags, Bd. 92, Berlin 1939. – Das Büchlein erschien entgegen der Jahresangabe im Umschlag schon 1938. Vgl. Steer, Bertha Badt-Strauss, 212. 13 Bruno und Bertha Strauss an Thekla Kellermann, Fragment, undatiert [nach 22. 6. 1923], LBI New York, AR 1197. 14 Protokoll der gemeinsamen Sitzung des Verwaltungs-Vorstandes und des wissenschaftlichen Vorstandes am 17. 1. 1923, CJA, 1, 75 C Ve 10, Nr. 1, # 13173, Bl. 379–382, hier: Bl. 379. 15 Ebd., Bl. 379f.

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Guttmann überzeugte die Anwesenden, unter ihnen Baeck und Torczyner, die sich darauf einigten, dass sofort mit der Arbeit begonnen werden sollte. Martha Cohen war „so dankbar“ für die Wahl Kellermanns, denn einem im Juli 1923 in Boston verfassten Brief zufolge, habe in ihm „die wunderbare Verbindung von Philosophie und Judentum [geruht], die so selten ist u. so notwendig ist. Darin [war er] meinem Mann so kongenial“.16 Sie sammelte während ihres Aufenthaltes in den USA auch Spenden für die „Hermann-Cohen-Stiftung“ und warb für die bald erscheinenden Schriften ihres verstorbenen Gatten.17 Mit den immer häufiger auftretenden Herzattacken hatte sich der Gesundheitszustand Kellermanns seit 1921 stetig verschlechtert, weshalb er von nun an auf die häufigen Vorträge in Vereinen und auf die Publikation von Artikeln, mit einigen wenigen Ausnahmen, verzichtete. Seine ganze Kraft hatte er seitdem darauf verwendet, das Rabbineramt auszuführen, seine Religionsschule zu leiten, Die Ethik Spinozas abzufassen und an deren zweiten Teil zu arbeiten. Seit dem Frühjahr 1923 verschlechterte sich sein Befinden noch einmal deutlich. Der mittlerweile an der Hamburger Universität lehrende Cassirer wies in seinem Kondolenzbrief auf seinen letzten Besuch im April 1923 hin, wo er Kellermann „leidend fand“.18 Auch andere Freundinnen und Kollegen wie Toni Cassirer und Julius Stern erwähnten in ihrer Kondolenz immer wieder das sich über Jahre erstreckende Leiden.19 Kellermann war gezwungen sich einzuschränken, verzichtete auf die Redaktion der philosophischen Texte und beschränkte sich auf die Einleitung in die Jüdischen Schriften.20 Sein unerwarteter Tod im Juni 1923 verhinderte aber auch deren Abfassung. Guttmann schrieb im Namen des Vorstandes der „Akademie“ am 2. Juli 1923 an die Witwe und zeigte sich erschüttert von dem „vorzeitige[n] Tod dieses ausgezeichneten Gelehrten und erfolgreichen Forschers“, der „wie die Wissenschaft des Judentums überhaupt, so auch unsere Akademie schwer getroffen [hat]“.21 Als besonders bedauerlich empfand er neben dem persönlichen Schmerz der Familie und Freunde, dass er „uns vor allem die Würdigung Cohens, die es [die Jüdischen Schriften, T. L.] einleiten sollte nicht mehr hat schenken können“ und die „Akademie“ bezüglich der „weiteren Arbeiten der philosophischen Sektion 16 Martha Cohen an Thekla Kellermann, 12. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 3 Bl., hier : Bl. 2. 17 Protokoll der gemeinsamen Sitzung des Verwaltungs-Vorstandes und des wissenschaftlichen Vorstandes am 17. 1. 1923, CJA, 1, 75 C Ve 10, Nr. 3, # 13175, Bl. 73–77, hier : Bl. 73. 18 Ernst Cassirer an Thekla Kellermann, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier : Bl. 1. 19 [Unleserlich] an Thekla Kellermann, 25. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier: Bl. 1; Toni Cassirer an Thekla Kellermann, 26. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier : Bl. 1; Julius Stern an Thekla Kellermann, 24. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier: Bl. 1. 20 Vgl. Guttmann, Bericht des wissenschaftlichen Vorstandes über das Jahr 1922/23, 51. 21 Julius Guttmann an Thekla Kellermann, 2. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 1 Bl. Folgendes Zitat: ebd.

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auf den Rat eines Gelehrten von so gründlicher philosophischer Schulung verzichten“22 müsse. In der Mitgliederversammlung der „Akademie“ einige Tage später wurden ihm und anderen im Berichtsjahr verstorbenen Mitarbeitern „Worte des Gedächtnisses“ gewidmet.23 Ein neuer Autor für die Einleitung musste gefunden werden und der Vorstand der „Akademie“ einigte sich auf Franz Rosenzweig. Jener war ebenfalls Mitglied der philosophischen Kommission und hatte schon 1919 in einem Brief an Strauss darauf gedrängt, dass nach dem Opus magnum Cohens (die RV) auch dessen Jüdische Schriften in gesammelter Form publiziert werden müssten, eine Aufgabe, für die er sich wiederum gleich selbst anbot.24 Guttmann schrieb eine Woche nach Kellermanns Tod vertraulich an Rosenzweigs Mitarbeiter und Vertrauten Ernst Simon und fragte ihn, ob Rosenzweig der Aufgabe gesundheitlich gewachsen sei, da er aufgrund seiner fortgeschrittenen Bewegungs- und Sprechlähmung nur noch eingeschränkt arbeiten konnte.25 Das Projekt war diesem persönlich zu wichtig, als dass er das Angebot hätte ablehnen können und so schrieb er im August 1923 an Martin Buber: „Die Cohensache steht als eine lockende und beängstigende Aufgabe vor mir. Ich könnte eigentlich das Beste, was ich zu sagen habe, nur in Form von Anekdoten sagen. Er [Cohen, T. L.] war ein Mensch ohne gleichen und der größte Jude, dem ich je begegnet bin.“26 Zwei Monate später schickte er das Manuskript an Strauss und verbesserte es nach dessen und Guttmanns Vorschlägen bis zum März 1924.27 Kurz darauf28 wurden die Jüdischen Schriften von Strauss in einer dreibändigen Ausgabe herausgegeben, der zwar im Vorwort mit „Trauer […] des zu früh dahingegangenen Dr. Benzion Kellermann, der bei schwindenden Kräften noch seine fördernde Teilnahme diesen Bänden gewidmet hat“, gedachte, aber nicht erwähnte, dass jener ursprünglich für die Abfassung der Einleitung geplant war.29 Rosenzweigs „irreführende Einleitung“ ging weit über das Maß einer gewöhnlichen Einführung hinaus und stellte einem großen Publikum seine Neulektüre der 22 Guttmann, Bericht des wissenschaftlichen Vorstandes über das Jahr 1922/23, 47. 23 Protokoll der Mitgliederversammlung vom 11. 7. 1923, CJA, 1, 75 C Ve 10, Nr. 3, # 13175, Bl. 85–87, hier : Bl. 85. 24 Franz Rosenzweig an Bruno Strauss, 3. 11. 1919, in: Rosenzweig, GS I/1, 652. 25 Julius Guttmann an Ernst Simon, 29. 6. 1923, NLI Jerusalem, Archives Dept., ARC. 48 1751, Subs. 1.24, File 471, 2 Bl. 26 Franz Rosenzweig an Martin Buber, 8. 8. 1923, in: Rosenzweig, GS I/1, 917f. 27 Franz Rosenzweig an Bruno Strauss, 31. 10. 1923, 27. 11. 1923 u. 31. 3. 1924, in: Rosenzweig, GS I/1, 926, 931f u. 952. 28 Im Protokoll der Sitzung des Verwaltungsvorstandes vom 27. 2. 1924, CJA, 1, 75 C Ve 10, Nr. 3, # 13175, Bl. 93–96, hier: Bl. 94 wurde noch davon ausgegangen, „dass das Cohen-Werk in ca. 10 Tagen erscheinen wird.“ Bis November 1924 wurden 1800 Exemplare gedruckt: Protokoll der zweiten Mitgliederversammlung, 12. 11. 1924, CJA, 1, 75 C Ve 10, Nr. 3, # 13175, Bl. 104–110, hier: Bl. 106. 29 Strauss, Bruno, Vorwort, in: Cohen, JS 1, V–VIII, hier : VIII.

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Cohenschen Philosophie vor, die „einen Bruch in Cohens Lebenswerk nach der Emeritierung im Jahr 1912 behauptete, der eine Rückkehr ins Judentum dargestellt habe“, in der weiteren Rezeptionsgeschichte des Marburger Neukantianers aber wirkmächtig werden sollte.30 Dieter Adelmann urteilte: In dieser Einleitung aber hat Rosenzweig Cohens Werk aus dessen beiden Kontexten zu lösen versucht, in denen es entstanden war : aus dem Zusammenhang mit Cohens systematischer Philosophie und aus dem mit der ,Wissenschaft des Judentums‘, um es dem seines eigenen, des sogenannten ,Neuen Denkens‘, zuzuordnen, das er dann, gleichsam mit dem Pathos des Sterbenden, dem Denken Martin Heideggers auf der Stufe des ersten Teils von Sein und Zeit von 1927 zugeordnet hat (,Vertauschte Fronten‘, 1929). Diese Verdrehung der Positionen aber wäre nicht möglich gewesen, würde Benzion Kellermann seine herausgeberische Tätigkeit an der zweiten Auflage der ,Religion der Vernunft‘ (ebenfalls 1929), vor allem aber an der Sammlung der Jüdischen Schriften hätte fortgesetzt haben können, denn Kellermann hatte die Position von Hermann Cohen insofern authentisch vertreten, als gerade er sich um die Verbindung der Arbeit an der Herausgabe der Jüdischen Schriften mit Ernst Cassirers und Albert Görlands Arbeit an der Herausgabe der sog. Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, die dann 1928 erschienen sind, bemüht hatte. Kellermann war der klassische Vertreter der Einheit des Werkes von Cohen gewesen.31

Als einziger zeitgenössischer Rezensent schlug Joseph Lehmann, obwohl den Wert der Einleitung Rosenzweigs durchaus anerkennend, im Januar 1925 in den Mitteilungen der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin ähnlich kritische Töne an und erwähnte, dass für die Abfassung eigentlich sein verstorbener Schwager vorgesehen war : Und doch hätten wir aus rein sachlichen Gründen gewünscht, daß diese Einleitung noch von der Hand hätte geschrieben werden können, in die Cohen selbst diesen Auftrag gelegt hatte, von Benzion Kellermann, der, mitten aus seiner Lebensarbeit herausgerissen, wie kein anderer berufen war, Cohens Stellung zu Religion und Judentum zu kennzeichnen. Denn was Rosenzweigs Darstellung zur besonderen Ehre gereicht, das ist auch im gewissen Sinne ein Hemmnis. Verliebt in seinen großen Meister, fehlt ihm eine gewisse Distanz für die Rechenschaftslegung, für die Kritik, die Cohen selbst für alle wissenschaftliche Arbeit und auch seinem eigenen Werk gegenüber forderte. Kellermann, als selbständiger Denker, auch dem Meister gegenüber, würde die Entwicklung Cohens in seiner Stellung zu Religion und Judentum nicht als so zwangsläufig angesehen haben, als solch unbedingte Konsequenz aus der philosophischen Einstellung des Meisters, wie Rosenzweig es getan.32

30 Rosenzweig, Franz, Einleitung, in: Cohen, JS 1, XIII–LXIV. – Zitate: Hasselhoff, Görge K., Vorwort des Herausgebers, in: Adelmann, „Reinige dein Denken“, 7–12, hier : 11. 31 Adelmann, Dieter, Ursprüngliche Differenz II. Zwischen Einzigkeit und Einheit im Denken von Hermann Cohen, in: ders., „Reinige dein Denken“, 277–294, hier : 277f (Hrvh. im Orig.). 32 Lehmann, Joseph, [Rez.] Cohen, Jüdische Schriften, in: MJRGB 8/1 (1925), 4f, hier : 4.

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Wie die Einleitung Kellermanns im Detail ausgesehen hätte, darüber kann angesichts fehlender Notizen und Manuskripte nur spekuliert werden. Jedoch ist Lehmann und Adelmann darin zuzustimmen, dass er zum einen eine sachliche und philosophisch exakte Einführung in Cohens Schriften gegeben, zum anderen als eigenständiger Denker an einigen Punkten seinen Lehrer auch kritisiert hätte, wie er dies im Ideal und in Die Ethik Spinozas ohne Scheu getan hatte. Mit Sicherheit hätte er nicht zwischen einem sich wenig um religiöse Probleme kümmernden philosophischen Cohen und einem in den letzten Lebensjahren zum Judentum zurückkehrenden Cohen getrennt. Denn schon in den Aufsätzen zu dessen 70. Geburtstag 1912, als auch in den zahlreichen Nachrufen suchte Kellermann aufzuzeigen, dass sein Lehrer beide Bereiche stets miteinander ins Gespräch brachte, um die jüdische Religion philosophisch zu legitimieren.

7.2 Krankheit und Tod Kellermanns Hausarzt Hans Sachs war mit seiner Frau Charlotte an vielen Freitagabenden in deren Wohnung zu Gast.33 Er hatte ebenfalls an der HWJ studiert und daraufhin einige Jahre als liberal gesinnter Rabbiner einer schlesischen Gemeinde gearbeitet. Während eines Gottesdienstes zu Jom Kippur hätte er jedoch, Erzählungen zufolge, mitten in der Predigt gestoppt, seine Robe ausgezogen, die Synagoge verlassen und Medizin studiert, um den Menschen fortan als Arzt zu helfen.34 Dem jüdischen Liberalismus blieb er dennoch auf das Innigste verbunden, unter dem er „die Bewegung“ verstand, „die, in Anknüpfung an die Ideen des prophetischen Judentums, Inhalt und Aufgabe der jüdischen Religion in der Erfassung ihrer sittlich-religiösen Werte erblickt, die ferner die Wandelbarkeit der Form nicht nur für gestattet, sondern für geboten hält“.35 Liberales Judentum und Reformjudentum, wie es in der Berliner „Jüdischen Reformgemeinde“ gelehrt und gelebt wurde, galten ihm in Aufnahme eines Wortes Kellermanns zugleich „als die Vertreter des prophetischen Judentums, des Judentums der Zukunft“. Aufgrund der immer häufigeren und stärkeren Herzattacken des Freundes wurde Sachs, der Arteriosklerose diagnostiziert hatte, seit dem Frühjahr 1923 zum Dauergast in der Knesebeckstraße. 33 Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 42. 34 Galliner, Julius, [Ts] ohne Titel [Nachruf auf Hans Sachs], undatiert [1934], LBI New York, AR 3070, Box 1, Series 4, Folder 11, 3 Bl., hier : Bl. 1f.; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 42f. 35 Sachs, H.[ans], Liberales Judentum und Reformjudentum. Rabb. Dr. Joseph Lehmann zum 60. Geburtstage, in: JLZ Nr. 12 vom 15. 9. 1932, Beilage (Hrvh. im Orig.). Folgendes Zitat: ebd. (Hrvh. im Orig.).

