Beiträge zur Berliner Geschichte: Ausgewählte Aufsätze
 9783110830651, 9783110004588

Table of contents :
VORWORT
INHALT
ABKÜRZUNGEN
Die Gründung Berlins und Cöllns
“Der Berlin”
Die Siedlung um St. Nikolai und der Ursprung Cöllns
Die Berliner Juden im Mittelalter
Der “Berliner Unwille” und seine Vorgeschichte
Die Stadt Berlin zu Beginn des 16. Jahrhunderts
Vormärzlicher Liberalismus in Berlin
Bodelschwingh und die Berliner Märzrevolution
Die Epochen der Wirtschaftsgeschichte Berlins
Die Epochen der Finanzpolitik Berlins 1808–1914
Werner Hegemanns Werk: „Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt“ oder: Der alte und der neue Hegemann
Das Weichbild der Stadt Berlin seit der Steinschen Städteordnung
Ernst Kaeber
Bibliographie Ernst Kaeber

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V E R Ö F F E N T L I C H U N G E N DER

HISTORISCHEN KOMMISSION ZU BERLIN BEIM

FRIEDRICH-MEINECKE-INSTITUT

DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN

B A N D 14

Walter de Gruyter & Co.

]. Guttentag,

vormals G. ]. Göschen'sche • Georg Reimer Verlagsbucbhandlting

Berlin

1964

Verlagshandlung • Karl ]. Trübner

• Veit & Comp.

ERNST

KAEBER

BEITRÄGE Z U R BERLINER G E S C H I C H T E Ausgewählte Aufsätze

Mit einem Vorwort von JOHANNES SCHULTZE

Bearbeitet und mit einer biographischen Darstellung versehen von WERNER VOGEL

Walter de Gruyter & Co.

vormals G. J. Göscben'sche V erlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.

Berlin 1964

© Ardiiv-Nr. 47 59 64/4 Copyright 1964 by Walter de Gruyter Sc C o . • vormals G. J . Gösdien'sdie Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & C o m p . Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — audi auszugsweise — vorbehalten. Satz und Drudt: Thormann & Goetsch, Berlin 44.

VORWORT Die hervorragenden Leistungen des namhaften Berliner Stadtarchivars Ernst Fidicin schufen nicht allein auf dem Gebiet der städtischen Lokalgeschichte, sondern auch auf dem der allgemeinen brandenburgischen Landesgeschichte vornehmlich durch Erschließung der quellenmäßigen Überlieferung eine Tradition wissenschaftlicher Forschung f ü r alle Inhaber dieses städtischen Amtes. Sie wurde von seinem Nachfolger Paul Clauswitz weitergeführt und dem ihn ablösenden jungen preußischen Archivassistenten Ernst Kaeber zu einer seiner schönsten und selbstverständlichen Pflichten, so daß man von ihm die Abfassung einer den wissenschaftlichen Anforderungen der Zeit entsprechenden Geschichte Berlins erwartete. Ernst Kaeber war die denkbar geeignetste Persönlichkeit für die Lösung einer solchen Aufgabe. Wenn ihm auch als Stadtarchivar die Neuorganisation des städtischen Archivwesens zunächst im Vordergrunde seiner Tätigkeit stehen mußte, so war die wissenschaftliche Aufgabe des Stadthistorikers für ihn nicht minder anziehend, der er sich, mit allem Rüstzeug quellenkritischer Forschung versehen, mit rastlosem Eifer widmete. Seine zahlreichen Aufsätze geben eindrucksvoll Zeugnis von seinem Bemühen, in alle Perioden und Probleme der Vergangenheit des Berliner Raumes einzudringen und feste Grundlagen f ü r eine Gesamtdarstellung der Geschichte Berlins zu schaffen. Die vom Naziregime verhängte sinnlose Amtsentsetzung Kaebers hat alle seine diesbezüglichen Pläne zerschlagen. Es wurde ihm dadurch nicht allein die Möglichkeit genommen, seine Forschertätigkeit mit einem zusammenfassenden vorbildlichen Werk zu krönen, sondern auch der landesgeschichtlichen Forschung die Frucht eines langjährigen Gelehrtenfleißes vorenthalten, an deren Ausreifen die größten Erwartungen geknüpft waren. Angesichts der Versündigung gegenüber der Person von Ernst Kaeber wie gegenüber den Interessen der Wissenschaft ist es eine Ehrenpflicht und zugleich eine lohnende Aufgabe der landesgeschichtlichen Forschung, die zerstreut veröffentlichten und vielfach unzugänglich gewordenen Aufsätze aus seiner Feder in einer Auswahl einem weiten Interessentenkreis zugänglich zu machen. Wenn die Historische Kommission zu Berlin beiden Motiven durch die Herausgabe der vorliegenden Samm-

VI

Vorwort

lung gerecht zu werden versucht, so geschieht dies nicht allein in Anerkennung des unvergänglichen hohen wissenschaftlichen Wertes dieser Arbeiten, sondern zugleich als Ehrung ihres zu früh von uns geschiedenen, allseitig hoch geschätzten Mitgliedes und Mitarbeiters. Die Historische Kommission ist Herrn Dr. Werner Vogel für die Besorgung der Ausgabe und die biographische Darstellung Ernst Kaebers verpflichtet. Besonderer Dank gebührt Frau Friedel Kaeber für ihre unermüdliche Mitwirkung bei der Bearbeitung der Texte und beim Lesen der Korrekturen. Berlin-Lichterfelde, im Juni 1964

Im Auftrage der Historischen Kommission

Prof. Dr. Johannes



Berlin

Schnitze

INHALT VORWOBT von Johannes Schultze ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Die Gründung Berlins und Cöllns ( 4 1 ) *

V VIII

1

„Der Berlin" (67)

27

Die Siedlung um St. Nikolai und der Ursprung Cöllns (83)

34

Die Berliner Juden im Mittelalter (52)

46

Der „Berliner U n w i l l e " und seine Vorgeschichte (53)

60

Die Stadt Berlin zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Zugleich eine Besprechung der Ausgabe der ältesten Kämmerei-Rechnungen Berlins durch Joseph Girgensohn (56)

119

Vormärzlicher Liberalismus in Berlin (19)

144

Bodelschwingh und die Berliner Märzrevolution (16)

160

Die Epochen der Wirtschaftsgeschichte Berlins (72)

181

Die Epochen der Finanzpolitik Berlins 1 8 0 8 — 1 9 1 4 (35)

190

Werner Hegemanns W e r k : „Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der W e l t " oder: Der alte und der neue Hegemann (55)

204

Das Weichbild der Stadt Berlin seit der Steinsdien Städteordnung (47)

234

Ernst Kaeber, Leben und W e r k . Von W e r n e r Vogel

377

BIBLIOGRAPHIE ERNST K A E B E R

386

* Die Zahlen in den Klammern bezeichnen die laufenden Nummern der Bibliographie Ernst Kaeber, S. 3 8 6 ff.

ABKÜRZUNGEN Aa.

=

Akten

ADB

=

Allgemeine Deutsche Biographie

AFU

=

Archiv für Urkundenforschung

BT

=

Berliner T a g e b l a t t

BUB

=

Berliner Urkundenbudi

FBPG

=

Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte

G . St. A.

=

Geheimes Staatsarchiv (in Berlin)

Hans. Gesch.-Bl.

=

Hanische Geschichtsblätter

Mitt./Schr./Jb. V . G . Berlins

=

Mitteilungen bzw. Schriften bzw. Jahrbuch des Vereins für die Geschichte Berlins

HZ

=

Jb.

=

Historische Zeitschrift Jahrbuch

St. A .

=

Stadtarchiv (Berlin O s t )

UB

=

Urkundenbudi

VGB

=

Verein für die Geschichte Berlins

Zs.

=

Zeitschrift

Ztg.

=

Zeitung

Die nachfolgend veröffentlichten Aufsätze sind unveränderte Nachdrucke. Lediglich die Schreibweise der Namen und die Abkürzungen wurden möglichst vereinheitlicht; offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend berichtigt. Zusätze und Anmerkungen des Bearbeiters wurden in eckige Klammern

gesetzt.

Sie sollen dem Leser Hinweise auf anderweitige Arbeiten Kaebers zum selben T h e m a geben bzw. weiterführende neuere Veröffentlichungen und kritische Stellungnahmen angeben, ohne daß hierbei Vollständigkeit angestrebt wurde.

Die Gründung Berlins und Cöllns I

Der Ursprung der Städte Berlin und Cölln ist, da Gründungsurkunden nicht erhalten sind, nur auf dem Wege der historischen Kritik aufzuhellen. Ohne Hilfe von Hypothesen ist der Natur der Sache nach nicht auszukommen. Was man von ihnen verlangen muß, ist, daß sie unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Momente aufgestellt werden. In neuerer Zeit ist über die Entstehung Berlins und Cöllns mehrfach gehandelt worden. Dabei ist aber das Problem nur selten von allen Seiten beleuchtet, meist nur von einzelnen Gesichtspunkten aus betrachtet worden. Trotz der wertvollen Untersuchungen Krabbos über Berlins, Clauswitz' über Cöllns Anfänge 1 dürfte es sich lohnen, noch einmal die Frage aufzurollen und zu versuchen, sie ihrer Lösung soweit näher zu bringen, wie dies nach Lage der Umstände möglich ist. Der beste Weg für die Untersuchung wird der sein, zunächst die neuere Literatur einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und dann zu einer positiven Zusammenfassung zu schreiten. Vorher rufen wir uns kurz die bekannten wenigen chronikalischen und urkundlichen Zeugnisse über die Anfänge Berlin-Cöllns ins Gedächtnis. Die etwa 1280 verfaßte Chronica principum saxoniae berichtet: „Postquam autem adolevissent... terras et reditus ampliaverunt, fama, gloria et potentia excreverunt. A domino Barnem terras Barno1

Krabbo, Die Städtegründungen der Markgrafen Johann I. und O t t o I I I . von

Brandenburg. A F U I V (1912), S. 255 ff., bes. S. 2 5 7 - 5 9 . — Clauswitz, Das Stadtbuch des alten Köln an der Spree. Berlin 1921 ( = Schr. V . G. Berlins 52). [Kiekebusch, Die Gründung Berlins. Stellungnahme zu dem Aufsatz D r . Kaebers. In: Brandenburgia 35, 1926, S. 33 u. 59. — Kiekebusch, Die ,Inseln' Berlin und Cölln. Ein siedlungsarchäologischer Beitrag zur Frage der Gründung Berlins. I n : Brandenburgia 36, 1927, S. 97. — Kügler, Zur Gründungsfrage von Berlin-Köln. In: Mitt. V. G. Berlins 1927, S. 128. — Die neuesten Stellungnahmen zu dieser Frage finden sich bei Joh. Schultze, R i x d o r f Neukölln, Berlin 1960. — J . Schultze, Die Mark Brandenburg, Bd. 1, Berlin 1961, S. 128 lf. — B . Schulze, Berlins Gründung und erster Aufstieg. I n : Berlin. Neun Kapitel seiner Geschidite, Berlin 1960. — B. Schulze, Berlin und Cölln bis zum 30j. Krieg. I n : Heimat chronik Berlin. Köln 1962. — Erwin Reinbacher, Die älteste Baugeschichte der Nikolaikirche in Alt-Berlin 1963.] 1

Kaeber

2

Die Gründung

Berlins und

Cöllns

nem et Teltowe et alias plures obtinuerunt, Ukaram terram usque in Walsene fluvium emerunt. In Hartone castra et advocacias comparaverunt. Berlin, Struzeberch, Vrankenvorde, Novum Angermunde, Stolp, Livenwalde et Stargarde, Novum Brandenburch et alia loca plurima exstruxerunt et sie deserta ad agros reducentes bonis omnibus habundaverunt" 2 . Durch eine Urkunde vom 7. März 1232 bestimmen die Markgrafen Johann I. und Otto III., daß alle Städte im Lande Teltow, im Glin und in dem neuen Lande Barnim ihr Recht von Spandau erhalten sollen. Am 28. Oktober 1237 wird zum ersten Male ein Pfarrer Symeon de Colonia erwähnt; 1244 erscheint derselbe als Propst von Berlin, ebenso 1245. 1247 wieder heißt er Propst von Cölln bei Berlin. Im gleichen Jahre erscheint der Schulze Marsilius von Berlin, der auch 1253 wieder vorkommt. Daß Berlin Stadt war, ist aus der Erwähnung eines Propstes mit größter Wahrscheinlichkeit für das Jahr 1244, mit Sicherheit erst aus der Urkunde vom 18. Januar 1251 zu schließen, in der die Stadt Prenzlau Zollfreiheit wie Brandenburg und Berlin erhielt. Cölln erscheint als Stadt urkundlich erst 1261. II Im 25. Jahrgang der „Brandenburgia" (1916) hat Albert Kiekebusch es unternommen, in einem Aufsatz „Die Berliner Hufen" den Nachweis zu führen, daß Berlin aus einem deutschen Dorf entstanden sei. Der Aufsatz geht auf Untersuchungen über die Besiedlung des unteren Spreetals zurück, deren Resultate Kiekebusch im Jahre vorher in der Zeitschrift für Ethnologie, 47. Jahrgang, 100—107, veröffentlicht hatte 3 . Kiekebusch weist darauf hin, daß im Mittelalter bei Dorfgründungen darauf gesehen wurde, daß jedes Dorf genügenden und geeigneten Landbesitz erhielt, um den für die Ernährung seiner Bewohner notwendigen 2 Clauswitz, a. a. O. S. 2, hebt hervor, die Chronik bezeichne diese Gründungen als castra, advocacias und loca, nicht als oppida oder civitates. Das ist richtig, doch beziehen sich die Worte castra und advocacias nur auf die Gründungen im Harz. Die mit Namen genannten Orte sind sämtlich im 13. Jahrhundert Städte, auch Stolp; vgl. die Urkunde der Markgrafen Otto und Conrad vom 1. N o v . 1286 für die burger des staddeins Stolpe (Riedel A X I I I , S. 319). Mit dem Ausdruck loca sollen eben nur diese Städte und die sonst noch gegründeten Städte, Dörfer und Klöster zusammengefaßt werden. 3 [Gegen Kaebers Auffassung äußert sich H . Jahn, Bilder aus der Berliner Feldmark. In: Sehr. V. G. Berlins 58, 1940.]

Die Gründung Berlins und Cöllns

3

Ackerbau zu treiben. Deshalb seien die deutschen Dörfer im unteren Spreetal so angelegt worden, daß ihr Ackerbesitz auf den fruchtbaren Höhenplateaus des Barnim oder des Teltow lag. Ortschaften, die keinen derartigen Ackerbesitz ihr eigen nennen, sondern ganz auf das Spreetal angewiesen sind, wie Lützow, Stralau, Cöpenick, Rahnsdorf, verraten schon dadurch ihren wendischen Ursprung. Städte, die einen Hufenbesitz auf dem fruchtbaren Hochplateau haben, sind, so folgert Kiekebusch weiter, aus deutschen Dörfern erwachsen; Städte, die keinen solchen Besitz haben, aus wendischen Dörfern. Ein Beispiel für das eine sei Berlin, für das andere Cölln. Für Berlin sucht Kiekebusch diese Annahme im einzelnen näher zu erweisen. Er geht dabei von den Angaben des Berliner Stadtbuches aus dem Ende des 14. Jahrhunderts und von der Separation der Berliner Hufen im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts aus. Er zeigt, daß das Berliner Hufenland auf dem fruchtbaren Geschiebemergel des Barnimplateaus lag und sich nur durch seinen etwas größeren Umfang von der Ausstattung der deutschen Dörfer des unteren Spreetals, Lichtenberg, Friedrichsfelde, Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Dalwitz unterschied. Die Nordgrenze der Feldmarken aller dieser Dörfer wie die des Berliner Hufenlandes lief nach Kiekebusch parallel dem Südrand der Barnimhochfläche; alle Dorfmarken reichten als Streifen von hier bis in das Urstromtal hinunter und ihre Ost- und Westgrenzen bildeten fast genau Parallelen, so daß man schließen muß, daß eine gleichmäßige Aufteilung des Grund und Bodens dieser Dörfer und Berlins stattgefunden hat. Diese Beobachtung mag an sich völlig richtig sein — sie beweist keineswegs, daß Berlin nicht von vornherein als Stadt geplant worden ist. Wenn Kiekebusch darin, daß „Berlin zur Zeit der Kolonisation genau so behandelt" worden ist wie die Dörfer der Umgegend (S. 118), einen Fingerzeig dafür erblicken sollte, daß Berlin ursprünglich auch nur ein Dorf war, so wäre das ein Irrtum. Wir wissen ja, daß aus wilder Wurzel gegründete Städte, deren Gründungsurkunden erhalten geblieben sind, ebenso eine Ausstattung an Land bekommen haben, wie die Dörfer ihrer Umgebung 4 . Kiekebusch hat denn auch versucht, seine Ansicht mit weiteren Argumenten zu stützen. Er weist darauf hin, daß auch die Berliner Pfarrkirche nur mit 4 Hufen dotiert war wie die anliegenden dörflichen Pfarrkirchen. Daraus sind aber keine Schlüsse auf die Entstehung Ber4 Im einzelnen gerade für die märkischen Städtegründungen nach Erwerbung des Barnim und Teltow von Krabbo, a. a. O., nachgewiesen.

l*

4

Die Gründung

Berlins

und

Cöllns

lins als Dorf zu ziehen. Es genügt, auf den Vertrag vom 28. Oktober 1237 hinzuweisen, in der die solange strittige Zehntfrage für die neuen Lande der Diözese Brandenburg geordnet wurde. In diesen werden jeder Kirche mindestens 4 Hufen bestimmt, ohne daß irgendein Unterschied zwischen Dörfern und Städten gemacht würde. So hat auch Cölln, das, wie unten gezeigt werden wird, von vornherein als deutsche Stadt gegründet worden ist, vier Pfarrhufen gehabt5. Auch in Frankfurt a. O., das 1253 mit Berliner Stadtrecht bewidmet wurde, wurde die Pfarrstelle mit 4 Hufen ausgestattet. Die Hufenzahl ging mit 120 erheblich über die der Spreetaldörfer hinaus. Um seine Ansicht von Berlins Enststehung aus einem Dorf aufrecht erhalten zu können, muß Kiekebusch daher eine Vergrößerung der ursprünglichen Dorfflur annehmen. Er schließt sich der Ansicht Fidicins an, daß Berlin bei seiner Erhebung zur Stadt mit der Flur des deutschen, westlich von Berlin gelegenen Dorfes Wedding ausgestattet wurde 8 . Daß ein Dorf Wedding bestanden hat, ist nicht zu bezweifeln; ebensowenig, daß es schon sehr früh aufgehört hat, zu bestehen. In zwei Urkunden vom 22. Mai 1251 übertragen die Markgrafen Johann I. und Otto III. dem Spandauer Jungfrauenkloster das Eigentum an einer Mühle, die ihm der Ritter Fridericus de Kare verkauft hatte: „quoddam molendinum in terminis ville, que Weddinge vocabatur, in rivo, qui Pankowe dicitur, constitutum" 7 . Also schon 1251 bestand das Dorf Wedding nicht mehr. Daß es ein deutsches Dorf war, wird man aus seinem Namen folgern müssen. Ob der Bullenwinkel, der Upstall und die Kirchheide, die später auf dem Gebiete Berlins westlich der Panke nachweisbar sind, wirklich, wie Kiekebusch meint, an das verschwundene Dorf Wedding erinnern, mag fraglich sein, es kommt auch nicht darauf an8. Ganz auf das Gebiet der Hypothese begibt sich Kiekebusch aber, wenn er annimmt, daß die 4 Hufen, die später auf der Berliner Feldmark den Hospitälern vom Heiligen Geist und von St. Georg gehörten, die ursprünglichen Pfarrhufen des Dorfes Wedding waren. Sie können ebensogut auf Schenkungen beruhen. Übrigens besaß das Heilige GeistHospital auch den Zins von 14 Hufen in Cölln. 5

Clauswitz a. a. O. S. 5. Auch Schmitt: Das Recht der Gründung u. Ausstattung v. Kirchen im kolon. Teil der Magdeburger Kirchenprovinz im Mittelalter, Weimar 1924, wendet sich auf S. 170 f. gegen diesen Schluß Kiekebusths. « Fidicin, Hist.-dipl. Beiträge z. Geschichte Berlins. 5. Teil. Berlin 1842 S. X X I ff. 7 Riedel A XI, Nr. 3. 8 Für die Kirchheide gibt Fidicin, a. a. O. S. XXVIII, übrigens eine andere Erklärung. Den Upstall bezieht er auf das Dorf Wedding; a. a. O. S. X X I X .

Die Gründung

Berlins und

Cöllns

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Das eigentlich Neue, das Kiekebusch bringt, besteht darin, daß er zeigen zu können glaubt, daß die ursprüngliche Grenze zwischen den Dörfern Berlin und Wedding mitten durch die spätere Feldmark der Stadt Berlin ging, und daß nicht nur damit die Existenz dieser beiden Dörfer, sondern daß auch die zu ihnen gehörenden Ritterhöfe nachweisbar sind. Wäre ihm auch nur einer dieser Nachweise geglückt, dann würde seine These, daß Berlin als Dorf gegründet, und daß ihm bei seiner Erhebung zur Stadt das Dorf Wedding einverleibt worden sei, kaum zu erschüttern sein. Das Vorwerk Niederschönhausen, „von den Berliner Geschichtsforschern zu allen Zeiten stiefmütterlich behandelt oder ganz übersehen" (S. 124), ist es, in dem er den Zeugen der dörflichen Vergangenheit Berlins entdeckt. Es entpuppt sich ihm als das alte „Ritterland" des Dorfes Berlin, „das mit dem dazugehörigen „alten Hofe" in der Klosterstraße und nach dessen anderweitiger Verwendung und Verlegung als „Neuer Hof" dauernd im Besitz des Landesherrn verblieb." Ohne auf die seltsame Rolle näher einzugehen, die Kiekebusch hier den „alten" und den „neuen" — übrigens nie als landesherrlich nachweisbaren — Hof spielen läßt, wenden wir uns den Gründen zu, die er für seine alle bisherige Forschung umstoßende Vermutung geltend macht. Er führt für sie an, daß das Vorwerk Niederschönhausen ursprünglich Besitz in allen 3 Feldern der Berliner Feldmark hatte, und daß nach seiner schon 17789 erfolgten Separation von der noch jahrzehntelang unsepariert bleibenden städtischen Feldmark seine Hufen „gerade zwischen den beiden Teilen der Berliner Feldmark" lagen (S. 125) und so die Hufen des ehemaligen Dorfes Wedding von denen des ehemaligen Dorfes Berlin trennten. Daß bei der Separation die Ziehung der Vorwerksgrenzen „von irgendwelchen alten Grenzen beeinflußt wurde", sieht er durch die Flurkarte vom Jahre 1770 bestätigt, nach der die Westgrenze des Vorwerks mit der „ganz gewiß uralten Grenze zwischen dem Pankower und dem Breiten Felde" zusammenfiel. So bestimmt das vorgebracht wird, es läßt sich weder mit den Akten, noch mit der Karte vereinen. Die von Kiekebusch zitierte Flurkarte von 1770 ist mir zwar nicht zugänglich, wohl aber der „Plan von der Berliner Feldmark vor der Schönhauser Landwehr, so wie selbige in ihren Scheidungen und Grenzen belegen. Ist vermessen anno 1773 durch Neubert" in der Berliner städtischen Plankammer. Nach dieser Karte, nach dem „Einteilungsregister von sämtlichen vor der Schönhauser Landwehr befindlichen kultivierten Acker . . . eingeteilet im Monat May und 9

Nicht 1780.

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Die Gründung

Berlins und Cöllns

Juny 1778 durch Schroeder sen.", sowie nach dem Separationsrezeß vom 31. Mai 177810 wird die Westgrenze des neuen separierten Vorwerkslandes nicht durch die Grenze zwischen dem Pankowschen und dem Breiten- oder Mittelfelde der Feldmark gebildet. Es gehören vielmehr zu dem Vorwerkslande vom Pankowschen Felde die Hufen Nr. 113—119 (113 Morgen 32 QRuten) und von den zu diesem Feld gehörigen Hufen an der Pankowschen Grenze noch 22 Morgen 85 QRuten, ferner von den Hufen im Mittelfeld die Nummern 1 bis 17 (256 Morgen 169 QRuten), im Lichtenbergschen Felde von den „kurzen Stücken" Nr. 1 bis 17 (50 Morgen 123 QRuten) und von den Lichtenbergschen Hufen Nr. 1 und 3, dazu noch verschiedene kleinere Ackerund Weinbergstücke. Es kann also keine Rede davon sein, daß hier bei der Bildung des separierten Vorwerkslandes irgendwelche alten Grenzen beobachtet worden seien. Damit schwindet die wichtigste der Voraussetzungen, von denen aus Kiekebusch den Umfang des Dorfes Wedding, das nach ihm also mit dem Pankowschen Feld der Berliner Feldmark identisch ist, auf 40 bis 45 Hufen beredinen will. Aber er glaubt, für die Richtigkeit seiner Berechnung einen urkundlichen Beweis aus dem von Riedel veröffentlichten Visitationsprotokoll vom Jahre 1541 bringen zu können, wo es bei Panckow heiße: „ . . . X X I I I gr. vom Wedding, gibt der rath zu Berlin, hat X X X V I I I hufen vor diesem dorffe". „Diese 38 Hufen," meint Kiekebusch, „können schwerlich etwas anderes als die ehemalige Weddinger Dorffeldmark sein, die Berlin erhalten hat" (S. 126). Mit diesem Zitat ist Kiekebusch indessen ein Versehen passiert. Der Pankow betreifende Text des Visitationsprotokolls lautet nämlich folgendermaßen: „Panckow . . . hat ein pfarhauss, dotzu gehorn IUI hufen. Wan die aussgethan tragen sie II w. halb rocken halb hafern, hat IUI wiesen, hat kabelholtz, X X I I I I gr. vom Wedding: gibt der rath zu Berlin; hat X X X V I I I hufen vor diesem dorffe, hat die pfar von jeder hufen 1 scheffel..."". Daß mit diesen 38 Hufen die Feldmark des Dorfes Pankow und nicht die des ehemaligen Dorfes Wedding gemeint ist, hätte Kiekebusch nicht entgehen sollen! Offenbar ist er durch den Ausdruck „vor diesem dorffe" irregeführt worden. Aber er hätte nur sich etwa die beiden ersten Eintragungen über Rosenthal und Reinickendorf anzusehen brauchen, um zu erkennen, daß sehr häufig die Hufen von Dörfern als „vor" diesen liegend bezeichnet werden. 10 Geh. St.-A., Pr. Br., Rep. 30 Berlin. B. Regierung zu Berlin. Tit. 40, sect. 3, Lit. Zd, Nr. 9, vol. II, Bl. 40 ff. 11 Riedel A X I , Nr. 477.

Die Gründung

Berlins und

Cöllns

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Ausschlaggebend für Kiekebuschs Hypothese wird es sein, ob sich seine Ansicht über das Vorwerk Niederschönhausen als stichhaltig erweisen läßt. Kiekebusch hat es bedauert, daß das Vorwerk Niederschönhausen so wenig Interesse bei den Berliner Historikern gefunden hat. Leider hat er selbst sich nicht genügend bemüht, dem Ursprünge des Vorwerks auf den Grund zu kommen. Es hätte ihn schon stutzig machen müssen, daß nach dem Berliner Stadtbuch vom Ende des 14. Jahrhunderts alle 120 Hufen der Berliner Feldmark mit Ausnahme der Propstei- und Hospitalshufen der Stadt zinspflichtig waren. Er selbst zitiert zwar diese Bestimmung des Stadtbuches (S. 114) und folgert weiter, daß bei der Separation der Berliner Hufen im Jahre 1822 deshalb nur noch 110 Hufen vorhanden waren, weil damals die Hufen des Vorwerks Schönhausen fehlten12. Unerklärlich bleibt hier nur, daß nach dem Stadtbuch sämtliche Hufen außer den geistlichen der Stadt zinsbar waren. Kiekebusch wird doch nicht annehmen wollen, daß die Hufen des landesherrlichen Gutes Berlin der Stadt Zins zahlten. Folglich kann seine Ansicht nicht richtig sein. Das Stadtbuch schließt die Existenz eines landesherrlichen Besitzes auf der Stadtflur aus. Dies Ergebnis wird durch eine nähere Untersuchung der Geschichte des Vorwerks bestätigt. Dieses ist nämlich erst im 16. und 17. Jahrhundert entstanden. Es ist hier nicht der Ort, auf Einzelheiten einzugehen; es genügt, wenn folgendes auf Grund der Akten gesagt wird13: Das Vorwerk, das im 18. Jahrhundert den Namen „Vorwerk Niederschönhausen" führte, hieß ursprünglich „Vorwerk vor dem Spandauer Tor". Es war eine Besitzung, die in dem Umfang, in dem sie von der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts an uns begegnet, teils vom Großen Kurfürsten seiner ersten Gemahlin, Luise Henriette von Oranien, geschenkt, teils von ihr käuflich erworben worden war. Mit dem Ausdrucke „Vorwerk" bezeichnete man damals einen ländlichen Besitz kleineren oder größeren Umfanges. Ein sehr charakteristisches Beispiel dafür bietet das „Aufgabebuch" der Stadt Cölln aus den Jahren 1637—1665 (im Stadtarchiv Berlin). Dort heißt es zum Jahre 1653, „daß in der Woche 12

Die Frage, ob Berlin ursprünglich 120 oder 124 Hufen Ackerland hatte, hat für unsere Untersuchung keine Bedeutung. 13 Neben einzelnen Aktenstücken des Hausardiivs (Rep. X X X I V , Nr. 1, Rep. X X X V , Nr. 2) kommen vor allem im Geh. Staatsarchiv Rep. 21, Nr. 192, und Pr. Brand. Rep. 2 Kurm. Kammer, Ämtersachen, Amt Schönhausen, in Frage. Vgl. audi (v. Raumer) Der Tiergarten bei Berlin, seine Entstehung und seine Schicksale. Berlin 1840 S. 5 f. und S. 22.

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Die Gründung

Berlins und

Cöllns

vor Ostern der unmündige Sohn des Dr. Samuel Hoffmann dem Bürger und Gastwirt Georg Lowe sein vor dem Gertraudtentor unter der Jurisdiktion des Rates gelegenes Vorwerk" verkauft habe. Auf diesem stand nicht mehr als eine Scheune, und es gehörten dazu nebst dem daselbst herumliegenden und umzäunten Acker 2 „Knopfenden" nach der Landwehr zu und eine Wiese, die schon sein Vater besessen hatte. In dem Aufgabebuch ist das Wort „Vorwerk" über das durchgestrichene Wort: „ackerhof" gesetzt, mit dem also zuerst dieses Besitztum bezeichnet werden sollte. Ein Vorwerk ist in der Tat nichts als ein Hof, von dem aus Landwirtschaft getrieben wird. Das Wort wird im 16. und 17. Jahrhundert auch gleichbedeutend mit „Meierhof" gebraucht. So heißt es im Erbregister des Amtes Mühlenhof von 1591: Zum Amt Mühlenhof gehören „zwe vorwerker oder meyerhoffe", nämlich Schöneberg und Wilmersdorf. Landbesitz auf der Cöllner wie der Berliner Stadtflur haben die Brandenburgischen Kurfürsten schon früh erworben. Es wäre eine lohnende Aufgabe, einmal die Entstehung dieses Besitzes näher zu verfolgen14. Auf Berliner Gebiet hat am 11. November 1661 die Kurfürstin Luise Henriette 4 Hufen und 4 Wiesen Landes gekauft, die zu der Meierei oder dem Vorwerk vor dem Georgentor gehörten und 1643 in den Besitz des Obersten Hans Wulf v. d. Heiden gekommen waren. Die Meierei als solche hatte 1661 dadurch ihren Wert verloren, daß die Gebäude für den Festungsbau eingezogen worden waren. Außerdem hatte die Kurfürstin vor dem Spandauer Tor mancherlei Besitz erworben. Sie hatte dazu durch ihren Gemahl, den Kurfürsten Friedrich Wilhelm, im Mai 1657 einen Garten vor dem Spandauer Tor hart am Stadtgraben geschenkt bekommen. Dies war derselbe Garten, den schon 1545 Joachim II. von dem Berliner Bürger Joachim Harckstrow für 260 Gulden gekauft hatte 15 . Vor dem Spandauer Tor legte die Kurfürstin ein Vorwerk neu an, das nach ihrem Tode der Große Kurfürst an sich nahm, um es am 8. Februar 1670 seiner zweiten Gemahlin Dorothee zu schenken. Zu diesem Vorwerk, das damals verpachtet war, gehörten 6 Hufen Landes, ein Garten, ein Weinberg, eine Ziegelscheune, einige Wiesen, eine Schäferei, ein Krug und mehrere nach der Stadt zu errichtete Buden. Nach dem Tode des Großen Kurfürsten machte sein Nachfolger Friedrich, als Sohn der Kurfürstin Luise, Anspruch auf das Vorwerk, das ihm auch von seiner 11 Wertvolle Vorarbeiten dazu enthält die kleine, aber inhaltreidie Schrift v. Raumers über den Tiergarten. 15 G. St. A. Rep. 21, 23 a.

Die Gründung Berlins und Cöllns

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Stiefmutter ebenso wie das Vorwerk im Tiergarten überlassen wurde. Auch dieses besaß mehrere Hufen, ohne daß wir deswegen daran denken dürften, in ihm ein altes Rittergut zu sehen. Friedrich III. schenkte 1691 das Vorwerk seiner Gemahlin, die es unter anderem durch Ankauf einer Hufe im Jahre 1702 vergrößerte. Nach dem Tode der Kurfürstin (1705) kam das Vorwerk, wie es in dem Schenkungsvertrag schon bestimmt worden war, wieder in den Besitz des nunmehrigen Königs Friedrichs I. Er beschloß, es zu verkaufen, die „dabei vorhandenen Äcker und Wiesen aber zu einem anderen Behufe vorzubehalten". Das Vorwerksgelände kaufte der Oberkämmerer Graf v. Wartenberg und legte dort einen Garten und ein Schloß an, das durch seine nachmalige Besitzerin, die Kronprinzessin und spätere Königin Sophie Dorothee, den Namen Monbijou erhielt. Äcker und Wiesen hatte der König zunächst mit dem Tiergartenvorwerk verbinden wollen; doch ergaben sich dabei Schwierigkeiten, so daß die zum Vorwerke vor dem Spandauer Tor gehörigen Ländereien wieder zusammengelegt und das Vorwerk selbst nach der Schönhauser Straße verlegt wurde. Es war Anfang 1710 fertig. Die Ländereien waren 1706 ausgemessen worden. Das Ackerland betrug danach 134 Morgen 62 QRuten und lag zu ungefähr gleichen Teilen in allen drei Feldern. Wieviel Hufen es enthielt, ist aus dem Verzeichnis nicht genau zu erkennen. Das Vorwerk, das fürs erste trotz seiner Verlegung noch den Namen „vor dem Spandauer Tor" behielt, wurde 1719 an den Amtmann des Kgl. Amtes Niederschönhausen verpachtet. In dem Pachtvertrag werden als zu der „Kgl. Meierei vor dem Spandauer Tor" gehörig aufgezählt „11 Ritterhufen, so unter dem Bürgeracker vermengt liegen". Diese Hufen sind zweifellos die ursprünglichen sechs des Vorwerks, die 1702 dazu gekaufte 1 Hufe und die 4 Hufen des als solches eingegangenen Vorwerks vor dem Georgentor. Zu seiner Bestellung waren 8 Bauern und 3 Kossäten zu Diensten verpflichtet. Der Ausdruck „Ritterhufen" könnte irreführen und es so erscheinen lassen, als ob es sich hier wirklich, wie Kiekebusch, freilich ohne Kenntnis dieser Akten, annahm, um ein altes Rittergut handele. Davon kann natürlich gar keine Rede sein. Es bedeutet der Ausdruck nur, daß diese Hufen dadurch, daß sie in den Besitz des Landesherrn gekommen waren, von den üblichen Abgabeverpflichtungen an die Stadt befreit waren. Die Jurisdiktion des Magistrats über Ackerangelegenheiten der Vorwerkshufen wurde übrigens nicht aufgehoben. Ein Reskript des Generaldirektoriums vom 22. November 1753 gibt darüber erwünschte Auskunft. Der Magistrat hatte sich

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Die Gründung Berlins und Cöllns

über den Meiereipächter Welle beschwert, weil dieser sich seiner Jurisdiktion entziehen wolle. Die Kriegs- und Domänenkammer hatte daraufhin die Ansicht vertreten, da die Meierei unstreitig ein Domänenstück sei, könne der Pächter nur vor ihr belangt werden. Das Generaldirektorium entschied dementgegen, daß der Pächter nur ratione personae und in Pachtsachen unter der Kammer stände, in Fällen wie dem in Rede stehenden aber unter dem Magistrat, „weilen ihm die Jurisdiction über die ganze Feldfläche der Meierei competiret". Daß der Ausdruck „Rittergut" im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur für Güter gebraucht wird, die schon im Mittelalter Lehnsqualität besaßen, geht übrigens auch aus einem anderen Beispiel hervor. Die Stadt Berlin betrachtete sich jahrzehntelang als Besitzerin eines Ritterguts Treptow, „wenngleich die formellen Unterlagen für die Eigenschaft der Stadt als Besitzerin eines Rittergutes Treptow durchaus fehlten" 16 . Wie schon erwähnt, wurde das Vorwerk in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts separiert. Den Vorarbeiten für die Separation verdankt die Neubertsche Karte vom Jahre 1773 ihre Entstehung. Ende des 18. Jahrhunderts war es an den Stadtpräsidenten v. Eisenhart verpachtet. Auf einer Karte dieser Zeit wird es als „Eisenharts Meierei" bezeichnet, während es auf früheren Karten, etwa der von Johann Friedrich Walter (1737) oder auf dem Schmettauschen Plane von 1749 als „Kgl. Meierei" bezeichnet wurde. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das Vorwerksland, das jetzt auch als „dominium Niederschönhausen" bezeichnet wurde", parzelliert und bebaut worden. Das Vorwerk Niederschönhausen scheidet also für die Begründung der Kiekebuschschen These, daß Berlin ursprünglich ein Dorf gewesen sei, aus. Bleibt als letztes Argument nur noch das an den Namen von Dorf und Hof Wedding geknüpfte übrig. Kiekebusch hat richtig erkannt, daß die Frage, was aus dem alten Dorf Wedding geworden ist, für die Erkenntnis der Anfänge Berlins von erheblicher Bedeutung ist. Sein Versuch, die Feldmark des Dorfes Wedding als den westlichen Teil der Berliner städtischen Feldmark, also als das später sogenannte erste oder Pankowsche Feld nachzuweisen, ist, wie oben gezeigt wurde, mißglückt. Aber wo ist das Dorf Wedding geblieben? Vielleicht darf man darüber eine andere Vermutung äußern. Am 14. August 1289 stellte Markgraf Otto III. der Stadt Berlin eine 16

Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Berlin von 1861—1876. Teil I,

S. 99. 17

So auf der Selterschen Karte von 1843.

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Urkunde über den Hof Wedding aus. Die wesentlichen Teile der Urkunde lauten in dem von Küster überlieferten lateinischen Texte: noverint universi . . . quod . . . nos ipsis civibus nostris in Berlin feodum verum et justum titulum feodi annexum curie Wedinge damus et dedimus perpetuis temporibus possidendum, transferentes in ipsos cives de Berlin et civitatem ipsam similiter omne jus et totam potestatem, quod et quam nos habuimus in feodo prenominato 18 . Über die Bedeutung dieser Urkunde sowie über den Umfang des damals überwiesenen Gebietes hat Clauswitz in seiner von K. scheinbar übersehenen Untersuchung „Die Pläne von Berlin und die Entwicklung des Weichbildes" (Berlin 1906) näher gehandelt. Der Landesherr überwies der Stadt das Gut Wedding, das bis dahin ein echtes Lehen war, als uneingeschränktes Eigentum, nachdem er es seiner Lehnseigenschaft entkleidet hatte. Das Gebiet dieses Gutes läßt sich zwar nicht mit voller Genauigkeit feststellen. Indessen spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß es die westlich der Panke gelegenen Teile der späteren Berliner Feldmark umfaßte", mit Ausnahme wohl eines breiteren Streifens zwischen der Spree und einer etwa der heutigen Turmstraße entsprechenden Linie. Dieses Gebiet, dessen Westgrenze wahrscheinlich noch etwas weiter reichte, als die spätere Westgrenze der Berliner Feldmark gegen die Jungfernheide, enthält, wenn man hier nur die spätere Stadtgrenze berücksichtigt, etwa 1340 ha. Vergleichen wir damit den Umfang der Berliner Spreedörfer! Lichtenberg hatte bei seiner Eingemeindung nach Groß-Berlin 1444 ha, zu denen man noch die 132 ha hinzurechnen muß, die 1878 an Berlin für die Anlage des Viehhofes abgetreten wurden. Friedrichsfelde hatte 1726, Weißensee 840, Pankow 629, Reinickendorf 1021ha. Die 1340 ha, die der 1289 an Berlin gekommene Gutshof Wedding mindestens umfaßte, stehen also nur dem Umfang von Lichtenberg und Friedrichsfelde nach, übertreffen den der drei anderen benachbarten Dörfer. Sollte die Vermutung zu gewagt sein, daß das ehemalige Dorf Wedding überhaupt nicht zur rechten Ausbildung gekommen, 18

Küster, Altes und neues Berlin. Teil IV, Sp. 3 f. Die Feldmark ist nicht mit dem Hufenland zu verwechseln, sondern sie umfaßte auch das Wiesen- und Heideland der Stadt mit. Der Ausdruck „Hufe", den das Berliner Stadtbuch vom Ende des 14. Jahrhunderts nur nodi auf das Ackerland bezieht, hatte übrigens im 13. Jahrhundert noch nicht diese eingeschränkte Bedeutung. Er bezeichnete vielmehr noch ein Flächenmaß, das ebenso auf Ackerland wie auf Wiesen Anwendung fand. So überweisen die erhaltenen Stadtprivilegien Johanns I. und Ottos III. den neugegründeten Städten gewöhnlich ausdrücklich eine bestimmte Anzahl H u f e n ad agros bzw. ad pascua. 19

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sondern sehr bald in ein markgräfliches Lehen umgewandelt und als Gutshof (curia) Wedding im Jahre 1289 an die Stadt Berlin gekommen ist? Dazu würde es durchaus passen, daß in der schon erwähnten Urkunde von 1251 der Ritter Friedrich v. Kare dem Jungfrauenkloster in Spandau seine Mühle im Gebiet des ehemaligen Dorfes Wedding übereignete. Schon damals besaß also ein Ritter eine Mühle, die innerhalb des Gebietes des früh wüst gewordenen Dorfes Wedding lag. Ganz undenkbar aber erscheint es, in dem 1289 von Berlin erworbenen H o f Wedding das Rittergut des schon bei der angeblichen Stadtwerdung des Dorfes Berlin diesem einverleibten Dorfes Wedding zu erblicken. D a ß das Dorf Wedding nicht zur Entwicklung kam, lag vielleicht daran, daß es meist wenig fruchtbares Heideland zugewiesen bekommen hatte. Dieser ganze große Komplex, den die Stadt Berlin 1289 unter dem Namen „Gutshof Wedding" erwarb, bestand zum größten Teil aus Heide, zu einem geringeren Teil aus Wiesen und nur aus verhältnismäßig wenig Ackerland 20 . Gegen die Annahme Kiekebuschs, daß in dem Pankowschen Feld der Berliner Hufen die Feldmark des Dorfes Wedding zu erblicken ist, spricht auch folgende Erwägung. Von den drei Feldern der Berliner Hufen, dem Pankowschen, dem Mittel- oder Breiten und dem Lichtenbergschen Feld, umfaßte das erste nach dem 1820 von Mencelius aufgenommenen Vermessungsregister rund 1545 Morgen, das zweite 1657 Morgen, das dritte 1615 Morgen. Hierbei ist das Gelände des Vorwerks Niederschönhausen nicht mit berücksichtigt. Rechnen wir zum Pankowschen Feld noch 135 ihm bei der Separation des Vorwerks abgenommene Morgen hinzu, dem Mittelfeld 256 Morgen und dem Lichtenbergschen Feld 54 Morgen, so erhalten wir für die 3 Felder: 1680 Morgen, 1913 Morgen, 1669 Morgen 21 . Nach Kiekebusch wären also auf die Feldmark des Dorfes Wedding — das Pankowsche Feld — rund 1680, auf das daneben liegende ursprüngliche Dorf Berlin gegen 3582 Morgen gekommen, eine unwahrscheinliche Annahme. 20

Vgl. Clauswitz, a. a. O., S. 7 2 f. Von dem Gebiet des Weddinglandes ist später

übrigens wieder ein Gutshof als Vorwerk Wedding abgetrennt worden, der im 19. Jahrhundert in den Besitz der Stadt gelangte. W i r brauchen hier nicht näher darauf einzugehen. 21

Die Zahlen sind nur annähernd genaue, doch tut ein Mehr oder Weniger von ein

paar Morgen bei einem der Felder nichts zur Sache.

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III Wenn Kiekebusch in Berlin ein deutsches Dorf sehen wollte, so betrachtete er Cölln als aus einem wendischen Dorf entstanden. Diese alte Theorie, die Kiekebusch nur ganz kurz mit der Lage der Cöllner Hufen im Spreetale statt auf der Teltowhodifläche begründete, war gleichzeitig von Robert Mielke wieder aufgenommen worden. Was er aber in seinem Aufsatze im Groß-Berliner Kalender für 1915 (S.78—83) dafür anführt, ist im Grunde nichts als eine Erweiterung eines Gedankens Fidicins22. Mit diesem teilt er das Mißverständnis dessen, was mit dem „Wortzins" im Berliner Stadtbuch gesagt werden soll. Er kommt so zu der Annahme, daß die 14 Cöllner Häuser, die nach dem Stadtbuch Wortzins gaben, den Kern des Dorfes Cölln gebildet hätten. Davon kann gar keine Rede sein. Ein Unterschied derart, daß der Wortzins von den ältesten Hofstätten, der Rutenzins, der ja nach dem Berliner Stadtbuch von einer Reihe anderer Cöllner Häuser gezahlt wird, von später angelegten Stadtteilen gezahlt wurde, hat nie bestanden. Auch die Deutung, die Mielke dem Ausdruck „wörte" oder „wurt", wie er sagt, gibt, trifft für Berlin und Cölln mindestens nicht zu. Es handelt sich keineswegs um Ländereien, die abseits vom Hofe „neben dem Dorf selbst mitten in der Dorfmark liegen", aber nicht unter Flurzwang stehen, sondern es handelt sich um Hofstellen. Auch für die Gründung eines deutschen Angerdorfes neben dem älteren wendischen Fischerdorf lassen sich keinerlei Beweise aus den Angaben des Stadtbuches folgern. Kiekebusch kam deshalb zu falschen Ergebnissen, daß er, von einer an sich beachtenswerten Beobachtung ausgehend, die geschichtlichen Quellen teils falsch auslegte, teils nicht in genügendem Maße heranzog. Dazu schaltete er Gründe aus, die für eine der seinen entgegengesetzte Auffassung sprechen konnten, allein von dem Bestreben geleitet, das für seine Ansicht Sprechende heranzuziehen. Hierzu führte ihn auch eine nicht genügende Kenntnis der Literatur über die Entstehungsgeschichte der deutschen Kolonialstädte im allgemeinen und der brandenburgischen im besonderen. Eine noch weit stärkere Vernachlässigung der Ergebnisse der bisherigen Forschung führte Mielke zu seinen unhaltbaren Aufstellungen. Wenn nicht die Gefahr bestände, daß diese weiter in die heimatkundliche Literatur übergingen, hätte überhaupt darauf verzichtet werden können, sich mit ihnen auseinander zu setzen. Kiekebusch hat nicht den Versuch gemacht, die Entstehungsgeschichte Berlin-Cöllns chronologisch in die Geschichte der Besiedlung des Teltow » A. a. O. S. X X I f.

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und Barnim einzuordnen. Wenn Berlin ein deutsches Dorf gewesen sein soll, das gleichzeitig mit den benachbarten Spreedörfern gegründet und erst später zur Stadt erhoben wurde, dann muß die Gründung dieser Spreedörfer in verhältnismäßig frühe Zeit gesetzt werden. Wenn in Cölln zunächst ein slawisches, dann ein deutsches Dorf bestanden haben soll, dann muß dieses letztere ebenfalls spätestens in die Zeit Albrechts II. gesetzt werden. Mielke hat infolgedessen das deutsche Dorf in die Zeit zwischen 1180 und 1210 setzen müssen. Dieser Ansatz wäre nur berechtigt, wenn vor Johann I. und Otto III. der Teltow kolonisiert worden wäre. Auch für das Dorf Berlin müßte man mindestens das erste oder zweite Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts als Gründungszeit annehmen. Damit kann sich nur der befreunden, der die Ausführungen von Passow über die Okkupation und Besiedlung des Barnim23 für beweiskräftig hält. Schärfer noch als Krabbo und Hoppe 24 dies getan haben, möchte ich Passows Hypothese ablehnen. Es kann kein Zufall sein, daß vom Ende der 30er Jahre an immer zahlreicher in den Urkunden Ortschaften im Teltow und Barnim auftauchen, d. h. erst in der Zeit, in der diese beiden Landschaften sich zweifellos im Besitz der brandenburgischen Markgrafen befanden. Nicht eine einzige Urkunde aus den vorangehenden Jahrzehnten nennt ein deutsches Dorf dieser Gegenden25. Zahlreich dagegen, wie erwähnt, begegnen sie namentlich von 1242 an, wie schon die Krabboschen Regesten bequem erkennen lassen. Wo urkundliche und chronikalische Überlieferungen so gut zusammenstimmen, wäre es methodisch durchaus verfehlt, auf Grund von Hypothesen eine Kolonisation des Teltow und Barnim in der Zeit vor der Mündigwerdung Johanns I. und seines Bruders anzunehmen. Dies müßte aber, wie gesagt, derjenige tun, der in Berlin und Cölln ursprünglich deutsche Dörfer sehen will, die erst später zu Städten erhoben worden sind. IV Anderen Charakter tragen die beiden Arbeiten, denen wir uns nunmehr zuwenden. Sie fassen zwar ebenfalls die Frage nicht von allen Seiten an, können das auch nicht, da sie sich nicht speziell mit der Ent23

FBPG 14 (1901), S. 1 ff. W. Hoppe, Kloster Zinna. München 1914. S. 23 ff. 25 Das Gegenteil sucht v. Sommerfeld nachzuweisen: Beiträge z. Verf. und Ständegeschichte der Mark Brandenburg im Mittelalter. Leipzig 1904. S. 107 Anm. 2. Da die Widerlegung seiner Beispiele an dieser Stelle den Gang der Untersuchung unliebsam unterbrechen würde, dient ihr der Exkurs am Schluß des Aufsatzes. 24

28

Vgl. Anm. 1.

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stehung Berlin-Cöllns beschäftigen, aber sie stellen diese mitten hinein in Untersuchungen über die märkischen Kolonialstädte. Krabbo 26 gewinnt seine Ansicht über die Gründung Berlins und Cöllns, indem er diese im Zusammenhang mit der Stadtgründungspolitik der Markgrafen Johann I. und Otto III. betrachtet. Er kommt dadurch zu dem Schlüsse, daß Berlin etwa 1230, kurz vor Spandau, Stadt geworden ist. Er sieht in Berlin die erste in einer geschlossenen Reihe von Stadtgründungen, die dazu dienen sollten, die neu erworbenen Länder des Askanischen Hauses dauernd ihrer Herrschaft zu sichern. Cölln hält er für eine etwas spätere Gründung, von der er es dahingestellt sein läßt, ob sie von vornherein städtischen Charakter gehabt hat. Daß Berlin vor Spandau und vor Cölln Stadt geworden ist, fügt sich durchaus in den Rahmen der Krabboschen Untersuchung ein, die ergibt, daß Johann I. regelmäßig zunächst an etwas exponierten Stellen seiner Neuerwerbungen Städte angelegt hat, denen später erst Neugründungen im rückwärts gelegenen Lande folgen. Die Stadt dient eben als bester Schutz der neuen Erwerbung. In ihrem Rücken und durch sie gedeckt setzt dann die weitere Kolonisation ein. Wieder andere Erwägungen führen Siedler in seinem lehrreichen Buch über den „Märkischen Städtebau im Mittelalter" (Berlin 1914) zu der Annahme, daß bei Berlin zwei Gründungsabschnitte zu unterscheiden seien, einer in der Stammsiedlung in der Nähe der Nicolaikirche und einer in der im Anschluß an diese zwischen 1230 und 1240 angelegten Stadt mit ihrem Parallelstraßenschema erkennbar. Siedlers These beruht auf der Betrachtung des Grundrisses der Stadt Berlin, den er im Zusammenhang mit dem Studium der märkischen Städtegrundrisse überhaupt zu erklären versucht. So lehrreich auch die Betrachtung der Stadtgrundrisse, wie sie Fritz für ganz Deutschland, Kretzschmar unter Heranziehung auch des gesamten Quellenmaterials für einen Teil des ostdeutschen Kolonialgebietes unternommen hat 27 , für die Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Städte ist, so gefährlich ist es doch auch, aus ihnen zu viel herauslesen zu wollen. Die ganze Arbeit Siedlers scheint mir unter einem Übermaß an konstruktivem Denken zu leiden. Zuletzt hat Clauswitz in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Cöllner Stadtbuches ausführlich über den Ursprung Cöllns gehandelt. Seine 27 Joh. Fritz, Deutsche Stadtanlagen. Straßburger Programm. 1894. Joh. R. Kretzschmar, Die Entstehung von Stadt und Stadtrecht in den Gebieten zwischen der mittleren Saale und der Lausitzer Neiße. Breslau 1905.

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Arbeit wird durch vorsichtig abwägende Betrachtung des gesamten irgendwie in Frage kommenden Urkundenmaterials charakterisiert. Für jeden Unbefangenen werden seine Ausführungen genügen, die Phantasien Mielkes über das slawische und das deutsche Dorf Cölln zu entkräften. Weder er nodi Krabbo haben der Sprache der Stadtgrundrisse ihre Aufmerksamkeit zugewandt. Aus einer Verbindung beider Betrachtungsweisen werden sich indessen die von ihnen gewonnenen Ergebnisse doch etwas ergänzen lassen. Sämtliche erhaltenen Städtegründungsurkunden Johanns I. — denn er ist der eigentliche Städtegründer unter den beiden Brüdern — zeigen durch ihren Wortlaut, daß es sich um völlige Neugründungen handelt, nicht um Erhebungen irgendwelcher vorhandenen Siedlungen zu einer Stadt. So erhält 1248 „Herbord civitatem nostrani Brandenborg novam . . . construendam" ; 1253 erhält Gottfried v. Herzberg Frankfurt „czu buwen"; 1257 Albert v. Luge „facultatem civitatem Landisberdi novam liberam construendi". Audi die für die Gründer Friedlands 1244 gewählte Form „dedimus civitatem incolendam" spricht deutlich für eine Neugründung. Wenn dem gegenüber Siedler für Berlin aus dem Grundrisse das frühere Vorhandensein einer Burg Berlin in der näheren Umgebung der Nicolai-Kirche herauslesen will, indem er dort eine „selbständige Siedlung im Radialsystem geplant" erkennt, so kann er sich für die Existenz der Burg auf die Ausführungen von Clauswitz in der Einleitung zu Borrmanns „Kunstdenkmälern der Stadt Berlin" 28 berufen. Clauswitz sagt hier, daß in Berlin ein Schloß, und zwar ein mit einer Vogtei verbundenes, vor der Stadtanlage vorhanden war, und er nimmt an, daß für die Vogtei eine slawische Kastellanei als Grundlage diente. Allein von einer Burg wissen wir nichts, ebensowenig von einer Vogtei. Eine solche taucht erst im 14. Jahrhundert vorübergehend auf 29 . Das einzige, was sich für eine frühere slawische Siedlung auf dem Gebiete der späteren Stadt Berlin anführen läßt, sind einige slawische Ortsbezeichnungen30. Indessen braucht aus ihnen doch nur gefolgert zu werden, daß hier in der Tat Slawen gewohnt haben, nicht aber, daß die Stadtgründung eine Umwandlung dieser slawischen Siedlung gewesen sei. Daran, daß Berlin vielmehr eine Neugründung ähnlich wie Stargard, Lydien, 29

Berlin 1893. Es kommt hier allerdings nicht so sehr S. 11, sondern S. 4 in Frage.

29

Kaeber, Die Stadt Berlin und der Staat. Zs. f. Politik, 9. Bd., S. 428. Dafür, daß

in Berlin keine landesherrliche Burg bestand, spricht auch, daß weder Johann I. nodi O t t o III. jemals in Berlin nachweisbar sind, wohl aber 13mal in Spandau. Krabbo a. a. O . S. 2 5 8 Anm. 1. 30

Zusammengestellt von Clauswitz a. a. O. S. 8.

Vgl.

Die Gründung Berlins und Cöllns

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Frankfurt a. O. usw. gewesen ist, scheint sogar noch eine Urkunde des Berliner Rates für die Schuhflicker vom Jahre 1284 zu erinnern. Es heißt in ihr: „nos igitur ad cognicionem cunctorum volumus pervenire, quod veteribus calciamentorum operatoribus condonavimus libertatibus perfrui, quibus de primeva constructione civitatis perfruebantur". Sollte der Ausdruck „primeva constructione civitatis" nicht darauf deuten, daß auch Berlin ganz so wie die anderen Städte nicht aus einer vorhandenen Ansiedlung zur Stadt erhoben, vielmehr sofort als Stadt erbaut, konstruiert worden ist? Das Hauptargument, das Siedler dagegen geltend macht, ist die Betrachtung des Stadtgrundrisses. In der Tat weist dieser noch nicht die völlige Regelmäßigkeit auf, die spätere Grundrisse ostdeutscher Kolonialstädte zeigen. Für diese ist etwa Neubrandenburg ein charakteristisches Beispiel. Wie schwierig es indessen ist, aus dem Stadtgrundriß allein sichere Schlüsse zu ziehen, dafür bieten Siedlers Ausführungen über Frankfurt a. O., Lydien und Landsberg a. W. ein lehrreiches Beispiel. Aus dem Stadtplan von Lychen schließt er auf eine „klerikale Stammsiedlung bei der Stadtkirche". Im „unmittelbaren Anschluß an diese erste Siedlung wurde im 13. Jahrhundert eine weitere Siedlung gegründet". Wie will Siedler damit den Text der Gründungsurkunde — civitatem construendam — vereinen? Danach kann doch von einer schon früher vorhandenen Stammsiedlung nicht gut die Rede sein. Von Landsberg a. W. sagt er, „die Siedlung wurde im Zweistraßensystem angelegt. Die parallel zum Fluß laufende Richtstraße und die Luisen- bzw. Schloßstraße bildeten den Kern der ersten Anlage, die 1257 zur Stadt erhoben wurde". Auch hier steht dieser Deutung des Stadtplans der Text der Gründungsurkunde „facultatem civitatem Landisberch novam liberam construendi" entgegen. Und nun erst Frankfurt a. O.! Hier nimmt Siedler eine in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bei St. Nikolaus in regelmäßigen Formen angelegte bürgerliche Siedlung an, die 1253 im Parallelstraßensystem zur Stadt erweitert wurde. Demgegenüber hat Krabbo mit durchschlagenden Gründen nachgewiesen, daß der ursprüngliche Markt bei der Marienkirche gelegen hat, daß die Nicolai-Kirche die zweite Pfarrkirche, der bei ihr liegende Markt später entstanden und eben deshalb in die gefälschte Bestätigungsurkunde vom Jahre 1307 mit hineingebracht worden ist31. Die alleinige Betrachtung des Stadtgrundrisses hat also zu einer Umkehrung der aus der urkundlichen Uberlieferung zu erschließenden Zeitfolge in der äußeren Entwicklung der Stadt geführt. 31

2

A. a. O. bes. S. 284 f.

Kaeber

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Die Gründung

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Sieht man den oft veröffentlichten Memhardtschen Grundriß von Berlin und Cölln von 1650 an, so wird man höchstens zu schließen brauchen, daß bei der Feststellung des Grundrisses Markt und Nicolai-Kirche auf eine schon von Slawen vorher bewohnte leichte Erhöhung des zur Verfügung stehenden Terrains verlegt worden sind, und daß das Straßensystem hierdurch wie durch den Lauf der Spree in seiner Linienführung etwas beeinflußt worden ist. Auch die Lage des alten markgräflichen Hofes, der schon 1261 als „aula Berlin" erwähnt wird, spricht dafür, daß wir nicht in der Gegend der Nicolaikirche eine geschlossene ältere Siedlung anzunehmen haben. Der H o f lag in der Klosterstraße nahe der Oderberger-, der späteren Georgen- und heutigen Königstraße. Er hat zweifellos innerhalb des für die Stadt von vornherein in Aussicht genommenen Gebietes gelegen. Eine andere Frage ist es, ob die Stadt ursprünglich nur von der Spree aus bis zur Oderberger Straße gereicht hat, und ob später der Stadtteil hinzugefügt worden ist, in dem die Marienkirche und der Neue Markt angelegt worden sind. Für wahrscheinlich möchte ich dies gerade im Hinblick auf den Grundriß nicht halten, dessen Straßensystem durchaus darauf schließen läßt, daß die Spandauer Straße von vornherein bis zum Spandauer Tor, und daß die ihr parallel laufenden Straßen gleichfalls entsprechend weit geführt worden sind. Die ovale Form, die der Stadtgrundriß in dieser seiner ganzen Ausdehnung zeigt, entspricht einer in der früheren Kolonisationszeit beliebten Form. Auch die Erhaltung des slawischen Wortes Gekhol für die Bezeichnung einer ursprünglich sumpfigen Stelle an dem nördlichen Ende der Klosterstraße 32 dürfen wir dahin deuten, daß dieser Ort von vornherein innerhalb der Stadt lag. Die Anlage des Neuen Marktes, der zuerst 1326 nachweisbar ist33, bedeutet dann keine Erweiterung des Stadtgebietes, sondern nur seinen weiteren Ausbau. Mit Sicherheit aber schließt der Grundriß Berlins die Annahme aus, daß es ursprünglich ein deutsches Dorf gewesen sei. In diesem Falle müßte Berlin unbedingt in seinem Grundriß die Entstehung aus einem Straßendorf erkennen lassen. Davon kann aber keine Rede sein. Schon die Rücksicht auf die Grundrißgestaltung muß, abgesehen von allen schon früher gegen Kiekebuschs Annahme vorgebrachten Einwendungen, die Entstehung Berlins aus einem deutschen Dorf als unmöglich erscheinen lassen. Von besonderer Bedeutung ist die Heranziehung des Grundrisses für die Frage nach der Entstehung Cöllns. Bei unvoreingenommener Be32

Clauswitz, Stadtbuch, S. 8.

83

Berl. Urk.-Buch S. 327. Die Marienkirche wird schon 1292 urkundlich erwähnt;

ebenda S. 2 0 ; mindestens damals bestand natürlich auch schon der Neue Markt.

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trachtung kann es nicht zweifelhaft sein, daß Cölln von vornherein als Stadt gegründet worden ist. Die völlig regelmäßige Anlage der Straßenzüge sowie des Gesamtbildes der Stadt spricht so deutlich dafür, daß die verhältnismäßig späte Erwähnung Cöllns als Stadt keinen genügenden Grund für eine gegenteilige Ansicht abgeben kann. Die Ausführungen von Clauswitz, nach denen Cölln später als Berlin angelegt worden ist, sind so zwingend und stimmen überdies mit den Erwägungen Krabbos so überein, daß an dieser Tatsache nicht gezweifelt werden kann. Wie man sich diesen Vorgang zu denken hat, dafür lassen sich einmal frühere Beispiele in den seit Heinrich dem Löwen beliebt gewordenen Doppelstadtgründungen heranziehen34, vor allem aber die Gründungsurkunde für Frankfurt a. O. In ihr, die durch Johann I. verliehen wurde, der, allein oder mit seinem Bruder, auch der Gründer Berlins war, erhielt die neue Stadt das Recht des älteren Berlin. Ein enger Zusammenhang zwischen Berlin und Frankfurt ist dadurch ohne weiteres gegeben. Wenn nun in der Urkunde über die Gründung Frankfurts vom Jahre 1253 in Aussicht genommen wird, auch auf der gegenüberliegenden Seite der Oder eine Stadt zu gründen, und wenn ferner dem ersten Schultheißen Frankfurts zugesagt wird, daß die Stadt auf dem gegen überliegenden Ufer ihm ebenfalls unterstellt werden solle, so sehen wir darin eine auffallende Analogie zu den Verhältnissen Berlins und Cöllns. Auch hier standen beide Städte unter dem gleichen Schultheißen. 14 Hufen der Stadt Cölln gehörten noch im 14. Jahrhundert zum Berliner Stadtgericht. Auch Wort- und Rutenzins stand dem Berliner Gericht zu. Mit Recht folgert Clauswitz daraus, daß bei der Anlegung Cöllns dieses dem Richter der schon bestehenden Stadt Berlin mit unterstellt wurde. Genau das gleiche wird nun 1253, etwa 2 Jahrzehnte nach der Gründung Berlin-Cöllns, für Frankfurt a. O. in Aussicht genommen. Auch hier die Gründung einer zweiten Stadt am gegenüber liegenden Ufer und die Unterstellung dieser Stadt unter den Schultheißen des älteren Frankfurt. Nehmen wir diese Analogie zu allem hinzu, was wir sonst über die Entstehung Berlins und Cöllns schließen müssen, so bleibt gar nichts anderes übrig als folgendes: Berlin ist sofort als Stadt gegründet worden. Wenig später ist auf dem gegenüber liegenden Ufer, ebenfalls gleich als Stadt, Cölln gegründet worden. 34

Rietschel, Die Städtepolitik Heinrichs des Löwen. In: H Z 102 (1909), S. 254 f. [Eckhard Müller-Mertens, Untersuchungen z. Gesch. d. brand. Städte im Mittelalter. In: Wiss. Zs. d. Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und sprachwiss. Reihe 5, 1955/56; 6, 1956/57.]

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Schwieriger ist es, einige Sicherheit über die Zeit der Gründung beider Städte zu gewinnen. Krabbo hat aus der Urkunde für Spandau vom 7. März 1232, in der dieser Stadt zugesagt wurde, daß alle künftig im Teltow, Glin und Barnim zu gründenden Städte Spandauer Stadtrecht erhalten sollten, und aus der Tatsache, daß Berlin nicht Spandauer, sondern Brandenburger Stadtrecht besaß, geschlossen, daß Berlin vor 1232 gegründet sein müsse. Dieser Schluß verliert dadurch an Sicherheit, daß die sämtlichen später als Berlin gegründeten Barnimstädte nicht Spandauer Recht besessen haben. Er gewinnt anderseits dadurch an Überzeugungskraft, daß die Gründung Berlins zweifellos noch in den 30iger Jahren des 13. Jahrhunderts erfolgt sein muß, denn 1237 wird zuerst urkundlich Cölln erwähnt, und zwar besaß es damals schon einen Pfarrer, also auch eine Pfarrkirche. Da Berlin zweifellos älter als Cölln ist, da zwischen der Gründung Berlins und Cöllns sogar eine gewisse Zeit verflossen sein muß, weil ja sonst nicht zunächst Berlin Hufen auf dem linken Spreeufer zugewiesen worden wären, die ihm bei der Anlegung Cöllns wieder abgenommen wurden35, so wird man in der Tat die Gründung Berlins eine Reihe von Jahren früher als 1237 ansetzen müssen. Daß der schon als Pfarrer von Cölln genannte Symeon 1244 als Propst von Berlin erscheint, das in diesem Jahre überhaupt zum ersten Male urkundlich genannt wird, ist kein Beweis für ein höheres Alter Cöllns. Bei der Erhebung der Berliner Pfarre zur Propstei ist, vielleicht weil in Berlin das Pfarramt gerade vakant war, der bisherige Cöllner Pfarrer Propst geworden. Er hat dabei seine Cöllner Pfarrei behalten und heißt deshalb ebenso wie sein Nachfolger Theodoricus bald Propst von Berlin, bald von Cölln, gerade wie 1273 Gernotus als Vizepropst in Cölln, 1275 in Berlin auftritt 36 . Wollten wir die Gründung Berlins später als die Spandauer Urkunde von 1232 setzen, so wäre es verwunderlich, wenn man sich fast unmittelbar nach dieser Verheißung an Spandau bei der Gründung Berlins um diese nicht gekümmert hätte. Anders lagen die Dinge bei der Gründung Cöllns und der späteren Städte im Barnim. Daß Cölln dasselbe Stadtrecht erhielt wie Berlin, war bei der Unterstellung Cöllns unter den Ber35

Clauswitz, Stadtbuch S. 11. Die Tatsache, daß Hufen auf dem linken Spreeufer

zu der ursprünglichen Ausstattung Berlins, und daß zu den Einnahmen des Schulzen von Berlin Zins von ebendort liegenden Hufen gehörten, beweist, daß Berlins Hufenland bei seiner Gründung nicht nur auf der Barnimhochfläche lag. Auch hieraus wird man schließen müssen, daß Berlin von vornherein als Stadt gegründet wurde. 36

Clauswitz, a. a. O. S. 3 f. [Vgl. Josef Mörsdorf, Kirchliches Leben im alten Berlin.

Berlin (1962).]

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Cöllns

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liner Schultheißen und das Berliner Gericht selbstverständlich. Bestimmte Nachrichten über das Stadtrecht Cöllns haben wir übrigens nicht. Die anderen Barnimstädte sind erheblich später als Berlin gegründet worden, zu einer Zeit, in der sich gezeigt hatte, daß Spandau nicht die erwartete Entwicklung nehmen würde. Mußte es doch 1240 gewissermaßen noch einmal gegründet werden. Wenn jetzt die Verheißung des Jahres 1232 nicht beachtet wurde, war das nicht zu verwundern. Anders, wie gesagt, lag die Sache bei Berlin. Wir werden daher der Krabboschen Ansicht beistimmen müssen, nach der Berlin vor dem 7. März 1232 gegründet worden ist. Dann aber spricht alles für den Ansatz „um 1230". Exkurs Die Ansicht Passows von der schon gegen Ende des 12. Jahrhunderts einsetzenden Kolonisation des Teltow und Barnim hat v. Sommerfeld durch eine Anzahl urkundlicher Nachweise stützen zu können geglaubt37. Er macht darauf aufmerksam, daß in Urkunden von 1193 und 1194 Brandenburger Burgmannen Namen führen, die bei Ortschaften des Teltow und Barnim in der Umgebung Berlins wiederkehren, so Bartholomäus v. Karow, Rudolf v. Wedding, Heinrich und Alverich v. Steglitz, Konrad u. Heidenreich v. Stolzenhagen. Da sie früher teilweise ohne diese Zunamen erscheinen — Bartholomäus und Rudolf 1186, Konrad und Heidenreich noch 1193 —, so müßten sie diese von den Ortschaften entlehnt haben. Das plötzliche urkundliche Auftauchen deute auf eine kurz vorher erfolgte Verschiebung der Grenzen der Mark Brandenburg hin. Dazu trete seit 1213 ein Ministeriale Arnold v. Trebbin auf, das im Teltow liege, und 1216 und 1217 würden Stangenhagen und Saarmund genannt. Der unglückliche Ausgang des Vorstoßes Albrechts II. an die untere Oder im Jahre 1214 könne also „höchstens den Barnim zeitweilig wieder seinen Händen entrissen haben". So zwingend Sommerfelds Schlußfolgerung erscheint, sie hält näherer Prüfung nicht stand. Wir ziehen dafür zunächst nur die bei Riedel gedruckten einschlägigen Urkunden und besonders ihre Aussteller, Empfänger und Zeugenreihen heran. 1186 Bischof Balderam von Brandenburg für das Domkapitel. Unter den weltlichen Zeugen: Markgraf Otto II. nebst 2 Brüdern, Burggraf Siegfried, Joh. v. Plote, Burchard v. Plozeke, Conrad in Lindouwe, Otto, 37

Beiträge zur Verf. und Ständegeschichte der Mark Brandenburg im Mittelalter.

I. Leipzig 1904. S. 107, Anm. 2.

22

Die Gründung

Berlins und

Cöllns

Rudolfus, Gero, Theodoricus, Bartholomeus. Ausstellungsort: Stadt Brandenburg. A VIII, 115. 1193 Otto II. für Lehnin. Unter den Zeugen: Erzbischof Ludolf von Magdeburg, Bischof Nortbert von Brandenburg, Bartholomeus de Chare, Otto de Brandenburg et filii Conradus et Heidenricus. A X, 409. 1194 Bischof Nortbert von Brandenburg für das Domkapitel. Unter den Zeugen: Markgraf Otto II., Burggraf und Propst von Brandenburg, Rudolphus de Weddinge, Heinricus de Stegelitz, Bartholomeus, Alvericus de Stegelitz, Conradus de Stoltenhagen et Heidenricus frater eius, Otto burgensis de Brandenburg. Ausstellungsort: Domkirche in Brandenburg. A VIII, 121. 1195, 6. Dezember. Bischof Nortbert für das Domkapitel. Unter den Zeugen: Propst und Prior von Brandenburg, Rodolfus de Wetdinge, Otto de Brandeburc et filii eius Conradus et Heidenricus. A X, 185 f. 1197, 28. Mai. Otto II. für das Domkapitel. Unter den Zeugen: Bischof, Propst und ganzes Kapitel und zahlreiche andere Geistliche, urbani Brandenburgenses Rudolfus de Weddinge, Henricus de Stegelitz, Conradus, Henricus, Albertus. A VII, 469. 1197. Otto II. für das Domkapitel. Unter den Zeugen: Bischof und zahlreiche Domherren, Heynricus de Plawe, Richardus de Lindow, Heynricus de Stegelitz, die Vögte von Brandenburg und von Spandau. A VIII, 123 f. 1208, 25. Dezember. Bischof Balduin für das Domkapitel. Unter den Zeugen: zahlreiche Geistliche und als Laien nur urbani Brandeburgenses Burchardus de Plotzeke, Rodolphus de Weddinge, Conradus de Stoltenhagen, Hinricus de Stegelitz. Ausstellungsort: Kirche in Brandenburg. A VIII, 126. 1213, Bischof Balduin für das Hospital zu Zerbst. Zeugen: Gumpertus, Nicolaus de Brizne, Richardus de Piauwe, Gumpertus de Louburch, Arnoldus de Trebin, Vredehelmus de Borch, Conradus Quartir. Ausstellungsort Zerbst. A VIII, 128. 1214, 8. Juni. Bischof Balduin für das Nonnenkloster in Zerbst. Zeugen: Gumbertus de Wesenburch, Richardus de Plaue, Gumpertus de Loyburg, Arnoldus de Trebin, Burchardus de Brezene. A VIII, 128 f. 1215, 24. September. Bischof Balduin für die Domkirche. Unter den Zeugen: Sifridus in Stegelitz. Ort: Magdeburg. A VIII, 131. 1217, 28. Dezember. Bischof Siegfried für das Domkapitel. Zum Archidiakonat Brandenburg sollen gehören iuxta quod actenus est observatum: Iezere quoque, Gorzeke, Buckowe, Beititz, Nymik, Brizene, Beliz, Sarmunt, Trebin, Lukenwalde. Unter den Zeugen Markgraf

Die Gründung Berlins und Cöllns

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Albrecht, zahlreiche Geistliche, Fredericus de Hasle, Erevinusde Jezzant, Conradus de Stoltenhagen, Rodolfus pincerna. Albertus advocatus in Spandowe, Borchardus de Cocstede, Wernerus de Alstermunde laici. Ort: Brandenburg. A VIII, 132 ff. 1225,4. April, und 1226. Bischof Gernand für das Domkapitel. Unter den Laien zweimal Sifridus und einmal Conradus de Stegeliz. A VIII, 140 f. 1233,11.Dezember. Johannl. für Kloster Neuendorf bei Gardelegen. Zeugen: Albertus de Arnsten, comes Henricus de Dannenberch, comes Conradus de Regenstein, Fridericus de Care miles, Theodericus de Osterborch, Henricus de Stendale, Gozevinus miles, Albertus et Brunignus fratres de Redekestorp, Hunoldus et Hinricus etGregorius capellani. Ort: Arneburg. A XXII, 364. 1238, 2. April. Erzbischof Willebrand von Magdeburg für das Domkapitel in Brandenburg. Als weltliche Zeugen nur: Sifridus de Niegrebe, Hermannus de Werbeghe, Godefridus de Weddinghe milites. Ort: Magdeburg. A VIII, 149 f. Die Brandenburger Burgmannen kommen danach nur in Urkunden vor, deren Empfänger das Domkapitel, das Kloster Lehnin oder geistliche Stiftungen in Zerbst sind. Soweit nicht der Bischof von Brandenburg, sondern der Markgraf ihr Aussteller ist, erscheint der Bischof doch unter den Zeugen, während umgekehrt in der Urkunde Bischof Balduins vom 25. Dezember 1208 die urbani Brandenburgenses Rudolphus de Weddinge, Conradus de Stoltenhagen und Hinricus de Stegelitz erscheinen, ohne daß der Markgraf anwesend ist. Heinrich und Siegfried von Stegelitz kommen auch 1215, 1225 und 1226 in Bischofsurkunden vor, in deren Zeugenreihe der Markgraf fehlt. Es handelt sich also um Mannen des Bischofs, nicht des Markgrafen, und es muß auffallen, daß sie in einem soeben erst durch den Markgrafen eroberten Gebiet, weit entfernt von Brandenburg, angesessen gewesen sein sollen. Noch auffallender aber ist es, daß wir 1238 einen Ritter Godefridus de Weddinghe in Magdeburg als Zeugen in einer Urkunde des Magdeburger Erzbischofs, zusammen mit zwei Rittern aus dem Magdeburgischen und Braunschweigischen, treffen. Sollte es sich etwa bei der Bezeichnung de Weddinghe gar nicht um den Ort Wedding bei Berlin handeln? Wir schlagen v. Mülverstedts Regesten der Magdeburger Erzbischöfe auf und finden in der Tat hier seit dem Ende des 12. Jahrhunderts in Magdeburger Urkunden zahlreiche Vertreter einer Familie, die ihren Namen nach dem schon im 10. Jahrhundert nachweisbaren, südwestlich von Magdeburg belegenen Ort Weddingen führen: a. a. O. I, 732; II, 208, 296, 388, 447. Die hier

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Die Gründung Berlins und Cöllns

auftretenden Heinrich, Dietrich und Lütger von Weddingen finden wir auch in einer Urkunde der Markgrafen Johann I. und Otto III. wieder, und zwar in der vom 15. Oktober 1233 in Salbke bei Magdeburg ausgestellten, in der die Markgrafen dem Johannes-Stift in Magdeburg das Dorf Billingsdorf verkaufen. Es kann gar kein Zweifel sein, daß auch der 1194,1197 und 1208 im Gefolge der Bischöfe von Brandenburg auftretende Rudolf v. d. Weddinge seinen Namen nach dem magdeburgischen Weddingen trägt. Noch im Jahre 1267 ist ein Ritter Rudolf in Altenweddingen mit 4 Hufen vom Erzbischof belehnt (v. Mülverstedt, Regesten II, 742). Ähnlich liegt es mit Heinrich, Alverich, Konrad und Siegfried von Stegelitz, die 1194, 1197, 1198, 1214 bis 1216 erscheinen. Sie stammen sicher nicht aus Steglitz bei Berlin, sondern aus Steglitz in der Altmark, südwestlich von Tangermünde. Heinrich kommt 1197 zusammen mit Heinrich von Plaue und Richard von Lindau (im Anhaltischen), 1208 mit Rudolf v. Wedding, Burchard v. Plötzky (bei Gommern im Magdeburgischen) und Conrad v. Stoltenhagen vor, sämtlich urbani Brandenburgenses und zugleich die einzigen Laienzeugen der Urkunde. Auch der Bartholomeus de Chare, der 1193 unter diesem Namen, 1194 und 1195 aber ohne Beinamen begegnet, wird nicht aus Karow bei Berlin, sondern aus dem magdeburgischen Karow bei Genthin stammen. Ein Friedrich v. Kare spielt 1213 eine Rolle in den Kämpfen zwischen Kaiser Otto IV. und Erzbischof Albrecht von Magdeburg als Parteigänger des Kaisers (v. Mülverstedt, Regesten II, 196, 198) und wird noch 1219-20 als Gegner des Erzbisdiofs genannt (ebenda II, 265). Derselbe oder vielleicht sein Sohn erscheint 1238 unter den Schöffen des weltlichen Gerichts des Bischofs von Halberstadt und 1246 auf der Magdeburger Provinzialsynode (ebenda II, 504 und 541). Aber 1233 ist ein Ritter Friedrich v. Kare im Gefolge Johanns I. in Arneburg zusammen mit anderen westelbischen Herren. Er ist es, der nun vom Markgrafen mit Besitz in dem neu erworbenen Lande ausgestattet wird; wir finden ihn 1251 als Verkäufer der Weddingmühle (vgl. S. 4). So bleiben nur Konrad und Heinrich de Stoltenhagen übrig, deren Herkunft nicht mit Bestimmtheit von einem anderen Stolzenhagen als von dem in Niederbarnim gelegenen abzuleiten ist. Sehen wir uns aber die Zeugenreihe der Urkunde vom 28. Dezember 1217 näher an, so finden wir hier Konrad zusammen mit Friedrich von Hassel bei Stendal, Erwin von Fezzant bei Wittenberg, Burkhard von Köchstedt im Magdeburgischen und Werner von Elstermünde bei Wittenberg. Kann es da irgendwie zweifelhaft sein, daß wir auch Stoltenhagen nicht in Nieder-

Die Gründung Berlins und

Cöllns

25

barnim suchen dürfen? Dazu kommt noch eine Urkunde Walters v. Barby von 1240 für das Liebfrauenkloster in Magdeburg (v. Mülverstedt, Regesten II, 517), in der ein Otto v. Stoltenhagen in ganz magdeburgischer Umgebung auftritt. Vielleicht stammen diese Stoltenhagens aus Stolzenhain östlich von Wittenberg. Wenn v. Sommerfeld darauf, daß Bartholomeus v. Karow, Rudolf v. Weddingen und die Brüder Konrad und Heidenreich v. Stoltenhagen anfangs ohne diese Beinamen genannt werden, darauf schließt, daß sie ihre Namen von diesen Ortschaften führen, und daß nicht umgekehrt die Ortsnamen von den Personennamen abgeleitet sind, so hat er damit gewiß recht. Nur handelt es sich bei diesen Ortsnamen nicht um Neugründungen in der Nähe Berlins, sondern um ähnlich oder gleichklingende Orte im älteren Kolonialgebiet. Wohl aber werden diese älteren Orte, vielleicht durch Vermittelung von nach ihnen genannten Rittern, die Namengeber für die jüngeren Gründungen im Teltow und Barnim geworden sein. Anders liegen die Dinge mit Trebbin, das 1213, und mit Stangenhagen und Saarmund, die 1216 zuerst genannt werden. Stangenhagen und Saarmund gehören überhaupt nicht in diesen Zusammenhang, denn sie liegen in der Zauche, Saarmund am linken Ufer der Nuthe. Der Arnold von Trebbin aber, der 1213 und 1214 Zeuge in den Urkunden Bischof Balduins für das Hospital und das Nonnenkloster in Zerbst ist, erscheint am 25. September 1221 als Zeuge einer Urkunde des Abtes Bertram vom Kloster Berge (v. Mülverstedt, Regesten II, 296) und verkauft am 29. September 1233 in Trebbin dem Kloster Lehnin 25 Hufen in der Nähe von Stangenhagen. Dabei bezeichnet er sich als Magdeburgensis ecclesia ministérialis. Spatz wird also damit recht haben, wenn er in Trebbin eine Magdeburger Gründung sieht38). Der Name Trebbin wird von dem merseburgischen Treben entlehnt sein, das gelegentlich in der Form Trebin begegnet, in der auch Trebbin a. d. Nuthe zuerst auftaucht. Auch Spatz glaubt an die frühe Kolonisation des Teltow. Wie Passow und Sommerfeld zieht er dafür die Urkunde Papst Innozenz III. heran, nach der Albrecht II. in dem nicht kleinen Teile der Mark, der noch unfruchtbar oder unbebaut sei, kolonisieren wolle. Aber man braucht daraus keineswegs zu schließen, daß Albrecht Gegenden östlich der HavelNuthe-Linie im Auge hatte. Kolonisieren ließ sich auch in den älteren Landesteilen noch. Die Anlage neuer Dörfer in der Zauche wird noch in 38

S. 20.

Willy Spatz, Bilder aus der Vergangenheit des Kreises Teltow. I. Berlin (1905),

26

Die Gründling

Berlins und

Cöllns

der Urkunde vom 28. Dezember 1217 für das Brandenburger Domkapitel in Aussicht genommen (Riedel A VIII, 133). Die sonstigen Erwägungen von Spatz sind mehr allgemeiner Natur oder durch die Annahme einer Kolonisierung des Barnim schon unter Albrecht II. beeinflußt. Wenn er aus der Erwähnung des Dorfes Drewitz am rechten Nutheufer „prope novum Castrum" im Jahre 1228 (Riedel A X, 196) schließt, daß auch vor der Mündigwerdung Johanns I. und Ottos III. die Kolonisation nicht an der Nuthe als einer befestigten Grenzlinie halt gemacht haben könne, sondern darüber hinausgegangen sein müsse, so möchte ich gerade daraus, daß Drewitz in der Nähe einer „neuen Burg" lag, das Gegenteil schließen. Das Dorf ist im Schutze der kürzlich auf dem rechten Flußufer erbauten Burg angelegt worden, ein erster Schritt auf dem Wege der „friedlichen Durchdringung" des Teltow nach 1225. Weder für den Teltow noch für den Barnim läßt sich eben eine Kolonisation vor dem Beginn des 2. Viertels des 13. Jahrhunderts nachweisen. Nachtrag An meiner Auffassung können midi auch die mir erst verspätet bekannt gewordenen Ausführungen G. Engelbert Grafs nicht irre machen, die dieser in den Mitteilungen des Vereins der Studierenden der Geographie a. d. Univ. Berlin, H . 2, S. 17 ff., veröffentlicht hat39. Graf liest aus dem Stadtplan ein ursprüngliches Rundlingsdorf Berlin, dessen Feldmark er auf einem Gebiet innerhalb der späteren Stadtmauern sucht, und eine Fischersiedlung Cölln in der späteren Fischerstraße heraus. Die Voraussetzungen, von denen er ausgeht, sind ebenso anfechtbar, wie die Schlußfolgerungen, zu denen er gelangt. Mit allem, was wir positiv über die Anfänge Berlin-Cöllns und die Besiedelung der „neuen Lande" wissen, sind seine Hypothesen unvereinbar40.

[ 3 9 Auf die Grafsche Arbeit geht Kaeber näher ein in seinem Aufsatz „Vier kritische Fragen zur mittelalterlichen Geschichte Berlins. 1. Ist der Gründer Berlins endlich entdeckt worden?" In: Jb. V. G. Berlins 1953, S. 143 ff. Kaeber setzt sich hier scharf auseinander mit der von W. F. W. Berlin in seiner „Denkschrift über den angeblich .slawischen Namen' der deutschen Reichshauptstadt Berlin und seine politische Bedeutung" (1951) verfochtenen These, der N a m e Berlin gehe zurück auf ein pommersches adliges Gründergeschlecht Berling.] [ 4 0 Vgl. hierzu die Ausführungen v o n Joh. Schultze, D i e Mark Brandenburg, Bd. 1, Berlin 1961, S. 118 ff.]

Der Berlin" Immer wieder, wenn sich wissenschaftliche Forschung oder volkstümliche Darstellung mit den Anfängen Berlins beschäftigen, spielt die Bezeichnung der Stadt als „der Berlin" eine Rolle. Dem Gebrauch des Artikels in Verbindung mit dem Stadtnamen wird dabei gern besondere Bedeutung für die Entstehung Berlins und für die Erkenntnis seines Namens beigelegt. Ohne auf die vielen älteren und jüngeren, ernsthaften oder dilettantischen Bemerkungen zu dieser Frage einzugehen, sei nur auf zwei weitere Arbeiten hingewiesen. Die eine ist der Aufsatz des so unerwartet aus dem Leben gerissenen Meisters der märkischen Vorgeschichte, Albert Kiekebuschs: Die „Inseln" Berlin und Cölln1. Kiekebusch zeigt hier auf Grund geologischer Beobachtungen, daß Berlin auf einer Talsandinsel angelegt worden ist, und fährt dann fort: „Auf keinen Fall braudien wir heute mehr darüber nachzudenken oder gar zu streiten, warum in alter Zeit immer von „dem Berlin" (to dem Berlin) die Rede ist. „Der Berlin" war einfach der Name jener Erhebung, die als nördlichere der beiden Plätze 2 aus der Niederung herausragte. Wir wissen damit, daß der Name Berlin ursprünglich eine Insel oder inselartige Erhebung bezeichnet." Der Name Berlin ist nun aber nicht auf die heutige Reichshauptstadt beschränkt, er kommt auch sonst vor, besonders im deutschen Osten. Daher hat Ag. Lasch in dieser Ortsbezeichnung einen ursprünglich slawischen Flurnamen gesehen, der wohl „einen aus der Umgebung hervorgehobenen Platz (anscheinend sumpfiger Natur)" bedeute3. Sie führt dazu an, daß schon im ältesten Schöffenbuche der Stadt Halle aus dem 13. Jahrhundert „dat egen, dat up deme Berline leget" erwähnt wird, und daß somit „dieser noch heute für den Platz bewahrte Name als früh eingemeindeter alter Flurname bezeugt ist". 1

„Brandenburgia", 36, 1927, S. 97 ff. Die angeführte Stelle S. 102.

2

Der südlichere ist die Stätte, auf der Cölln angelegt worden ist.

3 „Berlinisch", Berlin (192'8), S. 313 f. Auf S. 62 bemerkt auch Lasch, daß der Ortsname „häufig mit dem Artikel steht: tu deme Berlin". Die gleiche Erklärung als Platz schon bei Fidicin, Hist. Dipl. Beiträge z. Gesch. Berlins, 1842, Bd. 1, S. X I X , Anm. 1.

28

„Der

Berlin"

Auffallend ist, daß öfters ein kleiner und ein großer Berlin nebeneinander liegen. Das bekannteste Beispiel ist das eben genannte Halle. Doch hat schon der alte Johann Leonhard Frisch, Rektor des Gymnasiums zum Grauen Kloster und eines der ersten Mitglieder der Akademie der Wissenschaften in Berlin, in seinem etymologischen Wörterbuch auf einen großen und kleinen Berlin bei Wittstock aufmerksam gemacht; freilich hat er den Namen aus „Bär" = Damm im Wasser ableiten wollen4. Es handelt sich dabei um die Dörfer Klein Berlin (heute Berlinchen) und Groß Berlin, das früh wüst geworden ist. Sie werden zunächst in lateinischen Urkunden 1274 und 1311 genannt 5 , deutsch 1430 lutteken Berlyn unde de zee to groten Berlyn. Groß Berlin erscheint 1436 einfach als Berlin, 1445 wieder als groten Berlin6. Während in diesen Urkunden der Ortsname ohne Artikel erscheint, werden 1424 Schäden der Herzöge von Mecklenburg zusammengestellt, die sie durch Leute aus der Prignitz und dem Lande Ruppin erlitten haben in mehreren Ortschaften, darunter to den Berlin7. In dieser Aufzeichnung wird der Artikel aber auch zu den Ortsnamen Dranse und Kieve hinzugesetzt, die in der Regel ohne Artikel gebraucht werden. Mit Berlin ist hier Klein Berlin oder Berlinchen gemeint, ebenso wie in Urkunden von 1492, 1494, 1495 und 15298. Die Urkunde von 1492 nennt Henning Michels „sculte tom Berlin", der einen freien Kahn „uppen Berlin" = auf dem See bei Berlinchen hat. Es überwiegt der entschieden artikellose Gebrauch des Ortsnamens. Wie steht es nun aber mit der Beifügung des Artikels zum Namen der Stadt Berlin? Entspricht sie wirklich dem ursprünglichen Sprachgebrauch, wie das schon Nicolai behauptet hat9? Daß es auf eine genauere Untersuchung dieser Frage ankommt, hat 1901 der Justizrat Dr. Eduard Reichl in Eger erkannt und deshalb meinen Amtsvorgänger Clauswitz um Auskunft gebeten, was die Urkunden darüber sagen. Clauswitz hat ihm darauf eine Liste von 36 Urkunden zwischen 1350 und 1451 geschickt, in denen Berlin mit Artikel erscheint, und auch das Berliner Stadtbuch herangezogen10. Aber darauf, ob der Artikel von Anfang an in den * Angeführt v o n Süßmilch, „Von dem Alter und der Erbauung der Städte Berlin und Kölln", Berlin 1752, S. 68. 5

Riedel, A I, 448 und B I, 308.

6

Riedel, A I, 460; ebenso 1431, eb. S. 461; A II, 493, A III, 445.

7

Riedel, B IV, 41.

6

Riedel, A III, 511; A X X V , 91, 93, 160.

9

Beschreibung der Kgl. Residenzstädte Berlin und Potsdam, 3. A., Berlin 1786,

S. V. N i c o l a i will daraus auf den niederdeutschen Ursprung des Wortes schließen.

„Der

Berlin"

29

deutschen Urkunden vorkommt, ist Clauswitz nicht eingegangen. Und doch wäre das sehr aufschlußreich gewesen. Nehmen wir das Urkundenbuch zur Berlinischen Chronik zur Hand, dann ergibt sich ein überraschendes Bild. Die älteste deutsche Originalurkunde, die Berlin nennt — spätere Ubersetzungen scheiden natürlich aus —, das märkische Städtebündnis vom 24. 8. 1321, ist datiert tu Berlyn, nicht tu dem Berlyn. In der Münzordnung vom 13. 8. 1322 erscheinen die ratmanne van Berlin und in der Datumzeile tu Berlin. Auf die nur in einem Copiar überlieferte Urkunde der Markgräfin Agnes vom 27.1.1324, in der von den Steden tu Berlin usw. die Rede ist, wollen wir geringeres Gewicht legen, ebenso auf die nur aus Gerckens „Fragmenten" bekannte Markgraf Friedrichs von Meißen vom 15. 7. 1327; allerdings klingt die Wendung di stad und daz land zu Berlin nicht nach einer Ubersetzung. Dafür ist Markgraf Ludwigs Urkunde vom 2.6.1328 mit ihren Wendungen borgere von Berlin und gegevin tu Berlin Original. Aber nicht nur die markgräfliche Kanzlei, auch die Stadt selbst kennt in dieser Zeit den Artikel nicht, wie die durch die Ratmannen von Berlyn unde von Colne ausgestellte Polizeiordnung vom 22. 4. 133511 und die Urkunden vom 30. 10. 1338, vom 26. 10. 1342 (Riedel, A XI, 37) und vom 25.3.1343 beweisen. Das Domkapitel zu Brandenburg urkundet am 8. 9. 1335 für die borghere van Berlyn; eine ungenannte Stadt, wahrscheinlich Magdeburg, schreibt am 10. 7. 1340 den rathmannen tho Berlin. Noch 1342 und 1345 braucht Markgraf Ludwig den Artikel nicht. Eine Besonderheit zeigen eine Urkunde Markgraf Ludwigs vom 16. 7. 134412 und zwei Urkunden des falschen Woldemar vom 21. und 23. 9. 1348. In den beiden letzteren ist von den Städten bzw. den Bürgern tu alden Berlyn die Rede, und tu alden Berlyn lautet hier wie in der Urkunde Markgraf Ludwigs die Datumzeile. Sachlich ist diese Bezeichnung, die schon in dem antiqua Berlin der lateinischen Urkunde vom 15. 5. 1334 einen Vorläufer hat, durch den Gegensatz zu nova Berlin, Klein Berlin oder Berlinchen leicht erklärbar. Sie kommt auch später mehrfach vor, so 1352, 1381 und 1399 in Urkunden des Rates selbst, 1359 und 1364 in zwei für Berlin und in Berlin ausgestellten Urkunden (BUB., S. 121, 139 f., 152 f., 200, 201, 231). Noch 1424 nennt sich Henning Stroband borger tu olden Berlin (Riedel, C I, 185); 1448 lädt der Hofrichter zu Spandau Rat und Innungen der Stadt olden 10

Ältere Akten des Stadtarchivs Berlin, „Archiv N r . 1, Bd. 6", Bl. 67. Im Urkundenbuch trägt sie das falsche D a t u m vom 24. 9. 1334. 12 Riedel, A X I X , 14. Sie ist zwar nicht im Original überliefert, aber die D a t u m zeile, um die es sich handelt, sicher in der ursprünglichen Form. 11

30

„Der

Berlin"

Berlin vor das Hofgericht (UB., S. 397); die Stadt Colen by olden Berlin kommt 1451 vor (UB., S. 419). Alten Stettin für Stettin, im Gegensatz zu Neustettin, blieb sogar bis in die neueren Jahrhunderte gebräuchlich. Ähnlich wird gelegentlich Bernau olden Bernau genannt" im Unterschied zu Werneuchen, das in älterer Zeit Berneuken hieß. Es wird kaum mehr als ein Zufall sein, wenn fast unmittelbar nach den Woldemarschen Urkunden zuerst der Artikel vor dem Namen Berlin auftaucht. Ist die von 36 märkischen Städten ausgestellte Verpflichtung zur Anerkennung der Nachfolgeberechtigung der Fürsten Albrecht und Woldemar von Anhalt auch nur in einem Copiar überliefert, so kann doch auch in dem Original nur wy ratmanne . . . van den Berlin gestanden haben. Das ergibt sich aus der Art, wie Berlins Name eben um dieser Besonderheit wegen von den übrigen Städtenamen getrennt worden ist. Ferner zeigt es sich, daß jetzt die Anwendung des Artikels den Berliner Ratmannen selbst nichts Ungewöhnliches war, da sie ja Mitaussteller der Urkunde waren. Von 1350 an wird der Artikel häufiger, aber keineswegs Regel. In Verbindung mit dem Wort „Stadt" begegnet er überhaupt nur einmal: stad zum Berlin (UB., S. 318). Während sonst stets der männliche Artikel verwandt wird, braucht der Berliner Rat selbst 1397 zweimal den weiblichen: „wy radman von der Berlin (UB., S. 227)14. Irgendein Grund, warum Berlin bald mit, bald ohne Artikel genannt wird, ist nicht zu erkennen. Während um 1400 der Artikel überwiegt, wird er etwa seit 1430 selten. Das Berliner Stadtbuch aus dem Ende des 14. Jahrhunderts mit seinen zahlreichen Eintragungen aus späterer Zeit kennt, mit Ausnahme von vier Fällen auf S. 12,14, 24 und 29 der Clauswitzschen Ausgabe, nur die artikellose Namensform 15 . Das Ergebnis ist demnach folgendes: Ursprünglich steht kein Artikel vor dem Stadtnamen, er bürgert sich vielmehr erst in der Mitte des 14. Jahrhunderts ein, um in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts allmählich fast zu verschwinden16. Daß dies nicht vollständig der Fall war, beweist sein gelegentliches Vorkommen im 16. und noch im 17. Jahrhundert 17 . 13

1391 und 1409; Riedel, A X I I , 166 und 168. Die Urkunde ist freilich nur durch einen, nach Riedel (Suppl. 252) „offenbar sehr fehlerhaften" Druck bekannt. 11

15

Clauswitz, in dem gen. Aktenstück, Bl. 66 v. Clauswitz hat ihn nach 1451 nicht mehr gefunden: a. a. O., Bl. 67. 17 Ein Beispiel vom Jahre 1553, Riedel, A I, 407, Anm.; ein anderes von 1647 bei Rachel, Papritz und Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Berlin 1934, S. 345. 18

.Der Berlin"

31

Wäre schon im 13. Jahrhundert der Artikel üblich gewesen und hätte „der Berlin" für die Menschen dieser Zeit einen ganz bestimmten Platz, eben den, auf dem die Stadt an der Spree erbaut wurde, bezeichnet, so wäre es schwer verständlich, wie ein an diesen Ort gebundener Name in eine andere Gegend hätte übertragen werden können. Und doch ist dies der Fall gewesen bei der Gründung von Neu Berlin oder Klein Berlin, der Stadt Berlinchen in der Neumark. Es erhebt sich nun die Frage, wie der Gebrauch des Artikels vor dem Namen unserer Stadt zu erklären ist. Gewiß nicht anders als der gleiche Brauch bei einer stattlichen Anzahl anderer Städte. Sieht man Riedels Urkundenbuch unter diesem Gesichtspunkt durch, dann zeigt sich zunächst das Fehlen des Artikels vor allen deutschen oder doch den Menschen des 14. und 15. Jahrhunderts deutsch klingenden Städtenamen. Nie findet er sich etwa in Verbindung mit Brandenburg, Stendal, Tangermünde, Perleberg, Frankfurt, Spandau und fast allen anderen auf „au" endenden Ortsnamen 18 . Wohl aber kommt er zahlreich bei fremdartig klingenden Namen vor. Ohne irgendwie Vollständigkeit zu erstreben, seien hier einige Beispiele zusammengestellt 19 : Zur, tu der Kyritz; tor, to der, by der, van der Wilsnack; von der, zu der, tur Britzen (später zu der getreuen Bricen = Treuenbrietzen); zur Zinne oder zur Zinna; tur, zur Wrecen, Wrietzen (bis 1550); tum, zu dem, by dem Soldin; zur Liegnitz (1575); tu der Görlitz (1423); tu der Swidenitz und tu dem Jauer (1364); zum Sagan (1399); zum Teuptzk, zum Tupcz ( = Teupitz, 1427 und 1443); die Czossen, zu der Czossen, auch zum Zossen (1472, 1478); zum Dobirlughe (Berl. UB., S. 291); auch de Gartow, to der Gartowe begegnet. Der Artikel ist nicht auf die Städte beschränkt, sondern findet sich ebenso bei Dörfern oder Klöstern: tu den Dransee und tu dem Cutze (1367); to deme Czecheline, tom Zechlin (1400, 1475); tor Stepenitz (1445); to der Beczelle (1360); tome Dolgin (1408); to deme Roddelin (1430); zur Golmitz (1498); bei der Lützen (1472); tu der Lietzen (1400); zur Grimnitz (1558) 20 . 18

Als Ausnahme sei „zu der P a n g k o w " genannt (Riedel, A V I I , 318). D a ß ow

=

au gesprochen wurde, braucht hier nicht erörtert zu werden. 19

Es wäre zwecklos, hier Belegstellen zu häufen, die mit Hilfe des Ortsverzeich-

nisses zum Riedel für jeden Leser leicht aufzufinden sind; wo im T e x t keine Jahreszahlen angegeben sind, gibt Riedel zahlreiche Beispiele. 20

Aus dem Urkundenbuch der Stadt Lübben, Bd. II, Dresden 1919, S. 136 und 216,

seien noch genannt: von der Alden Czuchen; von der Großen Luboltz.

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„Der Berlin"

Anders aufzufassen ist der Artikel besonders vor Schlössern wie Freienstein, Meienburg, Neustadt oder vor Bernstein und Landsberg (1431) oder dem Dorf Taschenberg. Hier gehört er zu dem zweiten Wortteil, dem Stein, der Burg, dem Berg oder der Stadt. Wohl in Anlehnung daran wird er dann auf andere Schlösser übertragen wie Goldbeck und Löcknitz. Da das heutige Weesow früher „Wise" oder „Weß" genannt wurde, kam ihm auch der Artikel zu; die wüste Dorfstätte Herzhorn oder Herzharne wird bald als männlich, bald als weiblich aufgefaßt (1484 und 1485); dat dorp tom Hertsprunge (1489) gehört ebenfalls in diese Gruppe. Sicher würde die Durchsicht anderer Urkundenbücher weitere Beispiele bieten. Für uns genügt es, daß wir im 14. und 15., teilweise noch im 16. Jahrhundert nicht nur in der Mark, sondern auch in der Oberund Niederlausitz dem Artikel vor fremd klingenden Ortsnamen in zahlreichen Fällen begegnet sind. Daraus, daß dieser Brauch fast ausnahmslos wieder verschwunden ist, werden wir schließen dürfen, daß er, vielleicht mit Ausnahme des Hallischen Berlin, nicht ursprünglich gewesen ist, sondern einer Zeitströmung entstammte, die man wohl als eine sprachliche Mode bezeichnen kann. Dafür spricht auch, daß gelegentlich ein Schwanken zwischen männlichem und weiblichem Artikel zu bemerken ist: Berlin, Herzhorn, Zossen. Aus dem Beispiel Berlins, das wir eingehender verfolgten, ergibt sich ferner, daß der Brauch nicht einmal ein unbedingt herrschender war; er hat sich in unserer Stadt niemals ganz durchgesetzt21. Mit dieser Erkenntnis ist nur das negative Ergebnis gewonnen, daß aus dem Vorkommen des Artikels vor dem Namen Berlins keine Schlüsse auf die Deutung dieses Namens gezogen werden dürfen. Immerhin ist damit, wie wir hoffen, der Weg zur positiven Erkenntnis von einem alten Vorurteil befreit worden. Die endgültige Lösung des Problems darf den Sprachforschern, den Slawisten und — den Germanisten überlassen werden. Denn so sicher, wie die Forschung gerade des 19. und 20. Jahrhunderts das annahm, ist der slawische Ursprung des Namens Berlin kaum. Die dafür stets angeführte, sicher nicht germanische Betonung auf der zweiten Silbe des Wortes beweist nur, daß dieses Wort schon in slawischer Zeit vorhanden war, von den slawischen Bewohnern der Mark auf ihre Weise gesprochen und in dieser Form bei der Kolonisation von den deutschen Siedlern übernommen wurde. Alle die naiven 2 1 Dasselbe ließe sich etwa f ü r Treuenbrietzen, Wilsnack oder K y r i t z nachweisen; vgl. auch oben die Ausführungen über Groß und Klein Berlin.

.Der Berlin'

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Erklärungen von „Bär" oder „Wehr" und ähnliche Deutungen scheiden daher aus. Es bleibt aber die Möglichkeit, daß es sich um einen aus vorslawischer Zeit herrührenden germanischen Stamm handelt, wie er in den Flußnamen Havel, Oder und Weichsel nachgewiesen worden ist.

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Kleber

Die Siedlung um St. Nikolai und der Ursprung Cöllns Professor Mielke hatte ebenso wie Graf 1 in dem Häuserblock um die Nikolaikirche ein ursprüngliches Rundlingsdorf erkennen wollen. Da er Rundlinge für eine germanische Siedlungsform hält, folgert er, daß Berlin germanischen Ursprungs sei. J a , er geht so weit, auf dem Boden Berlins noch zur Kolonisationszeit slawisierte Germanen zu vermuten. Diese Vermutung ist natürlich ebensowenig zu widerlegen, wie sie zu beweisen ist. Mielke macht darauf aufmerksam, daß Karl der Große in der Altmark eine germanische Bevölkerung vorgefunden habe. Aber die Altmark lag westlich der Elbe und dem germanischen Sachsenland unmittelbar benachbart. Sie kann keinen Vergleichspunkt für die Verhältnisse im Gebiet der Spree und der mittleren Havel abgeben. Die Hauptfrage bleibt jedoch die: hat je in vorstädtischer Zeit Berlins auf dem Platz rings um die spätere Nikolaikirche ein Rundling oder eine andere ältere Siedlung gestanden? Dies nämlich nimmt Jobst Siedler an in seinem ausgezeichneten, 1914 erschienenen Buche „Märkischer Städtebau im Mittelalter". Er wollte hier eine selbständige Siedlung im Radialsystem erkennen, die wohl im Anschluß an eine Burg planmäßig angelegt worden sei. Neben dieser „Stammsiedlung" sei dann zwischen 1230 und 1240 die Stadt Berlin im Parallelstraßen-System entstanden. Daß in Berlin nie eine Burg bestanden hat, glaube ich in einem in den Hansischen Geschichtsblättern 1929 2 erschienenen Aufsatz bewiesen zu haben. Hier kommt es aber auf die Deutung des Stadtgrundrisses an. Ich behaupte, daß die fünf Häuserblocks um die Nikolaikirche nicht die Nachkommen eines alten Rundlings oder einer im Anschluß an eine Burg errichteten Stammsiedlung sind, sondern die Nachfolger erst nach der Stadtgründung errichteter Marktbuden. Ehe ich die Beweise dafür gebe, möchte ich auf das Beispiel einer deutschen Kolonialstadt hinweisen, für die ein unvergleichlich reicheres Quellenmaterial vorliegt f 1 Robert Mielke, Das D o r f Cölln. I n : Groß-Berliner Kalender, Berlin

1915,

S. 7 8 — 8 3 — Georg Engelbert Graf, Die Entwicklung des Straßengrundrisses von Berlin. I n : Mitt. Ver. d. Stud. d. Geographie an der Univ. Berlin, H . 2, Berlin 1918 — vgl. auch den S. 1 Anm. 1 zitierten Grabungsbericht Reinbadiers.] [ 2 Die Beziehungen zwischen Berlin und Cölln im Mittelalter und der Konflikt der beiden Städte mit Kurfürst Friedrich II. — Siehe in diesem Band, S. 60 ff.]

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Grundriß der Kurfürstlichen Residenzstädte Berlin und Cölln, von Gregor Memhardt, 1650.

als für Berlin: auf Lübeck. Wir kennen die räumliche Entstehung der Stadt aus dem epochemachenden Buche Fritz Rörigs „Der Markt von Lübeck" (Leipzig 1922) 3 . Rörig konnte sich auf die bis in das 13. Jahrhundert zurückgehenden, in ununterbrochener Folge erhaltenen Grundbücher der alten Hansestadt stützen. Er hat die Ergebnisse seiner Forschungen auf einem farbigen Kartenblatt festgehalten. Da sieht man, wie um den Marktplatz im Mittelalter nach der Gründung der neuen Stadt Lübeck auf völlig freiem, durch keine vorherige Anlage behindertem Gelände nacheinander Blocks von Marktbuden angelegt wurden. Sie waren zur Zeit der Abfassung von Rörigs Werk noch deutlich zu erkennen, wenn auch in veränderter Gestalt. So entsprach das große Gebiet der Oberpostdirektion den alten Budenblocks 1 bis 6, während das prachtvolle, bis in die Renaissancezeit ständig vergrößerte Rathaus den Raum der Blocks 16 und 17 einnahm. Diese Blödes standen ganz überwiegend in Privateigentum. Die Blocks um die Marienkirche aber [ 3 Zu den in der Wissenschaft nicht unbestritten gebliebenen Thesen Rörigs vgl. Hans Planitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter, Graz-Köln 1954, wo auch weitere Literatur genannt wird.] y

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entstanden auf städtischem Eigentum und erst erheblich später als die auch erst nach der Gründung der deutschen Stadt Lübeck angelegten Marktbaulichkeiten. Die Buden auf Block 12 hinter dem Turm der Marienkirche wurden 1234 errichtet, das auf der anderen Seite am Chor liegende „Lange Haus" nahe dem Kirchhof etwa im Jahre 1316; die längs der Kirche liegenden Budenblocks stammten zum Teil schon aus dem 13. Jahrhundert und wurden im 14. Jahrhundert durch die Anlage von Fleischbänken vergrößert. Alle diese Häuser waren der Stadt zinspflichtig. Genauso verhält es sich mit den Häuserblocks um die Berliner Nikolaikirche, die man solange als die Beweise für eine älteste urgermanische, slawische oder deutsche Siedlung angesehen hat. Der Beweis dafür ist sehr einfach zu führen, wenn sich auch in Berlin keine alten Grundbücher erhalten haben, aus denen die Bebauung jeden Häuserblocks sich feststellen ließe. Aber noch im 16. Jahrhundert zahlen die auf diesem Grund und Boden stehenden Häuser an die Stadt Budenzins, wie sie es schon im 14. Jahrhundert zur Zeit der Abfassung des Berliner Stadtbuches taten. Diesen Zins zahlten nur Marktbuden, nicht die Buden, die auf dem hinteren Gelände der Haus- und Hofgrundstücke erbaut wurden und von vornherein Wohnzwecken dienten. Wir lernten ganze Reihen solcher Wohnbuden schon in der späteren Parochial- und Rathausstraße kennen. Sieht man das Kämmereiregister Berlins vom Jahre 1577 an, das sich bis zu seiner Verlagerung während des Krieges im Stadtarchiv befand, dann findet man eine Überschrift „Buden- und Hackenzins" — Hacken ist die damals übliche Bezeichnung für Höker. Hier wurden die Namen sämtlicher Zinspflichtiger eingetragen, geordnet nach den Gegenden, in denen ihre Häuser lagen. Das war beim Rathaus, also in der Nähe ursprünglichsten städtischen Eigentums, beim städtischen Kramhaus auf dem Neuen Markt, in der Kannengießer-, der heutigen Propststraße, auf dem Nikolaikirchhof sowie dem Molkenmarkt und dem Fischmarkt. Wir sehen, es sind Stätten, die ursprünglich zu dem Alten oder Molkenmarkt und zu dem Neuen Markt gehörten, darunter die Blocks um die Nikolaikirche. Vergleicht man damit die Angaben des Stadtbuches über den vierteljährlich zu zahlenden Hausund Budenzins, dann findet man hier die gleichen Häusergruppen: auf dem Fischmarkt, am Kirchhof, auf dem Kirchhof, hinter dem Kirchenchor, hinter der Nikolaischule, auf dem Alten Markt, beim Rathaus und auf dem Neuen Markt. Alle anderen Grundstücke gaben Wort- oder Rutenzins, die übliche Hausstättenabgabe, die sehr viel geringer war als der von den ehemaligen Marktbaulichkeiten entrichtete Zins

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Das Recht, von den auf dem Markt errichteten Gebäuden Abgaben zu erheben, wurde den durch Johann I. und Otto I I I . gegründeten Städten meist schon durch die Gründungsurkunden verliehen, so Neubrandenburg, Frankfurt, Landsberg und Stargard. Es ist hier freilich in erster Linie an die Stände im städtischen Kaufhaus zu denken. Der Raum um die Berliner Nikolaikirche gehörte teilweise wohl zu dem alten Berliner Markt. Die späteren kleinen Abmessungen des Molkenmarktes werden erst dadurch verständlich, daß man die südwestlich der Kirche gelegenen Baulichkeiten als ursprüngliche Buden auffaßt, die auf dem Marktgelände entstanden waren. In Lübeck dagegen hat der Markt seine erstmalige Gestalt bis in die Gegenwart bewahrt. Die Buden wurden anfänglich nur als Arbeits- und Verkaufsstellen benutzt und wurden dann zu Wohnhäusern umgebaut, wie es für Lübeck bis ins einzelne nachweisbar ist. Der Handwerker verlegte wohl auch in Berlin in weitem Umfange seine gewerbliche Tätigkeit vom Markt fort in die Straßen, deren Häuser „Haus und H o f " — anfangs nur Wohn- und Wirtschaftszwecken dienten, soweit sie nicht in den neuen Buden-Wohnstraßen entstanden waren. Wann in Berlin die einzelnen Marktbudenblocks entstanden und wann aus ihnen Wohnhäuser wurden, verrät uns keine schriftliche Quelle. Wohl möglich, daß die Buden östlich der Kirche wie in Lübeck erst später aufgeschlagen worden sind. Sie wären dann die Zeugen nicht der ältesten Siedlung, sondern eines jüngeren Ausbaus. Meine Ergebnisse über den angeblichen dörflichen Siedlungskern Berlins hatte ich durch das Studium des Stadtbuches, der Grundsteuerbücher und Stadtrechnungen gewonnen, ehe ich Rörigs „Markt von Lübeck" zu Gesicht bekam. Sein Buch war mir eine willkommene Bestätigung dessen, was ich für Berlin aus dem sehr viel weniger reichen, aber immerhin genügenden Quellenmaterial geschlossen hatte. Ich möchte annehmen, daß auch in anderen märkischen Städten, in denen Jobst Siedler aus der Gestalt des Stadtplanes auf vorstädtische ringförmige Stammsiedlungen geschlossen hat, die Verhältnisse ähnlich liegen, wie in Lübeck und Berlin. Nachweisen ließe sich das freilich nur, wenn in ihren Archiven mindestens Kämmereiregister aus älterer Zeit erhalten wären, da mittelalterliche Grundbücher wohl überall fehlen. Hier liegt eine lohnende Aufgabe für die märkische Stadtgeschichtsforschung. Für Cölln hatte sich Mielke durch die Angaben des Berliner Stadtbuches, den Stadtgrundriß und seine allgemeinen siedlungsgeographischen Anschauungen zu noch weit komplizierteren Ausdeutungen

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bewogen gefühlt. Es scheint mir wichtig, auch zu ihnen Stellung zu nehmen. Vor allem wegen des von den Häusern der einen Seite der Fischerstraße und von einigen benachbarten Grundstücken erhobenen Wortzinses sah er hier Überbleibsel eines wendischen Fischerkietzes, wie das auch Graf getan hatte. Daß davon nicht die Rede sein kann, haben wir schon gezeigt4. Mielke hatte sogar den etwas gekrümmten Lauf dieser Straße auf wendischen Ursprung zurückgeführt. Dabei vergaß er, daß gekrümmte Linien für deutsche Straßen des Mittelalters durchaus charakteristisch sind. Das gilt nicht nur für die Städte des alten Deutschlands, sondern auch für die des Koloniallandes. Es seien hier nur die Worte Rörigs angeführt über „jenen liebenswürdigen Zug der ersten Marktanlage Lübecks, der flachrundlichen Ausbuchtung der Front der Blocks 2, 4 und 6 nach dem Markte". Die Vorstellung, daß Fischerstraßen auf wendische Siedler deuten, ist unhaltbar. Wir brauchen nur daran zu erinnern, daß es in der planmäßig angelegten Neustadt Brandenburg eine Fischerstraße gab, in der deutsche Fischer wohnten. Die wendischen Fischer dagegen hatten ihr Heim in den Kietzen der Neustadt, der Altstadt und der Domfreiheit Brandenburg. Ein deutsches Angerdorf als eine zweite, den wendischen Fischerhütten folgende Siedlung soll nach Mielke der Stadtplan verraten. Es ist amüsant, daß der sonst von ähnlichen Voraussetzungen ausgehende Graf dieses Angerdorf Cölln energisch ablehnt. Das von der Petristraße und dem von Mielke als Dorfanger betrachteten Platz begrenzte Gelände war angeblich „ebensowenig planmäßig aufgeteilt" wie das älteste Berlin. Petri- und Roßstraße seien „zwei unbedeutende Flurwege", während die breite und gerade Grünstraße später angelegt sei. Wieder sind es die Schoßregister, die diese Erklärung widerlegen. Petriund Roßstraße sind nicht gleichzusetzen, sondern Roß- und Grünstraße entsprechen sich. In beiden verzeichnet das Cöllner Schoßkataster auf beiden Seiten ununterbrochen „Haus und Hof", während in der Petristraße ununterbrochen Bude neben Bude steht. Seltsamerweise ist dies Mielke entgangen, obgleich er die Schoßregister zitiert. Aus ihnen ergibt sich, daß Roß- und Grünstraße auf der einen Seite des sogenannten Dorfangers genau der Breiten und der Brüderstraße auf der anderen Seite entsprechen, in deren Häuserblocks Mielke eine weitere Siedlungsepoche, eine deutsche Neustadt, erkennen will. Jetzt werden wir dem ganzen [ 4 In dem Aufsatz „Ist der Gründer Berlins endlich entdeckt -worden?" in: Jb. 1953 V. G. Berlins, S. 151 f.]

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Phantom des Angerdorfs zu Leibe rücken können. Cölln zeigt offenbar die ältere bekannte Grundrißform deutscher Städte, die P. J. Meier in einem Vortrag „Die Grundrißbildung deutscher Städte" (Mannheim 1919) Doppelrippensystem nennt; Jobst Siedler nennt sie „verbessertes Rippensystem". Dazu paßt es ausgezeichnet, daß der Vater der Stadtgrundrißforschung, Georg Fritz, in seiner Schrift „Deutsche Stadtanlagen" (Straßburg 1894) bemerkte, daß „Berlin und Cölln in dem Kern ihres Planes noch heute den besten Beweis liefern, daß von einer Entwicklung aus Fischerdörfern gar nicht die Rede sein kann, nur von planmäßiger Erbauung zweier Städte". Noch ein Wort über die Grundrißgestaltung Berlins möge hier angeschlossen werden. Kiekebusch hat energisch bestritten, daß die Grundrisse der mittelalterlichen Kolonialstädte eine Vorliebe für irgendwelche besondere Formen verrieten. Das Entscheidende sei stets die Anpassung an die Notwendigkeiten des Geländes. In dieser Allgemeinheit dürfte das nicht aufrecht zu erhalten sein. Ich verweise auf die sehr sorgfältige Arbeit von Franz Meurer „Der mittelalterliche Stadtgrundriß im nördlichen Deutschland" (1915). Sie kommt zu dem Ergebnis, daß am Ende der deutschen Stadtgrundrißentwicklung die rechteckige Stadtanlage steht, die einem systematischen Denken ihren Ursprung verdankt. Für Berlin allerdings möchte ich Kiekebusch zustimmen. Hier bilden die Ufer der Spree und der Übergang über sie die Grundbedingungen der Stadtplanung. Leider können wir, wie schon erwähnt, nicht mit Sicherheit darauf fußen, daß auch der Umfang beider Städte durch alte Flußarme bestimmt worden ist. Selbst der südliche, Cölln umfließende Spreelauf wird in mittelalterlichen Quellen als Graben bezeichnet, mag jedoch durch Vertiefung und Regulierung ursprünglicher Wasserrinnen und Teiche geschaffen worden sein. Würde sich auch der Stadtgraben um Berlin natürlichen Vorbedingungen anschließen, dann würde die Stadt von Anfang an bis zur heutigen Neuen Friedrichstraße geplant worden sein. Die schon früh geäußerte Vermutung, die Stadt hätte zunächst nur bis zur Oderberger, der späteren Königstraße, gereicht, wäre dann hinfällig. Ich selbst habe diese Grenze nie für wahrscheinlich gehalten und habe den Neuen Markt einem Ausbau innerhalb des Stadtgebietes, nicht einer Stadterweiterung zugeschrieben. Gerade weil mit der Gründung Berlins weitaussehende Pläne verfolgt wurden, kann sein Umfang nicht gering gewesen sein. Und je mehr man sich mit dem Stadtplan beschäftigt, um so mehr kommt man zu der Uberzeugung, daß die Oderberger Straße nicht die Stadtgrenze, sondern die Hauptquerstraße war. Sonst hätte eine solche der Stadtanlage

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gefehlt, da Parochial- und Rathausstraße erst später als enge Budengassen entstanden. Legt man dem Plan die von Meurer aufgestellten Typen zugrunde, dann wäre die Stadt eine Längsplatzanlage, bei der neben der Hauptstraße der Markt zu einem eigenen städtebaulichen Gebilde wird. Straße und Marktplatz, nebeneinander liegend, sind in gewissem Sinne voneinander abhängig. Parallel zur Hauptstraße — in Berlin die Spandauer Straße — werden weitere Straßen und regelmäßige Querstraßen ausgebildet. Die Hauptkirche pflegt auf dem Markt zu liegen. Alle diese Züge treffen für Berlin zu, das sich dadurch in die große Entwicklungstendenz des mittelalterlichen Städtebaus hineingestellt sieht, die vom älteren Deutschland in das Kolonialgebiet hinüberreicht. Und nun möchte ich noch einmal auf die Frage der Gründung Berlins und Cöllns zurückkommen. Die Angriffe, die von Herrn Berlin 5 und von den Vertretern der Nachbarwissenschaften auf die Resultate der im letzten halben Jahrhundert geführten Untersuchungen der Historiker gerichtet worden sind, dürften abgeschlagen sein. Wer ihnen ruhig gegenüberstand, mußte schon deshalb stutzig werden, weil sie zu sehr verschiedenen Ergebnissen kamen. Wenn der Stadtgrundriß eine so klar und unfehlbar redende Urkunde wäre, dann müßten doch wenigstens die Grundrißforscher übereinstimmen. Allein wir sahen, dies ist nicht der Fall. Es bleibt nur übrig, mit den Mitteln der historischen Kritik eine positive Theorie über den Ursprung der Spreestädte aufzustellen, die innere Wahrscheinlichkeit und Ubereinstimmung mit den quellenmäßigen Zeugnissen vereinigt. Selbstverständlich gehört zu diesen auch die Sprache des Stadtgrundrisses, die nur nicht so vernehmlich spricht, wie es zunächst scheinen mag. Immer wieder muß man von dem ersten Auftauchen der Namen Berlin und Cölln ausgehen. Bekanntlich wird Cölln zuerst genannt, und zwar 1237, während Berlin sieben Jahre später erscheint. In diesem Jahre, 1244, wird der 1237 als Pfarrer von Cölln genannte Simeon als Propst von Berlin bezeichnet. Aus der Erwähnung eines Propstes muß man schließen, daß Berlin damals Stadt war. Der Zusammenhang aber, in dem Simeon 1237 auftritt, nämlich in einer markgräflichen Urkunde als Zeuge, und zwar zwischen lauter städtischen Geistlichen, spricht dafür, daß auch Cölln bereits Stadt war. Da der Name Cölln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf das lateinische „Colonia" [ 5 Vgl. S. 26 Anm. 39.]

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zurückgeht6, ist hier nicht einmal in dem Namen eine Spur ehemaliger slawischer Siedlung zurückgeblieben. In Berlin verrät der Name, daß hier schon eine ältere Siedlung bestand, vielleicht ein Rastplatz für die Kaufleute, die offenbar schon sehr früh den über die Spree führenden Paß benutzten (Berth. Schulze „Der Paß von Berlin-Kölln": Zs. d. V. f. d. Gesch. Berlins 54. Jg., 1937). Daß dieser Platz keine große Bedeutung besaß, darf man vielleicht daraus folgern, daß er nie vor der Stadtgründung erwähnt wird. Allerdings lag hier keine Burg wie in Spandau und Köpenick, die daher schon früh genannt werden. Jedenfalls ist das, was vorher hier vorhanden war, restlos verschwunden, als die Markgrafen die Stadt Berlin gründeten und ihr eine überragende Stellung in ihrem neuen Herrschaftsgebiet zuwiesen, sich auch einen H o f innerhalb der Stadt vorbehielten, auf dem später das „Hohe Haus" stand. Das hat Johannes Schultze 1952 in seinem schönen Aufsatz über Brandenburg und Berlin in der Festgabe zum 90. Geburtstag Friedrich Meineckes überzeugend nachgewiesen7. Im Gegensatz zu Berthold Schulze sieht er ein ausschlaggebendes Moment für die Stadtanlage an dieser Stelle darin, daß sie ein Gegengewicht zu dem damals im Besitze der wettinischen Markgrafen befindlichen Köpenick bilden sollte. Von Anfang an ist Berlin eine rein deutsche Stadt gewesen — dies und nicht ihr Name sind für ihr Wesen ausschlaggebend. Mein Amtsvorgänger als Berliner Stadtarchivar, Paul Clauswitz, hat mit Gründen, die meiner Ansicht nach durchschlagend sind, gezeigt, daß Berlin älter sein muß als Cölln. Ich möchte vermuten, daß die Markgrafen Johann und Otto den Entschluß zur Gründung der Stadt gefaßt haben, als sie 1229 nach einer Niederlage durch den Erzbischof von Magdeburg in Spandau Zuflucht fanden. Damals oder gleich danach müssen der Teltow und der Barnim endgültig in ihren Besitz übergegangen sein8. Sie haben später noch eine erhebliche Anzahl von Städten in ihrem sidh immer weiter ausdehnenden Lande gegründet. Was kann näherliegen, als die erhaltenen Gründungsurkunden dieser Städte heranzuziehen, wenn wir uns ein Bild davon machen wollen, wie in jenen [® Ebenso Joh. Schultze, Rixdorf-Neukölln,

Berlin

1960, wogegen

Mörsdorffs

(Kirchliches Leben im alten Berlin) gegenteilige Ansicht bloße Vermutung bleibt, ohne jeglichen Versuch eines Beweises.] [ 7 J . Schultze, Caput marchionatus Brandenburgensis. In: Jb. f. d. Gesch. d. dt. Ostens 1, 1952.] [ 8 Vgl. hierzu jetzt J . Schultze, Die Mark Brandenburg, 3 Bde, Berlin 1961—63, wo auch weitere Literatur genannt wird.]

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Jahren deutsche Städte entstanden. Krabbo hat das in seinem schon erwähnten Aufsatz getan. Zieht man die Urkunden von Friedland (1244), Lydien und Neubrandenburg (beide 1248), Frankfurt (1253), Neulandsberg (1257) und Stargard (1259) heran, dann erhält man gerade durch die Gleichartigkeit der Grundtatsachen einen eindrucksvollen Begriff von der Geburt deutscher Städte auf dem jungen Kolonialboden. Immer wieder begegnet die Wendung, daß der Markgraf den mit der Ausführung seiner Absicht Beauftragten die Aufgabe zuweist, die neue Stadt zu erbauen. Er überläßt dieser einen ausreichenden, nach Hufen bemessenen Landbesitz und gewährt ihr für eine Reihe von Jahren Abgabenfreiheit. Das muß auch in der schon früh, vielleicht bei dem großen Brande von 1380, verlorengegangenen Gründungsurkunde Berlins gestanden haben. Mielke hat gegen die wörtliche Auffassung des Ausdrucks „erbauen" eingewandt, daß in Böhmen die Worte „fundare" oder „construere", also „gründen" oder „erbauen", nicht die Anlage einer Stadt „aus wilder Wurzel", wie man zu sagen pflegt, bedeuten, sondern nur „den endgültigen Abschluß einer langen Entwicklung". Dafür hat Bretholz in seiner Geschichte Böhmens genügende Belege beigebracht. Aber doch nur für Böhmen, wo nach Bretholz' geistvollen Ausführungen überhaupt keine deutsche Kolonisation im strengen Sinne des Wortes stattgefunden hat 9 . Es ist keineswegs erlaubt, die ganz besonderen böhmischen Verhältnisse auf die völlig andersgearteten Verhältnisse im Osten von Havel und Spree zu übertragen. Dieses Kolonialgebiet ist ja auch planmäßig mit deutschen Bauerndörfern besiedelt worden. Wir haben so viele, auch von den Siedlungsforschern nie bestrittene Beispiele von systematisch angelegten deutschen Dorfneugründungen, daß wir keine Veranlassung haben, die Neugründung von Städten abzulehnen. Nur wenn zwingende Gründe dafür sprechen, darf man die Ausdrücke der Urkunden anders auslegen, als ihr klarer Wortlaut es verlangt. Wenn der von Mielke zitierte Volz sagt: „Die Nachrichten über die sogenannten Gründungsstädte, welche gewissermaßen aus dem Nichts durch einen förmlichen Gründungsakt über Nacht zustande gekommen sein sollen, müssen mit der größten Vorsicht behandelt werden", so ist dies eine in ihrer Allgemeinheit willkürliche Behauptung. Ich weise dafür auf die sorgfältige Untersuchung von Joh. R. Kretzschmar hin: „Die Entstehung von Stadt und Stadtrecht in den Gebieten zwischen der mittleren Saale [ 9 Zu dieser Frage äußerte sich zuletzt B. Schulze, Berlins G r ü n d u n g u n d erster Aufstieg. I n : Berlin. N e u n Kapitel seiner Geschichte. Berlin 1960.

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und der Lausitzer Neiße" (Breslau 1905)10. Von 32 Städten sind elf nicht im Anschluß an eine Burg entstanden. Neben neun Städten lag ein Dorf, aber „nirgends ist aus einem Dorf eine Stadt geworden". Die Burgen und die ihnen entsprechenden Burgwardbezirke lagen vornehmlich im westelbischen, selten im ostelbischen Gebiet. In diesem begegnen nur regelmäßige Stadtanlagen, sie sind „gegründet, nicht gewachsen" und werden mit einem fertigen Stadtrecht ausgestattet. Das gleiche muß für die von den askanischen Markgrafen seit etwa 1230 ins Leben gerufenen märkischen Städte zutreffen. Die ersten unter ihnen waren Berlin und Cölln. Vielleicht darf man auch eine pommersche Urkunde, allerdings erst vom 24. Juni 1349, heranziehen. In ihr erlaubt Herzog Bornim von Pommern zwei Rittern von Greifenberg, „daß sie mögen eine Stadt machen zu Greifenberg und sie legen mögen vor ihr Haus auf dem Werder und sie befestigen und ummauern". Es wird also vor einer Burg, aber völlig unabhängig von ihr, auf einer Insel, eine Stadt neu gebaut. Noch bleibt die Frage nach der Zeit der Gründung Berlins und Cöllns zu beantworten. Seit dem Aufsatz von Passow" ist viel Scharfsinn auf den Nachweis verwandt worden, daß der Barnim schon vor 1198 von Markgraf Otto II. erobert worden sei. Otto Hintze weist dagegen in seinem Buche „Die Hohenzollern und ihr Werk" (Berlin 1915) darauf hin, daß die Zeit für die Erwerbung des Teltow und des Barnim durch die brandenburgischen Markgrafen erst reif war, als die Dänenherrschaft über das nordöstliche Deutschland 1227 durch die Schlacht von Bornhöved beseitigt worden war. Werner Gley hat allerdings in seinem Buche „Die Besiedlung der Mittelmark" (1926) Passows These wiederaufgenommen, und Harmjanz ist ihm in seiner schon erwähnten Schrift darin gefolgt. Im Jahre 1187 muß der Teltow noch in der Hand der Slawen gewesen sein, sonst hätte in diesem Jahr der Bischof von Brandenburg nicht einen Angriff der Heiden auf seine Kirche für möglich halten können. Wir werden an der Nachricht der Sächsischen Fürstenchronik festhalten müssen, daß die Brüder Johann und Otto nach ihrer Mündigwerdung, d. h. nach 1225, den Teltow und Barnim erworben haben. Der Ausweg, dies als eine „offizielle" Erwerbung zu deuten, der eine tatsächliche vorangegangen sei, kann nur insoweit richtig sein, als Teile [ 1 0 D a s Problem der Stadtentstehung steht heute erneut im Mittelpunkt zahlreicher Untersuchungen. Eine gründliche Übersicht — mit dem Stand von 1954 — bietet das bereits S. 35 A n m . 3 zitierte Buch v o n H a n s Planitz.] " Siegfried Passow, D i e Okkupation und Besiedlung des Barnim. In: F B P G 14, 1901 — Gegen Passows These wandten sich u.a. Krabbo und H o p p e , F B P G 25, 1913, Sitzungsberichte S. 13.]

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des Barnim vorher militärisch besetzt worden sind. Auch die von Gley herangezogenen romanischen Kirchen im Teltow, Barnim und im Lebusischen beweisen nichts für die Besiedlung dieser Landschaften vor 1225. Eine ganze Reihe von diesen Kirchen ist nachweislich erst später erbaut worden. So die in den drei, sicher nicht vor 1226, wahrscheinlich erst um 1230 durch das Kloster Zinna erworbenen Barnimdörfern Herzfelde, Werder und Klosterdorf. Ähnlich liegt es bei den Templerdörfern Lietzen, Heinersdorf und Tempelburg im Lande Lebus, in deren Besitz der Orden erst 1223 gelangte. Es kann auch unmöglich ein Zufall sein, daß bis zum Jahre 1230 zahlreiche Ortsnamen aus der Altmark, dem Havellande und der Zauche urkundlich überliefert sind, während Dorfnamen aus dem Teltow und dem Barnim erst seit dem Ende der dreißiger Jahre, dann aber in großer Fülle auftauchen. Im Anschluß an Krabbo hatte ich für Berlin als Gründungsdatum etwa das Jahr 1230 angenommen. Für dieses Jahr spricht mit die bekannte Urkunde vom 7. März 1232, nach der alle Städte im Teltow, im Glin und im neuen Land Barnim ihr Recht von Spandau erhalten sollten. In Berlin geschah dies nicht, es erhielt Brandenburger Stadtrecht. Da Berlin aber vor der ersten Erwähnung Cöllns, d. h. vor 1237, gegründet sein muß — Joh. Schultze freilich ist anderer Ansicht —, schloß man, daß es vor dem 7. März 1232 gegründet wurde, da es sonst doch wohl Spandauer Recht erhalten hätte. Schultze glaubt sogar, daß die Zusage an Spandau ein Äquivalent dafür gewesen sei, daß es durch die Gründung der Spreestädte offenbar ins Hintertreffen geraten sei. Clauswitz hat diesen Schluß abgelehnt, weil überhaupt keine Stadt im Teltow und Barnim nachweisbar ihr Recht von Spandau bekommen hat und weil die Urkunde von 1232 keinen Zwang habe ausüben wollen. Es heiße in ihr nur, die Städte sollten ihr Recht von Spandau empfangen, „falls sie auf die Gnade der Markgrafen Wert legten". Diese Formel drückt indessen in der Sprechweise ihrer Zeit die Absicht eines Zwanges aus. Daß dieser bei den späteren Stadtgründungen nicht mehr beachtet worden ist, hat seinen Grund sicher darin, daß Spandau von einer uns nicht näher bekannten Katastrophe betroffen wurde und 1240 gewissermaßen noch einmal begründet werden mußte. Daß sich Berlin aber schon unmittelbar nach dem 7. März 1232 über diese Vorschrift hinweggesetzt haben sollte, ist nicht wahrscheinlich. War es doch eine Stadtgründung derselben Markgrafen, die Spandau das Privileg von 1232 verliehen. Daß Berlin und Cölln ihr Dasein als deutsche Stadt dem eigentlichen Städtegründer Johann I. allein oder gemeinsam mit seinem später vor

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allem den Werken der Frömmigkeit zugewandten Bruder verdankten, geht auch daraus hervor, daß die Markgrafen das Patronat über die Pfarrkirchen besaßen. Die Kolonialdörfer wurden dagegen in der Regel durch Adlige oder durch geistliche Körperschaften gegründet, denen dann das Patronat über die Dorfkirchen zustand. Auch deshalb ist die Vorexistenz eines deutschen Dorfes Berlin oder Cölln nicht anzunehmen. Es wird also dabei bleiben müssen, daß Berlin um 1230 unter Verwischung dessen, was vorher einmal dort bestanden haben mag, als echte deutsche Kolonialstadt ins Leben getreten ist. Es fügt sich damit in den Rahmen der größten kulturpolitischen Leistung des deutschen Volkes im Mittelalter als ein vollwertiges Glied ein.

Die Berliner Juden im Mittelalter Daß in den Straßen Berlins, den von Licht übergossenen, vom Tempo der amerikanisierten Zeit durchrasten, je Mittelalter gewesen, klingt es nicht wie eine Legende, fremd und seltsam? Daß auf diesem gleichen Boden, auf dem das entfesselte Leben des 20. Jahrhunderts nach Gewinn und Genuß stürmt, je des Mittelalters streng gebundene Kultur erwachsen konnte, würden wir es glauben wollen, wenn nicht die Geschichte es lehrte? Wie wenige unter den Millionen, die sich Einwohner Berlins nennen, haben die Bauwerke jener Jahrhunderte, die Kirchen des alten Berlins gesehen! Und wer mag in den ach so seltenen müßigen Stunden, die Beruf und Sport dem modernen Menschen gönnen, einmal einen Blick in die Aufzeichnungen geworfen haben, aus denen der Geschichtsschreiber das Bild der Vergangenheit zu formen sucht. Freilich, schwer zu deuten sind diese Zeugnisse und gering ist ihre Zahl. Keine unmittelbar das Leben widerspiegelnde Chronik ist uns erhalten; Urkunden und Rechtssätze bilden fast allein die Quellen, aus denen der Historiker schöpfen kann. Es ist vielleicht die schwierigste Aufgabe, die dem Biographen der Reichshauptstadt gesetzt ist, ihre Jugendgeschichte zu schreiben. Aber gerade sie zieht ihn an. Die Anfänge will er ergründen, aus denen das Spätere hervorgegangen ist. Und so mag auch der Versuch, den frühesten Schicksalen der Juden im mittelalterlichen Berlin nachzuspüren, Anteilnahme bei dem Geschlecht der jetzt Lebenden finden, selbst wenn um der Mängel der Ueberlieferung willen manches Dunkel nicht gelichtet, manches uns vielleicht weniger Wichtige geschildert werden wird. I Als im 13. Jahrhundert die Stadt Berlin entstand, war die heroische Epoche abendländischen Christentums schon zu Ende gegangen, war das alte deutsche Kaisertum Friedrich Barbarossas seinem Untergang nahe. Fern von den Zentren des Reiches und seiner Kultur erwuchs Berlin im Schutze des brandenburgischen Markgrafentums der Askanier im neu gewonnenen kolonialen Land. Fertig übernahm es, was auf historischem Boden in Jahrhunderten sich gebildet hatte, städtisches Recht

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Juden

im

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und städtische Verfassung. Und so übernahm es auch die Träger des städtischen Geld- und Pfandverkehrs, die Juden, deren Zahl und deren wirtschaftliche Bedeutung in Deutschland seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts, seit der strengeren Durchführung des kirchlichen Zinsverbots sich gehoben hatte. Ein halbes Jahrhundert nach der frühesten Erwähnung Berlins hören wir zum erstenmal von ihnen, aus einem jener Handwerkerprivilegien, die uns die älteste Kunde vom Wirtschaftsleben der neuen Stadt an der Spree überliefern. Es ist nur ein einziger Satz und bezeichnenderweise ein Verbot: den Tuchmachern wird durch den regierenden Rat der Stadt in dem Privileg vom 28. Oktober 1295 untersagt, bei den Juden Garn einzukaufen. Zum Geld-, nicht zum Warenhandel sind die Juden, wie überall, so auch in Berlin berufen. Daß in der Tat auch hier das den Christen nach kanonischem Recht verbotene Geldleihen ihr Hauptberuf war, lehren uns zwei Urkunden der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Als 1319 Markgräfin Agnes und Herzog Rudolph die Vorrechte Berlins und seiner Schwesterstadt Cölln am anderen Ufer des Flusses bestätigten, fügten sie hinzu, daß kein Jude höhere als die hergebrachten Zinsen nehmen, sondern sich mit dem von alters her anerkannten Satze begnügen solle. Wenn aber zugleich Uebertretungen des markgräflichen Münzrechts mit der Strafe für Fälscher, dem Feuertode, bedroht wurden, dann sollte dies keine Ausnahmebestimmung für die Juden sein, sondern ebenso auch Christen treffen. Aehnlich wird in einem Münzvertrag, den 1322 Berlin und Cölln mit Brandenburg abschlössen, den Juden der Ankauf von Silber nicht gestattet — sie sollen sich mit ihren Zinsgeschäften begnügen —, Eingriffe in das Recht des Münzmeisters jedoch werden den Angehörigen beider Konfessionen verboten. Auch dem Rate der verbündeten Städte sind Münzvergehen Dinge, die nicht an Rasse und Religion gebunden sind! Als diese Urkunde ausgestellt wurde, hatte das Berliner Bürgertum bereits die Schranken überwunden, die seiner Herrschaft über die in der Stadt wohnenden Juden bisher entgegengestanden hatten. Markgraf Waldemar, dem die Nachwelt, kaum mit Recht, den Beinamen des Großen verlieh, hatte 1317 auf die Ausübung der Gerichtsbarkeit und damit des wichtigsten Hoheitsrechts über die Juden Berlins und Cöllns verzichtet. Wie die Bürger standen sie nun unter der strafrechtlichen Gewalt des Stadtrichters. So waren die Berliner Juden in die Rechtsordnung der Stadt aufgenommen, wurden vielleicht sogar Bürger, wenn wir einen naheliegenden Schluß aus den Zuständen anderer märkischer Städte ziehen dürfen. Wohl geschah gelegentlich ein Ubergriff gegen einen Juden, wie 1336 die Gefangennahme des Smolke aus Berlin, doch

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war dies sicher kein Symptom eines allgemeinen Judenhasses. Auch ließ sich Herzog Rudolph von Sachsen, unter dessen Schutz Smolke stand, das Vorgehen der Stadt nicht gefallen und verzieh ihr erst, als sie ihm eine bedeutende finanzielle Unterstützung in Aussicht stellte. Den Umfang der Geldgeschäfte Berliner Juden dieser Zeit beleuchtet ein noch heut erhaltener Schuldschein von drei Einwohnern des Dorfes Markau für die Juden Meyer und Mache: die in ihm angegebene Summe freilich ist so unwahrscheinlich hoch, daß wir in der Zahl einen Schreibfehler sehen müssen. Strenge Ordnung des Daseins, Abgeschlossenheit jedes geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Kreises, jeder Stand, jeder Beruf der Erfüllung der ihnen eigenen Aufgaben hingegeben — das ist die Form mittelalterlichen Lebens. Auch dem Juden ist die Aufgabe zugewiesen, die er an seinem Teile zu erfüllen hat; Zusammenstöße mit den Angehörigen anderer Berufe sind so vermieden. Nur zu einem Gewerbe mußten Gegensätze entstehen, zu dem der Fleischer. Wollte man den Juden nicht das Heiligste nehmen, die Befolgung ihres Gesetzes, dann mußte ihnen erlaubt sein, nach den Vorschriften dieses Gesetzes Vieh zu schlachten. So war es auch in Berlin, und es hatte sich daraus der Brauch entwickelt, daß sie das ihnen aus religiösen Gründen verbotene Fleisch an Christen weiterverkauften. Das aber bedeutete einen so tiefen Eingriff in die Rechte der Fleischerinnung, daß der Rat sich im Jahre 1343 zu einer Regelung entschloß, wie sie ähnlich in Brandenburg schon seit Jahren bestand. Er verbot die vorgekommenen Eingriffe in die Vorrechte der christlichen Fleischer und gestattete den Juden nur, das von ihnen geschlachtete Vieh in ganzen Vierteln wieder zu verkaufen, also vor allem wohl an die Schlächter, die es dann ihren Kunden weitergeben mochten. Dazu unterwarf er den Fleischeinkauf der Juden den allgemein gültigen Marktgesetzen und den gesundheitspolizeilichen Vorschriften, deren Innehaltung ihren christlichen Genossen in gleicher Weise Pflicht war. Wie widitig diese Bestimmungen den Menschen des 14. Jahrhunderts erschienen, können wir schon aus der Ueberschrift erkennen, die ihnen bei der Eintragung in das berühmte Berliner Stadtbuch des 14. Jahrhunderts gegeben wurde: „judeorum litera"; es ist die Urkunde der Berliner Judenschaft. Aber auch der Text selbst betont die Bedeutung des Inhalts, wenn er mit einem feierlichen Zitat des auch dem christlichen Mittelalter teuren Philosophen Aristoteles die Urkunde beginnen läßt. Nicht der Willkür ausgeliefert, sondern einer dem Geiste der Zeit entsprossenen Ordnung eingefügt, war ja auch das Judentum. Einer Ordnung, die ebenso schützte, wie sie beschränkte. Aber sie war

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nicht stark genug, um dem Ausbruch dunkler Leidenschaften zu widerstehen, dessen Vorboten sich schon ankündigten. II Die Zeit der Askanier, der Begründer der Mark Brandenburg, war zu Ende gegangen. Markgraf Waldemar war gestorben, sein letzter, unmündiger Nachfolger war ihm 1320 im Tode gefolgt, seine Witwe und seine Verwandten im alten sächsischen Stammlande des askanischen Hauses hatten die Mark nicht zu behaupten vermocht. Sie war, von den Nachbarn ringsum bedrängt, in die Hände des wittelsbachischen Hauses gelangt, war hineingezogen worden in den verhängnisvollen Kampf des Papsttums mit Kaiser Ludwig von Bayern. Ohne dauernden Erfolg versuchte des Kaisers Sohn, als Markgraf von Brandenburg Ludwig der Aeltere genannt, seine Herrschaft gegen äußere und innere Feinde zu sichern. Die schwerste Erschütterung seiner Macht, die tiefste Zerrüttung zugleich aller Zustände brachte die Erscheinung jenes Abenteurers, der 1348 mit dem Anspruch auftauchte, der für tot gehaltene, in Wahrheit aber nach dem Heiligen Lande gepilgerte Markgraf Waldemar zu sein. Berlin hat mit anderen Städten Jahre hindurch an ihn geglaubt, ihn als des Landes Herrscher anerkannt. In diese Zeit fällt der erste Judensturm, von dem die märkische Geschichte weiß. Unter der Regierung Ludwigs von Bayern hatte sich, unwillkommen dem Herrscher, eine „Bewegung von unten her" gegen die deutschen Juden ausgebreitet. Ludwigs Wille war es gewesen, ihr Wohl zu fördern, sie als eine Quelle finanzieller Macht zu schützen. Standen sie doch seit den Tagen Heinrichs IV. unter dem Schutz des Königs, hatte sie doch Friedrich II. geradezu als sein Eigentum betrachtet, Konrad IV. sie als Knechte seiner Kammer, als Gegenstand seiner Steuerhoheit bezeichnet. Wie hätte Ludwig nicht suchen sollen, die goldene Henne zu pflegen, als die er die wohlhabenden Juden, vor allem im Westen und Süden des Reiches, schätzte. Aber eben ihr Reichtum, der ganze Städte in ihren Pfandbesitz geraten ließ, weckte den seit dem zweiten Kreuzzug immer nur schlummernden Haß zwischen Juden und Christen; in Süddeutschland, am Rhein, in Mähren und Böhmen entlud er sich in blutigen Gewalttaten. Noch blieb die Mark verschont, noch konnte 1344 Ludwig der Aeltere seinen „lieben Kammerknechten", den Juden der Neumark, in dem umfassendsten aller bisherigen Privilegien einen Beweis seiner Gnade geben. Da entfesselte die große Pest von 1348/49, der schwarze Tod, einen schauerlichen Ausbruch des Hasses. Vom Rhein, von den 4

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Städten der Kultur aus flog das unsinnige, von einem verzweifelten Volke blind geglaubte Gerücht durch die Lande, die Juden hätten die Brunnen vergiftet, trügen Schuld an dem furchtbaren Sterben. Was folgte ist nur zu bekannt. Auf lange hinaus wurde die Stellung der deutschen Juden gerade in den Gebieten vernichtet, in denen sie am glänzendsten gewesen war. Auch die Mark erreichte der Sturm. Zwar suchte Markgraf Ludwig, suchte der Rat einzelner Städte, das Unheil abzuwenden. Noch im November 1349 befahl der Markgraf dem Rat von Spandau, die Juden vor ungerechten Angriffen zu schützen; der Rat von Prenzlau verhieß im gleichen Jahre gemeinsam mit den Meistern der Innungen den jüdischen Mitbewohnern seinen Schutz. Aber schon im nächsten Jahre brachte der Markgraf selbst die Judengemeinde im neumärkischen Königsberg der Volksleidenschaft zum Opfer. Was im einzelnen in Berlin geschehen ist, wissen wir nicht, wissen auch nicht, ob die Kämpfe zwischen den bayerischen Markgrafen und dem Prätendenten Waldemar dazu beigetragen haben, die Stellung der Juden zwischen den Parteien noch unglücklicher zu gestalten, als sie es ohnehin schon war. Wer das Berliner Urkundenbuch durchblättert, wird darin eine Urkunde vom 21. Oktober 1350 finden, die nähere Aufschlüsse zu gewähren scheint. Sie enthält eine Schenkung Markgraf Ludwigs an den Dekan von Soldin, Dietrich Morner, und seine Brüder, denen er „das Haus, das einst der Jude Meyer" in Berlin bewohnte, mit der Synagoge schenkt. Sicher ist die Urkunde ein Zeugnis der Vertreibung der märkischen Juden, die in diesem Jahre erfolgte, allein sie bezieht sich nicht auf unser Berlin, sondern auf das kleine Berlinchen in der Neumark, das im Mittelalter Neu-Berlin und manchmal auch nur Berlin genannt wurde. Daß aber auch die Juden Berlins ihren Anteil an der Tragödie ihres Volkes erleiden mußten, dafür zeugt eine spätere Urkunde vom 22. Juli 1351, durch die der Markgraf seinen Frieden mit Berlin und Cölln schloß, die so lange der Fahne des falschen Waldemar gefolgt waren. In ihr versprach der Fürst, der sich nun wieder als der Schirmherr seiner Juden aufspielte, „alle Geschichten, die an den Juden geschehen waren, aus seinem Herzen zu tilgen". Er war damals ernsthaft gesonnen, die judenfreundliche Politik seines Vaters fortzusetzen. Im nächsten Jahre erließ er den Befehl, die Juden wieder in seine Lande aufzunehmen, freilich nicht aus humanitären Gründen, die seiner Zeit noch sehr fern lagen. Ihn leiteten nackte wirtschaftliche Interessen, denen er naiv-offenen Ausdruck verlieh. „Um des Gebrechens willen, das im Lande gewesen um Geld seit der Zeit, als die Juden verderbt sind", befahl er ihre Rück-

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kehr in seinen Staat. Noch waren die Juden als Vermittler des Geldverkehrs unentbehrlich. Nicht überall in der Mark hatte die Verfolgung ihr Ziel erreicht. Dem Rat von Prenzlau war es gelungen, den Schutz der Juden wirksam durchzuführen, obgleich die Kirche dafür so wenig Verständnis besaß, daß sie noch 1360 über die Stadt ihrer Duldsamkeit wegen das Interdikt verhängte. Denn so gewiß wirtschaftliche Gegensätze halfen, das Verhältnis zwischen Juden und Christen zu vergiften, entscheidend war doch das religiöse Moment, das der Verfolgung zugrunde lag. Alles Große und Erhabene wie alles Unbegreifliche und Schauerliche des Mittelalters ist seiner religiösen Bedingtheit entsprungen. Dem Befehl des Markgrafen sind viele Städte gefolgt. Sie mochten selbst die Notwendigkeit des jüdischen Handels fühlen. Früh schon hatte Cölln dieses Bedürfnis empfunden und sich 1354 die Erlaubnis geben lassen, sechs jüdische Familien und einen jüdischen Lehrer, einen judaeorum magister, in seine Mauern aufzunehmen. Wie sein Vater als König, so nahm der jetzt regierende jüngere Ludwig der Römer als Markgraf die Juden als seine Kammerknechte für sich in Anspruch. Mit der Vertreibung der ursprünglich angesessenen Juden scheinen Berlin und Cölln das ihnen von den letzten Askaniern gewährte Herrschaftsrecht über ihre jüdischen Mitbewohner verloren zu haben. So war es denn der Markgraf, der den sechs Cöllner Juden die gleichen Rechte verlieh, die sie in anderen Städten des Landes besaßen. Auch in Berlin müssen bald wieder Juden ihren Wohnsitz genommen haben. Die regierenden Herren beider Städte waren ihnen günstig gesinnt. Als sie 1363 sich über gewisse finanzielle Streitfragen einigten, versprachen sie sich, ihre Juden in ihren Häusern wohnen zu lassen und sie wie andere Bürger zu „hegen und zu verteidigen". Die Katastrophe um die Mitte des 14. Jahrhunderts hatte zahllose Angehörige der Judenheit getroffen, der Gesamtheit hatte sie in der Mark Brandenburg noch nicht die Daseinsmöglichkeit genommen. J a , die Wiederherstellung der landesherrlichen Oberhoheit über sie durfte ihnen ein Gefühl stärkerer Sicherheit verleihen als der Schutz, den ihnen die herrschenden Ratsgeschlechter der Städte zusagen konnten.

III Den Markgrafen aus dem bayerischen Hause der Wittelsbacher war weder Ruhe noch Dauer ihrer Herrschaft beschieden gewesen. Seit dem Jahre 1373 lösten die Luxemburger sie ab. Aber nur die kurzen Jahre von 1373 bis 1378, als Kaiser Karl I V . selbst die Zügel in starker Hand 4»

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hielt, waren glücklich und friedevoll. Als er aus dem Leben schied, folgten noch dunklere Zeiten, als es die von politischen und religiösen Kämpfen erfüllte Periode der bayerischen Herrscher gewesen war. Zügelloser als je, von keiner festen Staatsgewalt in Schranken gehalten, lagen fremde und einheimische Machthaber miteinander in Fehde. Wollten die Städte der Mark ihnen nicht schutzlos ausgeliefert sein, mußten sie selbst die Waffen ergreifen und versuchen, durch Zusammenschluß eine Macht im verfallenden Staate zu bilden. Berlin hatte das Gebot der Stunde erkannt. Als Haupt des Bundes der mittelmärkischen Städte hatte es im Verein mit dem älteren Brandenburg und dem jüngeren Frankfurt während der Regierung des gescheiten, aber unzuverlässigen und in die Schicksale des Reiches und der böhmischen Länder verstrickten Markgrafen Jobst seine Stellung behauptet. Das Glück hatte es nicht als Genossen; 1376 und 1380 hatten schwere Brände seinen Wohlstand erschüttert. Es hatte den Mut nicht verloren, ja, es ist schon 1391 imstande gewesen, das wichtigste Recht zu erwerben, das ihm zu seiner halb republikanischen Stellung noch fehlte, das der Gerichtsbarkeit. In ihrem Besitze schritt es zu der bedeutsamen Kodifikation seines öffentlichen und privaten Rechts, die uns in dem Stadtbuche aus dem letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts erhalten ist. Diesem verdanken wir einen tiefen Einblick in die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Berliner Juden des Mittelalters lebten. Es ist nicht das düstere Bild, das wir vielleicht erwarten. Ist der Jude auch nicht vollberechtigtes Mitglied der Bürgerschaft, so teilt er doch dieses Schicksal mit der Urbevölkerung des Landes, den Wenden, er teilt seine Ausnahmestellung mit den deutschen Angehörigen der „unehrlichen" Berufe, wie dem des Scharfrichters, und mit den unehelich Geborenen. Fehlt es so nicht an Parallelen zu der dem Juden im Rahmen der mittelalterlichen Gesellschaft eingeräumten Stellung, etwas ihn von allen anderen Unterscheidendes haftet ihm doch an: er ist nicht Mitglied der christlichen Kirche, die das eigentliche Fundament allen staatlichen und gesellschaftlichen Lebens der abendländischen Völker bildet. Und so fühlt der Verfasser des Berliner Stadtrechts die innere Notwendigkeit, sich und seinen Lesern eine Erklärung darüber zu geben, wie es trotz dieses Gegensatzes möglich gewesen sei, jenen fremden Bestandteil der christlichen Gemeinschaft einzugliedern. Diese einleitenden Zeilen erhellen das Denken der Zeit in so überraschender Weise, daß wir sie in hochdeutscher Ubersetzung folgen lassen dürfen: „Hier beginnt das Recht der Juden, die nur an den lebendigen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erden und alles, was darin ist,

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glauben und das alte Gesetz halten und des neuen Gesetzes Widersacher sind, das heißt der ganzen Christenheit, so daß sie Christus, den wahren Gott, zu seinem unschuldigen Tode als Mensch brachten. Darum ist es wunderlich, daß man den Juden gestattet, innerhalb der Christenheit zu leben. Nun lehren die heiligen Lehrer der Christenheit, daß man die Juden bei den Christen aus vier Ursachen leben läßt. Erstens, weil wir das Gesetz von ihnen haben, durch das wir Zeugnis von Christus besitzen; zweitens, um der alten Väter willen, von denen Christus als Mensch abstammt, nämlich von dem Geschlecht Jesse; drittens, um der Bekehrung der Juden willen, da sie alle noch vor dem strengen Gericht Gottes (dem Jüngsten Gericht) bekehrt werden sollen; viertens, wegen der Erinnerung an Christus; denn so oft wir die Juden sehen, so oft sollen wir das Gedächtnis seiner teuren Marter in unserem Herzen tragen." Unvermittelt für unser Empfinden stehen die drei ersten Gründe neben dem vierten, stehen die innere Bindung an das jüdische alte Gesetz wie an Christi leibliche Vorfahren und die Hoffnung auf künftige Bekehrung der Juden neben der steten Erinnerung an die Urheber des Todes Christi, jener Erinnerung, aus der immer wieder die Flammen des Hasses emporschlagen konnten. Die Zeit des Berliner Stadtrechts allerdings erlebt diesen H a ß nicht. Sie hat selbst sein Symbol beseitigt, die mit echt mittelalterlicher Freude am sinnlichen Ausdruck des Gedankens ausgeklügelte Form, in der früher die Juden vor Gericht ihren Eid zu leisten hatten. Jetzt beschwört der Jude nicht mehr, mit bloßen Füßen auf einer Sauhaut vor der SchöfTenbank stehend, in immer neuen Wendungen Gottes und des Teufels Strafe für den Fall eines Meineides auf sich herab. Die „Obersten", die Ratsherren der Stadt, haben an die Stelle jener Formel einen kurzen Eid treten lassen, der in der Synagoge auf das Buch Moses oder Josua abgelegt wird. Das Eidesformular lautet nun einfach; „Die Beschuldigung, der dich der N. zeiht, der bist du Jude N. unschuldig, so wahr dir der lebendige allmächtige Gott Eloy Adony helfe, der Moses das Gesetz auf dem Berge Sinai gab." Es ist eine ähnliche Form, wie sie uns auch schon in Markgraf Ludwigs Privileg für die neumärkischen Juden begegnet und wie sie später durch den ersten Hohenzollern ausdrücklich festgelegt wurde. In einer der dem Rate gehörenden neun Judenbuden und in den dahinterliegenden zwei kleinen Buden, die wir noch heute in den Häusern des Jüdenhofes erkennen können, und in deren unmittelbarer Nachbarschaft sicher auch ihre Schule lag, wohnten die Juden Berlins. Gebunden waren sie an diese Häuser nicht, sie durften auch außerhalb der städtischen Buden wohnen. Diese waren selbst damals wohl kein Ghetto im strengen

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Sinne, wenn auch die örtlichkeit dafür spricht, daß ursprünglich eine Trennung der Juden von der übrigen Einwohnerschaft bestand. Nirgends ist von einem Verschließen des Judenhofes durch dafür bestimmte Diener, „Judenknechte", die Rede. Unverändert hat das Berliner Recht die grundlegenden Sätze des berühmten „Sachsenspiegels" Eyke von Repkows über die allgemeine Rechtsstellung der Juden übernommen. Sie stehen wie die anderen Personengruppen, die nicht Waffen tragen, im Schutze eines ständigen Friedensgebotes und gelangen so juristisch in die unmittelbare Nachbarschaft der Geistlichen. Tragen „Pfaffen und Juden" Waffen, dann hört dieser besondere Schutz auf, „denn die sollen keine Waffen führen", die unter dem täglich wirksamen Königsfrieden stehen. Mit diesem Schutz hängt die besondere Tracht zusammen, die dem Juden vorgeschrieben ist, der spitze Hut, der ihn als befriedeten Mann kennzeichnet, wie den Geistlichen Habit und Tonsur. Nur verbinden sich mit diesem Motive die ganz andersgearteten, aus denen heraus das große Laterankonzil des Jahres 1215 für die Juden die eigentümliche Kleidung bestimmt hatte. Sonst stehen die Bekenner beider Religionen rechtlich gleich. Der Jude, der an Christen einen Totschlag oder eine Gewalttat begeht, wird nicht schwerer bestraft, als wenn es sich um ein Verbrechen unter Christen handelte. Bei Schuldklagen zwischen Juden und Christen muß der Kläger stets einen Angehörigen der Religion seines Gegners als Zeugen beibringen. Günstiger sogar als der Christ steht der Jude in der Ausübung seines Berufes da. Einen interessanten Beweis dafür gibt uns eine bisher unbekannte Urkunde des Jahres 1384, durch die sich die Berliner Schuhmachergesellen zu einer Korporation zusammenschließen und in zahlreichen Artikeln die Pflichten ihrer Mitglieder festsetzen1. In einem der letzten Artikel wenden sie sich dagegen, daß ein Geselle „zu der Juden Haus" geht und dort ein Pfand versetzt. Die Strafe allerdings, die ihm dafür angedroht wird, das übliche halbe Pfund Wachs zu den Kirchenlichtern der Genossenschaft, wird kaum schwer genug gewesen sein, um allzu abschreckend zu wirken. Atmete das Stadtbuch einen Geist der Versöhnung, so war doch allem Rechtsfrieden zwischen Juden und Christen zum Trotz der Abgrund des Mißtrauens durch juristische Formeln nur wie mit dünnem Reisig überdeckt. Das Stadtbuch selbst hat dafür ein Zeugnis aufgezeichnet. Nicht lange nach der Niederschrift des geltenden Rechts trug der Stadtschreiber [* Kaeber, Ein unbekannter Berliner Schuhmachergesellenbrief aus dem Jahre 1384. In: FBPG.42, 1929, S. 135—144.]

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auf jenen Seiten, auf denen er die in Berlin begangenen Verbrechen und ihre Bestrafung für die Nachwelt festhielt, mit sachlich kühlen Worten ein: „Im Jahre des Herrn 1405, am Sonnabend vor Laetare (d. h. am 28. März), wurden Claus Zepernick und Thomas Kleinschmidt enthauptet, weil sie den Juden Kinder verkaufen wollten." Der furchtbare Wahn, daß die Juden christliche Kinder aus abergläubischen Gründen zu töten pflegten, den schon 1236 Kaiser Friedrich II., 1247 Papst Innocenz IV. als Aberglauben bekämpft hatten, er lebte unerschüttert im Volke fort und brachte jenen beiden unglücklichen christlichen Opfern des Jahres 1405 zu Berlin so gut den Tod wie zahllosen Juden, deren Namen verschwunden sind, wenn sie nicht in den Memorbüchern ihre Stätte gefunden haben. IV Als Friedrich I. von Hohenzollern zunächst als Statthalter, dann seit 1415 als Landesherr in die Mark Brandenburg kam, hatten die märkischen Städte den Höhepunkt ihrer Macht überschritten. Sie waren von dem Adel, den Quitzows und deren Angehörigen, zwar nicht besiegt, aber doch in die Verteidigung gedrängt worden. So haben sie sich dem neuen Herrn angeschlossen und haben an seiner Seite auswärtige und innere Feinde niedergeworfen, um dafür die Sicherheit ihrer Handelsstraßen einzutauschen. Für die Jüdische Gemeinde Berlins hatte der Ubergang der Herrschaft auf das neue Geschlecht fürs erste keine Bedeutung. Sie lebte wie bisher nach den Bestimmungen, denen das Schöffenrecht des Stadtbuches vom Ende des 14. Jahrhunderts so klaren Ausdruck gegeben hatte. Friedrich II., der 1440 seinem Vater folgte, bestätigte seinen „Kammerknechten und lieben Getreuen", allen Juden in der Mark Brandenburg, die Rechte, die ihnen Friedrich I. 1420 gegeben hatte. Dieser wieder hatte sich dabei ganz an das Privileg Ludwigs des Älteren angeschlossen. Friedrich II. fügte aber der Bestätigung noch einige Worte hinzu, die ein überraschendes Schlaglicht auf die Lage des märkischen Judentums werfen. „Darüber hinaus", so heißt es in der Urkunde, „haben wir gnädiglich angesehen, daß sie uns alle Zeit willig und Untertan sind, und auch ihre Schwachheit und Armut, daß unsere Judenschaft sehr in Verfall geraten i s t . . . " , deshalb soll sie hinfort von niemand mit irgendwelchen Steuern oder sonstigen Abgaben beschwert werden, mit Ausnahme natürlich der an die markgräfliche Kammer zu leistenden. Alle Richter in der Mark werden aufgefordert, den Juden, die Kapital oder Zinsen zu fordern haben, zu ihrem Recht zu verhelfen.

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Über die Gründe des wirtschaftlichen Rückgangs seiner Juden, den der Markgraf beklagte, können wir höchstens Vermutungen hegen. Wahrscheinlich war es vor allem die praktische Außerkraftsetzung des christlichen Zinsverbotes. Waren die Juden aber wirklich so schwach geworden, warum ließ Friedrich I I . sie dann durch einen Befehl vom 7. Dezember 1446 plötzlich in seinen ganzen Landen gefangennehmen, vertreiben und ihrer Güter berauben? Er selbst hat sich später auf einen Befehl Kaiser Friedrichs I I I . und des Papstes berufen, vielleicht einen ähnlichen wie den des Kaisers vom Jahre 1443, durch den er vom Erzbisdiof von Magdeburg verlangte, Leib und Gut der Juden des Erzbistums „anzugreifen". Ein solches Verlangen des Kaisers zu befolgen, hielt sich Friedrich II. für durchaus befugt. Er hat es gelegentlich als sein gutes Recht bezeichnet, Juden in sein Land zu ziehen und sie nach Gutdünken wieder zu vertreiben. Doch müssen wir noch nach anderen Motiven suchen, um die Vertreibung des Jahres 1446, von der wir nichts Näheres wissen, einigermaßen begreiflich zu finden. Der wichtigste Anlaß lag wohl darin, daß die städtischen Behörden kein Interesse daran hatten, ihre Juden zu schützen, von denen sie, im Gegensatz zu früheren Zeiten, keinen erheblichen Vorteil mehr genossen, seitdem die Markgrafen sich diese Finanzquelle reserviert hatten. In derselben Richtung wird die Armut der Juden gewirkt haben, von denen nun nicht mehr hohe, regelmäßige Zahlungen zu erhoffen waren. Und da man sie als Vermittler des Kapitalgeschäfts nicht mehr nötig hatte, sah die christliche Bevölkerung nicht ein, weshalb sie nicht ohne Konkurrenz sich diesem nicht mehr anrüchigen, aber einträglichen Geschäft widmen sollte. Es war jetzt allein noch der Markgraf, der an den Fremden ein Interesse hatte. Sollte Friedrich II. dies darin gesehen haben, zunächst einmal zu seinem und seiner Untertanen Nutzen den vorhandenen Juden ihren Besitz zu nehmen und sich dann für den künftigen Ausfall dadurch zu entschädigen, daß er andere als seine „getreuen Kammerknechte" herbeizog? Nicht nur die Tatsachen legen das nahe, sondern ebenso jene von Ackermann in seiner Geschichte der Juden in Brandenburg a. d. H . wieder ans Licht gezogene Verurteilung der Handlungsweise des Fürsten durch den gelehrten, in der hebräischen Sprache und im Talmud wohl bewanderten Bischof Stephan Bödeker von Brandenburg, den geistlichen Oberhirten auch der Stadt Berlin. Bödeker sagt über die Vertreibung der Juden, wobei er offenbar besonders an die Vertreibung von 1446 denkt, deren genaues Datum wir ihm verdanken: „Schlecht handeln die Fürsten, welche die Juden aus Habgier ohne Verhör, ohne jede gerechte Ursache ihrer Güter berauben, sie miß-

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handeln oder ins Gefängnis werfen; und selbst, wenn die ihnen entrissenen Güter durch Zinsnahme erworben waren, sind die Fürsten zum vollen Ersatz verpflichtet." Sicher hat Friedrich II. nicht an diesen Ersatz, sondern nur an den für seine Kassen gedacht. Deshalb hat er schon 1447 wieder Juden in sein Land gelassen, denen er allerdings nur auf drei Jahre lautende und dann verlängerte Schutzbriefe erteilte. Vielleicht haben ihn die Stände, die Vertreter der politisch und wirtschaftlich herrschenden Klassen der Bevölkerung, zu dieser zögernden Haltung bestimmt, vielleicht gedachte er die Juden dadurch noch sicherer in seine Hand zu bekommen und bei Bedarf auszunutzen. Mit dem Jahre 1453 setzt eine neue Quelle für die Geschichte Berlins ein, das vor kurzem durch Peter v. Gebhardt herausgegebene Berliner Bürgerbuch2. Aus ihm erfahren wir, was wir für die vorangegangene Zeit nur vermuten konnten, daß in Berlin wie in anderen märkischen Städten die Juden auch Bürger wurden. Der Rat der Stadt sicherte sich durch die Zahlung des Bürgergeldes eine Einnahme, deren Höhe sich im Rahmen der für alle Bürger üblichen Sätze hielt, nicht etwa eine Sonderbesteuerung darstellte. Für die Juden hatte der Erwerb des Bürgerrechts den Vorteil, daß sie in allen gerichtlichen Fragen an ihrer Stadt den gleichen Rückhalt besaßen wie ihre christlichen Mitbewohner. Da wir über die Berliner Judengemeinde des 15. Jahrhunderts sonst nicht viel wissen, mögen die Namen dieser ältesten jüdischen Bürger Berlins genannt sein. Jm Jahre 1454 erwarben Gumprecht, Jonas, der Sohn des Manuel, Abraham, Dyna, Joseph, Salomon aus Stendal und die Jüdin Sistrica das Bürgerrecht; 1455 Smol, Mosse und Salomon; 1458 Mosse aus Rathenow und Meygher; 1460 Jacob aus Mittenwalde und David, Sohn der Witwe des Manuel; 1461 Auidel (?); 1471 Calleman, Abram und Symon Lowe; 1474 David, Lautyn und noch ein David; 1475 Joseph und Lesar Czenn. Die zahlreichen Eintragungen des Jahres 1454 deuten vielleicht darauf hin, daß erst jetzt, acht Jahre nach der Vertreibung, Juden in Berlin wieder festen Fuß faßten. Mit dem Jahre 1475 hören die Eintragungen [ 2 P. v. Gebhardt, Das älteste Berliner Bürgerbuch 1453—1700. Berlin 1927 ( = Quellen u. Forschungen z. Gesch. Berlins, Bd. 1 — Veröff. Hist. Komm. Prov. Brand. 1) — Fortgesetzt durch Kaeber, Die Bürgerbücher und die Bürgerprotokollbücher Berlins von 1701—1750. Berlin 1934 ( = Quellen u. Forsch, z. G e s i . Berlins, Bd. 4 — Veröff. Hist. Komm. Prov. Brand. 1,3) und durdi Jacob Jacobson, Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin 1809—1851. Berlin 1962 ( = Veröff. d. Berliner Hist. Komm., Bd. 4, Quellenwerke Bd. 1).]

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auf, obgleich noch über ein Menschenalter lang Juden in Berlin gewohnt haben. Der Grund, weshalb sie nicht mehr Bürger wurden, liegt vielleicht darin, daß der Rat mit ihrem dauernden Verbleiben in der Stadt nicht mehr rechnete und sich nicht selbst die Hände binden wollte gegenüber den Wünschen der Bürgerschaft auf Entfernung dieser unbeliebten Einwohner. Denn es war jetzt die Zeit gekommen, in der die Vertreibung der Juden zu den ständigen Themen der Landtagsverhandlungen in der Mark werden sollte. Geistlichkeit, Ritterschaft und Städte kämpften gemeinsam gegen den Kurfürsten. Was für diesen auf dem Spiel stand, verrät eine Aufzeichnung des Markgrafen Albrecht Achilles, des gewiegten Finanzmannes, für die Regierung seines Sohnes Johann, in der er diesem befahl, die jährlichen Judeneinnahmen auf 1000 Gulden zu bringen. Diese Summe ist wohl auch erreicht worden; bei den ständigen finanziellen Sorgen der Markgrafen war sie nicht zu unterschätzen. Als die Ritterschaft auf dem Landtage vom März 1480 den inzwischen zur Regierung gelangten Kurfürsten Johann bat, er möge die Juden aus dem Lande ziehen lassen, hatte daher Johann Lust, ihr eine energische Zurückweisung zu erteilen. In dem Konzept seiner Antwort stehen die Worte: „ist seine Gn. underricht, das bei Marggraff Friedrichs sei. Zeiten den Juden Wucher etliche Zeit verboten war und in denselbigen die Mannschaft und andere serer ( = mehr) durch die Christen besweret wurden dann durch die Juden; wurden sie wieder zugelassen mit irem Handel, doch uf zimlich und gewonlich Zins oder Wucher, wie mans redlich geben." Hinterher sind diese interessanten Bemerkungen, um die schwebenden Verhandlungen mit den Ständen nicht zu erschweren, gestrichen worden und dafür die ausweichende Antwort erteilt worden, der Kurfürst habe die Juden für drei Jahre aufgenommen und werde es nach Ablauf dieser Frist „nach dem Rate der Prälaten, Ritterschaft und Städte halten". Aus der Luft gegriffen hatte er die Beschuldigung seiner christlichen Untertanen sicher nicht. Schon sein Vater hatte 1472 seinen Gesandten bei der römischen Kurie beauftragt, ein Verbot gegen das Wuchern der Geistlichen zu erwirken, das so arg wäre, daß sich wegen dieser Konkurrenz keine Juden mehr in der Mark ernähren könnten! Nach dem Ablauf dieser drei Jahre hat Johann stillschweigend die Schutzbriefe verlängert. Er mußte 1484 aufs neue versprechen, die Juden nicht länger zu halten. Erfüllt hat er dies Versprechen ebensowenig. Auch unter Johanns Nachfolger, unter Joachim I., wohnten die Juden noch in der Mark. Schwerere Wolken als je hingen über ihren Häuptern. Nicht der Fürst war es, den sie zu fürchten hatten. Er zeigte ihnen noch 1509, unmittelbar vor der furchtbaren Tragödie des folgenden Jahres,

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sein Wohlwollen durch die Erlaubnis, einen Rabbi zu berufen, der über sie nach jüdischer Gewohnheit richten sollte. Er hatte diesem Richteramt den ganzen Nachdruck seiner kurfürstlichen Macht verliehen. Wer dem Rabbi nicht gehorchen und deshalb in seinen Bann fallen und sich nicht innerhalb 30 Tagen aus ihm lösen würde, der sollte Leib und Gut verlieren. Die Gefahren für die märkischen Juden kamen von anderer Seite, von dem Beispiel, das Mecklenburg und das Erzbistum Magdeburg 1492 und 1493 mit der Vertreibung ihrer Juden gegeben hatten, und von dem nur mühsam unterdrückten Groll der märkischen Stände über den Schutz, den die Regierung den Juden bot. In einer Handschrift über die Einnahmen der Stadt Berlin im Jahre 1505 werden die Zinsen genannt, die von den Bewohnern der Buden im Jüdenhof und in der Jüdenstraße, die hier zuerst genannt wird, an die Stadtkasse gezahlt werden mußten. Im Jüdenhof werden vier Zinsbuden aufgezählt, von denen aber nur eine, die große, sich in jüdischem Besitz befand; in der Jüdenstraße zwei, beide in christlicher H a n d . Doch gab es noch andere Judenhäuser, über deren Zins Rat und Juden vor kurzem einen Vertrag geschlossen hatten. Zwei von ihnen gehörten einem gewissen Salomon, der sie damals gerade instand setzen ließ und die Kosten dafür von seinem Zins abziehen durfte, eine andere Mosse, der wohl mit dem gleich darauf genannten Schwager Salomons namens Mosse nicht identisch ist. In einem weiteren Hause wohnte Kalle, die Witwe eines M a n n . Der ganze Judenzins brachte in diesem Jahre nur 278 Groschen ein. Die Zahl der Berliner Juden war wohl gegenüber der Mitte des vorigen Jahrhunderts geringer geworden. Sie waren aber immer noch imstande, eine Judenschule und einen Lehrer zu halten, der 1507 ein Schock Groschen an die Stadt zahlte. Es ist die letzte Nachricht über die Berliner Juden vor der Katastrophe des Jahres 1510.

Der „Berliner Unwille" und seine Vorgeschichte1 Jahrhundertelang Sellien es, als ob über die Bedeutung des „Berliner Unwillens", wie schon die gleichzeitigen Quellen den Streit zwischen den Städten Berlin-Cölln und dem zweiten Kurfürsten von Brandenburg aus dem hohenzollernschen Hause, Friedrich Eisenzahn nennen, nur eine Ansicht möglich sei. Selbst der scharfsinnige Zerstörer zahlreicher populärer Legenden über die ältere Geschichte Berlins, Georg Sello, hat an ihr nicht gerüttelt. Erst Clauswitz unternahm es, sie in seiner 1893 erschienenen Einleitung zu Borrmanns Bau- und Kunstdenkmälern von Berlin von Grund auf zu erschüttern. In seiner kritischen Veranlagung Sello verwandt, ausgezeichnet durch wirtschaftsgeschichtlichen, an Schmollers Vorlesungen und Schriften geschulten Sinn und durch eine von Gierke und Maurer befruchtete Kenntnis des älteren deutschen Städtewesens, suchte er den Streit des Fürsten mit den Spreestädtern aller politischen Romantik zu entkleiden und ihn auf wirtschaftliche und finanzielle Ursachen zurückzuführen. Schon im Jahre vorher, doch wohl erst nach Abschluß des Clauswitzschen Manuskripts, hatte indessen Felix Priebatsch sein Buch über „Die Hohenzollern und die Städte der Mark im 15. Jahrhundert" veröffentlicht, in dem nun wieder die politischen Momente in den Vordergrund gerückt wurden. Zu einer Auseinandersetzung zwischen beiden kam es nicht. In seiner 1 Die wichtigste Literatur und die Quellenwerke werden im folgenden abgekürzt zitiert: Seitenzahlen hinter dem N a m e n Sello verweisen auf dessen Aufsatz „Zur Geschichte Berlins im Mittelalter", Mark. Forsch., Bd. X V I I , S. 1—56, hinter dem N a m e n Clauswitz auf seine Einleitung zu Borrmann, „Die Bau- und Kunstdenkmäler von Berlin", Berlin 1893; mit KStb. wird die Ausgabe des Kölner Stadtbuches von Clauswitz bzw. die Einleitung dazu zitiert (Sehr. V. G. Berlins 52, Berlin 1921), die Ausgabe des Berliner Stadtbudies durch Clauswitz, Berlin 1883 mit Stb., „Das Urkundenbudi zur berlinischen Chronik", Berlin 1869 ff mit BUB., Priebatsch' im Text genannte Schrift, Berlin 1892, mit Prieb., die „Mitteilungen" und die „Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins" mit „Mitt." bzw. „Schriften", O. Tschirch: „Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg a. d. Havel", Bd. I, Brandenbg. 1928 mit Tschirch. Dieses durchweg aus den Quellen schöpfende, grundlegende Werk ersdiien erst nach Abschluß meines Aufsatzes, doch konnte ich es noch vor der Drucklegung heranziehen, um ihm einige wertvolle, meine Auffassung stützende Hinweise zu entnehmen.

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Übersicht über die Literatur zur Berliner Geschichte ist Clauswitz auf die von der seinen so stark abweichende Priebatsche Darstellung nicht eingegangen2. Erst Jahrzehnte später, 1921, hat er in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Cöllner Stadtbuchs seine Auffassung noch einmal zur Geltung zu bringen versucht. Vielleicht aus Abneigung gegen wissenschaftliche Polemiken, vielleicht auch, weil ihm das Buch von Priebatsch unbekannt geblieben war, hat er dabei jede Beziehung auf dieses oder auf meinen Aufsatz: „Die Stadt Berlin und der Staat" vermieden, in dem zwar der Wert der von Clauswitz geübten Kritik anerkannt, seine Gesamtauffassung aber abgelehnt wurde3. Bei dem verdienten Ansehen, das Clauswitz genießt, und bei der Bedeutung der Ereignisse der Jahre 1442—1448 für das Schicksal Berlins wird es daher berechtigt sein, noch einmal die widerspruchsvollen und unvollständigen Quellenzeugnisse jener Zeit nach ihrem Sinn zu befragen und im Zusammenhang damit den von Sello eingehend, aber doch in manchen Punkten nicht abschließend behandelten Beziehungen der beiden Spreestädte zueinander nachzugehen, deren Neugestaltung durch die Union des Jahres 1432 den Anstoß zu allem Folgenden gegeben hat. Kaum notwendig wird es sein, zu betonen, daß nicht die Lust an der Polemik mit zwei Meistern der Berliner Geschichtsforschung der Antrieb zu dieser Untersuchung gewesen ist, sondern der Wunsch, zur Klärung der von ihnen zuerst ernsthaft in Angriff genommenen Probleme beizutragen. Dürftig wie über die Anfänge Berlins und Cöllns fließen unsere Quellen über die Beziehungen, in denen beide zueinander bis in den Anfang des 14. Jahrhunderts hinein standen. Mit Recht nimmt Clauswitz an, daß schon früher in bestimmten Fällen ein gemeinsames Handeln notwendig wurde (S. 11). Nur Vermutung indessen bleibt es, daß dann die Ratmannen im Plenum oder in einem Ausschuß zusammentraten, oder daß bereits vor dem Jahre 1307 Berlin und Cölln „stets als eine einheitliche Gemeinde aufgetreten" seien, „sobald es sich um Landesangelegenheiten und um den gemeinsamen Vorteil oder Schaden beider Städte handelte" (S. 33). Man ist fast versucht, das Gegenteil aus einer Urkunde Markgraf Ottos V. vom 28. September 1298 zu schließen, in der er der Stadt Berlin allein die Niederlage und den Zins von Hufen, Hausgrundstücken und Marktstellen bestätigte und ihr den Zoll von 2

Paul Clauswitz, „Kritische Übersicht über die Literatur zur Geschichte Berlins",

I n : Schriften, H . 31, 1894, S. 115 ff. 3

Zs. f. Politik, Bd. 9, 1916, S. 4 2 6 ff., bes. S. 4 3 2 — 4 3 5 . Der Darstellung, die

Clauswitz bei Borrmann gibt, hat sich W . Spatz angeschlossen: Bilder aus der Vergangenheit des Kreises Teltow, I, Berlin 1905, 101 f., dazu Anra. S. V I .

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Flößen und Schiffen in Cöpenick verkaufte. Die Urkunde in der auf uns gekommenen Form ist zwar durch Krabbo als Fälschung nachgewiesen worden 4 . Doch ist gerade der Verkauf des Cöpenicker Zolls aus einer echten Urkunde Ottos V. entnommen. Im 14. Jahrhundert dagegen erfolgen im allgemeinen die Privilegienbestimmungen für Berlin und Cölln gemeinsam, werden 1328 gemeinschaftliche Einnahmen aus dem Zoll zu Berlin erworben (BUB. S. 52), oder zu Ende des 14. Jahrhunderts der Zoll von Cöpenick gepachtet (BUB. S. 209 und 229) und allem Anschein nach auch der landesherrliche Zoll zu Berlin. Nur wenn besondere Umstände vorliegen, erfolgen getrennte Privilegienbestätigungen wie 1337 für Berlin wegen der nur ihm gehörenden Niederlage (BUB. S. 71) oder 1363 wegen der Niederlage und der Berlin in Cölln zustehenden Zinsrechte (BUB. S. 149). So wenig man die eine Urkunde von 1298 wird pressen dürfen, es ist immerhin bemerkenswert, daß in dem einzigen vor 1307 liegenden Zeugnis, bei dem ein gemeinsames Auftreten Berlins und Cöllns erwartet werden könnte, dies nicht der Fall ist. Ganz unvermittelt tritt uns die so viel genannte, durch das Berliner Stadtbuch in der lateinischen Originalfassung und in niederdeutscher Übersetzung überlieferte „Unio" entgegen, die Markgraf Hermann der Lange am 20. März 1307 zu Spandau bestätigte. Es hätten sich, so erklärt der Markgraf, „cives nostri in Berlin et Colonia" über eine Reihe von Punkten vor ihm geeinigt — mit Sello (S. 40) in diesen cives die Bürger im staatsrechtlichen Sinne im Unterschied zum Rate sehen zu wollen, ist nicht möglich; es können unter ihnen nur mit Clauswitz (KStb. S. 14) die Ratmannen verstanden werden. Die cives de civitate Colonia sollen jährlich zwei Drittel der Ratmannen aus der Stadt Berlin — ex civitate Berlin — wählen und die cives de Berlin ein Drittel der Ratmannen aus der Stadt Cölln. Wieder ist dabei mit Clauswitz (S. 14) im Gegensatz zu Sello (S. 40 und 43) nicht an eine Wahl durch die Bürgerschaft, sondern durch die abtretenden Ratmannen des zu Ende gehenden Jahres zu denken, also nicht an einen demokratischen Wahlmodus. Dies bezeugt bereits die undatierte, wohl 1253 (Clausw., KStb. S. 9) oder bald danach erfolgte Rechtsweisung des Rates von Berlin für Frankfurt a. O. (BUB. S. 8 f.)5. Es läßt sich überdies durch eine Reihe 4 8

„Min." Jg. 1920, S. 39 ff.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Berlin seiner Tochterstadt sehr bald nadi deren Gründung sein Recht mitgeteilt. Die von Holtze, Mark. Forsch. X V , S. 311 und „Schriften" H . 16, Berlin 1880, S. 62 ff. auf gewerbegeschichtliche Erwägungen begründete, von Sello (S. 14 u. 39) übernommene Ansicht, daß die Rechtsmitteilung erst

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von Urkunden der Jahre 1280—1290, in denen als Aussteller oder Zeugen die Namen der Berliner Ratsmitglieder erwähnt werden, nachweisen, daß der abtretende Rat nicht nur als „alter Rat" an den wichtigen städtischen Angelegenheiten beteiligt blieb, sondern auch nach Ablauf des Jahres wieder zur Regierung kam. Für eine Wahl durch die Bürgerschaft blieb da kaum Gelegenheit. Die Union von 1307 setzte ferner fest, daß von den sieben Schöffen vier aus Berlin, drei aus Cölln stammen und jedesmal durch die Bürger, d. h. durch den Rat der anderen Stadt auf drei Jahre gewählt werden sollten. Daß die Schöffen wähl in der Tat durch den Rat erfolgte, erfahren wir im Jahre 1442, wo Friedrich II. dem Rate dieses Recht zugestand, obgleich er ihm die Gerichtsbarkeit eben damals nahm6. Die Einnahmen aus Exzessen sollte jede Stadt für ihre eigenen Bauzwecke, „meliorare", verwenden, dabei aber nach Möglichkeit der anderen helfen 7 ; die Zinseinnahmen waren gesondert für die Befestigung jeder Stadt zu verwenden8; vom Landesherrn auferlegte Lasten sollten dagegen gemeinsam durch den „Tribut" — „gemeiner Schoß" sagt die Ubersetzung — der „Meinheit" aufgebracht werden. nach dem Bäckerprivileg vom 18. Juni 1272 (BUB. S. 11 f.) erfolgt sei, halte ich nicht für richtig. Die Entwicklung des Berliner Innungswesens verläuft schwerlich in der Richtung von stärkerer Exklusivität zu größerer Freiheit. Die in dem Bäckerprivileg von 1272 und dann später im Stadtbuch des ausgehenden 14. Jahrhunderts genannten hohen Eintrittsgebühren von 10 Schillingen statt des in der Rechtsweisung und den sonstigen Innungsprivilegien des 13. Jahrhunderts begegnenden niedrigen Satzes spricht neben anderen Gründen gerade gegen die volle Echtheit der Bäckerurkunde, die schon Clauswitz in der Einleitung zum Berliner Stadtbuch anzweifelte (S. X I X ) . Sie verdiente ebenso wie die Rechtsweisung eine besondere diplomatische Untersuchung. 6

Siehe u. S. 98 ff. Exzesse unterstanden also nicht der Gerichtsbarkeit des Schultheißen, sondern des Rates. Die Stadt Brandenburg erhielt dieses Recht durch ein Privileg Markgraf Johanns vom 3. November 1315, das zugleich deutlich macht, was damit gemeint w a r ; es heißt in ihm: „volumus etiam et concedimus burgensibus predictis, ut ipsi omnes excessus, qui fuerint in ipsa civitate perpetrati nocturno tempore vel diurno, exequantur, corrigant et judicent, qui hanthafteghe dat dicuntur proprie apud vulgus"; Riedel, A I X , 12. Eine ähnliche U r k u n d e f ü r Berlin ist nicht überliefert. Sello versteht unter Exzessen fälschlich die Gerichtsfälle. Schon nach der Rechtsweisung f ü r F r a n k f u r t a. O. sollen die Ratsmannen urteilen de lapidibus, quos mulieres de excessibus suis ferre contingit (BUB S. 9), und noch im 17. Jahrhundert bestraft der R a t die Exzesse, d . h . Beleidigungen, Hausfriedensbrüche und Körperverletzungen; vgl. Eberh. Faden: Berlin im Dreißigjährigen Kriege, Berlin 1927, S. 59. 7

6 So ist census civitatis zu übersetzen, nicht mit „Kommunalsteuern", wie Sello S. 41 will.

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Offenbar in stillschweigender Polemik gegen die der Union zuletzt durch Sello (S. 41—43) zugewiesene Rolle in den Beziehungen zwischen Berlin und Cölln hat Clauswitz die These aufgestellt, daß der Vertrag von 1307 nur eine ganz vorübergehende Bedeutung gehabt habe (S. 12 und KStb S. 15). Er hat sich deshalb im Jahre 1907 in einem amtlichen Gutachten, dem sich der Magistrat anschloß, dagegen ausgesprochen, die 600jährige Wiederkehr dieses ersten Hinausgreifens Berlins über seinen ursprünglichen Stadtbezirk zu feiern9. Diese Ansicht gewann er aus der Tatsache, daß schon 1311 die Ratmannen von Berlin, 1317 die von Cölln wieder für sich allein auftreten. Unerklärt bleibt dabei, weshalb dann die Urkunde in das Berliner Stadtbuch aus den neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts Aufnahme fand, obgleich Clauswitz selbst darauf hingewiesen hat, daß die Auswahl der in das Stadtbuch aufgenommenen Urkunden „interessante Beiträge für die damalige Wertschätzung der Privilegien" ergeben würde (Stb. S. X X I f.). Für Sello war daher eben diese Eintragung in das Stadtbuch, „als augenscheinlich gültiges Recht" ein formeller Beweis dafür, daß der Vertrag zu jener Zeit noch in Kraft war (S. 37). Aber wollte dieser überhaupt für alle Zwecke der städtischen Verwaltung einen gemeinsamen Berlin-Cöllner Rat einsetzen? Clauswitz nimmt das an. Er sieht die Ursache für die geringe Dauer der Vereinigung von 1307 in der durch sie vorgeschriebenen Wahl der Berliner Mitglieder dieses Rates durch die Cöllner und umgekehrt der Cöllner durch die Berliner. Dieses Verfahren habe „offenbar den Keim zu Zwistigkeiten" in sich getragen, die man sogar von vornherein befürchtet habe (S. 11). Denn nicht umsonst habe der Vertrag die Berliner als die stärkere Partei ermahnt, sich nicht zu weigern, ein Drittel der Ratmannen in jedem Jahre aus Cölln zu wählen. Es ist indessen nicht möglich anzunehmen, daß der durch die „Unio" eingesetzte, aus Berlinern und Cöllnern gemischte Rat alle Angelegenheiten jeder der beiden Städte erledigen sollte. Es sollten ja die eigentlichen städtischen Einnahmen Berlin wie Cölln gesondert zufließen und von ihnen für ihre besonderen Bedürfnisse, für das meliorare und munire der Städte verwandt werden. Das setzt mit Notwendigkeit das Fortbestehen eines Berliner und eines Cöllner Rates voraus, der die Durchführung dieser Aufgaben in die Hand nahm. Selbst wenn dies in dem Vertrage nicht ausdrücklich gesagt worden wäre, dürfte das bei der Art mittelalterlicher Urkunden nicht wundernehmen, in denen nur das festgelegt zu werden pflegte, was einer feierlichen Beurkundung bedurfte. 8

„Mitt." Jg. 1907, S. 85.

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Für die Menschen ihrer Zeit war die Urkunde deutlich genug, wenn sie nichts über ein Zusammenlegen des Vermögens der beiden Städte bestimmte und die Verwendung der eigenen Einnahmen jeder Stadt für deren Sonderzwecke festsetzte. Allein auch aus dem Wortlaut kann auf das Fortbestehen der beiden Ratsbehörden geschlossen werden. Wer anders kann denn mit den cives de Berlin und den cives de Colonia gemeint sein, denen der Ausbau und die Befestigung der Städte anbefohlen wurde, als die Ratskörperschaften? So wie an allen anderen Stellen der Urkunde ist auch hier mit den cives der Rat gemeint. Ein solches Nebeneinanderbestehen von gemeinsamen und getrennten Räten ist in sehr viel späterer Zeit in Danzig nachweisbar, nachdem die Rechtsstadt Danzig sich 1455, wohl auf Grund gütlicher Vereinbarungen, mit der Altstadt Danzig vereinigt hatte. Die Mitglieder des Rates der Altstadt traten in den rechtsstädtischen ein, bildeten aber daneben eine selbständige Körperschaft mit weitgehenden Befugnissen, besonders auf finanziellem Gebiete. Die Altstadt behielt eigene Einnahmen, so aus dem Grundzins, und sorgte für die Erhaltung eigener Einrichtungen und ihrer Befestigungen aus eigenen Mitteln. Es sind also ganz ähnliche Verhältnisse, wie wir sie f ü r Cölln und Berlin voraussetzen müssen10. Sello hat durchaus recht, wenn er die Vereinigung nur auf die militärischen und politischen Angelegenheiten bezieht, in denen Berlin-Cölln allerdings als eine „Bundesstadt" auftrat (S. 43), während die übrigen Dinge von jeder Stadt auch in Z u k u n f t allein geregelt werden sollten (S. 41 f.). So, wie sie beabsichtigt war, hat die Vereinigung das ganze 14. Jahrhundert hindurch bestanden, ja sie hat sich weiter fortentwickelt, indem auch über innere Angelegenheiten gemeinsame Verfügungen getroffen wurden wie die Luxusordnung von 1334, das Verbot der Schadekäufe von 1367 und das Baustatut von 1370 (Sello S. 42 f.). Es könnte höchstens auffallen, daß 1331 die Verordnungen für die Wollweber und Wollsdiläger 11 von Berlin und Cölln einseitig durch den Berliner Rat erlassen wurden (Stb. S. 88 f.). Wir müssen annehmen, daß eine gleichlautende Urkunde durch den Cöllner Rat ausgestellt wurde. Das Innungswesen war durch den Vertrag von 1307 nicht berührt worden und wurde auch bei den später geplanten oder durchgeführten Vereinigungen stets ausgenommen. Es war nur natürlich, daß auch nach 1307 in Innungs10

Paul Simson, Geschichte der Stadt D a n z i g , Bd. 1, D a n z i g 1913, S. 240 f. u. 258.

11

textores und lanifices; zur D e u t u n g dieser Worte vgl. J. Seeboth, D a s Privat-

recht des Berliner Stadtbuches v o m Ende des 14. Jahrhunderts ( = Einzelschriften der Historischen Kommission für die P r o v i n z Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, H . 2, Berlin 1928, S. 14). 5

Kaeber

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Sachen die Räte von Berlin und Cölln getrennt auftraten. Das Cöllner Schlächterstatut von 1331 ist eine der wenigen erhaltenen Urkunden des alten Cölln an der Spree (BUB. S. 54 ff.). Die Vereinigung blieb demnach für die ihr gestellten Zwecke in Kraft, bis sie im 15. Jahrhundert durch eine viel weitergehende ersetzt wurde. Die beiden Städte traten seit 1307, wie auch Clauswitz anerkennt, nach außen als „eine einheitliche Gemeinde" auf; der Union den Fortbestand abzusprechen, gelingt Clauswitz nur dadurch, daß er dieses gemeinsame Auftreten auch schon in der Zeit vor ihren Abschluß verlegt (S. 33). Allein darüber wissen wir, wie gesagt, nicht das geringste. Da die Gemeinsamkeit sich vor allem auf politischem und militärischem Gebiet auswirkte, liegt es nahe, die Union auf Motive zurückzuführen, die mit diesem Tätigkeitsfeld zusammenhängen. Die Urkunde selbst gibt darüber keine Auskunft, aber die ihr fast unmittelbar folgenden Ereignisse geben einen wertvollen Hinweis. Kaum ein Jahr später, am 3. März 1308, beurkundeten die Ratmannen der Städte Berlin und Cölln ebenso wie die von Frankfurt eine von ihnen mit allen Städten des Markgrafen Johanns V. von der ottonischen Linie, zu deren Gebiet die Mittelmark gehörte, geschlossene Einigung gegen Gewalttaten und Rechtsverletzungen (BUB. S. 25, Riedel A XIV, 50)12. Am 4. Mai 1309 beurkundete „consulum universitas in Berlin et Colonia" gegenüber den Ratmannen von Brandenburg und Salzwedel — dieses gehörte mit einem Teile der Altmark ebenfalls zur ottonischen Linie — ein Abkommen über die Tragung der bei Ergreifung von Verbrechern, bei Gewalttaten innerhalb einer Stadt oder bei Ladung eines Bürgers vor ein Landding entstehenden Kosten (BUB. S. 26), nachdem schon zu Anfang 1309 ein für die ottonischen und johanneischen Lande gemeinsamer Erlaß gegen 18

Tschirch, S. 54 f. sieht mit Klöden, Diplom. Geschichte des Markgrafen Waldemar, Bd. II, S. 11 ff. u. 47 ff., und mit Krabbo, Regesten der Markgr. v o n Brand., N r . 2048 (fälschlich vom 11. 3. datiert), in dem Bündnis eine Erhebung der ottonischen Städte gegen Markgraf Woldemar von der johanneischen Linie, der sich 1308 — vor dem 4. April: vgl. Krabbo, Regesten Nr. 2055 — zu Spandau des unmündigen Markgrafen Johann von der ottonischen Linie durch einen Gewaltstreich bemächtigt hatte. In der knappen Beurkundung durch die Ratsmannen von Berlin, Cölln und Frankfurt ist nur die Rede von der Abwehr irgendeiner violencia seu iniustitia (BUB. S. 25); in der Vereinbarung Berlin-Cöllns mit Salzwedel und Brandenburg von 1309 gegen Verfestete oder Übeltäter wird violencia auf diese angewandt; auch die enormitas sive violencia per potentes aliquos, die mit gemeinsamen Kosten abgewandt werden soll, wird am zwanglosesten auf Abwehr von Räubereien bezogen (BUB. S. 26, vgl. auch Krabbo, Regesten Nr. 2112 a), zumal im Mai 1309 Woldemar augenscheinlich mit Johanns Mutter wieder versöhnt war und seine Schwester zur Frau nahm (Krabbo, Regesten Nr. 2122).