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Der Kondolenzbrief des Duisburger Rabbiners Manech Neumark (1875–1942) schildert anschaulich die Schwere der Krankheit. Der Gefährte „aus den Zeiten der Jugendfreundschaft“ und Lehrerkollege an der IV. Religionsschule zwischen 1903 und 1904 besuchte Kellermann noch einmal kurz vor dessen Tod, da ihm Freunde „mit besorgter Miene von seinem Gesundheitszustand erzählt“ hatten. Dieser wäre sichtlich geschwächt gewesen und habe seinen baldigen Tod erwartet, denn er „sagte mir’s auf den Kopf zu: ,Sie wollen den Kellermann noch einmal besuchen‘“.36 Henry Kellermann berichtet in seinen Erinnerungen von Nächten, in denen sein Vater so stark um Luft rang, dass die Familie jeden Moment seinen Tod erwartete. Am Abend des 22. Juni 1923, gegen zehn Uhr, erlitt er erneut einen schweren Anfall. Seine Frau fand ihn im Arbeitszimmer auf dem Boden liegend und rief Sachs sowie ihren Bruder Joseph in die Wohnung. Kellermann erlangte das Bewusstsein nicht wieder und so konnte der Arzt nichts mehr tun, als die Sterbeurkunde auszufüllen, in der er als Todesursache „Aderverkalkung“ angab.37 Joseph Lehmann unterstützte seine Schwester in dieser schweren Zeit und half ihr bei den Vorbereitungen für die Beerdigung. Am 23. Juni, als die Leiche abgeholt wurde, zeigte er dem Standesamt Charlottenburg den Tod Kellermanns an und versicherte, bei dessen Ableben vor Ort gewesen zu sein.38 Die Beerdigung am 27. Juni war ein imposantes Ereignis für die Berliner jüdische Gemeinde. Es begann vormittags um 10.30 Uhr mit einem Gedenkgottesdienst in Kellermanns Haussynagoge in der Lützowstraße, wo Julius Galliner die Predigt hielt.39 In der erhalten gebliebenen Rede gibt er in bewegten Worten einen knappen Überblick über die Biografie und das Werk des Verstorbenen, mit dem er „fast ein Menschenalter hindurch […] gemeinsam den Weg des Lebens in herzlicher Freundschaft gegangen“ sei.40 Kellermanns Wirken als Wissenschaftler, Lehrer und Rabbiner sei stets „ein Kampf für die Lehre Gottes gewesen“ und somit ein Kampf für das Judentum und die gesamte Menschheit. Nie habe er seine liberale Gesinnung versteckt, sondern er „stand fest und sicher in seiner Überzeugung. 36 Manech und Martha Neumark an Thekla Kellermann, 12. 7. 1923, LBI New York, AR 1197, 5 Bl., hier : Bl. 1f. Vgl. zur Biografie: BHRabb II/2, 455f; Personalblatt Dr. M. Neumark, 25. 11. 1926, GSTA PK Berlin, I. HA, Rep. 76, III. Sekt. 1, Tit. XIIIa, Nr. 73, Bl. 496. Der aus PosenStadt stammende Manech (Manass) Neumark studierte von 1893 bis 1900 am RabbinerSeminar, wo er Kellermann kennenlernte. 1900 wechselte er an die HWJ, bestand 1905 das Examen und übernahm die Rabbinerstelle in Duisburg. 1912 unterzeichnete er die „Richtlinien“ und wurde später Vorsitzender der Ortsgruppe Duisburg des CV. 1942 wurde er in Theresienstadt ermordet. Der Beleg für seine Anstellung an der Religionsschule findet sich: Kellermann, IV. Religionsschule, Bl. 54. 37 Beerdigungsakte Benzion Kellermann, Friedhof Berlin Weißensee, CJA, 1,75 A Be 2. 38 Anzeige des Todes von Benzion Kellermann durch Joseph Lehmann, 23. 6. 1923, LandesA Berlin, P Rep. 551 Nr. 345. 39 Julius Stern an Thekla Kellermann, 24. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier: Bl. 2. 40 Galliner, Julius, Trauerrede, 27. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, Bl. 1. Folgendes Zitat: ebd., Bl. 3.

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Mochte er dadurch auch manche Verkennung erfahren, mochte ihn dadurch auch manche schwere Enttäuschung beschieden sein, er blieb unerschütterlich in seinen Anschauungen, von denen sein Tun allezeit Zeugnis ablegte.“41 Galliner wies die Zuhörer darauf hin, dass Kellermann „[m]itten aus seinen wissenschaftlichen Plänen, die der Fortsetzung und Vollendung“42 der Ethik Spinozas gewidmet waren, herausgerissen wurde und lobte an diesem Buch sowie an dem Ideal „die souveräne Beherrschung des Stoffes, die glückliche Kombinationsgabe und die Klarheit des philosophischen Denkens“. Hans Sachs schrieb in seinem Nachruf, dass Kellermann nicht nur den zweiten Teil der Ethik Spinozas nicht mehr habe schreiben können, sondern es zudem „[g]roßzügige Pläne zu einem systematischen Werke über das Individuum im Weltbilde des Geschehens“ gegeben habe, die aber „Entwurf“ geblieben seien.43 Um diese „Lücke“ im „Gebäude der Religionsphilosophie“ zu füllen, „vertiefte er sich in die höhere Mathematik mit demselben Eifer, mit dem er seine Kenntnisse in den alten klassischen, wie in den semitischen Sprachen ergänzt hatte.“ Gegenüber Sachs habe „der schon vom Tode Gezeichnete“ geäußert: „,Mein Herz schreit danach, das niederzuschreiben; im Kopf ist alles fertig, nur fehlt mir jetzt die Körperkraft‘“. Den wenigen Andeutungen zufolge scheint es, als ob Kellermann nach den Überlegungen zu Ethik, Logik und Ästhetik und ihre Verbindung mit der jüdischen Religion eine Schrift plante, in der er sich über den Platz des konkreten Individuums in der Philosophie vergewissern wollte. Diese Frage prägte unterschwellig stets die Argumentation im Ideal, wurde aber nicht herausgehoben behandelt. Ein solches Projekt hätte dann erneut Ähnlichkeit mit Cohens Philosophie, besonders in der RV, in der dieser sich der Frage nach dem konkreten einzelnen Individuum stellte und die Lösung zu ihrer Beantwortung in dem Begriff der Korrelation zwischen Mensch und Gott und Mensch und Mensch fand. Nachdem auf der Orgel der Satz „Ases Tod“ aus der Peer Gynt Suite Nr. 1 des norwegischen Komponisten Edvard Grieg erklungen war, setzte sich der Trauerzug in Bewegung.44 Der Leichenwagen wurde von zwei mit schwarzen Federn geschmückten Pferden gezogen, dem die Mutter mit den beiden Söhnen in einer Kutsche folgte. Hinter ihnen fuhr der Rest der aus Frankfurt und Warburg angereisten Familie in weiteren Wagen. Die Prozession fuhr zum jüdischen Friedhof Weißensee im Nordosten Berlins und brachte kurzzeitig den Verkehr im Zentrum der Stadt zum Erliegen. An seinem Grab sprach Leo Baeck klare und ehrliche Worte über den Verstorbenen, der trotz eines nicht geradlinig verlaufenden Lebensweges 41 42 43 44

Ebd., Bl. 4. Ebd., Bl. 1. Folgendes Zitat: ebd., Bl. 4. Sachs, Kellermann zum Gedenken. Folgende Zitate: ebd. Vgl. dazu und im Folgenden Kellermann, Henry J., Five Germanys, 17f.

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und mancher Rückschläge als „ein ganzer, echter Mensch dastand“: „Persönlichkeit und Philosophie waren in ihm eins, und auch darum war er aufrecht, ein Mann mit dem Mute zu sich selbst, echt und ehrlich, lauter und klar“.45 Nach der Rede Baecks „hielten noch Ansprachen Herr Lehrer [Robert] Hirschfeld als Vertreter der wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Lehrer und Lehrerinnen und Herr Dr. Abraham namens der Loge“46. Abraham hatte sich während der Debatte mit Troeltsch für Kellermanns und Cohens universalistische Sicht auf die Propheten eingesetzt. Unter Leitung von Direktor Przygode nahm auch eine Vertretung von Lehrern und Schülern des MommsenGymnasiums, an dem Kellermann unterrichtet hatte, an der Trauerfeier teil.47 Einen Tag nach dem Tod des Vaters konfrontierte die Mutter die dreizehn und acht Jahre alten Söhne mit der harten Realität: „Boys, you have no longer a father“.48 Der Tod ihres Mannes habe sie schwer getroffen und aus all ihren Träumen und Hoffnungen gerissen, die sie mit ihrer Ehe noch verbunden hatte. Sie habe sehr lange Zeit Schwarz getragen, die Kinder trugen schwarze Armbänder und ein Jahr lang habe es keine Kinobesuche oder andere Unterhaltungen dieser Art gegeben. Ein halbes Jahr später, am 24. Januar 1924, fand im Logenhaus des U.O.B.B. in der Kleiststraße 10 eine Gedenkfeier für die verstorbenen Rabbiner der Gemeinde, Kellermann und Felix Coblenz (1863–1923), statt. Neben musikalischer Begleitung gab es Reden von den Rabbinern Baeck und Peiser, die der Toten gedachten.49 Nach Ablauf des Trauerjahres wurde im September 1924 der Gedenkstein an die Angehörigen übergeben und zu diesem Anlass sprach erneut Galliner auf dem Friedhof Weißensee.50 Kellermann werde nicht nur von der Jugend im „Jüdisch-liberalen Jugendverein zu Berlin“, deren „Führer“ er gewesen sei, sondern auch von dem Kreis der Cohen-Schüler und von den Gemeindemitgliedern vermisst, „die bei ihm eine philosophische Begründung des Judentums gesucht und gefunden […] haben“. Der Verstorbene habe in seinem Leben und Wirken bewiesen, dass er sowohl ein „jüdische[r] Philosoph“ sei, für den das Judentum „das Zentrum seines Denkens, Fühlens und Wollens“ bilde, als auch ein „philosophierende[r] Jude“ sei, der „das Judentum vom Blickpunkte der Welt aus gesehen“ betrachtet. Dieser, beides harmonisierende, Geist werde in seinen Schriften weiterleben, unter denen der Redner neben der Übersetzung der Kämpfe Gottes und dem Ideal besonders die Replik auf Troeltsch hervorhob. Galliner blieb mit der Familie auch weiterhin eng verbunden. Obwohl zu 45 46 47 48 49 50

Baeck, Kellermann zum Gedenken, 1. GJB 13/5–7 (1923), 31. Gemeint ist hier die Loge des U.O.B.B. Alfred Przygode an Thekla Kellermann, 26. 6. 1923, LBI New York, AR 1197, 2 Bl., hier: Bl. 2. Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 18. Zum Folgenden: ebd., 18f. Vgl. JLZ Nr. 1 vom 18. 1. 1924, 3. Die folgenden Zitate: Galliner, Übergabe des Denksteins.

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diesem Zeitpunkt schon erblindet, übernahm er freiwillig den jüdischen Religionsunterricht in Ernst Kellermanns Klasse an der Kaiser-Friedrich-Schule, um ihn unterrichten zu können und amtierte als Rabbiner bei dessen Bar Mitzwa 1928.51 Zudem war sein Sohn Helmut Galliner ein enger Freund von Henry Kellermann und mit diesem zusammen in der Berliner und überregionalen liberaljüdischen Jugend- und Bildungsarbeit tätig.52 Auch Hans und Charlotte Sachs besuchten häufig die Familie des Verstorbenen und hielten den Kontakt noch über Jahrzehnte hinaus, wie ein Brief von 1967 aus Bolivien belegt, wohin die beiden vor den Nationalsozialisten geflüchtet waren.53 Nach dem Verlust rückte die Familie noch enger zusammen, als es schon zuvor der Fall gewesen war. Joseph Lehmann, der auch verheiratet war, zwei Söhne hatte und ebenfalls in Charlottenburg wohnte,54 sei jeden Freitagabend allein oder mit seiner Familie zum Einläuten des Schabbat in die Knesebeckstraße gekommen, was Ernst Kellermann den Höhepunkt einer jeden Woche nannte.55 Lehmann habe die Rolle Kellermanns am ersten Sederabend des Pessachfestes eingenommen, mit der Familie seiner Schwester Chanukka gefeiert und Henry in seinen Jugendund Ernst in seinen Kinderjahren wie ein zweiter Vater geprägt.56 Die Familie lebte von der Witwenrente, die die Berliner jüdische Gemeinde entrichtete. Obwohl die Zahlungen an die Hinterbliebenen im Vergleich zu anderen jüdischen Gemeinden in Deutschland beachtlich waren, begann Thekla Kellermann wieder als Lehrerin zu arbeiten und ein Zimmer der Wohnung zu vermieten.57 Henry Kellermann beschreibt seine Mutter als eine Person, die zwar alles für andere tat, aber selbst auf alles verzichtete. Sie sei sehr stolz auf ihre Söhne gewesen und habe sie gefördert, so gut sie es angesichts der Situation vermochte. Wie ihr Mann, habe sie das Judentum als eine ethisch zentrierte Religion des Handelns verstanden, ein ausgeprägtes Sozialbewusstsein gehabt 51 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. 52 Helmut Galliner an Heinz [= Henry] Kellermann, 12. 1. 1933, CJA, 1, 75 C Ar 1, Nr. 2. # 9776, Bl. 14f; Galliner, Helmut, Jugend und Religiosität. Mit einem Schlußwort über ihre Stellung zum Gottesdienst, in: JLZ Nr. 17 vom 1. 12. 1932, Sondernummer : Unsere Jugend, 7. 53 Charlotte Sachs an Henry J. Kellermann, 20. 9. 1967, USHMMAWashington, 2007.96, Box 21, Series 16, Folder 26, 1 Bl. 54 1923 wohnte er mit seiner Familie in der Fasanenstraße 6, nicht weit von der dortigen Synagoge entfernt: Anzeige des Todes von Benzion Kellermann durch Joseph Lehmann, 23. 6. 1923, LandesA Berlin, P Rep. 551 Nr. 345. 55 Auskunft von Ernst W. Kellermann, 26. 3. 2012; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 25. 56 Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 25f; Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. In einem Brief an Heinz [= Henry] Kellermann vom 23. 7. 1933 schrieb Jenny Blasbalg: „Es ist dies für dich doch ein besonders schwerer Verlust [d. i. der Tod Joseph Lehmanns, T. L.]. Denn nachdem, was Du mir früher erzählt hast, hatte ich den Eindruck, dass gerade dieser Onkel wie ein zweiter Vater für dich war“ (USHMMA Washington, 2007.96, Box 2, Series 2, Folder 7, 2 Bl., hier : Bl. 1). 57 Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 18. Zum Folgenden: ebd., 18f.

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und ihren Kindern die „Goldene Regel“ als die entscheidende Norm eines gesellschaftlich angemessenen Verhaltens eingeprägt.58 Die Wohnung in der Königin Luisenstraße 2/3, in die sie 1933 gezogen war, habe immer für Verwandte und Freunde, auch die ihrer Kinder, offengestanden.59 Während der nationalsozialistischen Herrschaft fand dort die jüdische Trauung eines mit Henry befreundeten Paares statt60. Zudem habe sie vor der GESTAPO einen Freund ihres ältesten Sohnes versteckt und sich damit in äußerste Lebensgefahr begeben.61 Von der Erziehung seines Vaters geprägt, war es für Henry Kellermann kein Wunder, dass „I was not a Zionist and neither wished to join them nor felt that, not believing in their cause“.62 Aufgewachsen in einer „rarified atmosphere of speculative thinking where religion and philosophy were inseperable, complementary and correlated, and where Judaism was conceived as a religion that could withstand and satisfy the severest test of time and of philosophy, there was never any place for a concept that defined Judaism in secular, that is national or political, terms.“ In diesem Sinne war er seit den 1920er Jahren fest eingebunden in die nationale und internationale liberaljüdische Jugendarbeit. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg, Heidelberg und Berlin,63 wurde er 1932 Vorsitzender der „Arbeitsgemeinschaft Jüdisch-liberaler Jugendvereine“ (ARGE) sowie Redaktionsmitglied und Journalist der CV-Zeitung und der Jüdisch-liberalen Zeitung, in der er ab Juni 1933 die Schriftleitung der Rubrik „Jüdisch-liberale Jugend spricht“ innehatte.64 Bei vielen Veranstaltungen hielt er Vorträge, die sich der Synthese von deutscher und jüdischer Kultur widmeten. Notwendige Voraussetzung dafür sei eine Wiederentdeckung des Judentums, jedoch nicht im Sinne der zionistischen Bewegung, sondern im Anschluss an das Denken seines Vaters und Hermann Cohens durch die Erkenntnis, dass „das bloße Gemeinschaftsgefühl kein Kulturfaktor ist, und daß wir Juden wieder zu einer Ideengemeinschaft werden 58 Vgl. ebd., 19. 59 Gerhard Kann an Heinz [= Henry] Kellermann, 26. 11. 1938, USHMMAWashington, 2007.96, Box 4, Series 4, Folder 7, 1 Bl.: „Heinz, Deine Mutter ist nicht einsam. Sie ist der Mittelpunkt unsere [sic] Kreises [aus noch in NS-Deutschland sich befindenden Freunden Heinz Kellermanns aus der Jugendbewegung, T. L.]. Ein gütiger Mensch, der uns in wenigen Worten und Gesten mehr gibt, als alle anderen.“ 60 Gerhard Kann an Heinz [= Henry] Kellermann, 22. 1. 1939, USHMMAWashington, 2007.96, Box 2, Series 2, Folder 5, 3. Ebd. heißt es auch: „Manchmal, leider zu selten, flüchten wir uns in die ruhige, freundliche Behaglichkeit eines Freitagabends bei Deiner Mutter. Ihre behutsame Art, uns Dinge und Probleme nahe zu bringen, hilft“. 61 Vgl. Kellermann, Henry J., Five Germanys, 23. 62 Ders., Youth Leader, 315. Folgendes Zitat: ebd. 63 Ders., Biographic Synopsis, 1980er, USHMM Washington, 2007.96, Box 1, Series 1, Folder 1, 30. 64 Vgl. JLZ Nr. 6 vom 15. 6. 1933, Beilage, 2.

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müssen, um sowohl selber, der einzelne Jude, im Judentum wurzeln zu können, als auch die sittliche Idee des Judentums wirksam und unentbehrlich zu machen in der Menschheit.“65 Mit der Machtübertragung auf Hitler sah er sich vor eine neue Realität gestellt, denn sofort nach Erlass des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933“ verlor Henry Kellermann aufgrund seiner jüdischen Herkunft seine Stelle als Referendar in einer Anwaltskanzlei. Er konzentrierte sich nun, neben seiner Promotion, die er 1937 noch abschließen konnte,66 ganz auf die Jugendarbeit. Mit dem Verbot oder dem Aufgehen der deutschen Jugendorganisationen in der Hitlerjugend fanden sich viele junge Juden aus Gemeinschaften ausgestoßen, in denen sie kurz zuvor noch aktiv mitgewirkt hatten. Diejenigen, die kein Interesse an den zionistisch ausgerichteten Jugendvereinen hatten, schlossen sich im 1933 gegründeten, liberal ausgerichteten „Bund deutsch-jüdischer Jugend“ zusammen, in dem Henry Kellermann den Bereich „religiöse und Bildungsarbeit“ leitete.67 Die Mitglieder des Bundes waren ganz im Sinne Cohens, Kellermanns und der offiziellen Linie des CV von der Kompatibilität der jüdischen Religion mit dem Humanismus, den klassischen Philosophen von Platon bis Kant und der deutschen Kultur überzeugt. In ihrem Selbstverständnis lag es an ihnen, „to bring about the final synthesis between our spiritual heritage and our living environment, in this case, between jewish religion and European or, more strictly speaking, German Culture“.68 Seit 1934 stand Henry Kellermann der, auf ihrem Höhepunkt 15 000 Anhänger69 umfassenden, Vereinigung als Präsident vor und repräsentierte sie im „Reichsausschuß der jüdischen Jugendverbände“. Deshalb wurde er auch als „Jugendmitglied des Governing Body“ in die 1926 in London gegründete „World Union for Progressive Judaism“ aufgenommen und hatte Kontakt zu deren Führungsperson Lily Montagu (1873–1963), die neben dem Präsidenten Claude G. Montefiore eine der Gründungsfiguren des englischen Reformjudentums war.70 65 TZ, „Was ist Judentum?“. Jugendveranstaltung des Liberalen Vereins, in: JLZ Nr. 17 vom 1. 12. 1932, Sondernummer: Unsere Jugend, 6 (Hrvh. im Orig.). 66 Vgl. Kellermann, Henry J., Youth Leader, 320. 67 O. Verf., Die Tage von Lehnitz, in: Blätter des Bundes deutsch-jüdischer Jugend 1/1, Beilage der C.V.-Zeitung Nr. 1 vom 4. 1. 1934, 1f. 68 Kellermann, Henry J., Youth Leader, 321. – Generell zur jüdischen Jugendbewegung in den ersten Jahren des NS: Schatzker, Chaim, The Jewish Youth Movement in Germany in the Holocaust Period (I) – Youth in Confrontation with a New Reality, in: LBIYB 32 (1987), 157–181. 69 Die Zahl geht hervor aus: Kellermann, Henry J., Youth Leader, 322. 70 Ein Teil des Schriftverkehrs zwischen Henry Kellermann und Lily Montagu in dem Zeitraum von 1936 bis 1940 findet sich in den AJA Cincinnati, MSS Coll. No. 16, Box D 24, Folder 5. Das Zitat findet sich ebd.: Heinz [= Henry] Kellermann an Lily Montagu, 8. 8. 1937, 1 Bl. – Vgl. zur „World Union“: Meyer, Antwort auf die Moderne, 476–483. – Zu Leben und Werk von

Die letzten Jahre

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Henry Kellermann und andere Mitglieder des „Bundes“ bereiteten zudem an der Seite des Psychologen Curt Bondy (1894–1972) auf einer Farm im nahe Breslau gelegenen Groß-Breesen Jungen und Mädchen zwischen 15 und 23 Jahren durch Landwirtschafts-, Handwerks- und Fremdsprachenkurse auf die Emigration in verschiedene Länder vor.71 Er selbst emigrierte im August 1937 in die USA,72 wo er nach Aufenthalten in Baltimore und New York seit 1942 zusammen mit anderen deutschen Emigranten wie Otto Kirchheimer und Franz Neumann für den amerikanischen Nachrichtendienst OSS als politischer Analyst arbeitete. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er dann Forschungsleiter und Berater für die Strafverfolgung der Kriegsverbrechen der Achsenmächte.73 Zusammen mit seinem Team verfasste er „pre-trial briefs against the high ranking party officials, the SS, the SA and the Hitler Youth“,74 die Grundlage der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg wurden. Dort war er in den ersten Wochen anwesend und sah jenen Vertretern der Nazi-Elite in die Augen, „who had wiped out the Weimar Republic, part of my family, my friends and nearly myself“.75 In den Nachkriegsjahren bekleidete Henry Kellermann im US-Außenministerium verschiedene diplomatische Ämter und lehrte an der Georgetown University’s Foreign Service School. Er verstarb am 12. Mai 1998 in Washington D.C. und ist auf dem Rock Creek Cemetery begraben. Ernst Kellermann, der am 15. November 2012 in London verstarb, wurde von den Eltern, besonders der Mutter, ebenfalls liberaljüdisch geprägt.76 Über Henry war er in die liberaljüdische Jugendbewegung eingebunden, besetzte aber keine höheren Ämter und schlug auch beruflich einen anderen Weg ein. Nach dem Abitur zog er 1933 nach Wien, um Physik zu studieren. Die antisemitische Atmosphäre sei dort sehr aufgeheizt und zu jeder Zeit an jedem Ort zu spüren

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Montagu vgl. die mit einem Vorwort von Leo Baeck ausgestattete Biografie von Conrad, Eric, Lily H. Montagu. Prophet of a Living Judaism, New York 1953. – Ihre Autobiografie The Faith of a Jewish Woman erschien 1943. Otto Hirsch an Heinz [= Henry] Kellermann, 21. 7. 1937, USHMMA Washington, Box 2, Series 2, Folder 6, 2. Vgl. überblickend Angress, Werner T., Auswandererlehrgut GrossBreesen, in: LBIYB 10 (1965), 168–187. Prospekt der Überfahrt Le Havre-Southhampton-New York mit der „Ile de France“ vom 18.–26. 8. 1937 inkl. der, den Namen Heinz [= Henry] Kellermann enthaltenden, Passagierliste, USHMMA Washington, 2007.96, Box 2, Series 2, Folder 6. Zu den ersten Jahren in den USA: Kellermann, Henry J., Biographic Synopsis, 1980er, USHMMA Washington, 2007.96, Box 1, Series 1, Folder 1, 30. Henry J. Kellermann an USHMM Washington, 7. 3. 1991, USHMMAWashington, Donor File Susan Kellermann for 2007.96, 1 Bl. Kellermann, Henry J., …And not to Yield, V. Zu seiner Arbeit beim OSS und seinem Aufenthalt in Nürnberg 1945 vgl. ders., Settling Accounts; Oral Interview with Henry Kellermann, June 18, 1992, USHMMA Washington, RG-50.030*0103. Vgl. zur Biografie: Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999; Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London.

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gewesen. Auf den Straßen, in den Caf¦s und an der Universität seien Juden beschimpft und körperlich angegriffen worden. Für den befürchteten Fall eines Anschlusses Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, habe er immer einen gepackten Koffer gehabt, um schnell flüchten zu können. Als er ein Stipendium erhielt, ging er im Oktober 1937 zunächst für einige Jahre nach Edinburgh, wo er in einer Arbeitsgruppe mit dem späteren Nobelpreisträger Max Born (1882–1970) forschte. Dort arbeitete er auch mit dem 1938 bei Born promovierten Kernphysiker Klaus Fuchs (1911–1988) zusammen, der später am „Manhattan Project“ beteiligt war, zugleich aber für die Sowjetunion spionierte und Geheimnisse über den Bau der Atombombe verriet. Ernst Kellermann dozierte nach dem Kriegsende an verschiedenen britischen Universitäten. Er war Mitglied der Londoner Liberal Jewish Synagogue, wo er Leo Baeck bei einem von dessen Besuchen traf und sich diesem als Sohn von Benzion Kellermann vorstellte. Baeck habe sich gut an den streitbaren Rabbiner erinnert, der in seinen Augen „died far too young“77. Thekla Kellermann lebte seit der Emigration ihrer Söhne allein in Berlin und kümmerte sich um ihre kranke Schwester Emma, die 1938 starb. Um die Mutter aus Deutschland herauszuholen, kontaktierte Ernst Kellermann die Liberal Jewish Synagogue in London, die ein „comittee for refugees“ eingerichtet hatte.78 Henry Kellermann schrieb aus New York an Lily Montagu und bat sie um Unterstützung bei der Auswanderung der Mutter über England in die Vereinigten Staaten.79 Dem Flüchtlingskomitee gelang es schließlich, ihr und einigen anderen älteren Leuten Visa für Großbritannien zu beschaffen.80 Sie emigrierte im Frühjahr 1939 nach London und Edinburgh, wo sie einige Jahre mit Ernst und seiner Frau Marcelle, die in Frankreich in der R¦sistance gekämpft hatte, zusammenlebte. Sie zog mit den beiden in eine Wohnung in Manchester, wo ihr Sohn an der Universität Physik lehrte. Als er dann in Leeds tätig wurde, entschied sie sich dafür, in einem Altersheim in Manchester wohnen zu bleiben, wo sie am 21. September 1964 im Alter von 88 Jahren verstarb. Mit Hilfe ihrer beiden Söhne wurde ihre Asche in die DDR überführt und die Urne in Erfüllung ihres letzten Wunsches neben ihrem Mann auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt.