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Friedensbrecher vorangegangen war (BUB. S. 25 f., dazu Krabbo, Regesten Nr. 2112 a). Wenn dazu das Chronicon Berolinense zum Jahre 1309 berichtet, daß „groß Rauben, Morden und Brennen in der Mark gewesen" und viel Räuber enthauptet oder verfestet worden seien", wobei dem Kompilator anscheinend noch weitere, nicht erhaltene Urkunden zu Gebote gestanden haben, dann wird die Vermutung gerechtfertigt sein, daß die Union Berlins und Cöllns weniger innerpolitischen Motiven als der Wahrung des Friedens nach außen ihren Ursprung verdankte. In den schwierigen Zeiten, die dem Aussterben der Askanier folgten, und dann wieder in den vierziger und neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts hat diese Bündnispolitik der märkischen Städte sich fortgesetzt, hat sich Berlins und Cöllns politischer Zusammenschluß bewährt. Nur eine Bestimmung des Vertrages von 1307 ist wohl bald nicht mehr durchgeführt worden, die Wahl der aus Berlin bzw. Cölln zu entnehmenden Ratsmitglieder durch die Ratmannen der anderen Stadt. Sehr erhebliche Bedeutung wird sie deshalb nicht gehabt haben, weil nur beim Tode oder beim freiwilligen Ausscheiden eines Ratsmitgliedes eine Neuwahl notwendig wurde, besonders aber, weil schon damals der Kreis der ratsfähigen Familien mit den Kaufmannsgeschlechtern identisch war, und weil es nur eine Kaufmannsgilde für Berlin und Cölln gab. Wir wissen freilich nicht, ob die Kaufleute der beiden Städte von vornherein gildenmäßig zusammengeschlossen waren, und ob sie stets eine gemeinsame Körperschaft bildeten. Noch in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts war die Zugehörigkeit zum Rat nicht an den kaufmännischen Beruf geknüpft. In der ältesten Urkunde, die uns die Namen der Berliner Ratmannen nennt, dem Kürschnerprivileg von 1280 (Stb. S. 73 f.), begegnen Heiso institor und Theodericus cultellifex neben Heinricus mercator; es handelt sich dabei zweifellos nicht um Eigennamen, sondern um Berufsbezeichnungen14, also um einen Krämer und einen Messerschmied neben dem Kaufmann. Dann bürgert sich der Brauch ein, den Vornamen nicht durch die Berufsangabe, sondern durch den Herkunftsort zu bezeichnen, später auch durch Beinamen wie Krähenfuß (1313 und 1326), Lange (1326), Lytte (1340) oder Rode (1340; BUB. S. 28, 47, 77). Wann sich ein wohl nicht rechtlicher, sondern praktischer Ausschluß der Handwerker aus dem Rat durchgesetzt hat, steht nicht fest; 13

„Sdiriften" H. 4, S. 7. Vgl. E. Keyser, Die Bevölkerung Danzigs und ihre Herkunft im 13. und 14. Jahrhundert. In: Pfingstbl. d. hans. GesAichtsvereins, Bl. XV (1924), S. 18 ff. 14

5'

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vielleicht stand er in einem gewissen Zusammenhang mit einer engeren Verbindung der Kaufleute zu einer Gilde. Die einheitliche Berlin-Cöllner Kaufmannsgilde begegnet in der urkundlichen Uberlieferung nur einmal gelegentlich der Bestätigung einer reichen Schenkung der mercatores Berlinenses et Colonienses für den Katharinenaltar in der Cöllner Petrikirche durch Markgraf Ludwig vom 19. Mai 1327 (BUB. S. 50). Dürfen wir eine Vermutung wagen, so hängt die Vereinigung der beiden Kaufmannschaften unmittelbar mit dieser Altarstiftung zusammen und ist selbst wahrscheinlich ein Ausfluß der Union von 1307. Dem durch diese geschaffenen regelmäßigen Zusammenwirken der beiden Ratskörperschaften folgte der Zusammenschluß der beiden Gilden, aus denen ganz oder überwiegend die Ratsmannen hervorgingen. Gelegentlich erscheint auch später noch ein Handwerker als Mitglied des Rats. So nennt die dem Chronicon Berolinense angehängte Ratsherrenliste 1405 Henning Perwenitz, einen Fleischer15. Die ausdrückliche Zufügung des Berufs scheint anzudeuten, daß es sich um eine Ausnahme handelte. Eine interessante Parallele bietet die Entwicklung in Brandenburg, der Mutterstadt Berlins. In einem durch die Ratmannen einer größeren Zahl von märkischen Städten, darunter Berlin und Cölln, bezeugten Vergleich zwischen Alt- und Neustadt Brandenburg vom 2. November 1321, also etwa aus der gleichen Zeit, heißt es: „mit den Ständen der Wandschneider beider Städte in den Kaufhäusern soll es wie seit alters gehalten werden, das Wandschneiden aber soll man folgendermaßen halten: wer in der Neustadt schneiden will, darf dies auch in der Altstadt und ebenso umgekehrt; wird jemandem in der einen Stadt die Gilde versagt, soll ihm auch die andere Stadt die Gilde nicht gewähren, es sei denn mit beiderseitiger Zustimmung" 16 . Eine volle Vereinigung der Gilden beider Städte hat hier allerdings nicht stattgefunden. Darin mag mit eine der Ursachen der häufigen und weitgehenden Zwistigkeiten liegen, die zwischen der alten und neuen Stadt Brandenburg im 14. und 15. Jahrhundert immer wieder ausbrachen. Die Sonderstellung der Kaufleute oder Gewandschneider spiegelt sich noch im 15. und 16. Jahrhundert darin, daß weder sie noch die Ratsmitglieder in dem 1453 einsetzenden Berliner Bürgerbuch erscheinen17. Bürger waren die Gewandschneider zweifellos, sie brauchten offenbar nur nicht, wie die Angehörigen aller anderen Gewerbe, das Bürgerrecht 15

„Schriften" H . 4, S. 41. Riedel, A IX, 187. 17 von Gebhardt, Das älteste Berliner Bürgerbuch von 1453 bis 1700, ( = Veröff. d. Hist. Komm. f. d. Prov. Brandenburg usw. I, Berlin 1927). 16

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zu erwerben. Daher finden sich nirgends im Bürgerbuch die Namen der großen Geschlechter des 15. und der ersten H ä l f t e des 16. Jahrhunderts, deren Angehörige als Kaufleute und Ratmannen die führende Schicht der Bürgerschaft repräsentierten. Unsere Annahme, daß die Vorschriften der Union über die Ratswahlen nicht in K r a f t geblieben sind, wird von Sello nicht geteilt. Er läßt den aus dem „ B u c h der Übertretungen" des Berliner Stadtbuches bekannten Tiele Wardenberg durch die Berliner in den Cöllner Rat gewählt werden (S. 36 f.), aus dem er Jahre zuvor auf Geheiß Karls IV. entlassen worden war. Daß Tiele zuletzt „olderman" in Cölln war, berichtet das Stadtbuch (S. 194), daß er Bürger von Berlin war, ergibt sich aus mehreren Erwähnungen im Landbuch Karls IV. und aus einem Schreiben Markgraf Sigismunds an die Stadt Berlin vom 27. September 1382 (BUB. S. 204 f.). Zur Zeit der bayerischen Markgrafen aber war Tiele olderman in Berlin (Stb. S. 195). Sein Freund Albrecht Rathenow war zuletzt olderman in Berlin (Stb. S. 194) und nach dem Landbuch Berliner Bürger. Wer ihn und Tiele gewählt hat, wird nirgends überliefert. N u r soviel ist deutlich, daß bei der Wahl in den Berliner oder Cöllner Rat nicht unbedingt darauf gesehen wurde, ob der zu Wählende Bürger der Stadt war, deren Ratsmitglied er wurde. Im 15. Jahrhundert ist sicher nicht mehr so verfahren worden, wie es 1307 gedacht war. Das läßt sich aus einer bisher nicht beachteten Stelle der undatierten, in die Zeit Friedrichs I. gehörenden Beschwerde Berlins gegen Cölln schließen. Nach ihrem 8. Artikel hatten die Cöllner bei gemeinsamer Heerfolge mit Berlin seit alters ein Drittel der Kosten zu tragen, „sodaß sie in mangen stucken up dat drudde teil utgestattet sin alß an dem rade unde schepen tho kysen" 18 . Damals also hatte seit langem Cölln ein Drittel der Ratmannen, offenbar die aus Cölln selbst zu nehmenden, nicht mehr die zwei Drittel aus Berlin zu wählen. Über diese Erkenntnis hinaus gewinnen wir die wichtigere, daß auch zu jener Zeit in Berlin und Cölln ein Rat bestand, in dem Cölln zu einem Drittel vertreten war. Die Union war in diesem Hauptpunkte nie aufgelöst worden. Daß daneben für die besonderen Angelegenheiten jeder Stadt deren Ratsmitglieder f ü r sich tagten, wird hier so wenig wie in der Urkunde vom Jahre 1307 gesagt. Es war selbstverständlich. Die Union bestand also noch, als in das Berliner Stadtbuch am Schluß des 1., die Einnahmen behandelnden Buches jene Aufzeichnung eingetragen wurde, die in dem vorangesetzten „Registrum" als „dy enunge 18

BUB. S. 376 mit falscher Datierung „um 1440"; vgl. u. S. 76 ff.

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der stede" bezeichnet wird (Stb. S. 33 ff.)18. Sie ist nur ein Entwurf, verdient jedoch eine genauere Behandlung, zumal sie von Sello in einen falschen Zusammenhang gestellt worden ist. Ihr Charakter als Entwurf wird in den einleitenden Worten ausgedrückt: „Für den Fall, daß Gottes Gnade es fügt, daß sich die Städte Berlin und Cölln einigen, haben die ehrlichen Ratmannen beider Städte diese Einigung mit Rat und Zustimmung ihrer vier Werke und der Gemeinen abgefaßt. Alte und neue Ratmannen sind über folgende Punkte einig geworden": Einnahmen und Ausgaben sollen zusammengeworfen werden, so daß nur noch eine Stadt besteht, von der alle von beiden Städten erteilten Urkunden anerkannt werden sollen. Jährlich sollen zu Berlin 12, zu Cölln 6 Ratmannen gewählt werden, wie das seit alter Zeit hergebracht ist. Alle Urkunden, Bücher und Einnahmeregister — so wird man „rechtikeit" übersetzen dürfen — sollen in ein Archiv gebracht werden. Versammeln sich die Ratmannen um zu beraten, so sollen sie auf das Rathaus gehen. Bürgermeister, Kämmerer, Baumeister und alle, die ein Amt innehaben — „ambachtlude" —, Schreiber und Knechte soll man auf demselben Rathaus wählen und entlassen, auch dort alle Renten einnehmen und auszahlen und alle Schulden zahlen und von dem Ertrag in beiden Städten nach Bedarf bauen. Dort soll man Boten löhnen und Zehrung empfangen. Für die Pferde soll man einen Marstall halten. Alle Lehen, geistliche wie weltliche, Schulen und Dienste soll man auf dem Rathaus vergeben. Alle Vierzehnnacht soll Dingetag sein, „deß Mittwochs auf der" — hier zeigt die Handschrift eine Lücke von zwei bis drei Worten. Dahin sollen Richter und Schöffen gehen und dort von beider Städte wegen richten. Man soll vier Schöffen zu Berlin und drei zu Cölln wählen, wie das seit alter Zeit hergebracht ist, und man soll das Gericht suchen auf der — hier ist die den Abschnitt schließende Zeile leer geblieben. Es folgen einige weitere Vorschriften über das gerichtliche Verfahren. Alle Gerichte, oberste und niederste, außerhalb und innerhalb (nämlich der Stadtmauern), sollen in beiden Städten gemeinsam sein. Alle Niederlage, Holzzins, Platzgeld, Rutenzins, Wortzins, Hufen-, Kavel-, Garten-, Wiesen-, Buden- und Werkzins, Heide, Büsche, Gehölzer, Weide und Wasser in den Städten und auf dem Feld, bebauter und unbebauter Acker, Gemeinbesitz (gemeyn) und Gehege sollen ohne Ausnahme gemein sein und zu beider Städte Nutz und Frommen kommen. 18 Im Text der Handschrift trägt sie keine Uberschrift, was in der Ausgabe von Clauswitz nicht ausdrücklich bemerkt worden ist.

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Aus dieser Bestimmung hat Clauswitz geschlossen, daß „alle Gerechtsame in den Städten und in beiden Feldmarken allen Bürgern gleichmäßig zustehen sollten" (KStb. S. 19). Es kann aber nur die Gemeinsamkeit aller aus den genannten Stücken der Feldmark stammenden städtischen Einkünfte gemeint sein. Das liegt deutlich in den Worten „zu beider Städte Nutz und Frommen kommen". Mit den „Städten" werden nicht die Bürger, sondern der Rat als die verantwortliche Stadtverwaltung bezeichnet. Auch der ganze Zusammenhang des Satzes verbietet eine andere Auslegung. Alle Ratmannen, Bürger, Werke und Innungen, die Gemeine und jeder Einzelne sollen ihr Recht behalten, und wir (die Ratmannen) wollen das nach besten Kräften stärken und nicht kränken. Wer künftig Burschaft, Bürgerschaft, Werk oder Innung in beiden Städten zu gewinnen begehrt, soll es vor den Ratmannen auf dem Rathause gewinnen. Wer zu Berlin Bürger ist, soll auch zu Cölln Bürger sein und umgekehrt. Wird von beiden Städten Dienst gefordert (nämlich Heeresfolge durch den Markgrafen), oder tut ein Dienst not, sollen beide Städte einander nach besten Kräften helfen. Reitet ein Ratmann oder Bürger zu Dienst oder Tagung, so soll für ihren Schaden gemeinsam eingestanden werden, sofern sie dem Hauptmann gehorsam sind, dem sie von beiden Städten zugewiesen sind. Gebote, über deren Erlaß sich die Ratmannen beider Städte einigen, soll eine Stadt allein nicht aufheben; wünschen sie es, so mögen das beide Städte tun — „unde darmet ende". Angefügt ist dann noch ein Abschnitt über die Unterhaltung der Straßenbrunnen. An den beiden Stellen des Entwurfs, an denen der Ort des Gerichts nur durch die Worte „up der" angedeutet wird, ist „nyen" oder „langen bruggen" zu ergänzen20. Dieses für die gemeinsamen Angelegenheiten Berlins und Cöllns erbaute Rathaus wird zuerst am 26. Oktober 1342 erwähnt. An diesem Tage erschienen je vier Ratmannen von Alt- und Neubrandenburg „uppe dem rathuse twischen Berlin und Colne", um ihre gegenseitigen Klagen vor den Ratmannen von Berlin, Cölln und Spandau vorzubringen (Riedel A IX, 37 f.). Nach dem Landfriedensbündnis der Ritterschaft und Städte der Vogtei Spandau vom 6. De20 Sello, Die Gerichtsverfassung und das Schöffenrecht Berlins bis zur Mitte des 15. Jahrh., Mark Forsch X V I , S. 10 f. lehnt diese Ergänzung ab, da bei dem Rathaus auf der Langen Brücke kein Platz für den „Umstand" gewesen sei. Abgesehen davon, daß eine andere Ergänzung gar nicht denkbar ist, beweist auch das Beispiel des auf dem Rathaus auf der Havel zwischen Alt- und Neustadt tagenden Brandenburger Schöffenstuhls, daß sdion um die Mitte des 14. Jahrhunderts eine solche Stätte für die Gerichtsverhandlungen durchaus ausreichte; vgl. Tschirch, S. 217.

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zember 1342 soll der von den Vertragschließenden aufzubringende Schoß „uph deme rathus tu Berlyn und Cöln" abgeliefert werden (BUB. S. 69). Im Jahre 1365 verhandelte Matthias Falke zu Saarmund mit den Ratmannen von Berlin und Cölln über den Saarmunder Zoll „up den rathuse by der nyen brugghen twischen beiden Steden" (BUB. S. 155). Ebendort verglich sich 1374 der Berliner Richter Thilo Brügge mit den Ratmannen von Berlin und Cölln wegen aller zwischen ihnen schwebenden Streitfragen (BUB. S. 180). Die Gewerbegerichtsbarkeit wurde wenigstens in einzelnen Angelegenheiten dort ausgeübt. Das von dem Rate beider Städte erlassene Verbot der Schadekäufe vom 2. Februar 1367 bestimmte, daß über Verstöße „in ponte ab utriusque civitatis consulibus" gerichtet werden sollte. Die Strafgelder fielen an die Stadt, deren Bürger der Schuldige war; handelte es sich um einen Fremden, dann hatte dieser an die Räte beider Städte zu zahlen (BUB. S. 160). Der Berliner Stadtschreiber bekam zur Zeit des Stadtbuches für das Einnehmen des Zinses 25 Schill, penn, „von der bruggen" (Stb. S. 27), der Torwärter vor dem Spandauer Tor 16 Schill, penn, „von der bruggen, vor den bom tu slutene" (Stb. S. 28). Als Rathaus „upp der langen bruggen" erscheint es zuerst am 25. Januar 1399 (Stb. S. 87). Sollte die Auslassung der genauen Ortsangabe in dem Einigungsversuch etwa daher rühren, daß bei seiner Abfassung der Sprachgebrauch zwischen „neuer" und „langer" Brücke schwankte21? Der Unterschied zwischen den Artikeln des im Stadtbuch niedergelegten Entwurfs und dem Vertrage von 1307 liegt auf der Hand. An die Stelle des Zusammengehens auf einigen Gebieten sollte eine völlige Vereinigung der Finanzwirtschaft der beiden Städte treten. Welcher Situation war dieser Plan entsprungen? Sello bringt ihn mit den Folgen des von ihm nach Ursachen und Wirkungen erläuterten großen Brandes von 1380 zusammen, der Berlin stärker betroffen hatte als Cölln (S. 27 ff.). Über die Tragung der Wiederaufbaukosten kam es zu Zwistigkeiten zwischen den Städten (Sello S. 33 ff.). Über sie berichtet das Chronicon Berolinense: 1381 „haben sich die Berlinschen von dem Cöllnschen Rath, weil sie zuvor in beyden Städten einen Rath gehabt, trennen wollen, und soll wegen der Unkosten zu Erbauung des abgebrandten Rathhauses, Thore und anderer Stadtgebäude in Berlin ge21 Sowohl die Analogie zu dem fast in genau der gleichen Zeit, 1348, zuerst auftauchenden Rathaus zwischen Alt- und Neustadt Brandenburg wie seine Bezeichnung als „in ponte" und „twischen Berlin und Colne" lassen es mir sicher erscheinen, daß es sich bei dem Berlin-Cöllner Rathaus um ein über der Spree in unmittelbarer Verbindung mit der Langen Brücke stehendes Gebäude handelte.

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schehen seyn, da die Cölner nichts haben zugeben wollen, weil ihnen an Stadtgebäuden nichts sonderl. abgebrannt. Derowegen schreibt Marchio Sigismundus et Rex Poloniae, daß sie sollen einig seyn, und einen Rath in beyden Städten haben" („Schriften H . 4 S. 9). In diesem noch erhaltenen Schreiben Sigismunds an Berlin und Cölln vom 27. September 1382 sagt der Markgraf, er habe gehört „das die czwidracht euwer stete nicht nützlich sey. Darumb meynen wir und wollin ernstlich, das ir des eyn wirt und eynen rat habit in beiden stetin und eyntrichtig werdet umb alle ding uff die wort, das euwer wesunge beydirseit dester richtiger werde und des nicht entlassit" (BUB. S. 204)22. Diese kurzen Zeilen können nicht die einzige Quelle für den Verfasser des Chronicon Berolinense gebildet haben, er muß noch andere heute verlorene Nachrichten über den aus dem Brand entsprungenen Konflikt zwischen Berlin und Cölln besessen haben, in denen doch wohl auch etwas von der beabsichtigten Auflösung des gemeinsamen Rates gestanden haben wird. Dann aber kommt es auf die Deutung der Worte „eynen rat habit in beiden stetin", die in der Tat nicht die Forderung nach einer gemeinsamen Ratsbehörde erheben, nicht an. Man kann ruhig übersetzen: „einerlei Beschluß haltet" 22 *, was allerdings immer noch etwas mehr sagt als Sellos Ubersetzung „beraten" (S. 35). Freilich willSello der Nachricht des Chronicon über die beabsichtigte Trennung überhaupt keinen Glauben schenken. Er nimmt an, Cölln habe sich nur geweigert, über die Erträgnisse aus den Exzessen hinaus etwas zur Wiederherstellung der zerstörten öffentlichen Bauten beizutragen. Deshalb habe Berlin den in seinem Stadtbuch überlieferten Vertrag mit der Zusammenlegung aller öffentlichen Einnahmen durchdrücken wollen, ihn aber, mit unter Sigismunds Einfluß, zurückgezogen und sich mit der Fortdauer der Union von 1307 begnügt. Die Aufnahme der nun Entwurf gebliebenen Artikel in das Stadtbuch sei erfolgt, weil die Berliner in ihnen eine „Direktive für die Zukunftspolitik" gesehen hätten (S. 38). Diese gewiß scharfsinnige Deutung sucht Sello durch eine überraschende Erklärung der Eingangsworte des Entwurfs zu stützen. Er übersetzt die Worte: „ofte god syne gnade gebe, dat sich dy stede Berlin und Kolen 22 Der Ausstellungsort des Schreibens ist Posen, nicht Preßburg, wie das BUB. will; vgl. Sello S. 34 2 ). Das Original im Geh. Staatsarchiv, Urk. Berlin-Köln Nr. 38, zeigt eine Schreibung des Ortes, die man Posnaw, aber auch Posnan lesen könnte; es ist ein weder mit den sonstigen w noch dem auslautenden n der Urkunde ganz übereinstimmender Buchstabe. Das Zitat im Text nach dem Original, von dem der Drude des BUB. in einigen Äußerlichkeiten abweicht. 22 ° Freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Lasch.

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enigden": wenn Gott in seiner Gnade es gibt, daß die Städte Berlin und Cölln „sich versöhnen", nämlich wegen ihres Streits über die Deckung des Brandschadens. Das ist ganz unmöglich. Denn dann müßte auch in den unmittelbar anschließenden Worten: „so hebben die erliken radmanne von beiden Steden sodane enunge begrepen", „enunge" mit Versöhnung übersetzt werden. Davon kann keine Rede sein, es handelt sich nicht um die Erledigung von Streitpunkten, sondern um einen Einigungsvertrag der abgeschlossen werden soll, wenn ihm ein grundsätzliches Einverständnis über ihn vorausgegangen ist. Läßt man Seilos künstliche Deutung von „sich enigeden" fallen, so setzt der Entwurf gerade voraus, daß zur Zeit seiner Abfassung gute Beziehungen zwischen den Städten bestanden. Er sagt ausdrücklich, daß die Ratmannen beider Städte mit Zustimmung der Bürgerschaft diese Einigung beschlossen haben. Es kann sich daher nicht um einen einseitig im Interesse Berlins liegenden Entwurf handeln, was nur unter den ganz besonderen Umständen nach dem großen Brande Sinn gehabt hätte. Der Widerstand Cöllns gegen ihn wäre übrigens recht kurzsichtig gewesen, denn nach allem, was wir über die Finanzlage der beiden Städte im 14. Jahrhundert annehmen müssen, war Berlin die finanzkräftigere Gemeinde. Sie besaß in der Niederlage eine Einnahmequelle, der Cölln nichts an die Seite zu stellen hatte. Sello bringt auch die Umtriebe Tiele Wardenbergs und Albert Rathenows in diesen Zusammenhang. In der Tat hatte sich Tiele wohl nach dem letzten Zusammenstoß mit seinen Kollegen im Berliner Rat, der in das Jahr 1382 zu setzen sein wird, zum Markgrafen Sigismund begeben und ihn für sich zu gewinnen gewußt. An dem gleichen 27. September 1382, an dem Sigismund seine Mahnung zur Eintracht an die Spreestädte richtete, schrieb er an Rat, Werke und Gemeinheit von Berlin, Tiele habe sich über die ihm durch die Stadt gezeigte Ungnade und Ungunst beklagt, durch die es ihm verwehrt sei, wie andere Bürger die Stadt zu betreten oder zu verlassen. Der Markgraf habe deshalb drei Berliner Ratsmannen aufgetragen, dahin zu wirken, daß Tiele zu seinem Rechte verholfen werde (BUB., S. 204 f.). Leider ist unsere einzige nähere Quelle über die Zerwürfnisse Tieles und Alberts mit den Räten von Berlin und Cölln, das Berliner Stadtbuch, wegen des Fehlens aller genaueren Daten nicht leicht verständlich. Soweit es möglidi ist, den Bericht in den historischen Zusammenhang einzureihen, hat das Heidemann getan 23 . Auch er läßt Tiele eine Rolle in dem Zwist der Städte spielen. Welcher Art sie war, 8 3 Jul. Heidemann. Die Mark Brandenburg unter Jobst von Mähren, Berlin 1881, S. 37 u. 95.

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ist in keiner Weise zu erkennen. Daß sie mit dem nach Sello von Berlin betriebenen weitergehenden Einigungsvertrag zusammenhängt, also auch für dessen Datierung heranzuziehen ist (Sello, S. 36), bleibt reine Vermutung. Es läßt sich vielmehr aus dem Entwurf selbst ein Beweis gegen die Ansetzung in das Jahr 1382 entnehmen. Mitten zwischen Bestimmungen über die Yereinnahmung der Einkünfte aus dem „Setzen" von Bier, Wein und Met24, aus dem Stättegeld und allen sonstigen Gerechtigkeiten auf dem gemeinsamen Rathause und über die Vereinigung der Einnahmen aus der Niederlage und den verschiedenen Zinsgefällen steht der Satz: „vortmer sal alle gerichte, overste und nederste, in beiden steten eyn syn, buten und bynnen." Es sollen also die Gerichtsfälle in eine gemeinsame Kasse fließen. Diese gehörten 1382 noch dem Schulzen Tilo von Brügge und wurden erst 1391 durch die Stadt Berlin erworben (BUB., S. 212 f.). Die „enunge der stede" kann also nicht vorher abgefaßt sein. Sollte sie nicht vielmehr einer ähnlichen Situation entsprungen sein, wie die Union von 1307, einer Zeit der Not und Bedrängnis von außen? Damit kämen wir auf die neunziger Jahre des 14. Jahrhunderts, auf die Zeit der Abfassung des Stadtbuches selbst. Uber dieses Jahrzehnt wird man nicht hinausgehen können. Der Text der Einigung ist in einem Zuge ohne Absatz von der gleichen Hand geschrieben worden, die den vorangehenden Abschnitt von der Stadt „rechticheit und gebot" aufgezeichnet hat. Da das ganze erste Buch nicht vor 1391 geschrieben worden ist, weil es den in diesen Jahren erfolgten Ankauf von Lichtenberg voraussetzt, und da das unmittelbar anschließende zweite Buch schon eine Urkunde von 1393 enthält, dagegen 1398 vollendet war (Clauswitz Stb., S. XIII f.), ergeben sich frühester und spätester Zeitpunkt für die Eintragung der Einigung. Will man einen noch näheren Anhaltspunkt suchen, so darf man ihn vielleicht finden in dem Bund der mittelmärkischen Städte vom 2. Februar 1393 gegen die, „dy binnen der heren stede roven, schindcn und des nachts puchen und upstoten 25 ". Im Anschluß an dieses Bündnis, das zum erstenmal gegenseitige bewaffnete Hilfe der Vertragschließenden nach einer festen Matrikel vorsieht, und vielleicht noch unter dem Eindruck der dem Brande von 1380 folgenden finanziellen Mißhelligkeiten werden Berlin und Cölln in Beratungen über einen engeren Zusammenschluß eingetreten sein. Daß sie nicht zum Ziel führten, mag gerade an den Wirren gelegen haben, die den Anstoß zu den Verhandlungen gaben. Es war wohl nicht die rechte Zeit, eine so tiefgreifende Neugestaltung 84 25

Über das „Setzen" vgl. Clauswitz, Kölner Stadtbuch S. 77. Riedel A XI, 66 f. Das BUB. gibt S. 218 nur ein Regest.

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der Beziehungen der beiden Städte durchzuführen. Als mit dem Erscheinen und den Erfolgen Friedrichs I. der unmittelbare Anlaß, die ständige Friedensbedrohung durch den fehdeführenden Adel, weggefallen war, lag vollends keine Notwendigkeit mehr vor, den unter anderen Umständen entstandenen Plan zu verwirklichen. Erst eine von Grund auf veränderte Lage löste den entscheidenden Schritt zur völligen politischen Vereinigung Berlins und Cöllns, den Vertrag des Jahres 1432 aus. Auch über den Anlaß zu ihm wie über seine Ziele bestehen zwischen Sello und Clauswitz tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten, deren Erörterung den besten Weg für den Versuch einer Lösung der Frage bietet. Am 27. Juni 1432 beurkundeten die Ratmannen von Brandenburg und Frankfurt einen von den Städten Berlin und Cölln zur Beilegung der zwischen ihnen bestehenden Streitigkeiten geschlossenen Vertrag, der im Dezember durch den Rat von Cölln vollzogen wurde (BUB., S. 353 f.; fälschlich vom 6. statt 13. Dezember datiert). Eine entsprechende Berliner Urkunde ist nicht erhalten 26 . Die gemeinsam bestandene Quitzowgefahr und die Beruhigung der inneren Zustände durch Friedrich I. hatte nicht vermocht, die zwischen Berlin und Cölln wie zwischen Altstadt und Neustadt Brandenburg oder Alt- und Neustadt Salzwedel fast mit Naturnotwendigkeit immer neu auftauchenden Reibungen für die Dauer auszuschalten. Wir besitzen eine undatierte, Friedrich I. eingereichte Beschwerde des Rats von Berlin gegen den von Cölln, die einen Einblick in diese Zerwürfnisse gewährt. Sie waren vorwiegend finanzieller Natur, rührten aus der Weigerung Cöllns her, zu einer Reihe gemeinsamer Ausgaben sein herkömmliches Drittel zu zahlen, und aus Beeinträchtigungen der Marktgerechtigkeiten Berlins. Hinzu kamen Eingriffe Cöllns in die Ausübung des für beide Städte gemeinsamen Gerichts, das Berlin allein erworben hatte. Dabei handelte es sich nicht nur um die finanzielle Seite der Gerichtsbarkeit, die Clauswitz für die allein maßgebende betrachtet, sondern um Prestigefragen. Cölln hatte, als Jakob Cölln auf dem Cöllner Küterhof Andreas Simon verwundet hatte, den Berliner Richter gewaltsam gehindert, die Sache vor sein Forum zu bringen; es hatte ferner seinen Schreiber gegen Berlins Willen in die Schöffenbank gesetzt. Sello verlegt die Beschwerdeschrift in das Jahr 1432. Berlin klagt in ihr unter anderem, Cölln wolle sich nicht an der Tragung der 47 26

Das im Cöllner Stadtbuch angegebene Datum vom 5. Juli 1432 läßt sich nicht

erklären; vgl. Clauswitz, KStb. S. 19. Oder sollte Berlins Ausfertigung schon so schnell erfolgt sein?

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Schock gr. betragenden Kosten beteiligen, die bei der Gefangennahme des Berliner Ratsherrn Henning Mölner, offenbar durch das Lösegeld für ihn, entstanden waren, „alß die fiende dieser ganzen lande genomen hatten". Die Berliner waren mit den Cöllnern, „da wy dat geruchte vernommen hadden", in einem gesamten Haufen ausgcrückt. Sello sieht darin eine Anspielung auf den Einfall der Hussiten in die Mark, bei dem sie im April 1432 Frankfurt belagerten, Müncheberg, Beeskow und Strausberg eroberten und über Bernau zurückzogen27. Die Vermutung hat viel für sich, wenn wir auch über eine Beteiligung an der Abwehr der Hussiten nichts wissen. Immerhin schickte Görlitz seinen Söldner Hans Worm nach Frankfurt und Berlin, um Erkundigungen einzuziehen28. Die Teilnahme an dem Gefecht am Kremmer Damm wird in einem späteren Beschwerdeartikel erwähnt und dabei ausdrücklich gesagt, daß man damals dem Markgrafen Folge leistete 2 '. Allerdings war Friedrich I. seit 1426 nicht mehr in der Mark, immerhin kann sich Berlin an ihn und nicht an den die Regierungsgeschäfte führenden Markgrafen Johann gewandt haben. Auch die Zollbefreiungsurkunde für Berlin und Cölln vom 10. Februar 1433 ist durch Friedrich selbst ausgestellt worden (BUB., S. 354); märkische Städte haben während der Statthalterschaft Markgraf Johanns mehrfach Gesandtschaften an den Kurfürsten geschickt (Prieb., S. 65). Trotzdem ist die Sellosche Datierung nicht geeignet, restlos zu befriedigen. Die politischen Verhältnisse der führenden mittelmärkischen Städte sprechen dafür, die Beschwerdeschrift auf einen etwas früheren Zeitpunkt zu verlegen. Priebatsch hat unter sorgfältiger Heranziehung des Urkundenstoffes die Beziehungen untersucht, die sich seit dem Erscheinen der Hohenzollern in der Mark zwischen ihnen und ihren Städten entwickelt hatten. Friedrich I. hatte in ihnen Bundesgenossen für seine Kämpfe gegen den friedebrechenden Teil des Adels wie gegen auswärtige Feinde gefunden (Prieb., S. 46 ff.); er sah in ihnen „den 27

Vgl. Jecht, F B P G 25 (191'2), S. 29 ff., besonders S. 4 2 — 4 4 .

28

Jecht a. a. O. S. 44.

29

E d w a r d Schröder, Die Schlacht am Kremmer Damm, Nadir, d. Ges. d. Wiss. zu

Gött., 1927, H . 3, S. 2 2 0 ff., sucht nachzuweisen, daß es sich bei dem Zusammenstoß am Kremmer Damm, dem drei fränkische Edelleute zum Opfer fielen, um eine Tötung durch Verrat, Überfall oder Mißverständnis gehandelt habe. Der oben zitierte Beschwerdeartikel scheint mir zu beweisen, daß es sich, wenn auch nicht um eine Schlacht, so doch um ein kleineres Gefecht handelte. Der Schaden bzw. der Verlust, den Berlin und Cölln erlitten hatten, kann nur aus aktiver Heeresfolge, nicht aus bloßer finanzieller Unterstützung des Markgrafen entstanden sein.

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Kern der Nation". Sein Sohn Johann dagegen geriet mit der neben Berlin bedeutendsten Stadt der Mittelmark, Frankfurt a. d. O., in einen schweren Konflikt. Er warf der Stadt Eingriffe in die wichtigsten landesherrlichen Gerechtsame, die Gerichtshoheit, den Zoll, das Stättegeld und das Mühlenregal vor. Sein Richter lag wegen der Ausübung der Jurisdiktion mit dem Frankfurter Rat in Streit. Schließlich klagte der Markgraf vor einem ständischen Gericht, nachdem er durch seinen Hofrichter einen Prozeß bei dem Landgericht vor der Brücke zu Tangermünde angestrengt hatte, dessen Zuständigkeit Frankfurt bestritt. Es holte sich darüber ein Urteil der Magdeburger Schöffen ein und ließ sich seine Privilegien, die es von der Vorladung vor ein Landgericht befreiten, durch den Rat von Magdeburg bestätigen30. Johann trat mit dem Hochmeister des deutschen Ordens, die Stadt mit Magdeburg und Lübeck in Verbindung. Der Streit muß später beigelegt worden sein, näheres darüber ist nicht bekannt31. Er gewinnt über die Mark Brandenburg hinausgreifendes Interesse durch Frankfurts Beistandsgesuche an auswärtige Städte. Dadurch gliedert er sich in den großen Kampf ein, den die norddeutschen Städte seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gegen die territoriale Fürstenmacht führten. Es waren zunächst sächsische Städte, die seit 1360 Bündnisse gegen ihre Landesherren schlössen; 1402 folgte als Antwort auf einen Angriff 30

Priebatsdi, S. 63 ff.; Die Urkunden Riedel A X X I I I , 185 ff. Der Prozeß vor dem Landgericht geht wohl der Klage vor dem ständischen Gericht voraus, und es scheint, als habe ihn der Markgraf trotz des Nichterscheinens des Frankfurter Rats durchgeführt. In der undatierten Klage sagt er, daß er gegen den Rat 10 000 Gulden „vor rechtem gerichte, mit ordele und mit rechte" gewonnen habe, und daß die Ratmannen ebenda verfestet worden und Jahr und Tag in der Verfestung geblieben seien (Riedel, A X X I I I , 192 f.). Die Klage wäre dann nicht mit Riedel 1429, sondern 1430 zu datieren. 51 Tsdiirdi (S. 140) nimmt unter Weiterführung einer Vermutung von Priebatsdi (S. 65) an, daß Frankfurt sich während des Streites mit Berlin und Brandenburg in Verbindung gesetzt und mit ihnen über eine Berufung an Friedrich I. beraten habe. Der Bund vom Jahre 1431 war „vermutlich nur eine erneute Besiegelung der Bundesbrüderschaft, die die drei Städte in der Frankfurter Angelegenheit bestätigt hatten, und der der Markgraf Johann wohl hatte weichen müssen". Aber das Schreiben Frankfurts an Berlin, in dem eine gemeinsame Gesandtschaft an Friedrich in Aussicht genommen wird, stammt schon vom 22. Dezember 1427, die Klage des Hofrichters gegen Frankfurt erst aus dem Frühjahr 1429; und gegen sie appellierte die Stadt am 9. Mai 1429 an Friedrich (Riedel, A X X I I I , S. 185 ff.). Der Frankfurter Richter Gabriel Feyst schlug selbst der Stadt in dem zwischen ihnen schwebenden Streit den Rat von Berlin und Cölln als Schiedsrichter vor. Natürlich ist es wohl denkbar, daß Berlin und Brandenburg für Frankfurt erfolgreich eingetreten sind, es fehlen nur sichere Nachrichten darüber.

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der Herzöge von Lüneburg gegen ihre Hauptstadt ein Bund von acht wendisch-pommerschen Städten 32 . Zu diesem Gegensatz zwischen Fürsten und Städten trat der zwischen regierenden Ratsgeschlechtern und der Masse der Bürgerschaft. Seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts läßt er sich in Norddeutschland beobachten und führte zuerst wieder bei einigen sächsischen Städten dazu, in ihre Landfriedensbündnisse Bestimmungen gegen Aufruhr aufzunehmen. Der große Bund von 1360 richtete sich auch gegen die inneren Feinde des Rats, nachdem 1340 in Magdeburg und Helmstedt Unruhen ausgebrochen waren. Es folgten in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Aufstände in einer Reihe von Städten, die in der Lübecker Revolution von 1408 bis 1416 gipfelten (Bode, S. 211 ff.). Für die Mark Brandenburg fehlen genauere Untersuchungen, immerhin dürfen wir zwischen diesen Vorgängen und den Wirren in Berlin und Cölln, die sich an die Namen Tiele Wardenbergs und Albert Rathenows knüpfen, eine Parallele ziehen. Es waren zur Hanse gehörige Städte, die sich gleichzeitig gegen die Macht der Landesherren und die nach Anteil am Stadtregiment verlangenden Gewerke zu verteidigen hatten. Die Hanse als solche entbehrte des Charakters eines politischen Bündnisses; ihr Aufgabenkreis war ein wirtschaftlicher, wie Bode eingehend nachgewiesen hat. Nach der Beendigung der Lübecker Revolution drangen aber politische Tendenzen in die Hanse ein und traten auf dem von 35 Städten, darunter Salzwedel und Stendal aus der Mark Brandenburg, beschickten Lübecker Tage vom Juni 1418 in Erscheinung. In die neu anerkannten Statuten wurde ein Artikel eingefügt, der mit Hinrichtung und Verfestung diejenigen bedrohte, die den Rat einer Hansestadt seiner Macht berauben würden. In ein Schutzbündnis der sächsischen Städte vom April 1426 wurde dieser Artikel aufgenommen (Bode, S. 227 ff. und 237 ff.). Einen erneuten Antrieb erhielten die Hanseschen Bundesbestrebungen durch die Hussitennot. Jetzt beteiligte sich auch die Mittelmark aktiv an ihnen33. Von Anfang an hatten neben einer Anzahl von Städten der Altmark und der Prignitz Berlin und Cölln zur Hanse gehört 34 . Aber seit diese 1358 in dem Rostocker Verzeichnis genannt worden waren, hatten sie über zwei Menschenalter keinen Hansetag besucht. Nun er52

W . Bode, Hansische Bundesbestrebungen in der ersten H ä l f t e des 15. Jahrhun-

derts. I n : Hans. Gesch.-BL, 45, 1919, S. 195 ff. 33

Bode, in: Hans. Gesch.-Bl., 46, 1920/21, S. 174 ff.

34

Vgl. neben der älteren Arbeit von Fr. Krüner, Berlin als Mitglied der Hanse,

in: Wiss. Beil. z. Jahresber. d. Falkrealgymn., Berlin 1897, vor allem Walter Stein, Die Hansestädte, in: Hans. Gesdi.-Bl. 1915, S. 125 ff.

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schienen sie plötzlich auf der Lübecker Tagung vom Januar 1430 und mit ihnen zum erstenmal Frankfurt a. d. O. Zweifellos war für sie die Hussitengefahr nicht der eigentlich treibende Grund. Für sie stand nach den Erfahrungen, die Frankfurt soeben mit dem Markgrafen Johann gemacht hatte, der Kampf gegen die Fürstengewalt im Vordergrunde, den der Rezeß dieses Hansetages offen proklamierte (Bode, S. 176). Im vollen Bewußtsein dieses Rückhaltes an den mächtigsten Städten Norddeutschlands werden Berlin-Cölln und Frankfurt dazu geschritten sein, zusammen mit Brandenburg das Bündnis vom 1. Februar 1431 abzuschließen, das einen anderen Charakter zeigt, wie die märkischen Städtebündnisse des 14. Jahrhunderts. Diese waren im allgemeinen bis auf das des Jahres 1399 aus dem Rahmen der Landfrieden nicht herausgetreten, hatten höchstens gelegentlich einen in den unklaren staatsrechtlichen Verhältnissen der Mark gegen Ende der Askanierzeit begründeten Nebenzweck gehabt (Clauswitz, S. 30). Der Vertrag vom 6. Juni 1399, den die drei mittelmärkischen Hauptstädte mit einer Anzahl kleinerer Städte im Barnim und Havellande eingegangen waren, galt zugleich der Verteidigung der hergebrachten Rechte und des zweifelhaften Lehnsbesitzes35. Allein dies war eine natürliche Folge der unter Sigismund und Jobst eingerissenen allgemeinen Rechtsverwirrung. Beim Abschluß des Bündnisses von 1431 herrschte im Lande Frieden, aber die Auseinandersetzung zwischen Fürst und Städten stand bevor. Es handelte sich jetzt nicht nur um den zweifelhaften, durch Urkunden nicht nachweisbaren, in gutem Glauben, aber ohne Beobachtung der lehnsrechtlichen Formen erworbenen Besitz, wenn auch die beabsichtigte Heranziehung des Adels vor allem auf der hierin begründeten Interessengemeinschaft beruht haben wird. Aber die Städte wollten im Notfall auf die Mannen verzichten, und sie hatten weitergehende Absichten. Sie wollten ihr altes Vorrecht, daß kein Bürger vor ein auswärtiges Gericht gezogen werden durfte, mit Einsatz ihrer ganzen Kraft verteidigen. Keine Stadt sollte ein Recht, das auch eine andere Stadt oder das Land anging, ohne Zustimmung der Mitkontrahenten aufgeben, damit alle „bei brandenburgischem Recht" blieben. Wer für eine Stadt oder für Mannen des Landes eintrat und dafür in Ungnade geriet, sollte gegen jede Gefahr verteidigt werden. In jedem Jahre sollte abwechselnd in einer der drei Bundesstädte eine Tagung stattfinden. Fast alle diese Artikel standen schon in dem Vertrag von 1399, nur regelmäßige Tagungen waren in diesem nicht festgesetzt. Trotzdem richtete das neue Bündnis ganz deutlich 35

Riedel, A X X I V , 393 f.; im BUB. S. 233 nur ein kurzes Regest.

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„seine Spitze gegen den Landesherrn", wie Clauswitz mit Recht betont (S. 31), wenn er auch die aus der Sorge um den Landbesitz herrührenden Tendenzen einseitig in den Vordergrund rückt36. Auf dem nächsten Tage, den die Verbündeten von 1431 abhielten, ist im Jahre 1432 die folgenschwere Vereinigung von Berlin und Cölln zur Tat geworden. Ist es denkbar, daß in der kurzen Zwischenzeit sich Berlin an Friedrich I. gewandt hat, um von ihm eine Entscheidung in seinem Streit mit der Nachbarstadt zu erbitten? Alle Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, und so werden wir die oben besprochene Beschwerdeschrift doch in eine etwas frühere Zeit rücken müssen. F. Voigt hatte sie vor das Jahr 1426 setzen wollen". Daß in den zwanziger Jahren heftige Kämpfe mit den nordischen Nachbarn der Mark stattgefunden haben, bei denen die Städte bedeutende Kosten für die Heeresfolge aufgebracht haben, lehren die Aufzeichnungen des Frankfurter Stadtschreibers Stajus38. Im Jahre 1419 z. B. wurden erhebliche Ausgaben für die Heeresfolge gegen Strausberg und Eberswalde gemacht, 1422 nach Treuenbrietzen, 1423 nach Mecklenburg, 1424 nach Eberswalde und Angermünde, 1425 nach Bernau und nach Mecklenburg. In eines dieser Jahre werden wir die in der Beschwerdeschrift genannten Aufwendungen Berlins zu setzen haben. Damit fallen auch die Vermutungen fort, auf Grund deren Priebatsch eine wenigstens stillschweigende Genehmigung der Vereinigung Berlins und Cöllns durch Friedrich I. wahrscheinlich machen möchte (S. 68 f.). Nicht durch den Einfluß des Markgrafen, sondern durch den der gegen seinen Statthalter, den Markgrafen Johann, verbundenen Städte ist die radikale Überwindung des alten Gegensatzes der Spreestädte erfolgt. Nur soviel wird Priebatsch zuzugestehen sein, daß Friedrich dem Zusammenschluß an sich nicht feindlich gewesen sein wird, da er 1434 selbst Alt- und Neustadt Salzwedel geraten hat, ihre vorübergehend abgeschlossene Vereinigung in eine dauernde zu verwandeln. Und zweifellos hat Markgraf Johann trotz seines energischen Eingreifens gegen den Ungehorsam der altmärkischen Städte im Jahre 1429 (Prieb., S. 65 f.) der engeren Verbindung Berlin-Cöllns keinen Widerstand entgegengesetzt; nur hat er seinen Aufenthalt in der Mittelmark 36 In der Einleitung zum KStb. formuliert Clauswitz den Sinn des Bündnisses sogar dahin, daß sidi die Städte von der Lehnware überhaupt freimachen wollten (S. 28). Demgegenüber betont Tschirch (S. 140 f.) mit Recht, daß es sich um die Verteidigung der alten Freiheiten der Städte handelte, „insbesondere des Vorrechts, nur in der eigenen Stadt zu Recht zu stehen". 37 38

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Mark. Forsch. Bd. 27 (1861) S. 225 f. Riedel, D I, S. 324 ff.

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schon seit dem Städtebund von 1431 statt in Berlin regelmäßig in Spandau genommen (Prieb., S. 65). Sello sieht die eigentliche Ursache der Vereinigung in einem Rückschlag gegen die „demokratische Hochflut" der vorhergegangenen Zeit, der dem „das Kapital und die Intelligenz repräsentierenden Patriziat" wieder das Übergewicht über den gemeinen Mann verschaffte (S. 49 f)In dessen Bekämpfung hätten sich die feindlichen Berliner und Cöllner Ratsherren gefunden und dabei den alten Entwurf des Stadtbuches „nicht nur materiell, sondern auch formell benützt" (S. 51). Diese Auffassung Sellos entbehrt nicht ganz eines berechtigten Kernes, an der wirklichen politischen Situation geht sie aber vorüber. Darauf, ob bei der Abfassung des Vertrages von 1432 der Entwurf der neunziger Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts benutzt worden ist oder nicht, kommt nicht viel an. Bei den Stellen, die Sello zum Beweise einer solchen Anlehnung nebeneinander abdruckt, handelt es sich um Bestimmungen, die entweder nur die tatsächlichen Verhältnisse noch einmal festlegten oder 1432 nicht gut anders ausfallen konnten als in dem Entwurf. Auch der gelegentliche wörtliche Anklang könnte zwanglos aus der Natur der Sache erklärt werden. Was sagt nun der Vertrag über sich selbst aus? Er wurde von den Räten Berlins und Cöllns mit Rat und Zustimmung der Viergewerke und der gemeinen Bürgerschaft zur Beilegung der bisherigen und zur Vermeidung künftiger Zwistigkeiten abgeschlossen. Er enthält folgende Bestimmungen: 1. Bürgermeister und Ratmannen beider Städte sollen die Ratmannen und Schöffen wählen, und zwar zu Berlin zwei Bürgermeister, zehn Ratmannen und vier Schöffen, zu Cölln einen Bürgermeister, fünf Ratmannen und drei Schöffen. Bei mangelnder Einstimmigkeit entscheidet die Mehrheit. Die Ratmannen sollen auf dem Rathause bei der langen Brücke alle städtischen Angelegenheiten beraten und nach der Mehrheit beschließen, Zins und Schoß von beiden Städten einnehmen und den Ertrag für den Bau der Städte verwenden. Eben dort werden die 14tägigen Dingetage gehalten — alles bis auf die ausdrückliche Betonung des Majoritätsprinzips wie in dem Entwurf des Stadtbuches. 2. Während der Berliner bzw. der Cöllner Jahrmärkte dürfen in der anderen Stadt nur Korn, Brennholz, Hühner und Wildpret feilgehalten werden. Wochenmarkt soll zu Berlin am Dienstag, zu Cölln am Freitag stattfinden; in der anderen Stadt dürfen dann Gewandschneider, Krämer, Schuhmacher, Tuchmacher, Kürschner und andere, abgesehen von den bei den Jahrmärkten genannten Waren, nichts verkaufen.

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3. Das Bürgerrecht gilt wie im Entwurf des Stadtbuches für beide Städte. 4. Werke, Innungen und Gilden bleiben in jeder Stadt wie bisher für sich, bis man die Werke, Innungen und Gilden, die noch nicht vereinigt sind, „vorder muchte eynen nach rade unde willen des radis van beyden Steden". Auch diese Bestimmung deckt sich bis auf die in Aussicht genommene weitere Vereinigung von Innungen mit dem Entwurf. Hinzugefügt wird aber, daß, wer ein Werk in Berlin oder Cölln ausüben will, in der betreifenden Stadt wohnen muß, und daß die Werkszinsen unverändert bleiben und auf das gemeinsame Rathaus abgeliefert werden sollen. 5. Alle freien Grasungen, Lehmkulen, freien Heiden, Hütungen und Weiden vor beiden Städten „Scholen eyn sin den bürgeren van beyden Steden". Es darf also ein Berliner sein Vieh vor den Hirten zu Cölln treiben lassen und umgekehrt, aber die Hirten sollen das Vieh wie seit alters hüten und treiben; die beiden Hirten zu Berlin sollen zu Berlin hüten und kein Vieh zu Cölln abholen oder es dorthin heimtreiben, und ebenso umgekehrt. 6. Wird Holz vor Berlin und Cölln ausgekavelt, dann werden die Kaveln den Bürgern beider Städte aus einem Hut ausgetan. 7. Wer in Berlin wohnt, darf Hufen, Kaveln, Gärten, Wiesen und Äcker vor Cölln haben und umgekehrt. 8. Der Rat von Cölln hat 200 Schock gr. an die gemeinsame Kasse zur Entschädigung des Berliner Rats gezahlt, mittels derer verschiedene auf dem gemeinsamen Rathaus stehende Renten abgelöst worden sind. Von nun an sollen alles städtische Eigentum an geistlichem und weltlichem Lehen, Dörfern, Gerichten, Gehölz, Wiesen, Weiden, Wassern, Zinsen, Renten und alle Nutzungen vereinigt sein. Als die wichtigste Neuerung dieses Vertrages betrachtet Sello die Festlegung der jährlichen Ratswahl durch den zurücktretenden Rat. Darin lag aber nichts Neues, zumal ja auch Sello annimmt, daß sich damals die Ratsstellen „gewohnheitsmäßig in den Händen der Geschlechter" befanden (S. 53). Trotzdem hat die seit 1432 ausgeübte Form des Ratswechsels, wie die Urkunde vom 26. Februar 1442 ergibt, Unwillen erregt. Clauswitz vermutet, daß praktisch kein jährlicher Ratswechsel stattfand, sondern daß der Versuch gemacht wurde, eine Amtsdauer auf Lebenszeit einzuführen (S. 35). Daß dies tatsächlich geschah, sagt eine offenbar von dem damaligen Oberstadtschreiber Hartmann 15 84 in den Turmknopf von St. Nikolai in Berlin gelegte Einlage: „fuitenimeo tempore (1442) perpetuus consulatus civitatum" (Küster, Altes und Neues Berlin, I, Berlin 6*

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1737, S. 262). Eine Parallele bietet ein Vorgang in Eberswalde, wo 1439 Rat, Vierwerke und Gemeinheit vier „fromme Leute" zu ständigen Bürgermeistern und Verwesern der Stadt wählten, von denen immer zwei abwechselnd ein Jahr lang die laufenden Verwaltungsgeschäfte der Stadt führen sollten (Riedel, A X I I , 325 f.). Allerdings läßt sich mit der Angabe Hartmanns die Bürgermeisterliste des Chronicon Berolinense nicht vereinbaren. Sie gibt für die Jahre 1432—41 regelmäßig wechselnde Bürgermeister an. Andererseits scheint schon vor 1432 der jährliche Ratswechsel nicht stets erfolgt zu sein. Im Buch der Übertretungen des Berliner Stadtbuches werden Bastian Welsikendorp und Domes Wyns unter dem 26. März 1427, dem 15. Mai 1428 und dem 5. Februar 1429 als proconsules genannt. Damit stimmt wiederum die „series consulum" nicht überein; sie führt Welsikendorp und Wyns nur für 1428, dagegen für 1427 und 1429 Paul Blankenfeld und Hennig Stroband an. Da die Richtigkeit der gleichzeitig mit den Ereignissen erfolgten Eintragungen im Stadtbuch nicht gut angezweifelt werden kann, muß die „series consulum" ungenau sein. Dann wird aber auch ihren Angaben für 1432 bis 1442 gegenüber Mißtrauen erlaubt sein; der Ratswechsel kann mindestens nicht der Regel und dem Herkommen gemäß erfolgt sein. Der ganze Gegensatz zwischen der Seiloschen und der Clauswitzschen Auffassung wird bei dem Kommentar deutlich, den sie an die Bestimmungen des Vertrages über die eventuelle Vereinigung von Berliner und Cöllner Innungen knüpfen. Sello meint, der Rat habe die Innungen nicht vereinen wollen, „um durch Brotneid die Uneinigkeit zu nähren" (S.53). Clauswitz dagegen hat gerade die Schwierigkeiten hervorgehoben, die sich aus der seiner Ansicht nach ernsthaft geplanten Verschmelzung der Städte und ihrer Bürgerschaften ergeben mußten. Hierin liegt sein zweifelloses Verdienst. Nur liest er aus dem Vertrage Folgerungen heraus, die ihrerseits nicht haltbar sind. Die Vermögensvereinigung hätte nämlich „die Zusammenlegung der Feldmarken beider Städte" mit sich gebracht (S. 33), es sei aber keine „ordnungsmäßige Ausgleichung der Ansprüche aller berechtigten Einwohner unter Abfindung der benachteiligten" erfolgt und dadurch eine „allgemeine Unzufriedenheit . . . gerade bei der niederen Bürgerschaft" entstanden, für die „Kavelländer, Wiesenparzellen, Hütungsangelegenheiten eine wichtige Rolle spielten" (S. 34)39. Wir haben keine direkte Nachricht über die Gründe für die Mißstimmung, die in der Tat im Laufe der nächsten 39 In der Einleitung zum Kölner Stadtbuch S. 20 f. drückt sich Clauswitz zwar knapper und etwas vorsichtiger, doch im Grunde übereinstimmend mit seinen älteren Ausführungen aus.

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Jahre zwischen dem Rat und der Bürgerschaft entstand. Die Bestimmungen des Vertrages vom Jahre 1432 über die Benutzung der H ü t u n gen und Weiden verraten aber eine so weitgehende Berücksichtigung der bestehenden Verhältnisse, daß sie schwerlich Unzufriedenheit auslösen konnten 40 . Wirklich vereinigt wurde ja nur die Auskavelung des Holzes (Art. 6), und dabei kann es bei dem reichen Heidebesitz Berlins und Cöllns nicht gut zu Benachteiligungen Einzelner gekommen sein. D a ß Berliner Bürger Privatbesitz an Hufen, Kaveln, Gärten usw. in Cölln erwerben durften und in gleicher Weise die Cöllner in Berlin, kann ebenso kaum zu Streit geführt haben. Noch empfindlicher hätte indessen nach Clauswitz die neue Verfassung durch die Vereinigung aller gleichnamigen Innungen in die bestehenden Verhältnisse eingegriffen, „denn zwei Innungen desselben Gewerks konnten schwer nebeneinander bestehen"; da jedoch Rechte und Vermögen der Berliner und Cöllner Innungen verschieden waren, wäre der gesamte Handwerkerstand Gegner dieser Maßregel gewesen (S. 34). Während also Sello in der NichtVereinigung der Innungen eine besondere Tücke des Rates erblickt, ist für Clauswitz ihre Vereinigung der stärkste Grund zum Unwillen gegen den Rat. Indessen hat der sonst gegenüber Hypothesen so mißtrauische Clauswitz hier selbst um einer Hypothese willen den klaren Wortlaut der Urkunde vergewaltigt. In ihr wird ausdrücklich das Fortbestehen der getrennten Innungen und ihrer verschiedenen, an die Stadt zu zahlenden Gebühren betont, und die Pflicht jedes Meisters, in der Stadt zu wohnen, in der er sein Gewerbe ausübte. Es ist auch durchaus nicht einzusehen, weshalb nicht in Berlin und Cölln zunächst getrennte Innungen bleiben konnten. In der Einleitung zum Cöllner Stadtbuch sagt Clauswitz daher vorsichtiger: die Innungen bleiben „nur solange getrennt, bis der Rat beschließt, sie zu vereinigen" (S. 19 f.; vgl. S. 21). Indessen haben wir nirgends eine Andeutung davon, daß auch nur eine Innung vereint worden wäre. Übrigens hätte eine solche Vereinigung doch wohl nicht notwendig zu allgemeinem Wirrwarr führen müssen. Für so töricht dürfen wir weder die Ratsherren von Berlin und Cölln, noch die von Frankfurt und Brandenburg halten, daß sie einen im Grunde undurchführbaren Zusammenschluß von Innungen in Aussicht genommen hätten. Die Behauptung von Clauswitz, daß je länger der Rat die Vereinigung der Städte erhalten wollte, „desto stärker die Rechtsverwirrung und die allgemeine Unzufriedenheit wurden" (S. 34), schwebt mindestens in bezug auf die Rechtsverwirrung in 40

Vgl. o. Art. 4 u. 5.

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der Luft. Audi die Zustimmung Karl von Hegels kann meines Erachtens daran nichts ändern41. Wir haben aus gar nicht viel späterer Zeit ein lehrreiches Beispiel für die Durchführung einer Vereinigung von nebeneinanderliegenden, bisher selbständigen Städten. Im Jahre 1455 wurde durch die Rechtstadt Danzig die Jungstadt Danzig abgebrochen, ihre Bürger wurden in der Recht- und in der Altstadt angesiedelt, ihre Gewerke mit denen der Recht- und Altstadt vereinigt. Irgendwelche Sonderbestrebungen oder Neigung zu Abfall und Loslösung sind in der Folgezeit trotz der Wirren des dreizehnjährigen Krieges zwischen dem Preußischen Bund und dem deutschen Orden nicht erfolgt42. Drei Jahre nach ihrem Zusammenschluß schritten Berlin und Cölln zu der ausgedehntesten Erwerbung ländlichen Besitzes, die ihnen je geglückt ist. Nicht ein einzelnes Dorf, sondern ein ganzer Komplex fiel durch Ankauf der Johannitergüter Tempelhof, Rixdorf, Mariendorf und Marienfelde in ihre Hand. Den an die Berliner Feldmark sich anschließenden Barnimdörfern trat ein zusammenhängender Besitz auf dem Teltow an die Seite (BUB., S. 357 ff.). Ein günstiger Zufall kam den Städten dabei zu Hilfe. Der energische Johanniterordensmeister Balthasar von Schlieben strebte danach, Schwiebus zur Abrundung des bedeutenden Ordensbesitzes im Lande Sternberg anzukaufen, hier eine selbständige politische Machtstellung zu erringen und dafür den Außenbesitz aufzugeben43. Haben Berlin und Cölln ähnliche Absichten mit dem Ankauf der Ordensgüter verfolgt? Die Summe, die sie anwandten, rund 2400 Schock gr., ist außerordentlich hoch. Für Pankow hatte Berlin 1370 nur 100 M. bezahlt, 1391 für Lichtenberg 200 Schock und dazu 50 Schock für einen Erbhof (BUB., S. 175, 214 und 217 f.). Sollte die Bildung eines geschlossenen Territoriums um die städtischen Feldmarken als Ziel vor41

Clauswitz, Kölner Stadtbudi, S. 20. Paul Simson, a. a. O., S. 240. 43 Eridi Kittel, Die Johanniter in Sdiwiebus, In: Korr.-Bl. d. Gesamtvereins, 76. Jg., 1928, Nr. 10—12, Sp. 272 ff. Der Ankauf von Sdiwiebus erfolgte in der Tat mit dem von Berlin-Cölln erhaltenen Gelde. E. Fidicin, Berlinische Chronik, Berlin 1868, Sp. 167 f., bringt den Erwerb mit einem Grenzstreit zwischen dem Komtur und der Stadt Cölln in Zusammenhang. Die einzige Nachricht, die wir darüber besitzen, stammt aus dem Jahre 1513 und ist enthalten in den Aussagen eines damals über 70 Jahre alten Mannes, der durch seinen Vater davon gehört hatte (St.-A. Berlin, Hdschr.-Slg., Dörfer, Ländereien und Grenzsachen, Bl. 278 Y ). Gegenüber den urkundlichen Quellen kommt dieser Aussage höchstens die Bedeutung zu, daß ein solcher Grenzstreit bestanden und vielleicht auch zu einem Versuch gewaltsamer Lösung durch den Komtur geführt hat. Für die Gründe, die zum Kauf und Verkauf der Güter geführt haben, ist die Nachricht nicht zu verwerten. 42

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geschwebt haben? Man wird die Frage nicht ohne weiteres bejahen dürfen, dafür ist unsere Überlieferung über die Ausnutzung des städtischen Landbesitzes viel zu dürftig. Die Urkunde vom 20. März 1409 über die Anerkennung der Frau des Hans Plawe in Mollenbeck als Erbin der in Berlin verstorbenen Jacob Eliassin wird man kaum heranziehen dürfen. Nach ihr erschienen vor dem Rat von Berlin als dem Herren des Dorfes Lichtenberg der Richter und mehrere Schöffen und besonders die Altgesessenen (olseten) Hans Boldike und Matthias Hentze von Lichtenberg, „dy nu unse medeborgere sin tu Berlin" (BUB., S. 252). Es ist doch wohl anzunehmen, daß damit gesagt werden soll, Boldike und Hentze seien jetzt nicht mehr Einwohner von Lichtenberg, sondern Bürger Berlins. Für ganz unmöglich halte ich es freilich nicht, daß sie als Alteingesessene Lichtenbergs und gleichzeitig als Berliner Bürger bezeichnet werden sollen. Dann würde man vermuten dürfen, daß auch die Eingesessenen der älteren Dörfer „Mitbürger" waren, und daß es die der ehemaligen Johanniterdörfer werden sollten. Ohne auf diese Urkunde sich zu berufen, hat schon Priebatsch vermutet, Berlin-Cölln hätte versucht, die Dörfer in das Stadtrecht zu ziehen (S. 79). Den Anschluß an die politischen Bündnisbestrebungen der Hanse, den Berlin-Cölln und Frankfurt 1430 gefunden hatten, haben die Städte der Mark in den nächsten Jahren befestigt. Im Frühjahr 1434 haben die drei mittelmärkischen Hauptstädte beschlossen, den bevorstehenden Hansetag zu besuchen; Berlin-Cölln, das im Mai die Beteiligung ablehnte, hat dann doch ein Ratsmitglied abgesandt. Brandenburg hat sich damals zum erstenmal an einem Hansetag beteiligt44. Auf dem Hansetag zu Lübeck im Juni 1435 erschienen Berlin, Frankfurt, Stendal und Salzwedel. Der § 38 der auf ihm beschlossenen Ordonnanz, der jeder Stadt Hilfe versprach, die in ihren Privilegien, Freiheiten und alten löblichen Gewohnheiten vergewaltigt werden würde15, wird den märkischen Ratsherren willkommen gewesen sein. An der Tagfahrt vom Oktober 1436 haben nur die altmärkischen Städte in größerer Zahl teilgenommen. Seit dem Jahre 1437 war Friedrich II. seinem Bruder Johann als Statthalter der Mark gefolgt. Er hat zunächst den Städten gegenüber eine sehr vorsichtige Politik eingeschlagen (Prieb., S. 76). Wie wenig man ihm indessen traute, zeigt der wohl aus dem Jahre 1438 stammende Entwurf " Bode, Hans. Gesdi.-Bl., 46. Jg. 1920/21, S. 186; Stein, a . a . O . S. 125 und 135. 45 Bode, a. a. O. S. 189.

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eines Vertrages zwischen den mittel- und altmärkischen Städten4®. Seine dreizehn Artikel bilden, was Priebatsch nicht erwähnt, einen Gegenentwurf zu nichterhaltenen Artikeln, die von den Städten der Mittelmark denen der Altmark eingereicht worden waren. Von der Mittelmark also ging dieser Versuch aus, die selbständige Stellung der Städte gegenüber der markgräflichen Gewalt durch ein umfassenderes Bündnis zu befestigen. Nicht um den lehnsrechtlichen Besitz handelte es sich in ihm — er wird mit keinem Worte erwähnt —, sondern in erster Linie um den Schutz der Privilegien und Gewohnheiten, des Bedebewilligungsrechtes, des rechtmäßigen Gerichtsstandes, und um Einschränkung der Verpflichtungen zur Heeresfolge. Es ist ein ausgesprochen politischer Inhalt, der diesem Vertrage das Gepräge gibt. Und es war wohl nur eine Vorsichtsklausel, wenn im letzten Artikel bemerkt wurde, daß solche Punkte des Vertrages, die sich etwa gegen das Reich und den Markgrafen richteten, ohne daß ihnen das Recht zur Seite stände, unverbindlich sein sollten. Es wäre denkbar, daß Friedrich II. von diesen Bestrebungen wußte, und daß seine schon 1437 deutliche Politik des Entgegenkommens gegen die altmärkischen Städte (Prieb. S. 76) auch den Zweck hatte, diese von ihren mittelmärkischen Genossen zu trennen. Mißtrauen der märkischen Städte gegen ihren Landesherrn, ein gegen ihn gerichtetes Bündnis der drei führenden Städte der Mittelmark und aktiver Anschluß an die Hanse mit ihren fürstenfeindlichen Bestrebungen kennzeichnen die Situation, die der Vereinigung Berlin-Cöllns unmittelbar vorausging und folgte. Indessen genügt ihre Erkenntnis nicht, um den wenige Jahre später erfolgten Zusammenstoß der Spreestädte mit dem Markgrafen völlig zu erklären. Es ist noch ein Blick auf die inneren Zustände der märkischen Städte geboten. Wollten wir Clauswitz' Ansichten über die Gründe des Gegensatzes zwischen R a t und Bürgerschaft in Berlin auf die ähnlichen Wirren in anderen Städten der Mark übertragen, dann würden wir auch für diese lediglich nach wirtschaftlichen Ursachen suchen müssen. Dem widersprechen die Quellen, deren Zusammenstellung wir Priebatsch verdanken. Wir hören aus der Zeit Markgraf Johanns von schweren Zusammenstößen zwischen Rat und niederer Bürgerschaft in Prenzlau, die sogar zur Auslieferung der Stadt an die Pommern durch eine Partei führte 48

Riedel, A X X I I , 487 ff.; zur Datierung zieht Riedel mit Recht die Urkunde

Friedrichs I. vom 29. April 1438 heran: Riedel, C I, 233. Daß der Entwurf nicht vor 1436 entstanden sein kann, beweist die Entlehnung eines Artikels aus dem altmärkischen Städtebündnis dieses Jahres, wie Tschirch S. 142 betont, dessen Auffassung des Vertragsentwurfs sich mit der von mir gegebenen deckt.

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(Prieb., S. 60 f.). In Neusalzwedel verlangen die Tuchmacher das den regierenden Geschlechtern vorbehaltene Recht des Gewandschnittes, in Treuenbrietzen kommt es zu Unruhen. Überall griff Johann zugunsten des Rates ein. Gegenüber Brandenburg betonte er seine Befugnis, innere Streitigkeiten der Städte zu schlichten. Wie in Brandenburg bestanden auch in Frankfurt langjährige Zwistigkeiten zwischen R a t und Bürgerschaft, die Friedrich I. 1420 und 1423 schlichtete". Es drehte sich dabei besonders um die Kontrolle der Schoßeinnahmen durch Organe der Bürger, um die Verfügung über städtisches Eigentum und über die Verwendung der Schoßeinnahmen f ü r Bauzwecke, die durch zwei aus Gewerken und Gemeinen erwählte Vorsteher erfolgen sollte. Ein zwischen den Parteien geschlossenes Abkommen vom 11. Oktober 1424 endlich verbot, künftig Sohn, Bruder, Bruderkind oder Tochtermann eines Ratmannen in den Rat aufzunehmen; dagegen sollte der Rat aus den Gewerken und gemeinen Bürgern Ratmannen wählen. Kein Ratsmitglied sollte Schöffe sein; Gotteshausleute sollten je ein Ratmann und ein gemeiner Bürger sein. Ein immer erfolgreicheres Eindringen der Bürgerschaft in die städtische Verwaltung war das Ergebnis der Abmachungen. Am zutreffendsten aber wird der Geist der Zeit durch den 11. Punkt des erwähnten Vertragsentwurfs von 1438 charakterisiert. Dieser Artikel ist von Riedel in seinem Abdruck offenbar an eine falsche Stelle gesetzt worden. Er besteht aus einem durch eine „Nota" eingeleiteten, ursprünglich wohl an den Rand geschriebenen Nachtrag zu dem Artikel, der mit den Worten beginnt: „item offt ennige Stadt overfallen worde boven ore privilegia." Er schreibt vor, daß bei rechtswidrigem Auflauf oder Widerstand von Gewerken, Gilden oder Gemeinen einer Stadt gegen den Rat, dessen wohlerworbene Rechte ebenso wenig wie die aus Privilegien und alter Gewohnheit herrührenden aufgegeben werden sollen, und daß auch in diesem Falle eine gegenseitige Unterstützung von Alt- und Mittelmark stattfinden soll48. Audi der Rat des geeinten Berlin-Cölln wußte die Gefahren innerer Unruhen zu würdigen und unter Umständen ihnen sogar durch Entgegenkommen gegen die Wünsche der Bürgerschaft die Spitze abzubrechen. Als in der zu seiner Sprache gehörenden Stadt Strausberg Zwistigkeiten ausbrachen, wurde durch seine Vermittlung 1436 festgesetzt, daß künftig in Straußberg zwei Kämmerer und sogar „ein sonderlicher Richter aus der Gemeine neben des Rats Kämmerern" gewählt « Riedel, A X X , 256 f. und A X X I I I , 164 f. 48

Für die richtige Deutung dieses Artikels bin ich Frau Prof. Dr. Ag. Lasch zu lebhaftem Danke verpflichtet.

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werden sollten49. Kein Zweifel, es ging eine allgemeine Bewegung gegen die regierenden Familien auch durch die Bürgerschaften der märkischen Städte, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts noch andauerte (Prieb., S. 104 f., 158, 178). Insofern hat Sello trotz seiner nicht haltbaren Interpretation der Union von 1432 doch etwas Richtiges gesehen. Schwerlich wird es je gelingen, volle Klarheit darüber zu gewinnen, was zwischen Rat und Bürgerschaft von Berlin-Cölln vorgefallen war, ehe sich die Bürgerschaft zu dem Schritt entschloß, die Entscheidung des Markgrafen anzurufen. Wir besitzen ja außer den wenig zuverlässigen Nachrichten des Hafftitz, dem kurzen Bericht des Fortsetzers der Detmarschen Chronik von Lübeck und den Äußerungen des Stadtschreibers Molner in seinem Vorwort zum Cöllner Stadtbuch nur die am 26. Februar 1442 beurkundete Entscheidung des Markgrafen und die damit bis auf die Eingangsformel sachlich gleichlautende, offenbar in der markgräflichen Kanzlei entstandene50 Unterwerfung der Städte unter diese Entscheidung vom selben Tage (BUB., S. 378 ff.). Clauswitz, der die wirtschaftlichen Folgen der Vereinigung von 1432 für den Konflikt im Innern der Städte verantwortlich macht, liest aus dieser Urkunde eine Bestätigung seiner Auffassung heraus. Die sachlichen Unmöglichkeiten der Vermögensvereinigung hätten dahin geführt, daß Berlin-Cölln neben dem gemeinsamen Rat wieder je einen besonderen Rat gehabt, und daß sich nicht nur „diese drei Magistrate nun gegenseitig die Verwaltung streitig machten", sondern sogar sämtlich, wahrscheinlich zu Anfang 1442, ihre Ämter niederlegten. „Jetzt nahm man die Zuflucht zum Kurfürsten; die drei abgeschiedenen Magistrate gaben ihm die Torschlüssel und baten ihn, eine neue Obrigkeit einzusetzen, aber sie verlangten dabei, daß dies unter Wiederherstellung des alten Zustandes geschehen sollte, d. h. zweier besonderer Stadtgemeinden" (S. 34, dazu KStb., S. 22). Gegen diese Deutung spricht natürlich nicht, daß am 29. Jan. 1436 die Auflösung der inneren Ordnung noch nicht erfolgt war, da an diesem Tage der Altarist Conrad Schum zu Patronen und Verwesern einer von ihm gemachten Stiftung noch „dy ersame rad beyder stede Berlin und Coln" wählte (BUB., S. 362 f.). Allein die Urkunde vom 26. Febr. 1442 selbst zeigt, daß Clauswitz sich den Verlauf der Dinge nicht richtig vorgestellt hat. Die entscheidenden Sätze aus ihr, die zugleich die näheren Umstände bei der Anrufung der landesherrlichen Vermittlung erkennen lassen, lauten in der von den Städten ausgestellten Fassung: „Wy borger49 50

Hafftitz, Microchronicon Mardiicum (Riedel, D I, 61). Ag. Lasch, Geschichte der Schriftsprache in Berlin, Dortmund 1910, S. 30.

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meistere, ratmanne, vierwercke und gantze gemeyne der stede Berlin und Colen . . . don kundt, dat wy ergnanten vierwercken und gantze gemeyne schelhafftich und twydrachtig gewesen syn mit den ersamen borgermeisteren und ratmannen, die etlike tyd wente her den radestuell beider stede Berlin und Colen beseten hebben, diwile dat dy gnantn beide stede mit eynem eyndrechtigen rade voreyniget gewesen syn, darvan wy uns beider gnanter stede schaden und verderff besorget hebben; dersulven twidracht und schelunge wy uns met den gnanten olden borgermeistern und ratmannen so wol und so gutliken nicht hebben mögen vereynigen, also wol nott gewesen were. Dyselven saken hebben wy uns met eyndrachtt und gudem rade a n . . . heren Fredericke marggraven to Brandenborch bracht; dargegen denne dy gnante olde borgermeistere und ratmanne ok vor den gnanten unsen gnedigen here gekommen syn, ore antwerde uppe unse schulde erteilet" und ihn „in unnser gegenwardicheitt gebeden hebben, en des rades gnedichliken to verdragen. Sy hebben ok syner gnaden mit allem flite gedanckett und upgesedit und syner gnaden dy slotele van allen doren van beyden Steden Berlin und Colen over geantwertt, dy forder na synen und syner herschopp und der benanten stede notdorff to bestellen und ok eynen anderen rath to kesen und to setten, des syne gnade gantzen macht und vullen gewaltt hebben schölde. Nademe nu dy benanten beyde stede uppe datmal na orem upseggende ane borgermeistere und ane ratmanne gestan syn, also syntt wy eyndreditickliken met gemeynen rade van stundt darna" vor den Markgrafen gekommen und haben ihn gebeten, den Streit zu entscheiden und jede Stadt zur Vermeidung größeren Schadens und Unwillens „mit gesunderdem rade" zu versorgen, so daß ein Rat zu Berlin und der andere zu Cölln gewählt wird und jede Stadt künftig ihre notwendigen Urkunden vom Markgrafen besonders erhält. Sie haben gleichzeitig gebeten, der Markgraf möge eine gute hergebrachte Weise bestimmen, nach der in jeder Stadt die Verwandlung und Setzung des Rates gehalten werden solle, „damit man sich vor Zwietracht und Unwillen und vor Schaden bewahren möge". Aus dieser Geschichtserzählung ergibt sich folgendes. Zwischen den Gewerken und der Gemeinheit auf der einen und dem Rat der Städte auf der anderen Seite ist ein Streit entstanden. Die Eingangsworte „wir Bürgermeister und Ratmannen der Städte Berlin und Cölln" können nur auf den einen, gemeinsamen Rat, nicht auf getrennte Körperschaften bezogen werden; es sind dieselben Personen, die „seit etlicher Zeit den Ratstuhl beider Städte innehatten" und die auch als die „alten Bürgermeister und Ratmannen" bezeichnet werden. Von besonderen Berliner

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und Cöllner Ratskörperschaften neben ihnen ist nirgends die Rede. Und ferner, es hat keine Amtsniederlegung vor der Anrufung des Markgrafen stattgefunden. Diese selbst aber ist nicht durch die angeblichen drei Magistrate und die Bürgerschaft erfolgt, sondern Gewerke und Gemeine sind allein zum Markgrafen gegangen. Das „wy" in den Worten „dyselven saken hebben wy . . . an den heren Fredericke . . . bracht" bezieht sich nur auf Werke und Gemeine51. Erst dann ist der Rat vor dem Markgrafen erschienen, hat sich gegen die Klagen verantwortet und um seine Entlassung und um die Einsetzung eines anderen Rates gebeten. Nach dem Wortlaut der Urkunde hat er dabei nicht an getrennte Räte für Berlin und Cölln gedacht. Die Forderung nach gesonderten Ratskörperschaften ist erst von der Bürgerschaft erhoben worden; das „wy" bei der Bitte um den markgräflichen Richterspruch, um Einsetzung besonderer Räte und um eine dem Herkommen entsprechende Ordnung bei der Ratsversetzung kann sich wieder nur auf Gewerke und Gemeine beziehen. Die einzigen Ursachen des Streits, die klar angedeutet werden, sind die Vereinigung der beiden Städte unter einem Rat und die Abweichung von der gewohnten jährlichen Ratsversetzung, wie sie sich anscheinend schon vor 1432 eingebürgert hatte' 2 . Der Verfasser des Cöllner Stadtbuches, der Stadtschreiber Nikolaus Molner53, hat sich leider über die Ursachen der Aufhebung der Vereinigung nur recht unbestimmt geäußert. Er sagt, daß am 4. März 1442 — dieses von der urkundlichen Überlieferung abweichende Tagesdatum läßt sich nicht erklären — die „gude eninghe und vordracht beyder Stede nicht na den wyllen godes, sunder van twydrachten, dy sich wunderliken unde selczen tuschen den radheren unde der ganczen meynheit van beyden Steden an eyme unde de virwerke med etliken inninghen desser twier stede am anderen deyle irhufen, unde ok van bybringinge unde schickunge wegen bozer lüde leyder, gode syt geclagt, weder afgegan und vorstort, alzo dat nu in eyner jeweliken stat alle yar eyn besunderen rad gesettet und ghekoren sal werden". Molner sieht also nur in den Innungen, nicht in der Meinheit die Gegner des Rates, was recht gut zu dem paßt, was wir sonst über die inneren Kämpfe in den deutschen Städten wissen. Davon, daß der Streit sich ausschließlich um Mein und 51 So versteht auch Clauswitz die Urkunde im KStb. S. 22, im Gegensatz zu seiner älteren Darstellung bei Borrmann. 52 58

Vgl. o. S. 83 f.

Vgl. Kaeber, Zur Entstehung des Cöllner Stadtbudies. In: FBPG 37, 1925, S. 124 ff.

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Dein drehte (KStb., S. 27), weiß er so wenig etwas, wie irgend eine andere Quelle. Wen er mit den bösen Leuten meint, die auch an der Aufhebung des gemeinsamen Rats schuldig waren, können wir nur vermuten. Gerade die unbestimmte Fassung legt es nahe, an Persönlichkeiten zu denken, die Molner aus Vorsicht nicht näher bezeichnen wollte, also an dem Markgrafen nahestehende Männer. Bei dessen häufigen Aufenthalten in Berlin war genug Gelegenheit für die unzufriedenen GeWerksangehörigen, mit dem markgräflichen Gefolge über ihre Beschwerden gegen den R a t zu sprechen. Markgraf Friedrich kannte die Zustände Berlins seit einer Reihe von Jahren aus eigener Anschauung (Clauswitz, S. 34). Selbst wenn 1437 beim Eintritt seiner Statthalterschaft in Berlin noch Ruhe geherrscht hat, in den nächsten Jahren müssen die Vorboten des Kommenden erkennbar gewesen sein. Im November 1440 ließ er sich die Erbhuldigung leisten. Dabei verlangte er gegen das Herkommen zunächst den Eid der Untertanen und bestätigte erst dann die Privilegien, und zwar nur „mit schlichten Worten", nicht durch einen Eid bei den Heiligen (Stb., S. 250). Wir dürfen darin einen Fingerzeig dafür sehen, daß er gesonnen war, die landesherrlichen Rechte in den Vordergrund zu rücken, wie dafür, daß der von der Bürgerschaft angefeindete R a t nicht durch die Betonung der herkömmlichen Rechte der Stadt sich die Ungnade des Markgrafen zuziehen wollte. Doch half ihm das nichts, als der innere Zwiespalt auch ihn zwang, seine Sache vor dem Landesherrn zu vertreten. Im allgemeinen zwar hat Friedrich überall die Stellung der durch ihn dem werdenden Staate allmählich eingegliederten Ratsherren gegenüber der Bürgerschaft gestärkt 54 . In Berlin aber stellte er sich ganz auf die Seite der Bürgerschaft. E r setzte nicht einen anderen R a t ein, sondern zwölf Ratmannen für Berlin und sechs für Cölln und bestimmte, daß jede Stadt zu ewigen Zeiten einen jährlich neu zu wählenden besonderen R a t und ein „sonderliches Regiment" haben sollte. In jeden dieser beiden Räte aber sollten künftig Männer „sunderliken ut den vierwerken voran und ut den gemeynen borgeren" gewählt werden. D a Clauswitz R a t und Bürgerschaft gemeinsam um Aufhebung der Verfassung von 1432 bitten läßt und diese auch für sachlich undurchführbar hält, sieht er in Friedrichs

54

Prieb., S. 104 f.; dazu die wichtige, weil aus der Zeit vor 1442 stammende Auf-

zeichnung im Stadtarchiv von Salzwedel vom 23. Juli 1438 (Riedel, A X I V , 262), nach der Friedrich an diesem Tage auf dem Salzwedeier Rathause erschien und durch seine R ä t e den versammelten Gilden und Gemeinen befehlen ließ, Friede, Eintracht und Gehorsam zu halten.

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Vorgehen nur etwas, was an und für sich schon die Verhältnisse geboten: eine Wahrung der Rechte der Bürger. Das heißt doch, diesen klugen Politiker und erklärten Feind jeder städtischen Selbständigkeit (Prieb., S. 116 ff.) für gar zu harmlos zu halten55. Noch merkwürdiger mutet Clauswitz' Erklärung für die Vorschrift des Markgrafen an, daß künftig „auch" — in der Urkunde steht aber „sunderliken... voran" — aus den Vierwerken und der Gemeinheit Ratmannen genommen werden sollten. Dieses Recht hätten die Gewerke erhalten, ohne es beansprucht zu haben, „denn nirgends war in dem Verfassungsstreite der Bürgerschaft hiervon die Rede gewesen"; möglicherweise habe Friedrich dabei fränkische Vorbilder im Auge gehabt (S. 35 und KStb. S. 23 f.). Da wir aber aus der besten Quelle für den Verfassungsstreit, der Urkunde vom Februar 1442, wissen, daß zuerst die Bürgerschaft allein ihre Klagen und ihre Wünsche beim Markgrafen vorgebracht, und daß der Markgraf diesen weitgehend nachgegeben hat, so bedarf es doch wirklich nicht des weit hergeholten Beispiels der fränkischen Städte oder gar des mit den Hohenzollern in heftiger Fehde lebenden Nürnberg, um die Urheber dieser Neuerung zu erraten. Geht doch auch die Festsetzung, daß bei Ratswechsel der abtretende Rat seinem Nachfolger und den Vierwerkmeistern Rechnung tragen soll, sowie das Verbot, einen „befreundeten", aus verwandten Personen bestehenden Rat zu wählen, ebenso deutlidi auf die Forderungen der Gewerke zurück, obgleich wir auf diese auch nur aus dem Resultat schließen können. Mit besonderem Nachdruck aber werden wir das Beispiel des mit Berlin-Cölln so eng verbundenen Frankfurt heranziehen dürfen, in dem schon vorher ein „befreundeter" Rat verboten und die Zuwahl von Männern aus Gewerken und Gemeine in den Rat beschlossen worden war. Daß Friedrich diesen Wünschen mit Vergnügen willfahrte, dürfen wir wohl glauben. Er legte dadurch den Keim des Zwiespalts in die Räte der beiden Städte und lähmte für die nächste Zeit ihre Aktionsfähigkeit. Wie sehr ihm daran liegen mußte, zeigte er noch in dem gleichen Jahre. Nicht so klar ist es, was es mit der Abschaffung der „Sechzehnmann" auf sich hatte, „die mit dem alten Rate der Städte in Rats Weise" Angelegenheiten verhandelt hatten. Sello hält sie für eine Art von Stadt55 Zu den von Priebatsch gegebenen Beispielen wäre etwa nodi hinzuzufügen, daß 1451 neben dem Kaiser und dem Erzbischof von Köln Friedrich II. und sein ihm gleichgesinnter Bruder Albrecht Achill Danzig aufgefordert haben, den gegen den deutschen Orden gerichteten preußischen Bund von 1440 aufzulösen: P. Simson, a. a. O., S. 224.

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verordnetenkolleg, das der Rat als eine Konzession an die Bürgerschaft 1432 eingeführt habe (S. 53). Diese Deutung ist schon an sich die wahrscheinlichste, sie wird bestätigt durch die Analogie zu Brandenburg. Hier werden 1427 durch den zum Schiedsrichter zwischen Rat und Bürgerschaft angerufenen Friedrich I. 16 Männer aus Gewerken und Gemeinheit als Rechnungsprüfer bestimmt (Tschirch, S. 139; vgl. S. 155 f.). Wir müssen annehmen, daß in Berlin-Cölln die Sechzehnmänner derart durch den Rat ausgesucht worden waren, daß sie mit ihm übereinstimmten. Vielleicht überwogen unter ihnen die aus der gemeinen Bürgerschaft entnommenen Mitglieder. Demgegenüber setzten es 1442 die Angehörigen der Gewerke durch, daß künftig nur sie bei der jährlichen Rechnungslegung des Rates hinzugezogen wurden. Friedrich begnügte sich nicht damit, den ihm so willkommenen Wünschen der Bürgerschaft nachzugeben. Er benutzte die Gelegenheit, seine Stellung gegenüber den märkischen Städten und den künftigen Räten von Berlin und Cölln gründlich zu befestigen. Er befahl den Städten, die bestehenden Verschreibungen und Bündnisse „binnen edder buten unser gnedigen herschapp landen" aufzugeben und künftige nur mit landesherrlicher Genehmigung abzuschließen. Daß er damit, wie Clauswitz will, nur „den Grundsatz aufstellte, daß es zu seinen Hoheitsrechten gehöre, Verbindungen der Stadtgemeinden in und außer dem Lande — auch Landfriedensbündnisse — zu gestatten oder zu untersagen" (S. 35), bedeutet wieder eine Unterschätzung seines politischen Wollens. Er hat dabei gewiß an die Hanse gedacht, deren Beschlüsse gegen die territoriale Fürstenmacht ihm nicht unbekannt geblieben sein können, noch mehr aber wohl an das Bündnis zwischen Frankfurt, Brandenburg und Berlin-Cölln vom Jahre 1431. Nicht anders steht es mit der Forderung, daß in Zukunft in jedem Jahr die Namen der neugewählten Ratmannen dem Markgrafen oder in seiner Abwesenheit seinem obersten Hauptmann schriftlich zur Bestätigung vorzulegen waren, und daß die Markgrafen für ewige Zeiten berechtigt sein sollten, die Gewählten ganz oder teilweise abzulehnen und andere für sie einzusetzen. Die Bemerkung von Clauswitz, daß damit nur „ein ursprüngliches grundherrliches Recht wieder zur Geltung" gebracht wurde, ist doch gar zu formal-juristisch. Die politische Tendenz ist unverkennbar; sie wird dadurch noch deutlicher, daß Friedrich II. dieses Recht keiner anderen Stadt gegenüber in Anspruch genommen hat. Es war, wenn es überhaupt je bestanden hatte — Sello bestreitet es (S. 39) —, längst veraltet. Als im Jahre 1602 Kurfürst Joachim Friedrich allgemein in der Mark diesseits der Oder das Bestätigungsrecht einführen wollte, ließ er sich durch den Widerspruch

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mehrerer Städte von der rechtlichen Unhaltbarkeit seines Verlangens überzeugen und verzichtete im März 1603 auf die Durchführung 56 . Und noch eine weitere Verfügung traf Friedrich II., die allerdings in der Urkunde vom 26. Februar 1442 noch nicht erwähnt wird, da sie anscheinend etwas später erfolgte. Am 1. Mai verordnete er, daß der von ihm neu eingesetzte Rat in Berlin wie in Cölln bis zum nächsten Walpurgistage im Amte bleiben und daß dann die Ratsversetzung geschehen solle". Dahinter steht in dem Lehnskopiar, dem wir die Kenntnis der Verfügung vom l . M a i verdanken, folgender Vermerk: „Uff dieselbe tzyt als der Herschafft die obgeregistrirten briefe von den steten Berlin und Colen gegeben und versigelt sein, dat [!] hat myn gnediger here marggraff Friderich dem rate von iglicher benanten stat besundern die sloß und slussele von allen toren ober geantwort in suldier wise und uff sulchen glouben, wenn mein genanter gnediger here ader sein bruder, ire erben ader nachkomen marggraffen zu Branndborg dy sloß und slussele von dem rate ader von allen iren nachkomen haben wollen und die fordern und heischen, haben der rat vor sich und vor alle ihre nachkomen geredt und gelobt, denne der herschafft die sloß und slussele weder zu geben ane wedersprache, und sie haben mynen heren gelobt, das zu guter gedechtniß in ire statbuchern zu schreiben, der wortten das des nicht vergessen werde." Diese Eintragung ist von hoher Bedeutung für das ganze Verhältnis zwischen den beiden Städten und Friedrich II. Wir sahen schon, daß nach der Urkunde vom 26. Februar der alte gemeinsame Rat dem Markgrafen die Schlüssel von allen Stadttoren überreichte. Ein seltsames Verfahren, wenn es sich um weiter nichts handelte, als um die Entscheidung eines Zwistes zwischen Rat und Bürgerschaft. In der Tat war es keine bloße Form, durch die der Rat dem Markgrafen seine Ergebenheit zum Ausdruck brachte, wie das etwa bei einem Empfang des Landesherrn in einer seiner Städte zu geschehen pflegte57'. Sonst hätten nach der Entscheidung des Streits die Schlüssel ohne weiteres zurückgegeben werden müssen. Friedrich aber ließ sich in feierlicher Form die Versicherung 56

Fidicin, Mark. Forsch. I (1841), S. 360 ff. Raumer, Cod. dipl. Brand, cont., I, 212 f.; das BUB. bringt S. 381 nur ein Regest und läßt die unmittelbar folgende Eintragung überhaupt aus. Der Termin der Ratsversetzung hat später vielfach gewechselt; zu Walpurgis fand sie im 16. Jahrhundert jedenfalls nicht mehr statt, wie sich aus dem Berliner Bürgerbuch ergibt; der Druck v. Gebhardts läßt das freilich nicht erkennen. 5,a Vgl. den freilich einer späteren Zeit angehörenden Einzug Johann Georgs in Brandenburg zum Zwecke der Erbhuldigung im Jahre 1571 bei Tschirch, Bd. II, S. 22. 57

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geben, daß zu allen Zeiten durch den Rat dem jeweiligen Landesherrn Schlösser und Schlüssel auf Verlangen ausgeliefert würden, und daß diese Verpflichtung in die Stadtbücher der Städte eingetragen würde. Er muß ganz bestimmte Gründe für seine Forderung gehabt, die Räte müssen ebensolche für ihre Zustimmung gehabt haben. Nun gewinnt eine von Clauswitz als unvereinbar mit den urkundlichen Quellen abgelehnte Notiz in Hafftitz' allerdings verworrenem Bericht über die Jahre 1442—1448 ein ganz anderes Gesicht. Danach habe Friedrich bei der Huldigung der Städte „ein frei Tor" verlangt, um „seines Gefallens ein und aus der Stadt in seine Burg und altes Schloß, das hohe Haus genannt", gelangen zu können, die Städte aber hätten das abgelehnt58. Wenn auch, wie Clauswitz mit Recht hervorhebt, der Markgraf stets befugt war, in jede seiner Städte einzureiten, so müssen sich doch in der Zeit bald nach der Huldigung Zwischenfälle in Berlin abgespielt haben, deren Nachwirkung wir in der Auslieferung der Schlösser und Schlüssel zu den Toren und in der sorgsamen Sicherung des Markgrafen vor einer Wiederholung solcher Schwierigkeiten zu sehen haben. Merkwürdigerweise führt Clauswitz, der den Vermerk des Kopialbuchs in seiner Einleitung zum Cöllner Stadtbuch zitiert (S. 25), aus ihm nur die Rückgabe der Schlüssel und die Festsetzung des Termines für den jährlichen Ratswechsel an. Der ganze folgende Abschnitt wird von ihm nicht erwähnt; gerade er aber ist das Wichtigste an der Eintragung. Die neue Ordnung der Dinge konnte sich noch nicht eingelebt haben, als schon die weiteren Früchte des inneren Haders reiften. Der Markgraf beschlagnahmte Tempelhof und die übrigen ehemaligen Johannitergüter, weil bei ihrem Ankauf die landesherrliche Zustimmung nicht eingeholt worden war. Sicher war er dazu nach dem strengen Buchstaben des Lehnsrechts befugt. Aber im allgemeinen wurden damals Lehnsfehler nicht „meist mit dem Verluste des Lehens bestraft", wie Clauswitz ursprünglich annahm (S. 36). Er hat denn auch in der Einleitung zum Cöllner Stadtbuch (S. 28) daran nicht festgehalten, sondern bemerkt, daß Einziehung die Strafe war, „wenn nicht Nachsicht geübt wurde", und daß die zahlreichen überlieferten Wiederbelehnungen teils aus Gnade, teils nach bezahlter Buße erfolgten. Das stimmt mit dem überein, was Holtze für das 16. Jahrhundert nachweist und für die vorhergehende Zeit für wahrscheinlich hält, daß nämlich zwar die Versäumnis der vorgeschriebenen Mutung oder der Konsenseinholung bei Verkauf oder Verpfän58 Fr. Holtze, Die Berolinensien d. Peter Hafftitz. In: „Schriften", H . 31, S. 7; Priebatsch (S. 79) hält die Angabe des Hafftitz für glaubhaft, begründet sie aber nur damit, daß ein Konflikt wegen des Einreitens möglidi gewesen sei.

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dung von Lehnsbesitz regelmäßig als Felonie bestraft wurde, daß aber ebenso regelmäßig keine Einziehung der Lehen erfolgte, sondern die Festsetzung einer oft zwei- bis dreimal herabgeminderten Geldstrafe 59 . Gegen andere Städte oder gegen den Adel ist Friedrich nicht mit ähnlicher Rücksichtslosigkeit wie gegen Berlin-Cölln vorgegangen. Grund genug hätte er dazu gehabt, war doch nach Clauswitz seit über einem halben Jahrhundert die Außerachtlassung der lehnsrechtlichen Formen zur Gewohnheit geworden (S. 32 und 38). Warum hatte Friedrich außerdem so lange gezögert, sein Recht geltend zu machen, warum griff er erst in dem Augenblick ein, als er den Gegensatz zwischen Geschlechtern und Bürgerschaft verewigt hatte, und als an Widerstand nicht zu denken war? In der T a t versuchten die Städte nicht, sich zu wehren, sondern durch Verhandlungen eine Milderung ihres Verlustes zu erreichen. Sie wandten sich an einige Räte und Mannen des Markgrafen sowie an einige Städte, die ihnen einen am 29. August 1442 beurkundeten Vertrag vermittelten, an dessen Abschluß Ratsmitglieder von Frankfurt, Spandau und Bernau beteiligt waren 60 . Nach dem Wortlaut des Vertrages muß man vermuten, daß Friedrich den Städten noch mehr vorzuwerfen hatte als lehnsrechtliche Fehler. Es ist von „mannichfaldiger schulde, tosprake, anclage und sake" die Rede, die der Markgraf gegen die Städte „hatte und zu haben meinte" (BUB., S. 381). Wir wissen nicht, worum es sich dabei handelte. Sello läßt es dahingestellt sein, ob schon zwischen dem 26. Februar und dem 29. August 1442 ein Aufstand ausgebrochen sei (S. 543), Priebatsch nimmt keine Widersetzlichkeit an (S. 82 f.). Höchstwahrscheinlich wird in erster Linie an die Klagen des Markgrafen über verweigerten oder erschwerten Zutritt zum „hohen Haus" zu denken sein, die wir aus der Schloß- und Schlüsselangelegenheit vermuten müssen61. Der Vertrag gab den Städten ihr Eigentum, nunmehr mit landesherrlicher Bestätigung zurück. Was mußten sie dafür zahlen? Kein Geld! Ganz andere Dinge hatten sie aufzugeben: das Gericht, die Niederlage, das gemeinsame Rathaus und einen in Cölln gelegenen Bauplatz, auf 58

Holtze, Zur Geschichte der kurmärkischen Lehnskanzlei im 16. Jahrhundert.

In: F B P G 6, 1893, S. 6 8 ; dazu auch F B P G 3, S. 628. 60

B U B . S. 381 ff.; die Namen der Bürgermeister und Ratmannen werden unter

den Zeugen genannt. 61

Aus der Wendung, daß der Markgraf Klagen „zu haben meinte", darf nicht

geschlossen werden, daß nicht alle Klagen den Städten berechtigt erschienen. Es ist der übliche Sprachgebrauch, der z. B. auch in den Reversen wiederkehrt, durch die 1449 eine Reihe Berliner Patrizier ihren Gehorsam gegenüber Friedrich bekundeten; vgl. die Urkunden im Geh. Staatsarchiv, Berlin-Köln N r . 60—62.

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dem der Markgraf mit „Toren, Mauern und Brücken" nach seinem Gutdünken bauen durfte. Dazu wurde noch einmal die neue vom Markgrafen gegebene Ratsordnung anerkannt und versprochen, künftig nichts gegen den Landesherrn zu unternehmen, sondern „willige, untertänige und gehorsame Bürger und Untertanen zu sein und zu bleiben" (BUB., S. 382). Unmöglich kann dem Markgrafen erst im Laufe der Verhandlungen eingefallen sein, was er wohl für die eingezogenen Dörfer beanspruchen sollte. Viel zu nahe lagen ja die Neuregelung der städtischen Verfassung, die Beschlagnahme von Tempelhof und der Verzicht darauf beieinander. Er muß einen ganz bestimmten Plan mit seinen Forderungen verbunden haben. Sicher nicht den, ein mehr oder minder gutes Geschäft dabei zu machen, wie man fast schließen sollte, wenn Clauswitz den finanziellen Wert des Gerichts und der Niederlage dem der Dörfer gegenüberstellt, deren Verlust für die Städte „wohl schwereren Schaden" bedeutet hätte (S. 36). Wer wollte übersehen, daß hier mit feinstem Verständnis gerade das verlangt wurde, was sichtbarstes Zeichen der bisherigen politischen Stellung der Städte war! Zuerst das Gericht. Berlin hatte es 1391 für 365 Schock gekauft und damit einen weiteren Schritt auf dem Wege zur „Geschlossenheit der obrigkeitlichen Gewalt der Ratsbehörde über die gesamte Bürgerschaft" und zur „einheitlichen Verwaltung der Stadtgemeinde" getan (Clauswitz, S. 17 f.). Es gibt ein schiefes Bild, wenn Clauswitz jetzt bei dem Verlust des früher von ihm so charakterisierten Rechts nur bemerkt, daß der Wert der städtischen Gerichtsbarkeit sich zunehmend durch Ubergriffe der geistlichen Gerichte verminderte, gegen die der Landesherr eher einschreiten konnte als der Rat (S. 36 und KStb. S. 29 f.). Friedrich II. leiteten bei dem Erwerb des Gerichts die gleichen Gründe, wie einst die Stadt. Er zerriß dadurch die Geschlossenheit der obrigkeitlichen Gewalt des Rats. Denn so ist es doch nicht, daß im späteren Mittelalter die Gerichtsbarkeit nur als nutzbares Recht gewertet worden wäre, wenn sie auch vorwiegend als solches erscheint. Gerade in den unruhigen Zeiten gegen Ende des 14. Jahrhunderts hatte sich die eigene Gerichtsbarkeit der Städte als eine schneidende Waffe im Kampf gegen Friedebrecher bewährt. Sie hörte noch lange nicht auf, das zu sein. In dem Streite Johanns mit Frankfurt spielte die Hauptrolle der Vorwurf, daß sich die Stadt die Ausübung des obersten Gerichtes angemaßt hatte, die der Markgraf beanspruchte, daß sie von dessen Richter Verfestete aus der Verfestung gelassen und sie aufgenommen hatte, daß der Rat mehrere Leute hatte hinrichten lassen, darunter den Knecht des Richters, daß die Gewerke eigene Richter gewählt und vor ihnen Prozesse geführt hatten, 7"

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daß die Schöffen dem Rufe des Richters nicht gefolgt waren, ja selbständig unter Vorsitz des Ratmannen Dietrich Lüneburger über peinliche Sachen gerichtet hatten 62 . Noch im Jahre 1504 ließ Frankfurt a. O. einen adligen Raubritter hinrichten, obgleich es damals das oberste Gericht nicht besaß, und geriet dadurch in Konflikt mit Joachim I., der aber schon 1509 dem Rat das Gericht mit gewissen Einschränkungen wieder überließ 83 . Die Übergabe des Gerichts erfolgte am 1. September 1442. Bürgermeister und Ratmannen von Berlin und Cölln überantworteten dem Kurfürsten in dessen Kanzlei die Schöffen des Stadtgerichts, die von ihm nach vorangegangener Eidesleistung bestätigt wurden. Dem Rat wurde das Recht der Schöffenwahl überlassen, während der Markgraf sich die Einsetzung der Gerichtsschreiber vorbehielt 64 . Die Niederlage war im Mittelalter ebenso eine Einnahmequelle wie das Instrument einer selbständigen Handelspolitik Berlins gewesen65. Welcher Wert noch zu Anfang des 15. Jahrhunderts auf sie gelegt wurde, zeigen zwei nachträglich in das Berliner Stadtbuch aufgenommene Rechtsfälle (Stb. S. 7). Die Räte von Treuenbrietzen und Beelitz beklagten sich im Jahre 1400 beim Markgrafen darüber, daß sie in Berlin die Niederlagsgebühr zahlen mußten, wurden aber auf Grund der von Berlin vorgelegten Urkunden mit ihrer Klage abgewiesen. Ebenso erging es 1409 den Städten der Altmark vor einem mit fünf Adligen besetzten ständischen Gericht. Ließ sich jetzt Friedrich II. dieses Recht abtreten, so darf man darin einen ersten Schritt zu einer landesherrlichen Handelspolitik sehen. Clauswitz nimmt an, daß Friedrich die Niederlage im Interesse des Gesamtverkehrs seiner Untertanen habe aufheben wollen, da die Vorteile, die Berlin aus diesem Recht zog, nicht im Verhältnis zu den Hindernissen standen, die dem allgemeinen Verkehr durch sie bereitet wurden (S. 36). Zunächst hat Friedrich das indessen nicht getan, denn es ist nicht richtig, daß wir über die Niederlage keine späteren Nachrichten besitzen (Clauswitz, KStb. S. 30). In der Bestallung des Ullrich Zeusdiel zum Berliner Hausvogt vom 6. Februar 1449 wird die Niederlage noch neben der Mühle, dem Zoll und 62 Riedel, A X X I I I , 192 ff., Art. 3, 7, 8, 9, 10, 11, 13, 14, 17. Daß Lüneburger Ratmann war, ergibt sich aus Riedel, A X X I I I , 187. 6 3 Spieker, Geschichte der Stadt Frankfurt a. O., Frankfurt a. O., 1853, S. 111 f. Die Geschichte des Frankfurter Gerichts müßte noch näher untersucht werden. 6 4 Raumer, Cod. dipl. Brand, cont. I, 213, im BUB. S. 383 nur ein Regest. 6 5 Fr. Holtze, Die Berliner Handelsbesteuerung und Handelspolitik im 13. und 14. Jahrhundert. In: „Schriften" H. 19, 1881, S. 13 ff.