77 Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London. 78 Vgl. Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 37f. 79 Heinz [= Henry] Kellermann an Lily Montagu, 4. 12. 1938, AJA Cincinnati, MSS Coll. No. 16, Box D 24, Folder 5, 2 Bl. 80 Vgl. dazu und im Folgenden: Kellermann, Ernst W., Memoirs 1933–1999, 77; Interview mit Ernst W. Kellermann, 14. 05. 2011, London; Kellermann, Henry J., Five Germanys, 23f.

Schluss

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8. Schluss In der vorliegenden Arbeit wurde das Leben und Wirken des heutzutage nahezu vergessenen Religionsphilosophen, Lehrers und liberalen Rabbiners Benzion Kellermann nachgezeichnet. Es zeigte sich, dass er in verschiedene Projekte der liberaljüdischen Jugend- und Erwachsenenbildung Berlins involviert war, sich in progressiven Rabbinervereinigungen engagierte und zahlreiche Artikel, Aufsätze, Monografien, Übersetzungen und Editionen veröffentlichte, in denen er zur Kant-Forschung und zur jüdischen Religionsphilosophie beitrug als auch für ein prophetisches Judentum als Vorkämpfer des „ethischen Monotheismus“ eintrat. Obwohl er treue Freunde und loyale Zuhörer in der Synagoge hatte und mit bedeutenden Gelehrten wie Cohen, Cassirer und Guttmann zusammenarbeitete, konnte er sowohl innerhalb der Universitätsphilosophie als auch in der Wissenschaft des Judentums keine längerfristige Wirkung erzielen. Weder wurden seine Gedanken zu einer philosophischen Begründung der jüdischen Religion noch seine Studien zu Kants System und der spinozistischen Ethik systematisch ausgewertet. Dies hing zum einen damit zusammen, dass er weitgehend nur als ein Epigone Cohens wahrgenommen wurde, was in der Übernahme zentraler Theoreme und dessen komplexer Ausdrucksweise begründet lag, aber nicht ausreicht, um sein Denken zu beschreiben, das durchaus eigene Wege verfolgte. Während Cassirer und Natorp verständlich schrieben und ein größeres Publikum erreichten, war die Sprache bei Cohen und Kellermann oft nur schwer zu durchdringen. Sie wirkte dadurch hermeneutisch geschlossen und abschreckend, was Rezensenten immer wieder bemängelten. Der Marburger Neukantianismus erschien nach außen hin als eine einheitliche Schulgemeinschaft, was darin begründet lag, dass es „eine eindeutige Schuldoktrin“ gab, deren „Zentrum […] das Bekenntnis zur ,transzendentalen Methode‘“ bildete.1 Trotzdem gab es unter den einzelnen Vertretern inhaltliche Differenzen, wie anhand von Natorp, Cassirer, aber auch Kellermann illustriert werden kann. Natorp erarbeitete nach Cohens Weggang aus Marburg 1912, beginnend mit der in diesem Jahr erschienenen Allgemeinen Psychologie, eine sich von dessen System abhebende, religiös gefärbte und „metaphysisch zumindest unterlegte Philosophie“, in der er „das Subjekt für die systematische Philosophie restituierte.“2 Cassirer emanzpierte sich ebenfalls von dem kritischen Idealismus Marburger Prägung. Dies zeigt sich besonders in der Philosophie der symbolischen Formen, die „[d]ie Kritik der Vernunft […] zur Kritik der Kultur“3 transformiert 1 Sieg, Marburger Neukantianismus, 473. 2 Ebd., 480. 3 Cassirer, Ernst, Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache, Berlin 1923, 11.

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und die „seinen Abschied vom Cohenschen Ursprungsdenken [markiert]. Zwecks präziser Analyse der relationalen Strukturen menschlichen Verstehens verzichtete Cassirer auf den Anspruch philosophischer Letztbegründung, der für die Lehre Cohens konstitutiv war.“4 Kellermann legte kein so breitgefächertes und die Kulturwissenschaften beeinflussendes Werk vor, wie sein Freund Cassirer, sondern versuchte stattdessen intensiv, jüdische Theoreme, wie den „ethischen Monotheismus“ des prophetischen Judentums, als mit der Vernunft und damit der aufgeklärten Philosophie seit Kant in Einklang zu bringen und ihre Wechselwirkungen nachzuweisen. Dennoch gibt es auch bei ihm ohne jeden Zweifel eine Emanzipation von den erkenntnistheoretischen Überlegungen Cohens, wie es in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt wurde. Dies betrifft zum einen die verschiedene Auffassung der Gottesidee, die Kellermann als Garant und Ermöglichungsgrund der Sittlichkeit und damit des Fortschrittsprozesses der Menschheit rein funktional auffasst, während Cohen ihr in späteren Jahren noch einen weitergehenden Charakter zuspricht. Ferner besteht Kellermann in seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen im Ideal darauf, dass trotz aller notwendigen und nicht aufzulösenden Spannung zwischen dem Sollen und dem Sein dennoch von einer Möglichkeit der Realisierung der Ethik ausgegangen werden müsse, solle sie kein abstrakter und damit für die Entwicklung der Menschheit folgenloser Begriff bleiben. Diese Realisierung ermöglicht Kellermann die Antizipation, die er in seinen eigenen Überlegungen zum Zentralbegriff erhebt und Cohen zugleich vorwirft, dies nicht getan zu haben und somit eine wichtige Dimension der Möglichkeit der ethischen Verwirklichung übersehen zu haben. In seinen Auffassungen die Reform des Judentums betreffend, unterscheidet sich Kellermann in Inhalt und rhetorischer Schärfe von Cohen und vielen anderen Vertretern des liberalen Gedankens. Cohen war zwar auch liberal gesinnt und forderte, dass Gebote nicht der Vernunft widersprechen dürften, doch die Radikalität, mit der Kellermann die Auflösung der halachischen Gebote einfordert, teilte er nicht. Für Cohen verbürgt das Religionsgesetz die „jüdische Eigenständigkeit“, ohne die es „keine Weiterentwicklung des Messianismus und ohne diesen keine moralische Menschheitsentwicklung“ gibt.5 Den „ethischen Monotheismus“ rein zu halten, ihn der Menschheit zu präsentieren, mit gutem Beispiel voranzugehen und die Welt zu humanisieren, waren Aufgaben, die auch Kellermann den Juden auferlegt, jedoch keineswegs nur diesen allein. Alle Menschen müssten sich am Ideal des Prophetismus ausrichten, alle historischen Religionen sich „prophetisieren“ hin zu einer 4 Sieg, Marburger Neukantianismus, 468. 5 La Sala, Cohens Spinoza-Rezeption, 313.

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Vernunftreligion. In diesem Prozess sei dem Menschen weder Zeit noch Kraft vergönnt, neben den sittlichen Aufgaben auch noch ein, in seinen Augen erstarrtes und für die Ethik nichts beitragendes, „Zeremonialgesetz“ zu beachten. Diese Schärfe der überlieferten Tradition gegenüber, in der er selbst erzogen wurde, prägt sein Werk und ist in dieser Form bei Cohen nicht zu finden. Ein weiterer Grund für die fehlende Rezeption Kellermanns und des Vergessens seiner Philosophie liegt in der generellen Abkehr von dem Marburger Neukantianismus seit dem Ersten Weltkrieg, dem Tod des Schuloberhaupts Cohen 1918 und den ersten Jahren der Weimarer Zeit. Mit dem Aufkommen neuer Strömungen wie der Phänomenologie und des Existenzialismus und der damit einhergehenden Attraktivität metaphysischen und ontologischen Denkens, wurden in der akademischen Philosophie, aber auch in der protestantischen Theologie und in verschiedenen Strömungen des deutschen Judentums verstärkt antirationale, antihistorische und antiliberale Töne angeschlagen. Es gab nur noch wenig Interesse an einem streng rationalen und antipsychologischen systematischen Denken und damit am Neukantianismus, der als „überlebt“ galt: „[D]er kritische Idealismus Marburger Provenienz wirkte primär nur noch als Negativfolie für die Entwicklung neuer philosophischer Gedanken.“6 Dies hatte mehrere Gründe. Mit den brutalen Materialschlachten des Weltkriegs war für viele der zentrale Fortschrittsoptimismus der Marburger ad absurdum geführt worden. Statt eines sittlichen Aufstiegs des Menschengeschlechts hin zu einer universalen Ethik, die den „ewigen Frieden“ Kants verbürge, gab es Millionen Tote, Verletzte und schwer zu reintegrierende Kriegsheimkehrer und gelang es nicht mehr, wie noch zu Beginn und während des Krieges, den Kriegshandlungen einen Sinn zuzusprechen. Hans-Georg Gadamer (1900–2002), der bei Natorp studiert hatte, beschrieb die veränderte philosophische Situation nach 1918 folgendermaßen: Auch im Bereich der Philosophie war freilich ein bloßes Fortsetzen dessen, was die ältere Generation geschaffen hatte, für uns Jüngere nicht mehr angängig. Der Neukantianismus, der bis dahin eine echte, wenn auch umstrittene Weltgeltung besaß, war in den Materialschlachten des Stellungskrieges ebenso zugrunde gegangen, wie das stolze Kulturbewußtsein des liberalen Zeitalters und sein auf Wissenschaft gegründeter Fortschrittsglaube. Wir, die wir damals jung waren, suchten eine neue Orientierung in einer desorientierten Welt.7

Neben dem unbeirrbaren Festhalten am Fortschrittsgedanken gab es bei den Marburgern einen festen Kanon an philosophischen Klassikern, die für die Anwendung der „transzendentalen Methode“ systematisch rezipiert wurden 6 Sieg, Marburger Neukantianismus, 479. 7 Gadamer, Hans-Georg, Selbstdarstellung, in: ders., Gesammelte Werke, Hermeneutik II. Wahrheit und Methode, Ergänzungen, Register, Tübingen 21993, 479–508, hier: 479f.

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und die auch Kellermann in seinem Ideal als solche benennt: „Plato, Descartes und Leibniz, Kepler, Galilei und Newton“.8 Zwar lasen – und verurteilten – Cohen, Kellermann und weitere Marburger selbstverständlich auch andere Philosophen wie Aristoteles, Spinoza, Hegel oder Nietzsche, aber in der Gesamtheit war die begrenzte Lektüre im Curriculum und systematische Rezeption in den Schriften auch dafür verantwortlich, dass etwa der Existenzialismus mit seiner Fokussierung auf das Subjekt an die Marburger Schule nicht anknüpfen konnte. Zwar hatte Cohen in seiner posthum erschienenen Religion der Vernunft diesen Weg eingeschlagen und fokussierte auch Kellermann in kurz vor seinem Tod zu datierenden Predigten und Manuskripten stärker auf die Frage nach dem handelnden Subjekt und seiner Beziehung zu der es umgebenden Welt, doch konnte diese, sich noch immer fest in den Koordinaten des kritischen Idealismus bewegende, Philosophie keinen Einfluss mehr geltend machen. „Spätestens seit Natorps Tod 1924 galt die Philosophie des Marburger Neukantianismus als Relikt der Vergangenheit, mit dem sich eine ernsthafte Auseinandersetzung nicht lohne.“9 Innerhalb der deutschen Universitätsphilosophie war eine neue Zeit angebrochen, wofür prägnant das Denken des seit 1923 an der Marburger Universität lehrenden Martin Heideggers und seiner Schüler steht. Hinzu kam, dass der Marburger Neukantianismus nicht nur innerphilosophisch, sondern während des Nationalsozialismus auch äußerlich bekämpft wurde, indem er als jüdisch und ,undeutsch‘ diffamiert und ihm eine diffuse ,deutsche Philosophie‘ gegenübergestellt wurde. Viele seiner hervorragendsten Vertreter wie Jonas Cohn und Richard Hönigswald verloren ihre Lehrstühle, ebenso Cassirer, der in die USA emigrierte. Damit war diese vormals so einflussreiche philosophische Strömung sowohl in ihren Gedanken als auch in den sie vertretenden Personen aus Deutschland vertrieben und sollte es für die folgenden Jahrzehnte bleiben. Zwar musste Kellermann, im Gegensatz zu seiner Frau, den Kindern, Verwandten und Freunden, den Nationalsozialismus und die Verbrechen an den europäischen Juden nicht mehr erleben, doch traf sein philosophisches Werk dasselbe Schicksal wie den Marburger Neukantianismus in seiner Gesamtheit. Bedenkt man, dass sogar Hermann Cohen, der prägende Kopf dieser Schule, erst seit den 1970er Jahren wieder stärker gelesen und seit den 1990er Jahren rezipiert und für aktuelle, etwa praktisch-philosophische Fragestellungen fruchtbar gemacht wird, verwundert es nicht, dass Kellermann, der im Gegensatz zu Cassirer bislang als reiner Epigone gilt, in Vergessenheit geraten ist. Dennoch dürfte aufgrund des religionsphilosophischen Werkes, der Auseinandersetzung mit Troeltsch, der Edition der Religion der Vernunft, der geplanten 8 Kellermann, Ideal, IV (Hrvh. im Orig.). 9 Sieg, Marburger Neukantianismus, 469.

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Einleitung in die Jüdischen Schriften, dem Wirken in Konitz zur Zeit des Ritualmordvorwurfs, der pädagogischen Tätigkeit in der jüdischen Jugend- und Erwachsenenbildung und dem Engagement für das liberaljüdische Projekt kein Zweifel mehr an der Notwendigkeit der Kenntnisnahme Kellermanns für die Geschichte des deutschen Judentums, die Wissenschaft des Judentums sowie den Marburger Neukantianismus und damit die allgemeine und jüdische Geistesgeschichte bestehen. Weil er sich in seinen Schriften immer wieder mit zentralen christlichen Anschauungen befasste, ist Kellermann auch für die christliche Theologie eine Figur mit Reibungspotential und sollte von ihr wahrgenommen werden. Denn er bot der zeitgenössischen protestantischen Universitätstheologie, die das Judentum zumeist auf arrogante Weise vereinnahmte und als überholt darstellte, selbstbewusst die Stirn und forderte eine gleichberechtigte Zusammenarbeit christlicher und jüdischer Forscher an den biblischen Texten. Das die historischen Religionen verbindende Ziel war für Benzion Kellermann ihre „Prophetisierung“, um in dieser ethisch transformierten Gestalt den Weg zur Vernunftreligion als allgemeingültiger, universaler Sittlichkeit einzuschlagen.