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der Orbede unter den Einkünften der dem Zeuschel zugewiesenen Ämter genannt, die der Markgraf sich selbst vorbehielt (BUB. S. 410 f.). Das Rathaus auf der Spree hatte überhaupt keinen ins Gewicht fallenden materiellen, dafür einen um so höheren ideellen Wert. Es war das Symbol der politischen Zusammengehörigkeit der beiden Städte, erbaut nicht erst nach der Vereinigung von 1432, sondern nach der von 1309. Es war auch nach der Aufhebung des gemeinsamen Rates keineswegs nutzlos für die Räte der beiden Städte, da sie schon wegen ihres gemeinsamen Vermögens nach wie vor zu gemeinschaftlichen Sitzungen zusammentreten mußten. Auf ihm hatten wohl schon lange vor 1432 die Ratsherren jeden neuen Jahres ihren Eid geleistet, in dem sie gelobten, dem Markgrafen, dem Lande und beiden Städten getreu zu sein, wie das 1443 abgefaßte Cöllner Stadtbuch trotz der inzwischen erfolgten Trennung der Räte, vielleicht nach einer älteren Vorlage, mitteilt (KStb. S. 52 und dazu Clauswitz Erläuterungen S. 77). Für seinen Schloßbau kann Friedrich das Rathaus nicht gebraucht haben, wie Clauswitz will (KStb. S. 31), denn es hat noch lange gestanden. Es wurde dem Hofrichter als Amtslokal zugewiesen, bis es 1514 abgerissen und dem Berliner Rat befohlen wurde, dem Hofrichter auf dem Rathaus eine Gerichtsstube zu bauen 68 . Der folgenschwerste Artikel des Vergleichs vom August 1442 war die Abtretung des Baugrundes für ein Schloß. D a ß dies schon vorher in Friedrichs Plan lag, läßt sich wohl mit Priebatsch (S. 80 f.) aus der am 16. Juni 1442 erfolgten Verleihung eines Hauses beim alten markgräflichen H o f in Berlin als Mannlehen an den Trompeter Hans Schwanenschnabel schließen (BUB. S. 381). Aber was beabsichtigte Friedrich mit dem Bau in Cölln? Wollte er hier nur seinen Wohnsitz aufschlagen, weil die Spreestadt zentraler lag als Tangermünde, und genügte ihm dafür das „alte Schloß" nicht, wie Clauswitz annimmt (S. 36 und KStb. S. 32)? Oder wollte er an die Stelle eines schlecht zu verteidigenden Wohnhauses eine Burg setzen, von der aus er die Städte jederzeit niederhalten konnte? Die Antwort darauf wird im wesentlichen davon abhängen, ob das Cöllner Schloß einen anderen Charakter hatte als die bisherige Wohnstätte des Markgrafen in Berlin. Sie ist nicht ganz leicht zu geben, ja sie führt uns für einen Augenblick in die Zeit der Entstehung Berlins als deutsche Stadt zurück. Clauswitz nahm an, daß Berlin wie die Mehrzahl aller märkischen Städte in Anlehnung an eine alte wendische Burg gegründet wurde, aus Chronicon Berolinense („Sdiriften", H. 4, S. 14).

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der unter den Askaniern ein Schloß als Sitz einer markgräflichen Vogtei wurde. Schon Riedel hatte von einer solchen Vogtei nichts wissen wollen 67 . Er meinte, daß sich die Markgrafen bei der Gründung Berlins einen H o f vorbehalten hätten auf dem sich später ihr einfaches altes Haus erhob, das 1261 als aula Berlin und im 15. Jahrhundert als hohes Haus oder alter H o f bezeichnet wurde, daß sie aber lange Zeit weder aus Berlin noch aus Cölln einen Mittelpunkt der Verwaltung gemacht hätten. Der „districtus Berlin", der im Landbuch Karls I V . neben einem Strausberger und Biesenthaler Distrikt genannt wird, bedeute eine neuere Verwaltungseinteilung. Damit stimmt unsere urkundliche Überlieferung durchaus überein. Nirgends wird bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts eine Vogtei Berlin erwähnt, während etwa der Spandauer Vogt in zahlreichen Urkunden erscheint. Wenn 1327 einmal „die Stadt und das Land zu Berlin" vorkommen (BUB. S. 51), so braucht daraus nicht auf eine Vogtei geschlossen zu werden. Es läßt sich vielmehr durch Urkunden von 1342 und 1346 nachweisen, daß damals keine Vogtei Berlin bestand. In der ersten vom 6. Dezember 1342 beurkundet Markgraf Ludwig eine Einigung der Mannen, Ritter, Knappen und Bürger der Vogtei Spandau. Als Zeugen werden neben einer Reihe von Adligen die Ratmannen von Berlin, Cölln, Spandau, Landsberg, Mittenwalde genannt; als Ort, an dem der von den Vertragschließenden aufzubringende Schoß abgeliefert werden soll, wird das Rathaus zu Berlin, als geschäftsführender Ausschuß werden zwei markgräfliche Mannen und zwei Bürger von Berlin und Cölln bestimmt (BUB. S. 79). Berlin und Cölln gehörten demnach zur Spandauer Vogtei. In der Urkunde vom 1. Oktober 1346 bekennt der Vogt von Spandau, daß vor ihm Otto von Buch alle seine Güter den Räten von Berlin und Cölln aufgelassen habe (BUB. S. 95). Hätte es einen Vogt zu Berlin gegeben, wäre die Auflassung vor diesem erfolgt. Ein Vogt von Berlin wird nur in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts einmal erwähnt, aber als Zeuge für eine Vogtei ist er nicht aufzufassen. Am 29. Juni 1356 setzte Ludwig der Römer den Berliner Münzmeister Tilo von Brügge zum Vogt zu Berlin, Cölln, Nauen und Rathenow nebst den dazugehörigen Landen ein und überantwortete sie ihm mit den Einkünften, die vorher der Ritter Valke besaß, nachdem er Tilo „die eghenante voydige" für 357 Schock verpfändet und ihm versprochen hatte, ihm „die voydige" nicht wieder abzunehmen. Es handelt sich danach nicht um eine besondere Berliner, sondern um eine aus mehreren Bezirken zusammengesetzte « Riedel, Die Mark Brandenburg im Jahre 1250, Bd. 2, Berlin 1832, S. 461 f.; daher fehlt Berlin in der Liste der Vogteibezirke (S. 439 ff.).

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Vogtei. Deshalb konnte am 16. Februar 1361 Tilo als „advocatus marchionis in districtu Barnam" bezeichnet werden (BUB. S. 145) und, da er seinen Wohnsitz in Berlin hatte, am 31. Oktober und am 14. November desselben Jahres als „unser Vogt zu Berlin" 6 8 . Eine Vogtei, mit der regelmäßig eine Burg verbunden war, hat es in Berlin nicht gegeben. Noch im Jahre 1470 fehlt Berlin in der Liste der märkischen Vogteien 69 . Damit ist noch nicht bewiesen, daß sich auf dem markgräflichen Grund und Boden in Berlin nicht doch ein befestigtes Schloß erhob. In keiner Urkunde aber wird ein Castrum oder ein Schloß Berlin erwähnt — mit einer einzigen Ausnahme. Zwar den Vergleich vom 29. Mai 1322 über das Leibgedinge der Markgräfin Agnes, den Clauswitz als Beweis für die Existenz eines Schlosses heranzieht (S. 18), werden wir kaum verwerten dürfen. Es heißt in ihm: „Dith is dat lifgedingh: Soltwedele, Osterborch, Stendale, Tanghermunde, Gardeleghe un de lant, de tu dessen sloten höret, vortmer Sandowe un dat lant to der kameren un wat dar to hört, Ratenowe, Spandowe, Berlin, Colne, Köpenick, Middenwalde un Levenwolde un de lant, de to dessen benomden sloten höret" (BUB. S. 43). Nun gab es zweifellos in Cölln kein Schloß, wie man bei wörtlicher Auslegung der Urkunde schließen müßte. Es steht also nichts im Wege anzunehmen, daß bei dieser Aufzählung auch der Berliner H o f als Schloß bezeichnet wurde, ohne es wirklich zu sein. Es mag dies mit daran liegen, daß die Urkunde von den Herzögen Otto von Braunschweig-Lüneburg und seinen Söhnen ausgestellt wurde, denen die märkischen Dinge nicht so genau bekannt waren. Anders steht es mit einem undatierten, von Clauswitz im Anschluß an Heidemann 70 ins Jahr 1395 gesetzten Schreiben Markgraf Wilhelms von Meißen an ungenannte „Liebe Besondere", wohl an die Ratmannen einer oder mehrerer mittelmärkischer Städte (BUB. S. 283). Der Markgraf teilt ihnen mit, Herr Ortwin, der sich vielfach politisch betätigende Propst von Berlin, habe seine Verwunderung darüber geäußert, daß die mittelmärkischen Städte sich vom Markgrafen Jobst abwenden wollten. Über die Berliner wundere er sich nicht, so habe Ortwin hinzugefügt, denn die hätten Furcht, Markgraf Jobst würde sie für ihre vielen Verfehlungen bestrafen. Darauf habe Lippold von Bredow — damals wieder Hauptmann der Mittelmark — geantwortet: „he hebbe dat Riedel, A X I , 231 u. X I I , 75; im BUB. fehlen beide Urkunden. " G. Schapper, Die Hofordnung von 1470 usw., Leipzig 1912, S. 128 3 . Audi Martin Haß, Die Hofordnung Kurfürst Joachims II. von Brandenburg, Berlin 1910, S. 135, vertritt dieselbe Ansicht. 7 0 a . a . O . S. 51 [s. Anm. 23], 68

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schloz noch inne; he wolde des woll understehen mit sinen frunden und wolle den Steden kriege genug geben". Der Wortlaut dieses Briefes ist völlig eindeutig. Und doch werden wir nicht seinetwegen im Widerspruch zu allen sonstigen Quellen an die Existenz eines eigentlichen Schlosses in Berlin glauben. Vielleicht hat der Markgraf von der Szene, die er ja nicht miterlebt hat, einen nicht ganz zuverlässigen Bericht erhalten oder ihn nicht richtig verstanden. Er kannte ja die Verhältnisse noch nicht aus eigener Anschauung. Es wäre etwa denkbar, daß Lippold garnicht von dem Berliner, sondern von dem Spandauer Schloß gesprochen hat, von dem er Berlin und Cölln angreifen konnte. Auch Heidemann hat bei der Wiedergabe des Inhalts dieses Schreibens hinter die Nennung des Schlosses ein Fragezeichen gemacht. Zu einer Ausschaltung dieses Zeugnisses veranlassen uns aber nicht nur das Fehlen sonstiger Quellen über ein Berliner Schloß und das Nichtbestehen einer Vogtei Berlin, sondern auch die sonstigen Erwähnungen des markgräflichen Sitzes zu Berlin. Aus etwa der gleichen Zeit wie der Brief Wilhelms von Meißen stammt der Bericht des Berliner Stadtbuches über die Verbrechen Erard Malers. Als 4. „Sache" wird ihm ein Aufruhr im Stadtkeller vorgeworfen, dessentwegen er am nächsten Tage von den Stadtknechten auf Befehl der Ratmannen verhaftet werden sollte. „Do entlip he em in der heren hof und schald der stad knechte und wolde sye schiten ut deme h o v e . . . " ; er wurde dann durch seinen Vetter, den Mühlenmeister, frei gebeten (Stb. S. 201). Mit dem Hof wird der markgräfliche Hof in Berlin, nicht der Mühlenhof gemeint sein, der im Stadtbuch als „mollenhof" begegnet (S. 22). Ganz deutlich sind dann die Ausdrücke, mit denen der Hof in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts durch die Markgrafen selbst bezeichnet wird. Im Jahre 1429 spricht Markgraf Johann von einem dem Wundarzt Johann Hase durch Friedrich I. verschriebenen Hause an der Ecke „by unsern hogen hauße zu Berlin71". Die von Friedrich II. selbst ausgestellte Urkunde vom 26. Februar 1442 über die Aufhebung der Vereinigung von 1432 wurde in „unserem hove zu Berlin" geschrieben' 2 . In einer wohl noch vor 1442 anzusetzenden Urkunde sprach Friedrich von seinem „alden hofe und wonung zu Berlin gelegen" (BUB. S. 375), am 16. Juni 1442 ebenso von seinem alten Hofe zu Berlin (BUB. S. 381). Auch eine Verhandlung zwischen den Räten von Berlin und Cölln und Markgraf Friedrich dem Jüngeren und dessen Räten im Jahre 1446 fand in des Markgrafen Hof zu Berlin statt (BUB. S. 393 f.). Als " Riedel, C I, 190 f.; fehlt im BUB. " Küster, Altes und Neues Berlin, IV, Sp. 27.

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Friedrich II. nach der Vollendung des Cöllner Baues 1451 seinen Berliner Wohnsitz zu Burglehensrecht vergab, bezeichnete er ihn als seinen alten Hof und hohes Haus zum Berlin (BUB. S. 421 f.), und ebenso 1462 mit dem Zusatz, „da wir selbst in gewohnet haben73". Nirgends wird angedeutet, daß dieses hohe Haus mit seinem Hof irgendwie befestigt war. Es war eben nur eine Wohnung, kein Schloß. Clauswitz meint allerdings, das hohe Haus sei für eine etwa notwendige Gewaltanwendung gegen die Bürger ebenso geeignet gewesen, wie das spätere Cöllner Schloß (KStb. S. 32). Er kann sich dafür aber nur auf die erwähnte Äußerung Lippold von Bredows berufen. Erst sehr viel später, als der wahre Charakter des Gebäudes schon halb vergessen war, brauchte Markgraf Johann 1474 und 1484 den Ausdruck: das alte Schloß74. Übrigens steht der Berliner Hof nicht als etwas Einzigartiges da. Auch in der Neustadt Brandenburg hatte sich der Markgraf bei der Gründung einen Hof vorbehalten, der ihm als Wohnsitz, nicht als Burg diente. Auf ihm hat Otto III. gern geweilt, dort ist er auch gestorben. Dieser Hof wurde später den Dominikanern geschenkt, die auf ihm das Paulikloster erbauten (Tschirch, S. 51). Da Berlin Tochterstadt von Brandenburg war, ist dieses Beispiel besonders wertvoll. Der Bau aber, der in Cölln errichtet wurde, war ein Schloß in dem doppelten Sinne von Wohnsitz und Festung. Von vornherein hatte Friedrich sich ja bei der Überlassung des Bauplatzes ausbedungen, auf ihm mit Toren, Mauern und Brücken hinten und vorn bauen zu können. Hier wollte er, wie er im März 1443 erklärte, sein „nuwe sloß und wonunge" bauen, für das er damals das Haus des Abtes von Lehnin und 1444 die Cöllner Badstube bei der langen Brücke erwarb (BUB. S. 385 f. und 389 f). In den Anstellungsverträgen mit dem Schieferdecker und dem Zimmermeister und bei der Ernennung Ulrich Zeuschels zum Hausvogt ist stets von dem Cöllner Schloß die Rede (Riedel, C I, 298 ff.; BUB. S. 410 f.). Gelegentlich wird sogar eine Urkunde „datum et actum in castro nostro Coloniensi"75. Clauswitz sucht die Auffassung des Schlosses als einer Zwingburg durch die Erwägung abzuweisen, daß im Sommer 1442 das Verhältnis zwischen dem Markgrafen und den Städten ein „durchaus friedliches" war, da es sich nur um die Beilegung eines Rechtsstreits gehandelt habe (KStb. S. 32). Daß aber diese Auf's Riedel, C I, 356; fehlt im BUB. 74

Riedel, C II, 146 und Raumer, Cod. dipl. Brand, cont. II 78 f.; im BUB. S. 452 nur ein, noch dazu falsches, Regest. 75 Friedrich II. für den Frankfurter Kaland, 17. August 1457 (Riedel, A X X I I I , 239).

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fassung der Urkunde vom 29. August 1442 als der Beendigung eines bloßen Rechtsstreits nicht haltbar ist, haben wir darzulegen versucht. Den fertigen Bau hat später Albrecht Achill zu seinen festesten Schlössern geredinet. Allerdings war es nicht nur eine Burg, sondern besaß daneben die für eine Hofhaltung notwendigen Repräsentationsräume, wie Schapper gegen Holtze überzeugend nachgewiesen hat 78 . In einem gewissen Zusammenhang mit der Beurteilung des Charakters des alten Hofes in Berlin und des neuen Schlosses zu Cölln steht die Verleihung verschiedener Burglehen durch Friedrich II. Zum hohen Haus hatten keine Burglehen gehört, die doch ein Zubehör jeder Burg oder jedes Schlosses, wie man später sagte, zu bilden pflegten. Nachdem Friedrich im Februar 1442 den Streit zwischen R a t und Bürgerschaft geschlichtet hatte, jedoch noch vor dem Vertrag vom 29. August, verlieh er von Tangermünde aus seinem Trompeter Hans Schwanenschnabel die Hofstatt bei seinem „alten H o f " zu Berlin, auf der Hans ein Haus gebaut hatte, als erbliches Mannlehen". Es ist die erste Veräußerung eines Teiles des markgräflichen Besitzes in Berlin, wenn wir von der sehr frühen Überlassung des an das hohe Haus angrenzenden Grund und Bodens an die grauen Mönche absehen. Die Verleihung erfolgte ohne besondere Verpflichtungen, nicht als Burglehen. Als Friedrich dann sich, seiner Herrschaft und dem ganzen Lande „zu Zierung, Ehren, Frommen und Nutze" sein neues Schloß zu Cölln vollendet hatte, schied der ganze ihm gehörige Komplex in Berlin als Residenz aus und wurde an zwei seiner Getreuen vergeben — nun nicht als Mann-, sondern als Burglehen. Clauswitz hat dem jede tiefere Bedeutung abgesprochen, da die beiden Beliehenen, der Kammermeister Jürgen Waidenfels und der Küchenmeister Ulrich Zeuschel nicht Krieger gewesen seien, auch den Markgrafen auf seinen Reisen hätten begleiten müssen. Überdies hätten die Burglehen nach Ausweis einiger anderer Urkunden jener Jahre mehr einen wirtschaftlichen als kriegerischen Sinn gehabt (KStb. S. 34). Aber mindestens Waldenfels war trotz seines Hofamtes „Krieger", wird er doch ausdrücklich als Ritter bezeichnet. Auch Zeuschel, der Berliner Hausvogt, ist wohl nicht nur Verwaltungsbeamter gewesen, und sicher hatten beide bewaffnete Knechte um sich. Vor allem aber steht der Clauswitzschen Deutung der Wortlaut der Verleihungsurkunden vom 15. Dezember 1451 entgegen. Der Markgraf sagt in ihnen, damit „solch unser schloß und meinung, die wir darby und über gethan haben, desto furder bestettiget und solch unser schloß zu Coln nach notturftigkeit 79 a.a.O. S. 11, Anm. 1. " Vgl. o. S. 101.

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versorget und einen rechten grund der ewigen bestandnuß, alß viel deß muglichen ist, gewinnen . . . möge", habe er es für nützlich befunden, das Schloß mit Burglehen zu versehen. Wenn er oder seine Nachkommen nicht dort anwesend seien und dem Schloß Rat und Hilfe notwendig sein würde, solle diese durch die Burgsassen nach Burglehensrecht erfolgen. Er habe Waidenfels und Zeuschel gewählt, weil er vor allem solche Männer zu Burgsassen nehmen wolle, die sich im Dienste der Herrschaft bewährt hätten. Dafür soll jeder von ihnen dem Markgrafen „und sonderlichen zu unserm newen schloß Coln an der Sprew gelegen, von deßelbigen schloß wegen wir dan solch und ander burglehen gemacht und angehoben haben, gewertig und zu solchen vorbenandten schloß mit dienst, zusehung . . . bewahren und handthaben und bewachen helfen, wenn daß nott sein wird." Hätte das Schloß Hilfe notwendig, dann sollten die Beliehenen und ihre Erben sofort ohne Weiterungen „uff solch unser schloß kommen mit dem daß sie vermögen, das handhaben, schützen, bewachen, helfen, wehren". Diese Anweisung schiebt Clauswitz mit der Erwägung beiseite, daß von dem alten H o f aus, seiner Lage wegen, dem Cöllner Schloß schwer Hilfe zu bringen gewesen wäre, die Burglehen also keine praktische Bedeutung hätten haben können. Sollen wir wirklich annehmen, Friedrich II. und seine Räte hätten so wenig gewußt, was sie taten? Sollte diese ausführliche Begründung für die Errichtung von Burglehen, sollten die Vorschriften für den von ihnen dem Cöllner Schloß zu leistenden Schutz nur schöne Redensarten gewesen sein? Diese Frage stellen, heißt schon, sie verneinen. Es hat zweifellos seinen vollen Sinn gehabt, wenn jetzt der alte markgräfliche Besitz nicht wie vor dem Schloßbau zu Mann-, sondern zu Burglehen ausgetan wurde. Was für eine besondere „Meinung" Friedrich mit dem Schloßbau verfolgt hat, sagt er leider nicht. Wir werden daran denken dürfen, daß er sich in ihm eine Residenz, aber, im Gegensatz zum hohen Haus, eine wehrhafte Residenz schaffen wollte, die nicht wieder wie die auf seinem Berliner Besitz liegende alte Kanzlei Gefahr lief, bei Unruhen in die Hand der Bürger zu geraten78. 78

Vgl. S. 110 ff. [Zur Frage des Berliner Unwillens und der Bedeutung des Schloß-

baues sind heranzuziehen: A. Geyer, Geschichte des Schlosses zu Berlin. Berlin 1936 und die Rezensionen hierzu von H . Ladendorf in den Mitt. V. G. Berlins 53, 1936, S. 136 ff. sowie von J . Kohte in den F B P G 48, 1936, S. 463 f. — P . O. R a v e , Berlin in der Geschichte seiner Bauten. Berlin 1960, S. 14 f. — J . Sdiultze, Die Mark Brandenburg, Bd. 3, Berlin 1963, S. 54 ff. — B. Schulze, Berlin und Cölln bis zum 30j. Krieg. In: Heimatchronik Berlin, Köln 1962 — E. Müller-Mertens, Zur Städtepolitik der ersten mark. Hohenzollern und zum Berliner Unwillen. In: Zs. f. Geschichtswiss. 4, 1956.]

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Audi sonst scheint Friedrich auf die Erfüllung der Burglehenspflichten Wert gelegt zu haben. So wurde in eine Urkunde vom 25. Juli 1440, durch die den Vettern von Cockede ein freier Hof zu Demeker verliehen wurde, die Bestimmung aufgenommen, daß die Beliehenen verpflichtet seien, von dem Hof zur Burghut in das Schloß Tangermünde zu kommen, wenn sie dazu von des Markgrafen wegen aufgefordert werden würden". Auf Priebatsch gestützt, hat Koser unter Heranziehung gleichzeitiger Zusammenstöße zwischen Fürsten und Städten in Süd- und Norddeutschland in Friedrichs Vorgehen gegen Berlin ein Vorgehen gegen die städtische Selbstherrlichkeit gesehen, deren letztes Resultat das Zerreißen aller politischen Fäden war, die von Städten seines Landes über die Landesgrenzen hinausführten 80 . Kosers Vorgänger, Johann Gustav Droysen, gründete seine ähnliche, die Berliner Geschichtsschreibung stark beeinflussende Anschauung außer auf die Urkunden auf den oft zitierten Bericht des Fortsetzers der Lübecker Chronik des Mönches Detmar 81 . Clauswitz spricht diesem Bericht jeden Wert ab, da er den in den Urkunden klar dargestellten wirklichen Vorgängen widerspreche; man sei in Lübeck „augenscheinlich über die Ereignisse in Berlin sehr ungenau unterrichtet gewesen" (KStb., S. 33). Mir scheint dieses Urteil viel zu scharf zu sein. Der Fortsetzer Detmars berichtet zum Jahre 1441, daß der Rat von Berlin mit der Meinheit in Streit geraten sei und sie vor dem Markgrafen verklagt habe mit der Bitte, die Meinheit zum Gehorsam zu zwingen. Die Meinheit habe Gegenklage wegen ungewohnter Beschwerung erhoben. Der Markgraf habe die Klagen freundlich aufgenommen und beiden gute Worte gegeben, sei dann aber in die Stadt gekommen, habe den Rat vor sich geladen, von ihm die Schlüssel verlangt, den Rat und besonders die obersten seiner Mitglieder abgesetzt und andere Ratmannen aus der Meinheit eingesetzt. Diesen habe er geboten, ihm alle Freiheiten und Privilegien der Stadt zu überantworten, deren Siegel er darauf abgerissen habe. Kurz danach habe er viele Häuser beim Predigerkloster abgebrochen und dort ein festes Schloß gebaut, zu dem er bei Tag und Nacht ein- und ausreiten konnte. „So hat er beide Parteien gezwungen, den Rat und auch die Meinheit; denn sie sind beide ™ Riedel, A X V I , 69; vgl. S. 70 f. v o m 18. Februar 1441. 80

R. Koser, Geschichte der brandenburgisch-preußisdien Politik, Bd. 1, Stuttgart 1913, S. 150 f. Im wesentlichen zu gleicher Beurteilung kommt audi O. Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, Berlin 1915, S. 86 f. 81

Droysen, Gesdiidite der preußischen Politik, II, 1, S. 54 ff.

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eigen, während sie vorher frei waren und wohl hätten frei bleiben können82." Der Bericht ist sicher nicht gleichzeitig mit den Ereignissen niedergeschrieben worden, sondern der Chronist hat erst von 1444 an die Ereignisse der vorhergehenden Jahre nachgetragen83. Die Ansetzung der Berliner Wirren ins Jahr 1441 ist aber nicht zu beanstanden, denn sie hatten sicher damals schon schwerste Formen angenommen. Es darf auch nicht wundernehmen, daß nur der Rat von Berlin erwähnt wird; beide Städte bildeten nach außen eine Einheit und wurden z. B. in der in Lübeck aufgestellten Matrikel der Hansestädte vom Jahre 1441 gemeinsam unter dem Namen Berlin aufgeführt 84 . Es handelte sich doch auch nicht um einen „Streit zwischen beiden Städten", wie Clauswitz gegen den Bericht der Chronik einwendet, sondern wirklich um ein Zerwürfnis zwischen dem gemeinsamen Rat und der Bürgerschaft beider Städte. Die Chronik drückt sich über den Ursprung des Streites ganz korrekt aus. Ebenso sind Klage und Gegenklage vor dem Markgrafen, nur in anderer Reihenfolge wie in der Urkunde, dem Sinn nach ziemlich richtig wiedergegeben. Die Übergabe der Schlüssel durch den Rat war, wie oben angeführt wurde, in der Tat nicht freiwillig erfolgt, ebenso sind wirklich mehrere Häuser beim Dominikanerkloster für den Sdiloßbau angekauft und niedergerissen worden. Nur das sonst nirgends berichtete Abreißen der Siegel von den städtischen Privilegien dürfte eine Ausschmückung sein, berechtigt aber nicht dazu, den Kern des Berichts zu verwerfen. Wir müssen vielmehr annehmen, daß man in Lübeck recht gut über das Schicksal Berlins unterrichtet war, spielten doch die märkischen Städte bei den Bündnisbestrebungen der vierziger Jahre eine Rolle und waren überdies Lübeck als Vorort zugewiesen worden. Mochten einige Jahre später Einzelheiten dessen, was 1442 und in den folgenden Jahren in Berlin geschehen war, dem Lübecker Chronisten nicht mehr ganz gegenwärtig sein, für den Sinn der Ereignisse werden wir ihn als eine bessere Quelle betrachten dürfen als die Urkunden, die vielfach mit Absicht über die politischen Hintergründe einen Schleier werfen. 82

Grautoff, Die Lübeckschen Chroniken in niederdeutscher Spradie, Bd. 2, Hamburg 1830, S. 83. 85 84

Grautoff, S. IX.

Bode, a. a. O. S. 34. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß bei der Nennung Berlins auch Cölln gemeint war, da es in dem gleichzeitigen Bündnisentwurf genannt wurde; vgl. Bode, S. 33.

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Am 31. Juli 1443 legte der Markgraf eigenhändig den ersten Stein zu seinem neuen Schloß (BUB., S. 388). Es herrschte damals und noch in den nächsten Jahren zwischen ihm und den beiden Städten ein mindestens äußerlich gutes Verhältnis, das der Landesherr durch gelegentliche günstige wirtschaftliche Entscheidungen, durch Heranziehung von Berliner und Cöllner Bürgermeistern als Schiedsrichter oder zu ständischen Verhandlungen oder durch Verleihung von Lehensbesitz an einzelne Bürger aufrechtzuerhalten suchte (Prieb., S. 84). Die durch den Rat vorgenommene Gefangensetzung eines Fremden, der sich in Berlin an einem Priester vergangen hatte, wurde freundschaftlich durch den jüngeren Friedrich geregelt (BUB. S. 393 f.). Von einem Jurisdiktionskonflikt, wie Priebatsch meint (S. 84), wird man kaum sprechen dürfen. Friedrich vermied allerdings seit 1443 einen Aufenthalt in Berlin; war er in dieser Gegend, so hielt er in Spandau H o f (Clauswitz S. 36). Trotzdem waren Ende 1447 Berlin und Cölln in hellem Aufruhr gegen den Markgrafen und seine Beamten. Auf das, was in diesem und zu Anfang des folgenden Jahres geschah, auf die Störung des Schloßbaues durch Aufziehen eines Wehrs und durch Setzen eines Blockzaunes auf die Schloßmauern, auf die Gefangennahme des markgräflichen Richters Balthasar Hake und die Eingriffe in die Jurisdiktion des Richters Michael Schönberg85, auf die Behinderung markgräflicher Diener, und zwar im besonderen Hans Schwanenschnabels und eines anderen Trompeters am Betreten BerlinCöllns, auf die Zurückbehaltung von Geräten und Gütern anderer Diener des Markgrafen, die Vertreibung der für die landesherrlichen Mühlen- und Zolleinnahmen verantwortlichen Beamten und das Erbrechen der Kanzlei brauchen wir nicht näher einzugehen. Clauswitz hat alles dies, zuletzt in der Einleitung zum Cöllner Stadtbuch, klargestellt. Zu diesen Einzelangriffen kamen Schritte von weitgreifender Bedeutung. Die 1442 aufgehobene Vereinigung der beiden Räte wurde erneuert; wieder saß der vereinigte Rat auf dem Rathause bei der langen Brücke und stellte dort noch am 1. April 1448 den Schuhmachern ein Privileg aus, das offensichtlich darauf berechnet war, dieses bedeutende Gewerk auf seiten des Rates festzuhalten (BUB. S. 398 f.). Er versuchte, mit märkischen Städten ein Bündnis zu schließen, und wandte sich an in85

Schönberg war sicher Stadtrichter; ob auch Hake es war, ist zweifelhaft, aber

wahrscheinlich; er müßte dann Schönbergs Nachfolger gewesen sein; vgl. Schapper, a. a. O. S. 245.

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und ausländische Fürsten, Adlige und Städte um Hilfe 88 . Am stärksten mochte er auf die Hanse gehofft haben. Auf dem großen Tag vom März 1441 waren die drei mittelmärkischen Hauptstädte zwar nicht erschienen, doch wurden sie in die Matrikel der von jeder Hansestadt zu stellenden Gewappneten aufgenommen87. Das Vorgehen Friedrichs II. gegen Berlin im nächsten Jahre schreckte auch andere märkische Städte; die der Altmark beschickten 1443 „wegen großen Einfalls", dessen Ursachen sie nur mündlich zu berichten wagten, den Hansetag von 1443 nicht88. Die Hansestädte selbst aber, im Jahre 1443 zu Lüneburg und im August zu Lübeck versammelt, taten den entscheidenden Schritt zu einer festeren politischen Organisation. Sie gliederten ihren Bund in drei Drittel mit Hamburg, Magdeburg und Lübeck als „Häuptlingen" und vollzogen ihr erstes politisches Bündnis, die „Tohopesate" vom 30. August 1443, in die neben den Artikeln über den Schutz der Teilnehmer gegen die Fürsten ein gegen innere Unruhen gerichteter Artikel aufgenommen wurde, der jeden gegen den Rat seiner Stadt auftretenden Handwerker mit dem Verlust der Innung bedrohte. Außer dem Beispiel der sächsischen Städtebünde wird das Schicksal Berlins dabei mitgewirkt haben (Bode, S. 45). Zu den Vorberatungen, die dem Abschluß vorausgingen, hatte Lübeck die Städte seines Drittels, zu dem Frankfurt, Berlin-Cölln und Brandenburg gehörten, eingeladen, ihnen aber erlaubt, sich durch andere Städte oder ihre Stadtschreiber vertreten zu lassen. Ob das geschehen ist, läßt sich nicht feststellen; die Aufnahme in die Matrikel ist kein ausreichender Beweis dafür. Am 18. Mai 1447 wurde auf einem von vierzig Städten besuchten Tage zu Lübeck, an dem wenigstens Stendal und Salzwedel teilzunehmen wagten, die zunächst auf drei Jahre abgeschlossene Tohopesate erneuert und wegen des Beitritts der westlichen Städtegruppe eine neue Einteilung in Viertel vorgenommen. An der Zugehörigkeit der mittelmärkischen Städte zu Lübeck änderte sich nichts. Im Juli desselben Jahres schlössen Lübeck, Hamburg und Lüneburg mit dem Lauenburger Herzog ein Bündnis gegen Friedrich II. Fast scheint es, als ob der Rat von Berlin-Cölln, im Vertrauen auf diesen Rückhalt, einen Augenblick an bewaffneten Widerstand gedacht 86 Neben einigen Schreiben märkischer Städte an Berlin-Cölln (BUB. S. 396 ff.) bildet die Klage des Markgrafen vor dem ständisdien Gerichtshof unsere zuverlässigste Quelle (BUB. S. 404 ff.). 87

Bode, Hans. Gesch.-Bl., Bd. 31 (1926) S. 31 ff.

88

Bode, a. a. O. S. 38, auch das folgende nach ihm und nach Priebatsch, S. 87 f.

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hat. Wenigstens deutet eine Notiz, die sich auf einer leeren Seite des Cöllner Stadtbuchs ohne Zusammenhang mit den sonstigen Nachrichten über das Rüstungswesen Berlin-Cöllns findet, darauf hin 8 '. Bei der Ratsversetzung zu Walpurgis 1448, noch vor der Unterwerfung unter den Markgrafen, nahmen die Cöllner Ratsherren einen Bericht über die Vorräte an Waffen und Munition entgegen, die auf dem Berliner, dem Cöllner und dem gemeinsamen Rathaus lagerten. Das Gerät, „dat nu getuget is edder vor getuget was", gehörte danach beiden Städten und sollte ihnen dienen, „war des nod syn worde". Das „nu" spricht dafür, daß eben damals die militärische Rüstung vervollständigt worden war, um im Falle einer vorausgesehenen Not gebraucht zu werden. An welche andere Not als an einen Kampf gegen den Markgrafen konnte in diesem Augenblick gedacht werden? Aber die Hanse rührte keinen Finger für die bedrängten Städte an der Spree. Ihre Tohopesate, militärisch nach Ausweis der Matrikeln stets sehr schwach fundiert, blieb auf dem Papier stehen. Selbst Lüneburg und Kolberg hatten in den vierziger Jahren im Kampfe gegen ihre Herzöge nur finanzielle Hilfe erfahren (Bode, S. 46 ff.). Von allen Seiten verlassen, mußten Berlin und Cölln sich erneut unterwerfen. Aber weshalb war es denn überhaupt zu diesem „Unwillen" gekommen, wie die Urkunden die Bewegung nennen (BUB., S. 400 und 432)? Ganz ähnlich wie bei den Ereignissen der Jahre 1432—1442 denkt Clauswitz in erster Linie an materielle Fragen. Die Regierung des Markgrafen scheine 1447 „mit Einziehung von Lehen einzelner Bürger in umfassender Weise vorgegangen zu sein" (S. 37). Wir kennen zwar darüber keine Einzelheiten, allein der Angriff auf die Kanzlei und das Vernichten und Ansichnehmen von Urkunden ließen sich vielleicht mit Clauswitz so erklären, daß es sich dabei um Lehenbriefe und Aufzeichnungen über den Lehnsbesitz gehandelt hat, durch die der Markgraf die Hinterziehung der Lehnware durch die Bürger beweisen konnte (Kstb., S. 35 f.). Freilich, die Beweislast lag doch wohl bei den Bürgern, die durch Quittungen oder Zeugen die Zahlung nachzuweisen gehabt hätten! Die Klage Friedrichs, daß die Berliner „etliche brieve und unser hemilickeyt geleßen und die furder etlich zu vernicht, die zu verstrewet, zu worfen oder etlich genomen haben", läßt eine ganz andere Deutung zu. Wir besitzen ein gleichzeitiges ungedrucktes Schreiben des Deutschordenshochmeisters Conrad von Erlichshausen an den 89

Stadtarchiv Berlin, Cöllner Stadtbudi, Bl. 24 b; in der Ausgabe von Clauswitz S. 68 f.

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Vogt der dem Orden verpfändeten Neumark vom 6. Januar 1448, das vielleicht darüber Aufschluß geben kann90. Der Hochmeister schreibt: „Her voith, so als ir uns gescriben habt, wie ir mit dem hern marggrafen Fridric'nen zcu Brandenburg etc. eynen tag zcu Spandow gehalden habet, da her denne ouch mit seynen hern prelaten, manschafften und steten zcu Spandow des neesten sontagis nach Lucie mit den von Berlin was umbe etlicher underscheit und czweytracht wille, die her mit den gnanten von Berlin umbe bouwunge willen eyner brücken, der sie em nicht gönnen wellen zcu bouwen und sich dawidder setczen, und ouch umbe etlicher Privilegien und freiheiten willen, die sie seynen gnaden verschreben und gegeben haben, die sie widder heisschen, und wes sie sich ken seynen gnaden verschreben haben, das sie em ouch nicht halden wellen, so das ir euch vermutet, das doruß nicht vele guttes komen solle." Der Vogt hatte also den Eindruck, daß es sich bei dem Streit um die Erbauung einer Brücke, offenbar im Zusammenhang mit dem Schloßbau, und um einige von Berlin und Cölln dem Markgrafen übergebene „Privilegien und Freiheiten" handelte. Die Städte wollten diese wieder haben und ihren Inhalt nicht länger beachten. Damit können nur die Reverse des Jahres 1442 gemeint sein. Sollten sie, neben politischen Korrespondenzen, nicht auch das Hauptziel des Angriffs auf die Kanzlei gewesen sein? Der Wortlaut der Anklage Friedrichs, in der von Lehen ebensowenig die Rede ist, wie in dem Bericht des Vogtes, würde gut dazu passen. Zugleich ist mit ihm ein anderes Zeugnis dafür gewonnen, daß nicht die Bedrohung des Lehnsbesitzes der Bürger, sondern politische Gründe im Vordergrunde standen. Darauf lassen ebenso die Maßnahmen schließen, die von den Städten in ihrem Kampfe ergriffen wurden. Berlin und Cölln hatten sich „bynnen und ußwendig landes, by fursten, hern, mannen oder steten" um Hilfe und Rat beworben, sie hatten sich bei den Städten aller märkischen Landesteile über Rechtsverweigerung beklagt und mit mehreren Städten gegen ihre Zusagen von 1442 ein Bündnis schließen wollen. Alles dies wäre aussichtslos gewesen, wenn es in erster Linie um angefochtenen Lehnsbesitz einzelner Bürger gegangen wäre. Es ist doch wohl so, daß sie und die anderen Städte fühlten, es handle sich um eine Etappe auf dem Wege zur Unterwerfung der märkischen Städte unter die Gewalt des Landesherrn; Berlin-Cölln mögen 90

F ü r eine Abschrift dieses im Staatsarchiv Königsberg, O r d . Fol., fol. 809 befindlichen Briefes bin ich meinem Freunde, H e r r n A r d i i v d i r e k t o r D r . H e i n , zu herzlichem D a n k e verpflichtet. Weiteres unbekanntes Material besitzt das Staatsarchiv leider nicht. S

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gehofft haben, daß ein solcher Machtzuwachs des Kurfürsten auch dem einen oder anderen Adligen oder Nachbarfürsten bedenklich erscheinen würde. Dadurch, daß Clauswitz die Berliner Ereignisse isoliert, sie nur aus den spärlich erhaltenen unmittelbaren Urkunden zu erklären sucht, ergibt sich freilich der Anschein eines überwiegend wirtschaftlichen Kerns. Immerhin läßt sich auch aus den Urkunden genug über die Hintergründe herauslesen, die nicht erst durch eine romantische Geschichtsauffassung in sie hineininterpretiert worden sind. Gerade gegen den Verlust politischer Rechte durch die Verträge von 1442 richtete sich der Aufstand von 1447/48! Die Sitzungen auf dem gemeinsamen Rathaus wurden wieder aufgenommen, als äußeres Zeichen für die politische Zusammengehörigkeit der beiden Städte. Der kurfürstliche Richter, dessen Person den Verlust der selbständigen Gerichtsbarkeit repräsentierte, wurde angegriffen. Die Kanzlei, die den politischen Schriftwechsel Friedrichs und die Reverse Berlin-Cöllns von 1442 aufbewahrte, wurde erbrochen. Die Störung des Schloßbaues endlich hätte nicht viel Sinn gehabt, wenn man in ihm nur eine bequemere Wohnung des Markgrafen, nicht im Gegensatz zum hohen Hause eine Burg gesehen hätte, die für alle Zukunft eine selbständige Wahrung städtischer Rechte gegen den Markgrafen unmöglich machen sollte. Und Friedrich II. selbst? Clauswitz gibt zu, daß er durch strenge Anwendung von gewohnheitsmäßig nicht mehr beachteten lehnsrechtlichen Bestimmungen den Anlaß zum Streit gegeben und ihn nachher verschärft habe, aber mit Rücksicht auf die schlechte Lage seiner Finanzen alle landesherrlichen Rechte wahrnehmen mußte (S. 38); also auch bei ihm finanzielle Motive. Wir haben zu zeigen versucht, daß mit ihnen selbst dann nicht auszukommen ist, wenn nur das Vorgehen des Fürsten gegen die Spreestädte ins Auge gefaßt wird. Darüber hinaus müssen wir wieder die künstliche Isolierung aufheben, in die Clauswitz auch die Politik des Markgrafen eingesponnen hat. Friedrich II. schwebte, wie schon Droysen erkannt und Priebatsch noch näher begründet hat (S. 98 ff.), die Eingliederung seiner Städte in eine schärfer ausgebildete staatliche Verwaltung vor. In seinem Namen sollten die Städte, denen er im allgemeinen ihre Gerichte ließ, Recht sprechen, an seine Hofgerichte sollte der Unterlegene sich mit der Berufung wenden. Seine Städte sollten Festungen und Geldmächte bleiben, aber nicht so sehr in ihrem eigenen Dienst, als in dem des Landesherren. Ihre Bürgermeister und Ratsherren wurden von ihm zu diplomatischen Aufträgen herangezogen, nicht um ihr Selbstbewußtsein zu heben, sondern um sie fester an den Staat zu binden. Das Stadtregiment wurde ihnen deshalb belassen, nur in Berlin

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und Cölln aus durchsichtigen Gründen vorübergehend den Gewerken eine starke Stellung im Rate eingeräumt. Materiell fuhren die märkischen Städte dabei nicht schlecht (Prieb., S. 108 ff.). Friedrich war nicht Gegner der Städte in dem Sinne, daß er ihre wirtschaftlichen Interessen zugunsten des Adels zurückgedrängt hätte. Wenn er trotzdem als Mittelpunkt aller städtefeindlichen Bestrebungen betrachtet wurde (Prieb., S. 116 f.; Bode, S. 138 f.), so deshalb, weil er den politischen Selbständigkeitswillen der Stadtgemeinden bekämpfte, in der Mark wie außerhalb ihrer Grenzen. Mit den Herzögen von Braunschweig und Mecklenburg wie mit dem Hochmeister des deutschen Ordens machte er darin gemeinsame Sache. Das haben die Hansestädte wohl gefühlt. Er galt ihnen als der geistige Urheber des Fürstentages von Wilsnack im Februar 1443, dem andere Tagungen mit städtefeindlicher Tendenz folgten. Wo es möglich war, suchte Friedrich zu vermitteln oder durch Mahnungen eine Stadt wie Rostock zum Gehorsam gegen ihren Landesherrn zu veranlassen. Umgekehrt haben die Fürsten zweifellos die allgemeine Bedeutung des Kampfes mit Berlin erkannt. Der Ordensmeister meinte in seinem Schreiben vom 6. Januar 1448 an den neumärkischen Vogt, daß er ungern von dem Streit gehört habe; denn wenn das jetzt dem Markgrafen geschehe, so sei zu besorgen, daß das auch anderen Fürsten geschehen könnte. Auf das Hilfegesuch aber, daß Friedrich „in einer Geheime" durch den Vogt an ihn hatte gelangen lassen, bemerkte er, daß der Vogt nicht geschrieben habe, in welcher Weise dieser Beistand geleistet werden sollte. Es bestand ja zwischen dem Markgrafen Friedrich und dem Orden wegen des Besitzes der Neumark ein etwas gespanntes Verhältnis. Als dann Berlin auch ohne Hilfe des Ordens sich unterworfen hatte, hat Conrad von Erlichshausen Friedrich ausdrücklich zu seinem Erfolge Glück gewünscht91. Der Ausgang des Berliner Unwillens ist bekannt. Er endete durch den Vergleich vom 25. Mai 1448 mit der Unterwerfung der Städte und mit der Erneuerung der Verträge von 1442. Den äußeren Hergang hat Clauswitz klargelegt (S. 37 f.). An dem Abschluß des Vergleichs waren neben einigen Prälaten und hohen Adligen Bürgermeister und Räte von Brandenburg, Frankfurt und Prenzlau beteiligt. Vor allem diese werden dahin gewirkt haben, daß weitere Eingriffe in die Privilegien und Rechte der Städte unterblieben. Diese hatten dem Markgrafen den sicheren Besitz seines Schlosses, des Gerichts, des Zolls und der Niederlage, der Mühlen sowie die „Kür und Bestätigung des Ratsstuhles" einzuräumen B1

J. Voigt, Die Erwerbung der Neumark, Berlin 1863, S. 312 f.

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und erhielten dafür Tempelhof und das beschlagnahmte Vermögen der Bürger wieder, das nicht vom Markgrafen zu Lehen ging (BUB., S. 400 f.). Die große Mäßigung Friedrichs, die Clauswitz an dem Vertrag auffällt, entsprang wohl ebenso seiner diplomatischen Natur wie der Notwendigkeit, das Verfahren gegen die Aufrührer so zu führen, daß er die übrigen märkischen Städte nicht vor den Kopf stieß. Gegen die schuldigen einzelnen Bürger ging er dagegen mit Felonieprozessen vor 82 , deren Ergebnis für ihn sehr vorteilhaft war. Im September und Oktober 1448 erschienen eine stattliche Anzahl Verurteilter, meist Patrizier, in Spandau vor den kurfürstlichen Räten, um ihre Lehen zu übergeben und einen Treueid zu schwören. Es war eine Menge von Lehen, die Friedrich einziehen konnte. Die verhängten Geldstrafen, die bei mehreren Mitgliedern der alten Patrizierfamilien, den Blankenfeldes, Strobands, Wins und Schums, 3000 Gulden erreichten (BUB. 409 f.), sind anscheinend vielfach gegen Verzicht auf die Lehengüter niedergeschlagen worden 63 . Die Lehen gerieten ihm allerdings bald wieder aus der Hand. Zum größten Teil scheinen sie an ihre ursprünglichen Besitzer durch landesherrliche Gnade oder durch Kauf zurückgelangt zu sein; andere waren an Beamte und Vasallen zum Teil schon vor dem Vergleich vom Mai 1448 gegeben worden (Riedel, A X I , 366). Zur Begründung einer landwirtschaftlichen Basis für das Amt Mühlenhof, in der Holtze eine Vorbedingung für die dauernde Residenz des Hofes in Berlin sah, haben sie nicht gedient94. Allerdings hat zunächst wirklich die Absicht bestanden, die eingezogenen Roggenpächte der Berliner Güter für die Cöllner Hofhaltung nutzbar zu machen; das geht aus der Bestallung Zeuschels vom 6. Februar 1449 zum Hausvogt in Berlin deutlich hervor (BUB., S. 410). Ganz ergebnislos war die erneute Unterwerfung Berlins für den Markgrafen auch vom politischen Standpunkte nicht. Es erfolgte eine gründliche Revision des Ratskollegiums, in das eine Anzahl neuer Männer eingesetzt wurde 95 . Am niederschlagendsten mußte es auf die 82

F r . Holtze, Geschichte der Stadt Berlin, Tübingen 1906, S. 20.

93

Vgl. die Reverse des Thomas Wins und seiner Söhne vom 3. Jan. 1449 (Geh.

St.-A., U r k . Berlin-Köln N r . 60), des J a c o b Heydicke und des Claus u. Michel Wins vom 30. Mai 1449 (eb. N r . 61 u. 62 u. B U B . S. 413 f.). 94

Sdiapper, Hofordnung, S. 52 ff. und 2 7 3 ff. Für Rückgabe und Rückkauf von

1448 eingezogenen Gütern vgl. auch B U B . S. 412 ff., wo freilich vielfach nur Regesten gegeben werden, und Riedel, Suppl. 295 ff. 95

Vgl. die wertvolle Zusammenstellung der Ratsmitglieder von 1 4 4 2 — 1 4 5 1 bei

Priebatsch, S. 119.

Der „Berliner Unwille" und seine

Vorgeschichte

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Führer der Bewegung wirken, daß zu den Ratmannen, die 1449 bestätigt wurden, Baltzer Boytin gehörte. Er war ein Adliger, der in Berlin Bürger und 1443, offenbar als Anhänger Friedrichs, Ratmann wurde, 1447 aber in Zwist mit seinen Kollegen geriet, in dessen Verlauf er im März 1448 sogar der Stadt Fehde ansagte (Prieb., S. 86; BUB., S. 395 und 398). Einen dauernden Rückgang des Wohlstandes der Berliner Bürgerschaft oder auch nur des Patriziats darf man aus den Folgen des Jahres 1448 nicht herleiten. Der Einschnitt in die Berliner Wirtschaftsgeschichte wird nicht durch die Mitte des 15., sondern die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts gebildet. Die für die Zukunft Berlins entscheidende Folge war vielmehr seine feste politische Eingliederung in das brandenburgische Staatswesen, die e i n e Vorbedingung für seine Wahl zur dauernden Residenz. Dazu kam seine günstige Lage im Mittelpunkt der Mark, die es vor Brandenburg und Tangermünde voraus hatte. Es hat bekanntlich noch einige Jahrzehnte gedauert, bis Berlin d i e Residenz der brandenburgischen Kurfürsten wurde. Albrecht Achill hat von einer festen Residenz nichts wissen wollen und noch 1476 seinem Sohn Johann befohlen, je 10 Wochen in der Altmark, Neumark, Uckermark und in den an Pommern grenzenden Orten sich aufzuhalten (Riedel, C II, 182). Ein Herrentag von 1484 hat ähnliche Wünsche ausgesprochen und sie damit begründet, daß durch das Herumziehen des Kurfürsten und die persönliche Abhaltung von Gerichtstagen die lokale Gerichtspflege gefördert und „dy zerung des steten hofs" erleichtert würde. Man wird darin wohl nicht mit Holtze einen unausgesprochenen Wunsch nach Abschaffung des gelehrten Richtertums sehen, sondern mit Schotte den Nachdruck auf den dadurch vermiedenen Einkauf von Lebensmitteln für die Hofhaltung, auf den besseren Eingang der Amtsgefälle und die Möglichkeit einer Verringerung des ritterlichen Gefolges am Hofe erblicken dürfen 96 . Johann hat sich dadurch nicht abhalten lassen, fast stets in Cölln zu residieren, und Joachim I. ist ihm darin gefolgt. Nur im Sommer haben beide öfter in Tangermünde Hof gehalten 97 . Der Zug der Zeit nach einer festen Residenz ließ sich nicht aufhalten. Berlins Schicksal war mit ihm unauflöslich verbunden. Für die Teilnahme Berlins und besonders der übrigen märkischen Städte an der Hanse hat der Aufstand von 1448 keine einschneidende 96

W . Schotte, F ü r s t e n t u m u n d S t ä n d e in der M a r k B r a n d e n b u r g u n t e r der R e -

g i e r u n g J o a c h i m s I., L e i p z i g 1 9 1 1 , S. 4 2 u. 4 4 f. 87

Schapper, a. a. O . S. 7 3 .

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Der „Berliner

Unwille'

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Bedeutung gehabt. Zwar wurde ihnen, da sie auf den Tagungen von 1450 und 1452 nicht erschienen, eine schwere Geldbuße angedroht, die Berlin zu seiner, mit bitteren Worten über die ausgebliebene hansische Unterstützung begründeten Austrittserklärung vom 22. Juli 1452 bewog. Walter Stein hat es sehr wahrscheinlich gemacht, daß sie auf einem Mißverständnis des Schreibens der Hansestädte vom April 1452 beruhte, und daß Friedrich II. zwar Berlin die Teilnahme an den Hansetagen, aber nicht die Zugehörigkeit zur Hanse als eines wirtschaftlichen Verbandes verboten hat 98 . So ist denn Berlin, nachdem das Mißverständnis aufgeklärt war, unter den Städten aufgeführt worden, die sich bei Lübeck vor dem 29. September 1452 genügend wegen ihrer Abwesenheit auf den Tagungen entschuldigt hatten. Einige Schreiben aus dem Jahre 1466 scheinen dafür zu sprechen, daß Berliner Kaufleute noch Angehörige des Hansischen Kontors in Flandern waren 98 ; 1469 wird Berlin ausdrücklich als Hansestadt genannt, obgleich es weder die Tagfahrten besuchte, noch zu ihnen eingeladen wurde. Erst 1518 wurde erklärt, daß Berlin als außerhansisch zu betrachten sei. Auf den gleichen Tagungen wurde festgestellt, daß Stendal und Salzwedel ausgeschieden seien, die noch zu Ende des 15. Jahrhunderts häufig in den hansischen Listen vorkommen 100 . Ein Kaufmann aus Brandenburg war 1467/68 Ältermann des Brügger Kontors, 1470 und 1476 erscheinen Alt- und Neustadt Brandenburg in den Listen. Sie hatten aber, wie sie 1476 erklärten, keine Kenntnis von den Privilegien und Rezessen der Hanse und fehlen seitdem in den Matrikeln. Frankfurt begegnet in ihnen noch 1506; 1525 wird aber bemerkt, daß es „aus merklichen Ursachen aus der Hanse proscribiert" worden sei101. In dem Staatswesen Joachims I. war selbst für eine lose Zugehörigkeit seiner Städte zur Hanse kein Platz mehr. 68

Hans. Gesch.-Bl., Jg. 1915, S. 12'6 ff.

89

UB. der Stadt Lübeck, Bd. X I , Nr. 20 u. 21. In den Schreiben handelt es sich

um Steifigkeiten Tile Sputendorps mit Hans bi den See. Tile unterschreibt das erste dieser Schreiben „datum in Berlin". Als Berliner Bürger bezeichnet er sich nicht. Daß er es war, darf vielleicht daraus geschlossen werden, daß der 1449 mehrfach genannte Hans Spudendorffer, der sonst auch nicht als Berliner Bürger bezeichnet wird, sich in seinem Schreiben vom 7. März 1449 Bürger zu Berlin nennt; eb. Bd. V I I I , Nr. 4 9 4 ; vgl. Nr. 498 (fälschlich vom 31. 1. 1448 statt vom 29. 1. 1449 datiert), 574 u. 619. Im Berliner Bürgerbudi, das von 1453 an erhalten ist, begegnet Tile freilich nicht. Gegenüber Ag. Lasch schließt neuerdings auch W. Seelmann aus den Urkunden, daß die Sputendorps ein Berliner Handelshaus waren: „Brandenburgia", 38. Jg., H . 7 — 9 , S. 115 ff. 100

Stein, a. a. O. S. 122 ff.

101

Stein, a. a. O. S. 135 ff.

Die Stadt Berlin zu Beginn des 16. Jahrhunderts Zugleich eine Besprechung der Ausgabe der ältesten KämmereiRechnungen Berlins durch Joseph Girgensohn1 Das Wort Kämmereirechnungen pflegt bei den Freunden der Geschichte, die nicht zufällig Finanzleute oder Wirtschaftshistoriker sind, ebensoviel Ehrfurcht wie scheue Zurückhaltung zu erwecken. Man weiß wohl, daß es sich bei solchen alten Rechnungen um sehr wichtige Dinge handelt, doch man denkt zugleich an ein wirres Gestrüpp von Zahlen und Listen, in dem nur der Eingeweihte zu lesen versteht. Aber vielleicht hat es in all den Jahrzehnten, seit der Verein für die Geschichte Berlins besteht, nie einen Augenblick gegeben, in dem Wirtschaftsund Finanzfragen der Reichshauptstadt auf ein so allgemeines Interesse rechnen durften wie in unseren Tagen. Und an dieses Interesse darf wohl auch der Historiker appellieren und die Leser unserer Zeitschrift bitten, ihm mehr als vier Jahrhunderte zurück zu folgen in die Zeit, in der wir zum ersten Male etwas von dem Haushalt unserer Stadt Berlin erfahren. Freilich, die Lektüre dieser Rechnungen ist in der Tat kein leichter Genuß, so sehr sich auch ihr Herausgeber bemüht hat, durch einen wissenschaftlichen Kommentar das Verständnis zu erleichtern. Wir werden ihm daher unseren Dank für seine Arbeit bei der Entzifferung und Deutung der oft schwer lesbaren Handschrift nicht besser beweisen können als durch den Versuch, aus der wirren Fülle einzelner Notizen und seitenlanger Zahlungslisten ein Bild von dem Zustande Berlins an der Schwelle zwischen Mittelalter und neuerer Zeit zu gewinnen. Denn das ist es, womit diese Rechnungen den belohnen, der sich von Zahl zu Zahl und von Seite zu Seite durch sie hindurcharbeitet: eine ganze Stadt taucht vor ihm auf, die Stadt einer versunkenen Zeit, beleuchtet durch die Ziffern ihrer Einnahmen und Ausgaben. Fremdartig berühren diese Zahlen den nicht mit der Epoche vertrauten Leser. Er fühlt sich in eine Zeit zurückversetzt, in der nicht 1 Erschienen als Band 2 der Quellen und Forschungen zur Geschichte Berlins, herausgegeben von der Hist Kom. f. d. Prov. Brdbg. u. d. Reichshauptstadt Berlin. Berlin 1929. — Der Band enthält auf S. 155 bis 231 noch die Abhandlung von Erich Thauß über das Kassen- und Schuldenwesen Berlins und Cöllns in der zweiten H ä l f t e des 16. Jahrhunderts.

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Die Stadt Berlin zu Beginn des 16.

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mit den ihm bekannten größeren Münzeinheiten, sondern noch mit „Schock Groschen" oder einfach „Schock" gerechnet wird. Audi die Pfennige und Groschen, die wirklich ausgeprägten kleineren Münzen, haben eine andere Bedeutung als heute. In dem Deutschland des frühen Mittelalters war der Pfennig eine Silbermünze, die unter der lateinischen Bezeichnung Denar schon die alten Volksrechte der Germanen kennen. Im 14. Jahrhundert war dann eine dickere Silbermünze, der grossus oder Groschen aufgetreten, der 8 Pfennige galt. Nach Grosdien und Pfennigen zählen daher auch unsere Rechnungen, aber die größere Einheit bildete nicht mehr das Pfund Silber und noch nicht der Gulden oder der Taler, sondern eben das Schock, das 60 Groschen bezeichnete. Auf Schock, Groschen und Pfennige sind die ältesten Kämmereirechnungen Berlins abgestimmt 2 . Das Bedürfnis nach einer hochwertigen Münze hatte indessen zunächst in Italien die in Gold ausgeprägten Gulden entstehen lassen, die nach ihrer wichtigsten Prägestätte Florenz „Florenen" genannt wurden. In der Abkürzung fl. lebt dieser Ursprung noch heute fort. Im Berlin des ausgehenden Mittelalters waren die Gulden nicht unbekannt. Eine ganze Reihe von Zahlungen unserer Rechnungen werden in Gulden zu 32 Groschen geleistet3. Doch stets setzte der Stadtschreiber die Umrechnung der geschuldeten Gulden in Schock Groschen hinzu. Hin und wieder begegnet noch die alte Rechnungsart nach „Schilling Pfennigen", so bei der Angabe des von den Badern zu zahlenden Zinses von vierteljährlich 30 Schillingen. Ein Schilling galt soviel wie ein silberner Grosdien und dieser, wie noch lange, 12 Pfennige, also 1% gewöhnliche Groschen. Das Rechnen mit dieser Währung und vor allem mit den lateinischen Zahlen, die das Original unserer Rechnungen stets anwendet, war sehr unbequem. Man erleichterte es sich durch Rechenpfennige; im Mai 1505 schaffte sich deshalb der Kämmerer 100 Zahlpfennige für 8 gr. an. 2

Im folgenden wird Schock meist mit sdi., Grosdien mit gr. abgekürzt werden. Nach einer Stelle auf Seite 79 der Rechnungen scheint man mit Girgensohn annehmen zu müssen, daß der Gulden gelegentlich auch 33 Groschen wert war. Hier liegt aber ein offenbarer Schreibfehler vor; vergleicht man nämlich die Angabe: 150 fl. „yo 33 gr. vor 1 fl." mit der am Rande angegebenen Umrechnung in 80 Schock, so ergibt sich, daß auch hier, wie an allen anderen Stellen, der Gulden zu 32 Groschen gerechnet wurde. Auch in einem am 11. März 1505 zwischen dem Apotheker Zehender und den Räten von Berlin und Cölln abgeschlossenen Vergleich wird der rheinische Gulden „ganghaftiger Münze" zu 32 Groschen gerechnet (BUB. S. 463). Eine andere Berechnung des Gulden zu 27 Groschen steckt nur in dem Ansatz für den Zins des Kupferhammers, der 10 Gulden oder 4Yi Schock betragen sollte. 3

Die Stadt Berlin zu Beginn des 16.

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Die Stadt des 16. Jahrhunderts wird durch den Rat, den Magistrat nach der später üblich gewordenen Ausdrucksweise, und dieser wieder durch die Bürgermeister und daneben in allen Kassen- und Rechnungsfragen durch die Kämmerer repräsentiert. „Register aller Einnahmen und Ausgaben unter Kerstiann Mattys, Joachim Ryken, Hans Gröben und Thomas Kulepatz etc." steht als Überschrift über der ältesten Einnahme- und Ausgaberechnung, der des Jahres 1504/05. Die Bürgermeister Christian Mattys oder Matthias und Joachim Ryke stammten aus Familien, deren Namen lange im Berliner Rat vertreten waren. Die Ryke, die sich später hochdeutsch Reiche nannten, haben im 14. Jahrhundert in Berlin und Cölln eine führende Stellung eingenommen, haben auch im Rate Berlins gesessen. Durch die Teilnahme des Bürgermeisters Berndt Ryke an dem Aufstand gegen Kurfürst Friedrich II. schied die Familie für ein halbes Jahrhundert aus dem Rate aus, bis sie durch Joachim Ryke seit 1496 wieder in das höchste Ehrenamt der Stadt gelangte. Die Matthias sind jünger, erst 1449 erscheint ein Tuchmacher Matthes Matthias als Ratsherr. Der Bürgermeister Christian des Jahres 1505 hatte dieses Amt schon seit langem inne. Am bekanntesten ist unter den Trägern des Namens Thomas Matthias geworden, der vertraute Rat Joachims II. und Bürgermeister von Berlin. Ein Gröben wurde 1443 nach der Unterwerfung Berlins unter Friedrich II. Bürgermeister. Hans Gröben, der Kämmerer des Jahres 1505, gelangte 1508 zum Bürgermeisteramt. Thomas Kulepatz, der zweite Kämmerer, stammt aus einer sonst wenig bekannten Familie. Doch hat schon 1454 ein Claus Kulepatz in Berlin ein Haus mit einem Brunnen besessen4. Die beiden anderen erhaltenen ^Rechnungen, die Einnahme von 1506/07 und die Ausgabe von 1505/06, haben keine solche Uberschrift, aber sie erwähnen doch die Namen der Bürgermeister. Im Jahre 1506 traten die „alten Herren" Hans Brackow und Christoph Wins zurück, die bis dahin die Geschäfte geführt hatten. Auch sie stammten aus Patriziergeschlechtern. Ein Hans Brackow besaß 1453 als Bürger Berlins 4 Vgl. die Ratsherrenlisten im BUB. S. X I I I f., und die 1453 beginnende Liste der Berliner Bürgermeister bei von Gebhardt, Das älteste Berliner Bürgerbuch, Berlin 1927, S. 24 ff... Uber die Ryke, Matthias, Wins und Blankenfelde unterrichten die Zusammenstellungen von Bredit in den Vermischten Schriften unseres Vereins, Bd. I . . . Christian Matthias erscheint schon 1476 als Ratsmitglied (BUB., S. 448). Die N o t i z über Claus Kulepatz steht im Berliner Stadtbuch, herausg. von Clauswitz, S. 2 5 2 . . . Der 1416 gehängte Holzdieb Nickel Kulepatz (St. B., S. 212), der Angehöriger eines der vier großen Gewerke war, mag ein ungeratener Sproß der gleichen Familie gewesen sein.

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Landbesitz in Jahnsfelde. Peter Brackow war 1482 Hofrichter in Berlin und geriet in einen Konflikt mit der Stadt; 1489 besaß er das niedere Gericht und ein Burglehnhaus in Berlin. Des jüngeren Hans Brackow Name ist später dadurch bekannt geworden, daß er im Jahre 1510 als Bürgermeister und Stadtrichter in dem furchtbaren Judenprozeß dieses Jahres mitgewirkt hat. Mit seinem Tode im Jahre 1517 starb das Geschlecht aus5. Die Wins schließlich waren im 15. Jahrhundert zu einem der ersten Geschlechter Berlins geworden. Das Jahr, über das sich die Rechnungen erstrecken, ist nicht das kirchlich-bürgerliche, zu Weihnachten beginnende Jahr, sondern ein im besonderen Sinne bürgerliches. Es begann mit dem feierlichen Akt der Ratsversetzung, d. h. mit dem Tag, an dem der stets nur für ein Jahr gewählte Rat sein Amt dem Rate des nächsten Jahres abgab. Dieser Tag fiel damals in den Oktober (Girgensohn, S. VIII f.). Die einzelnen Posten der Einnahmen und Ausgaben beginnen allerdings meist später. Nur die Einnahme von 1506/07 fängt mit einer Eintragung vom 28. Oktober an. Der Einfachheit halber werden wir die Rechnungen von nun an immer nach dem Jahre unserer Zeitrechnung zitieren, dessen Hauptteil sie umfassen, also 1505, 1506 und 1507 statt 1504/05 usw. Die Ratsversetzung war das höchste offizielle Fest, das die Stadt, d. h. der Rat, feierte. Er beging es mit einem Aufwand, der seine hoch über die Masse der Gewerksangehörigen und der „gemeinen Bürgerschaft" erhobene Stellung und seine Herrschaft über die Einnahmen der Stadt klar in Erscheinung treten läßt. Die Pulsanten, die Glöckner der beiden Schulen zu St. Nikolaus und St. Marien, begrüßten die neuen Herren mit feierlichem Geläute und erhielten dafür bescheidenen Lohn. Festmahl und Festtrunk folgten, für die der Stadtschreiber Johannes Nether, der die Rechnungen führte, 1505 über 15 sch. und 1506 etwa 9 sch. in die Ausgabe eintrug6. Was diese Summen bedeuten, mögen einige andere Zahlen zeigen. Die gesamten ordentlichen Ausgaben erreichten 1505 noch nicht 500, 1506 rund 600 sch.; ein ganzer Ochse, der 1503 bei der Ratsversetzung aufgegessen worden war, hatte nur 2 Gulden, d. h. reichlich 1 sch., gekostet. Außer diesem Festessen gab es noch ein zweites, wenn am Margaretentag die Strafgelder, die der Rat für bestimmte Vergehen und Uber5 BUB., S. 428, 451, 458; Riedel C II, S. 282 f.; Schriften d. Ver. f. d. Gesch. Berlins, H . 4, S. 15. 8 9 sch. steht am Schluß der eigentlichen Rechnung. Die auf einer späteren Seite befindliche Notiz, daß bei der Versetzung 13 sch. minus 5 gr. verzehrt worden seien, dürfte sich auf ein anderes Jahr beziehen.

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tretungen einzog, vertrunken wurden. Uber die Höhe dieser Strafgelder schweigt die Rechnung, aber sie muß zugeben, daß man 1505 noch 2 sch. 50 gr. aus den allgemeinen Einnahmen hinzunahm, um dem Trinkbedürfnis der Herren Genüge zu tun. Auf ein späteres Jahr bezieht sich wohl die Angabe, daß am Margareten tag 8V2 sch. 9 Pf. „zur Collacion verzehrt" worden seien, also eine recht hübsche Summe, für die man 8 Ochsen kaufen konnte. Bescheiden muten dagegen die 2 sch. an, die im Laufe des Jahres für den regelmäßigen Trunk bei den Ratssitzungen verbraucht wurden. Immerhin ließ sich für 2 sch. allerhand Trinkbares einkaufen, denn als der Rat 1505 in dem Ratsdorf Woltersdorf die Grenzen und das Gehölz besichtigte, nahm er 5 Quart Leitmeritzer Wein mit, für den er nur 8 gr. hatte zahlen müssen. Eine innere Rechtfertigung fanden diese Ausgaben in dem Fehlen einer Besoldung für die Ratsmitglieder, die noch im strengen Sinne des Wortes Ehrenbeamte waren. Die ganze Bürgerschaft, nicht nur der Rat, feierte das Schützenfest7. Im Jahre 1505 gewann es durch die Teilnahme Kurfürst Joachims I. erhöhten Glanz. Ein solcher Gast konnte natürlich nicht mit Bier bewirtet werden, der Rat ließ vielmehr ihm und seinem Hofgesinde „bei dem Schützenbaum, da man nach dem Vogel hat geschossen", Rheinwein und Süßwein reichen. Das edle Getränk brauchte nicht aus der Ferne verschrieben zu werden. Viele Bürger und vornehme Einwohner lagerten für die Freunde eines guten Trunks Wein in ihren Kellern ein. Da auch der Stadtkeller Wein führte, hatte der Rat früh Bestimmungen darüber getroffen, unter welchen Bedingungen Private Wein schenken durften (St. B. S. 16 f.). Zunächst wurde jedes eingeführte Faß nadi seinem Werte abgeschätzt, „gesetzt", und dann von ihm eine Abgabe erhoben. Die Stadtrechnungen bezeichnen daher diese Einnahme als „Setzwein". Wer seinen Wein nicht im Stadtkeller einlagern, sondern ihn in seinem Hause „laufen" lassen wollte, iieß ihn ausrufen und durfte ihn dann so teuer verkaufen, wie es ihm möglich war. Ein Faß Wein enthielt 6 bis 7 Ahmen. Die Feststellung der Ahmenzahl, die für die Erhebung der Abgabe notwendig war, erfolgte durch einen geeichten Eimer = 2 Ahmen, der 1505 für 2 gr. ausgebessert wurde. Unsere Rechnungen enthalten zwei Listen von Personen, die Wein einlagerten. Einige von ihnen begnügten sich mit nur einem Faß, das für ihren eigenen Bedarf dienen sollte, andere füllten ihre Keller in einem Jahre mit 4, 5, ja bis zu 11 Fässern. In der Hauptsache wurde Wein nicht 7 Vgl. Fidicin, Hist. Dipl. Beitr. V, S. 454 ff.; dazu auch Breitenbach, FBPG 7, 1894, S. 178—181.

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aus weiter Ferne eingeführt, sondern er stammte aus der Mark und aus der Lausitz. Am beliebtesten waren Frankfurter und Gubener Wein. Dr. Stocker etwa, der von 1475 an einige Jahre Bürgermeister gewesen war, ließ vom November 1504 bis zum August 1505 seinen Keller mit 9 Fässern und einem Viertel Gubener Wein auffüllen. Der Kramer Caspar Ziese, der 1503 Bürger geworden war, bezog im gleichen Zeitraum 4 Faß Frankfurter, je 2 Faß Fürstenberger und roten Kotzeburger 8 , ein Viertel Gubener und ein Viertel Alant, einen mit Alantwurzel bereiteten Wein". Im Winter und im folgenden Jahr nahm er noch Leitmeritzer und Crossener Wein und eine Lage Malvasier hinzu. Dies war der Süßwein, der in Berlin damals allein geführt wurde; er wurde nicht nach einzelnen Fässern, sondern nach Lagen versteuert, die mehrere Fässer enthielten10. Großbezieher waren auch der Kramer Andreas Boldeke, der Frankfurter und Gubener führte, Heinrich Barbierer, der neben Frankfurter auch Erfurter und Frankenwein einkellerte, Greger Tugeritz, eine Witwe Matthes, die neben Gubener noch Crossener, Oderberger, Franken-, Kotzeburger und Alantwein einlagerte, die Witwe Grieben, die sich mit Gubener begnügte, der Rentmeister Nikolaus Thum, die Witwe des Bürgermeisters Urban Marcus, die nur ein paar Fässer einkellerte, der wohl zu derselben Familie gehörende Georg Marcus, Hans Krewitz, der neben weißem auch roten Frankfurter, Süßund Rheinwein bezog, Marten Bheme, Borchard Schreiber, die 1500 und 1504 Bürger geworden waren, Benedict Krull, 1507 Bürgermeister von Berlin, und zwei Angehörige der großen Ratsfamilien Wins und Blankenfelde. Ein ungemein lebhafter Weinhandel, der in den Händen der Patrizier und Kramer lag, tritt uns in diesen Jahren entgegen; in ihm spiegeln sich der Wohlstand der Stadt und der Einfluß der kurfürstlichen Hofhaltung wider. 8 Die Herkunft des Kotzeburger Weins ist dunkel. Im Berl. B. B. wird 1601 ein Weinmeister Schotthower aus Kotzberg Bürger. Von Gebhardts Vermutung, daß damit Godesberg gemeint sei, ist wegen der roten Farbe des Weines kaum zutreffend. Zweifellos war es ein sehr guter Wein, wie aus der Stiftungsurkünde für das Kapitel in Arneburg vom 21. April 1459 hervorgeht. In ihr bestimmt Markgraf Friedrich der Jüngere von Brandenburg, daß bei der Abendmahlsfeier am Gründonnerstag 4 Stübchen Kotzeburger oder von dem besten Wein, den sie kaufen können, gebraudit werden sollen (Riedel, A VI, S. 210). Audi Riedel gibt im Index keine Erklärung für die Ortsbezeichnung. 9 Durch Aufguß auf die Wurzel des Alant, lat. Inula Helenium, wurden audi Alantbier und Alantaquavit hergestellt. 10 Daß Ziese Kramer war, ist aus der H ö h e des von ihm gezahlten Bürgergeldes zu schließen; dasselbe gilt für Andreas Boldeke.

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Neben Bürgermeistern und Kämmerern spielten die domini fabrici, die Bauherren, eine bedeutende Rolle. Es waren die Ratsherren, denen die Sorge für die Bauten der Stadt anvertraut war. Die Summen, die ihnen der Kämmerer zur Verfügung stellte, bildeten einen der höchsten Ausgabeposten des gesamten Haushaltes. Ihre Tätigkeit auf der städtischen Feldmark kommt dagegen in den Rechnungen nicht zum Ausdruck, da sie keine besonderen Mittel erforderte. Berlin war stolz darauf, seine Gebäude, seine Mauern und Tore in gutem Zustande zu erhalten. Wofür im einzelnen die 93 sch. verbraucht wurden, die 1505 für Bauzwecke verwandt wurden, oder die 73 sch. des nächsten Jahres, erfahren wir leider nicht — mit einer — allerdings sehr wichtigen Ausnahme. In beiden Jahren wurde an einem „neuen Gebäude" und einer „neuen Bastei", die wohl identisch sind, gebaut, und für ein neues Tor wurden 8000 Dachsteine verbraucht; im August 1505 wurde der Stadtgraben an diesem Tor durch den Teichgräber besichtigt. Die Bastei wurde, wie die alten Stadtmauern, auf Feldsteinen errichtet. Die Bauern von Weißensee bekamen im April 1506 für das Heranfahren von 24 Fudern Feldsteinen 34 gr., und zwei Tage später wurden für 39 Feldsteinfuhren 54 gr. ausgegeben. Auch Holz wurde für die Bastei verwandt. Die Anlagen erforderten erhebliche Summen; der Rat lieh sich 1505 sogar „von einem guten Freunde" 18 sch. für das neue Gebäude, weil er mit seinen Einnahmen nicht auskam. Wo diese Bauwerke lagen, wird nicht erwähnt. Doch gibt uns eine andere Notiz einen Anhaltspunkt. Ungefähr gleichzeitig, nämlich mit dem neuen Tor und der Bastei, nahm der Rat den Bau einer „Freiarche", eines Stauwehres am Spandauer Tor, in Angriff, deren Herstellung er am 30. Oktober 1504 einem Merten Range übertrug. Er bewilligte ihm dafür 3 sch. und stellte ihm zwei Tagelöhner, die an drei Tagen Pfähle rammen sollten. Was liegt näher als die Annahme, daß der Bau dieser Arche, die am Einfluß des letzten Stückes des Stadtgrabens, des „Endegrabens", in die Spree lag, im Zusammenhang mit den neuen Befestigungswerken stand, die wir danach beim Spandauer Tor suchen müssen. So sehen wir die Stadt, trotz des Verlustes ihrer politischen Macht durch den unglücklichen Ausgang des „Berliner Unwillens", energisch um ihre militärische Sicherheit besorgt. Noch war die Zeit nicht gekommen, in der diese Aufgabe durch den Staat erfüllt wurde. Raubritter, von Joachim I. erst später einigermaßen gebändigt, bedrohten die Städte. Im November 1504 schickte Berlin den Wärter am Oderberger Tor, Caspar, nach Frankfurt, um die befreundete Stadt vor den Adligen zu warnen, die über die Hinrichtung eines Raubritters durch den Frank-

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furter Rat erbittert waren. Der Ausrüstung des Bürgeraufgebotes diente die Harnischkammer, aus der Musketen und Hellebarden abgegeben wurden. Der Panzermacher besserte 1506 einen Panzer aus, der Armbrustmacher eine Armbrust. Als der Kurfürst 1507 eine Musterung abhalten ließ, wurden aus der Harnischkammer 8 Pfund Büchsenpulver für 50 gr. an die Bürger verkauft. Diese Musterung war vielleicht eine Folge der Erfahrungen Joachims bei dem Zuge, den er zur Unterstützung seines Schwiegervaters Johann von Dänemark unternommen hatte, als dieser 1505 das mit den Schweden verbündete Lübeck belagerte. Berlin hat für diese Heerfahrt 25 sch. 36 gr. ausgegeben, mit denen wohl vor allem Söldner angeworben wurden. Immerhin hat der Rat auch 4 Spieße von dem Scheidenmacher Hans von Tannen angekauft und für die Unterhaltung der beiden zur Heeresfolge bestimmten Rüstwagen jährlich 6V2 sch. ausgegeben. Diese Summe bekam der oberste Stadtknecht als Entschädigung für seine mit dem Wagendienst verbundenen Auslagen. Audi der inneren Ausstattung der Gebäude, besonders des Rathauses, wandte die Stadt ihre Sorge zu. Uber 100 Bretter und Dielen wurden angekauft, die Tischler machten Bänke und Stühle für das Rathaus, die beiden Kachelöfen und die Kissen in der Ratsstube wurden ausgebessert. Der zinnernen Schüsseln und Kannen des Rates nahm sich der Kannengießer Bastian an. Für das Läuten der Rathausglocke und für das Stellen der Turmuhr bezogen die Küster der beiden Stadtkirchen ein jährliches Gehalt. Das kostbarste Inventarstück bekam der Rat aber durch eine Stiftung. Im Einnahmeregister von 1507 lesen wir: „20 Gulden eingenommen vom Dechanten zum neuen silbernen Becher, Herrn Mauritz Völdericks Testament." Der Földerichbecher, der noch im 17. Jahrhundert im Besitz des Rates war, stammte also nicht, wie Faden annehmen durfte, von dem Kaufherrn Christian Földerich, sondern von einem Geistlichen des Cöllner Domstifts. Diente der Becher dem festlichen Pokulieren, so das 1505 angeschaffte kupferne Stadtsiegel den ernsten Geschäften, für die auch das „Pitzier der Stadt", das Petschaft, bestimmt war, das der Goldschmidt Jakob Molner 1506 für 26 gr. gestochen hatte. An den Grundstock einer Ratsbibliothek werden wir vielleicht denken können, wenn 1505 Paul Tigeler 24 gr. für das Einbinden von drei nicht näher bezeichneten Büchern erhielt. Einen Buchbinder von Beruf besaß Berlin noch nicht; erst 1518 wurde mit Hans Gesottenwasser ein Buchbinder Bürger der Residenz. Von den eigentlichen Stadtbüchern, die der Verwaltung dienten, wird einmal das Stadtbuch erwähnt, für dessen Einband zwei Per-

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gamenthäute angeschafft wurden, sowie das verlorene alte Kontraktbuch, in dem Käufe und Verkäufe von Grundstücken verzeichnet wurden. Ein 1503 beginnendes, bis 1529 reichendes Schöppenbuch Berlins und ein etwa gleichzeitiges für Cölln besitzt das Stadtarchiv noch heute. Längst war die städtische Verwaltung zum schriftlichen Verkehr übergegangen, für dessen Ausdehnung die 2 Rieß Papier zeugen, die 1504 für die Stadtbücher „und sonst zum Schreiben" angeschafft wurden. Im Jahre 1505 wurde wieder für 40 gr. Papier angekauft. Die Urkunden und Quittungen des Archivs wurden in Holzgefäßen aufbewahrt; 1506 wurden dafür 3 gr. ausgegeben. Für den Stadthof, in dem die Ratswagen und die Pferde standen, lieferten Sattler, Stadtschmied, Kleinschmied, Stellmacher, Radmacher und Böttcher Sättel, Zäume, Steigbügel, Räder und Gestelle, Fett und Schaufeln. Im Jahre 1505 wurde ein Pferd, 1506 wurden sogar zwei Pferde für 13 bis 14 Gulden gekauft. Die Pferde kosteten also sechs- bis siebenmal soviel wie der Ochse, der 1503 für die Ratsversetzung geschlachtet worden war. Trotzdem mußte 1506 von dem Bäcker Bastian Schnydewind noch ein Pferd für 20 gr. zur Aushilfe gemietet werden. Der Betrieb des Stadthofes war nicht billig. Allein vom Oktober 1504 bis zum September 1505 wurde für 46% sch. Hafer gekauft. Dagegen fiel der Haferverkauf durch die Stadt, der 1507 nur 2 sch. einbrachte, kaum ins Gewicht. Ganz leer ging auch die Schule nicht aus. Die Nicolaischule erhielt eine neue Tafel und Kacheln für ihren Ofen. Der Landbesitz des Rates war ganz gering; ein Vorwerk oder eine Meierei des Rats gab es noch nicht, sondern nur eine Wiese, „Götzkens Wiese" genannt, und eine Wiese in Lichtenberg. Die Hauptwiese war 37 Morgen groß; das Mähen dieser Wiese kostete 1 sch. 46 gr., etwa 3 gr. für den Morgen. Diese Ausgabe überstieg die Einnahme aus dem Verkauf des Grases, da das Heu wohl zum größten Teil für den Stadthof verbraucht wurde. Der reiche Besitz Berlins in den Dörfern des Barnim und Teltow wurde noch gemeinsam mit der Schwesterstadt Cölln verwaltet. Uber ihn und über die sonstigen gemeinschaftlichen Geschäfte, zu denen auch die Aufnahme und Verzinsung von Schulden gehörte, wurde eine besondere Rechnung geführt. Wie überall fielen Berlin zwei Drittel, Cölln ein Drittel der Einnahmen und Ausgaben zu. Im Jahre 1507 erhielt Berlin auf Grund der von beiden Städten geführten „kleinen Rechnung" eine Summe von 91V2 sch. ausgezahlt.

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Die Stadt

Berlin zu Beginn des 16.

]ahrhunderts

Für sich allein bezog Berlin einen geringen Zins und Rauchhühner aus Woltersdorf. Im November 1504 zahlte der Schulze von Wollersdorf 1 sch. 54 gr. auf Rechnung und blieb das übrige schuldig. Resigniert bemerkte der Stadtschreiber dazu: „er ist auch noch von einigen früheren Jahren her im Rest". Damit mag es zusammenhängen, daß dem Schulzen 1505 Holz gepfändet wurde, für das er im Dezember 1 sch. 4 gr. wiederbekam. Der Hauptwert von Woltersdorf lag in seiner Heide. Im Januar 1506 ließ der Rat in ihr Holz hauen und bezahlte dafür in 5 Tagen 3V2 sch. Dürfen wir eine dieser Zahlungen, die nicht nur die gezahlte Geldsumme, sondern auch die dafür geschlagenen Ruten Holz nennt, den übrigen zugrunde legen, so wurden damals über 30 Ruten Holz gehauen. Sigmund Mewis, der die Aufsicht führte, machte beim Dorfkrüger eine Rechnung von 33 gr. In der Berliner Heide blühte die Bienenzucht, die wir aus den Urkunden und Stadtbüchern des Mittelalters kennen. Über sie wachte der Zeideler. Im Herbst wurde gezeidelt, d. h. der Honig aus den Beuten genommen. Der Ertrag war 1507 so groß, daß für 1 sch. 22 gr. Honig verkauft werden konnte. Dem Handel und Gewerbe dienten die Märkte, von denen an vier Terminen, zu Fronleichnam (3. Juli), Laurentii (10. August), Kreuzerhöhung (14. September) und Martini (11. November) das Stättegeld erhoben wurde. Es brachte 1505 über 5 sch. und 1507 rund 7% sch. ein. Zu den Jahrmärkten scheinen an einzelne Städte besondere Einladungen durch Boten ergangen zu sein, wenigstens wurde am 12. April 1505 nach Bernau und nach Königsberg in der Neumark „von wegen des Jahrmarkts" gesandt. Wahrscheinlich dienten die Botengänge nach Brandenburg und Magdeburg am 23. und 30. April dem gleichen Zwecke. Auf den Fischmarkt ließ der Rat 1505 Sand für einen Steinweg anfahren; er sorgte also wenigstens auf einem Teile des Markplatzes für gutes Pflaster. Selbst Straßenreinigung fehlte nicht ganz. Vier Tagelöhner mußten 1504 für 8 gr. das Paddensträßchen reinigen, die heutige Kleine Stralauer Straße. Das Hineinwerfen von „Gemüll, Mist und anderm" in die Spree war verboten. Von denen, die das Verbot übertraten, durfte der Rat nach einer Urkunde von 1508 Strafen erheben11. Zum Marktverkehr gehörte die Stadtwaage, deren Verwaltung der Wachsetzer Lukas Fuchs führte. Er bekam dafür jährlich IV2 sch. und lieferte 1505 wie 1507 über 9 sch. Waagegeld ab. Die Wollwaage be11

B U B . S. 466; es ist die bekannte Urkunde, durch die Joachim I. den Räten v o n

Berlin und Cölln das Gericht überließ.

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traute Caspar, der Wächter am Oderberger Tor. Einnahmen aus ihr werden nicht erwähnt. Zum Lagern von Holz waren die Holzmärkte bestimmt, von denen das Platzgeld erhoben wurde. Es scheint nicht sehr regelmäßig einkassiert worden zu sein, denn 1505 wurde von den zuständigen Ratsherren nichts abgeliefert!, 1507 aber 6 sch. 45 gr. Seit alters her hatte die Stadt die Versorgung der Einwohner mit Salz geregelt. Im 14. Jahrhundert waren zwei Salzmesser angestellt und die Aufsicht über die Salzmaße dem Marktmeister übertragen (St. B. S. 18 und 28). Im 16. Jahrhundert besaß der Rat eine Salzhalle, die er gegen einen jährlichen Zins verpachtet hatte. Scheifel zum Salzmessen und „Salzviertel", kleinere Maße, schaffte er selbst an. Er beteiligte sich sogar an der Salzgewinnung, indem er 1506 „zu dem Salzbrunnen" einen Zuschuß von 3 sch. 12 gr. gab. Am ehesten wird dabei an eine Salzquelle in Lüneburg zu denken sein. Dafür spricht die nur zwei Wochen später erfolgte Zahlung von 12 gr. für das Binden eines Salzscheffels, bei der ausdrücklich bemerkt wird: „Lunenborg belangende" 12 . Der Verarbeitung des Kupfers war die städtische Kupfermühle gewidmet, die eine Abgabe von 4 % sch. zahlen sollte. Sie scheint nicht mehr in Betrieb gewesen zu sein, da weder 1505 noch 1507 aus ihr eine Einnahme in die Kämmerei floß. Da war es um den Stadtkeller und um das Bernauer Bier besser bestellt! Zwar kamen 1505 nur 9 sch. 12 gr. vom Stadtkeller und 3 sch. 12 gr. vom Bernauer Bier ein, 1507 aber lieferte der Kellermeister Friedrich zusammen 2 0 % sch. vom Keller und vom Bernauer Bier an die Stadtkasse ab. Der Einnahme eines anderen Jahres wird die Notiz angehören: „25 sch. Bernowsche Bierkeller" 13 . Zum Keller gehört die Garküche, die ein Speisewirt in der städtischen Garbude betrieb. Ihr Zins betrug 5 Gulden. Im Jahre 1507 lieferte der Patrizier Joachim Reiche die 5 Gulden ab, weil er dem „Garbreter" Lukas „etlichen verdienten Lohn" von der Heirat seiner Tochter her schuldig war. Die vornehmen Herren ließen sich eben schon damals das Essen für ihre Familienfeiern aus der Stadtküche kommen. Für die Höhe des Bierkonsums oder richtiger für die Menge des in Berlin gebrauten Bieres gewinnen wir einen Anhalt aus den Erträgen der staatlichen Biersteuer, des „alten Biergeldes", das Markgraf Johann 12

Girgensohn läßt es S. 151 offen, ob von Lüneburg oder von der vielleicht schon

entdeckten Salzquelle bei Belitz die Rede ist. 13

Die Notiz steht auf einer leeren Seite der Ausgabe von 1506, kann sich aber

nur auf eine Einnahme, vielleicht eben dieses Jahres beziehen. 9

Kaeber

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zuerst sich von den Ständen trotz des Widerstandes der Städte hatte bewilligen lassen. Er hatte es diesen dadurch annehmbar gemacht, daß er ihnen ein Drittel der Einnahme überließ14. Der Anteil Berlins am Biergelde betrug 1505 110 sch. 50% gr. und 1507 sogar 167 sch. 5 gr. 6 Pf. Da von jeder gebrauten Tonne Bier bei einem Steuersatz von 12 Pfennigen 4 Pfennig gleich % gr. in die Kämmerei flössen, so ergibt eine einfache Berechnung, daß in dem ersten Jahre 13 420 und in dem anderen 20 051% Tonnen Bier versteuert wurden. In einem städtischen Hause befand sich die alte Apotheke, denn sonst hätte der Rat nicht 1506 selbst die Bretter bezahlt, die der Tischler für sie angefertigt hatte. Neben dem kurfürstlichen Apotheker Johann Zehender, mit dem die Räte von Berlin und Cölln wegen der von ihm beanspruchten Berechtigung zum Treiben bürgerlicher Nahrung in einen 1505 geschlichteten Streit geraten waren (BUB., S. 463), wirkte der neue Apotheker Johann Laubitz, der 1505 Bürger wurde. Er besserte im gleichen Jahre sein beim Wintborn, dem Windebrunnen, gelegenes Haus mit 100 Dachsteinen und einigen hundert Mauersteinen aus. Er besaß auch eine Wiese, von der er 3 gr. Zins zahlte. Um die Brot- und Semmelpreise auf einem angemessenen Stande zu halten, hatte die Stadt neben den zünftigen Bäckern einen Freibäcker gegen eine jährliche Gebühr von 1 sch. zugelassen und ihm eine Zinsbude am neuen Markt zur Verfügung gestellt. Der Freibäcker, der gelegentlich auch Botendienste für den Rat übernahm, konnte sich offenbar nicht halten und zog 1505 von Berlin fort. Sein Haus wurde 1506 vom Rat für 6 sch. verkauft. In städtischen Häusern endlich trieben die Bader Hans Hutzel und Benedict Ekelbom ihr Gewerbe, die 1498 und 1504 das Bürgerrecht erworben hatten. Sie hatten jeder eine Abgabe von jährlich 3 sch. zu leisten. Alle diese städtischen Anlagen wurden wirtschaftlich und finanziell durch die Ziegeleien und Kalkbrennereien des Rates in den Schatten gestellt, die sich vor dem Stralauer Tor und dem Spandauer Tor befanden. Sie sind in ihrer Bedeutung nur mit den großen Werken der heutigen Städte zu vergleichen. Jede von ihnen war einem Ratsmitglied als Provisor unterstellt; die am Stralauer Tor dem Caspar Schlötenick, der 1460 als Kürschner Bürger geworden war, die am Spandauer Tor dem späteren Bürgermeister Benedict Krull, der 1505 Vorsteher der Kaufmannsgilde war, von der wir leider nur so wenig wissen15. 14 Vgl. Priebatsch, Die Hohenzollern und die Städte der Mark im 15. Jahrhundert. Berlin 1892, S. 169. 15 Er wird im Berl. Schöffenbuch, S. 42, Vorsteher der „Koplude Guide" genannt.

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Den eigentlichen Brennbetrieb leiteten die beiden Ziegler Mattis und Merten Galle, die gewissermaßen als Unternehmer alle Unkosten, abgesehen von dem HeranschafTen der Ziegelerde und des Kalks, trugen und für die abgelieferten Steine einen festen Betrag erhielten. So war es schon vor einem Menschenalter gewesen, als der Rat den Merten, der vielleicht mit unserem Merten Galle zusammenhängt, zum Ziegler vor dem Stralauer Tor wieder annahm (BUB., S. 447). Merten verpflichtete sich damals, nach Anweisung des Rates allerlei Steine zu streichen und zu brennen und nur ganze Steine, keinen Bruch abzuliefern. Für je 1000 Steine wurden ihm 17 gr. bewilligt. Die Bruchstücke sollte er für sich behalten, aber sie nur dem Rate, natürlich zu einem geringeren Preise, verkaufen dürfen. Für das Löschen eines Ofens Kalk wurden ihm 4 sch. zugesagt, dazu für jeden Brand eine halbe Tonne Bier, Hofgewand und Wohnung wie bisher. Im Stadtbuch sind die Sätze niedriger. Der Ziegler erhielt zu jener Zeit für 1000 Steine 8 Schillinge, gleich 12 gr., während der Torwärter für das Löschen eines Ofens Kalk 30 Schillinge, gleich 45 gr., bekam. Auf ähnlichen Sätzen beruht auch die Abrechnung mit Merten Galle für das Jahr 1505. Er hatte 139 800 Steine gebrannt16, darunter 80 500 Dachsteine, 52 700 Mauer-, 7800 Flur- und 800 Brunnensteine. Als Lohn bezog er 44 sch. 34 gr., rund 19 gr. für 1000 Steine. Sein Kollege Mattis brannte 161 950 Steine, davon 106 700 Dach-, 53 400 Mauer-, 1700 Brunnen- und 150 Hohlsteine, für die er 49 sch. 57 gr. erhielt. Von Nebenbezügen wird nichts erwähnt. Für 1506 wird das Ergebnis des Brennbetriebes nicht angegeben. Zu diesen Ausgaben treten die für das HeranschafFen der in Glindow bei Werder gegrabenen Ziegelerde. Die Rechnungen nennen das Dorf „die Glinde" oder „die Glinge"; es gehörte dem Kloster Lehnin17. Das Heranholen von Ziegelerde und Kalk war die Aufgabe der Prahmführer. Die Stadt besaß eigene Prahme, flache Kähne, von denen der eine, für die „niedere" oder Unterspree bestimmte, nach Glindow fuhr. Im Dezember 1504 wurde die Herstellung eines neuen Prahms dem Prahmmeister Augustin gegen 12 sch., dazu 6 Scheffel Roggen und ein Hofgewand in Auftrag gegeben. Die Zahlung erfolgte in Raten. Im Jahre 1506 erhielt Augustin, der jetzt als Prahmmacher bezeichnet wird, wieder für einen Kahn auf der Unterspree 10 sch., 4 Tonnen Bier und 6 Scheffel Roggen. Eiserne Nägel oder Bolzen wurden ihm geliefert, sie 16 So, und nicht 141 800 muß es heißen; der Schreiber hat bei der Zusammenrechnung des Ergebnisses der sechs Brände sich um 2000 Steine verzählt. 17 Näheres bei Girgensohn im Personen- und Ortsregister.

9*

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kosteten 10 sch. 48 gr. 18 . Mindestens ein Prahm, wahrscheinlich aber beide, hatten ein Segel, für das 1506 Leinwand gekauft wurde. Im Winter wurden die Kähne aus dem Wasser auf das Land gebracht. Den Prahmdienst versahen 1505 der Oberprahmführer Langerhans und die Prahmführer oder Prahmmeister Jakob Kolberg und Hans Fischer. Alle drei erhielten für ihre „Erdreisen" 1505 über 100 sch. Sehr viel billiger war das Graben der Ziegelerde, das 1505 nur 2V% sch. kostete. Manchmal wurde der Prahm vermietet, doch brachte das nicht viel Geld ein. Der Kalk wurde aus den Rüdersdorfer Kalkbergen bezogen, die der Abt von Zinna besaß. Im Jahre 1504 hatte Berlin von dort vier Prahme Kalk geholt, für die der Schreiber des Abtes 22 sch. bezog; im folgenden Jahre wurden für 5 oder 6 Prahme 28 sch. 28 gr. ausbezahlt 18 . Der Gesamtbetrieb der Ziegel- und Kalkbrennerei verschlang einschließlich der Kosten für den neuen Prahm 1505 immerhin 241 seil., mehr als ein Drittel der gesamten Ausgabe. Im folgenden Jahre wurden etwa 339 sch. aufgewandt, fast die Hälfte der ordentlichen Ausgaben. Dem entsprachen sehr erhebliche Einnahmen. Ein genauer Vergleich ist allerdings nicht möglich, weil die fälligen Ausgaben jedes Jahres nicht restlos bezahlt wurden und die Einnahmen nicht regelmäßig eingingen. Doch ist eine Gegenüberstellung trotzdem lehrreich. Im Jahre 1505 wurden 226 sch. und 1507 rund 437 sch. für Steine und Kalk eingenommen; 1507 waren dabei allein 122 sch. alte Schulden. Ein klareres Bild gewährt noch eine von den Ziegelpreisen ausgehende Berechnung. Der Preis für 1000 Dachsteine betrug 1 sch. Wenn wir annehmen, daß die Mauersteine, für die kein Preis genannt wird, ebensoviel wie die Dachsteine kosteten 20 — die Flur- und Brunnensteine fallen kaum ins Gewicht — , so ergibt sich für rund 300 000 Steine des Jahres 1505 eine Einnahme von 300 sch., zu der noch der Erlös aus dem Kalkverkauf kam. Also ein beträchtlicher Überschuß über die Kosten von 225 sch.! Nimmt 18

Die Rechnung spricht von „Zinteln" und Nägeln (S. 49). Zinteln können nicht

mit Girgensohn als „Zacken" erklärt werden, sondern müssen etwas Ähnliches wie Nägel gewesen sein. Grimm bringt das W o r t mit „Sinter" zusammen und zitiert eine Stelle, in der es wie in unserer Rechnung neben Nägeln erwähnt wird. Schiller-Lübbens Erklärung — unter „Sinteln" — mit lateinisch spicus =

Spitze kommt auf

dasselbe heraus. 19

E s wird einmal von 6 und dann wieder von 5 Prahmen gesprochen; die richtige

Zahl dürfte 5 sein. [ 2 0 Hier liegt offenbar eine Verwechslung vor. Die mehrfach genannten Preise für Dach- und Mauersteine — z. B. Girgensohn S. 18—21 — ergeben eindeutig einen Preis von 4 0 gr. für 1000 Dachsteine und 1 sch. für 1000 Mauersteine. Der Preisunterschied ist also erheblich, womit auch Kaebers Folgerungen der Revision bedürfen.]

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man dazu, daß die Stadt für ihre eigenen Bauten die Steine umsonst hatte, so waren Ziegelei und Kalkbrennerei ein sehr lohnendes Unternehmen. Wer bezog nun die Steine, die nicht für städtische Bauten verbraucht wurden? Darüber gibt ein Register Auskunft, das die vom Rechnungsjahr 1504/05 rückständigen Zahlungen für Kalk und Ziegellieferungen notiert. In ihm erscheint zunächst der Kurfürst, der durch seinen Hausvogt 11 700 Dach- und Mauersteine abgenommen und noch nicht bezahlt hatte. Ein Teil der Dachsteine sollte für den „Finkenherd" dienen, den 1486 Kurfürst Johann an der Panke angelegt hatte. Auf eigene Rechnung des Kurfürsten gingen auch die Mauersteine, die der Prior des Domstifts zu Cölln bezogen hatte, und wohl ebenso die dem Dekan des Domstifts gelieferten 3500 Mauersteine, 200 Flursteine und IV2 Wispel Kalk. Die „vitrici" oder Gotteshausleute, die Vorsteher der Kirchen und Hospitäler von Nicolai, Georgen und vom Heiligen Geist, die grauen Mönche und die Kalandsherren ließen sich Steine und Kalk liefern. Die Städte Mittenwalde und Cöpenick und mehrere Cöpenicker Bürger ließen sich einige 20 000 Dachsteine aus Berlin kommen. Eine ganz hohe Rechnung von 43 sch. bezahlte 1507 der Rat von Lüneburg für Steine und Kalk. Die Hauptabnehmer aber waren die Bürger. In dem Schuldregister werden 55 Namen aufgezählt, von denen die Hälfte im Berliner Bürgerbuch als Tuchmacher, Schuster, Bäcker, Fischer, Kürschner, Leineweber, Goldschmiede, Kannengießer, Armbrustmacher, Apotheker, Bader und Barbiere oder ohne Angabe ihres Berufes erscheinen. Unter diesen letzteren waren einige nach Ausweis ihres hohen Bürgergeldes offenbar Krämer; andere, die nur ein geringes Bürgergeld gezahlt hatten, gehörten wohl zu den kleineren Gewerbetreibenden. Daneben fehlen nicht die Namen der Patrizier, und zu ihnen treten einige Geistliche, der Rentmeister Nicolaus Thum und selbst ein Stadtknecht. Fast alle waren sie Abnehmer von Dachsteinen. Wir werden daher die Anschauung aufgeben müssen, als ob die Mehrzahl der Berliner Bürgerhäuser gegen Ende des Mittelalters noch mit Schindeln oder mit Strohdächern gedeckt gewesen seien. Im Gegenteil, wir müssen davon ausgehen, daß die meisten Bürgerhäuser bereits Ziegeldächer besaßen, und daß nur die zahlreichen Buden der kleinen Leute in den Seitengassen und an den Stadtmauern keine feuersicheren Dächer hatten. Ein ganz neues massives Haus baute sich Hans Krewitz, der 26 450 Mauersteine kaufte. Auch Georg Marcus, der spätere Bürgermeister Hans Gröben und der Nagelschmied Hintze hatten sicher steinerne Häuser, für die sie Tausende von Mauersteinen bezogen.

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Das Bild von der äußeren Erscheinung Berlins, das wir durch die Tore und Befestigungsbauten des Rates und durch die Ziegelkäufe der Einwohner gewinnen, wird durch Nachrichten über die Buden im Geckhol ergänzt, dem nach der heutigen Neuen Friedrichstraße zu gelegenen letzten Stück der Klosterstraße. Das Stadtbuch erwähnt schon ein Haus vor dem Geckhol (S. 23). Aber nun wurde das Geckhol selbst, das 1418 durch einen Befestigungsturm abgeschlossen worden war21, durch den Rat mit „Buden", kleinen Häusern ohne Hof, bebaut. Er verkaufte diese zwischen 1504 und 1506 an bescheidene, nicht zu einer Innung gehörende Gewerbetreibende oder an noch kleinere Leute, wie den Tagelöhner Jakob Molner. Anscheinend waren es 16 Häuschen, wenn sich nämlich die Überschrift „im Jeckhale gelegen" auf alle danach genannten Buden bezieht. Sie wurden für 4 bis iVi sch., eine auch für 11 sch., abgegeben, können also nur ganz schlichte Bauten gewesen sein. Regelmäßig wurden die Kaufsummen auf eine Reihe von Jahresraten von 1 bis 2 sch. verteilt, die öfter nicht eingehalten wurden. Ein etwas größeres Besitztum sicherte sich Benedict Malo dadurch, daß er für 12 sch. zwei Buden kaufte und sie zu einer Bude vereinigte. Sie wurden später aber wieder getrennt und die eine durch Malo verkauft. Einmal hören wir auch, was um diese Zeit ein größeres Haus kostete. Der Rat übernahm das einem Bürger Hans Wale, der in den Rechnungen immer Walehans genannt wird, gehörende Haus am Molkenmarkt, das rechtlich auch nur eine Bude war, die jährlich 42 gr. Zins brachte. Der Rat ließ das Haus durch Tagelöhner abreißen, denen er dafür I-V2 sch. bezahlen mußte; von den Dachsteinen wurden 100 wieder verkauft. Der neue Bau aber konnte für 150 Gulden, d . h . für 80 sch., 10- bis 20mal so teuer wie die Buden im Geckhol, durch den Rat abgegeben werden. Von Hans Wale hatte der Rat auch 6 „Rücken" Land übernommen; mit Rücken wurde noch in späteren Jahrhunderten ein Ackermaß bezeichnet. Der Rat verkaufte sie für 19 sch. weiter, bekam also durchschnittlich für einen Rüdken Land 3 gr., etwas weniger als für die kleinsten Buden im Geckhol. Da wir gerade bei Preisen sind, mögen noch einige der wenigen sonstigen Preisangaben aus unseren Rechnungen angeführt werden. Neben den schon erwähnten Preisen von 1 sch. für einen Ochsen, 7 bis 7% sch. für ein Pferd, nennen wir folgende: 1 Bulle 1 sch., 1 Scheffel zum Salzmessen 5 gr., 1 kupfernes Stadtsiegel 6 gr., 2 Buch Papier 4Vz gr., 21

Sehr. V. G. Berlins, H e f t 4, S. 10.

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2 Häute Pergament 8 gr., 1 Spieß 10 gr., 1 Hellebarde 11 gr. und 8 Pfund Büchsenpulver 50 gr. Für das Schwanken der Lebensmittelpreise sind die Ausgaben für Hafer im Laufe des Jahres 1504/05 charakteristisch. Während vom 29. November 1504 bis zum 7. Juni 1505 der Preis für einen Scheffel stets der gleiche zwischen 5,4 und 5,5 gr. geblieben war, war er Mitte September 1505 auf 2,5 und am Ende des Monats auf 2,2 gr. gesunken. Sehr gering war die Bezahlung von einfacher Handarbeit: ein Tagelöhner bekam für zehntägiges Holzhauen nur 12 gr. Seit die deutschen Städte im späteren Mittelalter sich zu selbständigen Gemeinwesen entwickelt hatten, war ihnen die Notwendigkeit eines Berufsbeamtentums zur Unterstützung der ehrenamtlichen Ratsmitglieder zum Bewußtsein gekommen. Zu Ende des 14. Jahrhunderts besaß Berlin eine Anzahl von Beamten, deren Aufgaben und Gehälter wir durch das Stadtbuch kennen (S. 27 f.). Alle schriftlichen Arbeiten erledigte der Stadtschreiber gegen ein Gehalt von 5 sch. und eine Beihilfe von 1 sch. 15 gr. für sein Sommer- und sein Wintergewand. Aus der gemeinsamen Kasse Berlins und Cöllns erhielt er 25 Schillinge, sobald die direkte Steuer, der Schoß, ausgeschrieben wurde. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war sein Gehalt noch das gleiche, nur 1 sch. „Holzgeld" für die Heizung seiner Wohnung war hinzugekommen. Vom Schoß wird in unseren Rechnungen nicht gesprochen, da er offenbar auch jetzt gemeinsam durch die beiden Städte verwaltet wurde. Wahrscheinlich war der Stadtschreiber nicht nur auf sein Gehalt angewiesen, sondern bezog daneben Einkünfte aus einer geistlichen Pfründe. Den Dienst an den Toren besorgten die Torwärter. Im 14. Jahrhundert waren es drei, 1505 werden zwar nur zwei, der am Oderberger und der am Spandauer Tor, genannt, aber selbstverständlich konnte das Stralauer Tor nicht ohne Wärter sein. Er verbarg sich nur unter einer anderen Bezeichnung, nämlich der als „oberster Knecht". Schon im Jahre 1466 war der Torwärter am Stralauer Tor zugleich oberster Knecht (St. B. S. 91), und noch das aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammende Eidebuch Berlins spricht von einem „obersten Knecht am Stralauer T o r " im Gegensatz zu dem „Diener am Georgentor" 22 . Die Änderung der Amtsbezeichnung mag durch die Ausbildung des Stadthofes, der am Stralauer Tor lag, veranlaßt worden sein. Gegenüber dem 14. Jahrhundert hatten sich die Gehaltsverhältnisse der Torwärter etwas

22

Eidebuch Berlin, S. 111.

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verschoben. Die sogenannten „Lederpfennige", eine Abgabe der Tuchmacher, bezog nicht mehr der Stralauer, sondern der Oderberger Torwärter, der von ihm auch die Bedienung der Wollwaage übernommen hatte. Das Kalklöschen besorgte neben dem obersten Knecht der Spandauer Torhüter. Der Marktmeister war vor allem auf die Gebühren angewiesen, die aus der Beaufsichtigung des Marktverkehrs und der Maße und Gewichte flössen. Audi 1505 erhielt er aus der Kämmerei nur Holzgeld. Unter den Marktmeister und die drei Torwärter waren im 14. Jahrhundert die vier Stadtviertel aufgeteilt. Jeder sammelte in seinem Viertel am Johannistag und zu Weihnachten von jedem vollberechtigten Bürgerhaus, jedem „Erbe", 1 Pfennig und von jeder Bude V2 Pfennig ein. Von dem Ertrag bekam jeder 14 Schillinge n 21 gr. Dieser Einnahme dürfte das Wochen- oder Hausgeld entsprechen, das im 16. Jahrhundert in der Höhe von 1 sch. 18 gr. jährlich unter die Stadtdiener verteilt wurde. Für den Wachdienst war der Wachsetzer verantwortlich, der 1505 zugleich die Stadtwaage und die Fleischscharren unter sich hatte. Vor den Toren sorgte der mit 8 sch. besoldete Heidereiter für Beobachtung aller der Vorschriften, die zum Schutze des Eigentums der Stadt erlassen waren. Wie die Torwärter bezog er ein Holzgeld von 48 gr. Im Stadthof wirkten die beiden Wagenknechte, der oberste und der unterste. Ihre Einkünfte aus der Kämmerei waren sehr gering, während das Stadtbuch schon für den „Unterwagentreiber" ein Gehalt von 4 sch. ausgesetzt hatte. Sie werden wohl noch andere Nebeneinnahmen gehabt haben als den Verkauf des Mistes, der dem Oberwagenknecht zustand. Denn dies war für ihn ein so mäßiges Geschäft, daß ihm die Stadt 1505 eine Zulage zu dem spärlichen Erlöse bewilligte. Andere Verwaltungsbeamte, wenn wir dies moderne Wort anwenden dürfen, nennen weder das Stadtbuch noch die Stadtrechnungen. Die im 14. Jahrhundert ausgebildete Verwaltungsorganisation genügte noch den Bedürfnissen des beginnenden 16. Jahrhunderts. Neu war nur die Ausdehnung, die der Ziegeleibetrieb angenommen hatte. Aus dem einen Ziegelhof waren zwei Ziegeleien geworden, statt eines Zieglers hatte man zwei, und für das Heranschaffen der Rohstoffe brauchte man einen Oberprahmführer und zwei Prahmmeister. Der Oberprahmführer sorgte auch für die Zufuhr von Holz aus Woltersdorf, das sicher als Feuerung für die Ziegelei bestimmt war. Schließlich unternahm er auch Fahrten, um Sand heranzuholen. Da eine dieser Fahrten als „Cöpenickreise" bezeichnet wird, werden in dieser Stadt die Sandgruben Berlins gelegen haben.

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Das Beamten Verhältnis war im 16. Jahrhundert noch weit von dem unserer Zeit entfernt. Die Stadtdiener waren nicht lebenslänglich angestellt, sondern wechselten, abgesehen von dem Stadtschreiber, ziemlich häufig. So wurde der „oberste Knecht" Valentin Ostern 1506 durch Hans Meißner ersetzt. Der „oberste Wagenknecht" Simon, der seine Stellung erst zu Michaelis 1504 angetreten hatte, wurde Weihnachten 1505 durch Peter Ertman abgelöst; der Unterwagenknecht Peter Bahne erhielt Weihnachten 1504 einen Nachfolger, der schon Ende 1505 wieder ausschied. Auch der Wachsetzer Lukas Fuchs war Michaelis 1504 neu in sein Amt gekommen. Die übrigen, vor allem die „technischen" Angestellten, blieben von Michaelis 1504 bis Ende 1506 auf ihren Posten. Die Stadt hatte für ihre Diener eine offene Hand. Sie gewährte Valentin eine Zulage von 2 sch., sie schenkte Ertman 16 gr. für ein Paar Stiefel, gab dem Oberprahmführer Langerhans ein Trinkgeld von 30 gr., weil er mit seinem Lohn für die Holzfahrten nicht hatte auskommen können, und sie kaufte 1506 den Wagenknechten, die im Stall schliefen, für 1 sch. gr. ein Bett. Wenden wir uns von den Bauten, den Betrieben und den Beamten der Stadt zu den Bürgern, so werden wir aus den Rechnungen keine große Ausbeute erhoffen können. Und doch geben sie uns einen sehr wertvollen Aufschluß über die Stärke der drei großen alten Gewerke der Bäcker, Schuhmacher und Tuchmacher. Sie hatten jährlich eine bestimmte Abgabe zu zahlen, aus deren Ertrag sich die Zahl der Meister berechnen läßt. Jeder Bäcker und Schuster zahlte vierteljährlich 12 Pfennige, genau so viel wie zur Zeit des Stadtbuches. Aus den Summen, die 1505 und 1507 in die Kämmerei flössen, ergibt sich für die beiden ersten Quartale des Jahres 1505 eine Zahl von 12, für die beiden letzten Quartale von 13 und für das Jahr 1507 von 15 Bäckern. Erheblich stärker, mit 28 bis 32 Meistern, war das Schuhmachergewerk besetzt. Dies lag daran, daß noch viel Brot im Hause gebacken wurde, während die Schuhmacher auch für den Export arbeiteten. Wir besitzen dafür ein ausdrückliches Zeugnis in einer Urkunde vom Jahre 1444, in der Kurfürst Friedrich II. den Schuhmachern von Berlin und Cölln das Recht bestätigte, mit ihren Erzeugnissen den in der Fastenzeit am Sonntag Reminiszere in Frankfurt a. O. abgehaltenen Jahrmarkt zu beziehen (BUB. S. 388). Von den Tuchmachern wurde zweimal jährlich das schon im Stadtbuch erwähnte „Ledergeld" von 5 Pfennigen für jeden Meister erhoben, aus dessen Gesamtbetrag wir für 1505 auf 11, für 1507 auf 12 Tuchmacher schließen können. Auch ihre Zahl deutet darauf hin, daß sie

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nicht nur den heimischen Bedarf an Landtuch deckten, sondern ihre Erzeugnisse auch auswärts absetzten23. Für die Fleischer gibt uns das Stadtbuch die Zahl von 42 Knochenhauern und 3 Wurstmachern an, eine Zahl, die durch ihre Höhe überrascht. Aus einer späteren Stelle des Stadtbuches erfahren wir, daß Berlin zu Anfang des 15. Jahrhunderts 30 Fleischscharren besaß (Stadtbuch, S. 18 und 254). Aus den Stadtrechnungen läßt sich dagegen nichts für die Stärke des Gewerks entnehmen. Auch sonst sind hier die Mitteilungen über die Knochenhauer und die Küter — Fleischer, die zugleich Wurstmacher waren —: wenig klar. Was sich aus ihnen herauslesen läßt, hat Girgensohn in seinem Sachverzeichnis zusammengestellt. Einen Beitrag zum Gastrecht der fremden Kaufleute liefert uns die Notiz, daß 1507 Paul Goltbeke 2 sch. 40 gr. „gutwillig" dem Rate dafür zahlte, daß er sich eine Zeitlang in Berlin hatte aufhalten und „des Marktes genießen" können. Im Berliner Schöffenbuch kommt Goltbeke im Jahre 1506 als Bevollmächtigter des Frankfurter Bürgers Vith Schacht vor, dem die Witwe des Claus Grieben 72 Gulden schuldete24. Ihres Zinses wegen fanden auch die Juden Aufnahme in die Rechnungen. Die Stadt hatte mit ihnen kürzlich einen neuen Vertrag über die von ihren Buden zu zahlenden Abgaben geschlossen. Die Budenbesitzer waren nur ein bescheidenes Häuflein, vier Männer und eine Frau; einem von ihnen, Salomon, gehörten zwei Buden, eine große und eine kleine. Der Zins der großen Bude betrug 2 sch. 16 gr., während von der kleinen nur 48 gr. und von den übrigen Buden 56 bis 64 gr. gezahlt wurden. Eine Bedeutung für die städtischen Finanzen hatte dieser Zins kaum. Doch lebten damals außer den Budenbesitzern noch andere Juden in Berlin. Im Berliner Schöffenbuch werden noch ein großer und ein kleiner Jacob, Samson, Helias und die Frauen des Helias und eines Lewin genannt. Die Stimmung aber, die nicht nur unter den Schuldnern der Juden, sondern auch in amtlichen Kreisen herrschte, spiegeln zwei Eintragungen des SchöfFenbuches wider. Unter dem 29. März 1503 23 Bei allen drei Gewerken ergibt sich bei der Berechnung gelegentlich eine kleine Ungenauigkeit, die indessen für das Resultat ohne Bedeutung ist. Als Beispiel für die Umrechnung diene die Angabe über den Bäckerzins im Jahre 1507 (S. 102): es sind zu zahlen von jedem Bäcker 4 X 12 Pfennige = 48 Pfennige = 6 gr.; alle zusammen zahlen 2 X 45 = 90 gr.; 90 : 6 = 15. 24 Berl. Schöffenbuch, S. 54. Vith Schacht stand in verwandtschaftlichen Beziehungen zu Hans Krewitz, einem der größten Weinhändler Berlins, der im Juli 1506 als gestorben erwähnt wird.

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wird Helias als Schuldner eines Meisters Jürgen genannt und dabei ohne jeden ersichtlichen besonderen Grund als „perfidissimus judaeus", als ganz treuloser Jude, bezeichnet! Ebenso heißt unter dem 5. Juli Samson, der als kleiner Gläubiger des Goldschmieds Hans Schulte erscheint, „perfidissimus jude". Etwas anders liegen die Dinge, wenn im Januar 1505 ein nicht genannter Jude ebenfalls als „perfidus" bezeichnet wird, denn ihm wurde der Vorwurf gemacht, daß er Hans Manholt schwer verleumdet hätte. Die Judenschule, die Synagoge, ging wohl eben damals ein. Im Jahre 1507 wurde sie durch den Rat an Claus Veger für 4 sch. verkauft. Der geringe Preis zeigt, daß es sich nur um ein dürftiges Gebäude gehandelt haben kann. Dieser Veger oder Veyer war eine interessante Persönlichkeit, ein Leierspieler, der sich mit seiner „Lyra", einem im Mittelalter häufig genannten, in unseren Berliner Quellen aber sonst nicht begegnenden großen Saiteninstrument, in der alten Judenschule niederließ. Er hat dort noch ziemlich lange gewohnt. Gleichzeitig mit ihm kaufte die Frau oder Witwe eines Steffan Palack, wohl die gleiche, die 1461 unter dem Namen Palackyn das Bürgerrecht erworben hatte, die Bude bei der Judenschule. Und nun werfen wir noch einen Blick auf den Stadthaushalt im ganzen! Einnahmerechnungen sind nur für die Jahre 1505 und 1507 erhalten. Das Gesamtergebnis der ersteren weicht mit 679 sch. 35 gr. stark von dem der zweiten mit 1103 sch. 9 gr. ab. Die Hauptgründe dafür sind die verschiedene Höhe des Vortrages und der Einnahmen aus der Biersteuer und den Erträgen der städtischen Ziegelei. Das Jahr 1505 wurde mit einem Barbestand von 16 sch. 41 gr. angetreten; 1507 dagegen mit einem Bestand von 177 sch. 28 gr. Es muß demnach im Jahre 1506 ein ungewöhnlich hoher Überschuß erzielt worden sein. Das Jahr 1505 selbst schloß nur mit einem Bestand von knapp 20 sch. ab. Aus seinem Anteil an der Biersteuer erhielt Berlin 1505 rund 111 sch., dagegen 1507 167 sch. Der Kalk- und Ziegelverkauf schließlich ergab 1507 ein Plus von 210M> sch. gegenüber dem Jahre 1505. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß dieser erstaunliche Unterschied weniger in einer so viel höheren Produktion als in dem unregelmäßigen Eingang der Zahlungen begründet war. Diese drei Posten allein hoben die Einnahme von 1507 um 426% sch. über die des Jahres 1505. Rechnen wir diese Zahl zu der Summe der Einnahme von 1505 hinzu, so erhalten wir 1106 sch., noch ein wenig mehr als bei dem Abschluß des anderen Jahres.

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Diese fast völlige Gleichheit gibt nun freilich doch noch kein richtiges Bild, denn in beiden Rechnungen sind nicht nur ordentliche, sondern auch außerordentliche Einnahmen enthalten. So wurden 1505 aus dem Verkauf der Buden im Geckhol nur 3 sch., 1507 dagegen 15 sch. erzielt. Vor allem aber wurden 1505 Anleihen in Höhe von fast 177 sch. aufgenommen, während 1507 Berlin aus der gemeinsamen Berlin-Cöllner Kasse 91V2 sch. zuflössen. Da 1505 zugleich eine Kapitalschuld von 80 sch. getilgt wurde, blieb nur ein Anleiheertrag von 97 sch. übrig. Die außerordentlichen Einnahmen des Jahres 1507 übertrafen daher tatsächlich die des anderen Jahres um 7V2 sch. Sehen wir uns die Ergebnisse beider Jahre mit Ausschluß der schon erwähnten ordentlichen und außerordentlichen Posten an, so begegnet uns eine Fülle von kleinen Einnahmen, die wir im folgenden meist auf ganze oder halbe sch. abgerundet zitieren wollen. Die Unterschiede, die auch hier fast überall auftauchen, beruhen vielfach auf der lässigen Zahlung selbst durchaus feststehender Abgaben. Ganz unregelmäßig laufen die Schuldzinsen für ausgeliehene städtische Kapitalien ein. Sie hätten 6 sch. 15 gr. einbringen sollen, ergaben aber 1505 nur 3 sch. 15 gr. und 1 sch. rückständige Zinsen und 1507 überhaupt nur 3 sch. alte Zinsen. Buden- und Mertenszins brachten 1505 einschließlich der Rückstände 43 sch., 1507 außer 4 sch. Rückständen noch 40 sch. Die Salzhalle zahlte 1505 nur die Hälfte ihrer Gebühren, 1507 gar nichts, während die Garbude beide Male ihre 2 sch. 40 gr. abführte. Der Judenzins, der 1505 noch 4V2 sch. ergab, fiel 1507 ganz aus. Am rücksichtslosesten ließen sich die Bürger bei der Entrichtung des auf ihren Äckern und Wiesen ruhenden Zinses gehen. Selbst Angehörige des Patriziats blieben ihn jahrelang schuldig. Das kam zum Teil von der Geringfügigkeit des Zinses, der in eine Zeit sehr viel höheren Geldwertes, in die Zeit der Stadtgründung, zurückging. In der Ubersicht über die Einnahmen an Landzins aus dem Jahre 1505, die uns in einer Sonderrechnung erhalten ist, und in dem entsprechenden Teil des Einnahmeregisters von 1507 kommen mehr Pfennig- als Groschenbeträge vor. Leider wird fast nie gesagt, ob es sich dabei um Acker- oder um Wiesenzins handelt. Nur so viel läßt sich aus einzelnen Angaben schließen, daß im allgemeinen der Ackerzins erheblich höher war. Er betrug z. B. bei der Hufe des Andres Kothe 5 gr. Der Rat von Cölln zahlte für seine Hufen 40 gr. Es wird sich dabei um die auf cöllnischem Gebiete liegenden 14 Hufen handeln, die nach dem Stadtbuch ursprünglich zu Berlin gehörten und daher dem Rate von Berlin Zins zahlten (St. B. S. 24). Damals betrug dieser 2 Schillinge = 3 gr. von jeder Hufe, zusam-

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men 42 gr., also fast genau so viel wie 1507. Bei der Einnahme von 1505 wird nur ein ganz kleiner Betrag für alten Land- und Wiesenzins angeführt, obgleich nach dem Sonderregister eine Anzahl von Zahlungen erfolgt ist; 1507 wurden bei 220 Zahlungspflichtigen und 105 wirklichen Zahlungen 8 sch. 16 gr. eingenommen. Der Landbesitz befand sich fast ausschließlich in der Hand von Bürgern oder von Angehörigen des Rates. Beinahe alle in den Listen vorkommenden Personen lassen sich im Bürgerbuch oder als Angehörige der Patriziergeschlechter nachweisen, deren Mitglieder das Bürgerrecht nicht zu erwerben brauchten25. Verschieden gestalteten sich selbstverständlich in jedem Jahre die Einnahmen aus dem Bürgergeld, das 1505 nur 8 sch., 1507 fast 28 sch. brachte, aus dem Abschoß, einer Steuer, die beim Ubergang von bürgerlichem Besitze an Nichtbürger erhoben wurde, 16 bzw. 6% sch., aus dem Setzwein 7 bzw. 9 sch., aus dem Stättegeld, der Stadtwaage, dem für das Lagern von Holz erhobenen Platzgeld und dem Stadtkeller, für die wir die Zahlen schon früher mitgeteilt haben. Die Ausgaben der Jahre 1505 und 1506 schlössen mit 679 sch. 35 gr. und mit 877 sch. 37 gr. ab. Auch hier wurde zwischen ordentlichem und außerordentlichem Haushalt nicht geschieden. Im Jahre 1505 wurde den Domherren zu Fürstenwalde eine Schuld von 80 sch. zurückgezahlt und 20 sch. 50 gr. wurden auf neue Rechnung vorgetragen. Als ordentliche Ausgaben bleiben daher rund 579 sch. Dabei sind die Aufwendungen für die Heerfahrt nach Lübeck unter die ordentlichen Ausgaben geredinet worden. Im folgenden Jahre wurden 90 sch. Kapitalschulden abgezahlt, zum größten Teil mit Hilfe zurückgezahlter Anleihen städtischer Schuldner, 15 sch. Mündelgelder ausgeliehen und 177 sch. 28 gr. vorgetragen. Die ordentliche Ausgabe betrug demnach 595 sch., überstieg also nicht erheblich die des Vorjahres. Unter den Ausgaben, über die wir ja zum größten Teile schon in anderem Zusammenhang gesprochen haben, nehmen die für die Ziegelei- und Kalköfenbetriebe die erste Stelle ein. Es folgen die den Bauherren zur Verfügung gestellten Gelder mit 73 bzw. 93 sch., die Gehälter mit 49 bis 50 sch., die Aufwendungen für die Leibrenten, die sich Bürger durch Hergabe eines Kapitals bei der Stadt zu kaufen pflegten, die Kosten für die Ratsversetzung und die S5

Den Nachweis hierfür hoffe ich, im Zusammenhang mit Untersuchungen über die ältesten Bürgerbücher Berlins und Cöllns an anderer Stelle führen zu können. [Im Ansatz enthalten in seiner Einleitung zu den von ihm hrsgg. Bürgerbüchern und Bürgerprotokollbüchern Berlins von 1701—1750. Berlin 1934.]

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Ausgaben für den Stadthof, unter denen der große Haferankauf des Jahres 1506 eine Sonderstellung einnimmt. In diesem Jahre wurden auch die Zinsen für Schulden, die Berlin und Cölln gemeinsam gemacht hatten, in die Kämmereirechnung aufgenommen, obgleich sie in die für diese Verwaltung geführte Sonderrechnung gehört hätten. Alle Ausgaben, die nicht unter einen besonderen Titel gehörten, wurden als „exposita generalia", als allgemeine Ausgaben an die Spitze der Rechnungen gesetzt. Wir haben ihnen zahlreiche Einzelheiten für unsere Schilderungen der Zustände Berlins entnehmen können. Der Gesamteindruck, den wir von den Finanzen Berlins in den Jahren 1505 bis 1507 gewinnen, ist ein günstiger. Wenn auch die Rechnungsführung und vor allem die Beitreibung von Außenständen manches zu wünschen übrig ließ, wenn auch die ordentliche Rechnung für 1505 mit einem erheblichen Fehlbetrag abschloß, so wurde dieser doch spätestens 1507 durch schärfere Heranziehung der säumigen Schuldner wieder gutgemacht. Wie der hohe Uberschuß, der in der Ausgaberechnung von 1506 erscheint, zustande gekommen ist, ob nicht auch bei ihm Anleihen eine Rolle gespielt haben, wissen wir leider nicht, da uns die Einnahme dieses Jahres fehlt. Auch insofern bleiben die vier erhaltenen Rechnungen lückenhaft, als unabhängig von ihnen die Rechnung über die gemeinsamen Einnahmen und Ausgaben Berlins und Cöllns geführt wurde, von der uns nicht einmal ein Bruchstück erhalten ist. Sie allein könnte uns einen Einblick in die Bewirtschaftung der städtischen Güter gewähren, die erst später zwischen Berlin und Cölln aufgeteilt wurden. Durch sie würden wir auch erfahren, in welcher Höhe damals der Schoß, die Grund- und Vermögensteuer, erhoben wurde, die im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts zu einer so schweren Belastung der Bürger werden sollte. Daran, daß ein Schoß erhoben wurde, werden wir nicht zweifeln können. Aus ihm wurde die direkte Landessteuer, die Orbede, bestritten, über die aber unsere Rechnungen schweigen. Auch das Beispiel Frankfurts a. d. O., von dem uns Auszüge über die Schoßeinnahmen für die Zeit von 1400 bis 1571 erhalten sind, führt zu dem gleichen Schluß26. Nur 134 Druckseiten nehmen die uns erhaltenen Rechnungen Berlins aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit allen ihren Listen und Beilagen ein. Und doch konnten wir mit ihrer Hilfe das Bild, das wir uns von dem Berlin dieser Zeit bisher machten, reicher und farbiger ausmalen. Indem wir nun Abschied von diesen ehrwürdigen Zeugnissen 28

Riedel, D I, S. 321 ff.

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unserer Vergangenheit nehmen, sagen wir noch einmal aufrichtigen Dank ihrem Herausgeber, der sich durch hohes Alter und oft versagende Gesundheit nicht hat abhalten lassen, die vor Jahrzehnten begonnene Arbeit zu einem glücklichen Abschlüsse zu führen.

Vormärzlicher Liberalismus in Berlin Wenn irgendwo in Deutschland, so hatten in Berlin die Karlsbader Beschlüsse über Zensur und Presse vom Jahre 1819 die Vernichtung der öffentlichen Meinung zur Folge. Die Vossische wie die Spenersche Zeitung, durch das neu begründete Oberzensurkollegium nachdrücklich verwarnt, verzichteten auf jede selbständige politische Äußerung. Das Berliner Bürgertum hatte genug zu tun mit wirtschaftlichen Sorgen, es sehnte sich kaum nach anderer Betätigung im Staat als der Teilnahme an der städtischen Verwaltung, die ihm die große Zeit der Reform fast wider seinen Willen geschenkt. In diese Ruhe brachte die Julirevolution, die den Bourbonen für immer Frankreichs Krone raubte, die erste Erschütterung. Zwar die sogenannte Schneiderrevolution, die im September 1830 vier Tage lang die Bürger Berlins ängstigte, war ein Krawall ohne politische Bedeutung. Aber zum ersten Male seit einem Jahrzehnt regten sich die Zeitungen und bewiesen eine Anhänglichkeit an „verwerfliche Prinzipien", die das Oberzensurkollegium bedenklich machte. Die Bewegung griff im nächsten Jahre auf eine wissenschaftliche Zeitschrift über, in der die preußische Verwaltung der jüngsten Jahre scharf kritisiert wurde, und pflanzte sich fort in die Wochenschriften „Till Eulenspiegel" und „Berliner Figaro", die der junge Oettinger in Saphirscher Manier redigierte. Doch dabei blieb es auch. Ein neuer Zensor und der Befehl des Ministeriums an ihn, sein Amt mit Strenge zu verwalten, sorgten schnell dafür, daß die schüchternen Flämmchen des Berliner Liberalismus erstickt wurden und daß statt der Politik wieder das Theater Geist und Gemüt des Publikums ausfüllte. Auch der „Berliner Figaro" ward zahm und mit ihm sein Redakteur. Und wer irgend ein freieres Wort dem Zensor vorzulegen unternahm, dem ging es wie Willibald Alexis, der als Redakteur des altangesehenen „Freimütigen" im Unmut über alle Striche der Zensur und die Erfolglosigkeit jeder Apellation dagegen sich schließlich mit bitteren Worten an den geistvollen Kronprinzen wandte. Es nützte ihm wenig, daß er die Erlaubnis erhalten hatte, auch politische Ereignisse zu behandeln. Ein eigenes Urteil, das im Inland oder Ausland irgendwie hätte anstoßen können, ward auch ihm nicht gestattet. Und damit nicht durch Bücher der gefährliche Geist der Auflehnung

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gegen die bestehenden Zustände und Anschauungen verbreitet würde, schritt die preußische Regierung mit den bekannten, viel gescholtenen Maßregeln gegen das „junge Deutschland" ein. Freilich wurde Gutzkows „Wally" trotz des polizeilichen Verbotes in Berlin von Hoch und Niedrig mit glühendem Eifer gelesen. Im Jahre 1836 schrieb Theodor Mündt: „Berlin könnte etwas sein, aber es ist nichts." Eine Änderung erwartete er nur von gewaltigen, blutigen Ereignissen, von einem Kommen des Engels der Geschichte unter Donner und Blitz. — Es schien, als ob so revolutionäre Dinge unnötig seien. Als vier Jahre nach Mündts Prophezeiung König Friedrich Wilhelm III. die Augen schloß und sein Sohn den Thron bestieg, hoffte die Welt von diesem Wechsel so tiefgreifende Wandlungen, wie sie sonst nur große Waffenbewegungen auszulösen pflegen. Es waren nicht die Liberalen allein, die hoffnungsvoll den neuen Herrn begrüßten. Auch konservative Kräfte dachten, sich stärker und freier regen zu können als unter dem Verstorbenen, in dessen letzten Lebensjahren es so schien, als sei das ganze Räderwerk des inneren und äußeren politischen Lebens eingeschlafen und unfähig eines kräftigen Entschlusses. Aber hinaus in die Öffentlichkeit traten doch zuerst die, welche, so lange wirklich unterdrückt, durch den Umschwung aus dem Nichts zu den Führern einer neueren Zeit werden wollten: die liberalen Schriftsteller. Berlin stellte sich für einen Augenblick an die Spitze der geistigen Bewegung, während Ostpreußen die Führung in der Politik an sich riß. Der junge Berliner Oberlehrer Karl Friedrich Koppen eröffnete den literarischen Feldzug mit einer glänzend geschriebenen Broschüre „Friedrich der Große und seine Widersacher", die an der Spitze die Widmung trug: Meinem Freunde Karl Heinrich Marx in Trier. Die hundertjährige Feier der Thronbesteigung des größten preußischen Königs erhielt für Koppen durch das Ableben Friedrich Wilhelms III. ein unmittelbares praktisches Interesse. Friedrich hatte als schaffender und wissender Heros, „geweiht in den Eleusinien der Aufklärung", im Kampfe gegen die geistlichen und weltlichen Mächte der Finsternis seinen Staat geschaffen und als ein Moses bis an das verheißene Land geführt. Jetzt galt es, sein Werk fortzusetzen in seinem Sinne: „Der Himmel ruht nicht sicherer auf den Schultern des Atlas als Preußen auf der zeitgemäßen Fortentwicklung der Grundsätze Friedrichs des Großen!" Koppen hatte seine Jubelschrift in Leipzig unter der milderen sächsischen Zensur drucken lassen. In Berlin selbst verlegt wurde ein Buch, 10

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das gleich darauf erschien und in seinem Schlußteil noch energischer sich an die Person Friedrich Wilhelms I V . wandte als den Führer in der kommenden Entscheidungsschlacht für die Schaffung einer neuen Welt, die „Genesis eines höheren Gottesreichs auf Erden". Heinrich Beta 1 , der später eine Rolle in der Berliner Bewegung gespielt hat und nach der Revolution in England ein Asyl suchen mußte, war der Verfasser dieser Schrift, die an Kühnheit alles in Berlin Gedruckte weit hinter sich ließ. Es war das erste Erzeugnis der junghegelschen Schule in Berlin, jener Schule, die aus der dialektischen Methode und aus den Grundideen des Meisters selbst eine Waffe für den politischen Tageskampf schmiedete. Noch freilich ward dem Kecken die Waffe schnell aus der Hand geschlagen! Das „Jubeljahr 1840 und seine Ahnen" wurde beschlagnahmt, der Zensor zur Verantwortung gezogen. Dem Auftakt folgte im Jahre 1841 ein Unternehmen der Berliner Liberalen, von dem sie eine weiter und tiefer wirkende Beeinflussung der Hauptstadt erwarten durften. Eine Monatsschrift, für die der protestantische Pfarrersohn Karl Riedel aus Franken schon im Frühjahr 1840 in Berlin eine Konzession erbeten hatte, war noch vor ihrem Erscheinen in eine liberale Wochenschrift umgewandelt worden, deren erstes Heft am 2. Januar 1841 herauskam. Sie sollte im Gegensatz zu der Menge der Berliner belletristischen Zeitschriften, deren innerer Wert gering war, wissenschaftlich und künstlerisch höheren Ansprüchen genügen. Vor allem aber zeichnete eins das neue Blatt aus: es widmete sich nicht nur der Literatur und dem Theater, der Philosophie und Geschichte, sondern ebenso staatlichen und volkswirtschaftlichen Fragen, und es behandelte sie alle im Sinne eines mehr oder minder junghegelianisch gefärbten Liberalismus. Für diesen war im Gegensatz etwa zu den Ideen Wilhelms von Humboldt die allumfassende Bedeutung charakteristisch, die er dem Staat als dem Vollender der Menschlichkeit zuwies. Dieser Staat sollte konstruiert werden nach den philosophischen Kategorien Hegels, als die Verwirklichung des sich zur Freiheit entwickelnden objektiven Geistes, der sich im Selbstbewußtsein offenbart. Riedel selbst hatte schon während der Vorbereitungen für das „Athenäum", wie er sein Blatt nannte, in einem Büchlein über Staat und Kirche sich über seine Stellung zu den philosophisch-politischen Grundfragen ähnlich geäußert. Auf derselben Basis stand sein Hauptgehilfe, der bald die Seele des Unternehmens wurde, Dr. Eduard Meyen, ein Freund des Hauptes der junghegelschen Schule, des Herausgebers der [' Pseudonym für Dr. Bettziech.]

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Hallischen Jahrbücher, Arnold Rüge. Meyen war ein ausgezeichneter Journalist, der mit allgemeiner Bildung ein feines literarisches Urteil und einen immer lebendigen Stil vereinte. Seine Mitarbeiter, Ludwig Buhl, Dr. Frantz, Nauwerk, Heß und andere teilten seine Gesinnung, auch darin, daß sie jeden Angriff auf Preußen — selbst in versteckter Form — unterließen. Die Energie der Kritik richtete sich nur gegen die kirchlichen und politischen Gegner Hegels und gegen die selbstgefällige, witzelnde, unpolitische Art Heines und seiner Gesinnungsgenossen unter dem „jungen Deutschland". Wenn Friedrich Wilhelm IV. und seine Ratgeber wirklich eine freie öffentliche Meinung in den Grenzen anständiger Form gewünscht hätten, so hätte das Athenäum bei seiner geschickten Leitung eine bleibende Bedeutung für Berlin gewinnen können. Aber die Minister des Innern und der geistlichen Angelegenheiten, Rochow, später Graf Arnim, und Eichhorn waren davon weit entfernt und der König viel zu leicht durch Tadel oder Widerspruch verletzt, um die selbstverständlichen Folgen freieren politischen Lebens ertragen zu können. So geschah es, daß nach einjährigem Bestehen das Athenäum einging, weil sein Herausgeber aus Berlin verwiesen wurde als Teilnehmer an jener Serenade für den liberalen Abgeordneten Welcker aus Baden, die ein so unliebsames Aufsehen gerade beim Könige hervorrief. Es half dem Verleger nichts, daß er an Riedels Stelle Dr. Meyen als Redakteur vorschlug; ihm wurde bedeutet, daß gegen Meyens Qualifikation gerechtfertigte Bedenken vorlägen. Für diese Ablehnung war Meyens Zugehörigkeit zur Partei der Hallischen Jahrbücher entscheidend. Die Folge war, daß Meyen sich immer mehr radikalen Ansichten zuwandte, wegen Majestätsbeleidigung 1847 zu zwei Jahren Festung verurteilt und in den Revolutionsjahren als Redakteur einer der gefährlichsten Feinde der Regierung wurde. Eben in den Tagen, in denen sich das Schicksal der ersten liberalen Zeitschrift Berlins entschied, erging eine Kabinettsorder, die der Zensur engere Schranken ziehen, von den Schriftstellern den drückendsten Zwang nehmen wollte! Es begann das Jahr, das der preußischen Presse eine noch nie gewesene Freiheit brachte, das im Osten den Aufstieg der Königsberger Zeitung, im Westen den Radikalismus der Rheinischen Zeitung sah. Dahinter blieb die Entwicklung in Berlin zurück — nicht so sehr, weil hier kein Boden für eine entschieden liberale Presse gewesen wäre, als weil die unmittelbare Aufsicht der Zensurminister und des Königs den Ton notwendig dämpfen mußten. Daß man die Bedeutung des neuen Zensurzirkulars in dem fortgeschrittensten Berliner Literatenkreise, der unter dem Namen der „Freien" bekannt wurde, 10*

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sofort begriff, beweist eine Broschüre Ludwig Buhls über den Beruf der preußischen Presse. Es war eine Kampfschrift, aber noch voll Hoffnung auf Preußen, voll Wärme für den Staat überhaupt, bedeutsam dadurch, daß sie die philosophischen und religiösen Kämpfe als ein Glied in der Kette der großen politischen Gegensätze auffaßte. In der Tat wurde jetzt alles politisch, der Streit zwischen dem nach Berlin berufenen Schelling und den Schülern und Erben Hegels, die Feindschaft zwischen der Orthodoxie und der kritischen Theologie, die in Bruno Bauers Schriften ihre energischste Ausprägung fand, die Stellung der Volksschullehrer, die Reform des Judentums und die völlige Emanzipation seiner Angehörigen. Buhl selbst suchte im Herbst 1842 in den losen Heften seines „Patrioten" diese Ideen in Verbindung mit konstitutionellen Gedanken in Berlin zu verbreiten, bis ihm trotz seines maßvollen Tones der Zensor die Druckerlaubnis für das fünfte Heftchen versagte. Boshafter war Buhls Schriftchen über die Not der Kirche und die christliche Sonntagsfeier. Offenbar angeregt durch Bruno Bauers geistvolle Persiflage „Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten" verhöhnte er im Gewände eines feurigen Glaubenseiferers die von den Orthodoxen gewünschten strengeren Vorschriften über äußere Kirchlichkeit. Der theologische Zensor, der dem Büchlein das Imprimatur erteilt hatte, hatte die Satire nicht gemerkt! Gleich nach der Lockerung der Zensurvorschriften erschien in Berlin Bülow-Cummerows Aufsehen erregendes Buch über Preußens Verfassung und Verwaltung. Es ging aus von einer konservativ-ständischen Grundanschauung, aber da es freie Presse, freien Glauben und eine Reform der Ständeverfassung wie der Bureaukratie forderte, so wirkte es fast wie ein liberales Buch. Meyen begrüßte den Verfasser trotz manchen prinzipiellen "Widerspruchs als einen halben Gesinnungsgenossen, während die Preußische Staatszeitung eine malitiöse Kritik veröffentlichte. Auch Buhl ergriff das Wort zu der Frage der Provinzialstände noch in demselben Jahre, als die Berufung der Vereinigten Ausschüsse die Erörterungen neu belebte. Daneben trat der gemäßigt liberale spätere Chefredakteur der Kölnischen Zeitung, Karl Heinrich Brüggemann, der durch Eichhorns Widerstand gegen seine Habilitierung in Berlin zur Journalistik gedrängt worden war, auf den publizistischen Kampfplatz. Mit der Kraft und Frische der Broschüren hielten die Berliner Zeitungen nicht gleichen Schritt. Immerhin versuchte es die Voß, ihren kühneren Schwestern am Pregel und am Rhein zu folgen. Im April 1842 brachte sie ihren ersten Leitartikel, den künftigen Vereinigten Ausschüssen gewidmet. Als diese im Oktober zusammentraten, gab sie

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ausführliche Berichte über die Verhandlungen. Viel Wirkung wird sie allerdings damit nicht ausgeübt haben, denn volle Freude hatte niemand an den Ausschüssen, denen der König kein rechtes Feld der Betätigung gewährt hatte. Aber im Beginn des nächsten Jahres glückte es, Willibald Alexis als Mitarbeiter zu gewinnen. Der märkische Dichter zeigte, daß er auch ein gewandter Journalist war. Er kämpfte in schnell aufeinanderfolgenden Artikeln in eigener Sache wie für seine Zeitung, wenn er in immer neuen Wendungen, mit allgemeinen und historischen Gründen gegen die Zensur auftrat. J a , die Preßfreiheit sei manchmal unbequem, aber Wind und Sturm seien besser als dumpfe Stille: „freilich, wer selbst nicht fest steht, den wirft der Wind um". Und dann, die Preßfreiheit liege nun einmal im Blut, in der Luft, in der Vernunft! So hatte Alexis geschrieben in dem Augenblick, als die Erbitterung der leitenden Kreise über die ungewollten Folgen der milden Zensurpraxis sich in den entscheidenden Schlägen gegen die Führer der literarischen Opposition in Norddeutschland entlud. Gleichzeitig wurde die Unterdrückung der Rheinischen Zeitung zum 1. April, die Vertreibung der Deutschen Jahrbücher aus Halle und das Verbot der freisinnigen Leipziger Allgemeinen Zeitung für den preußischen Staat bekannt. Die Voß wagte es, einen Leitartikel gegen diese Maßregeln aus Alexis' Feder zu veröffentlichen, der mit schneidender Schärfe eine solche Methode, gefährliche Theorien oder selbst boshafte Lügen zu vernichten, angriff. „Es fiel noch keinem Regenten von Neapel ein, den Krater des Vesuv zu verstopfen, weil er Feuer speit!" Alexis scheint gehofft zu haben, durch das Gewicht seines Namens und seine unbezweifelte Loyalität ungescheut sagen zu dürfen, was er für Recht erachtete. Aber die Regierung, da sie einmal die Zensur für unentbehrlich hielt und eben die gelockerten Zügel wieder straffer anzog, konnte auch dem Dichter der Mark nicht das Recht zugestehen, schonungslos gegen eine bestehende Staatseinrichtung Krieg zu führen. Graf Arnim selbst wies den Zensor an, nicht aus übertriebenem Edelmut sich und sein Amt angreifen zu lassen. Er wußte sich gedeckt durch den König, er wußte, wie eifrig Friedrich Wilhelm die Zeitungen las und wie tief ihn die extrem liberalen Äußerungen der Presse verletzten. Alexis kannte den König und seine Stimmung nicht, wenn er sich im März an ihn mit der Bitte wandte, dem immer rücksichtsloser gewordenen Zensor seiner Artikel Einhalt zu gebieten. Er mußte eine scharfe Antwort hinnehmen, die zwar in der Berliner Gesellschaft viel Widerspruch erweckte, aber der politischen Tätigkeit des Dichters ein Ende bereitete.

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Den Maßregelungen der liberalen Presse ließ die Regierung eine neue Instruktion für die Zensoren zur Seite treten, die allgemeine Richtlinien für ihre Stellung zu den Äußerungen der öffentlichen Meinung zog. Es war nicht eine weitere Einschränkung der ernsten politischen oder wissenschaftlichen Literatur beabsichtigt, Bücher über zwanzig Bogen blieben zensurfrei, aber die Tagespresse sollte getroffen werden. Die Kabinettsorder, durch die der König die neue Zensurinstruktion genehmigte, sprach es aus, mit Worten, die den ganzen Zorn des in seinen Erwartungen getäuschten Monarchen verrieten. „Was ich nicht will," so hieß es, „ist die Auflösung der Wissenschaft und Literatur in Zeitungsschreiberei, die Gleichstellung beider in Würde und Ansprüchen, das Übel schrankenloser Verbreitung verführerischer Irrtümer und verderbter Theorien über die heiligsten und ehrwürdigsten Angelegenheiten der Gesellschaft." Die Kabinettsorder erreichte ihr Ziel nicht völlig, aber dodi zum guten Teile. Die offene Opposition der Vossisdien Zeitung hörte ziemlich auf und wurde nur teilweise durch den Kleinkrieg ersetzt, den die „Eingesandts" der Leser gegen den Polizeipräsidenten, den Magistrat und wohl auch gegen einzelne Verfügungen der Regierung eröffneten. Wenn aber einmal ein größerer liberaler Artikel erschien — etwa gegen Schellings pietistisch gefärbte neueste Philosophie, gegen des Justizministers Mühler Verbot des Besuchs der Mainzer Advokatenversammlung, oder für Erweiterung der ständischen Rechte — dann fand er aufmerksame Leser wie Varnhagen von Ense, der solche Artikel wohl in seinem Tagebuch erwähnte. Der Geist der Vossischen und nach manchem Schwanken auch der Spenerschen, stark zurückgehenden Zeitung war ein oppositioneller, wenn auch oft genug in kleinlicher, ängstlicher Form. Ganz so schlimm, wie die Schilderungen und Anklagen gleichzeitiger Liberaler es mit herbem Tadel und bösem Spott ausmalen, stand es um die Berliner Presse nicht. Vor allem war es nicht ihre Schuld, wenn sie des großen, freien Zugs entbehrte. Denn die Natur der Sache brachte es mit sich, daß sie sich des Schutzes der neu geschaffenen gerichtlichen Zensurbehörde nur in seltenen Fällen erfreuen konnte. Diese Behörde war das Oberzensurgericht, das seit dem April 1843 an die Stelle des im Jahre 1819 begründeten Oberzensurkollegiums getreten war. Gegen jeden Strich eines Zensors stand dem Autor wie dem Verleger einer Druckschrift die Berufung an diese Instanz offen, die in richterlicher Form die Beschwerde prüfte und dem Kläger ein mit Gründen versehenes Urteil zustellte. Es war nicht anders möglich, als daß diese Art der Entscheidung auch bei raschester Geschäftsführung soviel Zeit

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verlangte, daß die meisten gestrichenen Sätze oder ganzen Artikel einer Tageszeitung ihr aktuelles Interesse und damit ihren Wert verloren hatten, ehe ein günstiges Erkenntnis ergangen war. Trotzdem hat der Besitzer der Vossischen Zeitung, Justizrat Lessing, häufig an das Oberzensurgericht appelliert und manchen Erfolg errungen. Lehrreicher freilich sind für den, der die Geschichte des liberalen Berlin jener Jahre schreiben will, die Urteile, durch die Verwerfung von Beschwerden ausgesprochen wird. Blättert man in dem Aktenstück, das die Erkenntnisse des Oberzensurgerichts über die Beschwerden Lessings gegen den Zensor uns überliefert hat, dann erstaunt man doch, wie viele liberale Artikel nicht haben erscheinen können, weil sie gegen die katholische Hierarchie, das protestantische Kirchenregiment oder die staatlichen Behörden sich richteten und in der Form nicht „wohlmeinend" waren. Glücklicher war die Lage von Monatsschriften. Sie konnten es im allgemeinen ohne Schaden hinnehmen, wenn ein gestrichener Artikel durch erfolgreiche Appellation einen Monat später erschien, als ursprünglich beabsichtigt war. Solche Erwägungen werden den jungen Juristen August Theodor Woeniger ermutigt haben, als er im Sommer 1843 in Berlin die erste liberale Monatsschrift begründete. Woeniger war geborener Mecklenburger, hatte in Berlin studiert und sich Savigny angeschlossen, war aber ziemlich plötzlich von seiner Hegel feindlichen Anschauung zu radikalen Ansichten umgeschwenkt. Es scheint, als ob er sich unter den Berliner „Freien" nicht recht wohl gefühlt hat und bald auch von ihren extremen Ideen zu einem gemäßigten Liberalismus zurückgekehrt ist. So weit war der Wandlungsfähige, dem in Berlin noch eine zweite radikale und schließlich wieder eine konservative Periode bevorstand, mit seinen Ansichten gekommen, ehe er im September 1843 das erste Heft seiner „Monatsschrift für öffentliches Leben" hinaussandte, der er den stolzen Titel „Der Staat" gab 2 . „Der Staat" hat sich nur wenig länger des Lebens und der Wirksamkeit freuen dürfen als das „Athenäum", dessen Nachfolger er in gewissem Sinne ward. Die junge Verlagsbuchhandlung Julius Springer nahm ihn unter ihre Fittiche. Leider sind die Papiere der Firma aus den Anfängen ihres Daseins nicht mehr vorhanden, und keine Kunde ist uns geblieben von Beginn und Ende dieses Unternehmens. Fast möchte man glauben, daß mangelndes Interesse des Publikums den Verleger gezwungen hat, das hoffnungsvoll Unternommene sobald wieder aufzugeben. Denn die [ 2 Siehe Kaeber, „Der Staat". Eine vormärzlidie Berliner Monatsschrift. In: Mitt. V. G. Berlins, 1920.]

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Lektüre des „Staats" war nicht ganz leicht. Er entbehrte des literarischen Gewandes des „Athenäums", der Pikanterie kleiner aktueller Notizen, wie die Zeit sie liebte, er verzichtete auch auf volkstümliche Form und legte selten den Ernst streng sachlicher Belehrung ab. Und doch ist er eine bedeutsame Erscheinung, die erste Sammelstätte in Berlin für die Vertreter eines praktischen Fortschritts auf allen Gebieten der inneren Politik, vor allem auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Freilich ist der Kreis der Mitarbeiter für uns zum guten Teil in Dunkel gehüllt, da die Mehrzahl der Beiträge nicht mit den Namen der Verfasser, sondern mit Chiffern gezeichnet sind. Von bekannten Autoren begegnen nur Brüggemann und von Schomberg-Gervasi. Wir müssen uns begnügen, den Geist zu erkennen, der die genannten und ungenannten Schreiber dieser verschollenen Aufsätze durchweht, die einst mitwirken wollten bei der politischen Erziehung von Preußens Hauptstadt. Anregen, „dem Volke zu denken geben, die Lethargie für öffentliche Interessen in möglichst allgemeine Teilnahme und Beweglichkeit umgestalten" — das war es, was Woeniger gewollt hatte. Kurze Aufsätze über möglichst verschiedene Fragen zu bringen, ohne auf erschöpfende Tiefe entscheidenden Wert zu legen, das war sein Ziel. Er hat es nicht immer erreicht, hat den handelspolitischen Fragen mehr Raum gewährt, als einem größeren Leserkreis lieb sein konnte, aber im ganzen ist „Der Staat" einheitlichen Charakters gewesen. Das Grundthema blieb das gleiche, der Kampf für einen lebendigen Staat mit Öffentlichkeit und Selbstverwaltung, ohne schroff geschiedene Stände, einen Staat, in dem jeder tüchtigen Arbeit ihr Recht ward. Die soziale Not, die dem glänzenden Aufstieg der Maschinenfabriken als ein düsteres, in seinen Gründen noch unerkanntes Gespenst gefolgt war, fand nicht nur bei Woeniger selbst mitleidvolles, wenn auch das Problem meist nur von einer Seite erfassendes Verständnis. Das Ideal der Freiheit ward hier wie bei den Artikeln über die preußisch-deutsche Zoll- und Handelspolitik zwar theoretisch hochgehalten, aber praktisch abgeschwächt. Nur Zensurfreiheit und Öffentlichkeit aller richterlichen wie politischen Verhandlungen waren Forderungen, die stets ohne Einschränkung erhoben wurden. Liberale und nationale Ideen waren in den Jahren der Reaktion einen Bund eingegangen, den erst Bismarcks nationale Machtpolitik auf konservativer Grundlage erschüttert hat. Woenigers „Staat" hat noch beiden Ideen zugleich ein Vorkämpfer sein können, hat neben der Freiheit der Einheit gedient. Er hat in seinem ersten Heft gemahnt, aus dem Schlagwort von der deutschen Einheit endlich lebendige Wirklich-

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keit zu machen, hat den nationalen Schatz der allen Deutschen gemeinsamen Sprache gepriesen, Deutschlands gutes Recht auf die Nordmark gegenüber der dänischen Propaganda verteidigt und zum Schlüsse noch in flammenden Worten gegen Englands Tyrannei auf dem Meere sich gewandt. Es war der letzte Aufsatz des „Staats", eigenartig ebenso durch seine kühnen politischen Kombinationen wie dadurch, daß er überhaupt hat erscheinen dürfen. Wenn Woeniger in seinem „Staat" mit schwerem Rüstzeug focht, so schoß Feodor Wehl zur gleichen Zeit mit leichtem, aber spitzem Pfeil auf alles, was ihm in Berlin veraltet, matt, zahm, unpolitisch schien. Seine kleinen Hefte, die er mit gutem Recht „Berliner Wespen" nannte, führten den politischen Krieg in feuilletonistischen Formen mit Geist und Witz. Er war in Berlin erzogen, jung, wie alle die Männer, die dem Geist der neuen Zeit den Sieg in Preußen erkämpfen wollten, aus guter Familie, dem burschikosen Ton der Radikalen der Hippeischen Weinstube innerlich fremd. Sein Radikalismus, von dem er mit einiger Koketterie zu sprechen liebte, war ganz anderer Art als der eines Bruno oder Edgar Bauer oder gar eines Max Stirner. Aber während diese einsam blieben und mit ihrer „Allgemeinen Literaturzeitung" über ihren eigenen Kreis kaum hinausdringen konnten, rüttelten Wehls immer aktuelle, immer auf Berliner Verhältnisse zielende Bosheiten den Philister aus seiner Ruhe. Wehl war nie langweilig, immer frisch, dabei von feinem literarischen Geschmack, ein begeisterter Verehrer Heinrichs von Kleist und, für die Berliner vielleicht die Hauptsache, ein Freund des Theaters und in persönlichen Beziehungen zu den Größen der königlichen Bühne. Seine Kritik an der geistigen Physiognomie Berlins, dem er politisches Bewußtsein absprach, sein Zorn gegen die ultra-orthodoxe Richtung unter den Berliner Geistlichen, sein Spott über die „gute Haude- und Spenersche", seine Beurteilung Friedrich Wilhelms III. — „ein Mann für das Haus, ein Mann wie ein Geheimrat, aber kein Mann für die Geschichte" —, seine Verherrlichung des preußischen Volkes, die witzige Polemik gegen den bloßen Wort-Liberalismus mit dem Shakespeareschen: „ich möcht' es gern, doch ich wag' es nicht", alles war so gesagt, daß es dem Berliner gefallen mußte, auch wenn es ihn nicht schonte. Gegen diese journalistische Erstlingstat fallen die „Berliner Stecknadeln" des Jahres 1844 und die neue Folge der „Berliner Wespen" entschieden ab. Neben der Bürgerschaft und auch wieder mit ihr lebte in Berlin als die natürliche Führerin auf allen geistigen Gebieten die Universität. Die Rolle, welche die Universität in diesen Jahren des politischen Erwachens

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gespielt hat, die Wirkungen, die von ihr auf die sich bildenden Parteien und von diesen wieder auf die jüngeren Dozenten und auf die Studierenden ausgeübt wurden, zu schildern, darf hier nicht versucht werden. Diese Linien mit sicherer Hand zu ziehen, wird erst möglich sein, wenn der Geschichtsschreiber der Universität, Max Lenz3, sein großes Werk über die Schwelle des Jahres 1840 hinausgeführt haben wird. Nur einige Andeutungen mögen hier erlaubt sein. Gegenüber der streng kirchlichen Richtung der Theologie, die Friedrich Wilhelm IV. statt des ihm verhaßten Rationalismus begünstigte, und gegenüber der deutlichen Abneigung des Kultusministers Eichhorn gegen die Hegeische Philosophie bedeutete die Serenade, die im März 1841 den Professoren Marheineke und Vatke von ihren Schülern gebracht wurde, einen offenen Protest. Die Reden über freie Wissenschaft, die gewechselt wurden, und die Anwesenheit einer größeren Anzahl von Professoren gaben dem Ganzen Nachdruck und Bedeutung. Eine größere Anzahl Korrespondenzen der radikalen Mannheimer Abendzeitung aus Berlin beweist dann, wie erregt die Stimmung der Studenten im Winter 1843/44 bei an sich unwichtigen Anlässen war. Auch über Sozialismus und Kommunismus wurde schon gesprochen. Gleichzeitig geriet die philosophische Fakultät in Gegensatz zu Eichhorn wegen der Beurteilung der staatswissenschaftlichen Kollegs des Privatdozenten Nauwerck. Karl Nauwerck war der Sohn eines angesehenen Hofkammerrats in Strelitz und hatte sich früh in Berlin für orientalische Sprachen und Philosophie habilitiert. Er hatte im Mai 1841 ein Schriftchen über freie Staatsverfassung erscheinen lassen, indem er recht geschickt gegen die Schlagworte der antikonstitutionellen Partei polemisierte. Preußens gebildetes und besonnenes Volk sei für eine Verfassung längst reif. Dann hatte er einige Aufsätze für Ruges Jahrbücher geschrieben, aus denen man schließen durfte, daß er ein Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität war, jener Lehre, die sich ebensowenig mit der altpreußischen Bureaukratie wie mit den deutsch-ständischen Idealen Friedrich Wilhelms IV. und seiner romantischen Freunde vertrug. Für Graf Arnim war das Grund genug gewesen, Nauwercks Wunsch, Redakteur des neu zu belebenden „Athenäum" zu werden, auf geschickte Weise abzulehnen. Ein Gesuch Nauwercks, statt dessen eine neue Zeitschrift „Berliner Zeitblatt" begründen zu dürfen, hatte ebenso wenig Erfolg. Natürlich waren solche Nadelstiche nur geeignet, den damals Fünfund[ 3 S. M. Lenz, Geschichte der kgl. Fricdrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. 4 Bde., Halle 1910—18.]

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zwanzigjährigen in seiner Opposition zu bestärken. Er beteiligte sich an Herweghs berühmtem Buche „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz" und griff Menzels konservative „Literarische Zeitung" mit Witz und Leidenschaft an. Nun kam der Konflikt. Der Minister forderte die philosophische Fakultät auf, gegen die „subversiven Theorien" ihres Mitgliedes auf Grund der Universitätsstatuten einzuschreiten. Aber die Fakultät erwiderte in einem ausführlichen Berichte, Nauwercks Schriften seien durchaus nicht subversiv und seine einzelnen politischen Ideen gar nicht revolutionär, sondern beinahe trivial. Man müsse nicht jeden harten Ausdruck auf die Waagschale legen, und außerdem dürfeman dem Schriftsteller Ironie und Sarkasmus nicht ganz rauben wollen. Sonst würde ja die deutsche Sprache flach und saftlos und verlöre alles Prägnante! Die Fakultät lehnte daher einstimmig jede Maßregelung Nauwercks ab. Eichhorn wagte es nicht, auf seinem Verlangen zu bestehen gegenüber der einmütigen Ansicht der Fakultät. Da kam ihm ein Ausweg durch Nauwercks Unvorsichtigkeit. Ehe noch das Semester beendet war, ließ dieser eine neue Broschüre über „Die Teilnahme am Staat" erscheinen, die nach seiner eigenen Angabe nur der Abdruck seiner Eröffnungsvorlesung in diesem Semester war. Sie erregte mit ihrem Verlangen nach staatsbürgerlicher Freiheit, mit ihrer Mahnung gerade an die Studenten, sich nicht vom lebendigen politischen Drange der Zeit abzuwenden, mit ihrem Lob der freien Presse und ihren Ausfällen gegen die Zensur die heftigste Empörung des Königs. Nauwercks Vorlesungen wurden geschlossen. Noch am selben Abend aber brachten ihm seine Hörer ein Lebehoch. — Nach Nauwercks Entfernung von der Universität war Theodor Mündt der Liebling der liberalen Studenten, seine Literaturkollegs mit den oppositionellen Randbemerkungen glänzend besucht. Der konservative Professor Huber aber hatte im Winter 1844 für seine Dantevorlesung nicht einen einzigen Zuhörer. Die Stimmung des gebildeten Berliner Bürgertums war unter dem Eindruck der schwankenden Politik des Königs in der Verfassungsfrage und seiner Vorliebe für streng kirchliches Leben, für Erneuerung des Adels und der ständischen Unterschiede überhaupt, wie durch den Einfluß der liberalen Publizistik immer oppositioneller geworden. Selbst eine Zeitschrift wie der 1843 neu begründete „Freimütige", die rein belletristisch sein und das Publikum „von der krankhaften Richtung nach politischen Tändeleien und Faseleien abbringen" wollte, ward ihrem Programm schnell untreu. Schon nach einem Jahre nahm sie ein Gedicht des sozial-revolutionären Karl Beck auf, versuchte sich in leidenschaft-

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liehen Angriffen auf die Zensur, die freilich eben diese Zensur vorsorglich unterdrückte, wagte sich im Januar 1845 selbst an das Königtum und schmuggelte eine blutige Verhöhnung von Adel und Reaktion unter dem Gewand einer Theaterrezension ein. Auch der altehrwürdige, vom Professor Gubitz herausgegebene „Gesellschafter" wandelte sich in eine Zeitschrift von entschieden liberalem Charakter um. Der politische Erwecker der großen Masse aber, soweit sie überhaupt dem gedruckten Worte zugänglich war, wurde der Dichter des Berliner Volkes, der Sohn und Liebling Berlins, Adolf Glasbrenner. Tiefe, aufrichtige Neigung zum gemeinen Manne hatte ihn zum unübertroffenen Schilderer der unteren Stände, ihrer Typen, ihrer Freuden und ihrer Leiden gemacht. Die Bewegung, die seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. Preußen durchzitterte, ergriff auch Glasbrenner und bildete ihn um zum politischen Erzieher seines geliebten Berlin. Die Ideen, die ihn erfüllten, waren weder tief noch originell, aber es waren die Ideen, denen für Jahre die Zukunft gehörte: freies Menschentum, H a ß gegen Adel und Stände, Skeptik gegenüber dem Gottesgnadentum, Abneigung gegen die Kirche und Schwärmerei für eine Vereinigung aller freien Menschen. Schon die neuen Guckkastenbilder vom Jahre 1841 waren eine Tendenzschrift, bei der die Typen und die künstlerische Form des Dialogs nur Mittel waren, den liberalen Gedanken einen Weg in die Massen zu bereiten. Die Gefahr, die diese volkstümliche Art der politischen Propaganda für die bestehenden Staatsformen bedeutete, hat die Regierung sofort zu Gegenmaßregeln veranlaßt. Aber bei der Vorsicht und der Geschicklichkeit, die Verleger und Buchhändler seit langen Jahren im Kampfe gegen Zensur und Polizei ausgebildet hatten, war der Erfolg aller Beschlagnahmen und Verbote von vornherein fraglich. Besonders den schon lange vorher angekündigten „Neuen Reineke Fuchs" hatte die Polizei bestimmt gehofft, rechtzeitig bei seinem Verleger beschlagnahmen zu können. Es war ihr trotzdem nicht gelungen, und Varnhagen notierte mit boshaftem Vergnügen in seinem Tagebuch: „Das Buch ist überall zu haben, und man lacht die Behörden aus." Und doch hatte derselbe Varnhagen von dem viel harmloseren zwanzigsten Hefte von „Berlin wie es ist — und trinkt" gesagt, daß „die schrecklichsten Dinge" in ihm ständen und diese von aller Welt gelesenen Hefte von unberechenbarer Wirkung seien. Glasbrenner hat bis zur Revolution mit einer Ausnahme alljährlich politische Guckkastenbilder und daneben noch andere Heftchen wie die Schilderung der Berliner Gewerbeaussteilung von 1844 mit fast sozial-revolutionärer Tendenz oder den in Preußen beschlagnahmten

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und dabei nach vier Wochen schon vergriffenen Komischen Volkskalender f ü r 1846 erscheinen lassen. Der Charakter blieb derselbe, nur die Form wurde hier und da leicht geändert. Den losen Heftchen Glasbrenners trat im Jahre 1845 in Berlin eine Monatsschrift an die Seite, deren Herausgeber sich seit zwei Jahren als K a m p f - und Gesinnungsgefährte des Berliner Volksdichters fühlte, dem er an Charakter und künstlerischer Begabung nachstand, den er an demagogischem und journalistischem Talent überragte. Es war Friedrich Wilhelm Held, der berüchtigte Redakteur der „Lokomotive", die 1843 in Leipzig erschien und in wenigen Monaten zwölftausend Abnehmer gewann. Nach ihrer Unterdrückung durch die sächsische Regierung hatte Held versucht, sein Unternehmen in Halle fortzusetzen, hatte damit und mit anderen Schriften keinen Erfolg gehabt und hatte sich schließlich an den Berliner Buchdrucker Reichardt gewandt. Aus den Besprechungen mit Reichardt, der selbst der radikalen Partei angehörte und an Bruno Bauers Allgemeiner Literaturzeitung mitgearbeitet hatte, ging eine Monatsschrift hervor, deren erstes H e f t unter dem Titel „Heids Volksvertreter" im September 1845 erschien. — Der Volksvertreter ist die radikalste politische Zeitschrift Berlins vor der Revolution. Er ist auch die bestredigierte und die verbreitetste gewesen; er wurde schon im Dezember 1845 in einer Auflage von 16 000 Exemplaren gedruckt, die sich bis zum Ende des Jahres 1847 nicht verringerte. Held wußte so zu schreiben, daß das Volk ihn verstehen und zugleich zu ihm als seinem treuesten, unerschrockensten, selbstlosesten Freunde aufblicken mußte. Er schmeichelte dem Volk und seinen Ansichten und widersprach ihm auch wieder, um es zu warnen und zu belehren. Dem natürlichen Hang des erwachenden Menschen zur Kritik kam er durch tausend oppositionelle Bemerkungen entgegen. Eine geschickte Einteilung jedes Heftes in feste Rubriken mit wechselndem Inhalt — größere Aufsätze, literarische Beiträge, Abdruck interessanter Aktenstücke und kleine Notizen aus Deutschland und aus fremden Staaten — ließ den Leser nie müde werden und brachte ihm doch nur politischen und sozialen Stoff von der gleichen liberal-demokratischen Färbung. Eine Rubrik für Beschwerden aus dem Leserkreis, in der auch dem Armen und Ungebildeten Gehör geschenkt wurde, schlang ein Band des Vertrauens um Herausgeber und Leser. Held hat die Zensur durch seine Fruchtbarkeit und wenigstens zum Teil durch die Rechtsprechung des Oberzensurgerichts um ihre Wirkung gebracht. Von dem Novemberheft des Jahrgangs 1845 konnte der Regierungsrat Seebode vom Ministerium des Innern sagen, er kenne keine in Preußen gedruckte Schrift, die mehr moralisches und politisches

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Gift enthielte. Doch dürfen wir an dieser Stelle auf den Inhalt dieses und der späteren Hefte nicht näher eingehen. Es blieb bei wechselndem Stoff stets die gleiche Tendenz, auch nachdem Held im Juli 1846 eine einjährige Festungshaft in Magdeburg wegen einer früheren Schrift angetreten hatte. Selbst der Titel „Heids Volksvertreter" blieb bestehen, obgleich ein neuer Redakteur angestellt wurde. Freilich ließ die Schärfe der politischen Satire nach. Das Januarheft des Jahres 1847 ist trotz seines Liberalismus recht harmlos, und im April sprach der Redakteur selbst von der „Gemütlichkeit", die den „Volksvertreter" seit Monaten kennzeichne. Endlich im Juni 1847 wurden die Leser darüber aufgeklärt, daß seit einem Jahre August Peters der eigentliche Herausgeber sei. Ihm folgte vom September bis zum März 1848 Heinrich Beta. Der „Volksvertreter" erlebte jetzt eine wirkliche Wandlung: er wurde aus einem Organ der liberalen Demokratie zu einem Journal des Freihandelsvereins, das nur nebenbei auch für politische Freiheiten eintrat. Beta, der in seinem „Freihandelskatechismus" den neuen sozialen Glauben verkündet hatte, der das Ende aller Not und allen Elends vom freien Handel und freien Gewerbe erwartete, sah alle Dinge vom volkswirtschaftlichen Standpunkte aus an. In seiner Sprache versuchte er humoristisch und populär zu sein, ohne auch nur entfernt an Heids prägnanten, wahrhaft volkstümlichen Stil heranzureichen. Die liberale Bewegung in Berlin, die bei dem schleppenden Gang, den die Beratungen der Regierung über die preußische Verfassung nahmen, jahrelang die Journalistik als einziges Organ besaß, trat in ein neues Stadium, als sich der Vereinigte Landtag im April 1847 in Berlin versammelte. Die Stelle, die bisher liberale Artikel und Notizen in der Presse eingenommen hatten, wurde nun durch die Veröffentlichung der Reden der oppositionellen Führer ausgefüllt. Der „Volksvertreter" bringt vom Mai bis zum August die eingehendsten Referate, die manchmal mehr als die Hälfte eines Heftes einnehmen. Es war eine letzte Möglichkeit, die Erregung, die sich trotz der abwartenden Haltung des Magistrats und der Stadtverordneten und der immer wieder von demokratischen Schriftstellern bezeugten loyalen Grundstimmung Berlins der Bürgerschaft bemächtigt hatte, in gesetzliche Bahnen zu lenken. Der Konflikt des Königs mit der Versammlung, die Ungewißheit, was nun werden würde, ließ aufs neue Zweifel und Mißtrauen entstehen. Die unteren Klassen aber, die vielleicht den politischen Fragen trotz der Wirksamkeit Glasbrenners und des Volksvertreters nur zum kleineren Teile Interesse entgegenbrachten, waren durch soziale Wandlungen und das Hungerjahr 1846 in eine Not geraten, die in der schnell unterdrück-

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ten Kartoffelrevolution von 1847 kein Ventil gefunden hatte. Dagegen waren sozialistische Ideen, denen Presse und Journalistik vielfach Raum gewährt hatten, sicher tiefer in das Volk gedrungen, als das klägliche Resultat des Menzelschen Kommunistenprozesses vermuten lassen könnte. Es waren die Truppen da für eine Revolution, und es war jene gereizte Stimmung da, die das Berliner Bürgertum im März 1848 mit einer gewissen Schadenfreude die Barrikaden sehen ließ. Die alte liberale Partei aus den Tagen der preußischen Reform hatte diese Entwicklung nicht mitgemacht. Hedwig von Olfers, Staegemanns Tochter, schrieb nach den Märztagen an Lola von Stosch: „ Du weißt, ich bin in liberaler Schule aufgewachsen, habe diesen Grundsätzen fortwährend huldigen hören, so aber war es nicht gemeint, daß die Ehrfurcht, die heiße Liebe zu unserm großen Fürstenhause mit Füßen getreten werden sollte." Der Berliner Liberalismus hatte diese Ehrfurcht längst abgestreift, er war immer weiter fortgeschritten, bis ihm gegenüber den Forderungen der Zeit das alte Gefühl der Anhänglichkeit entschwunden war.

Bodelschwingh und die Berliner Märzrevolution Die Berliner Märzrevolution bietet der geschichtlichen Erkenntnis eine Fülle von Problemen, deren Lösung seit etwa einem Vierteljahrhundert von den bedeutendsten Historikern in immer neuen Anläufen gefördert worden ist, ohne daß doch gerade in den wichtigsten Fragen sich eine völlige Übereinstimmung ergeben hätte. Es sind weniger die äußeren Ereignisse des 18. und 19. März, die der Forschung so große Schwierigkeiten bereiten, als die Motive, die das Volk, den König, seine Minister und Generale geleitet haben, und die Verantwortung, die jedem dieser Faktoren für den Ausbruch wie für den militärischen und politischen Verlauf dieser Bewegung zufällt, die ohne Gleichen ist in Preußens doch so stolzer Geschichte. Mit am heftigsten umstritten ist die Rolle, die der Minister von Bodelschwingh in den entscheidenden Tagen gespielt hat. Sie hängt sowohl mit der Beurteilung der deutschen Politik des Königs zusammen, wie mit der Frage nach dem Urheber der verhängnisvollen Wendung vom 19. März, der Demütigung der Monarchie durch den Abzug der siegreichen Truppen. Schon bald nach der Revolution scheint die Ansicht verbreitet worden zu sein, daß der Abmarsch der Truppen von den Barrikaden und die Räumung des Schloßplatzes mit all ihren traurigen Folgen die Schuld des leitenden Ministers, des Freiherrn von Bodelschwingh gewesen sei. Die militärischen Kreise um den Prinzen von Preußen, Leopold von Gerlach und Prittwitz, haben diese Anschauung sich zu eigen gemacht und sie mündlich und schriftlich vertreten, bis sie fast zu einem Gemeingut namentlich der konservativ Gesinnten geworden ist. Zwar hat der Minister selbst im November 1848 in vornehm-sachlichen Ausführungen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurückzuweisen versucht, allein wie wenig ihm das gelungen, beweisen noch Bismarcks Äußerungen in den „Gedanken und Erinnerungen". Erst im Jahre 1898 hat der Neffe des Ministers, Gustav von Diest, durch Veröffentlichung seiner persönlichen Erinnerungen an den 18. März und verschiedener Schreiben seines Oheims das landläufige Urteil zu wandeln unternommen. Und vielleicht wäre es ihm geglückt, hätte nicht von Petersdorff in seinem „Friedrich Wilhelm IV." bald darauf mit dem Rüstzeug historischer Forschung die

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herrschende Meinung neu befestigt und das Bild des Ministers mit düsteren Farben gemalt. Und doch scheint mir bei der Hochschätzung des den Lesern dieser Hefte wohl vertrauten Autors dieses Gemälde der Wirklichkeit nicht ganz zu entsprechen. Kurze Aufzeichnungen der Tochter Bodelschwinghs, die mir in liebenswürdiger Weise zur Verfügung gestellt worden sind, haben mich veranlaßt, noch einmal die Frage nachzuprüfen und zu untersuchen, ob wirklich die Haltung des sonst auch von Petersdorff anerkannten ausgezeichneten Mannes so herbe Vorwürfe verdient. Bei dieser Untersuchung bin ich in der Auffassung von Bodelschwinghs Politik vor dem 18. März zu Resultaten gekommen, die von denen der scharfsinnigen Kritik Felix Rachfahls 1 , der ich sonst vielfach folge, erheblich abweichen. Die Benutzung einiger noch nicht bekannter Aktenstücke haben meiner Anschauung eine erwünschte Stütze verliehen. Bodelschwingh hatte eine ungewöhnlich schnelle Laufbahn in der preußischen Verwaltung zurückgelegt, als der König im Jahre 1842 ihm das Finanzministerium übertrug und ihn damit in seine unmittelbare Umgebung berief. Im November 1794 geboren, war der junge westfälische Edelmann beim Ausbruch der Freiheitskriege für König und Vaterland ins Feld gezogen, aber bald durch einen Lungenschuß schwer verletzt worden. Nach Vollendung der Gymnasial- und Universitätsstudien war er zur Verwaltung übergetreten, 1822 Landrat in Tecklenburg geworden, 1831 Oberregierungsrat in Köln und gleich darauf Regierungspräsident in Trier, 1834 Oberpräsident der Rheinprovinz. Ein Liebling Steins und des alten Vincke, ein echter Sohn des treuen und mannesstolzen westfälischen Adels, von hoher Erscheinung, mit großen, offenen Augen, hatte er durch seine vornehme und reine Menschlichkeit überall die Herzen gewonnen. In dem schweren Konflikt des preußischen Staates mit den Führern des wieder erwachenden Kurialismus in Deutschland, den die Geschichte als den Kölner Kirchenstreit kennt, hatte er umsichtige Energie bewiesen, ohne die Achtung der katholischen Rheinländer zu verlieren. Für die Selbständigkeit seiner Provinz und ihres verbürgten Rechts hatte er mit entschlossenem Freimute den Kampf gegen den bureaukratischen Absolutismus des Justizministers von Kamptz aufgenommen und siegreich durchgeführt. 1

„Deutschland, König Friedrich Wilhelm IV. und die Berliner Märzrevolution".

Halle, 1901. Das Buch hat eine umfangreiche Streitliteratur hervorgerufen. [Uber Bodelschwingh siehe W. Bußmann in der Neuen Deutschen Biographie (NDB), Berlin 1955 — Vgl. auch Kaeber, Berlin 1948. Zur Jahrhundertfeier der Märzrevolution. Im Auftrage des Magistrats von Groß-Berlin, Berlin 1948.] 11

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Als Finanzminister fühlte sich Bodelschwingh auf einem Gebiete, auf dem seine Kenntnisse wie seine Begabung zu voller Entfaltung kommen konnten. Der schnelle Wechsel in den höchsten Staatsämtern, den des Königs Menschen und Kräfte rücksichtslos verbrauchendes Regiment hervorrief, ließ indessen Bodelschwingh in seinem Amte kaum festen Fuß fassen. Im Frühjahr 1844 wurde er für den ausscheidenden Grafen Alvensleben Kabinettsminister, und über ein Jahr nahm er nach Arnims Rücktritt zunächst provisorisch auch die Leitung des Ministeriums des Innern auf sich. Drei Jahre vorher hatte er das Amt mit freimütiger Begründung abgelehnt, weil er sich nicht die Einsicht, Kraft und Energie zutraute, das bedeutsamste Problem der inneren Staatsverwaltung, die Fortentwicklung der ständischen Verhältnisse, zu lösen oder die gefundene Lösung gegen alle Angriffe zu verteidigen. Wenn er jetzt die einstweilige Übernahme des schweren Amtes nicht zurückwies, so behielt er sich doch die endgiltige Entscheidung vor. Und noch im Juni 1846 machte er sein Bleiben davon abhängig, daß in dem kommenden Verfassungsgesetz keine Bestimmungen enthalten seien, die ihm ihre Ausführung unmöglich machen würden. Erst als der König seine Ansichten über die Bildung einer besonderen Herrenkurie, die der Minister in dieser Form für unannehmbar hielt, opferte, konnte Bodelschwinghs definitive Ernennung zum Minister des Innern erfolgen. Aber Friedrich Wilhelm IV. kam nach wenig Monaten auf seine Lieblingsidee mit jener Zähigkeit zurück, die ihm bei allem Mangel an durchgreifendem Willen eigen war. Wieder wurde der Minister vor die Frage gestellt, ob er für die übernommene Aufgabe der rechte Mann sei. Als treuer Diener seines Herrn im Sinne des altpreußischen Beamtentums hatte er keineswegs gemeint, mit dem Inhalt der neuen Gesetzgebung innerlich in jedem Punkte einverstanden sein zu müssen. Dem Willen seines Königs hatte er sich bei allen Entscheidungen gefügt, die er wenigstens nicht für ganz unausführbar hielt. So bat er nun in letzter Stunde vor dem Inkrafttreten der Februarpatente zwar den Herrscher, geübteren und kräftigeren Händen die Leitung des großen Werkes anzuvertrauen, aber er forderte nicht, wie ein konstitutioneller Minister es hätte tun müssen, seine Entlassung, sondern erklärte sich bereit, nach bester K r a f t des Königs Befehle durchzuführen. Selbst dieses Schreiben empfand Friedrich Wilhelm IV. als eine Auflehnung gegen seine höhere Einsicht und rief im ersten Unmut: „Wenn ich nur andere Personen hätte, ich schickte das ganze Staatsministerium fort 2 ." Aber er wußte wohl, daß 2 Die Aeußerung stammt aus Leopold von Gerlachs Aufzeichnungen und ist zuerst von Petersdorff, a. a. O., S. 62, gedruckt worden. Sie könnte sich auch auf eine mir

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er keinen Besseren hatte als Bodelschwingh. Die unendlich schwere Aufgabe, die königliche Gesetzgebung vor dem Vereinigten Landtage zu vertreten, hat Bodelschwingh trotz körperlichen Leidens mit Selbstverleugnung und seltenem parlamentarischem Geschick zu lösen versucht. Daß sie ihm voll gelungen, wird er selbst kaum geglaubt haben. Das war der Mann und so seine Vergangenheit, der des Königs erster Berater in der neuen Lage sein mußte, in die Preußen durch die Pariser Februarrevolution und ihre Wirkungen auf die deutschen Staaten geriet. Zwei Fragen waren es, die jetzt ihre Lösung forderten, beide in innigem Zusammenhange stehend. Die eine war die Weiterbildung der Verheißungen der Februarpatente, die andere die Reform der deutschen Bundesverfassung. Die revolutionäre Bewegung griff, wie dies schon 1830 so gewesen, zuerst auf Süddeutschland hinüber, wo noch im Februar die liberalen und nationalen Forderungen in Volksversammlungen und Petitionen, und bald auch in der Umwandlung der Ministerien ihren Ausdruck fanden. Auf die Haltung der preußischen Regierung mußten indirekt schon diese Bewegungen, denen sich der Bundestag unter Führung des energischen preußischen Gesandten, des Grafen Dönhoff, anschloß, ihre Wirkung ausüben. Entscheidend aber wurde die Haltung der Hauptstadt Berlin. Es ist eines der allerschwierigsten Probleme, die Stimmung und Haltung Berlins vor und während der Märzrevolution richtig zu deuten. Wenn wir einem anscheinend so kompetenten Urteile, wie dem des Berliner Stadtrates Nobiling glauben dürften, so wäre die unermeßliche Mehrzahl der Bürgerschaft von extremen Ansichten weit entfernt gewesen, hätte vielmehr das vollste Vertrauen zum Könige und seiner Regierung gehabt, abgesehen von einer allgemeinen Mißstimmung gegen einige dem Könige besonders nahe stehende Minister, wie Eichhorn und den General von Thile 3 . Aber Nobilings Urteile sind meiner Ansicht nach nur mit einiger Vorsicht aufzunehmen, da er alle Dinge von seinem nicht ohne Überhebung und Eitelkeit verteidigten Standpunkte ansah, daß die ganze Revolution verhütet worden wäre, wenn die Konzessionen sonst nicht bekannte mündliche Äußerung Bodelschwinghs von demselben T a g e beziehen. 3

Die Memoiren Nobilings sind zum kleineren Teil von Radifahl in den Preußisdien

Jahrbüchern, Band 110, zusammen mit Auszügen Nobilings aus einem Manuskript des Generals v. Prittwitz abgedruckt worden. [Vgl. ferner: Dora Meyer, Das öffentlidie Leben in Berlin im Jahre vor der M ä r z revolution. Berlin 1912 ( = 11*

Sehr. Ver. Gesch. Berlins 46).]

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rechtzeitig erfolgt wären und der König sich einer Bürgerwehr und nicht den Truppen anvertraut hätte. Doch auch abgesehen von diesem allgemeinen Einwand gegen Nobilings Zuverlässigkeit, widerspricht er sich in der Schilderung der Stimmung Berlins in auffälliger Weise. Er erzählt nämlich selbst, wie er am 16. März 1848 eine Konferenz mit Bodelschwingh gehabt und dabei über die seit den letzten Jahren herrschende Unzufriedenheit gesprochen habe; sogar die unbedingte Treue und Ehrfurcht gegen das Königshaus sei geschwunden! Und so verhielt es sich nach allem, was wir sonst wissen, in der Tat. Man braucht gar nicht an Varnhagens Notizen zu denken, die von der Mißstimmung vor allem in den höheren Beamtenkreisen so viele Zeugnisse bringen, daß sie im ganzen nicht als Klatsch abgetan werden können. Die noch lange nicht genügend bekannte Wirkung der Zeitungen, Broschüren und Monatsschriften, unter denen der zeitweise äußerst gehässige in Berlin erscheinende „Volksvertreter" Heids in 16 000 Exemplaren gedruckt wurde, wird meistens unterschätzt. Wie weit der innere Widerstand gegen die Regierung gerade bei dem besseren Bürgerstand ging, beweist der ostentative Eintritt vieler Mitglieder der städtischen Behörden und anderer angesehener Männer in den liberalen Bürgerverein, als diesem die Beschäftigung mit Politik verboten wurde. Ähnlich erklärt der alte Kochhann, der seit 1839 Stadtverordneter und später Vorsitzender der Stadtverordneten-Versammlung war, in seinen Aufzeichnungen die Begeisterung Berlins für die polnischen Verschwörer als eine Art Sympathiekundgebung für die Opfer „autokratischer Herrschaft" 4 . Auch die Verbreitung sozialistischer und kommunistischer Lehren unter den Berliner Handwerkern und Arbeitern war viel weiter fortgeschritten, als man es aus dem Fehlen fester Organisationen und dem ziemlich kläglichen Ausgang des Prozesses gegen den kommunistischen Schneider Mentel und seine Genossen annehmen könnte. Sehr interessant ist dafür ein noch ungedruckter Bericht des Polizeipräsidenten von Puttkamer an den Grafen Arnim vom 22. August 1844. Es hatten damals in mehreren Fabriken Arbeitseinstellungen stattgefunden, die nach dem Allgemeinen Landrecht strafbar waren. Puttkamer hatte sich bemüht, den Ausständigen gut zuzureden und ihnen „bessere Ueberzeugungen" beizubringen. Doch war das, wie er erzählt, gar nicht leicht gewesen, bei der großen Solidarität der Ansichten und bei der Konfusion, welche die unaufhörliche Predigt von der Emanzipation der Arbeit [ 4 Heinrich E d u a r d Kochhann, Tagebücher. Hrsgg. von Alb. Kochhann (Berlin

1905).]

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und der niederen Klassen, von Pauperismus, Proletariat und ähnlichen . . . . Begriffen in den Köpfen hervorgebracht hatte." Diese Ideen haben gewiß noch in den nächsten Jahren an Ausdehnung gewonnen und wenigstens teilweise bei den Unruhen im April 1847 mitgewirkt, die nach der schlechten Getreide- und Kartoffelernte des Vorjahres in Berlin ausbrachen. Die Berufung des Vereinigten Landtags im Frühjahr 1847, durch den der Herrscher seinem Volke ein Geschenk königlicher Gnade zu machen hoffte, wurde in Berlin mit wenig freundlicher Kritik aufgenommen. Die ungerechte, doktrinäre Schrift des Breslauer Stadtgerichtsrats Heinrich Simon: „Annehmen oder Ablehnen" traf hier auf Herzen, die nur zu bereit waren, der Gnade des Monarchen sich zu verschließen. Der unbefriedigende Ausgang der Beratungen konnte das ungünstige Vorurteil nur bestätigen. Mehr vielleicht noch als die politische Unzufriedenheit des höheren Bürgerstandes und die soziale Not der kleineren Handwerker, Gesellen und Arbeiter und ihre kommunistischen Träumereien bedeutete die Religionspolitik des Königs für die Stimmung des Berliner Bürgertums. Der Kampf gegen den herrschenden Rationalismus, die Begünstigung der Altlutheraner und die Bedrückung der „protestantischen Freunde" regten das Berliner Bürgertum in allen seinen Schichten auf. Man darf nicht sagen, daß diese Erregung im Kern nur ein Ausdruck des politischen Liberalismus gewesen sei. Hier hat Nobiling zweifellos recht mit der Behauptung, daß die Maßnahmen des Ministeriums Eichhorn in Berlin ein überraschendes, echt protestantisches Bewußtsein geweckt haben. Dieses im Grunde ehrliche Empfinden hat dann die politische Opposition verstärkt, indem auch die Freiheit des Protestantismus, wie das Berliner Bürgertum sie verstand, an den Fall des Absolutismus geknüpft zu sein schien. Selbst gut konservative Kreise in Pommern oder hervorragende Staatsmänner aus der Schule Friedrich Wilhelms III. teilten diesen Widerstand gegen die neue Richtung der Kirchenpolitik, für die auch der Prinz von Preußen wenig Sympathie empfand. Allen solchen Gedanken und Gefühlen stand ein Moment gegenüber, das radikale Schriftsteller wie Ernst Droncke immer wieder mit Staunen erfüllte: die tief eingewurzelte Loyalität des Berliner Bürgers, seine instinktive Anhänglichkeit an den König und sein Haus. Es war da noch ein Kapital an persönlichen Beziehungen vorhanden, das trotz aller bewußten und unbewußten Opposition keineswegs verloren war. Nur so ist es zu erklären, daß auch nach der Pariser Februarrevolution Berlin länger ruhig blieb, als andere preußische Städte.

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Aber es wäre sehr verkehrt, wenn man aus dem späten Einsetzen der Unruhen in Berlin schließen wollte, daß erst die Volksversammlungen des 6. März und der folgenden Tage das Bürgertum in Bewegung gebracht haben, daß ohne die Tätigkeit der Redner in den Volksversammlungen in den Zelten es nie zu Unruhen gekommen wäre 5 . Vielmehr hat schon am 4. März der sehr gemäßigt denkende Oberbürgermeister Krausnick sich für verpflichtet gehalten, in einer anderthalbstündigen Konferenz Bodelschwingh über die „ganze Stimmung der Stadt" aufzuklären 6 . Krausnick betonte die Notwendigkeit, die schwebenden politischen Fragen, besonders das lange erwartete Preßgesetz, schleunigst zu erledigen. Er fügte aber noch etwas hinzu, was gerade auf die führenden Kreise des Berliner Bürgertums ein bedeutsames Licht wirft: er begegne, so sagte er, überall dem Gedanken, „daß dem Könige die Krone Deutschlands zu Füßen liege, die er nur aufzunehmen brauche, wenn er sich mit den gewünschten Reorganisationen der deutschen und der preußischen Verfassungs- und Gesetzgebungszustände an die Spitze stelle." Der preußische Ehrgeiz, für die Berliner Bevölkerung seit den Tagen des großen Königs so charakteristisch und selbst 1866 in allen Wirrungen des leidenschaftlich mitdurchkämpften „Konflikts", elementar hervorbrechend, verbindet sich mit der nationalen Idee zum Gedanken einer kühnen, großen, preußisch-deutschen Politik auf liberaler Grundlage! Es war in der T a t der einzige Weg, der erregten Stimmung Herr zu bleiben, indem man sich ihrer bemächtigte und sie benutzte zu einer die Herzen fortreißenden auswärtigen Politik. Es war der Weg, auf den seit dem 29. Februar auch Graf Dönhoff von Frankfurt her seine Regierung fortzureißen suchte. Friedrich Wilhelm I V . hätte ein anderer sein müssen, um sich solchen Gedanken zu überlassen. Bodelschwingh wußte wohl, daß er im Sinne seines Herrn sprach, wenn er die Wahrheit der Krausnickschen Ausführungen zugab, aber ein Handeln nach ihnen unredlich gegen die anderen Fürsten und Völker Deutschlands nannte. Nicht ohne, sondern nur mit ihnen müsse Preußen seinen Weg gehen. Das aber sei bereits [® Vgl. Harald v. Koenigswald, Das verwandelte Antlitz. Berlin 1938 — H . E . Pappenheim, In den Zelten — durdi die Zeiten. In: Jb. f. brand. Landesgesch. 14, 1963, S. 120.] 9 Dieses und das Folgende nach einem Rechensdiaftsberidit Krausnicks vom 26. Juni 1848. In ganz kurzem Auszuge findet sidi dieser Bericht in A. Wolfis Berliner Revolutionsdironik, 3 Bde., 1851—54, Bd. III, S. 424. — [Vgl. hierzu Kaeber, Zur Entstehung von Wolfis Berliner Revolutionschronik. In: FBPG 27, 1914, S. 566 ff.]

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eingeleitet. Der Minister spielte auf die Sendung des Generals von Radowitz nach Wien an, durch die der König im Verein mit Metternich den deutschen Bund reformieren wollte. Ein unmögliches Unternehmen, das nicht der Wiener Revolution bedurft hätte, um zu scheitern. Am folgenden Tage erhielt Krausnick abends einen schwungvollen Antrag von drei Magistratsmitgliedern, in dem diese ihre Kollegen aufforderten, gemeinsam eine Adresse an den König zu richten und ihn um Einberufung der Stände, Ausbau der Februarpatente des vergangenen Jahres, besseres Wahlrecht, freie Presse und freie Kirche zu bitten. Der Antrag trug das Datum des 1. März, war aber von seinem Verfasser, dem Stadtrat, späteren langjährigen Syndikus und Bürgermeister Duncker erst am 5. März Krausnick eingereicht worden. Er war unter dem allgemein herrschenden Eindruck entstanden, daß ein Krieg gegen Frankreich kaum zu vermeiden wäre, und wollte durch liberale Zugeständnisse des Königs jene glückliche Harmonie zwischen Regierung und Volk wiedererwecken, die 1813 Preußen unüberwindlich gemacht hatte. Sofort bat Krausnick den Stadtverordneten-Vorsteher Fournier zu sich und verabredete mit ihm, am nächsten Morgen Bodelschwingh gemeinsame Vorstellungen zu machen. Der Minister verkannte keinen Augenblick die Bedeutung der Stunde; er versprach, dem Könige sofort Vortrag zu halten. Noch am selben Vormittag entließ Friedrich Wilhelm IV. mit gnädigen Worten die auseinandergehenden Vereinigten Ausschüsse und verkündete ihnen die Gewährung der Periodizität des Vereinigten Landtags, die er am Tage vorher bewilligt, nachdem er sich noch vor weniger als einem Jahre so leidenschaftlich gegen sie gewehrt hatte. Der Oberbürgermeister und der Stadtverordneten-Vorsteher wurden zur königlichen Tafel befohlen und erhielten hier die Ueberzeugung, daß der Entschluß des Monarchen mit die Folge der Unterredungen zwischen Krausnick und Bodelschwingh war. Die loyale Bewegung, der die Häupter der städtischen Behörden Ausdruck gegeben, hatte einen Erfolg errungen. Krausnick und die besonnenen Mitglieder des Magistrats mochten mit unter diesem Eindruck stehen, als sie am nächsten Tage den Antrag Dunckers, der durch eine Adresse den König weiter treiben wollte, nach längerer Beratung ablehnten. Krausnick vertraute auf Bodelschwingh und war nicht gesonnen, dem Ministerium die Zügel aus der Hand zu nehmen und an der Spitze des Magistrats eine Nebenregierung zu bilden. Am 9. März bot sich ihm die Gelegenheit, den König zu sprechen. Friedrich Wilhelm unterschätzte noch immer die anschwellende Bewegung, wenn er mit besonderer Genugtuung die schöne und ruhige Hai-

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tung der Stadt in dieser an sich so unruhigen Zeit rühmte. Aber zugleich gab er dem Oberbürgermeister, der die mannigfachen Wünsche der Bürgerschaft, den Inhalt der Dunckerschen Petition und die preußischdeutschen Hoffnungen der Bürger nicht verschwieg, die Zusicherung, Preußen gehe mit Ernst und festem Willen vorwärts. Am nächsten Tage war Krausnick wieder bei Bodelschwingh und setzte diese Verhandlungen fort, die unter der doch noch immer bestehenden absoluten Regierung einen höchst ungewöhnlichen Versuch bedeuten, politischen Einfluß auszuüben. Jetzt nannte er sogar offen die Namen der Minister, deren Entlassung allgemein gewünscht wurde. Am 10. und 11. März mahnte er, das versprochene Preßgesetz und die ersehnte Proklamation über die deutsche Frage nicht länger hinauszuschieben. Bodelschwingh, der Krausnick wohl wegen seiner unzweifelhaft königstreuen Gesinnung so weit entgegen kam, erwiderte ihm, daß schon in einer Woche ein Ministerwechsel vollzogen sein würde, und daß man nur den Abschluß der Wiener Verhandlungen erwarte, um auch die deutschen Verheißungen zu erfüllen. Kein Zweifel ist möglich, daß Bodelschwingh nicht nur an Eichhorn und Thile, sondern auch an sich selbst gedacht hat. Seine ganze Politik beruht auf der Idee, daß er seinen König nur bis an die Schwelle des neuen Preußen führen könne, daß ein anderer aber der erste konstitutionelle Ministerpräsident sein müsse. Wie Bodelschwingh innerlich zum Konstitutionalismus stand, läßt sich nach dem, was wir heute über ihn wissen, noch nicht mit voller Bestimmtheit sagen. Irre ich nicht, so war ihm die konstitutionelle Doktrin kaum sonderlich sympathisch. Aber sein klarer Verstand erkannte, daß weder der bureaukratische Absolutismus des alten Königs, noch das ständische Ideal seines Nachfolgers auf die Dauer zu halten seien. Aehnlich wie Fürst Leiningen, der erste deutsche Ministerpräsident, ging er nicht von der Ueberzeugung aus, daß die konstitutionelle Regierungsform an sich die beste sei, aber beide waren unbefangen genug zu sehen, daß sie die Verfassung war, der die Herzen fast des ganzen Volkes gehörten, auf der allein ein vertrauensvolles Verhältnis von Fürst und Nation und damit eine aktive Politik aufzubauen war. An die Beseitigung einer starken Krone dachte er dabei natürlich keineswegs. Die Februarrevolution und ihre Folgen in Deutschland vollendeten seine Erkenntnis und mahnten ihn, den stillen Kampf gegen seines Königs romantische Ideen durch einen Sieg zu beenden. Krausnicks Drängen trieb ihn vorwärts und ließ ihn am 5. März dem Könige das erste Zugeständnis abgewinnen. Drei Tage darauf meinte gar Bodelschwinghs bedeutendster Gegner, Leopold v.