Bibliografie Benzion Kellermann

Monografien Der Midrasch zum 1. Buche Samuelis und seine Spuren bei Kirchenvätern und in der orientalischen Sage: ein Beitrag zur Geschichte der Exegese, Frankfurt a. M. 1896 (zugl. Gießen, Univ., Diss., 1896). Kritische Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Christentums, Berlin 1906. Liberales Judentum. Vortrag, gehalten im Liberalen Verein für die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde, Berlin 1907. Der wissenschaftliche Idealismus und die Religion, Berlin 1908. Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, Berlin 1917. Das Ideal im System der Kantischen Philosophie, Berlin 1920. Die Ethik Spinozas. Über Gott und Geist, Berlin 1922.

Editionen und Übersetzungen Die Kämpfe Gottes von Lewi ben Gerson. Uebersetzung und Erklärung des handschriftlich revidierten Textes von Benzion Kellermann, 2 Teile, SWJ 3, Heft 1/2 und SWJ 5, Heft 1/ 3, Berlin 1914 und 1916. Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. Kellermann, Benzion, in: Cassirer, Ernst (Hg.), Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, Benzion Kellermann, Otto Schöndörffer, 10 Bände + 1 Ergänzungsband, Berlin 1911–1922, Bd. 5, Berlin 1914, 21922 (in Bd. 5 ebenfalls: Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft u. Kritik der Urteilskraft, hg. v. Buek, Otto). Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten u. Der Streit der Fakultäten, hg. v. Kellermann, Benzion, in: Cassirer, Ernst (Hg.), Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, Benzion Kellermann, Otto Schöndörffer, 10 Bände + 1 Ergänzungsband, Berlin 1911–1922, Bd. 7, Berlin 1916, 2 1922. Cohen, Hermann, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, hg. v. der

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Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums [unter der Leitung von Kellermann, Benzion], Grundriß der Gesamtwissenschaft des Judentums, Bd. 8, Leipzig 1919.

Aufsätze und Artikel Bibel und Wissenschaft, in: AZJ Nr. 49 vom 9. 12. 1898, 583–586. Hermann Cohen. Zum 4. Juli 1902, in: AZJ Nr. 27 vom 4. 7. 1902, 315–317. Paulinismus und Judentum. Nach einem in der Montagsvorlesung vom 24. Februar 1902 gehaltenen Vortrag, in: AZJ Nr. 24 vom 12. 6. 1903, 283–285 u. Nr. 25 vom 19. 6. 1903, 296–299. Hermann Cohens „Ethik des reinen Willens“ [Aufsatz in 9 Teilen], in: AZJ Nr. 3 vom 20. 1. 1905, 32f; Nr. 5 vom 3. 2. 1905, 54–56; Nr. 7 vom 17. 2. 1905, 80–83; Nr. 9 vom 3. 3. 1905, 103–105; Nr. 11 vom 17. 3. 1905, 127–129; Nr. 14 vom 7. 4. 1905, 163–166; Nr. 17 vom 28. 4. 1905, 200–202; Nr. 18 vom 5. 5. 1905, 211–213; Nr. 21 vom 26. 5. 1905, 248–250. Zur Reform des Religionsunterrichts an höheren Schulen, in: AZJ Nr. 42 vom 20. 10. 1905, 496–498. Zur Belletristik des liberalen Judentums, in: LJud 2/11 (1910), 258f. Kantianismus und Judentum, in: AZJ Nr. 1 vom 6. 1. 1911, 4–7. Universalistisches und partikularistisches Judentum, in: AZJ Nr. 35 vom 1. 9. 1911, 417–419 u. Nr. 36 vom 8. 9. 1911, 428–430. Die philosophische Bedeutung Hermann Cohens, in: AZJ Nr. 26 vom 28. 6. 1912, 305–307. Die philosophische Begründung des Judentums, in: Elbogen, Ismar/Kellermann, Benzion/ Mittwoch, Eugen (Hg.), Judaica (FS Hermann Cohen), Berlin 1912, 75–102. Das Nusproblem, in: Philosophische Abhandlungen. Hermann Cohen zum 70sten Geburtstag (4. Juli 1912) dargebracht, Berlin 1912, 152–169. Hermann Cohens philosophische Begründung der Religion, in: AZJ Nr. 48 vom 1. 12. 1916, 565–567. Die Philosophie der Bibel (1917), in: JLZ Nr. 19 vom 20. 6. 1924, 1. Beilage u. Nr. 20 vom 27. 6. 1924, 3. Beilage. Rezension zu: Heinrich Levy, Über die apriorischen Elemente der Erkenntnis. Teil I: Die Stufen der reinen Anschauung. Erkenntnistheoretische Untersuchungen über den Raum und die geometrischen Gestalten, Leipzig 1914, in: DLZ Nr. 48/49 vom 1. 12. 1917, 1437–1439. Die religionsphilosophische Bedeutung Hermann Cohens, in: NJMH 2/15–16 (1918), 369–374. Hermann Cohens System – die Begründung des liberalen Judentums, in: LJud 10/5–6 (1918), 33–37. Hermann Cohen, in: GJB 8/5 (1918), 49f. Hermann Cohen – der Philosoph der ewigen Jugend, in: K.C.Blätter 8/3 [= Heft 22] (1918), 1085–1087. Zum Wiederaufbau des liberalen Judentums, in: MARGE 3/9 (1921), 182–186. Das liberale Judentum und seine Führer, in: JLZ Nr. 17 vom 28. 4. 1922, 1. Schowuaus, das Fest der Offenbarung, in: GJB 12/6 (1922), 42.

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Bibliografie Benzion Kellermann

Rationales oder irrationales Judentum, in: MARGE, Jg. 4/ 11 (1922), 1f [= JLZ Nr. 51 vom 22. 12. 1922, 1f]. (Fragment aus seinem Nachlaß) Die Ethik Spinozas. Dritter Teil: Über den Ursprung und die Natur der Affekte, in: Festschrift zum 70. Geburtstage von Moritz Schaefer. Zum 21. Mai 1927, hg. v. Freunden und Schülern, Berlin 1927, 107–117.

Verzeichnisse

Abbildungen Cover : Benzion Kellermann, undatiert, um 1911/12 (LBI New York, AR 1197) S. 163: Benzion und Thekla Kellermann, undatiert, zwischen 1907–1913 (Privatbesitz Ernst W. Kellermann; Kopie im Besitz des Verf.)

Siglen Werke Hermann Cohens ÄrG BR ErW JS KBÄ KBE KTE LrE 1 RV 2 RV

Ästhetik des reinen Gefühls Der Begriff der Religion im System der Philosophie Ethik des reinen Willens Jüdische Schriften Kants Begründung der Ästhetik Kants Begründung der Ethik Kants Theorie der Erfahrung Logik der reinen Erkenntnis Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919) Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1929)

Werke Immanuel Kants KdU KpV KrV MS RbV WhD

Kritik der Urteilskraft Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Die Metaphysik der Sitten Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Was heißt sich im Denken orientieren?

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Verzeichnisse

Abkürzungen Die Abkürzungen richten sich nach: Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG4, hg. v. der Redaktion der RGG4, Tübingen 2007. Dort nicht erfasste und in dieser Arbeit verwendete Abkürzungen, inkl. Lexika, werden im Folgenden aufgelistet: AnnPhil ArchfS ARGE AZJ BEVB BHRabb I

Annalen der Philosophie und philosophischen Kritik Archiv für Sozialgeschichte Arbeitsgemeinschaft Jüdisch-liberaler Jugendvereine Allgemeine Zeitung des Judentums Berliner Vereinsbote. Central-Organ für die jüdischen Vereine Berlins Biographisches Handbuch der Rabbiner. Teil I: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern, 1781–1871, hg. v. Brocke, Michael/Carlebach, Julius @’’:, bearbeitet von Carsten Wilke, 2 Bd., München 2004 BHRabb II Biographisches Handbuch der Rabbiner. Teil II: Die Rabbiner im deutschen Reich 1871–1945. Mit Nachträgen zu Teil I, hg. v. Brocke, Michael/Carlebach, Julius @’’:, bearbeitet von Katrin Nele Jansen unter Mitwirkung von Jörg H. Fehrs † und Valentina Wiedner, 2 Bd., München 2009 BKC Benzion Kellermann Collection BLWJ Bericht über die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin erstattet vom Curatorium ChW Die Christliche Welt DLZ Deutsche Literaturzeitung ECN Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte 2 EJ Encyclopaedia Judaica, hg. v. Skolnik, Fred, Detroit 22007 EJGK Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, hg. v. Diner, Dan, Stuttgart/Weimar 2011ff EJSB Europäisch-jüdische Studien – Beiträge GBAZJ Der Gemeindebote. Beilage zur Allgemeinen Zeitung des Judentums GFWDJ Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums GJB Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Amtliches Organ des Gemeindevorstands, hg. vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin HDA Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, i. A. des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin hg. von Benz, Wolfgang, München 2008ff HPh Handwörterbuch Philosophie, hg. v. Rehfus, Wulff D., Göttingen 2003 IDR Im Deutschen Reich. Zeitschrift, herausgegeben von dem Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens IFH Israelitisches Familienblatt Hamburg IGL Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, hg. v. König, Christoph, Berlin/New York 2003 Israelit Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum

Abkürzungen

JBRS JLZ

409

Jahres-Bericht des Rabbiner-Seminars zu Berlin erstattet vom Curatorium Jüdisch-liberale Zeitung. Organ der Vereinigung für das liberale Judentum e.V. Für deutsches Judentum und religiösen Aufbau JPolTh Jahrbuch Politische Theologie JüdR Jüdische Rundschau JuC Judentum und Christentum Judaica Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums Jude Der Jude. Eine Monatsschrift JW Der jüdische Wille. Zeitschrift des Kartells Jüdischer Verbindungen K.C.-Blätter Kartell-Convent-Blätter. Monatsschrift der im Kartell-Convent vereinigten Korporationen KGA Kritische Gesamtausgabe KVAWJ Korrespondenzblatt des Vereins zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums LBIYB Leo Baeck Institute Year Book LJGDS Alicke, Klaus-Dieter, Lexikon der Jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, Gütersloh 2008 LJud Liberales Judentum. Monatsschrift für die religiösen Interessen des Judentums LThKS Lexikon für Theologie und Kirche, Sonderausgabe 2009: Elfbändige Studienausgabe der durchges. Ausg. der 3. Aufl. 1993–2001, hg. v. Kasper, Walter u. a. LZD Literarisches Zentralblatt für Deutschland MAKOM Schriftenreihe des Franz Rosenzweig-Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem MARGE Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft Jüdisch-liberaler Jugendvereine MFWJ Monatsschrift für die Wissenschaft des Judentums MGWJ Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums MJRGB Mitteilungen der Jüdischen Reformgemeinde zu Berlin MJS Münsteraner Judaistische Studien. Wissenschaftliche Beiträge zur christlichjüdischen Begegnung MLVAJGB Mitteilungen des Liberalen Vereins für die Angelegenheiten der jüdischen Gemeinde zu Berlin MVAA Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus Netiva Netiva. Wege deutsch-jüdischer Geschichte und Kultur. Studien des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts NJMH Neue Jüdische Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West OuW Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum PiK Philosophie im Kontext RILBA Rechenschaftsbericht über die Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg RPT Religion in Philosophy and Theology RuG Weber, Max, Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie

410 SchrCJ SchrLBI SEJ SGFWJB SHJS SJHC SJJTP StST SWJ TAJB TSt VLBI WUNT ZWJ

Verzeichnisse

Schriftenreihe des Centrum Judaicum Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts Studies in European Judaism Schriften, herausgegeben von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums in Berlin Schriftenreihe der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Studies in Jewish History and Culture Supplements to the Journal of Jewish Thought and Philosophy Studium Systematische Theologie Schriften der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte Troeltsch-Studien Veröffentlichungen des Leo Baeck Instituts Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums

Literatur

Ungedruckte Quellen Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin (UA HUB) Rektor und Senat Abgangszeugnisse

Centrum Judaicum. Stiftung Neue Synagoge Berlin, Archiv (CJA) 1, 75 A Jüdische Gemeinden Be 2 Berlin 1, 75 B Gemeindeverbände und Rabbinate Da 1 Nr. 1, # 9373 Verband der Westpreußischen Synagogen-Gemeinden, Danzig, 1897–1918 Schw 2 Distriktsrabbinat Schweinfurt, 1842–1884 1, 75 C Vereine, Organisationen Ve 1 Verband der deutschen Juden Ve 10 Verein zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums

Landesarchiv Berlin (LandesA Berlin) P Rep. 551 Nr. 345 Anzeige des Todes von Benzion Kellermann durch Joseph Lehmann

412

Literatur

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK) I. HA, Rep. 76 Kultusministerium I. HA, Rep. 77 Innenministerium XIV. HA, Rep. 181 Regierung Marienwerder

American Jewish Archives, Cincinnati (AJA Cincinnati) MSS Coll. No. 16 World Union for Progressive Judaism MSS Coll. No. 19 Jewish Institute of Religion Records, 1921–1950

Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (IFS Frankfurt am Main) O. Sign. Adressbücher O. Sign. Nullkartei, Ältere Meldekartei O. Sign. Beerdigungsbuch des Jüdischen Friedhofs

Stadtarchiv Gerolzhofen (StadtA Gerolzhofen) A1 O. Sign. O. Sign. O. Sign. O. Sign. O. Sign.

Akten des Magistrats der Stadt Gerolzhofen (jüdische Gemeinde) Geburtsbuch Nr. 53 aus 1876 Geburtsbuch Nr. 47 aus 1878 Geburtsbuch Nr. 37 aus 1880 Geburtsbuch Nr. 21 aus 1882 Oettermann, Stephan, Gerolzhöfer Häuserbuch, Gerolzhofen 2006

Archiv der Justus-Liebig-Universität Gießen (UA Gießen) Phil Prom Nr. 52 Promotionsakte Benzion Kellermann

National Library of Israel, Archives Department, Jerusalem (NLI Jerusalem) ARC. Ms. Var. 308 ARC. Ms. Var. Yah 38 ARC. Ms. Var. 347 L ARC. 48 1751 ARC. 48 1158 ARC. 48 1584

Markus Brann Archive Abraham Shalom Yahuda Archive Martin Schreiner Archive Akibah Ernst Simon Archive Philipp Bloch Archive Joseph Prager Archive

Ungedruckte Quellen

413

Hessisches Staatsarchiv Marburg (HStA Marburg) 330 Marburg C Nr. 4452 Israelitische Elementarschule 1871–1942

Archiv der Philipps-Universität Marburg (UA Marburg; im HStA Marburg) 305 m 1 Nr. 28 Inskriptionsliste SS 1889–WS 1891/92 305 m 3 Nr. 4 Personalverzeichnisse 1890–1895 305 r 32 Nr. 132–140 Manuale über die Einnahmen und Ausgaben an Collegien-Honoraren SS 1889–SS 1893 312/6 Nr. 1 Vorlesungsverzeichnisse SS 1870–WS 1899/1900

Leo Baeck Institute New York (LBI New York) AR 66 AR 1197 AR 3070 AR 3753

Leo Baeck Collection 1885–2001 Benzion Kellermann Collection 1911–1923 (BKC) Julius Galliner Collection 1852–1963 Bruno Strauss Collection 1863–1969

Stadtarchiv Warburg (StadtA Warburg) D 0830 D 1675 O. Sign. PS 0012

Ereignisse in Warburg 1816–1932 Gewerbesteuerrolle 1887/88 Heiratsregister O. Bezeichnung

United States Holocaust Memorial Museum Archive, Washington D.C. (USHMMA Washington) 2007.96 Henry J. Kellermann Collection O. Sign. Donor File Susan Kellermann for 2007.96 RG-50.030*0103 Oral Interview with Henry Kellermann, June 18, 1992

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStA Wiesbaden) Abt. 405 Nr. 25508 Akten des Preußischen Regierungspräsidiums Wiesbaden

414

Literatur

Bayerisches Staatsarchiv Würzburg (BStA Würzburg) Jüdische Standesregister 29 Jüdische Standesregister 41 Regierung von Unterfranken 3800 und 3801

Jüdische Gemeinde Gerolzhofen Jüdische Gemeinde Heidingsfeld Regierungsabgabe 1943/45

Stadtarchiv Würzburg (StadtA Würzburg) O. Sign. Einwohnermeldebögen, jüngere Serie 1850–1920

Universitätsarchiv Würzburg (UA Würzburg) ARS 2076 Inskriptionslisten SS 1856 und WS 1856/57

Privatbesitz Ernst W. Kellermann, London Privatbesitz Susan Kellermann, New York

Gedruckte Quellen

415

Gedruckte Quellen Abraham, M.[ichael], Um die Ethik unserer Propheten, in: LJud 10/7–8 (1918), 53–57. Adressbuch für Berlin und seine Vororte 1905. Unter Benutzung amtlicher Quellen. Mit der Beigabe: Plan von Berlin und Umgebung, Bd. 1, Berlin 1905. Aptowitzer, V.[iktor], Zwei Schriften auf dem Gebiete der jüdischen Religionsphilosophie. [Doppelrez. zu Kellermann, Die Kämpfe Gottes, 2 Bd., Berlin 1914–1916 und Guttmann, Jakob, Die religionsphilosophischen Lehren des Isaak Abravanel, Breslau 1916], in: Freie Jüdische Lehrerstimme 5/7–8 (1916), 95–97. Baeck, Leo, Harnack’s Vorlesungen über das Wesen des Christentums, in: MGWJ 45/2 (1901), 97–120. – Das Wesen des Judentums, SGFWJB, Berlin 1905. – [Nachruf] Rabbiner Dr. Kellermann, in: GJB 13/5–7 (1923), 31. – Rabbiner Dr. Kellermann zum Gedenken. Auf dem Friedhof gesprochen, in: JLZ Nr. 25 vom 18. 7. 1923, 1f. – Inbegriff von Sittlichkeit, Liebe, Gerechtigkeit und Heiligkeit. Einleitung, in: Die Lehren des Judentums. Nach den Quellen, Teil IV: Die Lehre von Gott, hg. v. Verband der deutschen Juden, bearbeitet von Bernfeld, Simon, Berlin 1924, 7–27. Baeumler, Alfred, Kritizismus und Kulturphilosophie, in: KantSt 25 (1921), 411–426. Bamberger, Herz, Geschichte der Rabbiner der Stadt und des Bezirkes Würzburg, aus seinem Nachlass herausgegeben, ergänzt u. vervollständigt von seinem Bruder S. Bamberger, [Hamburg-]Wandsbek 1905. Bamberger, Nathan, Seligmann Bär Bamberger, dessen Leben und Wirken. Beigabe zum Jahresberichte pro 1896/97 der von demselben begründeten und während der ersten dreizehn Jahre geleiteten israel. Lehrerbildungs-Anstalt zu Würzburg, Würzburg 1897. – Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt zu Würzburg 1864–1914, Würzburg 1914. – Die Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg. Geschichte ihrer Entstehung und Entwicklung, in: ders., Festschrift ILBA, 7–54. Baudissin, Wolf W. von, Die alttestamentliche Wissenschaft und die Religionsgeschichte. Rede zum Antritt des Rektorates der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Gehalten in der Aula am 15. Oktober 1912, Berlin 1912. Bernfeld, Simon, Literarische Jahresrevue, in: JJGL 18 (1915), 15–55. – Literarische Jahresrevue, in: JJGL 20 (1917), 17–40. Bloch, Philipp, [Rez.] Kellermann, Die Kämpfe Gottes, 2 Bd., Berlin 1914–1916, in: ThLZ Nr. 12 vom 10. 6. 1916, 273f. Böckel, Otto, Die Juden, die Könige unserer Zeit. Rede des Herrn Dr. Otto Böckel aus Marburg gehalten in der öffentlichen Versammlung des Deutschen AntisemitenBundes auf der Bockbrauerei zu Berlin am 4. Oktober 1886, Marburg 1081887. – Quintessenz der Judenfrage. Ansprache an seine Wähler und alle deutsch-nationalen Männer im Vaterlande, Marburg 61887. Borchardt, Isidor, Der Am-hoorez, in: JJGL 13 (1910), 212–272. – Die schwarze Chaje. Ein Kulturbild. Preisgekrönt von der Großloge für Deutschland VIII U.O.B.B., Frankfurt a. M. 1910.

416

Literatur

Bruder, Karl H. (Hg.), Opera quae supersunt omnia, ex editionibus principibus denuo edidit et praefatus, 3 Bd., Leipzig 1843–1846. Bst., [Rez.] Cassirer, Ernst (Hg.), Immanuel Kants Werke, Bd. 7, in: NZZ Nr. 135 vom 27. 1. 1918, 3. Sonntagsblatt. Buber, Martin, Das Judentum und die Juden [= 1., der sieben „Reden über das Judentum“, 1909], in: ders., Politische Schriften. Mit einer Einleitung von Robert Weltsch u. einem Nachw. v. Rupert Neudeck, hg. v. Melzer, Abraham, Frankfurt a. M. 2010, 244–251. Buber, Salomon, Midrasch Samuel: Agadische Abhandlung über das Buch Samuel. Hg. nach Konstantinop’ler (1522) und Wenezianer (1546) Editionen, mit Vergleichungen der Lesarten der Parmaer Handschrift cod. 563, kritisch bearbeitet, commentirt und mit einer Einleitung versehen, Krakau 1893. Buchenau, Arthur, [Rez.] Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten, in: unbekannter Zeitungsausschnitt, Privatbesitz Susan Kellermann, o. S. Budde, Karl F. R., Die Religion des Volkes Israel bis zur Verbannung, Gießen 1900. Cassirer, Erich, [Rez.], Kellermann, Ideal, in: Geisteskultur und Volksbildung. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 30 (1921), 71–73. Cassirer, Ernst, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, Berlin 1907. – Hölderlin und der deutsche Idealismus, in: Logos 7 (1917), 262–282 u. Logos 8 (1918), 30–49. – Hermann Cohen. Worte gesprochen an seinem Grabe am 7. April 1918, in: NJMH 15/16 (1917–1918), 347–352. – Zur Lehre Hermann Cohens (4. April 1918), in: Berliner Tageblatt Nr. 184 vom 11. 4. 1918, 2. – Kants Leben und Lehre (1918), Berlin 1921 (4.–6. Tausend). – Philosophie der symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache, Berlin 1923. – Die Idee der Toleranz und die Grundlegung der natürlichen Religion, in: ders., Die Philosophie der Aufklärung (1932), Hamburg 1998, 168–190. – Davoser Vorträge. Vorträge über Hermann Cohen. Mit einem Anhang: Briefe Hermann und Martha Cohens an Ernst und Toni Cassirer 1901–1929, hg. v. Bohr, Jörn, ECN, Bd. 17, Hamburg 2014. Cohen, Hermann, Werke, hg. v. Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich und des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam unter der Leitung von Holzhey, Helmut u. a., Hildesheim/Zürich/New York 1977ff. – Kants Theorie der Erfahrung (1871), Werke 1 in 3 Teilbd., Hildesheim/Zürich/New York 51987 (Teilbd. 1: Text der dritten Aufl. 1918. Mit einer Einl. v. Edel, Geert; Teilbd. 2: Textkritischer Apparat und Register zu Teilbd. 1; Teilbd. 3: Text der 1. Aufl. 1871). – Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte (1877), Nachdr. der 2., verb. und erw. Aufl. Berlin 1910. Mit einer Einl. v. Müller, Peter u. Schmid, Peter A., Werke 2, Hildesheim/Zürich/New York 32001. – Cohen, Hermann, Kants Begründung der Ästhetik (1889), Nachdr. der 1. Aufl. Berlin 1889 in verkleinertem Format. Mit einer Einl. v. Holzhey, Helmut, Werke 3, Hildesheim 2 2009.

Gedruckte Quellen

417

– Logik der reinen Erkenntnis (1902). System der Philosophie. Erster Teil, Nachdr. der 2., verb. Aufl. Berlin 1914 in verkleinertem Format. Mit einer Einl. v. Holzhey, Helmut, Werke 6, Hildesheim/New York 41997. – Ethik des reinen Willens (1904). System der Philosophie. Zweiter Teil, 2. Nachdr. der 2., rev. Aufl. Berlin 1907 in verkleinertem Format mit einem Variantenverz., Introduction by Schwarzschild, Steven S., Werke 7, Hildesheim/New York 51981. – Ästhetik des reinen Gefühls (1912). System der Philosophie. Dritter Teil, Erster Band, Nachdr. der 1. Aufl. Berlin 1912 in verkleinertem Format. Mit einer Einl. von Wolandt, Gerd, Werke 8 [= Teilbd. 1], Hildesheim/New York 31982. – Ästhetik des reinen Gefühls (1912). System der Philosophie. Dritter Teil, Zweiter Band, Nachdr. der 1. Aufl. Berlin 1912. Mit Register zu Bd. 8 u. 9, Werke 9 [= Teilbd. 2], Hildesheim/New York 31982. – Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Nachdr. der 1. Aufl. Gießen 1915 in verkleinertem Format. Mit einer Einl. v. Poma, Andrea, Werke 10, Hildesheim/Zürich/ New York 1996. – Kleinere Schriften IV (1907–1912), bearb. u. eingel. v. Wiedebach, Hartwig, Werke 15, Hildesheim/Zürich/New York 2009. – Kleinere Schriften V (1913–1915), bearb. u. eingel. v. Wiedebach, Hartwig, Werke 16, Hildesheim/Zürich/New York 1997. – Kleinere Schriften VI (1916–1918), bearb. u. eingel. v. Wiedebach, Hartwig, Werke 17, Hildesheim/Zürich/New York 2002. – Jüdische Schriften [JS], Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, 3 Bd., hg. v. Strauss, Bruno, Berlin 1924, Bd. 1: Ethische und religiöse Grundfragen. Mit einer Einleitung von Franz Rosenzweig, Bd. 2: Zur jüdischen Zeitgeschichte, Bd. 3: Zur jüdischen Religionsphilosophie und ihrer Geschichte. – Bekenntnis in der Judenfrage (1880), JS 2, 73–94. – Die Nächstenliebe im Talmud. Ein Gutachten dem Königlichen Landgericht zu Marburg erstattet (1888), JS 1, 145–174. – Die Messiasidee (1892), JS 1, 105–124. – Liebe und Gerechtigkeit in den Begriffen Gott und Mensch (1900), JS 3, 43–97. – Die Errichtung von Lehrstühlen für Ethik und Religionsphilosophie an den jüdischtheologischen Lehranstalten (1904), JS 2, 108–125. – Gedanken über Jugendlektüre (1906), JS 2, 126–132. – Zwei Vorschläge zur Sicherung unserer Fortbestandes (1907), JS 2, 133–141. – Religion und Sittlichkeit (1907), JS 3, 98–168. – Religiöse Postulate (1907/09), Werke 15, 133–160. – Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt (1910), JS 1, 18–35. – Innere Beziehungen der Kantischen Philosophie zum Judentum (1910), JS 1, 284–305. – Die Eigenart der alttestamentlichen Religion (1913), JS 2, 410–415. – Zwei Rektoratsreden an der Berliner Universität (1913), JS 2, 404–409. – Die Bedeutung des Ordens Bnei Briss für die Harmonisierung der religiösen, sozialen und internationalen Gegensätze (1914), JS 2, 149–155. – Die religiösen Bewegungen der Gegenwart (1914), JS 1, 36–65. – Vorwort, in: Kellermann, Die Kämpfe Gottes, VII. – Deutschtum und Judentum. Mit grundlegenden Betrachtungen über Staat und Internationalismus (1915), Werke 16, 465–560.