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Gerlach, daß Friedrich Wilhelm sich im Prinzip dem Konstitutionalismus zugewandt habe. Es war der Tag, an dem er eine Kabinettsordre unterzeichnete, in der die lange ersehnte Preßfreiheit im Grunde schon zugestanden wurde. Am 11. März war der König entschlossen, sich mit einer Proklamation unmittelbar an sein Volk zu wenden. Tags darauf, am 12. März, sprach Bodelschwingh zum ersten Male dem Monarchen seine Uberzeugung aus, daß für ihn die Zeit gekommen sei, zu gehen und frischen Kräften die Durchführung der beschlossenen Reformen anzuvertrauen. Aber schon reute den König seine Nachgiebigkeit. Die Proklamation, die am 14. März erschien, war weder die erwartete Verkündigung des Konstitutionalismus, noch enthielt sie ein kühnes deutsches Programm. Noch deutlicher offenbarte der König seine wahre Herzensneigung am 14. März gegenüber den Vertretern der Stadt Berlin. In der Hauptstadt hatte sich in denselben Tagen, in denen Krausnick und Bodelschwingh versuchten, den König für freie Gewährung der liberalen und nationalen Wünsche zu gewinnen, die zurückgehaltene Erregung lebendigere Ausdrucksformen geschaffen. In dem Leseinstitut, das Gustav Julius vor einem Jahre gegründet, in der „Zeitungshalle", bildete sich eine Art liberalen Aktionskomitees, das die Abfassung einer Adresse an den König beschloß und zu ihrer Beratung am 6. März eine Volksversammlung nach den „Zelten" berief. Am 7. März wurde in einer zweiten größeren Versammlung der Text mit seinen radikalen Forderungen festgestellt und am 8. in der Zeitungshalle über die Form der Überreichung debattiert, als der Polizeipräsident v. Minutoli erschien und gewaltsame Verhinderung eines derartigen Schrittes androhte 7 . Man beschloß daher, durch die Stadtverordneten die Adresse überreichen zu lassen. Inzwischen war den Stadtverordneten schon aus der Bürgerschaft eine Aufforderung zugegangen, dem Monarchen die Wünsche des Volkes vorzutragen. Sie hatten darauf durch eine Deputation eine Adresse ausarbeiten lassen, diese in öffentlicher Sitzung am 11. März angenommen und dem Magistrat mit dem Ersuchen überwiesen, ihr beizustimmen und sie gemeinsam mit den Stadtverordneten durch Deputierte dem Könige zu überreichen. Die Adresse der Zeltenversammlung wurde dagegen den Einsendern zurückgegeben. Der Magistrat hatte schon gegen die öffentliche Beratung der Adresse nichts eingewandt, jetzt trat er 7

So erzählt Kodihann, seit 1839 Stadtverordneter, übereinstimmend mit Wolfis

Revolutionsdironik in seinen im allgemeinen zuverlässigen Aufzeichnungen.

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ihr in einer außerordentlichen, von Krausnick auf Sonntag, den 12. März einberufenen Sitzung einstimmig bei und ernannte die Deputierten. Krausnick war unter ihnen. Am 14. März empfing Friedrich Wilhelm die Abordnung, und hier war es, wo er zwar die bevorstehende Einberufung des Vereinigten Landtages verkündete, aber zugleich von der guten, alten, deutschen Ordnung und von der Gliederung der Stände mit Worten sprach, die deutlich zeigen, wie er immer noch hoffte, mit dem Vereinigten Landtag eine Verfassung zu vereinbaren, die sich mit seinen nie aufgegebenen Idealen allenfalls vereinigen ließe. Ebenso entsprach der Wunsch nach gemeinsamem Vorgehen mit Österreich bei der deutschen Bundesreform, wie es die Proklamation „An mein Volk" ankündigte, der Herzensmeinung des Königs. Wie weit er innerlich von den populären Ideen über Deutschlands Zukunft entfernt war, dafür zeugt seine Unterhaltung mit dem General v. Schack vom 15. März. Als Schack äußerte, es bleibe nichts anderes übrig, „als sich der Leitung der für die Einheit Deutschlands ausgebrochenen Bewegung zu bemächtigen", erwiderte der König: „Nicht wahr, die Jakobinermütze aufsetzen?" — Worte, aus denen ich weniger eine launige Pointe, als eine bittere Ironie heraushören möchte. So war die Uberleitung Preußens in den Konstitutionalismus und die entschlossene Durchführung der deutschen Einheitsbestrebungen durch Preußen noch keineswegs gesichert. Doch war sie immerhin durch das noch am Abend des 14. März publizierte Patent wegen der Einberufung des Vereinigten Landtages soweit vorgeschritten, daß Bodelschwingh aufs neue seinen königlichen Herrn bat, nun auch die unvermeidlichen Änderungen in den leitenden Stellen vorzunehmen und ihn durch einen Mann zu ersetzen, der sofort die Stände berufen und mit ihnen die Reformen ins Werk setzen könne. Denn sich selbst hielt Bodelschwingh durch seine bisherige Politik mit Recht für unmöglich. Er hatte im Vorjahre mit ebenso viel Geschick wie Festigkeit die über die Bewilligungen des Februarpatentes hinausgehenden Wünsche des Vereinigten Landtags bekämpft. Wie hätte er jetzt als Haupt einer konstitutionellen Regierung auf Vertrauen rechnen können! Auch dem Könige gegenüber wäre seine Stellung unhaltbar geworden. Bodelschwingh hat es selbst später ausgesprochen, er sei zu lange des Königs erster Schreiber gewesen, um verantwortlicher Ministerpräsident werden zu können. Es liegt fast etwas wie Wehmut in diesem Worte, das Bewußtsein der Tragik jedes geistig bedeutenden Dieners, der seines Herrn Befehle ausführt, trotzdem sie in Not und Verwirrung führen müssen. Aber Bodelschwingh

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hatte nun einmal von Anfang an sein Amt so aufgefaßt, daß er wohl mit offenem Rat die Ansichten seines Herrn zu lenken sich mühte, wenn aber die Entscheidung gefallen war, mit unbeirrbarer Treue an ihr festhielt und sie gegen jedermann vertrat. Unabwendbarer als je schien Bodelschwingh am 15. März die Notwendigkeit sofortigen Handelns, wenn Preußen das Schicksal der süddeutschen Staaten vermeiden wollte. Das Hervortreten der städtischen Behörden, in denen sich der gemäßigte Teil der Bürgerschaft verkörperte, und die blutigen Zusammenstöße der Menge mit den Truppen, die am 13. März begonnen hatten, erfüllten ihn mit schwerster Besorgnis. „Jeder Tag", so schrieb er dem Könige, „kann das zerstören, was heute noch ausführbar erscheint." In der Tat hatte sich durch das energische Vorgehen des Militärs, das mit der Haltung der Regierung, der Zivilbehörden, in einem gewissen Widerspruch stand, die Lage verschlimmert. Auch der zwar liberalen, aber königstreuen Majorität der Bürgerschaft hatte sich eine heftige Erbitterung gegen das Militär bemächtigt, die auf ihre Haltung gegenüber der Regierung zurückwirken mußte. Auf der anderen Seite war die Gereiztheit der seit über eine Woche alarmierten, tagelang ungenügend verpflegten Truppen nur zu begreiflich. Sie hatte besonders am Abend des 14. März in der Brüderstraße zu bedauerlichen Ubergriffen geführt. Bodelschwinghs Politik wurde immer schwieriger. Sie hatte nur das Ziel, die Bewegung durch Reformen zu überwinden, die seiner Überzeugung nach kommen mußten, setzte aber ein empfängliches, dankbares Volk voraus. Der Riß zwischen Zivil und Militär drohte, seine Bemühungen zu durchkreuzen, Mißtrauen an Stelle freudiger Dankbarkeit zu setzen. So versprach er denn im Einverständnis mit dem Gouverneur, dem Kommandanten und dem Polizeipräsidenten öffentlich, wirklich vorgekommene Ausschreitungen der Truppen sollten streng bestraft werden, und versuchte zugleich, die aufgeregten und allmählich auch aufgehetzten Volksmassen ohne erneutes Eingreifen des Militärs in Schranken zu halten. Das rechte Mittel dazu glaubte er in bürgerlichen Schutzkommissionen zu finden, von denen er noch im vergangenen April unter ähnlichen Verhältnissen nichts hatte wissen wollen. Die Anregung ging wieder von den städtischen Behörden aus, ihre Verwirklichung erfolgte im Laufe des 16. März nach einer Konferenz zwischen Bodelschwingh, dem Oberbürgermeister, dem Stadtverordneten-Vorsteher und den militärischen Chefs. Freilich zeigten sich die mit weißen Binden und Stäben ausgestatteten Bürger an diesem Tage nicht imstande, die immer wachsende Menschenmasse vor dem Opernplatz auseinander zu bringen, so daß wieder Militär einschritt. Indessen

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war wohl nicht nur die bissige Spottlust der Berliner an dem Mißerfolg der „Leichenbitter" schuld, sondern ihre noch unvollendete Organisation. Als der Zusammenstoß beim Opernhaus erfolgte, war zum Beispiel die Schutzkommission in der Breitestraße noch in der Bildung begriffen. Auch die Studenten, die inzwischen in der Aula unter heftigen Debatten über die Art ihrer Teilnahme an dem Sicherheitsdienst beraten hatten, rückten jetzt erst in einem größeren Zuge zum Cöllnischen Rathaus an, um den Stadtverordneten ihre Dienste anzubieten. Man kam dahin überein, daß die Studenten sich in Gruppen von zwanzig bis vierzig Mann verteilen und unter eigenen Führern, aber unbewaffnet und mit Binden, die bürgerlichen Wachen unterstützen sollten. In einem Bericht an Bodelschwingh drückt die Schutzkommission der Breitestraße ihre lebhafte Befriedigung über das Erreichte und ihre Hoffnungen für die Zukunft aus. „Wenn Gemeinsinn und Achtung vor dem Gesetz", so heißt es in dem redefrohen Stile dieser Zeit, „als die wesentliche Grundlage der neuen Zustände zu betrachten sind, denen wir nach der Verheißung unseres erhabenen Königs in Kurzem entgegensehen, und auf welche die Bevölkerung Preußens mit unverkennbarer Ungeduld, aber in Treue gegen ihr hohes Herrscherhaus harrt, so dürfen wir uns freuen, diese Grundlagen einer kräftigen Verfassung in den Gemütern der Bürger und der geistgeweckten Jugend, aus der die künftigen Vertreter des Volkes hervorgehen werden, in so erhebender Weise vorbereitet zu finden8." Mit „unverkennbarer Ungeduld" harrten auch diese loyalen Bürger der verheißenen Verfassung. Die Erwartung wurde noch gesteigert durch die Kunde von der Wiener Revolution, die am 16. früh in Berlin eintraf und überall tiefen Eindruck machte. Vielleicht noch stärkeren Einfluß aber übte sie auf Bodelschwingh aus. Wir wissen es von ihm selbst und wissen es von Nobiling, der am Nachmittage des 16. März eine Audienz bei ihm hatte. Die Ubereinstimmung schließt jeden Zweifel aus. Dazu erhielt Bodelschwingh noch an demselben Vormittage durch den General v. Thile die Nachricht, daß der König sich von der Notwendigkeit seines Rücktritts überzeugt habe und dem Grafen Alvensleben, dem früheren Kabinettsminister, das Ministerium antragen wolle. So war denn auch in dieser Hinsicht die Bahn für ihn frei und es blieb ihm nichts mehr zu tun, als „die entscheidenden Schritte vorzubereiten", die sein Nachfolger ausführen sollte. Die Würfel waren gefallen, der Ubergang Preußens zum konstitutionellen System beschlossen. Als 8

Geh. St. A. Berlin, Rep. 77. Tit. 501, No. 3, vol. II.

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Graf Alvensleben das Amt ablehnte, ging Bodelschwingh nach seiner bestimmten, schon am 30. März 1848 in einem Privatbriefe gemachten Angabe noch am Abend des 17. März auf eigene Hand zum Grafen Arnim, versicherte sich seines Einverständnisses und schlug ihn sofort dem Könige als seinen Nachfolger vor 9 . Ferner war schon im Laufe dieses Tages ein freisinniges Preßgesetz ausgearbeitet und vollzogen worden, über dessen Entstehung wir noch nichts Näheres wissen. Und dann schrieb der Minister in der Stille der Nacht das berühmte Patent vom 18. März wegen beschleunigter Einberufung des Vereinigten Landtags. Das Patent enthält mehr als sein Titel sagt. Es enthält vor allem ein vollständiges Programm für die deutsche Reformpolitik Preußens und im engsten Zusammenhange mit diesem die Verheißung konstitutioneller Verfassungen für alle deutschen Länder, also auch für Preußen. Welchen Erwägungen verdankt es sein Entstehen? Keinen anderen als denen, die Bodelschwingh selbst angegeben hat, die auch das Patent, falls man es nur unbefangen interpretiert, mit klaren Worten ausspricht: der Erkenntnis, daß Preußen nach der Wiener Revolution keinen Augenblick zögern dürfe, die liberalen und nationalen Forderungen zu erfüllen, um eine Berliner Revolution zu vermeiden. Nirgends vermag ich einen greifbaren Anhaltspunkt für Rachfahls These zu finden, daß Bodelschwingh und mit ihm der König entschlossen gewesen seien, um ihres preußisch-deutschen Ehrgeizes willen den Konstitutionalismus für die Einzelstaaten wie für den zu schaffenden Bundesstaat zu bewilligen. Nur soviel ist richtig, daß auch ihnen eine Bundesreform am Herzen lag, und daß Bodelschwingh schon am 14. März diese nur für ausführbar hielt, wenn Preußen auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung in Deutschland zählen könne. Aber der Hauptantrieb zu den Reformen im Innern lag für ihn nicht in solchen Gedanken, sondern in der Stimmung des preußischen Volkes und vor allem Berlins. Wenn noch irgend ein Zweifel darüber bestehen könnte, so wird er endgültig durch die jüngst erschienenen Aufzeichnungen des Majors v. Oelrichs über die Flucht des Prinzen von Preußen beseitigt. Danach ist der Prinz sofort, nachdem er die Depesche über 9 Graf Arnim hat diese Darstellung in einer Erklärung vom 31. Januar 1849 bestritten. Er habe erst am 18. März, nachdem er das vollzogene Patent von diesem Tage bereits gelesen, von der Absicht erfahren, ihn zum Ministerpräsidenten zu ernennen. Er oder Bodelschwingh muß sich irren. An eine absichtliche Entstellung der Wahrheit ist bei beiden nicht zu denken. Die Darstellung des damaligen Ministers des Auswärtigen, v. Canitz, beweist nichts gegen eine Vorbesprechung zwischen Bodelschwingh und Arnim am 17. März.

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die Wiener Revolution erhalten, zum Minister des Auswärtigen v. Canitz gefahren und hat mit ihm die politische Lage besprochen. Sie beide sind der Ansicht gewesen, daß „nach diesem Vorgange eine ähnliche Bewegung in Berlin nicht mehr aufzuhalten sein würde", wenn nicht sofort Zugeständnisse erfolgten. Der Prinz hat dabei die Worte gebraucht: „Es bleibt nichts übrig, als sich an die Spitze der Bewegung zu stellen." Das war ja auch der eine immer wiederholte Grundgedanke gewesen, den Krausnick seit über einer Woche als der berufene Interpret der Wünsche der Hauptstadt dem Minister vorgetragen hatte: liberale und nationale Politik, um die unaufhaltsam wachsende Volksbewegung in heilsame Bahnen zu lenken. Er ist auch Bodelschwinghs Leitstern geworden, wie sein Schreiben an den König vom 15. März beweist, das durch seine Äußerungen über die Wiener Revolution gegenüber Nobiling im wesentlichen bestätigt wird. Zur Gewißheit wird diese Auffassung aber, wie ich glaube, noch durch einen besonderen Umstand. Das Patent ist in der Nacht vom 17. zum 18. März niedergeschrieben worden, allem Anscheine nach ohne vorhergehende Ermächtigung seitens des Ministerrats oder des Königs. Diese ganz außerordentliche Eile wäre schwer begreiflich, wenn es sich um das Signal für die neue, aggressive Politik Preußens gegenüber Österreich gehandelt hätte, für das es Rachfahl hält. Dagegen wäre sie wohl verständlich, wenn man das Patent als den Ausdruck der innerpolitischen Lage ansieht. Zwar war gerade der 17. März ohne Zusammenstöße zwischen Militär und Bürgerschaft verlaufen, und Bodelschwingh hatte am Nachmittag nach Köln telegraphiert, es wäre kein Anzeichen dafür vorhanden, daß die Unruhen der letzten Abende sich erneuern würden. Auch soll er an diesem Tage die später von ihm bestrittene Äußerung gegenüber dem russischen Gesandten getan haben, er könne nach Hause schreiben, in Berlin sei die Sache abgemacht. Aber einmal wird das Telegramm absichtlich gefärbt worden sein, um in den aufgeregten Rheinlanden beruhigend zu wirken10, während die Äußerung an den Gesandten v. Meyendorff trotz Nobilings Bestätigung kaum als authentisch gelten kann. Andererseits war Bodelschwingh viel zu sehr von der Notwendigkeit des Systemwechsels überzeugt, als daß der ruhige Verlauf des 17. März seine Ansicht hätte ändern können. Sind die Worte an Meyendorff wirklich gefallen, so wird man sie dahin auffassen müssen, daß der Minister, fest entschlossen zur Reform und der Zustimmung des Königs seit dem 16. März sicher, von ihr die Bewah10

Es ist deshalb audi in der Kölnischen Zeitung veröffentlicht worden.

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rung der Ruhe mit Bestimmtheit erwartete 11 . Die ungewöhnliche Eile der Niederschrift des Patentes wäre freilich auch dann noch auffallend, wenn sie nicht ihre Erklärung durch eine Nachricht fände, die Bodelschwingh am Abend des 17. März erhielt: die Nachricht von der für den folgenden Mittag geplanten großen Kundgebung vor dem Schlosse. Dr. Woeniger, der vom gemäßigten Liberalen sich plötzlich zum radikalen Volksführer entwickelt hatte, war es, der auf die Idee eines Aufzuges der Schutzbeamten vor dem Schloß gekommen war, um einen entscheidenden Druck auf die Regierung auszuüben. Eine Nachmittagsversammlung in der Köpenickerstraße hatte ihm beigestimmt und beschlossen, durch eine Deputation dieser Menge von mehreren tausend Bürgern dem Könige eine Adresse zu überreichen, in der unter anderem die Zurückziehung des Militärs und die Organisation einer bewaffneten Bürgergarde verlangt wurde. Der Gedanke wurde am Abend in mehreren Versammlungen unter manchmal stürmischen Debatten weiter erörtert. An seiner Ausführung war trotz energischen Abratens der Besonnenen nicht zu zweifeln. Von einer gewaltsamen Revolution, von einem Eindringen ins Schloß oder von der Erklärung der Republik war freilich nicht die Rede 12 , aber daß in ihr der Keim zu neuen, höchst gefährlichen Zusammenstößen lag, ist von Mitgliedern der städtischen Behörden in der großen abendlichen Versammlung der Schutzbürger im Cöllnischen Rathause selbst betont worden. Viel bedenklicher noch mußte der Plan, auch ohne die übertreibende Ausdeutung durch die Polizeiorgane, Bodelschwingh erscheinen. Seine ganze Politik stand auf dem Spiel, wenn diese Massenbewegung zustandekam, ehe der König die innerlich schon gewährten Verheißungen veröffentlicht hätte. Die Demonstration mußte unter allen Umständen vermieden werden. Deshalb setzte sich der Minister noch in der Nacht hin, um das Patent zu schreiben, das er in früher Morgenstunde zu Canitz und Arnim und dann zum Könige trug, damit es, unterschrieben, sofort in die Druckerei gehe. Gäbe Bodelschwingh nicht selbst in seinem Briefe vom 30. März diese Darstellung, so müßten wir sie doch mit aller Sicherheit aus dem schließen, was wir sonst wissen. Nur wenn er das Patent, das alle Hoffnungen erfüllte, fertig hatte, konnte er erwarten, durch den Einfluß der städtischen Behörden die gefürchtete Petition zu vereiteln. An einen solchen Einfluß aber glaubte er und richtete daher 11

Audi Leo, der in seiner Flugschrift „Signatura temporis" die Äußerung zuerst

erwähnt, hat sie so aufgefaßt. 12

Das hat Rachfahl im Gegensatz zu übertriebenen Meldungen der Polizei und

vielfach geglaubten Gerüchten überzeugend nachgewiesen.

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nach der Niederschrift des Patentes beim Morgengrauen des 18. März ein eiliges Billet an Krausnick: „In der verflossenen Nacht hat mir ein Bezirksvorsteher (vom Gensd'armen-Markt) gemeldet, daß mehrere Schutzkommissionen, in die sich viele Juden eingedrängt (er glaubt, von der 9. ausgehend), heute um zwei Uhr eine große Demonstration durch Adreßüberreichung vorbereiten. Auch v. Minutoli meldet dieses Vorhaben. Da nun gerade heute, wo sich vieles bei uns entwickeln dürfte, eine solche Demonstration höchst unangenehm wäre, ja, Preußens Schicksal wenden könnte, so halte ich es für meine Pflicht, ihr möglichst entgegen zu wirken und bitte Euer Hochwohlgeboren, mir dazu Ihren Beistand leihen zu wollen. Namentlich wäre es mir sehr erwünscht, wenn Sie heute früh um 8 Uhr — womöglich mit dem Syndikus Mebes13 — zu mir kommen könnten; v. Minutoli kommt dann auch. Berlin, 18. 3. 48. Bodelschwingh". In der Konferenz bat der Minister die beiden Magistratsmitglieder, ihren Einfluß geltend zu machen, um die Demonstration zu verhindern. Wenn er ihnen auch das vom Könige noch nicht unterzeichnete Patent vorenthalten mußte, so konnte er doch mit gutem Grunde von den unmittelbar bevorstehenden Reformen ihnen Mitteilung machen. Dadurch gelang es ihm, in den Vertretern der Stadt überzeugte Anhänger seiner Politik zu gewinnen, die sich sofort mit Erfolg bemühten, den Massenaufzug noch in letzter Stunde zu verhüten. Er wurde ersetzt durch eine aus Magistratsmitgliedern und Stadtverordneten bestehende Deputation, welcher der König jetzt, nach Unterzeichnung des Patents, die befriedigendsten Versicherungen geben konnte. Eine amtliche Bekanntmachung des Magistrats teilte den Erlaß des Preßgesetzes und in nicht sehr glücklichen allgemeinen Wendungen den Entschluß des Königs zu weitgehenden Reformen mit. Die Unbestimmtheit des Plakats mochte manchen veranlassen, nach dem Schlosse zu eilen, um Näheres zu erfahren, andere kamen wohl noch in der Ansicht, die geplante Demonstration fände doch statt, noch andere, um dem Könige für seine Bewilligungen zu danken. In der Tat wurden Jubel und Begeisterung laut, die sich verstärkten, als der Monarch auf dem Balkon erschien. So war schließlich eine wachsende Menschenmenge auf dem Schloßplatz versammelt, und nun langten auch die ersten Druckexemplare des Patentes an. Sie wurden von vielen 13

Karl Eduard Moewes, seit 1832 Syndikus.

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mit Freude aufgenommen, manchen aber schienen die Verheißungen zu gering. Fehlte unter ihnen doch das Versprechen, das seit den letzten Tagen von der Bürgerschaft am lebhaftesten ersehnt wurde — das Versprechen, die Truppen zurückzuziehen und durch eine Bürgergarde zu ersetzen. Während solche Gedanken noch besprochen wurden, drängte die Menge immer dichter an die Schloßportale und erblickte deutlicher die in den Höfen aufgestellten Truppen. Der Ruf „Militär zurück!" erscholl und pflanzte sich von Mund zu Mund fort. Alle Versuche, durch Zureden die aufgeregten Massen zu beruhigen, mißlangen. Militär schritt ein. Dabei fielen, als der Schloßplatz schon fast geräumt war, jene beiden Schüsse, die das Signal zur Revolution gaben. Bodelschwinghs Politik war im letzten Augenblick gescheitert. Daß sie scheitern mußte, wird niemand behaupten dürfen. Vielmehr lag in ihr die einzige Möglichkeit, die unvermeidliche Umbildung Preußens in den modernen Verfassungsstaat ohne schwere Erschütterungen durchzuführen. Ihrer Notwendigkeit hatte sich zuletzt der König, ja selbst der Prinz von Preußen nicht verschlossen. Daß sie zunächst nicht zum Ziele führte, lag darin, daß sie von ihrer besten Waffe, dem konstitutionellen Verfassungsversprechen, erst um einen oder wohl richtiger um mehrere Tage zu spät Gebrauch machen konnte. Dadurch war es gekommen, daß die politische Bewegung nicht nur radikaler geworden, sondern bei vielen Bürgern und Arbeitern geradezu zurückgetreten war hinter den H a ß gegen das Militär, das in der letzten Woche die innerlich schon aufgegebene Stellung des Absolutismus hatte stützen müssen. Die Schuld traf niemanden weniger als Bodelschwingh. Trotzdem war noch nicht alles verloren. Gelang es den Truppen, den Aufstand schnell niederzuwerfen, so war die Wiederaufnahme der unterbrochenen Politik des 18. März wohl möglich. Dann hielt der siegreiche Monarch seine Verheißungen aufrecht, vereinbarte mit dem zum 2. April berufenen Landtag eine gemäßigt konstitutionelle Verfassung und lenkte durch eine kühne deutsche Politik die Herzen seines Volkes von den inneren Schwierigkeiten ab auf eine glänzende nationale Zukunft. Nur ein großes Bedenken muß dieses Bild einer an sich möglichen Entwicklung erwecken: Friedrich Wilhelm IV. war nicht der Herrscher, den es voraussetzt. Die Verbindung von Vorurteilslosigkeit, Kühnheit und Festigkeit, die eine solche Politik erfordert hätte, lag nicht in seinem Charakter. Wir wissen, daß alles ganz anders kam. Die Truppen blieben siegreich, aber sie wurden der Früchte ihres Sieges durch den Rückzugsbefehl vom 19. März beraubt, und der König geriet in die Gewalt der 12

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Volksmenge. Es kam zu der peinlichen Szene im Schlosse, der Huldigung des Königs vor den Leichen der Barrikadenkämpfer, der „Avilierung des Königtums". Trägt Bodelschwingh wirklich die Verantwortung dafür? Zwei Vorwürfe sind es, die immer wieder gegen ihn erhoben werden. Der erste tadelt ihn, weil er die in der Nacht vom 18. zum 19. März niedergeschriebene Proklamation des Königs „An meine lieben Berliner" nicht zurückgehalten, sondern sofort in die Druckerei gegeben hat. Schon Leopold v. Gerlach hat diesen Vorwurf erhoben und von ihm beeinflußt Heinrich Leo, der Historiker der romantischen Reaktion. Aber eine unbefangene Untersuchung wird nicht ihnen sich anschließen dürfen, sondern den überzeugenden Gründen, mit denen Rachfahl Bodelschwingh verteidigt. Auch wenn man im Gegensatz zu Radifahl und einem so konservativen Manne wie Roon mit Petersdorff oder Friedrich Thimme die nächtliche Herzensergießung des Königs für einen politischen Fehler hält, so blieb doch Bodelschwingh schwerlich etwas anderes übrig, als sie sogleich drucken zu lassen. Denn er war kein konstitutioneller Minister und fühlte sich nicht als solcher, und er hätte mit der Unterdrückung der Proklamation eine Verantwortung auf sich geladen, die nur ein allmächtiger Premierminister, aber nicht der abgehende Minister eines noch immer absoluten Monarchen auf sich nehmen durfte. Rachfahl hat doch wohl recht, wenn er in dem königlichen Handschreiben an Bodelschwingh, das die Proklamation begleitete, nur einen „in besonders verbindliche und freundliche Form gekleideten Befehl" sieht. So hat auch der Minister selbst die Botschaft verstanden. Schwerer wiegt die zweite Anklage. Bodelschwingh soll nach ihr der Urheber des verhängnisvollen Befehls gewesen sein, der die Truppen im Einklang mit den Wünschen der Bürgerschaft von allen Straßen und Plätzen zurückrief, ohne daß vorher die Barrikaden niedergelegt worden wären, wie es bis dahin der König stets gefordert hatte. Nun ist soviel gewiß, daß Bodelschwingh diesen Befehl der noch im Sternensaale des Schlosses wartenden Deputation unter dem Bürgermeister Naunyn und den anwesenden hohen Offizieren überbracht und die Einwendungen des Prinzen von Preußen mit Schärfe zurückgewiesen hat. Und auch das ist gewiß, daß Friedrich Wilhelm I V . bald danach versichert hat, er habe Bodelschwingh keinen anderen Auftrag gegeben, als den, der in der Proklamation enthalten sei. Diese aber setzte für den Abzug des Militärs das Verschwinden der Barrikaden voraus. Trotzdem ist es nicht möglich, Bodelschwingh für den unbedingten Rückzugsbefehl verantwortlich zu machen. Einmal ist es nicht zu entscheiden, ob

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Bodelschwingh nicht noch hinzugefügt hat, Schloß und Zeughaus seien stark zu besetzen. Er selbst behauptet das schon in seinem Briefe vom 30. März und dann wieder in seiner gedruckten Erklärung vom N o vember 1848. Freilich wäre ein solcher Befehl nach der Ansicht der militärischen Sachverständigen kaum ausführbar gewesen. Vor allem aber stimmen die Berichte, auch der des Prinzen von Preußen, darin überein, daß Bodelschwingh sich zunächst mit dem Könige und dem Grafen Arnim in ein Nebenzimmer zurückgezogen habe und plötzlich aus diesem in großer Erregung, mit rotem Kopfe, hervorgestürzt sei und den verhängnisvollen Befehl des Königs verkündet habe. Die ganze Situation ist nur so zu erklären, daß Bodelschwingh mit diesem Befehle nicht einverstanden war, daß er ihn nicht gegeben, sondern nur verkündet, und daß der König selbst in der Verwirrung des Augenblicks ihn erteilt und den Widerspruch des Ministers heftig zurückgewiesen hat. Mit großem Scharfsinn hat Rachfahl in ausführlicher Untersuchung diese Auffassung begründet, die allein im stände ist, die verschiedenen Quellenzeugnisse zu vereinen, ohne ihnen Gewalt anzutun. Freilich kommt auch er nur zu einer Wahrscheinlichkeit, und das Wort Thimmes behält eine gewisse Berechtigung, daß eine „auch nur halbwegs sichere Feststellung der sich um den durch Bodelschwingh überbrachten Rückzugsbefehl gruppierenden Vorgänge auch heute noch unmöglich ist." N u r das darf man behaupten, und die mir freundlichst überlassenen Erinnerungen der Tochter Bodelschwinghs bestätigen es, daß ihr Vater durch die Folgen des Rückzugs aufs schmerzlichste getroffen worden ist, ohne sich auch im intimsten Kreise nur einen Augenblick eigener Verschuldung bewußt gewesen zu sein. Rachfahl hat demgegenüber den General von Prittwitz als den eigentlich Schuldigen an dem traurigen Ausgange erweisen wollen, der streng monarchisch gesinnte Thimme alle Verantwortung dem Könige zugeschoben. Wir können an dieser Stelle darauf nicht näher eingehen14. Mit Entschiedenheit aber muß dem immer wieder aufgenommenen Versuche widersprochen werden, Bodelschwingh als den Schuldigen hinzustellen. Alle diese Bemühungen gehen 14 In einer nach Abschluß dieses Aufsatzes erschienenen Untersuchung in der Historischen Vierteljahresschrift, Bd. X V I I , S. 54 ff. versucht der Greifswalder Privatdozent Dr. Bergsträßer, Arnim als den Verantwortlichen nachzuweisen. Soviel steht jedenfalls fest, daß Arnim mit dem unbedingten Abzug der Truppen einverstanden war. Die Frage ist nur, ob durch ihn der entsprechende Befehl im Kampf gegen Bodelschwingh durchgesetzt worden ist. Bergsträßers Urteil über Bodelschwingh stimmt mit dem meinen völlig überein. Wenn er aber das Patent v o m 18. März vor allem auf den Einfluß des rheinischen Oberpräsidenten Eichmann zurückführt, so kann ich darin nur ein verstärkendes, nicht das Hauptmoment sehen.

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auf die altpreußische Militärpartei zurück, die für die Erniedrigung des Königtums einen Schuldigen suchte. Zuerst glaubte sie, ihn in dem Grafen Arnim gefunden zu haben; als dieser sich energisch wehrte, richtete sie ihre Angriffe gegen Bodelschwingh. Es kam ihr zu Hilfe, daß auch der Polizeipräsident von Minutoli jemanden brauchte, auf den er die ihm von vielen Seiten gemachten Vorwürfe, er habe die revolutionäre Bewegung unterschätzt, abwälzen konnte. Dafür bot sich kein Geeigneterer, als der gefallene Minister, der fern von der Hauptstadt und den Geschäften weilte. Wie König Friedrich Wilhelm IV. selbst unter dem unmittelbaren Eindruck der erschütternden Ereignisse des 19. März über Bodelschwingh gedacht hat, davon gibt uns seine von Petersdorff angeführte Äußerung zu dem Justizminister Uhden Kunde: „Man zwingt mich hier zu einer Konzession nach der andern; ich muß fort nach Potsdam; soeben habe ich die Polen frei lassen müssen. Kommen Sie auch hin, sagen Sie Bodelschwingh, er solle hinkommen und alles was mir noch treu ist, soll sich dort versammeln15."

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Nach Gerladis Denkwürdigkeiten, Bd. 1, S. 145.

Die Epochen der Wirtschaftsgeschichte Berlins Reiz und Schwierigkeit der Berliner Geschichtsschreibung entspringen aus dem Gestaltwandel dieser Stadt, die stets nur für begrenzten Zeitraum die gleichen Wesenszüge trägt. Mögen wir die politische, die geistige oder die wirtschaftliche Entwicklung betrachten, immer überrascht uns die Wendung zu neuen Aufgaben und Zielen. Jeder dieser großen Abschnitte aber, in die sich das Geschehen gliedert, ist in sich geschlossen, von ausgeprägter K r a f t und Eigenart. Es ist nicht nur ein vielfältiges Werden, sondern immer auch ein bedeutendes Sein, von dem jede Zeit zu künden weiß. Wie sich dieser Wandel in den Formen des Wirtschaftslebens spiegelt, sollen die folgenden Zeilen zu zeigen versuchen. Der jungen Stadt Berlin, die um 1230 im Zuge der großartigen Kolonisation des deutschen Ostens gegründet wurde, war die Aufgabe gestellt, wirtschaftliche Kräfte zu entfalten. Als Handelsstadt errang sie die Stellung, durch die sie das ältere Brandenburg überflügelte und mit der jüngeren Oderstadt Frankfurt gleichen Schritt hielt. Mit staatsmännischem Blick hatten ihre Gründer, die Markgrafen Johann und Otto, für die Anlage der Stadt die Stelle ausgesucht, an der eine von Westen über Magdeburg und Brandenburg heranziehende und eine aus dem Sächsischen kommende Straße sich trafen, um gemeinsam am Mühlendamm den Spreepaß zu überschreiten. Diese natürlichen Vorteile wurden früh durch das Niederlagsrecht verstärkt, das die durch fremde Kaufleute über Berlin gebrachten Waren mit einer Abgabe belastete, falls sie nicht hier verkauft wurden. Das Niederlagsrecht lag in der Hand des die Stadt regierenden Rates, in dem die Kaufleute die ausschlaggebende Stellung besaßen. Sie führten die dem Menschen des Mittelalters unentbehrlichen Gewürze des Orients, Pfeffer, Ingwer und Saffran, dazu Thüringer Eisen- und Stahlwaren, Salz und Wein, die vom Süden und Westen nach Berlin kamen, weiter gen Osten. Nach Hamburg verschifften sie Getreide, von der Ostsee holten sie frische, gesalzene oder geräucherte Heringe, neben dem Korn das wichtigste Nahrungsmittel der Masse. In Stettin, in Anklam oder am Sund war der Berliner Kaufmann zu Hause. Er bezog in Ballen die begehrten flandrischen Tuche und verkaufte aufs Land und nach dem Osten die

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Erzeugnisse der Tuchmacher Berlins. Um des Korn- und Tuchhandels wegen vor allem schloß sich Berlin dem großen Wirtschaftsbund der norddeutschen Städte, der Hanse, an. Die Schiffergilde, die nach Magdeburg und Hamburg fuhr, stiftete 1344 ihrem Schutzpatron, dem heiligen Nikolaus, einen eigenen Altar. Auf den Jahrmärkten im Mai und September zu Berlin, im November drüben in der Schwesterstadt Cölln gipfelte der Austausch jener Fülle von Waren, von denen die Zoll- und Niederlagssätze des Berliner Stadtbuches berichten. Bevorzugt war der Kaufmann aus der Mark, vervielfacht war der Zoll, den der oberdeutsche Tuchhändler zu zahlen hatte. Im Kaufhaus der Tuchhändler, im Kramhaus auf dem Neuen Markt, im Sdiuhhaus zu Cölln, auf den Plätzen und Straßen mit ihren Buden und Marktzelten wogte das bunte Treiben. Einmal in jeder Woche brachten die Bauern der benachbarten Dörfer Butter und Käse, Eier, Honig, Korn, Wolle und Felle auf den Markt und kauften Wein und Bier, Haus- und Küchengeräte, Kleidung und Schuhe dafür ein. Hinter dem Handel trat die Ausbildung gewerblicher Fertigkeiten zurück. Nur die den einfachsten Bedürfnissen dienenden Handwerke waren stark genug vertreten, um Innungen bilden zu können. Doch müssen die Schuhmacher Berlins sich eines gewissen Rufes erfreut haben. Sie suchten regelmäßig die Märkte anderer märkischer Städte auf und hielten zäh an diesem Vorrecht fest. Auch fehlte es nicht an Malern und Goldschmieden; leider besitzen wir keine sicheren Zeugnisse über den Rang ihres Könnens. Das Ende der politischen Selbständigkeit der Stadt, die sich 1442 und noch einmal 1448 nach einem mißglückten Aufstandsversuch dem Kurfürsten Friedrich II. unterwerfen mußte, kostete den Rat auch den Verlust seines Niederlagsrechtes. Die damit auf den Staat übergegangene Leitung der Wirtschaftspolitik war indessen zunächst wenig erfolgreich. Die gesamte Mark Brandenburg erlitt seit der Mitte des 15. Jahrhunderts einen wirtschaftlichen Rückschlag. Die hansischen Seestädte errangen das Recht freien Handelns in der Mark, in Sachsen blühte eine überlegene Tuchindustrie auf, und der Verkehr mit Polen ging in oberdeutsche und sächsische Hände über. Einzig Frankfurt baute seine Stellung als Messestadt aus. Immerhin, die alten Geschlechter Berlins behaupteten sich in ihrer sozialen Stellung, ja die Verlegung der kurfürstlichen Residenz in das 1443 erbaute Schloß zu Cölln gab ihnen neue Möglichkeiten. Thomas Blankenfelde, Friedrichs II. Hoflieferant, stand mit den Herzögen von Mecklenburg wie mit Nürnberg in Verbindung. Die größten Handelshäuser Süddeutschlands, die Fugger und Welser,

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hatten in Berlin ihre Vertreter. Zum Mittelpunkte des Verkehrs im östlichen Binnendeutschland aber wurde damals Leipzig. Auf dem Wege zur Leipziger Messe wurden 1478 zwei Bürgermeister von Berlin und Cölln durch den fehdelustigen Heine von Erdmannsdorf gefangen genommen. Nach Leipzig führten die aus alten Ratsfamilien stammenden Blankenfelde und Wins Ostseefische aus, um Silber und Erz dafür einzutauschen. Einen Wendepunkt im Handelsleben Berlins brachte indessen erst die Renaissance, die unter Joachim II. zur Herrschaft gelangte. Wir dürfen ihrer nur in kurzen Worten gedenken, ist sie doch in diesen Blättern erst vor wenigen Jahren ausführlich gewürdigt worden 1 . Die tragische Gestalt des Andreas Lindholz taucht vor uns auf, der nach Jahren des Glücks 1589 in Armut sein Leben beschloß. Und neben ihm der Cöllner Bürgermeister Joachim Grieben, der die Versorgung der Mark und Schlesiens mit Lüneburger Salz in seiner Hand zu vereinen strebte, aber als Opfer seiner gewagten Geldgeschäfte mit dem Kurfürsten im Schuldgefängnis endete. Wir erinnern uns an die abenteuerliche Reise der Brüder Tempelhoff zu dem Großfürsten von Moskau, dem sie ein kostbares Geschmeide gegen Zobelfelle verhandelten. Ihr Auftraggeber, der Bürgermeister Hieronimus Tempelhoff, pflegte außer seinen Leipziger Beziehungen als Hopfenlieferant die Verbindung mit den Brauhäusern Hamburgs. Die europäische Wirtschaftskrise, die Ende der 60er Jahre die Mark erreichte, bereitete dem Spekulationsfieber ein Ende. Doch bewahrte Berlin Anziehungskraft genug, um protestantische Kaufleute aus dem Rheinland zur Niederlassung in seinen Mauern zu bewegen. Das Handelshaus Weiler, Sturm und Co., dessen Inhaber sich mit Berliner Patriziertöchtern verheirateten, hat zwei Menschenalter lang eine bedeutende Stellung eingenommen. Sein Glanz erlosch erst, als die Häupter des Hauses 1638/39 schnell nacheinander dahinstarben. Der Dreißigjährige Krieg vernichtete den Wohlstand Berlins, obgleich es nie durch feindliche Truppen eingenommen wurde wie seine Nebenbuhlerin, die Oderstadt Frankfurt. Von den 8000 oder 9000 Einwohnern, die Berlin um 1600 gehabt haben mag, waren nur 6000 übrig geblieben. Hunderte von Häusern standen leer, viele waren eingestürzt oder dem Verfall nahe. Sie waren von ihren Bewohnern verlassen worden, weil die auf ihnen als Grundschuld lastenden Kriegssteuern nicht mehr aufzubringen waren. Die Bemühungen des Großen Kurfürsten [* Jg. 15, 1934, S. 83—86: Kaeber, Schicksal und wirtschaftliche Bedeutung der Handelshäuser Berlins z. Zt. der Renaissance.]

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um einen Wiederaufbau des Zerstörten konnten so lange keinen rechten Erfolg haben, als auch die Heeressteuer, die Kontribution, einzig von den Handel und Gewerbe treibenden Hausbesitzern getragen werden mußte. Im Jahre 1667 aber gelang es dem Kurfürsten, durch seinen persönlichen Einfluß die Ablösung der Kontribution durch eine alle Einwohner der Stadt gleichmäßig treffende indirekte Steuer durchzusetzen. Ihr Erfolg übertraf alle Erwartungen. „Zum Trost der elenden und verarmten Bürger", so schrieb 1671 der Bürgermeister Zarlang, „wurde die überaus schlechte, vernichtende Art der Steuererhebung von den Gebäuden und Wohnungen abgeschafft und dafür die Verbrauchssteuer oder Akzise eingeführt." In zwei Jahren wurden über 200 verfallene Häuser wiederhergestellt oder neu erbaut. Der Staat büßte dabei nichts ein, er gewann vielmehr noch. Schon 1684 brachte die Akzise 60 000 Taler ein, die sich in den nächsten zwanzig Jahren verdreifachten. Der Steuerreform traten unmittelbare wirtschaftsfördernde Maßnahmen zur Seite. An ihrer Spitze stand der 1662 begonnene Bau des Müllrosekanals zwischen Oder und Spree, ein in Deutschland epochemachendes Werk weitblickender Staatskunst. Der Kanal beseitigte die Hemmungen des märkischen Handels durch den von Sachsen ausgeübten Straßenzwang, der den Verkehr zwischen Schlesien, Mitteldeutschland und der Nordsee über sein Gebiet lenkte. Mittelpunkt der neuen Wasserstraße wurde Berlin; bis zum Jahre 1807 mußten die Kaufleute in der Niederlage ihre Waren umladen. Das alte Niederlagsrecht Frankfurts dagegen wurde aufgehoben. Seit dem 16. Jahrhundert hatten die Hamburger den Wasserverkehr auf Havel und Spree beherrscht. Jetzt erwachte die Berliner Schiffergilde wieder; um 1700 war sie den Hamburgern ebenbürtig, 1747 errang sie selbst ein Monopol innerhalb Preußens. Die Schiffsbauwerft, die der Holländer Smids 1680 für den Großen Kurfürsten und seinen Generaldirektor der Marine, Benjamin Raule, anlegte, ging zwar mit der brandenburgischen Kriegsmarine noch vor 1700 wieder ein; bestehen blieb aber der Bau von Frachtkähnen am Schiffbauerdamm. Den Bestrebungen des Kurfürsten, Berlin zu einer Messestadt zu erheben, war kein Erfolg beschieden. Während er mit berechtigtem Stolz von dem „vor Augen stehenden Flor und Aufnehmen" seiner Residenz sprach, wies ihn der Rat Berlins darauf hin, daß die meisten Einwohner doch nur Krämer und arme Handwerker seien. Selbst fünfzig etwas besser gestellte Kaufleute hätten zusammen noch nicht so viel Kapital wie einer der großen Handelsherren Hamburgs. Die Einwohnerzahl Berlins hob sich allmählich. Neuen Wohnraum boten der 1662 gegründete Friedrichswerder, die 1674 angelegte

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Dorotheenstadt und seit 1688 die Friedrichstadt. Sie waren als selbständige Gemeinden entstanden, wurden aber 1709 mit Berlin-Cölln zu der einen Haupt- und Residenzstadt Berlin vereinigt. Friedrich I., der diese Vereinigung aus königlicher Machtvollkommenheit durchführte, hat das Bauhandwerk und durch seine glänzende Hofhaltung alle mit den Künsten und dem Kunstgewerbe in Verbindung stehenden Berufe nachhaltig befruchtet. Er hat audi die Reformen des Innungswesens vorbereitet, die den Zugang zum Meisterrecht erleichterten und mit den veralteten Handwerksbräuchen bradien. Das großherzige, 1685 erlassene Potsdamer Edikt seines Vaters, das den französischen Protestanten in Berlin eine Zufluchtstätte gewährte, wirkte sich nun in Verbindung mit der Aufnahme von Pfälzern und Schweizern erst voll aus2. Neue Gewerbezweige entstanden, andere erfuhren mannigfache Anregung. Die große Kreponmanufaktur des Schweizers Orelli konnte sich zwar nicht behaupten, seine Arbeiter aber blieben meist in Berlin, dessen feine Webwaren im ganzen Lande Absatz fanden. Die 1686 durch den späteren Minister Kraut begründete Manufaktur für goldene und silberne Tressen und Besätze erhielt 1695 ein Monopol für den preußischen Staat. Der stürmische Aufschwung Berlins in diesen Jahren wird in den Bevölkerungszahlen sichtbar: 1688 erst gegen 10 000, 1709 schon 56 600. Der Gegensatz zwischen dem üppigen H o f und den durch Steuern ausgesogenen, durch Mißernten heimgesuchten Untertanen veranlaßte Friedrich Wilhelm I., die Wirtschaftspolitik des Staates völlig umzustellen. Berlin fiel die Aufgabe zu, ausgeprägter als bisher eine Stadt der Arbeit zu werden, und zwar in einer durch das Staatsinteresse bestimmten Richtung. Es war dazu ausersehen, die Führung in der Verarbeitung der damals zum guten Teile nach Sachsen ausgeführten märkischen Wolle zu übernehmen. Das nach dem Willen des Königs auf Krauts Reichtümern, Geschäftserfahrung und Arbeitskraft aufgebaute Lagerhaus in der Klosterstraße wurde in wenigen Jahren die größte Tuchmanufaktur Deutschlands. Sie stellte die Uniformstoffe für das Heer teils selbst, teils durch zünftige Meister her, denen sie die auf dem Wollmarkt in der Klosterstraße eingekaufte Wolle lieferte. Das Verbot, rein baumwollene Stoffe zu tragen, erleichterte das Aufkommen feiner leichter Wollstoffe, der Zeuge, für die der Züricher Wegely 1723 die erste Fabrik begründete. Ein neuer Stand von Unternehmern wuchs [ 2 Vgl. Kaeber, Die Pfälzer und die Schweizer Kolonie in Berlin i. J . 1711. I n : Mitt. Ver. Gesch. Berlins 51, 1934, S. 1 8 — 2 7 . ]

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heran, die ihre Zeugwaren und Strümpfe auf den Messen von Leipzig, Frankfurt a. O. und Braunschweig absetzten. Die sächsische Tuchindustrie wurde zurückgedrängt, viele ihrer Arbeiter gingen nach Berlin. Eingehende technische Vorschriften sicherten die Güte der preußischen Erzeugnisse. Die Innungen erhielten in den „Generalprivilegien" ihre endgültige Verfassung. Ein rein auf den Großhandel, nicht mehr zugleich auf das Ladengeschäft eingestelltes Unternehmen entsprang der Tatkraft der Firma Splittgerber und Daum. Sie knüpfte Verbindungen zu den wichtigsten Handelsplätzen Europas an und wandte sich erfolgreich der Waffenfabrikation zu. Splittgerber gründete 1725 mit anderen Berliner Kaufleuten die Russische Handelskompagnie, die eine Reihe von Jahren die russische Armee mit Uniformstoffen versorgte und dafür Juchten, Talg und Hanf einführte. Die russischen Verbindungen rissen auch nicht ab, als die Heereslieferungen aus politischen Gründen aufhörten. Nach Daums Tode führte Splittgerber das Unternehmen allein weiter. Er trieb seit 1745 mit eigenen Seeschiffen Wein- und Kolonialwarenhandel und legte 1749 die erste preußische Zuckerfabrik an, durch die er Hamburgs Vormachtstellung brach®. Auch die Geselligkeit der hohen Beamten- und Offizierskreise lebte wieder auf und regte die Wirtschaft an. Schon 1732 gab es 55 Mitglieder der Materialistengilde, die mindestens 20 000 Taler Umsatz hatten und ihre Waren im großen einkauften. Durch die Erweiterung der Friedrichstadt, in der sich besonders Textilarbeiter niederließen, gab Friedrich Wilhelm den Maurern und Zimmerleuten reichlich zu tun. Der 1735 einsetzenden, durch schlechte Ernten hervorgerufenen europäischen Wirtschaftskrise begegnete er durch Schaffung von Arbeitsgelegenheit: das Lagerhaus mußte die Herstellung von Zeugen verdoppeln. Friedrich der Große, im Grundsatz auf den Bahnen seines Vaters fortschreitend, fügte die Errichtung von Baumwoll- und Seidenmanufakturen hinzu. Das Ziel blieb dabei das alte: Unabhängigkeit vom Ausland. Als Seidenfabrikant war Gotzkowski führend, der 1760 auch die spätere Königliche Porzellanmanufaktur begründete und sich durch sein mutiges Eintreten gegenüber der russisch-österreichischen Besatzung den Ehrennamen des patriotischen Kaufmanns erwarb. Der Baumwollfabrikant Sieburg zeichnete sich dadurch aus, daß er die Baumwolle unmittelbar aus der Levante bezog. Das Färben und Bedrucken der [ 3 Dazu jetzt: Sdimidt-Berg-Lorenz, Zur Kulturgeschichte des Zuckers in Berlin und der Mark Brandenburg. In: Jb. f. brand. Landesgesdi. 14, 1963.]

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Baumwollstoffe verbesserte der bedeutende Chemiker Hermbstädt. Um die Jahrhundertwende waren für die Herstellung von baumwollenen Waren dreimal so viel Stühle tätig wie für die Verarbeitung von Wolle. Eins aber war allen Textilfabriken gemeinsam: nicht die Maschine, sondern die Handarbeit, nach der sie Manufakturen hießen, herrschte in ihnen. Daher wurde hier so wenig wie in den anderen aufblühenden Gewerbezweigen das Handwerk verdrängt, wenn auch für das Spinnen eine Unzahl ungelernter Arbeitskräfte in dürftigen Verhältnissen tätig war. Im Wesen der Manufakturen lag die Vereinigung von kaufmännischer und gewerblicher Tätigkeit. Ein glänzender Vertreter dieser Wirtschaftsgesinnung war Friedrich Wilhelm Schütze, der Sohn eines Berliner Kaufmanns. Seine Schiffe segelten nach dem Mittelmeer und nach Amerika, beladen mit Holz, Tuchen und den sanft brennenden Kerzen seiner Fabrik in Schöneiche. Die Wasserwege, die der Versorgung Berlins mit Lebensmitteln, Brennholz und Baustoffen und dem Absatz seiner Erzeugnisse dienten, wurden durch den Ausbau des Finowkanals verbessert. Die Landstraßen, auf denen seit dem Großen Kurfürsten die preußische Post den Personenund Briefverkehr wahrnahm, erfreuten sich geringerer Fürsorge. Erst 1792 wurde eine von Berlin ausgehende Chaussee angelegt. Das System des preußischen Merkantilismus, das Friedrich Wilhelm I. begründet, Friedrich der Große bis in seine letzten Folgerungen ausgebildet hatte, war keiner Stadt so zugute gekommen wie Berlin. Hier war mit Hilfe von Unterstützungen an Geld und Fabrikgebäuden, von Ausfuhrprämien und hohem Zollschutz eine Industrie entstanden, die weithin das eigene Land versorgte und in das deutsche und außerdeutsche Ausland vorgedrungen war. Der unglückliche Krieg von 1806/07 raubte Berlin mit einem Schlage die Grundlagen seines Wohlstandes; die letzte Stütze ging verloren, als mit Napoleons Sturz die Kontinentalsperre gegen Englands Wettbewerb fiel. Die Zahl der Industriearbeiter Berlins sank bis 1813 von 30 000 auf 9000, der Geschäftsumfang des Handels ging bis 1816 auf ein Viertel zurück. Den Wiederaufbau des Wirtschaftslebens mußte die Wirtschaft selbst leisten. Der Staat räumte durch die Gewerbefreiheit, das Zollgesetz von 1818, den Abschluß des deutschen Zollvereins und den Bau von Chausseen zwar Hemmungen fort, verschärfte jedoch dadurch gleichzeitig den Wettbewerb. Den stärksten Einfluß übte die Umgestaltung des Verkehrs durch die Eisenbahnen aus. Berlin konnte in dem nun beginnenden freien Spiel der Kräfte zwei Vorzüge in die Waagschale werfen: seine günstige eisenbahn-politische Lage und die Tüchtigkeit seiner Unternehmer und

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Arbeiter. Die Erziehung eines Jahrhunderts trug ihre Früchte. Die technischen Fortschritte Englands und Frankreichs wurden eingeholt, die verlorenen Arbeitsgebiete durch neue ersetzt. Die Leinen- und Seidenindustrie konnte sich nicht halten, dafür verzehnfachte sich bis 1870 die Zahl der mit Leinenwaren handelnden Geschäfte. Ein zukunftsreicher neuer Gewerbezweig entstand in der Wäsche- und Kleiderkonfektion, die einen überlegenen Geschmack und eine geschickte Arbeiterschaft voraussetzte; sie eroberte sich den Markt ganz Deutschlands, ja Nord- und Osteuropas. Der Maschinenbau, durch Egells und Freund in Berlin heimisch geworden, nahm seinen gewaltigen Aufschwung, nachdem August Borsig vor jetzt 100 Jahren seine Fabrik vor dem Oranienburger Tor errichtet hatte. Rußland und Österreich wurden Kunden Berlins. Ein Jahrzehnt später eröffnete Werner Siemens mit Halske die Werkstatt, die bald die Welt mit Telegraphen versorgte. In zahlreichen kleineren Betrieben erwuchs die Herstellung von Kurzwaren, die 1850 schon 30 000 Arbeiter beschäftigte. Dazu trat die fabrikmäßige Anfertigung von Möbeln und Beleuchtungskörpern, auch sie auf den der Großstadt eigentümlichen Fähigkeiten von Unternehmer- und Arbeiterschaft begründet. Aus bescheidenen Anfängen entwickelte sich eine chemische Industrie. Die Väter des Berliner Großgewerbes sind fast sämtlich aus dem Handwerkerstande hervorgegangen; die Vorbildung für ihren Beruf hatten sie in der Gewerbeschule und den Realschulen erhalten, die Berlins Verwaltung weitblickend ins Leben gerufen hatte. Die große Mehrzahl der Handwerker litt freilich schwer unter dem ungezügelten Wettbewerb, den zuerst die Gewerbeordnung von 1845 einzuschränken suchte. Der Handel Berlins war seit langem hinter den Gewerben zurückgeblieben. Neben der Versorgung der unaufhaltsam wachsenden Bevölkerung der Stadt — 1850 400 000, 1860 500 000, 1870 760 000 — spielte noch der Wollmarkt die Hauptrolle. Allmählich schaltete sich Berlin auch in den Getreidehandel ein, indem es die Uberschüsse der östlichen Provinzen Preußens dem industriellen Westen zuführte. Das Ende des amerikanischen Bürgerkrieges, 1865, öffnete dann den weiten Markt der Vereinigten Staaten. Bis 1856 hatte es gedauert, ehe mit der Disconto-Gesellschaft eine Großbank ihren Sitz in Berlin aufschlug, nachdem die Börse schon durch die Eisenbahnaktien aus ihrem Schlummer erwacht war. Doch dann ging es stürmisch vorwärts. In dem neuen Börsengebäude, dessen Grund-

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stein 1861 gelegt wurde, wurde der Sieg Berlins über Frankfurt a. M. entschieden. Die Begründung des Deutschen Reiches schließt den Zeitabschnitt ab, in dem Berlin mit zäher Arbeit und bewunderungswürdiger Kunst der Anpassung die 1806 verlorene Stellung im deutschen Wirtschaftsleben wiedergewann und sich in die Weltwirtschaft einschaltete. Die Reichshauptstadt brauchte nur auszubauen, was Preußens Hauptstadt erarbeitet hatte. Doch mit dieser Andeutung muß sich unsere Studie begnügen. Das Werk der Jahre zwischen 1871 und 1914 auch nur in seinen Grundzügen aufzuzeigen oder gar auf die Kriegs- und Nachkriegszeit einzugehen, hieße eine eigene Abhandlung schreiben4.

[ 4 Anstelle der noch immer fehlenden umfassenden Darstellung der Berliner Wirtschaftsgeschichte ist heranzuziehen: H. Rachel ! J. Papritz / P. Wallidi, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten. 3 Bde., Berlin 1934—39.]

Die Epochen der Finanzpolitik Berlins 1808—1914 1. Die Zeit von 1808—1860 Ein eigenartiges Geschick hat es gefügt, daß am Beginn der modernen Selbstverwaltung der alten Stadt Berlin im Jahre 1808 wie an dem der neuen Stadtgemeinde Berlin im Frühjahr 1920 das Gespenst des Bankrotts gestanden hat. Beide Male war ein verlorener Krieg vorangegangen, der erste den preußischen Staat, der zweite das Deutsche Reich an den Rand des Abgrundes reißend. Der Freiherr v. Stein hatte 1808 die Städteordnung geschaffen, um zunächst alle größeren Gemeinden auf eigene Füße, auch finanziell, zu stellen und dadurch eine sichere Basis für die Wiederaufrichtung des Staates zu gewinnen. Die Preußische Landesversammlung unserer Tage hat die erwartete allgemeine Erneuerung der Selbstverwaltung nicht gebracht — die Steinsche Grundlage war so fest begründet, daß es auch schließlich ohne diese Reform gegangen ist — aber sie hat wenigstens der Hauptstadt durch das Gesetz vom 23. April 1920 die lange geforderte breite wirtschaftliche, soziale und finanzielle Basis gegeben. Der Zusammenbruch am Ausgang des Weltkrieges hat Berlin hart getroffen. Im Gegensatz zu der Zeit vor 100 Jahren hat die militärische Niederlage Preußen nicht nur in seinem äußeren Bestände erschüttert. Auch in seinem innersten Sein wurde der scheinbar für Ewigkeiten begründete Staat betroffen. Die politische, wirtschaftliche und soziale Umwälzung bedrohte am stärksten das Herz des Staates. Eins nur blieb der Hauptstadt erspart: die feindliche Besatzung. Eben vor dieser hatte die Monarchie Friedrich Wilhelms III. Berlin nicht retten können. Die zweijährige Franzosenherrschaft vom Oktober 1806 bis zum Dezember 1808 hat Berlin schwerer zu heilende Wunden geschlagen, als der Weltkrieg und die Nachkriegsfolgen trotz der wüsten Zeit der Inflation. Überblickt man die Geschichte der Finanzen Berlins, so hat kein Ereignis so nachhaltige Wirkung ausgeübt, wie die kurze Zeit zwischen der Schlacht bei Jena und dem Abmarsch der Franzosenbesatzung. Als im Dezember 1808 die Franzosen Berlin verließen, hatte ihr Unterhalt die Stadt die für damalige Verhältnisse ungeheuerliche Summe von 5 Mill. Talern gekostet, deren Verzinsung jährlich 250 000 Taler erforderte. Für die Finanzierung der Besatzungskosten hatte schon die von den Franzosen

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an die Stelle des alten Rates gesetzte Verwaltungsbehörde, das Comité administratif, eine selbständige Stelle, die Stadtkasse, eingerichtet. Ihre Einnahmen bestanden, abgesehen von dem Ertrag heimischer und fremder Anleihen, aus der neueingeführten Haus- und Mietsteuer. Die erste Stadtverordnetenversammlung und der erste Magistrat Berlins, die nach der Steinschen Städteordnung gewählt waren, konnten nur fortsetzen, was das Comité begonnen hatte. Die finanzielle Lage war inzwischen trostlos geworden. Für den 1. Oktober 1809, den nächsten Zinszahlungstermin, drohte der offene Bankrott; nur ein Moratorium wandte das Schlimmste ab. Eine Zwangsanleihe blieb ohne größeren Erfolg. Kein Wunder, denn die Staatspapiere, die Tresorscheine, waren auf den fünften Teil ihres Nennwertes gesunken. Rettung brachte erst der Staat. Hardenberg, dessen viel angefeindete, aber schließlich erfolgreiche Finanzpolitik Schlesien gerettet und mit ihrer Mischung von Leichtsinn und Energie den Staat über die schlimmsten Jahre hinwegbugsierte, wurde auch Berlins Retter. Er deckte die dringendsten Wechselschulden und versprach die Zinszahlung für die städtischen Obligationen, beides freilich nur vorschußweise. Er bewilligte Berlin 1811 einen Zuschlag zu der allgemeinen Verbrauchssteuer, der Akzise, und 1813 einen Anteil an der Mahl- und Schlachtsteuer. Dadurch wurde es Berlin möglich, ohne neue Schulden über die folgenden Jahre und über die Freiheitskriege mit deren großen Leistungen für die preußischen Truppen hinwegzukommen. Mit dem Ende der napoleonischen Kriege schloß auch diese erste Epoche der Finanzpolitik Berlins, wenn man überhaupt schon von einer solchen sprechen will. Denn eine selbständige und auf die Dauer eingestellte Finanzgebarung beginnt eigentlich erst jetzt. Zwei Momente geben der nächsten Zeit das Gepräge. Das eine ist die Tatsache, daß Berlin am 1. Januar 1817 noch eine Schuldenlast von 4% Millionen Talern hatte, für die es allein aufkommen mußte. Das andere ist die eigenartige Vermischung von Staats- und Selbstverwaltungsaufgaben in der preußischen Hauptstadt. Der absolute Staat, der alle Steuern von praktischer Bedeutung selbst erhob und die Kämmerei auf ihre aus dem Mittelalter stammenden, immer wertloser werdenden Einnahmen beschränkte, hatte in Berlin zahlreiche Aufgaben der städtischen Verwaltung in seine Hand genommen. Sollte Berlin jetzt die Aufgaben erfüllen, die ihm die Städteordnung zuwies, so war eine Trennung der staatlichen und der städtischen Sphäre und damit eine finanzielle Auseinandersetzung unvermeidlich. Auch die gegenseitigen Forderungen des Staates und der Stadt aus den Kriegsjahren mußten ins reine gebracht werden.

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Beides geschah erst durch die Kabinettsorder vom 31. Dezember 1838, die den Abschluß der ersten Epoche der selbständigen Finanzpolitik Berlins bezeichnet. Die verwaltungstechnische Auseinandersetzung zwischen Stadt und Staat hatte allerdings mit der Kabinettsorder noch keineswegs ihren Abschluß erreicht. Den letzten Abschnitt in diesem Prozeß bildete erst wenige Jahre vor dem Ende des alten Berlin die Übertragung der bis dahin staatlichen Baupolizei auf den Oberbürgermeister. Bis zum Ende des Jahres 1838 wird der Stadthaushalt Berlins durch die Schuldenwirtschaft beherrscht. Die indirekten Steuern, die Zuschläge zu den staatlichen Mahl-, Schlacht- und Braumalzsteuern, dienten ausschließlich der Verzinsung der Stadtanleihen und ihrer Tilgung, für die 1829 ein fester Plan aufgestellt wurde. Die Stadt hatte an eine energische Tilgung mit Hilfe anderer indirekter Steuern gedacht. Da die Regierung aber nur direkte Steuern genehmigen wollte, unterblieb der Plan überhaupt. Der Gedanke einer Einkommensteuer, für den der König schon 1809 eingetreten war, stieß bei allen maßgebenden Kreisen der Einwohnerschaft auf unüberwindlichen Widerstand. Die inneren Voraussetzungen für den Ubergang zu direkter Besteuerung von der hergebrachten und den herrschenden Klassen bequemeren, von der Theorie bevorzugten indirekten Besteuerung fehlten in dem damaligen Berlin noch ganz. Audi ohne eine besondere Schulden-Tilgungssteuer gelang es, von 1829 bis 1840 die Schulden um 25 v. H . auf 3 Mill. Taler herunterzudrücken. Die wichtigste Aufgabe der Finanzwirtschaft, ja der städtischen Verwaltung überhaupt, bildete neben dem Anleihedienst das Armenwesen. Seit 1819 war die bisher staatliche Armendirektion eine städtische Behörde. Der Staat leistete nur noch einen jährlichen, immer geringer werdenden Zuschuß. Der Armenverwaltung, von der sich erst im Laufe dieser Epoche das Elementar-Schulwesen abzulösen begann, flössen zu einem erheblichen Teil die Einnahmen der Haus- und Mietsteuer zu, die ursprünglich nur für die der Stadt obliegenden Einquartierungslasten gedacht waren. Ihre Erträge, die mit dem Mietwert der Häuser stiegen, ermöglichten seit Ende der zwanziger Jahre das Balancieren des Haushalts und den Beginn der regelmäßigen Schuldentilgung. Vom Jahre 1829 an besitzen wir in den periodischen Verwaltungsberichten der städtischen Behörden Übersichten über die Einnahmen und Ausgaben der Verwaltung. Sie zeigen, daß das damals noch sehr umfangreiche Kämmereivermögen nur unbedeutende Erträge abwarf, die auch durch stärkere Abholzungen in den Forsten 1837 bis 1839 noch nicht einmal auf 10 v. H . der Einnahmen aus den Steuern gesteigert

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werden konnten. Die Steuern bilden vom Beginn der modernen Selbstverwaltung Berlins an das Rückgrat der Finanzen. Während die Kämmerei in den zehn Jahren von 1829 bis 1839 meist weniger als 40 000, nur vorübergehend einmal 70 000 Taler einbrachte, schloß die Haus- und Mietsteuer anfangs mit über 350 000, zuletzt mit 430 000 Talern ab, von denen etwa ein Drittel auf die den Eigentümern zur Last fallende Haussteuer und zwei Drittel auf die Mietsteuer kamen. Die indirekten Steuern trugen 215 000, zuletzt 293 000 Taler ein. Die Gesamteinnahmen stiegen von 650 000 auf 850 000 Taler 1 . Von den Ausgaben beanspruchte mit Ausnahme eines einzigen Jahres die Schuldenverwaltung den Löwenanteil, der zwischen 159 000 und 309 000 Talern schwankte. Diese schwere Belastung, die der Verwaltung alle Initiative raubte, sie auf die Sorge für die elementarsten Bedürfnisse des Gemeindelebens beschränkte, war allein die Folge des verlorenen Krieges. Auf Jahrzehnte hinaus gab er den Finanzen der Hauptstadt des preußischen Staates ihr Gepräge. In erheblichem Abstand folgten als zweitteuerste Verwaltung das Armen- und Armenschulwesen mit 138 000 bis 250 000, danach die Servisverwaltung mit der festen Summe von 131 000, die Polizei- und Gerichtsverwaltung mit 50 bis 90 000 und die allgemeine Verwaltung mit 60 bis 70 000 Talern. Mit verschwindend kleinen Summen nur wurden höheres Unterrichts- und Gesundheitswesen bedacht. Für künstlerische, hygienische und stadtbauliche Aufgaben oder für irgend welche werbenden Unternehmungen fehlten alle Mittel. Man überließ Kunst, Wissenschaft und äußeren Glanz wie in den Zeiten vor der Städteordnung dem Staat, der seinerseits nicht daran denken konnte, den Gemeinden die aus der Kriegszeit stammenden Lasten abzunehmen. Die folgende kurze Epoche von 1839 bis 1848 ist durch den ersten Versuch eines freieren Aufschwungs der städtischen Verwaltung ausgezeichnet. Der Ausgleich mit dem Staat vom Dezember 1838 machte einen Teil der grundsätzlich für den Anleihedienst bestimmten indirekten Steuern für andere Verwaltungszwecke frei. Der leichtere Geldmarkt erlaubte die Herabsetzung der Schuldzinsen auf 3% v. H. vom 1. Januar 1843 an. Die Überschüsse aus der Haus- und Mietsteuer stiegen von 450 000 auf 630 000 Taler, weit stärker als die Einwohnerzahl. Das Ereignis indessen, das diesem Zeitabschnitt seine besondere Note gibt, ist der 1844 begonnene Bau der städtischen Gasanstalt. Zum erstenmal wagt sich Berlin an ein großes gewerbliches Unternehmen, zum ersten1

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Diese wie alle weiteren Zahlen werden in abgerundeten Summen gegeben.

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mal wird eine Anleihe für werbende Zwecke aufgenommen. Der Grundstein für die blühenden kommunalen Betriebe Berlins wird gelegt und ein Vorbild für die deutsche Kommunalpolitik aufgestellt. Zugleich wird mit der Anlage des Friedrichshains 1842 bis 1849 das Tor zu einer freieren Auffassung der sozialen Pflichten der Großstadt aufgestoßen. Der Schuldendienst verliert seine beherrschende Stellung. Von 1843 an werden die Ausgaben für ihn durch die für das Armenwesen übertroffen. Für die Armenschulen können 1845 schon 70 000 Taler aufgewandt werden gegenüber 42 000 vier Jahre vorher. Die gesamte Verwaltung wird seit 1843 übersichtlicher durch die Begründung der Stadthauptkasse. Freilich, die Finanzpolitik bleibt noch sehr vorsichtig. Auch die größeren Ausgaben für den Friedrichshain wie für die Schulbauten werden aus laufenden Mitteln bestritten. Schulden für solche Zwecke zu machen, erschien dieser Zeit noch als sträflicher Leichtsinn. Durch die Notjahre 1846 bis 47 mit ihren Mißernten wird die Entwicklung unterbrochen. Die Mahl- und Schlachtsteuer geht in ihren Erträgen von 361 000 auf 284 000 Taler zurück, und die Armenlasten schwellen 1846 bis 47 von dem bisher höchsten Stand — 281 000 Taler — auf 345 000 und 459 000 Taler an. Die Schuldentilgung muß 1847 ganz ausgesetzt werden. Und in dem Augenblick, in dem die Oberwindung der wirtschaftlichen Not durch eine gute Ernte gesichert erscheint, bricht im März 1848 die Revolution aus — gewiß vor allem eine politische Bewegung, aber vorbereitet und geschürt durch die soziale Unruhe der vorangegangenen Jahre. Die Revolution wirkt sich auf die Finanzen in der üblichen Weise aus: Steigerung der Ausgaben und Minderung der Einnahmen. Die unruhigen Arbeitermassen müssen durch Notstandsarbeiten und durch Steuernachlässe befriedigt werden. Unter den Ausgaben erscheint daher das Bauwesen mit der hohen Summe von 278 000 statt sonst mit etwa 40 000 Talern. Die Armenlasten bleiben wie die Polizei- und Gerichtskosten auf dem hohen Stand des vorangegangenen Notjahres, während die regelmäßige Aufwärtsbewegung der Haus- und Mietsteuer unterbrochen wird. Ungewöhnliche Maßnahmen werden notwendig. Der Staat überweist schon im April 1848 der Stadt ein Drittel des Rohertrages der Mahlsteuer „zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen", eine Einnahme, die entgegen der ursprünglichen Absicht durch ein Gesetz vom Jahre 1851 eine dauernde wird. Die Stadt aber erhebt, dem sozialen Zug des Jahres sich beugend, eine lproz. Einkommensteuer von den größeren Einkommen. Beide Steuern bringen zusammen etwa 200 000 Taler ein.

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Durch die Verfassung vom 5. Dezember 1848 und die Auflösung der Berliner Bürgerwehr wurde die preußische innere Revolution zwar im wesentlichen überwunden, die nationale deutsche Revolution aber erreichte erst durch den Vertrag von Olmütz zwei Jahre später ihr wenig glorreiches Ende. Für die Finanzen Berlins bedeuten diese Jahre und die ihnen folgenden bis 1860 eine Periode des Rückschritts. Die Tilgung der alten Schuld mußte 1848, 1850 und 1851 ausgesetzt werden. Die außerordentlichen Bedürfnisse des Haushalts, darunter allerdings auch solche der Gaswerke, zwangen im Dezember 1848 zur Umwandlung der schwebenden Schuld in eine feste Anleihe von 1 Mill. Talern zu dem hohen Zinsfuß von 5 v. H., auf den auch die alte Gasanstaltsanleihe erhöht wurde. Im Jahre 1852 konnten diese Anleihen wieder auf 4j/2 v. H. herabgesetzt werden. Der Schuldentilgungsplan von 1829 wurde durch einen neuen ersetzt, der die Tilgung, die 1860 beendet sein sollte, um 30 Jahre hinausschob. Die durch das Gesetz vom 11. März 1850 sehr erhöhten, von den städtischen Behörden zunächst in der vom Polizeipräsidenten beanspruchten Höhe nicht anerkannten Polizeikosten zwangen 1855 zu einer 4Y2 proz. Anleihe von einer halben Mill. Talern. Die Haus- und Mietsteuer wurde infolge der „tieferschütterten Finanzlage" zwischen 1855 und 1857 mit 4 und 8 8 /»v.H. statt 31/» und 6 2 Av.H. erhoben. Ihre Bruttoerträge stiegen dadurch von 770 000 Talern im Jahre 1854 auf 960 000 im folgenden Jahre, um 1856 1 Million zu überschreiten. Auch nach der Herabsetzung auf den alten Prozentsatz erreichten sie schnell wieder die Million. Die städtische Mahl- und Schlachtsteuer brachte in der Regel etwa halb so viel ein, das Drittel des Rohertrages der staatlichen Mahlsteuer 130 bis 170 000 Taler. Dazu kam noch das auf Grund der Gemeindeordnung von 1850 eingeführte und nach dem Inkraftreten der Städteordnung von 1853 beibehaltene Einzugs- und Hausstandsgeld, das um 100 000 Taler herum schwankte. Die Gesamteinnahmen und -ausgaben des Stadthaushalts schlössen 1859 mit 3,6 bzw. 3,2 Mill. Talern ab. Kein Wunder unter diesen Verhältnissen, daß dieses Jahrzehnt, das seine politische Signatur durch die auch das Bürgertum ergreifende Reaktionsstimmung empfing, von der frohen Zukunftshoffnung der vierziger Jahre weit entfernt war! Nur die großzügige Anlage des Rummelsburger Waisenhauses gehört dieser Zeit an. Aber die ebenso notwendigen, schon 1853 beschlossenen Bauten für ein Arbeits-, ein Siechen-, und ein Irrenhaus unterblieben. Die Wasserwerke wurden durch eine englische Privatgesellschaft, nicht durch die Stadt errichtet. 13"

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II. Die Zeit von 1860 bis 1914 Die 50er und 60er Jahre tragen in der Geschichte Berlins ein so grundverschiedenes Antlitz, daß es seltsam wäre, wenn nicht auch für die Finanzpolitik mit dem Jahre 1860 eine neue Zeit anheben würde. In der Tat ist dem auch so. Schwieriger ist es, die Stellen aufzuweisen, an denen in dieser umfassenden Periode, in der Berlin endgültig in die Jahre selbstbewußten großstädtischen Schaffens eintritt, die Untereinschnitte zu machen sind. Immerhin, auch vom Standpunkt der Finanzgeschichte aus, wird man mit dem überwältigenden Ereignis der großen Politik, mit der Begründung des Deutschen Reiches, den ersten Abschnitt schließen lassen und die Jahre 1860 bis 1870 als Epoche der Vorbereitung zusammenfassen müssen. An ihrem Anfang stehen die Grundsteinlegung zu dem am Ende der vorangegangenen Zeit beschlossenen neuen Rathaus, dem ersten Monumentalbau der Stadt Berlin, und die Erweiterung des städtischen Weichbildes um große Gebiete im Norden und Süden. In ihrem Verlaufe stiegen von 1861 bis 1869 die Reinausgaben von 6 auf 11,2 Millionen Mark, 2 also nahezu auf das Doppelte, während die Bevölkerung sich nur von 530 000 auf 760 000 Einwohner vermehrte. Zugleidi verschob sich das Verhältnis der einzelnen Ausgaben zueinander. Die Kosten für das Schulwesen überflügelten die für die Armenverwaltung. Ein im höchsten Sinne produktives Gebiet der städtischen Arbeit stand jetzt an der Spitze der Zuschußverwaltungen. Von noch nicht 10 v. H . des Gesamtzuschusses im Jahre 1861 stiegen die Kosten für das Schulwesen bald über 20 v. H . und fielen nur 1869 und 1870 unter diesen Stand. Am Schluß der Epoche, die in einem bisher unerhörten Tempo mit neuen Schulbauten vorgeht, steht die folgenschwere, das städtische Schulwesen im heutigen Sinne erst begründende Aufhebung des Schulgeldes an den Elementarschulen. Vom 1. Januar 1870 an gibt es in Berlin die moderne Volksschule. Ein bisher ganz stiefmütterlich behandelter Verwaltungszweig, die Tiefbauverwaltung, erscheint zuerst in diesen Jahren mit Summen, die mehrfach 1 Mill. Mark erreichten, und damit einen erheblichen Anteil an den Haushaltskosten einnehmen. Die große Zeit der Tiefbauverwaltung allerdings beginnt erst in der nächsten Epoche. Von prinzipieller Tragweite aber war der Beschluß, den größeren Teil der 9 Mill. Mark betragenden Kriegsanleihe von 1866 für andere außerordentliche Ausgaben und zur Deckung des Defizits zu verwenden, sowie 1869 die Bewilligung einer Anleihe von 7,5 Mill. für die Ausschmückung des Rathauses, für 2

Von hier sind alle Beträge in Mark s t a u Taler angegeben.

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die Errichtung des Krankenhauses am Friedrichshain und für die Irrenanstalt in Dalldorf. Die Auffassung drang siegreich durch, daß solche großen, der Zukunft noch mehr als der Gegenwart dienenden Ausgaben nicht, wie noch der Rathausbau, durch laufende Mittel, sondern durch Anleihen zu decken seien. Erst durch die veränderte Einstellung gewann die Verwaltung Berlins die Möglichkeit, ernsthaft an die gewaltigen Unternehmungen zu denken, deren Projekte schon in diesem Jahrzehnt die Bevölkerung in Spannung erhielten, deren Durchführung der kommenden Epoche vorbehalten blieb. Noch ein zweiter Beschluß von grundsätzlichem Charakter fällt in die 60er Jahre: die Aufhebung der Thesaurierungspolitik der städtischen Gaswerke. Bisher waren ihre Reinüberschüsse dazu bestimmt, für künftige Erweiterungsbauten oder neue Anlagen aufgespeichert zu werden; vom 1.1.1868 an flössen sie nach den üblichen Rückstellungen der Stadthauptkasse zu, der dadurch eine wertvolle Einnahme erschlossen wurde. Sie brachte 1868 über 7 v. H., 1869 schon 12 v. H. des gesamten Uberschusses. Das Rückgrat der Finanzen blieben die Steuern. Zu ihnen trat, als letzte finanzielle Neuerung dieses an Anregungen reichen Jahrzehnts, eine Einkommensteuer. Freilich ahnten ihre Väter nicht, welche Bedeutung diese Steuer einmal für den Stadthaushalt gewinnen sollte. Ihnen war sie nur eine Ergänzungssteuer, bestimmt, ein durch die hergebrachten Einnahmen nicht ausgefülltes Loch im Etat zu schließen. Die Woge der Unternehmungslust, die nach der Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches durch das Land ging, trug auch die städtischen Behörden Berlins zu Gestaden, die sie sonst wohl kaum oder nur zögernd betreten hätten. Im Gegensatz zu den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen aber ebbte diese Fjut nicht schnell wieder ab, sondern ihr Antrieb wirkte fast ohne Unterbrechung weiter. Man wird daher das Datum für das Ende der 1871 beginnenden Epoche zweckmäßig einem rein der Finanzgeschichte angehörenden Ereignis, der Miquelschen Finanzreform entnehmen. Von dem Inkrafttreten des Kommunalabgabengesetzes, vom 1. April 1895 an, sei die letzte Epoche vor dem Ausbruch des Weltkrieges datiert. Die Periode von 1871 bis 1894 setzte auf der einen Seite das fort, was in dem vorbereitenden Jahrzehnt bis 1870 begonnen worden war, also in erster Linie die Durchführung der schulgeldfreien Volksschule und den Ausbau des höheren Schulwesens. Während der Staat im ganzen 19. Jahrhundert in Berlin nur zwei Gymnasien baute, hatte die Stadt 1876 einschließlich der alten drei Gymnasien schon acht Gymnasien, sechs Realgymnasien und zwei Oberrealschulen errichtet, denen unaufhörlich neue Anstalten

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folgten. Die äußere Ausgestaltung des Volksschulwesens, das an die Stelle des ehemaligen Armenschulwesens trat, wird durch eine einzige Zahl in das rechte Licht gesetzt: 1861 gab es in Berlin 22, 1881 aber 121 Volksschulen. Unter dem Neuen, was diese Epoche schuf, gebührt der erste Platz der umfassenden Fürsorge auf sanitärem und hygienischem Gebiet. Sie bot erst der werdenden Weltstadt die Möglichkeit ungefährdeten Zusammenlebens einer Millionenbevölkerung auf engstem Raum. Zeitlich wie der Bedeutung nach gebührt dabei der Durchführung der nach heißen Kämpfen beschlossenen Kanalisation der Vorrang. In untrennbaren Zusammenhang mit ihr wurden die Englischen Wasserwerke durch die Stadt ohne Rücksicht auf die finanziellen Opfer erworben. Die zweite Stelle beansprucht die Übernahme der Straßenbaupolizei vom Staate auf die Stadt und damit auch der staatlichen Straßen- und Brückenbaupflicht. Die energische Erneuerung des gesamten Straßenpflasters und künstlerische Brückenbauten waren die Folge. Diese letzteren wurden besonders durch die 1888 beschlossene Spreeregulierung gefördert. Im Jahre 1886 wurden die ersten vier Markthallen eröffnet, denen schnell weitere vier folgten; 1881 der Vieh- und Schlachthof. Dazu kamen die großen Straßendurchbrüche und Straßenerweiterungen, die das Bild der Innenstadt völlig veränderten, neben elenden Dirnenvierteln und schmutzigen Winkeln auch die beiden historischen Rathäuser der Stadt dem neuen Gotte Verkehr opfernd. Alle Gebiete der modernen Kommunalpolitik wurden, vielfach für Deutschland in vorbildlicher Weise, durch die städtischen Behörden angepackt. Nur auf einem versagten sie gleich der Mehrzahl der neuen großen Industriezentren, auf dem der Wohnungsfürsorge. Daß hier vieles zu bessern war, wußte man wohl. Der Tradition und Initiative in seiner Person in glücklicher Mischung vereinende langjährige Stadtrat, Syndikus und Bürgermeister Duncker gab es in dem Verwaltungsbericht über die Jahre 1882/88 offen zu. Aber auch er meinte unter Berufung auf Gustav Schmoller resigniert, daß hier „die öffentlichen Gewalten nicht imstande sind, wesentliche Änderungen herbeizuführen." Die Verschiebung des Schwergewichts der städtischen Verwaltung von der bloßen Fürsorge für die Armen und der Einrichtung eines nur auf einen Teil der Einwohnerschaft berechneten primitiven Schulwesens auf die in diesem Uberblick nur kurz gestreiften Gebiete spiegelt sich in zweifacher Weise in der Finanzpolitik. Zunächst auf der Ausgabenseite in dem geänderten Anteil der einzelnen Verwaltungszweige an den Ausgaben. Der Anteil der Armenverwaltung sinkt weiter, wenn auch nicht mehr stark und nicht regelmäßig. Die wirtschaftlichen Kon-

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junkturen blieben hier natürlich nicht ohne Einfluß. Immerhin verlangt sie in den 80er Jahren durchschnittlich nur 12,4 v. H. der Ausgaben statt 14 und 15 v. H . in den beiden vorangehenden Jahrzehnten. Sie wird weit von der Unterrichtsverwaltung übertroffen, der 1870: 17,6 v. H., in den 80er Jahren dagegen mit fast 25 v. H. nahezu ein Viertel aller verfügbaren Mittel zufließen. Auch der Tiefbau, ganz ein Kind der modernen Kommunalpolitik, erobert sich in den 80er Jahren den Vorrang vor dem Armenwesen. Mitte der 70er Jahre werden ihm durchschnittlich 12 v. H., zehn Jahre später über 14 v. H . der Ausgaben gewidmet. Ziemlich gleichmäßig bleibt der Anteil der Straßenreinigung und Beleuchtung mit etwa 9 v. H. Die allgemeinen Verwaltungskosten stiegen von 8 v. H . zu Anfang der 70er Jahre mit der durch die Übernahme neuer Geschäftszweige bedingten Vermehrung der Beamtenschaft vorübergehend auf 11 v. H., um bald wieder auf 10 und 9 v. H. zu sinken. Es folgen die Ortspolizei einschließlich des Feuerlöschwesens mit 5 bis 6,5 v. H . und das Gesundheitswesen, das überhaupt erst seit den 70er Jahren nennenswerte Summen beansprucht, mit stark schwankendem, in den 80er Jahren etwas über 5 v. H . betragenden Anteil an den Ausgaben. Die Gesamtsumme, den die Zuschußverwaltungen in den einzelnen Jahren in Anspruch nehmen konnten, wuchs von knapp 16 Mill. M. 1871 auf durchschnittlich 34 Mill. M. zwischen 1877 und 1881 und 46 Mill. M. zwischen 1882 und 1888. Die Bevölkerung vermehrte sich in der gleichen Zeit von 825 000 auf 1 472 00 Einwohner, also nicht entfernt in dem gleichen Verhältnis. Und nun zu der anderen, zur Einnahmeseite der Berliner Finanzen! Unter den direkten Steuern verblieb der Haus- und Mietsteuer, also der Realabgabe, die erste Stelle. Aber ihre Erträge wurden in ganz anderem Maße als bisher von der Lage des Wohnungsmarktes abhängig, der erst seit der Gründerzeit die spekulativen Elemente zeigt, ohne die schon eine nur wenig spätere Zeit ihn sich kaum denken konnte. So stieg der Ertrag der Mietsteuer zwischen 1871 und 1876 von 5 auf fast 10 Mill. M., um dann jahrelang etwas unter diesem Höchststand zu bleiben. Erst von 1882 an bewegte er sich wieder langsam aufwärts bis auf 13% Mill. M., fiel 1889 etwas und nach kurzer Erholung 1891 erheblich und war 1894 mit 13 Mill. M. immer noch unter dem Stand von 1888. Die Haussteuer machte natürlich diese Schwankungen mit. Die Gemeindeeinkommensteuer, die 1870 nur mit 25 v. H . der Staatseinkommensteuer erhoben zu werden brauchte, wurde 1871 mit 50'/3 v. H., 1872/74 mit 662/3 v. H., 1875 mit 80 v. H . und 1876 mit 60 v. H . ausgeschrieben. Ihre Erträge wuchsen nicht nur im Verhältnis der Er-

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höhung des Steuersatzes, sondern weit stärker noch im Zusammenhang mit steuertechnischen Verbesserungen und mit dem wirtschaftlichen Aufschwung seit dem deutsch-französischen Kriege. Wenn auch der große Krach, der ernüchternd dem Gründungstrubel folgte, auf sie seinen Einfluß ausübte, so kam sie doch allmählich den Erträgen der Mietsteuer nahe und übertraf sie sogar seit 1881. Diesen ungewöhnlichen Mehreinnahmen stand der Fortfall der einen bisherigen Hauptstütze der Finanzen Berlins gegenüber, der Mahl- und Schlachtsteuer, Durch das Gesetz vom 25. Mai 1873 wurde sie vom 1. Januar 1875 an als Staatssteuer beseitigt, womit ohne weiteres das kommunale Zuschlagsrecht fortfiel. Auf die durch das Gesetz vorbehaltene Befugnis, eine Gemeindeschlachtsteuer einzuführen, verzichtete Berlin aus den gleichen volkswirtschaftlichen Gründen, die den Staat zur Aufhebung dieser Steuer veranlaßt hatten. Nur der Zuschlag zur Braumalzsteuer blieb bestehen, der nie von großer Bedeutung gewesen war. Damit war das ursprüngliche, auf ein Überwiegen der indirekten Besteuerung aufgebaute städtische Steuersystem gründlichst gewandelt. Noch 1861 hatte das Verhältnis der indirekten Kommunalsteuern sich zu den direkten wie 4,7 : 1 verhalten; im Jahre 1876 war das Verhältnis 1 : 55! Die alte Scheu der führenden Schichten Berlins vor direkten Steuern und besonders vor der Einkommensteuer war in das Gegenteil umgeschlagen. Die Steuerlast sozialer zu verteilen, war auch das Leitmotiv der Reformpläne der 80er Jahre. Gegen eine völlige Aufhebung der Mietsteuer allerdings, die das Preußische Staatsministerium befürwortete, erklärten sich die Stadtverordneten mit großer Mehrheit. Man war überzeugt, daß diese Steuer „im Prinzip vollständig gerechtfertigt" sei. Aber eine soziale Ausgestaltung durch eine Staffelung des Tarifs wurde beschlossen und gleichzeitig die völlige Freilassung der schwächsten Schultern von der Einkommensteuer. Die Erträge der Einkommensteuer wuchsen von 3,4 Mill. M. im Jahre 1871 auf 8 Mill. M. 1875. Wie bisher wurde sie in bestimmten Prozentsätzen der Staatseinkommensteuer erhoben. Nach der vorübergehenden Herabsetzung wurde der Prozentsatz 1877 besonders mit Rücksicht auf die großzügigen Straßen- und Brückenbäuten auf 80 v. H . und 1878 auf 100 v. H . erhöht. Die Einnahmen stiegen schnell auf 10 Mill. M. 1882, 15 Mill. M. 1888 und 22 Mill. M. 1894. Die Selbsteinschätzung, die das Einkommensteuergesetz vom 24. Juni 1891 eingeführt hatte, erwies sich auch für die städtischen Finanzen als so vorteilhaft, daß vorübergehend 1892 und 1893 der Prozentsatz auf 70 v. H . und 85 v. H . ermäßigt werden konnte. Von 1893 an brachte die Einkommen-

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Steuer mehr als die Hälfte aller Steuern ein. Der absoluten Steigerung der Steuereinnahmen hielt die relative das Gleichgewicht. Eine einzige Zahl genügt als Illustration: von 1859 bis 1887 nahm die Bevölkerung Berlins um 200 v. H., der Ertrag der Steuern aber um 516 v. H . zu. Die Entwicklung der laufenden Einnahmen ermöglichte die kühne Anleihepolitik, die, Ende der 60er Jahre begonnen, doch erst nach der Zeit der Reichsgründung sich voll entfalten konnte. Die Anleihen überstürzten sich fast, die den Erwerb der Wasserwerke, die Kanalisation und alle die anderen schon genannten Unternehmungen dieser Jahre finanzieren sollen. Prinzipielle Debatten gehen 1873 der Bewilligung einer Anleihe von 3 Mill. M. für Schulbauten voraus. Vier Jahre später beschließen die Stadtverordneten eine Anleihe von 10 Mill. M. zur gründlichen Erneuerung des Straßenpflasters im Stadtinnern. Aber gegen diese Bewilligungsfreudigkeit legt der Magistrat sein Veto ein. Er hält daran fest, daß Anleihen nur für Anlagen von dauerndem Charakter aufgenommen werden sollen. In dem 1885 erschienenen Schlußband des Verwaltungsberichts für die Jahre 1877 bis 1881 betont er mit Nachdruck, daß Gegenwartsaufgaben nicht auf die kommende Generation abzuwälzen seien, und daß Berlin seine großen Ziele nur erreichen könne, wenn es bereit sei, die Steuerkraft seiner Bevölkerung voll in Anspruch zu nehmen. Noch weiter geht ein Magistratsbeschluß vom 8. April 1892. Jetzt sollen auch Bauten für höhere Schulen wie für Kranken- und Siechenhäuser nur noch aus laufenden Einnahmen bestritten werden. Es war ein Zeichen des vorsichtigeren Kurses, den die städtische Politik unter Zelles Einfluß sich zu steuern anschickte. Die Anleihen von 1875, 1876 und 1878 hatten zu 4Vi! v. H. begeben werden müssen. Die Verflüssigung des Geldmarktes erlaubte 1881 eine Herabsetzung des Zinsfußes und eine Konvertierung der älteren Anleihen auf 4 v. H . Die Anleihe von 1886 konnte sogar zu 3 % v. H. herausgebracht werden; 1889 wurde der Zinsfuß aller 4 proz. Anleihen auf 3V2 v. H . herabgesetzt. Die gesamte Schuld der Stadt betrug im März 1895: 268,5 Mill. M., davon rund 193 Mill. M. zu Lasten der Werke; die Kämmereischuld betrug 661/2 Mill. M., denen 10 Mill. M. Forderungen an die Gaswerke gegenüberstanden. Das bemerkenswerteste Ereignis der letzten Epoche der Finanzgeschichte Berlins bis zum Weltkrieg steht an ihrem Anfang: die Einführung des neuen Steuersystems des Kommunalabgabengesetzes. Das kommunalpolitische Ziel des Gesetzes war eine Beschränkung der direkten Besteuerung und innerhalb ihres Rahmens eine Entlastung der Ein-

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kommensteuer. Dieses Ziel ist in Berlin so wenig wie in anderen Großstädten voll erreicht worden. Durch das Gesetz fiel die Haus- und Mietsteuer, um die schon in den 80er Jahren gerungen worden war. Sie wurde mit der vom Staat den Gemeinden überwiesenen Grund- und Gebäudesteuer zu einer einheitlichen Grundsteuer vereinigt. Ihre Erhebung erfolgte in Berlin auf Grund selbständiger Veranlagung. Seit der Grundsteuerordnung vom 28. April 1907 wurde nicht mehr der Nutzungswert, sondern der gemeine Wert zu Grunde gelegt, um eine gerechtere Verteilung der Lasten zu ermöglichen. Die Gewerbe- und Betriebssteuer wurde aus einer staatlichen zu einer städtischen Steuer, die in Berlin in Prozenten der staatlichen Veranlagung erhoben wurde. Das Zuschlagsrecht zur staatlichen Einkommensteuer blieb den Gemeinden. Die Erhebung eines Zuschlags von über 100 v. H . aber wurde an die Genehmigung der Aufsichtsbehörde geknüpft. Die Steuerreform hat die Finanzen Berlins nicht sehr tief berührt. Über 100 v. H . war man auch vorher bei der Einkommensteuer nicht hinausgegangen. Es gehörte keine besondere Kunst dazu, an diesem Satze festzuhalten, zumal die nächste Wirkung des K. A. G. eine Beschleunigung des Tempos der Einnahmevermehrung war. In dem Jahrfünft von 1889 bis 1894 hatte sich die Steuereinnahme von 33,4 auf 41 Mill. M. erhöht, in den nächsten fünf Jahren stieg sie von 43,7 auf 57, dann von 62,7 auf 72,1, zuletzt von 77,6 auf 85,7 und schließlich bis 1913 auf 93 Mill. M. Nur die Grundstücksumsatzsteuer, auch ein Kind der großen Finanzreform, erfüllte die Erwartungen nicht. Ihre Erträge schwankten zunächst um 2 Mill. M., stiegen auf 4 bis 5 und fielen wieder auf 2,7 Mill. M. im Jahre 1913. Unbedeutend blieb auch die Ausbeute der Warenhaussteuer, die am 1 April 1901 in Kraft getreten war. Die Einkommensteuer brachte zwischen 1901 und 1910 35 bis 40, die Grundsteuer 23 bis 26]/2 Mill. M. ein. Sie bildeten das Rückgrat der Finanzen, wie es vorher Einkommen-, Haus- und Mietsteuer gewesen waren. Die Uberschüsse der städtischen Werke unterlagen lebhaften Schwankungen, betrugen etwa 1906 über 10, 1908 aber nur 5 Mill. M. Eine Einnahmequelle von steigendem Werte sicherten dagegen der Stadt die Verträge, die sie mit den großen privatwirtschaftlichen Unternehmungen geschlossen hatten, die dem Verkehr oder der Lieferung von elektrischem Strome dienten. Die Stadt hatte darauf verzichtet, die Große Berliner Straßenbahn und die Berliner Elektrizitätswerke in ihre eigene Hand zu nehmen, bezog aber von den privaten Gesellschaften regelmäßige und steigende Einnahmen, die sich zwischen 1901 und 1910 von 5 auf 10% Mill. M. hoben. Sie blieben damit nicht

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allzu viel hinter der Gewerbesteuer zurück, deren Erträge in den Jahren um 1910 zwischen 10% und 11 Mill. M. schwankten. In der Rangordnung der Ausgaben behielt das Unterrichtswesen seine beherrschende Stellung. In erheblichem Abstand hinter ihm kamen mit nicht allzu verschieden hohen Summen im letzten Jahrzehnt vor dem Weltkriege die Armenverwaltung, die allgemeinen Verwaltungskosten und das Gesundheitswesen, dessen Bedeutung für den Stadthaushalt dauernd gewachsen war. Es folgten mit namhaften Beträgen noch der Tiefbau und die Straßenreinigung und -beleuchtung. Die Finanzpolitik Berlins bewahrte ihren soliden Charakter. Mit seltenen Ausnahmen schloß jedes Jahr mit einem Uberschuß ab. Der Beschluß des Jahres 1892, Schul- und Krankenhausbauten nur aus laufenden Mitteln zu bestreiten, mußte freilich geopfert werden. Als sich 1901 und 1902 ein Fehlbetrag ergab, wurde der Beschluß aufgehoben und damit sofort wieder das Gleichgewicht hergestellt. Mit Ausnahme weniger wirtschaftlicher Depressionsjahre ging jedes Jahr mit einem erheblichen Überschuß zu Ende. Die Anleihen nahmen zu, mit ihnen der Reichtum Berlins an werbenden Anlagen und bedeutenden Bauwerken. Der Zinsen- und Tilgungsdienst erlitt keine Unterbrechung. Am Schluß des letzten Friedensjahres beliefen sich die Schulden Berlins auf 503 Mill. M., denen Forderungen von 16 Mill. M. gegenüberstanden. Auf die Kämmerei fielen nur 128 Mill. M., der Rest auf die Werke und die Verkehrsanlagen, den 1913 eröffneten Osthafen und die spärlichen städtischen Straßenbahnlinien. Der Zinsfuß von 3% v. H. hatte sich bis 1908 aufrecht erhalten lassen. Von diesem Jahre an mußten die Anleihescheine mit 4 v. H. ausgestattet werden, um einen annehmbaren Kurs zu erzielen. Wir haben die Finanzwirtschaft Berlins bis zum Ausbruch des Weltkrieges an uns vorüberziehen lassen, von ihren kleinlichen und mühseligen Anfängen an bis zu ihrer reichen Entfaltung. Sie ist ein getreues Abbild der Entwicklung der Berliner Selbstverwaltung überhaupt aus tiefem Dunkel zur führenden Stellung an der Spitze der städtischen Gemeinwesen Deutschlands. Der Krieg und viel mehr noch die Nachkriegszeit haben die Finanzen Berlins aufs neue in den Abgrund gestürzt. Wir dürfen hoffen, daß der Aufstieg, der schon begonnen hat, schneller zur Höhe führt als nach dem verlorenen Krieg von 1806.

Werner Hegemanns Werk: „Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt" oder: Der alte und der neue Hegemann Mit seinen 505 Seiten, von denen 63 auf prachtvolle Tafeln entfallen, mit seinen Abbildungen im Text und mit seiner in Format und drucktechnischer Vollendung wohl alle bisher erschienenen Veröffentlichungen zur Geschichte Berlins überragenden Ausstattung stellt das im Verlag Gustav Kiepenheuer, Berlin, erschienene neueste Werk Werner Hegemanns einen äußeren Höhepunkt der Berliner Geschichtsschreibung dar 1 . Der Preis von 28 RM. für das in einen schlicht-vornehmen Ganzleinenband gekleidete Buch ist, gemessen an anderen wissenschaftlichen Neuerscheinungen, erstaunlich gering. Er müßte für jeden, der an dem Geschick der deutschen Reichshauptstadt Anteil nimmt, Veranlassung sein, das Buch nicht nur zu lesen, sondern zu kaufen — unter einer, allerdings entscheidenden Voraussetzung: der Inhalt muß den Wettbewerb mit dem äußeren Gewände aufnehmen können. Werner Hegemann darf für sich das Recht beanspruchen, gehört zu werden. Er ist schon vor dem Kriege mit Veröffentlichungen über die Entwicklung der modernen Großstadt hervorgetreten, hat sich als Direktor der Berliner Kleinhausbaugesellschaft „Ideal" wie später im Dienste amerikanischer Städte und Gesellschaften praktisch bewährt, hat als Vorkämpfer des Groß-Berliner Gedankens gewirkt und ist seit Jahren Schriftleiter der führenden deutschen städtebaulichen Fachzeitschrift. So vereinigt er in sich alle Voraussetzungen, um das abschließende Werk über die baugeschichtliche Entwicklung Berlins zu schreiben. Wir glauben daher, es ihm und den Lesern unserer Zeitschrift schuldig zu sein, über sein Buch nicht in der Form einer knappen Besprechung, sondern in der eines ausführlichen Aufsatzes zu berichten. Nur so werden wir zugleich der Sache dienen können, der Erkenntnis f 1 Die hier vorgelegte Rezension Kaebers hat eine besondere Aktualität erhalten, da das kritisierte Buch Hegemanns 1963 als Paperback eine unveränderte Neuauflage erfahren hat.]

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der Kräfte, die das Antlitz Berlins von seinem Ursprünge an bis in unsere Zeit gestaltet haben. Eines gilt es zunächst dankbar hervorzuheben. Hegemanns Buch ist in keiner Zeile langweilig, es trägt vom Beginn bis zum Ende das Gepräge eines Schriftstellers, dem alle Mittel der Rede, sachlicher Ernst, leidenschaftliche Anklage und vernichtende Ironie gleich zu Gebote stehen. Freilich wird mehr als ein Leser gelegentlich finden, daß der Verfasser seiner Neigung zur spottenden Zuspitzung oder zu Anspielungen auf die Gegenwart allzu stark nachgegeben hat. Es ist kaum noch geistreich, ein Geschenk Ludwigs XIV. an die Kurfürstin Dorothee mit der Sklareksache in Verbindung zu bringen, oder Schadows jüdische Frau und Goethes „ebenso rundliche" Christiane als die lebendigen Vorbilder des „rundlich-vollen Stils" vorzuführen, der durch den größten Bildhauer Berlins und den größten Dichter Deutschlands „zum fraulichen Idealstil der Deutschen" erhoben worden sei. Ganz abgesehen davon, daß die „schlanke Mode" im 18. Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa noch unbekannt gewesen sein dürfte! Auch die Form, in der Schinkels Anpassungsfähigkeit an königliche Wünsche und seine Versuche um einen deutschen Baustil ironisiert werden, wird weder dem Genie Schinkels noch der geistigen Bewegung gerecht, die ihn vom Klassischen immer wieder zum Gotisch-Romantischen zog. Noch weniger werden sich, selbst viele, die durch die Erfahrungen des Weltkrieges zu aufrichtigen Pazifisten geworden sind, mit dem Spotte befreunden können, der über den „freiwilligen Heldentod" einiger Maler und Baumeister Berlins ausgegossen wird, die 1914 freiwillig ins Feld zogen. All dies aber wäre der Erwähnung kaum wert, wenn es nicht der Ausfluß eines Mangels wäre, der den Leser mit so zwiespältigen Gefühlen die Lektüre fortsetzen und beenden läßt, des Mangels an wahrhaft geschichtlichem Sinn. Das Ergebnis ist eine Verzeichnung des Bildes, das die städtebauliche Entwicklung Berlins dem ruhig Betrachtenden bietet. Den Nachweis für dieses Urteil sollen die folgenden Zeilen bringen. Das Überraschendste an der Einstellung Hegemanns ist indessen, daß er vor dem Kriege von der städtebaulichen Entwicklung Berlins bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine ganz andere Anschauung gewonnen hatte. Da in unserer Zeitschrift diese ältere, noch heute wertvolle Arbeit keine Würdigung gefunden hat, dürfen wir mit einigen Worten auf sie eingehen. Als Generalsekretär der Allgemeinen Städtebauausstellung in Berlin hatte Hegemann, ein Schüler des um den Großberliner Gedanken ver-

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dienten Geheimen Baurats Otto March, im Jahre 1910 ein überreiches Material an Plänen, Bildern und statistischen Aufstellungen gesichtet und geordnet, das er im folgenden Jahre als Geschäftsführer der Internationalen Städtebauaustellung in Düsseldorf noch ergänzen konnte. Vorangegangen war 1909 die ebenfalls von ihm geleitete „Erste Internationale Städtebauausstellung" in Boston, deren Erfolg ihm die Berufung nach Berlin eingetragen hatte. Die Ergebnisse der beiden deutschen Ausstellungen, in erster Linie der Berliner, hat er dann in einem zweibändigen Werke zusammengefaßt, das 1911 und 1913 bei Ernst Wasmuth in Berlin erschien2. Diese grundlegende Publikation, die wir künftig kurz als „Städtebau" zitieren werden, ist wahrscheinlich ihres Titels wegen in den Kreisen der Historiker — nicht in denen der Städtebauer — ohne den verdienten Widerhall geblieben. Denn der Titel verriet nichts davon, daß in beiden Bänden eine Geschichte oder mindestens eine Skizze der städtebaulichen Entwicklung der wichtigsten europäischen und amerikanischen Weltstädte geboten wurde, die ebenso auf gründliche Verarbeitung der Literatur wie auf eigenem Augenschein beruhte. Uns interssiert hier besonders der erste Band. Seinen Inhalt bildet eine erschütternde Darstellung der seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden Kämpfe gegen die städtebauliche Entwicklung Berlins zu jenem steinernen Meere von vielgeschossigen, an überbreiten Straßen liegenden Mietskasernen. Die oft prunkvollen, wenn auch fast immer geschmacklosen Fassaden der Vorderhäuser dieser mächtigen Wohnbauten verraten nichts von dem Dunkel der Hinterhäuser, in deren licht- und luftarmen, übervölkerten Wohnungen die Masse der Bevölkerung lebt und heranwächst. Durch knappe, gut gewählte Auszüge aus ihren Schriften werden die Gestalten der Männer und Frauen lebendig, die ihre Stimme gegen die seelenlose Gleichgültigkeit und Schlaffheit der Behörden und des Bürgertums erhoben, die weder durch die soziale Not der zusammengepferchten Menschen noch durch die von ihnen drohenden politischen Gefahren sich zu Taten bestimmen ließen, solange es noch Zeit war. Die Folgen des Bebauungsplanes von 1858, die unsozialen Bauordnungen, die Irrungen und Wirrungen des Berliner Verkehrswesens, über dessen Schöpfungen fast immer ein „zu spät", steht, werden mit harter, aber im ganzen gerechter Kritik geschildert. 2 Der Städtebau nadi den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebauausstellung in Berlin, nebst einem Anhang: Die Internationale Städtebauausstellung in Düsseldorf. 600 Wiedergaben des Bilder- und Planmaterials der beiden Ausstellungen.

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Dieser als Rückblick bezeichneten, 90 Folioseiten und 14 Seiten Anmerkungen umfassenden Einleitung folgt als erstes Kapitel der eigentlichen Darstellung eine knapp halb so umfangreiche Ubersicht über die städtebauliche Geschichte Berlins. Begründet auf die bekannten Bücher von Borrmann, Clauswitz, Paul Voigt („Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin und seinen Vororten") und auf eine gute Auswahl kunstund baugeschichtlicher Schriften, ist diese Skizze eine einzige Hymne auf die Taten der großen Städtebauer und Künstler des älteren Berlin bis zur Zeit Schinkels. Sie bildet den leuchtenden Hintergrund, von dem sich wirkungsvoll die dunklen Töne abheben, in denen die Einleitung mit ihrer Schilderung des 19. Jahrhunderts gehalten ist. Der zweite, vornehmlich der Verkehrs- und Freiflächenpolitik gewidmete Band brachte darüber hinaus eine auf den Quellen beruhende Übersicht über die Entwicklung von Paris und London. Dabei fielen scharfe Streiflichter auf Berlin, dessen Park- und Spielplatzpolitik eine oft bitter-ironische Würdigung erfuhr. Eine schneidende Kritik durchweht diese beiden Bände. Aber sie ist nicht eigentlich politisch, sondern sozial bestimmt. Der konservative Reformer Victor Aimé Huber oder die seinem Kreise angehörende Gräfin Poninski, geborene Gräfin Dohna, die unter dem Pseudonym Arminius schrieb, werden mit gleicher Wärme geschildert wie der aus dem Freihandelslager kommende Julius Faucher. Freilich, im zweiten Bande klingt daneben ein anderer Ton an, eine Wendung gegen den politischen Absolutismus und eine Vorliebe für die ältere Selbstverwaltung, die sich in den angelsächsischen Staaten, in England und Amerika, ausgebildet hatte. In Deutschland dagegen fehlten nach Hegemanns Ansicht „in entscheidender Zeit deutsche Männer und das nackensteife Bürgertum", das mit der Verteidigung seiner Rechte die freiwillige Wahrung seiner sozialen Pflichten hätte verbinden können. „Weniger nationale Armut, als die Unfähigkeit, ohne Nachhilfe mit dem französisch-absolutistischen Krückstock auszukommen", schien ihm den Ubergang der Führerrolle von Deutschland auf „die selbstverwaltungsfähigen Angelsachsen" verschuldet zu haben (S. 395). Aber wenn dem preußischen Absolutismus im besonderen vorgeworfen wird, daß er später den Berliner Städtebau dem kurzsichtigen Fiskalismus der Regierung und einem Bürgertum ausgeliefert habe, das die Folgen einer langen Bevormundung noch nicht überwunden hatte, so werden doch die „ursprünglich glänzenden Leistungen" dieses Absolutismus hervorgehoben, die „ausschließlich auf der Initiative und den Fähigkeiten des jeweiligen Staatsoberhauptes beruhten" (S. 276).

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Vom Großen Kurfürsten und von Friedrich dem Großen heißt es, daß große Staatsmänner wie sie „im Städtebau eines der vornehmsten Werkzeuge zur Entwicklung ihrer Macht sahen; Einwanderer heranzuziehen und Industrien zu schaffen, war eine ihrer wichtigsten Sorgen" (S. 377). Nur einmal wird ein Tadel gegen die älteren Hohenzollern laut. Während in England die Gemeindewiesen durch Landadel und Bürgertum gegen Übergriffe der Landesherrn geschützt wurden, wäre in Berlin schon 1448 der lehnsrechtliche Besitz der Bürgerschaft durch den Kurfürsten konfisziert worden; auch in der Folgezeit habe der „erstarkende Absolutismus stets neue Mittel und Wege zur fiskalischen Okkupation unter schwerer Schädigung der privaten und kommunalen Wohlstandsverhältnisse Berlins" gefunden (S. 342). Hier irrt Hegemann indessen. Die Städte Berlin und Cölln behielten auch nach 1448 die Dörfer, die sie vom Kurfürsten zu Lehen trugen. Die Rückgabe der eingezogenen ehemaligen Johannitergüter Tempelhof, Rixdorf, Mariendorf und Marienfelde war ja gerade der Preis, um den die Städte ihre politischen Rechte opferten. Auch die als Häupter des Widerstandes bestraften Patrizier kamen zu einem erheblichen Teile wieder in den Besitz ihrer Lehen. Soviel ist gewiß, eine Wandlung hatte sich zwischen der Abfassung des 1. und des 2. Bandes in Hegemanns Stellung zu den Leistungen des europäischen Absolutismus vollzogen. Im 1. Bande hatte er 1911 den Satz geprägt: „Bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts war Berlin nicht nur in seinem Äußern, sondern auch in seinen wirtschaftlichen Grundlagen und Möglichkeiten das Produkt einer gewaltigen Willensaktion der Hohenzollern, deren vom Großen Kurfürsten eingeleitete und erst im 19. Jahrhundert erlahmende Bau-, Boden- und Wohnungspolitik zu den größten, planvoll geleiteten Aktionen in der Geschichte des Städtebaues zählt" (S. 8). Dieses Urteil hätte er 1913 kaum noch unterschrieben. Er war sich damals schon bewußt, daß seine Anschauungen eine Änderung erfahren hatten, und lieh dem mit Worten Ausdruck, die er 1930 in die Widmung seines Steinernen Berlin übernahm. Dieses ist dem Andenken an Hugo Preuß gewidmet, der als einziger Hegemann auf einen „politisch-bedeutsamen Irrtum" hingewiesen habe, die ziemlich „kritiklose Übernahme der herrschenden These von der Vortrefflichkeit des älteren Berliner Städtebaues", wie sie Voigt und Eberstadt begründet hatten. Hegemann gab gegenüber Preuß das Versagen des absolutistischen Städtebaues in Berlin schon bald nach der Überschreitung der Bevölkerungszahl 100 000 zu und wies darauf hin, daß er dies schon im ersten Bande bei der Beurteilung der Zwangs-

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weisen Miethausbauten Friedrichs des Großen betont habe. In Paris aber, so fügt er jetzt hinzu, „wo es sich schon um eine Großstadt und bereits um das mit dem Wachstum der Großstädte noch heute verbundene politische Alpdrücken handelte", habe diese Art Städtebau sich mit den Versuchen, das städtische Wachstum zu beschränken, „völlig lächerlich gemacht". Eine wachsende Stadt brauche „weniger despotische Aufklärung und aus polizeilicher Einsicht festgelegte Bebauungspläne als vielmehr die Freiheit, sich auszudehnen und die Kinderkrankheiten durchzumachen nach dem Satze: „Wer Männer will, muß Knaben wagen". Der „im Auslande so viel bewunderte, früher absolutistische, heute polizeiliche deutsche Städtebau und die kasernierten Städte des europäischen Festlandes" glichen widernatürlichen Mißbildungen. Diese neuen Einsichten waren aber im wesentlichen aus den Fehlern der französischen wie der deutschen Städtebaupolitik des 19. Jahrhunderts gewonnen worden. Nur indirekt fiel durch das Versagen des modernen Polizeistaats auch ein Schatten auf den Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Steinernen Berlin aber werden die Konsequenzen dessen gezogen, was 1913 nur angedeutet wurde. Herbe Kritik richtet sich jetzt auch gegen das, was dem ersten Bande des Städtebaues noch als Ideal vorgeschwebt hatte, gegen das Wirken der älteren Hohenzollern in ihrer Residenz Berlin. Zwar beruht das neue Buch in seinem wesentlichen Inhalt auf den Ergebnissen der Vorkriegsstudien seines Verfassers, die es bald wörtlich übernimmt, bald kürzt, erweitert, ergänzt oder bis auf die jüngste Gegenwart fortführt. Doch der Ton ist ein anderer geworden. Es wird seltener anerkannt und Licht und Schatten werden nicht so verteilt wie ehemals. Es ist wirklich ein neuer Hegemann, der zu uns spricht, trotz aller Ubereinstimmungen zwischen dem Stoff des älteren und des jüngeren Werkes. Auf die Anschauungen Hegemanns hat nach seinen eigenen Worten Hugo Preuß entscheidend eingewirkt. Allerdings nicht so sehr durch den Aufsatz „öffentliches und Privatrecht im Städtebau", den Hegemann „eine konstruktive Kritik" des ersten Bandes seines Städtebaues nennt. Diesen Aufsatz, der im zweiten Hefte des 6. Bandes des „Archivs für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie" erschienen ist, hat Hegemann nicht richtig aufgefaßt. Denn es handelt sich in ihm nicht um eine Kritik der sachlichen Leistungen des älteren hohenzollernschen Städtebaues, sondern er wendet sich nur dagegen, daß man an diesen Leistungen die unglückliche Bau- und Bodenpolitik des 19. Jahrhunderts mißt, und daß man die Schuld an dieser der städtischen Selbstverwaltung zuschreibt. Der Aufsatz knüpft auch nicht an Hegemanns Buch, sondern 14

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vor allem an die Schriften von Voigt und Eberstadt an und ist interessant genug, um eine kurze Wiedergabe seines Inhalts zu rechtfertigen. Preuß weist darauf hin, daß sich der ältere Absolutismus in einer ganz anderen, für seine Ziele unendlich günstigeren Lage befand als die deutschen Stadtverwaltungen nach der Steinschen Städteordnung von 1808. Die preußischen Könige brauchten auf Privatrechte keine Rücksicht zu nehmen und hatten alle polizeiliche und wirtschaftliche Macht in ihrer Hand vereinigt. Im 19. Jahrhundert dagegen grenzte sich das öffentliche Recht, das es nach Preuß vorher eigentlich gar nicht gab, gegen das Privatrecht ab, ohne daß dabei für die Zwecke des Städtebaues eine einheitliche, kraftvolle Instanz geschaffen wurde. Vielmehr teilten sich die städtische Selbstverwaltung und die staatliche Polizei in die Befugnisse. Der Selbstverwaltung, die durch die Städteordnung und durch den älteren Liberalismus auf das Wirtschaftliche beschränkt war, fehlte die polizeiliche Macht, der Polizei fehlte die wirtschaftliche Verantwortlichkeit. Selbst das Fluchtliniengesetz von 1875 war nicht die Magna Charta, der große Freibrief für die Selbstverwaltung, als den es Eberstadt bezeichnet hatte. Es gab ihr nicht, wie seine Bewunderer meinten, die Herrschaft über den gesamten Städtebau. Diese erhoffte Preuß vielmehr erst von einer Bereinigung aller städtebaulichen Befugnisse in der Hand der kommunalen Verwaltung und von einer gesetzlichen Festlegung des sogenannten Zonenenteignungsrechts. Weit stärkeren Einfluß als dieser rechtstheoretische Aufsatz werden die schon 1906 erschienene Schrift von Preuß über „Die Entwicklung des deutschen Städtewesens" und persönliche Unterhaltungen zwischen dem Staatsmann und dem Städtebauer ausgeübt haben. Preuß war j a nicht nur ein scharfsinniger Jurist, sondern ebenso ein von leidenschaftlichem Reformwillen erfüllter Politiker. Das hat auf seine historischen Anschauungen abgefärbt, hat ihn in seinem städtegeschichtlichen Buch dazu geführt, über den Mängeln des Absolutismus im 17. und 18. Jahrhundert dessen positive Leistungen zu vergessen. Der Politiker, welcher Richtung er auch angehören mag, wird ja als Historiker immer einseitig werden; darin liegt zugleich seine Stärke wie seine Schwäche. Preuß gelangte von seinem Standpunkte aus dazu, alles Gute in dem städtischen, „Urbanen" Prinzip zu sehen, dagegen in dem feudalen und absolutistischen Prinzip ein Verhängnis für die deutsche Entwicklung. Ihm fehlte zudem das Verständnis dafür, daß „die straffe Eingliederung der einzelnen Gemeinwesen in den Staatsorganismus", die in Preußen seit dem Großen Kurfürsten erfolgte, eine geschichtliche Notwendigkeit war. Er verkannte, daß auch die Wirtschaftspolitik dieser Zeit, der

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Merkantilismus, berechtigt und im Grunde nichts anderes war als die konsequente Übertragung der von Preuß gerühmten städtischen Wirtschaftspolitik auf den Staat3. Bei alledem blieb das Preußsche Buch eine bedeutende Leistung, großzügig, scharfsinnig, glänzend geschrieben — eine trotz aller Ubersteigerungen vielfach berechtigte Kritik an der durch Historiker und historisch interessierte Nationalökonomen begründeten Überschätzung des älteren preußischen Regierungssystems. Nach seiner Rückkehr aus Amerika, wo er jahrelang praktisch Städtebau getrieben hatte, hat Hegemann im Jahre 1924 ein erstes historischpolitisches Buch erscheinen lassen, den vielgenannten „Fridericus". In ihm wollte er das übliche Bild Friedrichs des Großen als Produkt einer einseitig „borussisch" gestimmten Heldenverehrung entlarven. Wir brauchen uns mit dieser, im Gewände geistreicher Plaudereien erscheinenden Satire nicht auseinanderzusetzen. Sie ist nur dadurch für uns von Interesse, daß schon in ihr eine scharf antihohenzollernsche und antipreußische Tendenz sichtbar wird. So werden in der Tat in ihr die Ergebnisse des Steinernen Berlin schon angedeutet, für die sich Hegemann auch auf die Zustimmung von Preuß beruft. Ob wirklich alle geschichtlichen Urteile Hegemanns die Billigung des großen Staatsmannes gefunden hätten, wagen wir zu bezweifeln. Indessen, er weilt nicht mehr unter den Lebenden, und es ist müßig, Betrachtungen darüber anzustellen, was er zu dieser oder jener These des Hegemannschen Werkes gesagt haben würde. Als Leitmotiv des Steinernen Berlin darf man vielleicht ein von Hegemann zitiertes Wort Heinrich von Treitschkes betrachten, des glänzendsten Vertreters einer einseitig preußischen Geschichtsschreibung. Treitschke hat einmal bemerkt, daß Deutschland keine wirkliche Hauptstadt besitze; er hat diesen Mangel ein unnatürliches Gebrechen genannt, ohne es doch eigentlich zu bedauern. Hegemann dagegen ist überzeugt, „daß ein Volk ohne große Stadt keine Großmacht ersten Ranges zu werden vermag" (S. 13). Sein ganzes Buch dient dem Nachweis der Gründe, warum Berlin nicht die repräsentative deutsche Großstadt geworden ist. Als Zeuge dafür, daß es diese Stellung nicht etwa durch Friedrich den Großen errungen und nur später wieder verloren hat, dient ihm Ernst Moritz Arndt, der in seinem „Geist der Zeit" (1805) schrieb: „Man tut ihm zuviel Ehre an, wenn man von Berlin das 3 Vgl. die Kritik Siegfried Rietschels in der Deutschen Literatur-Zeitung 1908, Nr.43, Sp.2737 bis 2741 und dazu von Belows Aufsatz: „Bürgerschaften und Fürsten" in der H Z 102, 1909, S. 124 £f.

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deutsche Licht und jedes andere Streben ausgehen l ä ß t . . . , nein, vom Süden und aus der Mitte Germaniens kam deutsche Kraft und jede edlere Bildung . . . , es ist auch unmöglich, daß in einem so strenge gehaltenen und gespannten Soldatenstaate je das Genialische und Künstlerische aufblühe, was Lebensfröhlichkeit unter den Menschen will." Dieses Zitat stellt Hegemann an die Spitze des ersten Kapitels seines Buches, und er fügt hinzu, daß Arndt, der Dichter des Liedes „Was ist des Deutschen Vaterland" nicht nur ein Preuße, sondern auch ein guter Deutscher gewesen sei. Aber was Hegemann diesem und so manchem anderen von ihm zitierten unwilligen Worte, Lessings etwa oder Winckelmanns, über den preußischen Staat nicht hinzufügt, das ist eine Würdigung der Situation, aus der diese Äußerungen geboren wurden. Mit solchen, ihres geistigen Zusammenhangs entrissenen Worten läßt sich über jeden bedeutenden Menschen, über jede Stadt und über jede Zeit jedes Lob und jeder Tadel begründen. Gerade Arndt ist ein Zeuge dafür, daß der gleiche Mensch über die gleichen Dinge die verschiedensten Urteile fällen kann. Im Jahre 1805 bekämpfte er in Preußen und besonders in Berlin den Hauptsitz des Rationalismus und des bürokratischen Absolutismus, während ihn gerade sein Berliner Aufenthalt im Winter 1809/10 dazu instand setzte, „seine persönliche Eigentümlichkeit allmählich in die wachen Energien dieses Staates hineinzuarbeiten und dadurch jene Harmonie mit dem gesamten Deutschland zu vollenden, die schon im zweiten Teil seines ,Geist der Zeit' vorbereitet worden war" 4 . Selbst wenn sich nicht in Arndt selbst eine innere Wandlung zum Preußentum vollzogen hätte, wäre es leicht, ihm anders klingende Stimmen nicht minder guter Deutscher entgegenzusetzen. Wir erinnern daran, daß Schleiermacher, sicher ein aller Reaktion abholder Geist, in dem von französischen Truppen besetzten Berlin am 24. Januar 1808 eine Gedächtnispredigt auf Friedrich den Großen hielt, in der er als erster unter den Reformern „die Neugestaltung Deutschlands an die Erhaltung und Neubegründung der preußischen Macht knüpfte". Der den „Fridericus" beherrschende Gedanke, daß die preußischen Könige, und mehr als irgendein anderer Friedrich der Große, das Deutsche Reich vernichtet haben, wird im Eingangskapitel des Steinernen Berlin dahin abgewandelt, daß Berlin, die preußische Hauptstadt, ihren Vorrang „auf Kosten einer älteren und besser gelegenen, ruhmreicheren und deutscheren Hauptstadt" erkauft habe. Welch seltsame Variierung des Themas: Berlin—Wien! Seltsam auch deshalb, weilHege4

E. Müsebedc: Arndt, Bd. 1, 1914, S. 244, 254 f.; über Schleiermacher S. 251 f.

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mann in dem nicht mehr unter der „kritiklosen Übernahme" preußischer Vorurteile stehenden zweiten Bande seines Städtebaues die entgegengesetzte Anschauung verfochten hatte. Damals nannte er als eine der Ursachen, die eine Zusammenfassung Deutschlands unter einem habsburgischen Herrscher unmöglich gemacht hatten, „die ungünstige Lage Wiens, der in die Ostmark vorgeschobenen, angestammten Residenzstadt des Kaisertums"; damals sah er in dieser Lage Wiens eine Art Rechtfertigung für den Widerstand der deutschen Fürsten gegen eine habsburgische Zentralgewalt (S. 278). Kein Zweifel, daß der Hegemann des Jahres 1913 die richtigere Einsicht besaß! Um die ganze Armseligkeit Berlins gegenüber der Donaustadt recht deutlich zu machen, läßt Hegemann erst in einer Zeit, als in Wien schon die Nibelungenlieder erklangen, die deutschen Ansiedler an der Spree „den wendischen Namen Collen dem rheinischen Köln" angleichen. Wir würden diese von der neueren Sprach- und Geschichtsforschung abgelehnte Etymologie gar nicht hervorheben, wenn nicht durch die slavische Ableitung des Namens Cölln von vornherein Berlin in ein unfreundliches Licht gesetzt werden sollte. Der Hinweis auf den „von Sumpf umgebenen Hügel", wie das angeblich slawische Wort Cölln erklärt wird, soll zugleich den elenden Ursprung Berlins verdeutlichen. Hegemann vergißt dabei freilich, daß er selbst früher darauf aufmerksam gemacht hatte, daß auch Paris auf einer Insel der Seine lag, die, „ähnlich wie die das Herz Berlins bildende Spreeinsel, von alters her zur Überschreitung der sumpfigen Flußgebiete besonders günstig gelegen war" (Städtebau, Band 2, S. 163). Der neue Hegemann vermeidet es, diesen für Berlin ehrenvollen Vergleich zu wiederholen. Dafür stellt er nun der Universitätsstadt Wien die „eigentümliche geistige Enge" Berlins gegenüber, in der sich eine Universität „erst nach dem befreienden Eingriff Napoleons entwickeln konnte" (S. 12). Aber Joachim I., der Gründer der ersten märkischen Universität, hat diese nicht deshalb nach Frankfurt a. d. Oder verlegt, weil diese Stadt weniger darniederlag als Berlin (S. 38), sondern weil er es nach der Sitte seiner Zeit vermeiden wollte, Hof und Studentenschaft in den Mauern einer Stadt zu vereinen. Man wünschte damals die Gefahren zu bannen, die sich aus dem Zusammentreffen von zwei Bevölkerungsgruppen ergeben mußten, denen der Degen noch allzu locker in der Scheide saß. Nur auf sehr gutgläubige Leser berechnet ist das Lob Wiens als der Stadt, in der 1808 „Friedrich Schlegels Aufrufe zum deutschen Freiheitskriege ertönten, die schließlich auch in Berlin gehört wurden". Nimmt Hegemann an, daß niemand etwas von den Patrioten weiß, die sich

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gerade in Berlin im Jahre 1808 zusammenfanden, und daß niemand an den Major Schill denkt, der 1809 aus Berlin zur Befreiung Deutschlands auszog? Weiß er nichts von dem echtberlinischen Kreise um Georg Reimer, von der „schießenden Gesellschaft", die in Charlottenburg ihre Waffenübungen abhielt, oder von der Aufführung des „Prinzen von Homburg", die als eine vaterländische Manifestation 1810 im Palais des mit einer preußischen Prinzessin verheirateten Prinzen Radziwill stattfand? Doch wir verlassen diese einleitenden Ausführungen und wenden uns der Übersicht über die Geschichte Berlins zu, die im dritten Kapitel beginnt. Wir hören von dem zweifelhaften wendischen Fischerdorf in der Cöllner Fischerstraße und werden bei der Schilderung der deutschen Kolonisation dieser Landstriche darüber aufgeklärt, daß die deutsche Volkskraft zur Besiedlung des europäischen Ostens fähig und berufen war, bis Friedrichs des Großen „Blut und Geld schröpfende Kriege gegen den dort mächtigen Kaiser" und gegen den sächsischen Polenkönig diese Kolonisation für immer hoffnungslos machten. Als ob seit dem Fall des Deutschen Ordens, dem kein Habsburger zu Hilfe gekommen war, irgend etwas für die Kolonisation des deutschen Nordostens, um die es sich im Zusammenhang mit Berlin doch nur handeln kann, je geschehen wäre! Als ob nicht gerade Friedrichs des Großen Erwerbung von Ermland und Westpreußen das deutsche Element vor dem Untergang im Polentum bewahrt hätte! Und wer hätte je von einer wirksamen deutschen Kolonisationsarbeit Augusts des Starken oder seiner Nachfolger auf dem polnischen Thron gehört? Nach dieser Abschweifung kehrt Hegemann zu Berlin zurück (S. 25 ff.), das sich nach ihm 1307 mit Cölln „zu einer Stadt vereinigte". Das haben die beiden Städte keineswegs getan, sie haben nur ein militärisch-politisches Dauerbündnis geschlossen. Erst 1432 vollzogen sie ihre durch Friedrich I I . so schnell wieder aufgehobene Vereinigung. Sie haben auch nicht mit anderen märkischen Städten und dem Adel das Recht erworben, dem Markgrafen die Treuepflicht zu kündigen, falls er gegen seine verfassungsmäßigen Pflichten verstieße. Und ebensowenig haben sie dieses Recht „und damit die Hoffnung auf geistige Führung des Landes" durch die Hohenzollern eingebüßt. Den Besitz von Cöpenick, der übrigens nur ein Pfandbesitz war, hat Berlin gegen die Quitzows kaum behaupten können. Daß Friedrich I. schon als Statthalter dieses landesherrliche Schloß wieder einlöste, stand im Einklang mit der von den Ständen der Mark stets verlangten und dem neuen Statthalter auch durch den Kaiser gestellten Aufgabe, den verpfändeten markgräf-

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liehen Besitz zurückzugewinnen. Überhaupt ist die ganze Quitzow-Zeit durch Hegemann verzeichnet worden. Das Bündnis zwischen Berlin und den Quitzows war von keiner Dauer. Es konnte sich daher nicht „im folgenden Frieden" erweisen, ob die Städte oder die Ritter stärker bleiben würden. Damit fällt der von Hegemann konstruierte Gegensatz zwischen diesem Frieden und den Hohenzollern, die, „statt ihre Pflicht zu tun", nämlich die Übermacht des Adels zu brechen, „den deutschen Kaiser bekämpften und die Bundesgenossen des Adels wurden". So einfach lagen die Dinge wirklich nicht, vor allem hat sich Friedrich I. nicht im Bunde mit dem märkischen Adel gegen den Kaiser und die Stadt Berlin gewandt. Sein vorübergehender Gegensatz gegen den Kaiser hatte mit seiner inneren Politik nichts zu tun, und mit Berlin ist er überhaupt nie in Konflikt geraten. Das Bündnis mit Polen, das er 1421 schloß, war nicht „ein erstes Beispiel der deutschfeindlichen Politik" der Hohenzollern, sondern es war die Folge der Verlobung seines zweiten Sohnes mit der Tochter des 60jährigen Polenkönigs, der damals noch keine männlichen Erben besaß. Friedrich hoffte, für sein Haus, also ein deutsches Fürstenhaus, den polnischen Thron erwerben zu können. Er durfte sich daraufhin, ohne Verrat an seinem Volkstum zu begehen, gegen den Deutschen Orden wenden, der ihm seinerseits die Neumark vorenthielt. Es geht außerdem nicht an, mit modernen nationalen Ideen eine ganz andere Zeit zu messen. Die deutschen Kaiser des späteren Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte haben auch nie Bedenken getragen, politische Bündnisse mit fremden Mächten, etwa mit Spanien, ohne Rücksicht auf das Deutsche Reich zu schließen. Nicht besser als um Hegemanns Kenntnisse der politischen Geschichte des Mitelalters steht es um seine Kenntnisse der inneren Verfassung des älteren Berlin. Es gab neben dem regierenden Rat keinen „großen äußeren Rat, der etwa den heutigen Stadtverordneten entsprach". Hegemann hat offenbar eine allgemeine Bemerkung von Preuß (Städtewesen S. 81) ohne nähere Prüfung auf Berlin übertragen. Eben weil es in Berlin und Cölln keine wirksame politische Vertretung der großen Zünfte gab, entstand 1442 der verhängnisvolle Zwiespalt innerhalb der Städte. Auch begann die Hohenzollernsche Politik nicht schon 1426, „dem Adel das Recht zur Bewilligung von Steuern zu sichern", die von den Städten und den Bauern gezahlt werden mußten. Diese Steuerpolitik setzte viel später ein, und die soziale Verschlechterung der Lage des deutschen Bauern, an der doch die Hohenzollern nicht mehr Schuld tragen als alle deutschen Fürsten einschließlich des Kaisers, reicht nicht in das 15. Jahrhundert zurück. Friedrich I. hat auch nicht die Mark

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verlassen, weil seine Städte sich gegen ihn zu empören begannen (S. 35), sondern weil seine militärischen Mißerfolge gegen Pommern und Mecklenburg ihm die Mark verleideten. Er ist nach seiner Rückkehr in sein fränkisches Stammland stets ein Freund der märkischen Städte geblieben. Das sind so bekannte Dinge, daß ich nicht erst auf meinen Aufsatz über die Beziehungen zwischen Berlin und Cölln im Mittelalter zu verweisen brauche5. An den Kampf Berlins mit Friedrich II. knüpfte die ältere Geschichtsschreibung einen Wechsel des Berliner Wappens. In dessen jüngerer Form, die den Adler mit seinen Fängen auf dem Bären sitzend zeigt, sah man einen symbolischen Ausdruck für den Sieg des kurfürstlichen Adlers über den städtischen Bären. Diese im Text von ihm übernommene Legende berichtigt Hegemann zwar in der Anmerkung auf Seite 488, aber dafür erklärt er hier das den Kopf unserer Zeitschrift 5 " zierende Wappen mit den beiden Bären zu Seiten des Adlerschildes ohne jeden Grund für das meist gebrauchte ältere Wappen Berlins. Dieses Wappen hat sich vielmehr nur an einer einzigen Urkunde aus dem Jahre 1280 erhalten. Gleichzeitig verwechselt er den in ihm enthaltenen brandenburgischen Adler mit dem Reichsadler und kommt durch diese Verwechslung auf den Gedanken, jenes mittelalterliche Wappen Berlins müsse wieder aufgenommen und zum Wappen der Reichshauptstadt Berlin werden. Beruht dieser Vorschlag auch auf einem historischen Irrtum, so hat er doch viel für sich. Es würde durch seine Annahme der als Einzelfigur kaum je befriedigend zu gestaltende Bär in eine künstlerisch und symbolisch gleich glückliche Verbindung mit dem Reichswappen gebracht werden. Schwerer wiegt ein anderer Irrtum Hegemanns. Kurfürst Friedrich II. soll Berlin die Verfügung über seinen Grund und Boden, seine Straßen und Plätze genommen haben. Dieser Raub sei in der Folge zu einer der wichtigsten Ursachen für die traurige städtebauliche Entwicklung Berlins geworden. Wo mag Hegemann diese Entdeckung gemacht haben? Bis auf den Großen Kurfürsten sind Berlin und Cölln unumschränkte Herren ihres Grundbesitzes und ihrer Straßen gewesen. Falsch ist auch eine dritte angebliche Folge der Unterwerfung Berlins unter Friedrich II: „200 Jahre wirtschaftlichen Niederganges (S. 38)." Diese Behauptung kann nur jemand aufstellen, der von der wirtschaftlichen Blüte Berlins im Zeitalter Joachims II. nichts weiß. Es ist auch nicht richtig, den Niedergang Berlins unter anderem damit zu begründen, daß der Hof nicht [ 5 Siehe den Beitrag 5, S. 60 ff. dieses Bandes.] [ 6 a Gemeint sind die Mitteilungen des Vereins f. d. Geschichte Berlins.]

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bei den Berliner Kaufleuten, sondern bei durchreisenden fremden Händlern gekauft habe. Gerade der einzige uns bekannte märkische Großkaufmann aus der Zeit Friedrichs II., Thomas Blankenfelde, war kurfürstlicher Hoflieferant in Berlin. Der Hofadel brauchte ferner nicht nur die Naturalverpflegung, die ihm aus den Erträgen der Domänen geliefert wurde, sondern auch Kleidung und alle die feineren Waren eines beginnenden Luxus, die ihm natürlich in erster Linie Berliner Kaufleute lieferten. Eine verhängnisvolle Rolle soll Friedrich II. schließlich dadurch, gespielt haben, daß er die 1448 bestraften Patrizier später als Gegenspieler „gegen die noch schwierigen Zünfte" in die Verwaltung oder an den Hof berief und so den Anfang zu der „brandenburgischen Lakaienhaftigkeit" schuf, „die noch den Freiherrn vom Stein ärgerte und von Bismarck als deutsches Nationallaster empfunden wurde". Wieder ist hier eine selbst in ihrer Allgemeinheit kaum richtige Bemerkung von Preuß (Städtewesen S. 98) kritiklos für die besonderen Berliner Zustände übernommen worden. Von Lakaienhaftigkeit waren die brandenburgischen Städte oder gar der märkische Adel damals und noch lange Zeit danach weit entfernt. Wir erinnern nur an den Widerstand der altmärkischen Städte gegen die Einführung der Biersteuer im Jahre 1488, an die Kämpfe Joachims I. mit dem Adel und an die kräftige Ausbildung der ständischen Rechte unter Joachim II., ein Jahrhundert nach der Regierung Friedrichs II. Hegemann selbst läßt Berlin noch 1469, übrigens mit Unrecht, an einem Hansetag in Lübeck teilnehmen und 1470 alle märkischen Städte sich „zu einem gemeinsamen Kampfe gegen das Hohenzollernjoch" aufraffen, der ein halbes Jahrhundert lang gedauert haben soll. Dann habe der Adel einen Frieden erzwungen, der ihm die Bauern zu unbeschränkter Ausbeutung überließ. Dieser Kampf und dieser Friede zeugen mehr von der Phantasie als von der Geschichtskenntnis Hegemanns. Eine groteske Umkehr der Tatsachen enthält die Anspielung auf spätere Zeiten, die Hegemann nach der von ihm beliebten Methode an die Auflösung der Vereinigung Berlins und Cöllns im Jahre 1442 knüpft. Sie wäre ein Ausdruck der Großstadtfurcht der Hohenzollern gewesen, die erst 1709 eine Vereinigung Berlins mit Cöllns und den neuen Stadtteilen im Westen und Süden wagte und nach den Revolutionen von 1789 und 1848 „wiederauflebte und den notwendigen Zusammenschluß GroßBerlins verhinderte". Von einer solchen Großstadtfurcht war die Steinsche Städteordnung ebenso entfernt wie die späteren Regierungen Friedrich Wilhelms III. und Friedrich Wilhelms IV. Sie haben ja gemein-

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sam mit dem Magistrat gegen den Widerstand der Stadtverordneten die 1860 nur durch eine königliche Kabinettsorder erreichte Erweiterung des Weichbildes Berlins betrieben! Noch zu Anfang der neunziger Jahre hat die Regierung den städtischen Behörden eine neue große Eingemeindung vorgeschlagen. Erst nach deren Scheitern gewannen bei der preußischen Regierung die Strömungen die Oberhand, die einem größeren Berlin feindlich waren. Ich darf dafür wie für die von der älteren Literatur nicht richtig verstandenen Bestimmungen der Städteordnung über die Grenzen des Weichbildes der Städte auf meinen Aufsatz über das Weichbild der Stadt Berlin seit der Steinschen Städteordnung verweisen6. Damit nehmen wir von dem mittelalterlichen Berlin, wie es sich in Hegemanns Vorstellung malt, Abschied. Sehr knapp werden die Zeiten der beiden Joachim behandelt. Dabei passiert Hegemann das Mißgeschick, Vater und Sohn zu verwechseln, und zwar eben in dem Punkte, in dem der Hauptuntersdhied ihrer Politik liegt, in ihrem Verhältnis zur Reformation. Joachim II. nämlich, der doch erst 1535 zur Regierung kam, soll 1521 Luther die Reichsacht und das Verbot seiner Lehre verschafft haben und damit unfreiwillig sein erfolgreichster Förderer geworden sein. Denn nach Hegemanns überraschender Idee wurde dadurch „damals noch ein Reformator mehr gefördert als heute durch ein staatsanwaltliches Verbot seiner Bücher"! Im übrigen aber habe Joachim II. durch Feste, Frauen, Goldmacherei und seinen riesigen Prunkbau die Finanzen seines Landes und so „das noch vorhandene aufstrebende Leben" vernichtet. Tatsächlich hat aber schlimmer als Joachims Schuldenlast, die zu einem guten Teil durch die notwendigen Aufgaben der Staatsverwaltung bedingt war, die große, gegen Ende seiner Regierung einsetzende europäische Wirtschaftskrise gewirkt, von der Hegemann nichts weiß. Und Joachims Schloß hätte doch wohl eine etwas ausführlichere und gerechtere Beurteilung als die bloße Bezeichnung als riesiger Prunkbau verdient. Wurde es doch zum Vorbild zahlreicher stattlicher Privathäuser der Beamten wie der bürgerlichen Geschlechter. Den Bau dieser Häuser können wir mit Sicherheit aus den beiden Registern über die Haus- und Grundsteuer, den Schoßregistern von 1567 und 1572 erschließen, die Hegemann erwähnt, aber nicht kennt. Da sie noch nicht veröffentlicht sind, wird ihm niemand daraus einen Vorwurf machen, wohl aber aus den falschen Bemerkungen, die er an sie knüpft. Die in ihnen enthaltenen Einschätzungen zur Haus« In: FBPG 40, 1927.

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Steuer entsprechen nämlich, im Gegensatz zu Hegemanns Behauptung, durchaus der Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Richtig ist nur, daß der Schoß und die auf ihm aufgebaute Kontribution während des Dreißigjährigen Krieges und in den ersten Jahrzehnten nach ihm zu schweren Ungerechtigkeiten führten. Seinen Ersatz durch die Akzise, die indirekte Verbrauchssteuer, darf man aber nicht zu einer Ursache der späteren Bodenspekulation oder gar zu einer ungerechten Belastung der Städte stempeln und hinzufügen: „Ein Esel ist selten so schwer belastet, daß er nicht noch mehr Lasten zu tragen vermöchte" (S. 48 und 53). Hegemann übersieht vollkommen, daß zunächst die Akzise von den wohltätigsten, gerade durch die Vertreter Berlins betonten Folgen war. Wie die Dinge lagen, war sie die einzige Steuer, die auch die wohlhabenden Kreise mit Einschluß des in den Städten wohnenden Adels traf. Sie war eine Reform von höchstem sozialen Inhalt und belastete nicht, wie Hegemann will, „die Ärmsten am schwersten" (S. 90). Auch Preuß schließt sich dieser Beurteilung der Akzise an (Städtewesen S. 160). Hegemann sieht in der Aufhebung der Haus- und Mietsteuer statt in ihrer Reform die Ursache für das spätere Steigen der Bodenpreise. An und für sich bietet indessen eine Haus- und Mietsteuer keinen Schutz gegen die Bodenspekulation, hat sie doch in Berlin seit dem Jahre 1807 jahrzehntelang bestanden, ohne das Steigen der Haus- und Bodenpreise verhindern zu können. Über Johann Georg und seine nächsten Nachfolger geht Hegemann schnell hinweg. Nur Johann Sigismund muß sich gelegentlich sagen lassen, daß er „biegsamer" als die frommen französischen Protestanten „zum reformierten Glauben hinübergewechselt hatte, um sich die Holländer geneigt zu machen" (S. 67). Das ist keine treffende Kennzeichnung des auf innere Gründe zurückgehenden Übertritts, der dem Kurfürsten bekanntlich in seinem Lande und besonders in Berlin viele Ungelegenheiten bereitete. Trotz des Lobes, das Hegemann Eberhard Fadens schönem Buche über „Berlin im Dreißigjährigen Kriege" zollt, verkennt er gründlichst die Politik des Kurfürsten Georg Wilhelm. Diesem Fürsten, der erst durch die auf Berlin gerichteten Kanonen Gustav Adolfs zur Aufgabe seiner Neutralität gezwungen wurde, wird der Vorwurf gemacht, die „zur Neutralität einladende Lage der Mark" verkannt und vom sicheren Königsberg aus sein Land in die Kriegswirren hineingerissen zu haben. Der trotz seines kaiserlichen Feldmarschalltitels höchst friedfertige Mann wird zu einem „zum Durchhalten entschlossenen Soldaten", der die wiederholten Friedensmöglichkeiten ablehnt. Die machiavellistischen

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Motive gar, die dem Kurfürsten dabei untergeschoben werden, sind so frei erfunden, daß sich ein Eingehen auf sie erübrigt. Denn niemals wird sich auch nur ein indirekter Beweis dafür erbringen lassen, daß Georg Wilhelm am Kriege festgehalten habe, weil ein Frieden seine Städte und seinen Adel wohlhabend und dadurch widerspenstig gemacht haben würde. Daß die wirkliche Lage Brandenburgs zwischen den kämpfenden Großmächten in jeder Weise verzeichnet wird, bemerken wir nur nebenbei. Es kann auch keine Rede davon sein, daß es Georg Wilhelm gelungen sei, durch sein kleines Heer dem märkischen Adel in seiner Gesamtheit „ein Feld der Beschäftigung" zu bieten und auf diese Weise den Eifer des Adels für die Schaffung eines Heeres zu erwecken. Der märkische Adel hat 1640 nach dem Regierungswechsel nichts Eiligeres zu tun gehabt, als die Auflösung des Heeres zu fordern. Dies alles ist nur ein Vorspiel zu der Schilderung des Großen Kurfürsten, dessen verderbliche Persönlichkeit ihrer falschen Gloriole entkleidet werden soll. Zunächst zwar habe ihm „die kriegerische Kraft" (!) seines Vaters gefehlt, vielleicht weil ihn der vierjährige Aufenthalt in Holland verweichlicht hatte, „diesem Lande der Freiheit und des Bürgertums". Nur schade, daß der Prinz von dem bürgerlichen Charakter dieses Staates, dessen Kultur und dessen Wirtschaftsleben ihm allerdings starken Eindruck gemacht haben, keine allzu deutlichen Vorstellungen gewonnen haben wird! Denn Holland führte ja damals, was doch nicht ganz unbekannt ist, einen Krieg auf Leben und Tod mit den Spaniern, und es stand unter der tatsächlichen Leitung eines als Meister des Stellungskrieges berühmten Prinzen, des Oraniers Friedrich Heinrich, des künftigen Schwiegervaters des brandenburgischen Kurfürsten. Wir haben nicht die geringste Absicht, eine Rechtfertigung der Hohenzollern zu schreiben, uns interessieren sie nur insofern, als sie auf die Schicksale Berlins Einfluß geübt haben. Es wäre für die Wirkung des Hegemannschen Buches sehr viel glücklicher gewesen, wenn sein Verfasser sich von dem gleichen Grundsatz hätte leiten lassen. Er hätte sich dann die Bemerkungen über des Kurfürsten Förderung der Hexenprozesse und der Goldmacherei und die falsche Behauptung sparen können, daß Friedrich Wilhelm die Souveränität in Preußen auch ohne Teilnahme am Schwedisch-Polnischen Kriege von 1655 bis 1660 hätte erringen können. Wenden wir uns seiner Stellung gegenüber Berlin zu, so lesen wir zunächst, daß die Bürgerschaft Berlins sich 1648 nur von Landwirtschaft ernährte. Das stimmt denn doch nicht; dazu reichte das städtische Ackerland auch für die durch Krieg und Pest verringerte Bevölkerung längst nicht aus. Der in der Tat übereilte Miniaturkrieg

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Friedridi Wilhelms gegen Jülich im Jahre 1651, der jedoch weniger politischen als religiösen Motiven entsprang, hat zwar Empörung in Deutschland erregt, aber gewiß nicht die später sprichwörtlich gewordene „Abneigung der Deutschen gegen Berlin" begründet. Zu jener Zeit fiel es noch niemandem ein, die kleine märkische Residenz für die Politik ihrer Herrscher verantwortlich zu machen. Die einschneidendste Maßnahme der kurfürstlichen Politik gegen Berlin war der Bau der Festung, durch die zugleich die Residenz in ein Massenquartier für das brandenburgische Heer verwandelt wurde. Trotz ihres Widerstandes haben sich die Bürger, wenigstens die Handwerker, bei den Schanzarbeiten beteiligen müssen. Doch darf man sie deswegen nicht als „Leibeigene" bezeichnen, da sie für ihre Arbeit voll bezahlt wurden (Holtze, Die Befestigung von Berlin; Schriften d. Vereins f. d. G. Berlins, Heft 10, Beilage 11, S. 147 f.). Eine ganz neue Entdeckung Hegemanns soll den Festungsbau, den er im Gegensatz zu den sachverständigsten Beurteilern für überflüssig erklärt, vollends verächtlich machen. Die Festung sei nur mit Hilfe französischer Subsidiengelder entstanden; die französischen Geheim vertrage seien ziemlich genau in die eigentlichen Festungsbaujahre gefallen. Das ist durch nichts beweisbar. Der Bau begann 1658, in dem gleichen Jahre, in dem der Kurfürst das Bündnis mit dem Kaiser gegen die Schweden schloß, die Bundesgenossen Frankreichs. E r wurde so schnell gefördert, daß 1662 die berlinische Seite vollendet war; bis 1674 war auch auf der cöllnischen Seite die Arbeit „vorläufig fertig". In diesen Jahren schwankte die Politik Friedridi Wilhelms zwischen dem Anschluß an Frankreich und dessen Gegner. Den Verträgen mit Frankreich von 1667 und 1669 standen die Verträge mit dem Kaiser und mit Holland gegen Frankreich von 1666, 1672 und 1674 gegenüber. Der Friede von Vossem, den der Kurfürst im Jahre 1673 mit Frankreich schloß, war nur ein vorübergehendes Ereignis. Die Idee gar, daß der Festungsbau sich vielleicht gegen den „doch noch gefürchteten inneren Feind" gerichtet habe, steht zu den innerpolitischen Verhältnissen der Mark in stärkstem Gegensatz. Die Festung Berlin hat stets nur gegen den äußeren Feind Verwendung finden sollen. Die Abneigung gegen den preußischen Staat verführt Hegemann, der sonst die nationale Idee gern gegen die preußische Politik ausspielt, sogar dazu, einen Sieg der Schweden über den Großen Kurfürsten für kein Unglück zu halten. Er begründet das mit der besseren sozialen Lage der Bauern in Schweden, die nie in Leibeigenschaft versunken waren. Er denkt aber nicht daran, daß im schwedischen Vorpommern sich der Bauernstand weit schlechter gegenüber den Aufsaugungsbestrebungen

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des Adels gehalten hat als im brandenburgischen Hinterpommern, in dem sein Besitzstand durch den staatlichen Bauernschutz gewahrt wurde. Getreu seiner Beurteilung Friedrichs des Großen sucht Hegemann auch den Kurfürsten Friedrich Wilhelm als einen „Kondottiere im französischen Solde" abzutun, der sich in „fast 45jährigem vergeblichen Dienst um die französische Gunst" abgemüht habe. Kein Wort wird darüber gesagt, daß dieser selbe Kurfürst jahrelang der energischste Gegner Ludwigs XIV. und seiner schwedischen Freunde war und sich erst 1679 entschieden auf die Seite Frankreichs gestellt hat, nachdem ihm das Bündnis mit dem Kaiser nicht zu dem Hauptziel seiner auswärtigen Politik, dem Besitz von Schwedisch-Pommern, verholfen hatte. Jeder Unbefangene wird dieser Politik den gleichen nationalen Charakter zubilligen wie dem Kampfe des Kaisers gegen Frankreichs Eroberungen im Elsaß. Es war das Unglück Deutschlands, daß sich beide Ziele nicht zugleich erreichen ließen. Auch das hätte wohl gesagt werden müssen, daß die letzten Lebensjahre Friedrich Wilhelms neben der Abwendung von dem französischen Bündnis die Einleitung des Anschlusses an Holland und an Wilhelm von Oranien brachten, der 1688 König von England wurde. Durch den Großen Kurfürsten ist der gesamten auswärtigen Politik Friedrichs III., die Hegemann nicht genug loben kann, der Weg gewiesen worden. Unumwunden erkennt Hegemann den unter Friedrich Wilhelm begonnenen Ausbau Berlins als eine bewunderungswürdige Leistung an. Freilich wird dieses Lob wieder eingeschränkt durch kritische Anspielungen auf das politisch-militärische Wollen des Kurfürsten. Man kann indessen heute überzeugter Pazifist sein und wird doch zugeben müssen, daß im 17. und 18. Jahrhundert für einen Staat im Herzen Europas eine reine Friedenspolitik nicht möglich war. Auch Holland und England haben nicht darauf verzichtet, mit militärischen Mitteln Politik zu treiben. Es ist aber nicht einmal richtig, wenn behauptet wird, des Kurfürsten-„kriegerisches Spiel" habe den von ihm befohlenen Wiederaufbau der verlassenen Berliner Häuser zunächst gehemmt. Der Grund für den langsamen Ausbau der Innenstadt lag vielmehr in dem Druck, den die auf den Häusern als dingliche Last ruhenden alten Steuern, Schoß und Kontribution, auf jeden Baulustigen ausübten. Sobald die Grundsteuern, wenigstens in ihrer drückendsten Form, 1667 fortfielen, nahm die Bautätigkeit einen schnellen Aufschwung, obgleich der Kurfürst bald darauf die schwersten Kämpfe seines Lebens führte. Kaum besser begründet ist der Vorwurf gegen Friedrich Wilhelm, daß er mit Rücksicht auf Frankreich lange die Gelegenheit zur Aufnahme der

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französischen Protestanten und dadurch zum Ausbau Berlins versäumt habe. Für eine solche Versäumnis kämen doch nur die Jahre 1679 bis 1685 in Betracht. Das abschließende Urteil Hegemanns über die innere Verwaltung des Großen Kurfürsten fällt sehr ungünstig aus. Die Begründung macht er sich leicht, indem er eine beim Tode des Herrschers aufgestellte Liste der noch nicht beseitigten Schäden und Unordnungen zitiert. Es dürfte nicht schwer sein, am Ende einer jeden, auch noch so volkstümlichen Regierung solche Mängel festzustellen. Die 1688 dem jungen Kurfürsten vorgelegte Liste sollte vor allem als Programm der neuen Regierung dienen. Selbst so außerordentliche Fortschritte wie der Bau des Müllrosekanals, der Berlins handelspolitische Entwicklung auf eine neue Grundlage stellte, werden von Hegemann überhaupt nicht erwähnt. Sogar die Pflege der Baukunst, der Berlin doch mehr als die Bauten des Lustgartens verdankt, wird mit der ungerechten Behauptung abgetan, Friedrich Wilhelm habe sich „mittellosen fahrenden Niederländern, Italienern und Franzosen verschrieben" (S. 97). Waren der Generalquartiermeister Biesendorf, der den Bebauungsplan der Dorotheenstadt entworfen hat, und Nehring, der seine Ausbildung und seine Laufbahn dem Kurfürsten verdankte, denn keine Deutschen? Auch Memhardt war bekanntlich im deutschen Linz a. d. Donau geboren. Bei seiner schroffen Verurteilung der Beschäftigung nichtdeutscher Künstler durch den Großen Kurfürsten hätte sich Hegemann mindestens mit der von ihm zitierten Feststellung Gurlitts auseinandersetzen müssen, daß sich der Kurfürst 1672 deshalb den Plan für das Zeughaus von Blondel machen ließ, weil die Franzosen damals einen ungeheuren Vorsprung an Schulung besaßen. War dem so, dann war die Anlehnung an die Franzosen geboten, bis in Schlüter ein deutsches Genie auf den Plan trat. Selbst dieses Genie konnte freilich seines Mangels an technischer Vorbildung nicht Herr werden, an dem zugleich seine Bauhandwerker litten. Nur weil Hegemann die praktische Arbeit Friedrich Wilhelms zum guten Teile ignoriert, kann er behaupten, der Kurfürst habe für friedliche Arbeit keine Zeit gehabt. Geradezu auf den Kopf gestellt werden die Tatsachen, die mit der Bezeichnung des Kurfürsten als des „Großen" zusammenhängen. Nach Hegemann hätte er diesen Titel wegen seiner Verdienste um Frankreich erhalten, und nur durch den Einfluß französischer Literaten sei dieser Titel nicht vergessen, sondern der Nachwelt überliefert worden. In Wahrheit ist er ihm zuerst von Deutschen gerade während des Kampfes gegen Ludwig XIV. verliehen worden und sofort

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nach seinem Tode unter anderem durch den großen deutschen Staatsrechtler Samuel von Pufendorf literarisch begründet worden. Alles Licht, das dem Großen Kurfürsten versagt bleibt, fällt auf seinen Sohn, den ersten König, der für Hegemann der größte aller Hohenzollern ist. Ihm schadet es nichts, daß unter seiner Regierung die innere Verwaltung und mit ihr die Finanzen völlig in Verwirrung gerieten. Für so nüchterne Dinge interessiert sich Hegemann jetzt plötzlich nicht mehr. Immerhin, um Berlins städtebauliche Erscheinung hat sich Friedrich I. wirklich unvergängliche Verdienste erworben. Die ihm im Steinernen Berlin gewidmeten Kapitel gehören zu den anziehendsten des ganzen Buches. Es fällt demgegenüber nicht sehr ins Gewicht, daß sich auch in ihnen Bemerkungen befinden, die man nur mit Kopf schütteln lesen kann; wenn etwa bemerkt wird, daß Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. „wegen mangelnder blutiger Taten dem Fluch der Lächerlichkeit verfallen sind" (S. 78). In allen Darstellungen der preußischen Geschichte seit Ranke und Droysen wird man vergeblich nach einer Stelle suchen, aus der Hegemann diese Erkenntnis geschöpft haben könnte. Auch hat Friedrich I. ja einen langen blutigen Krieg geführt, freilich an der Seite Englands und des Kaisers. Daß Friedrich der Große dem ersten Könige sehr skeptisch gegenüberstand, ist eine Sache für sich. Es hat nicht viel Sinn, seine Urteile über Friedrich I. zu wiederholen. Für nicht glücklich halten wir auch die Gegenüberstellung der Bevölkerungszahl Berlins und der Stärke des preußischen Heeres unter den drei ersten Königen, Zahlen, die ganz zugunsten Friedrichs I. ausfallen. Man kann aus ihnen schwerlich Rückschlüsse auf die Bedeutung der drei ersten preußischen Könige für die Entwicklung Berlins ziehen. Einen Tadel erfährt Friedrich I. nur deswegen, weil er den Baulustigen in der Friedrichstadt Freiheit vom Grundzins gewährte. Hegemann glaubt, daß dadurch der Boden „zu einer gewöhnlichen Handelsware und zum Spekulationsobjekt" gemacht wurde. Allein hier liegt eine Verwechslung von Grundzins und von Grundsteuer vor. Der sehr niedrige, stets gleichbleibende Grundzins hätte nie die Bodenspekulation hemmen können. Bei der Anlage der Friedrichstadt kam es dem König vor allem auf schnelle Auflösung der ländlichen Wirtschaftsverfassung an, der Dreifelderwirtschaft, die auf diesem Teile der cöllnischen Feldmark bis dahin betrieben wurde. Seine städtebauliche Vollendung erhielt der neue Stadtteil erst unter Friedrich Wilhelm I. durch die drei großen Plätze, die heute den Namen Pariser, Leipziger und Belle-Alliance-Platz tragen. Daß eine Umsiedlung der Ackerbürger der alten Stadt, die übrigens als

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freie Bürger, nicht „fast wie Leibeigene" lebten (S. 93), durch die Bebauung der Friedrichstadt notwendig wurde, glauben wir nicht. Die Verordnungen gegen das Halten von Schweinen innerhalb der Stadt und der Befehl, die Scheunen aus dem Stadtinnern zu entfernen, bedingten keine Verlegung des Wohnsitzes der Eigentümer des Ackerlandes, deren Zahl übrigens sehr klein war. Dazu befand sich der Ackerboden überwiegend im Besitz von Angehörigen der wohlhabenden Kreise. Die eindrucksvollen Ausführungen über Schlüters Wirksamkeit als Bildhauer und Baumeister werden leider durch Schimpfereien gegen den Großen Kurfürsten, gegen seine „anationale Niedertracht, politische Kurzsichtigkeit und menschliche Erbärmlichkeit" entstellt. Hier besonders macht sich der Rückfall Hegemanns in eine moralisierende, Maßstäbe einer späteren Zeit anlegende Geschichtschreibung geltend, die wir längst überwunden geglaubt hätten. Es wird nicht einmal versucht, der Persönlichkeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von ihrem Innern und von den Anschauungen und Forderungen ihrer Zeit her gerecht zu werden. Dem bewunderten ersten König folgt Friedrich Wilhelm I., dem Hymnus die Satire. Sie richtet sich gegen des Königs Gemälde, in denen doch ihr Autor nie Kunstwerke schaffen wollte, gegen seine „gedrillten Hofhampelmänner" — die Potsdamer Garde —, sein angeblich für eine deutsche Politik nicht zu brauchendes Heer, seinen Despotismus, für den der sonst so gehaßte große Friedrich als Kronzeuge angeführt wird, ja selbst gegen seine Städtebaupolitik. Deren letzte Weisheit sei die Vergrößerung der Stadt statt ihrer Dezentralisation gewesen, und dazu sei ihretwegen ein „weiterer Schritt zur Ausschlachtung des Tiergartens" getan worden (S. 129 f. und 135). Wieder wird ein aus modernen Bedürfnissen genommener Maßstab für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts gewählt. Niemals konnte Friedrich Wilhelm I. daran denken, daß es Berlin je an Wald und Wiesen in seiner Umgebung fehlen würde, niemals konnte er das Wachsen der Stadt im Zeitalter der Maschinentechnik voraussehen, das erst einen dezentralisierten Städtebau erforderte. Die Behauptung ferner, daß es sich bei dem für die Friedrichstadt verwandten Teil des Tiergartens um ursprünglich städtisches Eigentum gehandelt habe, ist nicht zutreffend. Die Berliner Heide war nur für die Anlage des kleinen Tiergartens auf dem rechten Spreeufer in Anspruch genommen worden. Der Ruhm eines wirklichen Städtebauers wird dem König bestritten, weil seine Bauleidenschaft „weniger auf praktische Ziele und auf die schnelle Beschaffung der notwendigen billigen Häuser für die mittellosen Einwohner, als auf möglichst kostspielige Häuser erpicht war" (S. 138). 15 Kaeber

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Damit vergleiche man, was ein so ausgezeichneter Kenner wie Albert Gut in seinem Buch „Das Berliner Wohnhaus", Berlin 1917, über Friedrich Wilhelms Bauten sagt (besonders S. 52 ff., 67 f., 71 ff., 79). Nicht nur die Friedrichstadt wurde seit 1721 unter Gerlachs Leitung ausgebaut, sondern außer ihr wurden die Spandauer, König- und Stralauer Vorstadt erweitert. Im allgemeinen wurde sehr einfach gebaut, meist nur einen oder zwei Stock hoch, ohne daß dadurch künstlerische Wirkungen ausgeschlossen wurden. Die Grundrisse waren auch bei den kleinen Häusern klar und zweckmäßig. Die von Hegemann vermißte einheitliche Fassadenund Blockfrontgestaltung wurde erstrebt. Sie ist heute nur wegen der völligen Umwandlung, besonders der Friedrichstadt, kaum noch sichtbar. Berlin war zu einer „architektonisch schönen Stadt" geworden. — Sollen wir schließlich wirklich glauben, daß Grael deswegen vom Könige entlassen wurde, weil er der Beste seiner Baumeister war? Die Entlassung des bedeutenden Künstlers hatte doch sachliche Gründe, wenn ihm auch ein wirkliches Verschulden an dem Einsturz des Petrikirchturms nicht nachgewiesen werden konnte. Der neueste Biograph Gerlachs und Graels, Rudolf Herz, läßt es in seinem Buche über das „Berliner Barock", Berlin 1928, dahingestellt sein, ob nicht Intrigen Gerlachs eine Rolle spielten (S. 26; vgl. auch S. 79 f.). Eine ungerechte Beleuchtung erfährt auch die Steuerpolitik Friedrich Wilhelms I. Ihre Grundlage bildete nicht „die Besteuerung Berlins", denn die Akzise, um die es sich hier handelt, traf alle Städte gleichmäßig. Daß Berlins Anteil an ihr so stark wuchs, war die natürliche Folge der Wirtschaftspolitik des Königs, die in erster Linie, aber nicht allein, Berlin zugute kam. Der Geist, der durch die Darstellung der Zeit Friedrichs des Großen weht, wird schon durch die Uberschriften der ihr gewidmeten Kapitel deutlich: „Friedrich der Große bringt Militär und Mietkasernen nach Berlin", „Friedrich der Große begründet den Berliner Bodenwucher", „Friedrich der Große baut Paläste". Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, wollten wir in eine Erörterung aller Einzelheiten eintreten. Trotz der gelegentlichen abfälligen Bemerkungen Lessings und Winckelmanns über die unter Friedrich II. herrschende Unfreiheit, an denen gewiß etwas Wahres ist, war Berlin doch keine „geknechtete Stadt", die auf Erlösung „aus ihrer furchtbaren Demütigung" wartete (S. 156). Die gesamte geistige Haltung Berlins wurde vielmehr seit 1740 freier, Berlin wurde ein führender Sitz der Aufklärung, d. h. der damals modernen Weltanschauung, die sich nicht in Angriffen gegen die Religion erschöpfte. Der neuen deutschen Literatur blieb der König allerdings

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fern. Das war, abgesehen von seiner französischen Erziehung, eine natürliche Folge davon, daß der 1712 Geborene einer älteren Generation angehörte. Ein interessantes Beispiel, wie schwer es auch einem unabhängigen, von Jugend auf wissenschaftlich und literarisch eingestellten Menschen dieser Zeit wurde, aus der geistigen Luft seiner früheren Mannesjahre herauszukommen, bieten die von Erich Wentscher mitgeteilten Auszüge7 aus den Tagebüchern des viel jüngeren Moritz Adolf von Winterfeld, der stets Rokokomensch blieb. Für das friderizianische Wirtschaftssystem, das bei aller seiner Uberspannung doch der Ausdruck einer dem Zeitalter gemäßen, großartigen Systematik war, fehlt Hegeman das Verständnis. Äußerungen, wie die über Friedrichs deutschfeindliche Zollpolitik oder über die Absperrung der Provinzen gegeneinander (S. 263 f.) zeigen nur, daß er ohne wirkliche Kenntnisse über diese Fragen urteilt. Als Wohnungspolitiker hat sich Friedrich vor allem durch das Mietedikt vom 15. April 1765 einen Namen gemacht, das den Grundsatz „Kauf bricht Miete" aufhob zugunsten des noch in das BGB. übergegangenen „Kauf bricht nicht Miete". Nach Hegemann wäre dieses Edikt im Interesse der Offiziere erlassen worden. Liest man aber den auf die Quellen zurückgehenden Aufsatz Klinkenborgs über das Mietedikt8, dann bleibt von dieser Annahme nichts übrig. Das Edikt verdankte seinen Ursprung dem Generalfiskal d'Anieres, den bei seinem Vorgehen nur die allgemeine, seitdem Siebenjährigen Kriege eingetretene Steigerung der Mieten leitete. Das besondere Vorzugsrecht versetzter Offiziere und Beamter bei der Kündigung ihrer Wohnungen hatte damit nichts zu tun. Der gleichzeitig versuchte, praktisch wohl kaum durchgeführte Druck auf die Inhaber größerer Häuser, die von ihnen nicht benötigten Räume zu vermieten, darf ferner nicht als Kommunismus bezeichnet und mit der Wohnungszwangswirtschaft unserer Zeit verglichen werden, wie das Hegemann tut. Viel wichtiger wurde für die Behebung der Wohnungsnot der von Friedrich II. begonnene Bau von Kasernen. Das Leben in ihnen konnte für die verheirateten Unteroffiziere und namentlich für ihre Frauen viele Widerwärtigkeiten mit sich bringen. Doch wirkten diese nur auf feinere Naturen, wie die Mutter Karl Friedrichs von Kloeden, der uns in seinen Erinnerungen ein trübes Bild davon entworfen hat. Eine „widerliche Abhilfe" der Wohnungsnot lag für die Menschen ihrer Zeit

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In: FBPG 42,1929.

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In: FBPG 25, 1912/13.

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in dem Kasernenbau kaum, der zudem untrennbar mit der Heeresverfassung des damaligen Preußen verbunden war. Damit wollen wir natürlich nicht die Heeresverfassung als ein Ideal bezeichnen. In der Kasernierung der Soldaten und in dem Beispiel von Paris sieht Hegemann das Vorbild für die Wohnungsbaupolitik Friedrichs II. Ein Enteignungsrecht, die Vorbedingung für eine weiträumigere Ansiedlung, sei durch die Einführung des dem Absolutismus bequemen römischen Rechts erschwert worden. Abgesehen davon, daß in den Vorstädten genug Grund und Boden zur Verfügung stand, ist diese summarische Begründung für den nicht einmal vollständigen Sieg des römischen Rechts über das deutsche höchst einseitig. Der verwickelte geschichtliche Prozeß, der zu der Rezeption des römischen Rechts geführt hat, ist in einer der besten Abhandlungen Georg von Belows klargestellt worden. Die Begründung des Bodenwuchers durch Friedrich den Großen haben Eberstadt und Weyermann in der Hypothekenordnung aus dem Jahre 1748 gesehen. Wir können auf diese komplizierten Fragen und auf die Kritik an den juristischen Grundsätzen des Königs und seines Ministers Cocceji nicht eingehen. So viel wird sich immerhin sagen lassen, daß sich die verderblichen Folgen der Hypothekenordnung erst in späterer Zeit voll auswirkten. Deren Aufgabe wäre es gewesen, das 1748 Verfehlte durch eine bessere Ordnung zu ersetzen. Für das Berlin Friedrichs II. waren dagegen die 300 drei- und viergeschossigen Häuser, die er nach dem Siebenjährigen Kriege vor allem in der Friedrichstadt errichten ließ, nicht nur „eine unpraktische bauliche Marotte", sondern eine auch baukünstlerisch wertvolle Tat, die von Hegemann nicht gewürdigt wird. Ob die Beurteilung der Potsdamer Bauten Friedrichs als „greisenhafte Bemühungen um das Kopieren fremder Bauten" und als „provinzielle Nachklänge aus der versunkenen Zeit des jungen Ludwig XIV." das Rechte trifft, mögen die Kunsthistoriker entscheiden. Das 16. Kapitel behandelt das Friedrichsforum und die „Tragödie Knobeisdorffs", über den wir demnächst endlich eine Spezialarbeit erhalten werden; das 17. die Linden, den Gendarmenmarkt und die Kolonnaden, das 18. die Denkmäler der friderizianischen und der folgenden Zeit einschließlich Schadows und Rauchs mit Ausblicken bis auf die Gegenwart. Auch wenn unsere Forschungen hier und da zu anderen Auffassungen kommen sollten, werden diese Kapitel, in denen sich Hegemann auf seinem eigensten Gebiete bewegt, stets ihren Wert behalten. Nur der Einwand, daß der Gendarmenmarkt keine einheitliche Bebauung erhalten habe, da der König deren Notwendigkeit „niemals begriffen hat", ist verfehlt. Der Gendarmenmarkt ist durch Unger und Gontard

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mit gleichartigen dreigeschossigen Häusern bebaut worden, ebenso wie der Dönhoffplatz durch Unger eine Randbebauung erhielt (Gut, S. 82 f.). Berechtigt ist dagegen der Vorwurf, daß unter Friedrich II. eine überstarke Ausnutzung des Baugeländes der Innenstadt durch Seitenflügel begann. Ursprünglich nur zwei Stockwerke hoch, wurden sie später aufgestockt und zuletzt durch Quergebäude verbunden. Die Baupolizei dachte nur an Feuerschutz und ließ jeden städtebaulichen Weitblick vermissen (Gut, S. 125 ff.). Das glänzend geschriebene Kapitel über Schinkel gesteht ihm trotz mancher kritischer Einwendung doch zu, daß er nicht nur die Berliner, „sondern auch die europäische Entwicklung, die mit Palladio begann, zu einem Gipfel führte. Schinkel ist nicht nur der größte Baumeister Berlins, sondern einer der größten Baumeister aller Zeiten" (S. 248). Interessant ist der Hinweis auf Schinkels Plan zu einem Kaufhaus an der Stelle der heutigen Staatsbibliothek: „mehr als 100 Jahre seiner Zeit voraus, ein ganz modernes Warenhaus" (S. 252). Auch der „kubische Bau" des Kavalierhauses in Charlottenburg mit den schönen offenen Loggien findet Hegemanns Anerkennung. Gewiß haben Schinkels Nachfolger nicht nur die vornehmen Landhäuser am Tiergarten, sondern schließlich auch die scheußlichen Grunewaldvillen gebaut. Diese Vergröberung dessen, was Schinkel als Klassizist und Romantiker gewollt hat, wird man indessen dem Meister kaum anrechnen dürfen. Sicher ist, daß er kein Städtebauer war, da ihm für die Bedürfnisse der großen Masse das Verständnis fehlte (S. 257). Arglose Leser könnten nun auf den Gedanken kommen, Friedrich Wilhelm III., unter dem und für den Schinkel die bedeutendsten seiner Bauwerke schuf, auf eine Stufe neben Friedrich I. zu stellen, den Bauherrn Schlüters. Hegemann aber belehrt uns, daß Friedrich Wilhelm III. und sein Vater zwar zugleich mit Friedrich I. „die wenigst schädlichen Hohenzollern auf baukünstlerischem Gebiete" waren, aber daß sie „mit ihrer altpreußischen Treulosigkeit der deutschen Politik beinahe ebensoviel geschadet haben wie Friedrich II. oder der Große Kurfürst". Es hieße, die Geschichte der europäischen Politik im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons I. schreiben, wollte man die preußische Politik gegen diesen Vorwurf verteidigen. Er übertrifft an grotesker Verzerrung alles, was Hegemanns Antipode Treitschke je über die treulose Politik Wiens oder der deutschen Mittelstaaten geschrieben hat. Nur zur Beurteilung der schon im „Fridericus" deutlichen blinden Vorliebe Hegemanns für die Politik der habsburgischen Kaiser sei ein Hinweis auf einen unverdächtigen Zeugen gestattet. Hugo Preuß bemerkt

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Berlin"

in seiner Entwicklung des deutschen Städtewesens, daß schon unter Kaiser Friedrich II., also in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, „das Kaisertum dem rein dynastischen deutschen Kleinfürstentum im innersten Wesen verwandt, Blut von seinem Blute war". Der deutsche König und römische Kaiser konnte schon damals nichts anderes sein „als ein Dynast unter Dynasten". Im 16. und 17. Jahrhundert waren nach Preuß das Reich sowenig wie die Territorien zu Trägern des neuen nationalen Staatsgedankens berufen. Das Reich hatte den Charakter als einer „Organisationsform des deutschen Volkes seit Jahrhunderten verloren. Die damalige Stellung des Kaisertums war durch internationaldynastische Interessen bestimmt." Zu Beginn des 19. Jahrhunderts endlich war „das alte Reich" als Form für die politische Existenz des deutschen Volkes längst unhaltbar und der Erneuerung unfähig. Die Neubildung des deutschen Staates konnte nur von einem der beiden weitaus größten Territorien ausgehen, „Österreich und Preußen" (S. 38 f., 124 f. und 202). Daraus ist zu schließen, daß Preuß mit vollem Recht die Politik der Hohenzollern, die ihren Staat ausgestalten wollten, für genau so national hielt wie die Politik des habsburgischen Österreich! Fast die Hälfte des Hegemannschen Buches nimmt das städtebauliche Schicksal Berlins im 19. Jahrhundert ein. Weit mehr als die vorangehenden Partien fußen diese Kapitel auf den im „Städtebau" zuerst veröffentlichten Studien, die oft wörtlich übernommen werden. Gelegentlich läßt temperamentvolle Kritik es auch hier an vorurteilsfreier Betrachtung von Menschen und Zuständen fehlen, doch im wesentlichen trifft sie den Kern der Sache. Die Sünden der preußischen Bürokratie und des wirtschaftlichen Liberalismus sind so schwer, daß sie keine Beschönigung vertragen. Freilich könnte man sich eine Geschichtsschreibung vorstellen, die auch hier den einzelnen handelnden Menschen in seiner Zeitgebundenheit begreifen und so zu einer tieferen Erfassung der Kräfte gelangen würde, die das Wohnungselend Berlins herbeigeführt haben. Aber dadurch würde der Reformwille, der in diesen Seiten des Buches lebt, abgeschwächt worden sein. Dem modernen Städtebauer wird man kaum einen Vorwurf daraus machen können, wenn er die letzte historische Objektivität nicht erreicht und wohl auch nicht erreichen will. Einige kritische Hinweisungen seien immerhin gestattet. Es wurde schon erwähnt, daß die Geschichte des Berliner Weichbildes und des Einflusses, den die Städteordnung und die preußische Regierung auf seine Beschränkung und seine Wiederausdehnung ausübten, durch das Studium der Akten ein etwas anderes Gesicht erhält, als es uns noch in der Arbeit von Clauswitz über das Weichbild und die Pläne Berlins

Werner

Hegemanns

Werk:

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entgegentritt. Die Berliner Bau- und Bodenpolitik hat Clauswitz in einem lehrreichen Überblick im 50. Band der Schriften unseres Vereins' behandelt, der Hegemann offenbar entgangen ist. Sein vielleicht wichtigstes Ergebnis ist die Verteidigung des Hobrechtschen Bebauungsplanes von 1858—1862, der die älteren Teilbebauungspläne ersetzen sollte, deren Mängel sich inzwischen gezeigt hatten. Gegenüber der vernichtenden Kritik Hegemanns kommt Clauswitz zu dem Schluß, daß Hobrechts Plan neben guten Radialverbindungen und breiten Ringstraßen genügend freie Flächen vorsah. Nicht er, sondern die Bauordnungen trugen die Schuld an den Mietskasernen mit ihren engen, lichtlosen Höfen (S. 39 ff.). Dazu paßt, was Dernburg einmal Hegemann erzählte, daß nämlich das Polizeipräsidium zunächst innerhalb der großen Baublöcke schmale Wohnstraßen geplant habe. Daß sie nicht ausgeführt wurden, lag indessen kaum an dem Interesse des Fiskus, die Baukosten für die Straßen zu sparen; denn nicht er, sondern die Stadt war verpflichtet, die Straßen in dem außerhalb der alten Mauern gelegenen Baugelände anzulegen. Der Ubergang des Eigentums an den Straßen, Plätzen und Brücken Berlins vom Staat auf die Stadt im Jahre 1875 bezog sich nur auf die Innenstadt. Die städtischen Behörden, vor allem die Stadtverordneten, waren seit der Städteordnung nur darauf eingestellt, eine Entwertung des Haus- und Grundbesitzes, die sie von der Erschließung der Vorstädte befürchteten, zu hindern. Clauswitz übt an ihnen die gleiche Kritik wie Hegemann. Die Eingemeindungsvorschläge, die 1891 die Regierung den städtischen Behörden unterbreitete, entsprangen nicht den „sozialpolitischen Anwandlungen der ersten Herrscherjahre Wilhelms II." (S. 394), sondern gingen auf die Wünsche der benachbarten Landkreise zurück, die von der Sorge um die meist von Arbeitern bewohnten Berliner Vororte befreit werden wollten. Die beiden letzten Kapitel über die Verkehrsanlagen in London, Paris, New York und Berlin und über die Freiflächen- und Bodenpolitik Berlins ergänzen die entsprechenden Kapitel des 2. Bandes des „Städtebaues". Die Polemik gegen die teuren Untergrundbahnen und das Eintreten für die billigeren Hochbahnen darf ebenso auf Zustimmung rechnen wie die Verurteilung des Bodenwuchers, den der Militärfiskus kurz vor dem Krieg bei dem Verkauf des Tempelhofer Feldes trieb. Die früheren Angriffe auf die Freiflächenpolitik des verstorbenen Bürgermeisters Reicke sind im Steinernen Berlin nicht wiederholt wor9

[ = Verein f. d. Geschichte Berlins.]

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Werner Hegemanns

Werk: „Das steinerne

Berlin"

den. Sie wurden trotz eines sachlich richtigen Kerns der Persönlichkeit Reickes nicht gerecht. Uber die Frage, ob heute Neubauten im Flachbau oder in, natürlich hygienisch einwandfreien, höheren Wohnblocks aufzuführen sind, gehen die Meinungen bei den Freunden des Siedlungswesens auseinander. Berlin wird durch die ungerechte Verteilung der Hauszinssteuer, die keine Rücksicht auf die gewaltige Zuwanderung nach der Reichshauptstadt nimmt, noch besonders auf die billigeren Etagenhäuser hingewiesen. Für ausreichende Kinderspielplätze kann auch bei ihrer Anlage gesorgt werden. Neu hinzugekommen sind zu den im „Städtebau" verwendeten Quellen Auszüge aus den Erinnerungen Strausbergs, des großen Finanzmannes der siebziger Jahre, Bemerkungen über Bismarcks Stellung zu Berlin, die sich noch erweitern ließen, und Auszüge aus den Reden Bismarcks über die Berliner Mietssteuer sowie Mitteilungen über seine Bemühungen um den Kurfürstendamm. Im Verhältnis zu dem Umfang des Werkes sind diese Auszüge reichlich lang geraten. Dagegen vermißt man hier wie in früheren Kapiteln ein Eingehen auf die Gestaltung der Hausgrundrisse. Audi über den Ausbau der Berliner Vororte, über die Trennung von Arbeiter-, besseren Wohn- und Villenvierteln und über die Lage der Fabriken und gewerblichen Betriebe hätte man gern mehr gehört. Der Raum hätte sich durch den Verzicht auf manche mit Berlin kaum zusammenhängenden politischen Erörterungen gewinnen lassen. Schwächen wie Vorzüge des Steinernen Berlin haben wir an uns vorüberziehen lassen. Am Ende wird die Freude über manches wohlgelungene Kapitel und über die Fülle herrlicher Bilder doch durch das Bedauern übertroffen, daß namentlich in den Abschnitten über die älteren Jahrhunderte durch Vorurteile und durch einen Mangel an tieferen geschichtlichen Kenntnissen das Bild der städtebaulichen Entwicklung Berlins oft zu einem Zerrbild geworden ist. Wenn dafür wenigstens das politische Ziel, das Hegemann vorschwebt, erreicht worden wäre, wenn sich als Resultat der Lektüre jedermann die Überzeugung aufdrängen würde, daß der absolutistische Städtebau in Berlin Schiffbruch gelitten hat, und daß nur von einem demokratischen die Erlösung kommen kann! Aber wir fürchten, daß dieses Ergebnis gerade bei den Lesern ausbleiben wird, auf die es ankommt, bei den Schwankenden und bei den Gegnern der Demokratie. Bei ihnen wird die blinde Voreingenommenheit Hegemanns nicht nur gegen die Hohenzollern, sondern gegen alles Preußische so viel Widerspruch herausfordern, daß sie Hegemanns Kritik selbst da ablehnen werden, wo sie berechtigt ist. Ob im übrigen

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Hegemanns

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der Gegensatz „absolutistisch" und „demokratisch" allein ausreichend ist, die so anders verlaufene städtebauliche Entwicklung des europäischen Festlandes und der angelsächsischen Staaten zu erklären, erscheint uns recht zweifelhaft. In der Gegenwart kommt es jedenfalls weniger darauf an, als auf den Gegensatz: sozial und unsozial. Indessen, eine Erörterung dieser Frage ist hier nicht möglich. Wir fassen vielmehr unsere Betrachtungen in dem Bekenntnis zusammen, daß uns der alte Hegemann des „Städtebaues" vor dem neuen des „Steinernen Berlin" den Vorzug zu verdienen scheint.

Das Weichbild der Stadt Berlin seit der Steinschen Städteordnung TEIL

1. Das Stadtgebiet

vor Erlaß der

i

Städteordnung

Ursprung und Quell alles modernen städtischen Lebens ist in Preußen die Steinsche Städteordnung. Sie war nicht nur ein Geschenk des Staates. Sie legte Pflichten auf, wenn sie Rechte gewährte, und sie beanspruchte für den Staat, was des Staates war. Nahm sie aber den Städten darüber hinaus noch mehr, entzog sie ihrer Verwaltung den einen großen Bestandteil ihres Gebietes, die städtische Feldmark vor den Toren? Clauswitz hat das für Berlin in seiner grundlegenden Schrift über die Pläne und das Weichbild Berlins angenommen. Nach seiner Ansicht entsprachen die Grenzen des Berliner Stadtgebietes 1808 im großen und ganzen dem Umfange der ursprünglichen Berliner und Cöllner Feldmarken nach ihrer Erweiterung durch den Wedding und die Cöllnische Heide 1 . Wäre das richtig, dann bedeutete die Städteordnung in der Tat eine außerordentliche Verkleinerung des bisherigen Stadtgebietes. Diese Auffassung hätte aber nur dann eine gewisse Berechtigung, wenn der Begriff des Stadtgebietes fast jeder realen Bedeutung entkleidet würde. Nicht einmal die Jurisdiktion des Magistrats erstreckte sich ja noch auf den ganzen Bereich der Feldmark. Weder das Vorwerk Niederschönhausen, noch der Wedding, der Gesundbrunnen oder der Tiergarten standen gegen Ende des 18. Jahrhunderts unter der städtischen Gerichtsbarkeit. Auch hatte schon damals der Begriff der Jurisdiktion seinen ehemaligen Inhalt, der alle Rechte der Verwaltung in sich begriff, zu einem großen Teile eingebüßt. Darüber hinaus jedoch gibt es eine Reihe von Zeugnissen aus der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die der Clauswitz schen Anschauung noch stärker den Boden entziehen.

1 Paul Clauswitz, Die Pläne von Berlin und die Entwicklung des Weichbildes; Berlin 1906, S. 49 ff., besonders audi S. 68 f., 73 f., 82 ff. und in sdiarf formulierter Zusammenfassung S. 96: „Die Einführung der St.O. brachte tiefeinsdineidende Veränderungen für die Umgrenzungen des bisherigen Stadtgebietes, das durch die Feldmark gebildet wurde."

Das Weichbild der Stadt Berlin seit der Steinseben

Städteordnung

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1788 äußerte sich das wohl sachverständigste Mitglied des Berliner Magistrats, der Ökonomiedirektor Kriegsrat Scheffel2, zu einer Eingabe des Ratsförsters Lehmann in Treptow vom 3. Mai; dieser erhob darin Einspruch gegen seine Heranziehung zu der Fixakzise, die von den außerhalb der Stadtmauern, aber auf städtischem Grund und Boden Wohnenden erhoben wurde. Scheffel bemerkte, daß Treptow nicht „auf städtischem Territorio liege", der Förster also ebensowenig wie der Förster Kühn vom Wedding Fixakzise zu zahlen habe; denn „das Stadtterritorium reidiet nur, in der Gegend des Weddings, bis an den Fluß" (die Panke 3 ). Der Magistrat schloß sich in einem Bericht an die Kurmärkische Akzise- und Zolldirektion vom 20. 6. diesem Gutachten an, rechnete also den westlich der Panke gelegenen Teil der ursprünglichen Berliner Feldmark in der Weddingsgegend nicht mehr zum städtischen Territorium. Er setzte sich damit allerdings in Gegensatz zu der Auffassung des langjährigen Berliner Stadtsyndikus Wackenroder, der noch in seinem 1771 abgefaßten, im Magistratsplenum verlesenen, erwogenen und vom Stadtpräsidenten und den drei Bürgermeistern unterzeichneten Corpus bonorum geschrieben hatte 4 : „. . . eben die Befugnisse, welche dem Magistrat innerhalb derselben (nämlich der Stadt) zustehen, hat selbiger auch außerhalb, soweit Stadt Grund und Boden gehet, und soweit als die alten Feldmarken von Berlin und Cölln reichen, zu genießen. Dieses bezeuget die Urkunde des Durchl. Churfürst Joachim I. de dato Johannis Evang. 1508 ( = 2 7 . 1 2 . 1 5 0 8 ) 5 . Der Stadt Grund und Boden gehet dergestalt außerhalb der Stadt, das derselbe berlinischerseits an . . . die Friedrichsfeldeschen, Lichtenbergschen, Weißenseeschen, Pankowschen, Reinickendorfschen und Dahldorfschen Feldmarken, ferner an die Jungfernheyde und an das Charlottenburgische F e l d . . . , cöllnscherseits aber . . . mit den Schönebergschen, Tempelhoffschen, Riecksdorfschen und Britzschen Feldmarken und alsdann weiter mit 2

E r war von 1 7 6 5 — 1 8 0 9 in seinem städtischen Amt und vorher Kriegs- und

Domänen-Rat bei der Kurmärkischen Kammer. 3

St. A., „Aa. betr. Fix.-Accise, wovon der Magistratsförster dispensieret sein

wollen", Clauswitzsches Repertorium V I I I Nr. 8. 4

Sch. V. G. Berlins 24, 1888. Wackenroders Name ist vom Herausgeber in Wicken-

rode verstümmelt worden. 5

BUB, S. 466. Vertrag Joachims I. mit Berlin und Cölln, in dem er ihnen das Ge-

richt gegen eine jährliche Rente überläßt. Darin heißt es: „sie sollen sich aber . . . solicher gericht nicht weyter antziehen noch gebrauchen, dann so weyt sich die erstrecken, als nemlidi in beyden Stetten und ausserhalb der stat, so weyt beyde feltmarken reichen." Es ist kaum ohne tiefere Bedeutung, daß sich Wackenroder nur auf diese alte Urkunde, nicht auf Recht und Praxis der Gegenwart beruft.

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Das Weichbild

der Stadt Berlin seit der Steinseben

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der Cöpenickschen Heyde bis an die Spree und sogenannten Kanne grenzet, so daß das rathäusliche Vorwerk Treptow noch innerhalb Stadt Grund und Boden lieget." Dieser Widerspruch, soweit er nicht der zwischen Theorie und Praxis ist, wird verständlicher, wenn wir aus einer Verfügung der Kurmärk. Kriegs- und Domänenkammer vom 28.1.1789 hören, daß diese „eine genaue und zuverlässige Nachricht von den Grenzen des zur hiesigen Stadt gehörigen Territorii" nicht besaß, sie vielmehr erst durch den Magistrat zu erhalten wünschte6. Auf diese Anfrage setzte Scheffel, dem sie der Magistrat zugeschrieben hatte, folgende Bemerkung: „Da von dem eigentlichen Stadtterritorio weder Karten noch sonstige Specialia in der Registratur aller Bemühungen ohnerachtet bis jetzt aufzufinden gewesen, und nicht alle außerhalb der Stadt nahe belegenen Güter und Anlagen zur Jurisdiktion des Magistrats oder der Stadtgebiete gehören, wie denn zum Beweis das Vorwerk Wedding, der Gesundbrunnen und das sogenannte Moabiter Land, das Vorwerk Martinicke, der große Tiergarten, die Weinberge vor dem Halleschen Tor, die Ziegelei in der Hasenheide p. unterm Amt Mühlenhof, die Schleifmühle vor dem Oranienburger Tor unterm Hofgericht p. gehören, so würde abseiten des Magistrats weiter nicht kommuniziert werden können, als was aus dem Stadtgerichts-Hypothekenbuch zu extrahieren ist; und stelle ich anheim, dieserhalb die Stadtgerichte zu requirieren und vorläufig der Akzise- und Zolldirektion zu antworten." Der Magistrat antwortete der Kammer dementsprechend und ersuchte das Stadtgericht, ihm „aus dem Hypothekenbuch ein Verzeichnis der Grundstücke, welche außerhalb dem Tor und doch auf städtischem Fundo belegen sind", mitzuteilen. Die Antwort des Stadtgerichts fehlt, wird indessen durch die von Scheffel entworfene Antwort des Magistrats vom 15.10.1789 auf mehrere Anfragen der Akzise- und Zolldirektion ersetzt; danach gehörten der Gesundbrunnen, das Vorwerk Wedding und Martinicke zur Jurisdiktion des Amtes Mühlenhof, „von dessen näherer Nachweisung und Bestimmung es abhängen wird, wohin die benannten ö r t e r zu rechnen sind". Ähnlich fiel eine Antwort des Magistrats vom 25. 2. 1791 über die Zugehörigkeit des „Moabiter Landes" aus. Der Magistrat war sich also selbst über die Ausdehnung des „Grund und Bodens" oder 6 St. A., „Aa. betreifend die Fixakzise der ausserhalb der Mauern -wohnenden Einwohner", Clauswitzsdies Repertorium VIII Nr. 9 Bd. I. In diesem Aktenstück wird unter dem 1. 5. 1803 noch ausdrücklich bemerkt, daß die Fixakzise nur diejenigen Etablissements außerhalb der Ringmauern zu entrichten haben, die „noch auf einem zum Bezirk der Stadt gehörigen Grund und Boden" angelegt sind.

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„Territoriums" der Stadt nicht recht klar, wie man damals statt des in Berlin seit Jahrhunderten nicht mehr gebrauchten und erst seit 1816 wieder aufgekommenen Wortes Weichbild sagte7. Die Ursachen dieser Unklarheit beruhten zum Teil darauf, daß erhebliche Teile des einseitigen Berliner Gebietes auch außerhalb der Stadtmauern nicht mehr unter der Jurisdiktion des Magistrats standen, daß sich vor den Toren größere Kolonien und einzelne Etablissements gebildet hatten, und vor allem darauf, daß die moderne staatliche Finanz- und Steuerverwaltung vor den Bewohnern der städtischen Feldmark nicht Halt machen, sie aber auch nicht gut wie die Einwohner der Stadt selbst behandeln konnte. Diesen Grund gab der Magistrat selbst in einem lehrreichen Bericht an das Ministerium des Innern vom 12. 5 . 1 8 4 6 an 8 . Das Ministerium hatte Auskunft gewünscht, ob in Berlin Feldmark und Weichbild identisch seien, welchen Veränderungen beide unterworfen gewesen seien, und welchen Umfang beide zurzeit hätten. Der Magistrat erwiderte, daß ursprünglich die ganzen Feldmarken als zum Stadtgebiet gehörig betrachtet worden waren, also die Äcker und Wiesen im bürgerlichen Privatbesitz wie die Heiden der Kämmerei, dazu noch einige unmittelbar an die Feldmark anschließende, im Eigentum der Kämmerei stehende Besitzungen wie Vorwerk und Kolonie Boxhagen und die Boxhagensche Heide. „Später, als die Staatsverwaltung sich stärker entwickelte", kamen Teile des Stadtgebietes, besonders die Berlinische und die Cöllnische Heide, zu den Kreisen, und einzelne Grundstücke wurden teils zu ihnen, teils zur Stadt gerechnet, bis seit 1829 eine Festsetzung des Weichbildes erfolgte. — Von einem Einfluß der Städteordnung sprach der Magistrat nicht, obgleich die Weichbildfestlegung noch einer nahen Vergangenheit angehörte. Ein Beispiel dafür, daß der Begriff der Jurisdiktion seine alte Bedeutung nicht voll gewahrt hatte, bietet die Regelung des Armenwesens in den Ansiedlungen vor den Toren Berlins. Die Armenpflege im üblichen Sinne, die Gewährung von Unterstützungen, regelte sich hier zwar im allgemeinen nach den Jurisdiktionsgebieten". Anders war es mit der Bekämpfung der Bettelei auf Grund des Landarmen- und Invaliden-Reglements für die Kurmark vom 16. 6.1791 1 0 . Das Reglement 7 8

Vgl. Clauswitz, a. a. O. S. 49 ff. St. A., „Stadtgrenzen", N r . 1 Bd. 4. Der Bericht trägt das Datum des 30. 3., ist

aber erst am 12. 5. abgesandt worden. 8

St. A., Armendirektion Gen. A. IV. N r . 11. „Aa. betr. die Bestimmung des Weich-

bildes vor dem Oranienburger- und Rosenthaler Tor", Band I. 10

Mylius, Nov. Corp. Constit. Mardiic. Band I X , Sp. 123—78.