418

Literatur

Spinoza über Staat und Religion, Judentum und Christentum (1915), JS 3, 290–372. Monotheismus und Messianismus (1916), Werke 17, 353–370. Das soziale Ideal bei Platon und den Propheten (1916), Werke 17, 297–335. Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung (1917), Werke 17, 493–501. – Der Prophetismus und die Soziologie (1917), Werke 17, 503–510. – Zur Begründung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums (1918), JS 2, 210–217. – Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, hg. v. der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums [unter der Leitung von Kellermann, Benzion], Grundriß der Gesamtwissenschaft des Judentums, Bd. 8, Leipzig 1919. – Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, nach d. Ms. d. Verf. neu durchgearb. u. mit e. Nachw. vers. von Bruno Strauss. Mit e. Bilde d. Verf. von Max Liebermann, Frankfurt a. M. 1929. – Briefe. Ausgewählt und herausgegeben von Bertha und Bruno Strauss, Bücherei des Schocken Verlags, Bd. 92, Berlin 1939. Cohen, Julius, Geschichte des Akademischen Vereins für jüdische Geschichte und Literatur. Zum 25. Stiftungsfeste, Berlin 1908. Cohen, Martha, Geleitwort, in: Cohen, Hermann, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919), IIIf. Cohn, Max, Konfessionell-jüdische Volksschulen, in: AZJ Nr. 43 vom 23. 10. 1896, 508f. Cornill, Carl H., Der israelitische Prophetismus. In fünf Vorträgen für gebildete Laien geschildert, Straßburg 1894. Croce, Benedetto, [Rez.] Kellermann, Idealismus und Religion, in: La Critica 6 (1908), 389f., URL: http://www.fondazionebenedettocroce.it/lacritica.fbbc/index.php/critica/article/view/ 1483/1482, abgerufen am: 19. 11. 2013. Delitzsch, Franz, Schachmatt den Blutlügnern Rohling und Justus entboten von Franz Delitzsch, zweiter, rev. Abdruck, Erlangen 1883. Dienemann, Max, Benzion Kellermann zum Gedächtnis, in: Die Wahrheit Nr. 12 vom 21. 3. 1924, 4f. – Liberales Judentum. Neudruck der Ausg. Berlin 1935, hg. v. Mühlstein, Jan, JVBKlassiker, Bd. 2, Berlin 2000. Duhm, Bernhard, Das Geheimnis in der Religion. Vortrag gehalten am 11. Februar 1896, Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, Bd. 1, Tübingen 21927. – Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn 1875. – Israels Propheten, Lebensfragen, Bd. 26, Tübingen 1916. – Vorwort zur 1. Auflage 1892, in: ders., Das Buch Jesaia. Übersetzt und erklärt von demselben. Mit einem biographischen Geleitwort, beruhend auf der 4., neu durchges. Aufl. von 1922, Göttingen 51986. Dunin-Borkowski, Stanislaus von, Der junge De Spinoza. Leben und Werdegang im Lichte der Weltphilosophie, Münster 1910. Eisler, Rudolf, Art. Wissenschaftlicher Idealismus, in: ders. (Hg.), Wörterbuch der

– – – –

Gedruckte Quellen

419

Philosophischen Begriffe. Historisch-quellenmäßig bearbeitet, 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin 1904, Bd. 2, 804. Eissfeldt, Otto, [Rez.] Kellermann, Der ethische Monotheismus der Propheten, in: DLZ Nr. 19 vom 11. 5. 1918, 386–390. Elbogen, Ismar, Die Hochschule, ihre Entstehung und Entwicklung, in: ders./Höniger, Johann (Hg.), Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. Festschrift zur Einweihung des eigenen Heims am 22. 10. 1907, Berlin 1907, 1–98. Elbogen, Ismar/Höniger, Johann (Hg.), Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums. Festschrift zur Einweihung des eigenen Heims am 22. 10. 1907, Berlin 1907. Eschwege, Nathan (Hg.), Dass Jehudis. Religionsbuch für jüdische Knaben, Frankfurt a. M. 1898. Eysinga, Gustaaf Adolf van den Bergh van, Die holländische radikale Kritik des Neuen Testaments, ihre Geschichte und Bedeutung für die Erkenntnis der Entstehung des Christentums, Jena 1912. Feuerbach, Ludwig, Das Wesen des Christentums (1841). Mit einem Nachwort von Karl Löwith, Stuttgart 2008. Freudenthal, Jakob (Hg.), Die Lebensgeschichte Spinozas in Quellenschriften, Urkunden und nichtamtlichen Nachrichten, Leipzig 1899. – Spinoza. Sein Leben und seine Lehre, Bd. 1: Das Leben Spinozas, Stuttgart 1904. Friedländer, Moritz, Die religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums im Zeitalter Jesu, Berlin 1905. Fuchs, Eugen, Jüdische Notare und Konitzer Ritualmord (Vortrag vom 28. 2. 1901), in: ders., Um Deutschtum und Judentum. Gesammelte Reden und Aufsätze, hg. im Auftrage des CV von Hirschfeld, Leo, Frankfurt a. M. 1919, 197–214. Galliner, Helmut, Jugend und Religiosität. Mit einem Schlußwort über ihre Stellung zum Gottesdienst, in: JLZ Nr. 17 vom 1. 12. 1932, Sondernummer : Unsere Jugend, 7. Galliner, Julius, Worte, gesprochen bei der Übergabe des Denksteins Dr. Benzion Kellermanns an dessen Angehörige, in: JLZ Nr. 33 vom 26. 9. 1924, 5. Gebhardt, Carl, [Rez] Kellermann, Ethik Spinozas, in: Chronicon Spinozanum 3 (1923), 366f. Geiger, Abraham, Das Judenthum und seine Geschichte, Bd. 1: Bis zur Zerstörung des zweiten Tempels, Breslau 1865. Geiger, Ludwig, Aus L. Zunz’ Nachlaß, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5/2 (1892), 223–268. Gershom, Levi ben/Gersonides, The Wars of the Lord. Book One, translated with an introduction and notes by Feldman, Seymour, Philadelphia 1984. Goldmann, Felix, Das liberale Judentum, in: Verlag der Neuen Jüdischen Monatshefte (Hg.), Das deutsche Judentum. Seine Parteien und Organisationen. Eine Sammelschrift, Berlin/München 1919, 13–23. Goldschmidt, Lazarus, Der babylonische Talmud. Nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials neu übertragen, 12 Bd., Berlin 1929–1936. Gottschalk, Benno, [Nachruf] Rabbiner Dr. Benzion Kellermann, in: IFH vom Juli 1923. Grützmacher, R. H., [Rez.] Kellermann, Kritische Beiträge, in: ThLbl 28 (1907), 128f. Gutmann, Joseph, Geschichte der Knabenschule der Jüdischen Gemeinde in Berlin

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Literatur

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Personenregister Nicht mit aufgenommen ist Benzion Kellermann.

Abraham, Michael 316, 393 Adelmann, Dieter 33f, 389f Adler, Abraham 51f Adler, Joseph Gabriel 52 Agrippa I. 92 Ahlwardt, Hermann 59 Akiba (Rabbi) 107, 181, 197, 223 Albeck, Chanoch 97 Alexander von Aphrodisias 237 Alfarabi (al-Farabi) 237, 258 Altkirch, Ernst 382 Anaxagoras 237 Aphraates 76 Aptowitzer, Viktor 273f Aristoteles 236–238, 267–269, 370, 402 Ascher, Jakob ben 91 Ascher, Saul 249 Auerbach, Jakob 147 Averroes (Ibn Ruschd) 237, 267f Avicenna (Ibn Sina) 237 Badt-Strauss, Bertha 386 Baeck, Leo 11, 23, 25, 83, 93, 96f, 109f, 170, 173, 181, 194, 204, 252, 266, 324, 344, 367, 387, 392f, 398 Baeumler, Alfred 364–366 Bamberger, Seligmann B. 35, 42, 51–54, 90 Baneth, Eduard E. 99f, 111, 261, 263f, 266 Baron, Hans 287 Barth, Jacob 90f Barth, Karl 169, 194, 286, 338 Bauch, Bruno 306, 357

Baudissin, Wolf W. Graf von 69, 94, 104, 180 Bauer, Bruno 185 Baumann, Julius 62 Baur, Ferdinand Chr. 180, 185 Bayerer, Wolfgang 365 Beethoven, Ludwig van 29, 166 Behaghel, Otto 72, 74f Ben-Chorin, Schalom 50, 168, 188 Bendavid, Lazarus 249 Bergmann, Julius 62f Bergson, Henri 345 Berliner, Abraham 90f Bernays, Isaac 88 Bernfeld, Simon 344 Bethmann Hollweg, Theobald von 286 Bing, Abraham 35, 51f Bloch, Philipp 239, 274, 277 Böckel, Otto 58–60, 131 Bondy, Curt 397 Bonhoeffer, Dietrich 169 Borchardt, Isidor 235f Born, Max 398 Bourdieu, Pierre 28 Bousset, Wilhelm 284 Braun, Johann 127f, 140 Brenner, Michael 10, 14, 367 Brentano, Franz 237 Brodnitz, Julius 136 Bruder, Karl H. 371 Bruhn, Wilhelm 125, 128 Brunn, Fürstbischof Johann II. von 36 Brunner, Constantin 382

452 Buber, Martin 19, 76, 84, 306f, 315, 331, 338, 368, 388 Buber, Salomon 76 Buchenau, Arthur 236, 279, 316 Buckard, Christian 28 Budde, Karl 147 Buek, Otto 236, 279 Bultmann, Rudolf 169, 286 Caspari, Gustav 116 Cassel, David 97, 101f Cassirer, Bruno 236, 279 Cassirer, Ernst 11f, 16, 21, 25, 30f, 65, 207, 228, 236, 255, 278f, 306, 326, 330f, 333, 336, 360, 364, 370, 377f, 380f, 387, 389, 399f, 402 Cassirer, Toni 278, 387 Claß, Gustav 284 Coblenz, Felix 393 Cohen, Friederike 63 Cohen, Gerson 63 Cohen, Hermann 12–15, 18, 21–25, 30f, 60–70, 79f, 95, 101f., 103, 106, 110f, 131, 164, 173, 176, 184, 189f, 193, 198, 201–208, 212–220, 222–224, 228, 230–233, 235f, 238–241, 247–249, 251, 254, 257, 259–264, 266f, 270–273, 275–280, 282, 287, 290–293, 298f, 301f, 306–308, 312f, 315, 325–337, 339f, 343, 348, 351–356, 358, 360–367, 372f, 376f, 379, 381–390, 392f, 395f, 399–402 Cohen, Martha 25, 278, 325, 328, 331–334, 337, 387 Cohn, Jonas 402 Comte, Auguste 290 Cornill, Carl H. 107, 172f Croce, Benedetto 233f Darwin, Charles 94 Davidsohn, Gustav 117 Delitzsch, Franz 69 Descartes, Ren¦ 62, 241, 348, 374, 402 Deuser, Hermann 9, 209 Dienemann, Max 18, 218, 221, 320, 367 Dietrich, Wendell S. 283 Dillmann, August 72

Personenregister

Dilthey, Wilhelm 286, 297, 366 Dobschütz, Ernst von 191 Duhm, Bernhard 171, 284, 288, 290 Dunin-Borkowski, Stanislaus von 371 Ehrenreich, Jakob 48f Eißfeldt, Otto 314 Eisler, Rudolf 228 Elbogen, Ismar 100, 109, 111, 189, 233, 238, 259–264, 277, 384 Ephraem der Syrer 76 Erdmann, Axel 56 Eschwege, Nathan 49 Ettlinger, Jacob 88 Eucken, Rudolf 233 Eysinga, Gustaaf A. van den Bergh van 195 Fenner, Ferdinand 61 Feuerbach, Ludwig 169 Fichte, Johann G. 294, 309 Förster, Bernhard 59 Förster, Paul 59 Foucault, Michel 28 Frankel, Zacharias 86, 224 Freudenthal, Jakob 371 Freund, Ismar 147 Friedrich Wilhelm III. (König) Fritsch, Theodor 364 Fuchs, Klaus 398 Funkenstein, Amos 83

78

Gadamer, Hans-Georg 401 Galilei, Galileo 241, 348, 402 Galliner, Helmut 394 Galliner, Julius 24f, 33, 98, 110, 140, 151, 162, 253, 317–320, 324, 344f, 391–394 Gamaliel (Rabbi) 198 Gebhardt, Carl 377, 379, 382 Geiger, Abraham 18, 76, 78, 83, 97, 101, 108, 116, 173–175, 180f, 216, 219, 224f, 249, 259, 320, 331, 339, 368 Geiger, Ludwig 78, 147 Gersonides (Lewi ben Gerson) 25, 235, 237, 255–258, 260f, 267–274, 276, 348, 371

453

Personenregister

Glicenstein, Henryk 164 Goethe, Johann W. von 14, 29, 78–81, 162, 251 Gogarten, Friedrich 286 Goldmann, Felix 367 Goldschmidt, Samuel L. 72, 74, 77 Goldstein, Moritz 281 Goldziher, Ignaz 101, 204f, 259, 263 Görland, Albert 236, 279, 360, 362, 389 Gottschalk, Benno 151 Graetz, Heinrich 15, 76, 86 Graf, Friedrich W. 288 Grieg, Edvard 392 Groß, Johannes T. 113f Grünthal, Julius 97 Grützmacher, Richard H. 190 Gunkel, Hermann 147, 284 Gutmann, Joseph 21, 153, 158 Guttmann, Jacob 239 Guttmann, Julius 11, 25, 214, 216, 239, 262f, 266, 342, 385–388, 399 Hackmann, Heinrich 284 Händel, Georg F. 166 Harnack, Adolf von 73, 108, 169f, 177, 181f, 186f, 190, 205, 282, 296 Hartenstein, Gustav 349 Hegel, Georg W. F. 12, 189, 218, 222, 239, 246, 300f, 335f, 362, 366–368, 370, 402 Heidegger, Martin 389, 402 Heine, Heinrich 118, 164, 376 Heinemann, Isaak 385 Helmholtz, Hermann von 65 Henrici, Ernst 59 Herz, Emil 163f Herzl, Theodor 101 Hieronymus 76 Hildesheimer, Esriel 21, 87–90, 93, 100 Hildesheimer, Hirsch Z. 92, 135 Hillel (Rabbi) 107, 181, 223 Hirsch, Samson R. 88f Hirsch, Samuel 180 Hirschfeld, Otto 81 Hirschfeld, Robert 146, 150f, 158, 255, 342, 393 Hitler, Adolf 365, 396f

Hochfeld, Samson 253, 324 Hoffmann, Anna 127f Hoffmann, David Z. 90f, 94 Hoffmann, Gustav 127f Hofrichter, Albert 125 Holelez, Rachela 155 Holl, Karl 170 Holtzmann, Heinrich J. 182, 191 Holtzmann, Oskar 182 Holzmann, Michael 150, 152f Hönigswald, Richard 402 Horovitz, Jakob 90 Horovitz, Josef 11, 79, 90 Horovitz, Markus 71, 79, 93 Husik, Isaac 274–276 Ibn Asabi 102 Ibn Khaldun 102 Innozenz IV. (Papst) 121 Israelski, Wolf 126, 128 Jacob, Benno 23, 95f, 103–109, 148, 223 Jampel, Siegmund 305 Jellinek, Georg 66 Jischmael, Rabbi 197 Jochanan ben Zakkai 181 JoÚl, Manuel 86, 194–196, 261, 276, 371 Joseph, Kurfürst Max IV. 44 Joseph, Max 13f Josephus, Flavius 92, 185 Jülicher, Adolf 69, 196 Justin der Märtyrer 195 Kafka, Franz 97 Kaftan, Julius 284 Kalischer, Salomon 325 Kalthoff, Albert 184, 186–189, 191, 195 Kant, Immanuel 12, 14, 21, 24, 63–68, 95, 100, 153, 172, 175, 192, 200, 206, 208–213, 216, 218f, 222, 238, 240f, 247–249, 251, 255, 268–270, 273, 278–281, 287, 290, 293, 300f, 304, 306, 316, 326–328, 347–358, 360, 364–367, 370–372, 375f, 378–381, 383, 396, 399–401 Karpeles, Gustav 80

454 Katzke, Auguste 129 Kaufmann, David 31, 83 Kayser, Emanuel 68 Kayserling, Meyer 147 Kellermann, Aaron 39 Kellermann, Bella 42 Kellermann, Blümchen (geb. Schüler) 42, 44, 71, 161 Kellermann, Ella (geb. Schüler) 36, 38, 42 Kellermann, Ernst W. 9, 24f, 57, 110, 165, 242, 251, 254, 317, 321, 345, 394, 397f Kellermann, Eva 42 Kellermann, Fanny 42f Kellermann, Henry (Heinz Josef) 25f, 39, 161f, 165–167, 242, 251, 254, 318, 325, 391, 394–398 Kellermann, Joseph L. 34f, 38, 41–43, 48 Kellermann, Karolina 42 Kellermann, Marcelle 398 Kellermann, Maria A. 38 Kellermann, Michael 38 Kellermann, Samuel 42f, 161 Kellermann, Seligmann P. 26 Kellermann, Susan 9, 25 Kellermann, Thekla (geb. Lehmann) 24f, 68, 79, 93, 110, 136, 153,155, 159–164, 235, 278, 370, 381, 387, 394, 398 Kellermann, Uri 9, 26 Kellermann, Zippora 39 Kepler, Johannes 241, 348, 402 Kierkegaard, Søren 345 Kinkel, Walter 65, 363 Kirchheimer, Otto 397 Klein, Gottlieb 263 Klincksieck, Fritz 70 Kohler, George Y. 9, 19, 22, 174, 270 König, Eduard 131 Kössler, Franz 21 Krais, Johann M. 39 Kramer, Jacob 263, 274f, 277 Krauss, Samuel 273f Krochmal, Nachman 224 Krone, Kerstin von der 87 Kübel, Johannes 191 Kuenen, Abraham 107, 172 Kühnemann, Eugen 269, 370, 377

Personenregister

La Sala, Beate U. 376 Lagarde, Paul de 61, 76, 131, 284 Landauer, Samuel 263f Lange, Friedrich A. 65 Lazarus, Moritz 96, 208 Lebrecht, Moses 37 Lehmann, Amalie (geb. May) 159 Lehmann, Gerhard 280, 364 Lehmann, Jakob 159f Lehmann, Johanna 161 Lehmann, Joseph 92–95, 110, 146, 148, 159f, 164f, 245, 317, 389–391, 394 Lehmann, Marcus 51 Leibniz, Gottfried W. 210, 240f, 268, 348, 402 Lenz, Max 80f Lessing, Gotthold E. 209, 318 Levy, Ze’ev 372 Lewi ben Gerson (Gersonides) 25, 235, 237, 255–258, 260f, 267–274, 276, 348, 371 Lewkowitz, Albert 380 Lewkowitz, Julius 18, 253, 255f, 367, 380 Lewy, Adolf 119, 128, 135 Lewy, Israel 97 Lewy, Moritz 128 Liebert, Arthur 380–382 Liebmann, Otto 65 Lippmann, Gabriel N. 52 Loeb, Moritz A. 318 Loofs, Friedrich 170 Lotze, Hermann 284 Lowenstein, Steven M. 53, 93 Lublinski, Samuel 188 Luther, Martin 59 Maimonides (Moses ben Maimon) 22, 100, 132, 208, 220, 223, 237, 270–275, 326f, 343, 348, 374 Marcks, Erich 290 Marcuse, Herbert 235 Marcuse, Jakob 144 Masloff, Bernhard 128f, 140 Maybaum, Siegmund 100f, 233, 261, 263f Meibauer, Max 125 Mendelssohn, Moses 14, 223f, 266, 317f

455

Personenregister

Mendes-Flohr, Paul 177 Merx, Adalbert 73 Meyer, Eduard 147 Meyer, Matthäus 130 Meyer, Moritz 96 Meyer, Thomas 9, 20, 30 Mittwoch, Eugen 238, 259f Mommsen, Theodor 169 Monmouth, Thomas von 120 Montagu, Lily 396, 398 Montefiore, Claude G. 194, 396 Munk, Leo 239 Natorp, Paul 25, 62f, 65, 228f, 236, 239, 326, 330, 336, 348, 357f, 360, 362–364, 381, 399, 401f Neumann, Alexander 156–158 Neumann, Franz 397 Neumann, Salomon 183 Neumark, David 336 Neumark, Manech 391 Newton, Isaac 348, 402 Nietzsche, Friedrich W. 12, 178, 215, 222, 229, 239, 247, 345, 362, 365, 402 Nobel, Nehemias A. 239, 333f, 337 Nonn, Christoph 113f, 118f Oppenheim, Juda 160 Origenes 76 Ottensoser, Lazarus 42, 47f Otto, Eckart 282f, 289 Paasche, Hermann 69 Papias von Hierapolis 195 Perles, Felix 239, 277 Pestalozzi, Johann H. 152 Pfleiderer, Otto 148 Philippson, Martin 80, 202–204 Philo von Alexandria 230 Platon 67, 190, 208, 220, 237f, 241, 247, 268f, 356, 383, 396 Porges, Nathan 333f, 336f Prestel, Claudia 36 Prinz, Alexander 119 Procksch, Otto 314 Przygode, Alfred 235, 393

Pseudo-Hieronymus Quirinius

76

185

Rahlfs, Alfred 284 Ranke, Leopold von 78, 108 Rappaport, Salomo 224 Raschi (Schlomo ben Jizchak) 54, 90, 157 Reimarus, Hermann S. 180, 209, 372 Remarque, Erich Maria 164 Richthofen, Ferdinand Freiherr von 81 Rickert, Heinrich 66, 287, 298, 301, 357, 360 Rieger, Paul 216 Ritschl, Albrecht 284 Roediger, Max 80 Rolffs, Ernst 170 Roß, Anna 128 Rosenberg, Alfred 365 Rosenstock-Huessy, Margrit 330 Rosenzweig, Franz 84, 330f, 333, 335–338, 368, 384f, 388f Rosenzweig, Leo 334 Rupprecht, Eduard 170 Sachs, Charlotte 390, 394 Sachs, Hans 23, 57, 92–95, 101, 110, 136, 147, 150, 162, 265, 390–392, 394 Samter, Ernst 286f Sange, Walther 280 Schaefer, Moritz 370 Schechter, Solomon 76, 259 Scheibe, Max 233 Schelling, Friedrich W. J. 239, 335, 349, 366 Schiller, Friedrich 14, 162, 251, 279 Schine, Robert 283 Schleiermacher, Friedrich 298, 345, 366 Schmidt, Erich 80f Schmidt, Leopold 70 Schmidt, Raymund 364 Schneider, Karlheinz 283 Scholem, Gershom 15f, 18, 29, 84 Schöndörffer, Otto 279 Schopenhauer, Arthur 239

456 Schreiner, Martin 11, 87, 96f, 100–103, 105f, 109, 149, 202, 205 Schüler, Israel M. 36, 39 Schüler, Zerline 39 Schulte, Christoph 19 Schürer, Emil 148 Schwally, Friedrich Z. 72 Schwartz, Eduard 72, 74f Schweitzer, Albert 184 Seligmann, Caesar 18, 132, 244, 316 Seligmann, Rafael 315 Siebeck, Hermann 72, 74f Sieg, Ulrich 9, 22f, 215, 252, 282, 313 Simon, Ernst A. 16, 388 Smend, Rudolf 69 Smith, Helmut W. 113f, 141 Sofer, Chatam 35 Sokrates 208, 247 Spinoza, Baruch 12, 21, 216, 256, 268–270, 319, 345, 347, 367, 369–383, 387, 390, 392, 402 Stade, Bernhard 73–75, 77, 131 Starcke, Carl N. 382 Staudinger, Franz 381 Steck, Rudolf 194f Steckelmacher, Moritz 205 Stein, Ludwig 336 Steinen, Karl von den 69 Steinschneider, Moritz 11, 83, 258f Steinthal, Chajim H. 97, 100, 111, 150 Stern, Fritz 26 Stern, Jakob 371 Stern, Julius 147, 158, 387 Stirner, Max 222 Stoll, Jakob 53 Strack, Hermann L. 122, 131 Strauß, David F. 180 Strauss, Abraham 57 Strauss, Bruno 337, 384–386, 388 Strauss, Leo 16, 18, 382 Tacitus 185 Täubler, Eugen 385 Teichmüller, Gustav 62 Thalheimer, Faust Löb 52 Themistius 237

Personenregister

Thiel, Johann 125 Thulin, Mirjam 30f, 84f Tillich, Paul 286 Toller, Ernst 124 Tönnies, Ferdinand 246 Torczyner, Harry 387 Trajan (Kaiser) 185, 187, 195 Treitschke, Heinrich von 60, 131, 284 Troeltsch, Ernst 22f, 108, 170, 172, 176, 201, 224, 281–306, 308–317, 345, 347, 367, 371, 393, 402 Ury, Lesser

164

Vaihinger, Hans 364 Vatke, Wilhelm 288, 292 Violet, Bruno 287, 315 Vogelstein, Hermann 18, 25, 132, 244, 249 Vorländer, Karl 65, 236 Wagner, Richard 166, 251 Wallis, Louis 288f Warda, Arthur 280 Warschauer, Malwin 80, 102, 109, 253 Wassermann, Jakob 308 Weber, Max 283–285, 289, 294 Wechsler, Elchanan 49 Wehn, Arthur 123, 128 Weiß, Johannes 284 Weiße, Samson 323f Welkanoz, Max 154f Wellhausen, Julius 62, 66f, 95, 107, 147, 171–174, 178, 180–182, 185, 205, 222, 284, 288, 292, 297, 299, 309 Weyl, Michael 134, 140 Wiener, Max 173, 176, 239, 252, 259, 291f, 315, 341, 367 Wiese, Christian 23, 223, 282 Wilhelm II. (Kaiser) 251 Wimmenauer, Carl 75 Windelband, Wilhelm 66, 233, 239, 301 Winter, Ernst 118f, 123, 126–128, 130f, 139–141, 143 Wohlgemuth, Joseph 92 Wolbe, Eugen 204 Wolf, Immanuel 82f

457

Personenregister

Wolfsfeld, Erich 164 Wrede, William 284 Yahuda, Abraham S. Zahn, Theodor 170 Zander, Selig 135

261f

Zedlitz, Baron von 129 Zeller, Eduard 336 Ziegler, Theobald 246 Zunz, Leopold 16, 18, 76, 82f, 108, 150, 224 Zweig, Arnold 164

Ortsregister

Aschaffenburg 36, 51f Auschwitz 19, 113

Danzig 114, 117, 133, 139 Dresden 364

Bacherach 118, 164 Baldenburg 124 Baltimore 397 Bamberg 37, 45, 47, 49, 51–55, 90 Berlin 11, 18, 20, 24–26, 31, 33f, 38, 42f, 48, 63, 69, 71, 73, 77–81, 83f, 87–98, 100–103, 109–114, 116f, 122, 125, 130–132, 135f, 140f, 143–156, 158f, 161, 163–169, 177f , 183f, 186, 188, 190, 203, 208, 217f, 227, 236, 242, 244–246, 249, 251–256, 258, 262f, 266, 274, 278f, 284, 286, 288, 303, 315–317, 319–326, 330f, 333f, 338, 341f, 344f, 347, 365–367, 380, 382, 386, 389–395, 398f Bieberehren 48 Bonn 284 Boston 387 Breslau 63, 86f, 89, 93, 109, 132, 194, 214, 256, 262, 275, 331, 380, 386, 397 Bromberg 124 Brünnau 37 Buchenwald 29, 53 Budapest 101 Burgpreppach 45

Edinburgh 398 Eisenstadt 88 Elbing 119 Erlangen 284, 314 Flatow 126 Frankenwinheim 37 Frankfurt a. M. 38f, 42f, 59, 71f , 74, 77, 79, 88, 90, 93, 132, 151, 161, 166, 254, 333f, 385, 392 Freiburg 395 Fuchsstadt 34 Fulda 120 Fürth 37 Gerolzhofen 36–44, 46f, 71f Gießen 24, 70–77, 363 Gloucester 120 Göttingen 284 Graudenz 116, 129, 136 Groß-Breesen 397

Cambridge 98 Coswig 63 Czersk 126

Halle 63, 88 Hamburg 38, 43, 88, 160, 189, 387 Hammerstein 134 Haßfurt 37 Heidelberg 110, 284, 286, 290, 395 Höchberg 34, 42, 44–50, 52, 55f, 58, 95

Dachau

Izbica 43

53

460

Ortsregister

Jerusalem

25, 198, 200, 223, 292f, 303

Kairo 76 Kassel 48 Köln 48 Königsberg 114 Konitz 20, 22, 25, 113–141, 143f, 151, 159, 168f, 177, 208, 317, 403 Krakau 76 Leeds 398 Leipzig 69, 73, 169, 233, 257, 333f, 367 London 25, 110, 396–398 Mainz 51 Manchester 398 Marburg 12, 20–22, 56–63, 65–72, 77, 79, 81, 90, 94f, 104, 111, 113, 131, 149, 151, 184, 201, 228, 236, 266, 278, 325, 330f, 347, 399 Montabaur 70 München 37, 43, 124 Münster 48 Neustettin 129 New York 24f, 164, 397f Niederwerrn 37 Norwich 120 Nürnberg 37, 397 Oxford

257

Paris 257 Parma 76, 257

Poln‚ 74, 122 Prechlau 118, 124 Preßburg (Bratislava)

35

Ravensbrück 43 Regensburg 37 Riga 43 Riva di Trento 257 Samotschin 124 Schlochau 119, 124, 134, 143 Schwabach 45 Schweinfurt 36f Skurcz 113, 123, 141 Stegers 124 Straßburg 116 Theresienstadt 43 Thorn 134 Tisza-Eslar 74, 122 Treblinka 43 Trient 120 Tuchel 119, 124 Verdun

281

Warburg 92, 159–161, 163, 166, 254, 392 Washington D.C. 26, 397 Wien 161, 273–275, 397 Würzburg 34f, 42, 45–56, 58, 70, 90, 95, 113 Xanten

113, 123, 141