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bestimmte, daß die Bettler Landarmenanstalten zur Beschäftigung überwiesen werden sollten, deren Baukosten der König tragen wollte, deren Unterhaltung aber den Ständen obliegen sollte. Nach § 56 bezog sich das Reglement nicht auf Berlin und Potsdam, da hier eigene Armenanstalten bestanden. Die Kreise Niederbarnim und Teltow sollten die in ihnen aufgegriffenen Bettler an das schon im Bau begriffene Armenhaus Strausberg überweisen. Hätte die gesamte Feldmark der städtischen Verwaltung unterstanden, dann hätte auch für sie das Reglement keine Gültigkeit haben können. Tatsächlich aber traten noch zu Ende 1791 der Magistrat und die Landräte der beiden benachbarten Kreise in Verhandlungen darüber ein, wohin die vor den Stadttoren aufgegriffenen Vagabunden zu transportieren seien, und wer von den Einwohnern der dortigen Siedlungen zu den Landarmenanstalten oder zur städtischen Armendirektion gehören sollte11. Der Landrat des Kreises Niederbarnim, von Pannwitz, hatte zugestanden, daß die Rosenthaler Vorstadt, das sogenannte Vogtland, von der Landarmenanstalt ausgeschlossen bliebe, sich indessen ein Mitaufsichtsrecht vorbehalten. Die Gärtner vor dem Frankfurter Tore und die Eigentümer der in der Nähe gelegenen Etablissements wollten ebenfalls ausgeschlossen bleiben; sie beriefen sich darauf, daß sie Fixakzise zahlten und infolgedessen zur Stadt gehörten. Die Entscheidung über ihren Antrag wollte Pannwitz aber höherer Entschließung vorbehalten. Der Präsident des Berliner Armendirektoriums, v. der Hagen, bemerkte dazu, daß ein Mitaufsichtsrecht des Landrats über die Rosenthaler Vorstadt zu Unzuträglichkeiten führen müsse. Die eine Viertelmeile und weiter von der Stadt entlegenen Kolonien dagegen, „diese auswärtigen örter", könnten keinesfalls zu Berlin gerechnet werden. Im übrigen überließ das Direktorium es dem Magistrat, wegen der „Verteilung der außerhalb Berlins gelegenen Ortschaften das Erforderliche mit den Behörden abzumachen". Das Ergebnis war, daß die außerhalb der Mauern unter städtischer Jurisdiktion liegenden Ortschaften und einzelne Kolonisten mit ihren Beiträgen der Landarmenkasse zugewiesen wurden. Die Generallandarmen- und Invalidenverpflegungs-Direktion lehnte am 19. 9. 1794 die vom Magistrat beantragte Freilassung der Gärtner vor dem Frankfurter Tor ab. Diese Kolonisten seien zwar der städtischen Gerichtsobrigkeit und deren besonderer Armenpflege unterworfen, aber sie müßten, „da sie außerhalb der Ringmauern der Stadt wohnten . . . in

11 St. A., Armendirektion Gen. A. IV, N r . 10. „Aa. betr. das Weichbild von Berlin in Hinsicht der Armenpflege".

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Rücksicht der zur Aufhebung der Bettelei eingerichteten Landarmenanstalten umsomehr zum platten Lande gezogen werden", als sonst gerade bei ihnen Bettler leicht Unterschlupf finden könnten. Die städtische Jurisdiktion und der städtische Grund und Boden schützten also die auf ihm Wohnenden nicht davor, teilweise der Verwaltung des flachen Landes unterworfen zu werden. In diesem Sonderfalle brachte gerade die Städteordnung eine Erweiterung des Berliner Verwaltungsgebietes. Noch im März 1811 hatte der Landrat von Pannwitz festgestellt, daß die Einwohner außerhalb der Ringmauern, soweit ihre Beiträge zu den Armenanstalten in Frage kamen, zum Kreise gehörten. Die Polizeideputation der kurmärkischen Regierung aber verfügte auf Antrag des Magistrats am 29. 5.1811, daß künftig auf beiden Seiten der Spree die auf städtischem Grund und Boden ansässigen Bewohner nicht mehr durch die Landräte zu diesen Beiträgen heranzuziehen seien. Finanzielle Fragen waren es, die eine Klarstellung des Umfanges des städtischen Gebietes kurz vor Erlaß der Städteordnung erforderten. Es handelte sich darum, ob die Etablissements12 vor den Toren durch die Stadt oder durch die Kreise zu den Kriegssteuern und Einquartierungslasten heranzuziehen seien, die der verlorene Krieg von 1806 zur Folge hatte. Die Landräte der die Stadt auf dem rechten bzw. linken Spreeufer begrenzenden Kreise Niederbarnim und Teltow gerieten darüber in eine Auseinandersetzung mit dem Comité administratif, der durch Napoleon an die Stelle des alten Magistrats gesetzten städtischen Verwaltungsbehörde, die in der Praxis freilich nicht viel mehr war als der bisherige Magistrat18. Diese Auseinandersetzungen sind deshalb wichtig, weil in ihnen schon alle die Gegensätze auftauchen, die bei den nach Einführung der Städteordnung gepflogenen Verhandlungen eine Rolle spielen sollten. Im Mai 1807 fragte der Teltower Landrat von Hacke beim Comité administratif an, welche der vor dem Brandenburger, Potsdamer, Halleschen, Kottbusischen und Schlesischen Tore gelegenen Etablissements zu den städtischen Kriegssteuern hätten beitragen müssen". Sie seien bisher zu der Kriegssteuer des platten Landes nicht herangezogen worden, da 12

Das ist der noch lange übliche technische Ausdruck für Ansiedlungen. Clauswitz, Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin, Berlin 1908, S. 42 ff. 14 St. A., „Aa. betreffend die Ausmittelung derjenigen Etablissements vor den Toren Berlins, so zur städtischen und landständischen Steuer beitragen sollen", Com. adm. Sect. V I N r . 30. 13

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der Ausschreibung f ü r diese die Aussaattabelle von 1797 zugrunde gelegt worden sei, in der die Etablissements offenbar deshalb nicht verzeichnet wären, weil sie keine Aussaat im freien Felde hätten; sie sollten aber jetzt nach einem noch festzusetzenden Maßstabe herangezogen werden. Das Comité antwortete darauf, daß nur die in der städtischen Feuersozietät versicherten Grundstücke von der Stadt für ihre Steuerzwecke beansprucht worden seien. Damit beruhigte sich der Landrat anscheinend, stellte indessen im Dezember desselben Jahres einen weitergehenden und seitdem von ihm festgehaltenen Grundsatz auf. Es drehte sich diesmal um die Kolonie Neuschöneberg. Hacke gab zu, daß sie unter der Jurisdiktion des Berliner Magistrats stände, und daß ihre Grundstücke im Berliner Hypothekenbuch verzeichnet seien, bestritt ihr aber die Eigenschaft als Vorstadt Berlins, da sie jenseits des Landwehrgrabens läge, übrigens aber auch im Aussaatregister des Kreises eingetragen sei. Das Comité ließ es in seiner von dem Stadtsyndikus Patzig 15 entworfenen Erwiderung vom 3 . 1 . 1 8 0 8 dahingestellt sein, ob das Prinzip, „daß der Landwehrgraben das städtische Territorium und das platte Land scheide", richtig sei oder nicht. Seines Erachtens müßten die Realjurisdiktion und die sämtlichen städtischen Hypothekenbücher einschließlich eines Teiles der Hypothekenbücher des Justizamtes Mühlenhof, „welches die Realjurisdiktion über mehrere städtische Funda exerzieret", entscheiden. Aber in Anbetracht der Zeit, die keinen Streit vertrage, wollte das Comité f ü r die Kriegssteuern den Hackeschen Grundsatz gelten lassen. Klare Verhältnisse waren damit nicht geschaffen, denn der Landrat versuchte nun, einige Grundstücke zu besteuern, die zwar innerhalb des Landwehrgrabens lagen, aber unter der Jurisdiktion des Mühlenhofs standen. Er berief sich darauf, daß sie „unbezweifelt zum platten Lande gehören, da das Amt Mühlendorf selbst dahin gehört und seine Kriegsabgaben an die Kreiskassen entrichten muß". Darauf konnte die „Stadtverwaltungsbehörde", in die das Comité administratif sich nach dem Abzug der Franzosen verwandelt hatte, am 17. 3.1809 erwidern, daß dieses durch seine Erklärung vom 3. 1.1808 den Landwehrgraben ohne alle Einschränkung als Grenze angenommen und damit mehrere jenseits des Grabens liegende, unstreitig zur Stadt gehörige Etablissements dem Kreise überlassen habe. „Daß einige diesseits gelegene Grundstücke zur Gerichtsbarkeit des Justizamts Mühlenhof gehören", heißt es weiter, „kann unseres Erachtens gar nichts entscheiden". Viele Grundstücke in der Stadt und namentlich fast alle 15

Syndikus von 1804 bis 1809, ausgeschieden bei Einführung der Städteordnung

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Häuser auf dem Mühlendamm ständen ebenfalls unter der Realjurisdiktion des Justizamts, gehörten aber unbezweifelt zur Stadt. Zu einem erneuten, durch Hacke in ziemlich erregtem Ton geführten Schriftwechsel kam es noch im August und September 1809. Während der Landrat jetzt die definitive Grenzfestsetzung wünschte, wollte der Magistrat sie aufschieben und es inzwischen bei dem Abkommen belassen, das den Landwehrgraben als Grenze bestimmte. Im April 1808 erhoben sich Differenzen zwischen dem städtischen Einquartierungsbureau und dem Niederbarnimer Landrat von Pannwitz, der verschiedene außerhalb der Stadtmauern in der Chausseestraße und „auf der Rummelsburg" gelegene Grundstücke vom Kreise aus mit Einquartierung belegen wollte". Deren Besitzer hatten sich darüber beschwert, da ihre Häuser auf städtischem Grund und Boden und unter der Gerichtsbarkeit des Magistrats lägen und alle städtischen Lasten tragen müßten. Pannwitz wandte dagegen ein, er könne nicht glauben, daß Berlin das Recht habe, „Wohnungen, die halbe und ganze Viertelmeilen von der Stadt entfernt lägen", für die ihm auferlegten Einquartierungslasten zu beanspruchen. Auch die Windmühlen vor dem Schönhauser Tor und die Kolonie Boxhagen wurden in den Streit gezogen. Bezeichnenderweise wandte sich der Berliner „Justizmagistrat", der die juristischen Geschäfte des alten Magistrats unabhängig vom Comité administratif fortführte 17 , am 30. April an das Stadtgericht mit der Frage, „wie weit sich das Grundgebiet und die Jurisdiktion der Stadt erstrecket, ob die vor den Toren belegenen Häuser zur Stadt oder zum platten Lande gehören". Der Justizmagistrat selbst also wußte über die Ausdehnung des Stadtgebietes nicht Bescheid! Auch das Stadtgericht konnte nicht helfen. Es bemerkte mit Recht, daß über die Grenzen des Stadtgebietes das Hypothekenbuch nur insofern Auskunft geben könne, als die Grundstücke unter der Jurisdiktion des Stadtgerichts lägen. „Da indessen die Realjurisdiktion auf hiesigem Stadtgebiete bekanntlich sehr zersplittert ist, indem außer uns darauf auch vor den Toren noch das Justizamt Mühlenhof, das Kammergericht, das Inva18 St. A., „Aa. betreffend die Bestimmung des Weichbildes der hiesigen Stadt", Tiefbau, Gen., Stadtgrenzen N r . 1. Dieses Aktenstück mit seinen 9 Bänden enthält das wichtigste städtische Material über alle Weidibildfragen bis in den Anfang der neunziger Jahre. Es wird künftig nur zitiert werden, um Verwechselungen mit anderen Aktenstücken vorzubeugen. 11 Vgl. für das Fortbestehen des alten Magistrats Clauswitz, Städteordnung,S. 46 ff.; allerdings erwähnt Clauswitz nur die Bearbeitung der Kammer-, nicht der Justizangelegenheiten.

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lidenhausgericht etc. eine Realjurisdiktion exerzieret, so ist daraus klar, daß diese Auskunft nichts Vollständiges enthalten kann. Wir glauben aber auch, daß bei Verteilung der städtischen Lasten auf den Unterschied der Jurisdiktion über die auf wirklichem Stadtgebiet liegenden Grundstücke nichts ankommen kann. Uber die Grenzen des Stadtgebiets werden der Oberwröhherr mit den Wröhmännern aus den Feldgartenvermessungsregistern etc. am besten Auskunft geben, und was alsdann innerhalb dieser Grenzen liegt, gehört zum Stadtgebiete und muß unseres Erachtens unbedenklich zu den städtischen Lasten beitragen, ohne Unterschied der ohnedies sämtlich innerhalb des Stadtbezirks ihren Sitz habenden Jurisdiktionen". Diesen Weg, sich bei den Vorstehern der Berliner Ackerländereien Auskunft zu holen, hat der Magistrat nicht beschritten. Positive Aufschlüsse schien erst ein Gutachten des Kriegsrats Scheffel vom 24. 6. 1808 zu verheißen. Es ging davon aus, „daß berlinischerseits sich das Stadtgrundgebiet bis an den Pancofluß und an die Grenzen der Dörfer Panco, Weissensee, Lichtenberg, ferner bis an die Boxhagensche Heide und an die Wiesen des Dorfes Stralow erstrecket". Aber mit diesem Begriff des „Grundgebietes" war praktisch für Berlin nichts anzufangen. Scheffel wies darauf hin, daß in ihm Etablissements lägen, „die zur Jurisdiktion des Amtes Mühlenhof, des Kammergerichts und des Invalidenhauses gehören; letzterem ist von Friedrich II. das Terrain beigelegt worden, worauf neuerlich die Chaussee, die daran stoßenden Wohnungen verschiedener Particuliers und die Kolonistenhäuser erbaut sind. Die Jurisdiktion entscheidet nicht, was zur Stadt gehört; die allgemeinen herrschaftlichen Lasten werden nicht von ihr, sondern von den Finanz- und Polizeibehörden reguliert; die Stadt aber beschränkt sich auf ihr innerhalb der Ringmauern belegenes Gebiet und auf die Vorstädte, dergleichen Berlin nur eine hat, nämlich Neuvogtland"18. Danach würden im vorliegenden Falle die Chausseestraße und Rummelsburg, die Windmühlen vor dem Schönhauser Tore und die Kolonie Boxhagen nicht zur Stadt, sondern zum platten Lande gehört haben. Der Justizmagistrat gab allerdings dem Einquartierungsbureau nicht dies, seinen Ansprüchen so ungünstige Gutachten weiter, sondern beschränkte sich auf Mitteilungen über die Jurisdiktions- und Hypothekenbuchverhältnisse der Chausseestraße, von Boxhagen und von Rummelsburg. Ähnlich antwortete er der kurmärkischen Kammer auf die Frage, ob Boxhagen auf städtischem Grunde liege und ob es Akzise gäbe 18

Es ist die Vorstadt vor dem Oranienburger Tor.

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oder ob es zum platten Lande gehöre. Boxhagen gäbe Akzise, sei audi im städtischen Hypothekenbuche eingetragen, zahle aber keine Servisabgabe und leiste keinen Feuerwachtdienst. Seine Zugehörigkeit zur Stadt oder zum Kreis sei zwischen Einquartierungsbureau und Landrat strittig. Wäre Scheffel mit seiner Ansicht durchgedrungen, dann wäre steuerlich die gesamte Berliner Feldmark außerhalb der Mauern dem Lande zugefallen. Das konnte nicht in der Absicht des Comité administratif liegen. Vielmehr ließ es sich ein genaues Verzeichnis aller städtischen Grundstücke anfertigen, die nicht als Pertinenzstücke von Häusern zu betrachten waren, die im Kataster der Feuersozietät standen und von denen also die Hauseignerabgabe schon erhoben wurde 19 . Die drei Verfasser des vom 1.9.1808 datierten Verzeichnisses, unter denen sich der von nun an jahrzehntelang in allen Weichbildsfragen als Sachverständiger fungierende Stadtbaurat und spätere Ökonomiedirektor Langerhans 20 befand, hoben zunächst die Schwierigkeiten ihrer Aufgabe hervor, da die Hypothekenbücher ihnen keine erschöpfende Auskunft geben konnten, und ihnen entweder gar keine Karten, Vermessungs- und Bonitierungsregister oder doch nur veraltete zur Verfügung standen. Trotzdem hatten sie für die Grundstücke der Berliner Ackerschaft, über die ein Register vorhanden war, und für die cöllnischen Ackerstücke, über die weder Karten noch Register existierten, eine vollständige und für die Gärten eine fast vollständige Aufstellung zustande gebracht. Für die Geschichte der Berliner Feldmark ist dieses Verzeichnis eine wertvolle Quelle. Das Comité administratif allerdings verfolgte mit ihm keine wissenschaftlichen, sondern praktische Zwecke. Es hielt eine außerordentliche Besteuerung der „teils innerhalb, teils außerhalb der Ringmauern der Stadt belegenen Ackergrundstücke" für angebracht; da sie aber von der Kriegs- und Domänenkammer und deren Unterbehörden „als zum platten Lande gehörig" betrachtet und von ihren Besitzern Fourage und dergleichen gefordert wurde, fragte es bei dem Justizmagistrat an, ob diese Forderungen berechtigt seien. Dieser gab am 15. Okto19

St. A., „Aa. betreffend die Ausmittlung" usw. Aus diesem Aktenstück auch die

folgenden Ausführungen. 20

Friedrich Wilhelm Langerhans, geb. 1 6 . 1 0 . 1780 zu Alt-Landsberg als Sohn des

dortigen Oberpredigers, studierte 1 7 9 7 — 1 7 9 9 in Frankfurt a. O. Kameralia und Baukunst, wurde 1804 zum Stadtbaurat gewählt, nach der Einführung der Städteordnung 1809 wiedergewählt und als Scheffels Nachfolger Oekonomiedirektor und Vorsitzender der neu errichteten Forst- und Oekonomiedeputation; wiedergewählt und 1844. 16»

1821,

1833

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ber zu, daß die Berliner Ackergrundstücke auf Grund einer Kabinettsorder von 1805 zu den durch die damalige Mobilisierung bedingten Kriegslieferungen nach der Normalaufnahme des Jahres 1797 und im Herbst 1807 zugleich mit den Kreisen der Kurmark zu den von den Franzosen verlangten Stroh- und Heulieferungen für das Berliner Fouragemagazi'n herangezogen worden waren, also „Praestanda des platten Landes geleistet" hatten. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, wenn der Landrat v. Pannwitz Vorschläge über die Grenzziehung zwischen dem Kreise Niederbarnim und dem Stadtdistrikt machte, die diesem nur vor dem Oranienburger Tor eine größere Ausdehnung über die Stadtmauern hinaus zugestanden. Das Comité, nicht mehr von Scheffel, sondern von Langerhans beraten, ging darauf nicht ein. Es betonte, daß die Panke nicht nur „der Sage nach" die Grenze zwischen Stadt und flachem Lande bilde, und daß das ehemalige Försterhaus hinter den Liesenschen Etablissements21 und das bis zur Jungfernheide sich hinziehende Stück Heide zweifellos zur Stadt gehöre. Vor allem wandte es sich dagegen, daß Pannwitz den größten Teil der Feldmark, alle berlinischen Wiesen, die Kavelländer, Boxhagen und Rummelsburg für den Kreis in Anspruch nahm, die sämtlich im Berliner Hypothekenbuch standen. Es machte daher am 18.10. einen provisorischen Gegenvorschlag. Die Grenze sollte vom Unterbaum bis zum Gesundbrunnen, diesen und die Panke eingeschlossen, von da bis zur Frankfurter Chaussee gehen; hier führe „die ganz unstreitige Grenze zwischen der berlinischen, pankowschen, weissenseeschen und lichtenbergischen Feldmark, so, daß die Neue Welt22 und die dahinter liegenden Bürgergärten excl. des Vorwerks Niederschönhausen zur Stadt kommen; von der Frankfurter Chaussee bis zur Spree geht die Grenze zwischen den Berliner Bürgergärten, den Boxhagenschen Gärten, Äckern und Heideterritorium und zwischen der Lichtenbergischen Feldmark und der Cöpenickschen Heide, so daß Boxhagen und Rummelsburg zur Stadt gehören; von Rummelsburg zur Spree der Markgrafendamm und dessen Verlängerung in gerader Linie bis zur Spree, da dieser Damm im Durchschnitt alle berlinischen und Stralowschen Wiesen trennt". Berlin würde dadurch das Vorwerk Wedding und den Gesundbrunnen gewinnen, dagegen das Gebiet der ehemaligen Stadtheide und alle Kolonisten jenseits der Panke verlieren. Wolle der Landrat diese Vorschläge nicht annehmen, dann wäre es am geratensten, 21

Beim Vorwerk Wedding gelegen.

22

Südöstlich vom Frankfurter Tor.

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genau auszumitteln, was zum Stadtgebiet und was zum Kreise gehöre. Wie es bei dem starken Auseinandergehen der Ansprüche nicht anders zu erwarten war, lehnte Pannwitz diesen Vorschlag ab. Er bestritt nicht, daß die Grundstücke auf der städtischen Feldflur Berliner Einwohnern oder der Kämmerei gehörten, „aber deswegen sind sie immer noch kein städtisches Grundstück. Die Stadt Berlin hat städtische und ländliche Grundstücke, die letzteren gehören in den (!) Kreisen, worin sie liegen und sind immer in diesem Verhältnisse angenommen worden; die ersteren gehören der Stadt und beschränken sich meines Erachtens bestimmt auf die Ringmauer und die Vorstädte. Beweise, daß man es immer bisher so betrachtet hat, sind, daß alle diese ländlichen Grundstücke zum Canton des Kreises gehörten, daß sie unter der allgemeinen Polizeiaufsicht des Kreises bis vor einigen Jahren gestanden, daß ich selbst, ebenfalls aus dem Wunsche, gefällig zu sein, die nächsten Etablissements der Aufsicht der Berliner Polizei überlassen, wie solches dem Geheimen Rat Koels23 noch wissend sein muß. Sollte der Gesichtspunkt, ob ein Grundstück zur Stadt oder zum Amte oder Gute gehört, die Bezirke bezeichnen können, so müßten alle Grundstücke um Berlin, so unter dem Amte Mühlenhof stehen, zum Kreis gehören." Am 23. 11. 1808 nahm darauf das Comité die Pannwitzschen Vorschläge provisorisch an, um sie der Verteilung der Kriegslasten zugrunde zu legen; das Konzept dieses Schreibens hat Koels entworfen. Übrigens erklärte noch 1828 der damalige Niederbarnimer Landrat v. Voss, daß bis 1806 sich Berlins Stadtbezirk auf die Ringmauern und einen Teil der Vorstädte beschränkt, die ganze Feldmark auf dem rechten Spreeufer aber und alle Etablissements außerhalb der Mauern in bezug auf Polizei, Kantonpflicht, Vorspann, Steuern und Einquartierung zum platten Lande gehört hätten. Erst durch die Abmachungen mit dem Comité administratif und durch die Städteordnung seien Panke und Schönhauser Graben zur Grenze geworden24. 2. Die Festsetzung des Weichbildes bis zum Rezeß vom 21. 6. 1841 So war eine Auseinandersetzung zwischen Berlin und den beiden benachbarten Landkreisen über die Grenzen der Stadt längst im Flusse, als die Städteordnung vom 19.11.1808 Gesetz wurde. Nicht erst infolge der in ihren §§ 4 und 15 getroffenen Bestimmungen kam es zu Streitig23 1 7 84 Ratsherr, 1793 Syndikus, 1804 Bürgermeister; scheidet aus bei Einführung der Städteordnung. 24

Stadtgrenzen Nr. 1, Band 2. Schreiben vom 26.5. 1828.

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keiten, wie Clauswitz annahm25. Der § 4 besagte: „Zum städtischen Polizei- und Gemeinebezirk gehören alle Einwohner und sämtliche Grundstücke der Stadt und der Vorstädte", während § 15 das Bürgerrecht definierte als die „Befugnis, städtische Gewerbe zu treiben und Grundstücke im städtischen Polizeibezirk der Stadt zu besitzen." Der Wortlaut des § 15 führte nur vorübergehend zu Meinungsverschiedenheiten wegen einer nicht aufrechterhaltenen, wenn auch nicht ausdrücklich zurückgenommenen Verfügung des Berliner Polizeipräsidenten Gruner20, nach der nur die Einwohner innerhalb der Mauern das Bürgerrecht erhalten, die städtischen Grundbesitzer außerhalb der Mauern dagegen zwar zum Stadtbezirk gezogen, aber nur als Schutzverwandte betrachtet werden sollten27. Viel wichtiger war eine Auslegung des § 4 der Städteordnung 28 . Sie erfolgte durch Reskript des Ministeriums des Innern vom 15. 8. 1809 an die Regierung in Stargard, das am 4. 9. durch die kurmärkische Regierung dem Berliner Magistrat mitgeteilt wurde. Der Minister stimmte der Ansicht der Regierung, „daß diejenigen zum Kommunalverbande des platten Landes gehörigen Grundstücke, welche von den Grundstücken der Stadt und Vorstädte eingeschlossen sind und mit denselben vermischt liegen, dem städtischen Gemeindebezirk angehören, solche aber, welche eine völlig separierte, wenngleich mit der städtischen Feldmark und spezialiter mit der Stadt selbst zusammenhängende Lage haben, nach wie vor beim platten Lande bleiben, insofern bei, als die Bewohner der letzteren schlechterdings keine städtischen Gewerbe betreiben und überhaupt an den städtischen Gerechtsamen in keiner Beziehung teilnehmen. Im entgegengesetzten Falle müssen auch diese zur Stadt gezogen werden". Mit diesem Reskript waren für Berlin die Zweifel keineswegs gelöst. Die kurmärkische Regierung ordnete daher am 13. 6.1810 an, die Stadtgrenze solle durch einen Kommissar des Magistrats gemeinschaftlich mit den Landräten festgesetzt werden, und behielt sich nur die Entscheidung bei Uneinigkeiten vor. Ihr Verlangen, wie von allen kurmärkischen Städten, so auch von Berlin einen Grundriß zu erhalten, hatte der Magistrat nicht erfüllen können, denn die Stadt besaß keine authentischen Karten ihres Gebietes und mußte die 25

Die Pläne von Berlin, S. 96. Das Weitere nach den Akten: Stadtgrenzen Nr. 1, Bd. 1. 26 Karl Justus von Gruner, Polizeipräsident von 1809 bis 1811; vgl. ADB X, 42 ff. 27 Über die Schutzverwandten vgl. St. O. Titel 4, § 40 bis 44. 28 Vgl. auch L. v. Rönne, Die preussisdien Städteordnungen vom 19.11.1808 und vom 17. 3.1831. Breslau 1840, S. 32 ff.

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Regierung auf die im Handel befindlichen Karten und Pläne verweisen. Nachdem der Magistrat Langerhans zu seinem Kommissar ernannt hatte, setzte sich dieser am 21. 8. mit dem Landrat v. Pannwitz zusammen. Unter dem Eindruck des „Normaireskripts" vom 15. 8. 1809 hielt Pannwitz seine vor der Einführung der Städteordnung erhobenen weitgehenden Ansprüche auf die Berliner Feldmark nicht aufrecht. Er wurde vielmehr mit Langerhans dahin einig, daß die Grenze von der Oberspree, zwischen der königlichen und der städtischen Heide, bis an die Grenze der Jungfernheide im Westen und von hier längs des kleinen Tiergartens bis zum Unterbaum gehen solle; nur das Vorwerk Niederschönhausen, den Wedding und den Gesundbrunnen wollte er ausnehmen, alle übrigen Etablissements innerhalb dieses Grenzzuges, also auch das Invalidenhaus, dem Stadtbezirk zurechnen. Die Sonderstellung des Weddings und des Gesundbrunnens wird übrigens auch durch das bei der Anlegung der neuen Hypothekenbücher aufgenommene Vernehmungsprotokoll von 1811 bestätigt2". In ihm heißt es: „Das Vorwerk Wedding sowohl als der Gesundbrunnen oder das Luisenbad gehören nicht zum städtischen Territorio, sondern zum platten Lande, sind auch im städtischen Feuercatastro gar nicht versichert, daher sie denn auch kein Gegenstand der Eintragung in das Hypothekenbuch der städtischen Umgebungen sind". Dagegen ständen einige, auf dem anderen Ufer der Panke von Friedrich II. 1781/82 gestiftete Kolonistenstellen, zu denen die Kämmerei ihr gehörigen Grund und Boden längs der Panke bis zum Gesundbrunnen hergegeben hatte, unter städtischer Jurisdiktion und seien auch im alten Hypothekenbuch der Königstadt verzeichnet. Mit voller Deutlichkeit geht auch aus dieser durch die Bestimmungen der Städteordnung ganz unberührten Eintragung in das Vernehmungsprotokoll hervor, daß schon vor 1808 Wedding und Gesundbrunnen nicht zum Stadtgebiet gerechnet wurden. Moabit rechnete selbst der Magistrat nicht dazu, weil es nicht auf der städtischen Feldmark lag (nach einer dem Stadtgericht am 24.10. 1814 erteilten Auskunft). Die ältere, noch von Wackenroder vertretene Auffassung war damit durch den Magistrat aufgegeben worden30. In diese für Berlin aussichtsreich begonnenen Verhandlungen platzte eine Verfügung des Ministeriums des Innern vom 12. 7.1810. Nach ihr sollten die städtischen Gemeindebezirke nur vorläufig reguliert werden, weil endgültige Anordnungen erst in Verbindung mit der bevorstehen2

» G. St. A., Prov. Brand. Rcp. 5 A. Stadtgericht Berlin, Titel I Sect. 6 Nr. 11 vol. II. 30 Danach sind die Bemerkungen von Clauswitz, Die Pläne, S. 64 f. und besonders S. 69, zu ergänzen.

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den Organisation der ländlichen Gemeindeverfassung getroffen werden könnten. Da nun die Städteordnung „die Grundstücke der Stadt und der Vorstädte" als städtischen Kommunalbesitz bestimmt habe, sei streng nach ihrem Wortlaut zu verfahren. Es dürften daher „die städtischen Feldmarken überall nicht mit zugezogen werden, indem bis auf weiteres die Städte und Vorstädte in ihrem bisherigen Umfange, bloß mit Zuziehung der darin und dazwischen liegenden ländlichen Grundstücke, ihren Gemeindebezirk bilden". Der Magistrat versuchte, im Einklang mit einem Votum von Langerhans, der Verfügung die Spitze abzubrechen durch äußerst gewaltsame Interpretation der Worte „die städtischen Feldmarken", unter denen er die Feldmarken der Kämmereidörfer und nicht die Feldmarken verstanden wissen wollte, „die schon immer unmittelbar zur Stadt gehört haben, wirklich auf städtischem Grund und Boden liegen und Stadtbewohnern gehören". Er ließ auch die kommissarischen Verhandlungen mit den Landräten durch eine Besprechung zwischen Langerhans und dem Teltower Landrat v. Hacke am 14. 7.1811 ihren Fortgang nehmen. Da weder Grenzbezeichnungen an Ort und Stelle zu sehen, noch Grenzverhandlungen in den Registraturen der Stadt oder des Kreises zu finden waren und da die bisher zur Stadt oder zum flachen Lande gerechneten Grundstücke bunt durcheinander lagen, kamen die beiden Herren überein, die Grenze auf Grund der Realjurisdiktion festzusetzen und bei Meinungsverschiedenheiten der Regierung die Entscheidung zu überlassen. Da sie keine Karten der Feldmark Tempelhof besaßen, beschränkten sie sich darauf, einen topographischen Plan von Berlin und die Karte der Schöneberger Feldmark zu Rate zu ziehen. Hatte der Magistrat versucht, den Folgen der Ministerialverfügung vom 12. 7.1810 durch seine Auslegung ihres Wortlautes und durch die Fortführung der Verhandlungen mit den Landräten zu entgehen, so machte dem eine neue, in Nr. 11 des Amtsblattes der Potsdamer Regierung veröffentlichte Verfügung vom 10.3.1812 ein Ende. Der „eigentliche Kommunalbezirk der Städte" sollte danach nur den bewohnten Teil derselben und die Vorstädte, nicht aber die dazugehörigen Feldmarken umfassen. Der Einspruch des Magistrats gegen diese „höheren Orts" getroffene Entscheidung wurde zurückgewiesen. Nur bisher schon erfolgte Inkorporationen ländlicher Grundstücke in den städtischen Kommunalbezirk sollten bestehen bleiben. Soweit hatte es Berlin aber nur auf dem rechten Spreeufer gebracht. Unter Berufung auf die mit dem Comité administratif, also noch vor der Städteordnung, geführten Verhandlungen bezeichneten 1814 Hacke den Landwehrgraben, 1815

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v. Pannwitz die Ringmauer vom Schönhauser Tor an als die Grenzen ihrer Kreise, ohne damit beim Magistrat auf Widerstand zu stoßen. Die Zugehörigkeit des Invalidenhauses zum Stadtgebiet hatte übrigens schon eine Verfügung des Ministers des Innern vom 15. 12. 1812 anerkannt 31 . Die Bedeutung der steuerlichen Verhältnisse für die Abgrenzung zwischen Stadt und Land lehrt noch ein von 1812 bis 1845 sich hinziehender Schriftwechsel über die Besteuerung der auf städtischem Grunde beim Gesundbrunnen und beim Wedding wohnenden Ansiedler 32 . Die kurmärkische Regierung entschied am 1 3 . 1 . 1 8 1 3 , daß die Gewerbesteuer nach Polizeirevieren erhoben würde, ohne Rücksicht darauf, ob die Gewerbetreibenden auf städtischem Grunde oder auf dem Lande wohnten. Und die Generalverwaltung der Domänen, Forsten und Steuern bestimmte am 24. 12. 1814, daß die Personensteuer von allen denen zu zahlen sei, die nicht Akzise zahlten. „Rücksichtlich des Akzisewesens" war nach einer Verfügung der „Abgabendirektion für die hiesigen Residenzen" vom 1 . 9 . 1 8 1 2 die Panke „von jeher" alsGrenze angenommen worden. Die Kolonisten jenseits der Panke waren daher nicht zur Akzise, sondern zur Landkonsumtionssteuer herangezogen worden. Auch aus diesem Schriftwechsel ergibt sich, daß die Panke schon vor der Städteordnung die Rolle eines Grenzflusses zwischen Stadt und Land gespielt hatte. Aber in eben diesem Augenblick stand eine neue Regierung vor der Tür. Die Verordnung vom 15. 4. 1815 über die verbesserte Einrichtung der Provinzialbehörden nahm eine besondere Regierung Berlin in Aussicht33. Regierungspräsident wurde v. Bassewitz, der 1824, nach der Wiederaufhebung der Berliner Regierung, zum Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg aufrückte 34 . Am 2 4 . 1 . 1 8 1 6 fand auf seine Veranlassung hin im Berliner Rathaus eine Besprechung zwischen den beiden Landräten, dem Ritterschaftsrat v. Schütz, dem Regierungsrat Keßler 31

Min. d. I. Ardi. IV, Stadt Berlin N r . 36 „Akta den Gemeindebezirk der Stadt

Berlin und die Leistungen der zu denselben eingezogenen, vormals ländlichen Grundstücke betreifend", Band I. 32

St. A., Grundeigentumsdeputation, Kolonistenetablissements Nr. 4, „Aa. betr.

die von den Kolonisten beim Luisenbade geforderten Abgaben zum platten Lande". 33

Clauswitz, Städteordnung, S. 111.

34

Friedrich Magnus v. Bassewitz, geb. 17. 1. 1773 in Schönhoff in Meckl., besucht

das Pädagogium in Halle, 1791—94 Studium der Rechts- u. Staatswiss. in Rostock u. Jena, 1795 Refer. b. d. Kurm. Kammer, 1797 Ass. b. Manufaktur- u. Commerzcollegium, 1800 Kriegs- u. Dom.-Rat b. d. Kurm. K . ; 1809 Vizepräs., 1810 Chefpräs, der Potsd. Reg., 1824 O. Präs., 1842 Abschied; wird bei dieser Gelegenheit zum Ehrenbürger Berlins ernannt.

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und Langerhans statt, deren Zweck die Festsetzung des Berliner Weichbildes war. Das Ergebnis dieser Besprechung, dem der Magistrat am 9. 4. ausdrücklich zustimmte, wurde in Nr. 3 des Amtsblattes der Berliner Regierung vom 12. 6. 1816 veröffentlicht, das die Grenzen des engeren, rein polizeilichen und die des weiteren Bezirks der Berliner Regierung umschrieb. Hier interessiert nur die Grenze des Gebietes der Regierung im engeren Sinne, „welches sich", wie die Bekanntmachung sagt, „bloß auf die Residenzstadt, deren Weichbilde, den Tiergarten und die Hasenheide beschränkt"; es „fängt auf der West- und Nordseite der Stadt, also gegen den Niederbarnimschen Kreis zu, am rechten Ufer der Spree, unterhalb der zu dem Etablissement Martinicke gehörigen Grundstücke an, läuft sodann nördlich gegen die Jungfernheide und behält auf der Nordseite der Stadt bis über die Frankfurter Chaussee, von wo sie dann östlich von der Stadt herabgeht, und an der Spree, oberhalb Straulau und Rummelsburg, die Grenzpunkte des alten Stadtweichbildes, und zwar so, daß die innerhalb derselben gelegenen, vordem zum Kreisverbande gehörigen Ortschaften und Grundstücke mit zum Stadtweichbilde gezogen werden. Namentlich kommen hierdurch zu dem letzteren die Pulvermühle mit dem Moabiterlande, der Luisenbrunnen, der Wedding und die dazu gehörigen Kolonien, das Vorwerk Schönhausen und das Dorf Stralau. Auf der mittägigen Seite von Berlin, gegen den Teltowschen Kanal, beginnt die Grenzlinie südöstlich von der Stadt, an dem linken Ufer der Spree, läuft unterhalb des Etablissements „die Kanne", von da an der Grenze der miteingeschlossenen Berliner Spreeheide35 nach dem Rixdorfer Damm und der Hasenheide westlich fort, so daß sämtliche Etablissements und dazugehörige Gärten, welche zwischen der Tempelhofer Windmühle und der Stadt liegen, zum Weichbilde gehören, Neuschöneberg aber zum weiteren Regierungsbezirk übergeht. Zwischen Neuschöneberg und dem Schafgraben, bis zum Fasaneriegarten hin, wird die Grenze gehalten, welche gegenwärtig zwischen den Berlinischen und den alt- und neuschönebergischen Grundstücken besteht. Sodann geht die Grenzlinie etwas nördlich herauf und läuft außerhalb des Tiergartens und des dazugehörigen Fasanengartens, der bei Berlin bleibt, bis zur Spree. Hiernach sind die außerhalb der Stadt belegenen, zum engeren Bezirke der Berliner Regierung übergehenden Ortschaften und einzelnen Grundstücke aus dem Niederbarnimschen Kreise folgende: 3S

Damit ist das sonst als Cöllnische Heide bezeichnete Gebiet gemeint.

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Stralau, Rummelsburg, Boxhagen, das Vorwerk Schönhausen, der Luisenbrunnen, das Vorwerk Wedding, die Kolonien an der Panke, Neu-Wedding etc., Johannisberg, der sogenannte hungrige Wolf hinter dem Invalidenhause, Martinicke, Moabit, die Pulvermühle, die Eisengießerei, Clausweinberg; aus dem Teltowschen Kreise: Die Fischersche Lohmühle, das neuerbaute Haus am Berge in der Hasenheide, die Besitzungen vor dem Kottbuser Tor, von Leveque bis Christoph, die Haster und Baumgartensche Fabrik, die Krügersche Ziegelei, die sämtlichen Besitzungen auf dem Weinberge, die Hasenheide bis zum Christophschen Etablissement, das Leslingsche, Wehlingsche Haus und alle in diesem Bezirke liegenden Besitzungen vor dem Halleschen Tor, die jenseits des Landwehrgrabens belegenen Besitzungen von dem Morgenländerschen Grundstücke bis zum botanischen Garten, das Kolonistenhaus hinter dem Hof jäger jenseits des Landwehrgrabens, das Fregewicsche Etablissement, die Mosische Bleiche". Der weitere Regierungsbezirk schloß die Dörfer im näheren Umkreis von Berlin ein, von Biesdorf und Friedrichsfelde bis Tegel auf dem rechten und von den Grundstücken nördlich Köpenick bis zu Charlottenburg auf dem linken Flußufer. Die Verfügung über die Abgrenzung des engeren Berliner Regierungsbezirkes bildete für Clauswitz eine wichtige Stütze seiner Ansicht, daß vor der Städteordnung die Berliner Feldmark unbestritten zum Stadtgebiet gerechnet wurde36. Der Wortlaut der Verfügung geht, soweit er den engeren Regierungsbezirk betrifft, bis in die Einzelheiten auf das Protokoll der Konferenz vom 24. 1.1816 zurück und zeigt nur an der entscheidenden Stelle eine leichte Abweichung. Im ersten Satz heißt es in dem Protokoll: „westlich Berlin am rechten Spreeufer unterhalb der zum Etablissement Martinique gehörigen Grundstücke läuft die Linie nördlich gegen die Jungfernheide und behält auf der Nordseite der Stadt ... ihre bisherige Grenze mit der Modifikation, daß die innerhalb derselben gelegenen, bisher zum Kreisverband gerechneten Ortschaften und Grundstücke zum Weichbilde der Stadt geschlagen werden". An Stelle der Worte „die Grenzpunkte des alten Stadtweichbildes" steht also „ihre bisherige Grenze", und statt „vordem" heißt es „bisher". Clauswitz erklärt das Wort „vordem" in einer Anmerkung als „vor Erlaß dieser Verordnung, seit Einführung der Städteordnung" und schließt daraus, 36

Die Pläne, S. 81.

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daß die namentlich aufgeführten Ortschaften und Grundstücke, Moabit, Wedding usw., bis zur Städteordnung zum Weichbilde Berlins gerechnet worden seien. Er fügt hinzu, daß die Verfügung sich bezüglich Stralaus geirrt habe, da dieses niemals innerhalb der Grenzen des Weichbildes lag. Es wird alles auf die Deutung der Worte „bisherige Grenze" und „vordem" oder „bisher" ankommen. Sollte damit gesagt werden, daß alle innerhalb der bisherigen Grenze liegenden Grundstücke und Ortschaften zum Stadtgebiet gehörten, und heißt „bisher" oder „vordem" wirklich „vor der Städteordnung" ? Schon nach den von uns angeführten Zeugnissen über die Ausdehnung des Stadtgebietes vor der Städteordnung wird man daran zweifeln müssen. Der Magistrat selbst hatte ja nicht nur Stralau, sondern auch Moabit nicht als städtisches Gebiet betrachtet, und das Stadtgericht hatte in dem Vernehmungsprotokoll von 1811 das Vorwerk Wedding und den Gesundbrunnen nicht zum städtischen Territorium gerechnet. In einem etwas späteren Bericht an die Regierung vom 1. 5. 1818 erklärt der Magistrat das Verlangen der Regierung nach einem Verzeichnis der unstreitig innerhalb des Weichbildes, aber außerhalb der Mauern Berlins gelegenen Grundstücke für unmöglich, weil eigentlich jedes von diesen früher oder später einmal als strittig angesehen worden sei. In der Verhandlung vom 24.1.1816 seien sogar Grundstücke zum Weichbilde gezogen worden, „die früher selbst von uns nicht zum Stadtgebiet gerechnet worden sind: . . . Moabit, der kleine Tiergarten, der Wedding, der Gesundbrunnen, mit Ausschluß der dazu gelegten städtischen Erbpachtgrundstücke, und das Vorwerk Niederschönhausen und das Dorf Stralau". Der Landrat von Niederbarnim aber habe darüber hinaus auch die Berlinische Heide, einzelne zum Invalidenhaus gehörige Grundstücke, den sogenannten neuen Wedding, die Kolonien am Wedding und am Gesundbrunnen, das Vorwerk und die Kolonie Boxhagen, Rummelsburg und die Boxhagensche Heide für den Kreis beansprucht. Es kann also gar kein Zweifel darüber bestehen, daß nicht erst die Städteordnung das Gebiet außerhalb der Mauern bis an die Grenzen der umliegenden Dörfer der Stadt entzogen hat, sondern daß sie nur die Veranlassung gab, die sehr strittig und unübersichtlich gewordenen öffentlich-rechtlichen Verhältnisse auf der ehemaligen Berliner Feldmark zu klären und das der modernen städtischen Selbstverwaltung zu unterstellende Gebiet endgültig festzusetzen. Die Verfügung über die Festsetzung des engeren Berliner Regierungsbezirkes muß daher dementsprechend ausgelegt werden.

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Wenn der Magistrat gemeint hatte, die endgültige Klärung sei durch die Umschreibung des engeren Regierungsbezirkes erfolgt, der doch ausdrücklich als durch den Tiergarten, die Hasenheide und das Weichbild der Residenz bestimmt sein sollte, so wurde er bald eines anderen belehrt. Die Regierung eröffnete ihm am 12. 1. 1818, daß mit der Feststellung des engeren Regierungsbezirkes nur eine Trennung zwischen der Berliner und der Potsdamer Regierung beabsichtigt worden und dabei „den Benennungen: engerer Regierungsbezirk und Weichbild der Stadt synonyme Bedeutung zugelegt worden" sei. Aber in bezug auf die in ihnen wohnenden „Individuen" liege die Sache ganz anders. Da sei zu unterscheiden zwischen a) der Stadt Berlin innerhalb und dem städtischen Weichbild außerhalb der Mauer und b) dem ländlichen Teil innerhalb des engeren Regierungsbezirkes Berlin, dessen Bewohner zum Kreisverband gehörten. Daher müsse das eigentliche städtische Weichbild genauer festgesetzt werden; der Magistrat möge „die bisher unstreitigen Grenzen des Weichbildes der Stadt" angeben, „welcher Begriff jedoch mit der Benennung engerer Regierungsbezirk nicht zu verwechseln ist". Da war nun der Magistrat wieder genau so weit, wie in den letzten Jahren vor der Städteordnung. Seine schon erwähnte Antwort vom 1. 5. 1818 gibt seiner Enttäuschung offenen Ausdruck. Es mußten ja alle Streitfragen mit dem Kreis Niederbarnim und ebenso mit dem Kreis Teltow wieder aufleben, dessen Landrat die Cöllnische Heide mit dem Vorwerk Treptow und die Weinberge am Tempelhofer Berg beanspruchte, ganz zu schweigen von Neuschöneberg, das nicht einmal zum engeren Regierungsbezirk gezogen worden war, obgleich der Magistrat es immer „als zum Stadtgebiet gehörig" betrachtet hatte37. Für ihn waren eben seine Jurisdiktion und die Eintragung der Grundstücke in das Berliner Hypothekenbuch letzten Endes das Entscheidende. Um seine Forderungen kartenmäßig festzulegen, hatte er sich von der Forstund 'Ökonomiedeputation, deren Vorsitzender Langerhans war, ein Verzeichnis der Berliner Äcker, Wiesen und Forstländereien aufstellen58 und die von ihm vor der Errichtung der Berliner Regierung als zur Stadt gehörig angesehenen Grundstücke in eine der Regierung überreichte 37 Neuschöneberg w a r durch Kabinettsorder vom 18. 1. 1752 ausnahmsweise dem Magistrat von Berlin als Ortsobrigkeit unterstellt w o r d e n . Es w u r d e 1834 dem A m t Mühlenhof überwiesen, nachdem der Berliner Magistrat schon 1832 seine fernere Z u ständigkeit bestritten hatte. 38

St. A., „Aa. der Forst- u n d Ö k o n o m i e d e p u t a t i o n betr. die S t a d t Berlin und deren U m g e b u n g " , T i e f b a u , Gen., „Stadtgrenzen ad N r . 1".

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Karte eintragen lassen, die zugleich die von den Landräten beanspruchten Gebiete und den engeren Regierungsbezirk deutlich machte. Diese Karte wurde von der Regierung dem Magistrat zurückgegeben und sollte aufgezogen und im Magistratssitzungszimmer aufgehängt werden. Leider hat sich über ihren Verbleib nichts ermitteln lassen. Der Regierung mochte bei der seltsamen Umdeutung, die sie dem Ausdruck „Weichbild" hatte zuteil werden lassen, nicht ganz wohl sein. Sie fühlte die Verpflichtung, etwas zu tun, um den von ihr angerichteten Wirrwarr in Ordnung zu bringen. Sie trat unmittelbar mit den beiden Landräten in Verhandlungen, deren für Berlin ziemlich günstiges Ergebnis wohl ihrem Einfluß zuzuschreiben war. Dann aberstellte sie einen neuen, gelegentlich bedeutsam gewordenen Grundsatz auf: die Besitzer der von den Landräten für ihre Kreise beanspruchten Grundstücke sollten sich selbst darüber aussprechen, ob sie zur Stadt oder zum Kreise kommen wollten. Den Auftrag, diese Vernehmung durchzuführen, hat der Magistrat augenscheinlich nicht ausgeführt, da er zunächst versuchte, doch noch die Gleichsetzung von städtischem Weichbild und engerem Regierungsbezirk zu erreichen. In den nächsten Jahren fanden mehrfach mündliche Verhandlungen statt, bei denen Langerhans dieses Ziel verfocht. Ehe sie zu einem Resultate führten, wurde durch Kabinettsorder vom'21. 12. 1821 die Berliner Regierung aufgelöst. Die Kommunalaufsicht über die Residenz übernahm das Ministerium des Innern selbst, bis es sie durch K. O. vom 2. 8.1828 der Potsdamer Regierung überließ, die bis zu der großen Verwaltungsreform der siebziger Jahre die vorgesetzte Behörde Berlins blieb. Die besonderen Verhältnisse der Residenz mit ihren rund 200 000 Einwohnern verlangten irgendeinen Ersatz für das Verschwinden des für die praktische Verwaltung sehr bequemen Regierungsbezirkes. Es wurden daher durch eine Verfügung des Oberpräsidenten vom 27. 6. 182239 Grenzen festgesetzt, wie sie für die einzelnen staatlichen Verwaltungszweige passend erschienen. Der Mahl- und Schlachtsteuerbezirk ging auf der linken Spreeseite bis zum Landwehrgraben, auf der rechten zunächst längs der Spree, um von der Einmündung des Schönhauser Grabens an diesem nach Norden zu folgen, herüber zur Panke und dann bis an die Feldmarken der umliegenden Dörfer zu gehen und beim Oberbaum wieder die Spree zu erreichen. Die Polizeiverwaltung erstreckte sich bis an die Kreisgrenzen. Im Zweifelsfall sollte die Verpflichtung zur Zahlung des Landarmengeldes als Merkmal für die Zugehörig59

Veröffentlicht Amtsblatt der Potsdamer Regierung, Stüde 27 v. 5.7.1822.

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keit zum Landkreis gelten. Die Wahrnehmung der Sicherheitspolizei schließlich lag wie bisher auch innerhalb des weiteren Polizeibezirks in der Hand des Berliner Polizeipräsidenten. Die Initiative zu den folgenden Verhandlungen ergriff nicht das Ministerium, sondern der Oberpräsident v. Bassewitz, der als Chef der aufgelösten Berliner Regierung bereits die Dinge genau kennengelernt hatte. Bald nach Übernahme des neuen Amtes eröffnete er dem Bürgermeister v. Bärensprung40, daß er endlich den § 4 der Städteordnung durchzuführen wünsche und darüber einen Vorschlag der Stadt erwarte. Der Magistrat ließ sich durch die Ökonomiedeputation ein Gutachten ausarbeiten, das er in seiner Sitzung vom 15. 7. 1823 beriet. Er kam zu dem Entschluß, über die von der Deputation vorgeschlagene Grenzführung erheblich hinauszugehen, um auf dem rechten Ufer den Artillerieschießplatz, auf dem linken die Fasanerie — den späteren Zoologischen Garten — den Botanischen Garten als Bestandteil der Universität, die Etablissements und Kirchhöfe vor den Toren sowie die städtischen Wiesen und Heiden miteinzubeziehen. Es war ein Programm, auf das der Magistrat immer wieder zurückkam, das er freilich in seiner vollen Ausdehnung nicht immer festgehalten und auch nie erreicht hat. Denn nur in diesem ersten Stadium der Auseinandersetzungen konnte er sich des Einverständnisses mit den Stadtverordneten erfreuen. Bisher hatte der Magistrat allein die Verhandlungen geführt. Jetzt hielt er den Augenblick für gekommen, seine Stellung durch die Zustimmung der Stadtverordneten zu verstärken, die in diesen Jahren sich noch als das maßgebende städtische Kollegium fühlten, wenn auch im Ministerium des Innern schon eine ihren Ansprüchen ungünstigere Auffassung das Ubergewicht gewann41. Die Stadtverordneten erklärten sich sofort mit den Vorschlägen einverstanden, nach denen „die Grenzen möglichst weit hinaus zu rücken sein dürften". Wenige Tage darauf ging das Protokoll der Magistratssitzung vom 15.7. an den Oberpräsidenten ab. So eilig hatte der es freilich nicht. Er brauchte länger als ein halbes Jahr, ehe er die Potsdamer Regierung mit der Regulierung des Berliner Weichbildes beauftragte. Inzwischen hatte der Magistrat durch den Feldmesser 40

Friedrich Leopold v. Bärensprung, geb. 20. 8.1779 in Berlin, 1803 Referendar, 1809 Regierungsrat bei der kurmärk. Regierung mit dem Dienstsitz in Berlin, 1814 zum Bürgermeister gewählt, wiedergewählt 1826, Oberbürgermeister 1832 bis 1834, gest. 4. 7.1841. Über die Gründe, die zu seinem vorzeitigen Ausscheiden führten, vgl. Clauswitz, Städteordnung, S. 151. ff. 41

Vgl. über das Verhältnis des Magistrats zu den Stadtverordneten und über die Auffassung der Staatsregierung: Clauswitz, Städteordnung, S. 148 ff.

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Lampe ein Verzeichnis der Grundstücke und Etablissements anfertigen lassen, die nach seinem Vorschlag zur Stadt kommen sollten. Es umfaßte 769 Nummern; bei jeder einzelnen war angegeben, ob sie bisher zur Stadt oder zum platten Lande gerechnet worden war, oder ob darüber Zweifel bestanden. Unter die erste dieser Gruppen fielen 378, unter die zweite 156 und unter die dritte 235 Nummern. Es wurde dann eine Karte mit der „unstreitigen Grenze des jetzigen Weichbildes" in brauner Farbe der Regierung eingereicht. Aus dem beigefügten Protokoll über eine offenbar im Magistrat stattgefundene, im Entwurf von Bärensprung gezeichnete Besprechung vom 21. 4. ergibt sich aber, daß von einer unstreitigen Grenze an vielen Stellen kaum die Rede sein konnte. Nach verschiedenen Rückfragen und ergänzenden Antworten des Magistrats fand am 22. 12. 1824 eine Konferenz in der Regierung zu Potsdam statt, bei der Berlin durch Bärensprung und Langerhans, die beiden Kreise durch ihre Landräte und das Polizeipräsidium durch Geheimrat Patzig vertreten waren. Während zwischen der Stadt und Niederbarnim nur über Boxhagen, Rummelsburg und Stralau kein Einverständnis erzielt wurde, gingen die Ansprüche Berlins und des Kreises Teltow so stark auseinander, daß beschlossen wurde, hier zunächst alles beim alten zu lassen. Am Schluß der Konferenz kam die Frage zur Sprache, ob Berlin den Kreisen einen Ersatz für die ihnen verlorengehenden Einkünfte an Landarmengeld und Kriegssteuern gewähren müsse. Daß die früher durch den Landrat v. Pannwitz erhobene Forderung nach Ersatz für das Landarmengeld nicht berechtigt war, da Berlin ja die Armenpflege in den vom Kreise abzutretenden Gebieten übernehmen mußte, wurde allgemein anerkannt. Uber die Regelung der Kriegsschuldensteuer behielt sich Bärensprung noch nähere Vorschläge vor. Der Oberpräsident machte sich die Forderungen nach einem Ersatz für die entgehenden Kriegssteuerbeiträge zu eigen; er schlug vor, daß Berlin jährlich 772 Taler als Abfindung übernehme. Der Stadtverordnetenvorsteher, Kaufmann Junge, setzte darauf einen Gutachterausschuß aus den drei Stadtverordneten Kampffmeier, Possin und Dietrich ein42, für den Kampffmeier in der Stadtverordnetenversammlung vom 14. 7. 1825 Bericht erstattete. Er lehnte ebenso die Fortdauer der Kriegssteuerpflicht für die zu Berlin kommenden Grundstücke wie eine Entschädigung an die Kreise ab, weil Berlin durch die Eingemeindung keine Vorteile, sondern erhöhte Ausgaben haben würde. Es wäre daher besser, 42 Kampffmeier war Lederfabrikant, Possin Seidenwarenfabrikant, Dietrich Kaufmann.

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sich mit einem engeren Stadtgebiet zu begnügen, in dem die Kreise kein Steuerrecht besäßen43. Die Versammlung stimmte dem zu und blieb bei ihrer Ansicht trotz der abweichenden Stellungnahme des Magistrats, der die Vergrößerung und endgültige Regulierung des Weichbildes für unerläßlich hielt, auch wenn von ihr zunächst keine finanziellen Vorteile zu erwarten wären. Selbst die Übernahme der 772 Taler hielt er für tragbar, denn bei zunehmender Bebauung würde die Haus- und Mietsteuer einen Ersatz für diese Ausgabe bieten. Da auch der Oberpräsident für diese Lösung eintrat, schlug der Magistrat den Stadtverordneten die Einsetzung einer Gemischten Deputation vor. Die Versammlung lehnte zwar am 15.12. eine gemeinsame Beratung ab, da sie keinesfalls ihre früheren Beschlüsse rückgängig machen würde, ließ aber einige Monate später den Magistrat wissen, daß sie es „doch für angemessen gefunden" hätte, vier Stadtverordnete zur Beratung der Weichbildsfrage in einer Gemischten Deputation zu ernennen. Diesen Umschwung hatte der Stadtverordnete Hofrat Behrendt im Gegensatz zu dem Stadtverordnetenvorsteher Junge durchgedrückt. Am 20. 3. und am 18. 4.1826 tagte die Gemischte Deputation; sie besprach die neue Grenzführung, besonders die Ausdehnung über den Landwehrgraben hinaus. Da man mit der Schiffbarmachung des Grabens rechnete, schien es für Berlin wichtig zu sein, beide Ufer des künftigen Kanals zu besitzen, damit sich nicht auf einem dem Kreise verbliebenen Ufer Handel- und Gewerbetreibende ansiedeln und der Stadt Konkurrenz machen könnten. Die jährliche Ablösungszahlung für die Kriegssteuer wünschte Bärensprung durch eine einmalige Zahlung von etwa 10 000 Talern ersetzt zu sehen. Der Magistrat stimmte den Beschlüssen zu und unterbreitete am 5. Mai 1826 den Stadtverordneten eine von Bärensprung selbst entworfene Vorlage, die am 11.5. angenommen wurde. Die Stadt hatte das Ihrige getan, aber jetzt hatte der Oberpräsident Bedenken. Die 10 000 Taler hielt er für zu wenig — er berechnete die den Kreisen entgehende Kriegssteuer neuerdings auf jährlich 1192 Taler — und die Ausdehnung des Weichbildes auf dem linken Spreeufer für nicht genügend begründet. Es nützte den Stadtverordneten nichts, daß sie gerade auf diese das Hauptgewicht legten und daß der Magistrat sich ihnen anschloß. Der Oberpräsident wollte zunächst nur die Auseinandersetzung mit dem Kreise Niederbarnim durchführen und über diese vor43

St. A., „Aa. der Stadtverordneten betr. das Weichbild der Stadt"; Sect. I, Fach20 N r . 1. Künftig nur als Acta der Stadtverordneten zitiert. 17 Kaeber

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her den Provinziallandtag hören44. Der Landtag kam in diesem Jahre nicht mehr dazu, die Angelegenheit zu verhandeln. Sein 5. Ausschuß, dem sie zur Vorberatung überwiesen worden war, hatte sich für Beibehaltung der bestehenden Grenzen ausgesprochen. Bärensprung hielt darauf mit den Stadtverordneten eine Besprechung ab, um den Vertretern Berlins im Provinziallandtag, den Stadtverordneten Kampffmeier und Pietsch, für die kommende Tagung eine Instruktion mit auf den Weg zu geben. Ehe im nächsten Jahre die Vorlage an den Provinziallandtag wiederholt wurde, wünschte der Minister vom Oberpräsidenten die besonderen, von der „Einverleibung", wie man noch lange statt des heute gebräuchlichen „Eingemeindung" sagte, zu erwartenden Vorteile zu erfahren. Der Oberpräsident nannte als solche: geregeltere Ausübung der Polizei, besseres Schulwesen und Armenpflege, Aufnahme der Einwohner in die städtische Feuersozietät. Da der Landtag wieder zu keinem Beschluß kam, genehmigte der Minister die Einleitung von kommissarischen Verhandlungen unter der Leitung des Oberregierungsrats du Vigneau. Ehe sie aufgenommen wurden, sprach sich der Landrat v. Voss in einem Bericht an du Vigneau vom 26. 5. 1828 entschieden gegen die Einbeziehung des Gebietes westlich der Panke und des Schönhauser Grabens aus, der „noch heute" geltenden Grenze. Über die Heranziehung der Einwohner auf dem Wedding und der ehemaligen Kämmereiheide zu den städtischen Steuern kam es zu Streitigkeiten, bei denen Oberpräsident und Ministerium die Ansprüche des Magistrats abwiesen45. Der Minister erklärte ausdrücklich, die Kämmereiheide gehöre zum platten Land; das Gegenteil müsse der Magistrat besser als bisher nachweisen. Auf die Bestimmungen der Städteordnung berief er sich dabei ebensowenig wie der Oberpräsident. Diese Umstände erklären es, daß die Ökonomiedeputation am 2 6 . 1 1 . 1828 dem Magistrat empfahl, seinen Vorschlag über die Ausdehnung des Weichbildes zurückzunehmen. Berlin habe gar kein Interesse daran, in den armen Kolonien und Etablissements die der ländlichen überlegene städtische Armenpflege und Feuerpolizei einzuführen. D a man außerhalb der städtischen Verwaltung anscheinend das Gegenteil annehme und Berlin allerlei Verpflichtungen infolge der Eingemeindungen auferlegen wolle, sei es am besten, alles auf „höhere Bestimmung" ankommen zu lassen. Der Magistrat schloß sich dem an und bat den 44

Min. d. I. Regist. I V b, Stadt Berlin N r . 49, „Aa. betr. die Ermittlung und Fest-

stellung des Weichbildes der Stadt Berlin", Band I. 45

Min. d. I., Stadt Berlin N r . 36, Band I.

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Oberpräsidenten um die Festsetzung einer engeren Weichbildgrenze, „damit um so eher etwas zustande käme". Nachdem am 21. 1. 1829 und am 2. 4. Konferenzen mit du Vigneau stattgefunden, nachdem der Magistrat am 11.2.1829 beantragt hatte, wenigstens die Feldmark — damit wurde damals das Ackerland, die sogenannten Hufen, bezeichnet — als zweifelloses Stadtgebiet zu erklären, und nachdem der Oberpräsident dem zugestimmt hatte, erging am 11.5. 1829 das entscheidende Ministerialreskript: die Berliner Feldmark, die Weinbergsstücke und die „Neue Welt" sollten „auch ferner als zum Stadtgebiet gehörig" angesehen und behandelt werden. Aus diesen Worten ergibt sich, daß es sich um eine gesetzliche Sanktionierung des bestehenden Rechtszustandes handelte, der auf die Verhandlungen des Kreises mit dem Comite administratif zurückging. Noch deutlicher geht das aus dem Protokoll der Besprechung vom 2. 4. 1829 zwischen du Vigneau, Bärensprung und dem Landrat v. Voss hervor49. In ihr wurde festgestellt, daß die Zugehörigkeit der Feldmark und der Weinbergsstücke zum Weichbilde bisher nicht bezweifelt, dagegen das als Enklave innerhalb der Feldmark liegende Vorwerk Niederschönhausen bis jetzt nicht als zur Stadt gehörig angesehen worden war, und daß in diesem letzteren Punkte bei der Verhandlung vom 22.12. 1824 ein Irrtum unterlaufen war. Es ist deshalb nicht richtig, wenn Clauswitz (Pläne, S. 98) sagt: „Man sieht aus der nun erst vorgenommenen Einbeziehung der Weinbergstücke und der Hufen, daß tatsächlich bis dahin das anerkannte Stadtgebiet nach dieser Richtung hin kaum über die Mauer hinausreichte". Es handelt sich vielmehr nur darum, daß ein nicht bestrittener Rechtszustand ausdrücklich durch „höheren Ausspruch" öffentlich anerkannt wurde. Am 16. 6. regte der Oberpräsident an, auch das Vorwerk Niederschönhausen an die Stadt zu überweisen47. Man hatte es, wie erwähnt, in der kommissarischen Verhandlung vom 22. 12. 1824 zu dem unzweifelhaft städtischen Gebiet gerechnet; es hatte sich dann aber herausgestellt, daß zwar die Vorwerkgebäude seit langem bei der städtischen Feuersozietät versichert waren, und daß die Einwohner der vom Vorwerk abgezweigten Grundstücke „als städtische Einwohner zu allen Lasten herangezogen" wurden, daß aber das Vorwerk selbst nicht zur Stadt, freilich auch nicht zum platten Lande gehörte. Das lag daran, daß es im ganzen 18. Jahrhundert königlicher Besitz gewesen und erst 46

Abschriftlich in „Aa des Polizeipräsidiums zu Berlin betr. die Weichbildgren-

zen", Straßenpolizeisachen, N r . 190, Bd. I. 47

17*

Min. d. I., Stadt Berlin N r . 49, Band I.

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in jüngster Zeit in Privatbesitz übergegangen war. Es war daher überhaupt noch nicht zu Kommunalabgaben herangezogen worden. Diese höchst erfreuliche Situation hatte den Vorwerkbesitzer, den Amtmann Griebenow, den Wunsch aussprechen lassen, daß sein Vorwerk nicht mit Berlin verbunden würde. Der Dezernent des Ministeriums konnte sich dazu die ironische Randbemerkung nicht verkneifen: „darauf wird es bei der Entscheidung der Sache wohl nicht ankommen können!" Übrigens hatte Griebenow selbst nach „näherer Belehrung" seinen Widerstand aufgegeben und nur gebeten, daß er seine Jurisdiktion behalten und daß er nicht zu nachträglichen Steuerzahlungen gezwungen werden dürfe. Dagegen hatte der Oberpräsident keine Bedenken; schon am 26. 6 . 1 8 2 9 erging die Verfügung des Ministeriums, das Vorwerk sofort dem städtischen Weichbild zu überweisen48. Es folgte ein Antrag des Oberpräsidenten über die Zuweisung der Berliner Haus- und Kaufwiesen sowie einiger ganz von Berliner Gebiet umgebenen Stralauer Wiesen zum Berliner Weichbild. Dieser Antrag beruhte auf der Verhandlung vom 2. 4., in der v. Voss zugegeben hatte, daß für die Zugehörigkeit der Wiesen zum Kreise kein „spezielles Fundament" existiere. Ihre definitive Zuweisung zum städtischen Weichbild hatte v. Bärensprung besonders wegen der glatten Durchführung ihrer schon begonnenen Separation gewünscht. Am 8. 10. 1829 erging das entsprechende Ministerialreskript. In meist wörtlicher Anlehnung an das Schreiben des Oberpräsidenten wurde bestimmt, daß „die Berliner Hauswiesen und Kavelländer, welche vor dem Frankfurter Tor, ausgangs rechter Hand, zwischen der Stadtmauer, dem von der großen Chaussee ab nach Boxhagen führenden Wege, dem Markgrafendamm und der vom Oberbaum nach Stralau führenden Straße liegen, insgesamt als zum unzweifelhaften Stadtweichbilde gehörig anzusehen und zu behandeln sind. Auch genehmige ich, nach dem ferneren Antrage des städtischen Deputierten in der Versammlung vom 2. 4. er., daß die zwischen dem Stralauer Wege und der Spree bis zur Linie in Verlängerung des Markgrafendammes zur Spree belegenen, zu Stralauer Fischergütern gehörigen Wiesen ebenfalls sogleich dem städtischen Weichbilde, jedoch nur unter der Bedingung überwiesen werden, daß 48

Clauswitz' Bemerkung (Pläne, S. 98 f.), daß die Vorwerkländercien „eigentlich

sdion in den Hufen enthalten wären", trifft nicht den Kern der Sache. Das Vorwerk wurde, obgleich es ursprünglich aus Berliner Hufenstüdcen bestand, als landesherrlicher Besitz im 18. Jahrhundert nicht mehr als Teil des städtischen Territoriums betrachtet. Im übrigen vgl. über die Entstehung des Vorwerkes Kaeber: Die Gründung Berlins und Cöllns", S. 5 ff. dieses Bandes.

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der hiesige Magistrat auf die Zugehörigkeit einzelner Grundstücke jenseits des Markgrafendammes zur Stadt Verzicht leiste". Mit gutem Recht wurde also unterschieden zwischen den Berliner Wiesen, die als zum unzweifelhaften Weichbilde gehörig angesehen, und den Stralauer Ländereien, die dem Weichbild überwiesen werden sollten. Nur bei diesen handelte es sich eben um eine Erweiterung des Stadtbezirks. Mit dem Verzicht auf die kleinen Wiesen jenseits des Markgrafendammes waren Magistrat und Stadtverordnete einverstanden". Zuletzt wurden nach einem Antrage des Magistrats durch Verfügung vom 18. 5. 1832 einige Grundstücke zwischen Panke und Schönhauser Graben, westlich der Oranienburger Chaussee, zu Berlin gelegt. Der Kreis hatte keinen Anspruch auf sie erhoben. Eine erste Etappe auf dem Wege zur Regulierung des Berliner Weichbildes war erreicht. Das unbestrittene Gebiet der Stadt auf dem rechten Spreeufer war durch eine Reihe einzelner Verfügungen als Teil des Weichbildes anerkannt worden. Ein Verdienst daran gebührte dem Oberpräsidenten v. Bassewitz, der die Verhandlungen zunächst auf die weniger schwierigen zwischen Berlin und dem Kreise Niederbarnim beschränkt hatte. Nicht endgültig entschieden war das Schicksal des Weddings, des Gesundbrunnens und der beiden Moabits, der alten, auf dem Gelände des königlichen kleinen Tiergartens und der neuen, auf der parzellierten kleinen Kämmereiheide errichteten Kolonie. Der Magistrat war inzwischen zu der Ansicht gelangt, daß aus diesen Kolonien am besten selbständige Landgemeinden gebildet würden. Die Separation der Hufen und der Stadtheide hatte hier im Nordwesten Berlins zwar die Bebauung gefördert, aber gerade diese machte den Besitz viel weniger anziehend als früher. Der Landrat v. Voss stellte am 27. 2.1829 Berechnungen an über die bei einer Organisierung der Umgebung Berlins auf dem rechten Spreeufer zu ländlichen Gemeinden notwendigen Einrichtungskosten und über die zu erwartenden jährlichen Einkünfte dieser Gemeinden. Er stellte deshalb die Einwohnerzahlen, die Feuerstellen und den Klassensteuerertrag aller dieser Etablissements zusammen. Es ist ein wertvolles Material, das durch seinen Bericht an die Regierung vom 2. 6.1830 und durch einen Bericht seines Nachfolgers, 49 Veröffentlicht wurde die Entscheidung des Ministers vom 5 . 1 0 . 1829 erst erheblich später im Zusammenhang mit der Zuweisung einiger namentlich aufgeführter Grundstücke am Boxhagener Weg und an der Frankfurter Chausse zum Weichbild durch das Ministerialreskript vom 29. 9.1831. Inzwischen hatte Berlin den in der Verfügung vom 5. 10. 1829 auferlegten Verzicht geleistet. Eine „Erweiterung" des Weichbilds im eigentlichen Sinne bedeutete auch diese Verfügung nicht.

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des Grafen v. der Schulenburg, vom 2 0 . 1 1 . 1 8 3 2 nach verschiedenen Richtungen ergänzt wird 50 . Voss hatte von der Regierung den Auftrag erhalten, die Ansicht der Einwohner der Kolonien über die Bildung selbständiger Gemeinden einzuholen. Um zu einem brauchbaren Resultat zu kommen, hatte er nur die Vorsteher und „einsichtigeren" Einwohner vernommen. Dem Wunsche Altmoabits, der wohlhabenderen, abgeschlossenen Anlage, eine selbständige Gemeinde neben Neumoabit, der teilweise recht dürftigen und sich noch erweiternden Ansiedlung, zu bilden, stimmte der Landrat zu. Dagegen sprach er sich ebenso wie die Bewohner gegen die vom Magistrat vorgeschlagene Teilung des Weddings aus. Übrigens war alles davon überzeugt, daß die Kosten für eine ländliche Gemeindeverwaltung nicht aufzubringen sein würden. Schon jetzt waren die Steuereingänge ungenügend, die Reste bei der notorischen Dürftigkeit der Mehrzahl der Einwohner oft nicht aufzutreiben. Viele der Etablissements waren eben regellos entstanden, „so wie unter dem Einfluß der Nähe einer großen Stadt voreilige und mittellose Etablierungssucht sie hat hervorgehen lassen". D a auch eine städtische Haus- und Mietssteuer keine höheren Erträge versprach als die in ländlichen Gemeinden einzufordernden Abgaben, ließ sich aus den Steuerverhältnissen kein Schluß auf die zweckmäßigste Form der kommunalen Organisation dieser Siedlungen ziehen. Nach der Meinung des Landrats mußte deshalb von ihrem allgemeinen Charakter ausgegangen werden, der kein ländlicher war. „Nach Sitte, Gewerbs- und Lebensweise" waren diese Bewohner der Umgebung Berlins „Städter oder vielmehr Vorstädter", die sich wesentlich von den Bewohnern der Dörfer unterschieden, selbst wenn sie Gartenbau oder etwas Ackerbau trieben. Voss betrachtete daher, da seiner Ansicht nach die Bildung einer eigenen Stadt in der Nähe Berlins ausgeschlossen war, die „Anlehnung an eine größere, wohlorganisierte Korporation als unentbehrlich". Er fügte hinzu, daß auch die Stimmung der Einwohner im allgemeinen einer Einverleibung in das Berliner Weichbild günstig war. Zu dem gleichen Ergebnis kam 1832 Graf v. der Schulenburg. Auch er sah in der Mittellosigkeit dieser Vorstädter das Haupthindernis für eine selbständige kommunale Organisation. Welcher Unterschied in der Auffassung gegenüber einer gar nicht weit zurückliegenden Zeit! Jetzt wollte der Kreis diese Gebiete los50

St. A., „Aa. der Forst- und Ökonomiedeputation, Tiefbau, Stadtgrenzen

N r . 1".

ad

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werden und die Stadt sie mindestens zunächst nicht haben51. Die Regierung verfolgte ihren Plan der Bildung selbständiger Gemeinden noch längere Zeit weiter. Auf Grund eines Vorschlags der Forst- und Ökonomiedeputation vom 29. 7. 1835 trat der Magistrat dafür ein, aus den neu entstandenen Parochien St. Paul im Gesundbrunnen, Nazareth auf dem Wedding und St. Johann in Moabit je eine Gemeinde zu bilden. Die Regierung war Anfang 1836 dabei, die Ausführung ihres Planes vorzubereiten. Über die ziemlich komplizierten Eigentumsverhältnisse aller dieser Kolonien unterrichtet am besten ein Schreiben der Forstund Ökonomiedeputation vom 30. 10. 1835 an den neuen Landrat v. Massow. Schon im Frühjahr 1829, als noch die Regulierung des Weichbildes auf der Niederbarnimer Seite im Vordergrund stand, hatte der Minister den Oberpräsidenten ersucht, die Verhandlungen auch auf das linke Spreeufer auszudehnen. Unzuträglichkeiten, die sich bei der Ausübung der Baupolizei durch die Zugehörigkeit der Etablissements vor dem Halleschen Tore zum platten Lande ergeben hatten, konnte freilich durch die Erweiterung des engeren Berliner Polizeibezirks abgeholfen werden, mit der sich der Minister am 3. 7. 1830 einverstanden erklärte. Er bemerkte gleichzeitig, daß er gegen die Vereinigung der Ansiedlungen zwischen Kreuzberg und Potsdamer Tor mit der Stadt Berlin nichts einzuwenden habe, zumal das städtische Weichbild künftig die Grenze des engeren Polizeibezirks bilden solle52. Der Oberpräsident trat deshalb am 11. 9. 1830 an den Magistrat mit der Anfrage heran, ob nicht auch die Stadt eine Vereinigung dieser Grundstücke mit Berlin gegen Entschädigung der Provinz für die ausfallenden Kriegssteuerbeiträge für zweckmäßig halte? Der Magistrat, wieder einem von Langerhans verfaßten Gutachten folgend, schlug den Stadtverordneten die Erweiterung des Weichbildes über den Landwehrgraben hinaus in dem gleichen Um51 Nach einem Bericht der Potsdamer Regierung an den Minister des Innern vom 30. 3. 1836 hatte der Magistrat die Zusammenfassung der verschiedenen Ansiedlungen zu Landgemeinden gewünscht, um dadurch spätere Verhandlungen über eine Eingemeindung zu erleichtern. Min. d. I. Stadt Berlin Nr. 36, Bd. I. Daß die Stadtverordneten jetzt einer Ausdehnung des Weichbildes auf dem rechten Spreeufer ganz ablehnend gegenüberstanden, zeigen die folgenden Ausführungen. 52 Min. d. I. Stadt Berlin Nr. 49, Band I. Eine entsprechende Bekanntmachung des Oberpräsidenten vom 7 . 7 . 1 8 3 0 wegen der Grenzen des engeren und des weiteren Polizeibezirks wurde im Amtsblatt der Regierung und in den Berliner Zeitungen veröffentlicht. Eine neue Ausdehnung erfuhr der eng. Pol.-Bezirk durch eine Bekanntmachung vom 24. 8. 1831. Vgl. auch Aa. des Pol.-Präs., Straßenpolizeisachen Nr. 190 Bd. I. u. II.

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fange vor, wie er von ihnen am 11. 5.1826 beschlossen worden war53. Die Stadtverordneten aber lehnten die Vorlage ab, da sie wünschten, „unter den veränderten Verhältnissen die Weichbildgrenze so wenig wie möglich hinausgerückt zu sehen", und da die städtischen Finanzen eine Steuerentschädigung nicht zuließen. Im Oktober 1832 gab ein Antrag des Stadtverordneten Dietrich über die Weichbildfrage — sein Wortlaut wird in den Akten nicht mitgeteilt — dem Stadtverordnetenvorsteher Desselmann54 den Anlaß, Dietrich und vier weitere Stadtverordnete, unter ihnen Kampffmeier, zu Berichterstattern zu ernennen. Diese gingen in ihrer Besprechung am 6. 12. davon aus, daß die Stadtverordneten stets für ein möglichst enges Weichbild eingetreten waren, hielten aber eine baldige endgültige Festsetzung für notwendig, um den vielen aus der herrschenden Unsicherheit entspringenden Rechtsstreitigkeiten ein Ende zu bereiten. Als besten Weg dazu betrachteten sie ein Immediatgesuch an den König. Die Stadtverordnetenversammlung stimmte bei und übermittelte den Wunsch dem Magistrat. Dabei blieb es indessen. In den nächsten Jahren nahm die Abneigung der meisten Stadtverordneten gegen jede Weichbildvergrößerung noch zu. Sie konnten sich nicht einmal entschließen, der nach und nach festgesetzten Weichbildgrenze auf dem rechten Spreeufer ausdrücklich zuzustimmen. In den Debatten der zu Berichterstattern ernannten Stadtverordneten konnte Kampffmeier unter Zustimmung von zwei seiner Kollegen erklären, es sei ganz gleichgültig, ob städtisches Grundeigentum zum Weichbild oder zu einem Kreisverband gehöre. Man hätte lieber alles beim alten lassen sollen. Nur die Idee eines abgerundeten Weichbildes, „wozu noch die Vergrößerungsidee kam", habe der Stadt die verlustreiche Erweiterung ihres Gebietes gebracht! Am 20. 3.1834 beantragten die Stadtverordneten, die Grenze möge, wenn möglidi, durch die Stadtmauer gebildet werden. Diesem kleinlichen Pessimismus gegenüber den der Stadtverwaltung in ihrem Gebiet außerhalb der Mauern erwachsenden Aufgaben trat der Magistrat ebenso entgegen, wie einer von den Stadtverordneten gewünschten, ganz zwecklosen Befragung der Bewohner der zum Stadtbezirk gekommenen Grundstücke. Da der Oberpräsident in einem Erlaß vom 3.11.1832 den Landwehrgraben als Grenze in der Gegend des Potsdamer Tores bezeichnet und die Regierung in einer Verfügung vom 9.10. 1832 ihn ganz allein als 63

Siehe oben S. 257. Er hatte das einflußreiche Amt von 1828—44 inne. Von Beruf Posamentiermeister, war er später als Rentier nur für die öffentlichen Interessen tätig. 54

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maßgebend hatte gelten lassen, während in einem späteren Erlaß vom 27. 9.1833 der Oberpräsident wieder Bedenken getragen hatte, den Landwehrgraben offiziell als Grenze Berlins gegen den Kreis Teltow festzusetzen, beantragte der Magistrat am 18. 2.1836 bei der Regierung, hier endlich eine feste Grenze zu bestimmen. Die Regierung verfolgte zwar damals den Plan, auch die auf dem linken Ufer entstandenen Ansiedlungen zunächst zu Gemeinden zusammen zu fassen, ernannte aber doch den Regierungsrat ölrichs zum Kommissar für die Verhandlungen zwischen Magistrat und Landrat. Nachdem die dazu notwendige Karte mit dem bisherigen Grenzzug endlich fertig geworden war, fand am 10. 2. 1838 eine Besprechung statt, ölrichs berichtete über sie erst am 20. Juli, weil der Magistrat wegen der ablehnenden Haltung der Stadtverordneten bisher zu einer Erklärung nicht zu bewegen war55. Das Ziel der Konferenz war ein doppeltes gewesen. Es sollten die Weichbildgrenzen nach dem augenblicklichen Zustand ermittelt, und es sollte festgestellt werden, wo sie etwa aus Zweckmäßigkeitsgründen zu erweitern wären. Die scheinbar so einfache Klarstellung der bestehenden rechtlichen Verhältnisse erwies sich als sehr schwierig. Aus den üblichen Merkmalen — bisherige Ausübung der ortsobrigkeitlichen Rechte, hypothekarische Verhältnisse u. dergl. — konnte die Entscheidung wegen des in dieser Gegend „stattgefundenen willkürlichen Verfahrens" nicht entnommen werden. Es blieb daher nach ölrichs Auffassung nur die Annahme übrig, daß Grundstücke zwischen der Stadtmauer und den benachbarten Dorffeldmarken zum Weichbild der Stadt gehörten, wenn sie „in den älteren Karten der Magistratsregistratur als städtische verzeichnet" waren und das Gegenteil nicht nachgewiesen wurde. Nach diesem Prinzip hatte der Magistrat unter Zugrundelegung der „Spaltholzschen" Karte von 174656 jene Karte herstellen lassen, die erst nach zahlreichen Mahnungen an den damit beauftragten Beamten fertig geworden war und den Zusammentritt der Konferenz verzögert hatte. Dafür wurde sie nun von allen Teilen als richtig anerkannt. Die Weigerung des Fürsten von Schönberg57, seine gutsherrlichen Rechte über die Siedlungen vor dem Halleschen Tore 55

Stadtgrenzen, Band IV. Diese Karte ist leider weder im Stadtarchiv noch in der städt. Plankammer vorhanden. Die Preuß. Staatsbibliothek besitzt eine „Carte von der Feldmark Riecksdorf", aufgenommen 1738 durch S. Spaldeholtz, von dem zweifellos auch die verlorene Karte von 1746 herrührte, im Verhältnis von etwa 1 : 5000 (Sign.: Kreis Teltow Nr. 43). 57 Otto Hermann Fürst v. Schönberg, seit 1816 Besitzer von Tempelhof; vgl. C. Brecht, Das Dorf Tempelhof ( = Sehr. V. G. Berlins, H . 15), Berlin 1878, S. 118. 59

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abzutreten, und die Absicht der Bildung selbständiger Gemeinden gaben indessen dem Magistrat den Anlaß zu dem Antrag, es beim status quo, d. h. beim Landwehrgraben als Grenze zu belassen, zumal die erwähnten Verfügungen der Regierung und des Oberpräsidenten von 1832 und mehrere Kammergerichtsurteile von 1834 diese Grenze anerkannt hatten. Damit konnte sich ölrichs nicht befreunden. Er erklärte, die Verfügung des Oberpräsidenten erstrecke sich nur auf die Gegend des Potsdamer Tores und die der Regierung beruhe auf einem Irrtum. Gerade die eigentümliche Grenzführung der Spaltholzschen Karte bestärkte ihn in der Annahme, daß alle in der Nähe der Stadt liegenden Grundstücke der Kämmerei oder einzelner Bürger, also auch die Cöllnische Heide und die Bürgerwiesen, zum Stadtbezirk gehörten. Die zweite Aufgabe der Konferenz erschien ölrichs noch nicht als lösbar. Immerhin trat er dafür ein, den Gemeindebezirk größerer Städte nicht zu sehr zu beschränken, da die Bewohner ihrer nächsten Umgebungen in der Regel durch Bildung und Lebensart die persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Teilnahme an einer städtischen Verfassung erfüllten. Vorbedingung für eine solche Erweiterung war indessen, daß die Grenze der Stadt überhaupt feststand. Bei Berlin war das um so dringender, als eine Reihe von Streitigkeiten über Steuerfragen und über die Aufnahme von Grundstücken in die städtische Feuersozietät nur dadurch aus dem Wege zu schaffen waren. Die Regierung schloß sich ölrichs an, wenn sie auch den „streng rechtlichen Beweis" für die von ihm vorgeschlagene Grenzbestimmung vermißte. Sie gab zu, daß ein solcher Beweis in der Tat kaum möglich sei. Inzwischen hatten Magistrat und Stadtverordnete zu der Besprechung vom 10. 2. Stellung genommen. Der Magistrat ließ sich durch Langerhans ein Promemoria ausarbeiten, nach dem zum Weichbild außer dem schon zur Stadt gehörigen Gebiet kleinere Erweiterungen vor dem Potsdamer und Halleschen Tor mit Rücksicht auf die dort vorgeschrittene Bebauung kommen sollten. Unter dem zur Stadt gehörigen Gebiet verstanden Langerhans und der Magistrat die Kämmereiwiesen, aber nicht die Cöllnische Heide. Die Stadtverordneten lehnten alles ab. Dieser Beschluß mußte um so mehr überraschen, als die zu Gutachtern bestimmten Stadtverordneten Blesson58, Laspeyres, Radicke und Sametzky 59 58

Johann Ludwig Urbain Blesson, geb. 27. 5. 1790 in Berlin, 1810 in Schlesien im

Berg- und Hüttendienst, 1813 Freiwilliger und Festungsingenieur, 1814 Leutnant, 1829 Abschied als Major; fruchtbarer Militärschriftsteller; Kommandeur; gest. 20. 1 . 1 8 6 1 ; vgl. A D B II, 704 ff.

1848 zeitweilig

Bürgerwehr-

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sich f ü r die Vorlage des Magistrats ausgesprochen hatten, ja sie noch ein wenig durch die Einbeziehung der Kirchhöfe an der Hasenheide erweitern wollten. Es wurden dann, da der Magistrat eine Begründung der ablehnenden Stellungnahme erbat, wieder Gutachter ernannt; zu Blesson, Laspeyres, Radicke traten Krebs, Graefe, Samuel Benda 60 . Offenbar war Blesson der führende Kopf der Majorität. Er hatte die Gutachten vom 8. und 18. 3. niedergeschrieben und am 29. noch einmal ausführlich seine Ansicht auseinandergesetzt. Da wir aus dieser Zeit keine Sitzungsberichte der Stadtverordnetenversammlung besitzen, weil diese bis 1847 nicht öffentlich tagte, lassen sich nur selten die Beweggründe für ihre Beschlüsse erkennen. Hier bietet sich einmal die Möglichkeit dazu. Es wird daher gerechtfertigt sein, auf die Motive der in dieser immerhin wichtigen Frage bestellten Gutachter einzugehen. Nach Blessons Gutachten vom 29. 3. operierten die Gegner vor allem mit den Kosten, die aus den einer Weichbilderweiterung folgenden Straßenbauten entstehen würden. Demgegenüber betonte er, daß solche Kosten doch erst aufzuwenden sein würden, wenn die städtische Bebauung sich entsprechend ausdehne, denn Weichbild sei noch lange nicht Stadtgebiet. Da, wo Bebauung einsetze, entständen aber auch Einnahmen. Die von den Gegnern gefürchtete hohe Belastung der städtischen Feuersozietät würde durch die Beiträge der Neubauten ausgeglichen werden. Wenn wirklich, wie die Majorität der Versammlung im Gegensatz zu den Gutachtern meinte, „dies Land so gefährlich" sei, dann würde jenseits des Landwehrgrabens eben eine andere Stadt, ein neues Cölln entstehen. Blesson lag besonders die Eingemeindung der Kirchhöfe am Herzen, damit die Berliner Bürger auf Berliner Boden ruhen könnten und ihre Gräber vor Schädigungen sicher seien. Er protestierte dagegen, „aus öder, mißverstandener Pfennigfuchserei . . . die Möglichkeit der Vergrößerung absichtlich zu bekämpfen, die Möglichkeit von Hader und Zwist einer ferneren Z u k u n f t vorzubereiten und unsere Toten aus unserem Boden zu weisen". Diesem Gutachten stimmte Krebs zu. Graefe, der an der Sitzung vom 18. 3. nicht teilnahm, verfaßte am 14. 4. ein Gutachten, das ebenfalls f ü r eine erweiterte Grenze eintrat. Den sonstigen Gründen fügte er hinzu, daß bei der Anlage der Eisenbahnen bedeutende Bauten zwischen dem Halleschen und Potsdamer Tor und damit erhebliche Ein59 Laspeyres war Kaufmann, Radicke Maurermeister, Sametzky Ratszimmermeister. 60 Krebs war Bäckermeister, Graefe Kaufmann, Benda Rentier; dieser, geb. 22. 4. 1786, wurde 1844 zum unbesold. Stadtrat gewählt, schied aber bald wieder aus; schrieb öfter für die Spenersche Zeitung.

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nahmen für die Stadt bei der Eingemeindung dieser Gegend zu erwarten seien. Ein zweites Vogtland würde hier gewiß nicht entstehen. Die Majorität war unter den Gutachtern nur durch Benda vertreten. Er berief sich auf den „zehnmal" wiederholten Beschluß der Stadtverordneten und auf die Gutachten so ausgezeichneter früherer Mitglieder wie Possin und Kampffmeier. Auf vier Seiten verteidigte er die Gründe der seit 1826 in der Stadtverordnetenversammlung zum Siege gelangten Ansicht, das Weichbild möglichst eng zu halten. Hätte diese Ansicht früher gesiegt, dann wäre daraus „physisch und moralisch unberechenbarer Vorteil entstanden". Von den geschichtlich bewiesenen Nachteilen „eines ins unermeßliche erweiterten Gebietes" abgesehen, mache schon die Armenverwaltung jede Weichbilderweiterung unmöglich. Schon jetzt seien in den Außenbezirken keine geeigneten Armendeputierten oder gar Vorsteher zu finden. Nach Berlin aber dränge vom flachen Lande und aus den kleinen Städten ein Heer von Armen. Ungeheuer sei auch der Andrang zu den Berliner Freischulen. In 17 Jahren sei ihr Besuch von 1000 auf 13 000 gestiegen. — Laspeyres schließlich meinte, man solle der Regierung die Festsetzung der Grenze überlassen, dann habe man „immer das Reiht zu schreien"! Ob eine von der Stadt selbst vorgeschlagene Grenze sich nach 50 oder 100 Jahren als Vorteil oder Schaden erweisen würde, könne niemand sagen. Das Plenum der Versammlung folgte den beschwörenden Worten Bendas und hielt an dem „vielmaligen weisheitsvollen Beschluß" fest. Sie begründete ihn dem Magistrat gegenüber in Bendas Gedankengängen. Am liebsten hätte sie noch jetzt eine Verkleinerung Berlins auf das von den Mauern umschlossene Gebiet gesehen. Dem Magistrat machten diese Einwendungen so viel Eindruck, daß er die von der Regierung verlangte Erklärung über die Stellungnahme Berlins zu der Besprechung vom 10.2. weiter hinaus schob, um ein Einverständnis mit den Stadtverordneten zu erzielen. Er bestritt nur in einem vorläufigen Bericht vom 2. 7.1838, daß die Cöllnische Heide je zum städtischen Weichbild gehört habe und wies darauf hin, daß auch die Kämmereiheide vor dem Oranienburger Tor im Kreise Niederbarnim liege, obgleich sie städtischer Besitz sei. Die Regierung war über die Verzögerung einer festen Stellungnahme der städtischen Behörden so ungehalten, daß sie den Magistrat in eine Ordnungsstrafe von 5 Talern nahm. Der ließ sich das nicht gefallen. Er wandte sich unmittelbar an den Minister des Innern, Graf Arnim. Der Minister, dem diese Wendung sehr unwillkommen war, legte der Regierung vergeblich nahe, die Ordnungsstrafe niederzuschlagen. Schließlich „autorisierte" Graf Arnim am 31.12.1838 die Regierung zur Niederschlagung

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und setzte eigenhändig dem Entwurf der Verfügung den Satz hinzu: „ich finde mich hierzu insbesondere auch durch die Erwägung bewogen, daß Ordnungsstrafen überhaupt ein Disziplinarmittel sind, welches nur mit großer Vorsicht gegen höher gestellte Beamte angewendet werden darf, indem solche kleine Geldstrafen sehr leicht zur Abstumpfung des Ehrgefühls führen, dessen Belebung doch vielmehr das Hauptaugenmerk jeder Dienstdisziplin sein muß. Ich wünsche daher, daß die Kgl. Regierung diesen Gesichtspunkt bei künftigen ähnlichen Fällen beachten mag". Damit war die unerfreuliche Sache, die immerhin einen interessanten Beitrag zu der Praxis und den Anschauungen der preußischen Staatsverwaltung unter Friedrich Wilhelm I I I . bietet, erledigt. Die Regierung — ihr Referent war der energische ölrichs — gab in einem Schlußbericht an den Minister zu, daß ihr ein solches Disziplinarmittel gegenüber dem Berliner Magistrat „bei dem Umfang seines amtlichen Wirkungskreises und der Persönlichkeit der Mitglieder des Collegii" selbst unangenehm gewesen sei. Aber sie glaubte, bei der Saumseligkeit der Unterbehörden in der Erstattung von Berichten ohne strenge Disziplinarmittel nicht für einen regelmäßigen Geschäftsgang einstehen zu können. Der unbefangene Beobachter wird sich indessen nicht des Eindrucks erwehren, daß die ablehnende Haltung der städtischen Körperschaften gegenüber den von dem Kommissar der Regierung gemachten Vorschlägen nicht ohne Einfluß auf ihr Vorgehen gegen den Magistrat geblieben ist. Am 5. 9 . 1 8 3 8 hatte sich der Magistrat in einem Bericht an den Oberpräsidenten gegen die von ölrichs geforderte Grenzziehung ausgesprochen, die völlig neue Verhältnisse schaffen würde. Da der Minister gleichzeitig eine vorläufige Grenzbestimmung ablehnte, ja überhaupt die Notwendigkeit einer allgemeinen Grenzfestsetzung bezweifelte, wäre die Angelegenheit ohne die Energie der Regierung im Sande verlaufen. Sie ordnete nach Ablauf eines Jahres neue kommissarische Verhandlungen an, auf die sich die Stadt\ durch eine Sitzung der Ökonomiedeputation vorbereitete, zu der mehrere Stadtverordnete und der Stadtrat Pieper hinzugezogen wurden. In ihr wurde das Langerhanssche weitergehende Projekt abgelehnt und der Landwehrgraben bis zum H o f jäger-Etablissement als Grenze angenommen; weiter sollte sie dann durch die Tiergarten- und Lennestraße führen und auf die Stadtmauer stoßen. Magistrat und Stadtverordnete stimmten dem zu. Am 4 . 1 2 . 1 8 3 9 fand die große Verhandlung zwischen ölrichs, Albrecht, Langerhans, Stadtrat Lencke61, den Stadtverordneten Benda und Steinmeyer, dem Rentmeister 61

J o h . Heinx. Lencke, geb. 1 9 . 1 0 . 1776, Brauer, 1820 Stadtverordneter, 1 8 2 9 — 4 7

unbesoldeter Stadtrat.

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Krack als Vertreter des Domänenfiskus und Deputierten von Charlottenburg, Schöneberg, Tempelhof, Rixdorf und Britz statt. Das Ergebnis stand im schroffen Gegensatz zu dem der Besprechung vom 10. 2. 1838. Berlins Behauptung, daß die Cöllnische Heide, die 1435 zugleich mit Rixdorf und Marienfelde angekauft worden sei, nicht zum Weichbild gehöre und daß der Magistrat in ihr die Polizeijurisdiktion nur als ländliche Ortsobrigkeit besitze, wurde anerkannt 62 . Dieser Rechtszustand hatte schon darin seinen Ausdruck gefunden, daß die Heide neuerdings in das ländliche Hypothekenbuch übertragen worden war, und daß die auf Heidegrund erbauten Mühlen Kriegssteuer und Landarmengeld bezahlten. Die städtischen und die Erbzins- und Zeitpachtwiesen waren nach Angabe des Magistrats ursprünglich ein Teil der Heide gewesen, aber zu Anfang des 17. Jahrhunderts oder früher urbar gemacht und zum Teil an Berliner Bürger verteilt worden; daher wären sie entweder zu den einzelnen Häusern in das städtische Hypothekenbuch oder in das Hypothekenbuch von den Umgebungen Berlins aufgenommen worden. Da sie nicht bebaut waren, war ihre Zugehörigkeit zu einem Kommunalverband weder durch steuerliche noch durch polizeiliche Vorgänge beweisbar. Auch gegen diese Ausführungen der Berliner Deputierten wurden keine Einwendungen erhoben. Es wurde dann die Grenze im einzelnen festgesetzt. Sie sollte mit ganz geringen Ausnahmen durch den Landwehrgraben gebildet werden. Der Tiergarten mit allen seinen Etablissements blieb außerhalb des Weichbildes. Unmittelbar im Anschluß an die Konferenz fanden die vorgesehenen Verhandlungen mit einigen Grundbesitzern vor den Toren statt, die sich darüber erklären sollten, ob sie zur Stadt oder zum platten Lande kommen wollten. Die meisten zogen Kreisangehörigkeit vor. Noch war der Plan, aus den Ansiedlungen in der Hasenheide, auf dem Tempelhofer Unterland und auf Schöneberger Grund und Boden selbständige Gemeinden zu bilden, nicht aufgegeben. Der Oberpräsident hielt daher „eine interimistische allgemeine Festsetzung der Grenze" des Berliner Weichbildes auf dem linken Spreeufer für notwendig. Der Minister entschied, diese einfache Grenzregulierung könne durch die Regierung erledigt werden. Diese genehmigte den Inhalt der Verhandlungen vom 4. bis 6.12. 1839 und beauftragte den Magistrat, darüber einen von allen Interessenten zu unterzeichnenden Rezeß anzufertigen. 62

Vgl. aber dazu Clauswitz, Pläne, S. 82 ff. Er rechnet die Heide zwar nidit des Vertrages vom Jahre 1435 wegen, aber infolge des Auseinandersetzungsvertrages von 1543 zwischen Berlin und Cölln zum städtischen Weichbild, und für diese Zeit gewiß mit Recht.

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Am 21. 6. 1841 wurde der Rezeß von der Regierung unterschrieben und das Orginal mit der dazugehörigen Karte dem Magistrat zur Aufbewahrung zurückgegeben. Die Stadtverordneten hatten ihren Willen durchgesetzt.

3. Die große Eingemeindung

des Jahres

1860

Sehr viel anders lief die Aktion aus, die wenige Jahre später durch die Regierung begonnen wurde, um nach mehr als anderthalb J a h r zehnten durch die Eingemeindung des Jahres 1860 ihren Abschluß zu finden. Am 9 . 3 . 1 8 4 3 regte die Regierung die Eingemeindung von Moabit und Wedding an. Den unmittelbaren Anlaß dazu hatte das Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege vom 31. 12. 1842 gegeben, dessen § 5 besagte: „Gutsherrschaften, deren Güter nicht im Gemeindeverbande sich befinden, sind zur Fürsorge für die im Gutsbezirk befindlichen Armen in gleicher Weise wie die Gemeinden verpflichtet 63 ." Die Regierung stellte dem Magistrat vor, daß er als Gutsherrschaft schon jetzt die Armenfürsorge in Moabit und Wedding ausüben müsse und daß ihm auch die Bildung selbständiger Gemeinden aus diesen Gebieten nicht viel helfen würde. Denn in solchen Fällen wäre die Grundherrschaft zu einer Dotation an die neue Gemeinde verpflichtet, die bei Berlin sehr reichlich bemessen werden würde. Eine Eingemeindung würde daher im Interesse der Stadt liegen. Bei dieser Ansicht blieb die Regierung, obgleich die Ökonomiedeputation wie der Magistrat die Bildung selbständiger Gemeinden vorzogen. Sie dehnte ihren Plan bald auch auf die Schifferstraße, die heutige Roonstraße, aus, für deren Eingemeindung sich das Hausministerium interessierte, das den königlichen Holzplatz in dieser Straße verkaufen wollte, und darüber hinaus auf das linke Spreeufer, auf dem sie bisher selbständige Gemeinden hatte organisieren wollen. D a die bevorstehende Schiffbarmachung des Landwehrgrabens 64 ohnehin Grenzänderungen im Gefolge haben mußte, sprach sich die Regierung dafür aus, bei dieser Gelegenheit die ganz unnatürlichen kommunalen Beziehungen der Bewohner dieser ihrem Wesen nach städtischen Ansiedlungen zum platten Lande zu beseitigen. Und als nun im gleichen Jahre Hausministerium und Ministerium des Innern die Bebauung und Eingemeindung des staatlichen Terrains vor dem Unter-

"

Gesetzsammlung 1843, S. 8.

®4 Sie erfolgte von 1 8 4 5 — 1 8 5 0 . Der Graben wird daher in der folgenden Zeit als. Kanal bezeichnet.

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bäum in der Gegend der ehemaligen Pulvermühlen betrieben85, stand die Stadt vor einer Fülle schwerwiegender Probleme. In einer Konferenz vom 23.7.1845, an der Vertreter des Ministeriums des Innern, des Hausministeriums, der Ministerialbaukommission, der Polizeipräsident mit zwei seiner Beamten, die Stadträte Pieper und Risch86 und die Stadtverordneten Seidel, Guillemot und Holfelder 87 teilnahmen, wurde der Eingemeindung des Pulvermühlenterrains allgemein zugestimmt. Die Vertreter Berlins machten indessen Vorbehalte wegen Übernahme der Kosten für Brückenbauten und Straßenpflasterung. Die Stadtverordnetenversammlung verlangte in ihren Sitzungen vom 8.12. 1845 und 26.1.1846 die Verbindung der verschiedenen Eingemeindungsprojekte und stellte außerdem die Bedingung auf, daß die Übernahme des Pulvermühlenterrains erst dann erfolgen dürfe, „wenn sich durch eine besondere Rechnungsführung herausstellen wird, daß die der Stadt für denselben (d. h. den neuen Stadtteil) entstehenden Ausgaben mit den aus demselben erwachsenden Einnahmen balancieren"; die Anlegung und Unterhaltung des Straßenpflasters müsse der Fiskus für alle Zeiten übernehmen; ob die Straßen durch Gas oder ö l zu beleuchten seien, dürfe nur von der Entscheidung der Stadt, nicht des Polizeipräsidenten abhängen. Diese Forderungen, einer überängstlichen Finanzpolitik entsprungen, waren natürlich nicht aufrechtzuerhalten. Was dagegen auch der Magistrat vertreten zu können glaubte, ergab sich aus einer Besprechung vom 20. 4. 1846 zwischen dem Bürgermeister Naunyn 89 , dem Stadtrat Duncker80 und den Stadtverordneten Seidel, Guillemot, Straß, 65

Das Pulvermühlenterrain lag östlich von Moabit, etwa zwischen dem jetzigen Bahnhof Puttlitzstraße und dem Lehrterbahnhof. 68 O t t o Theodor Risdi, geb. 5. 5. 1809 in Magdeburg, Abiturium und rechts- und staats wissenschaf tl. Studium in Berlin. 1834 Referendar, 1838 Assessor; besoldeter Stadtrat 1839—72. Verdient um das Gewerbewesen und später um die großen Straßendurchbrüche; gest. 27. 5. 1874. 67 Amtmann Gustav Seidel war 1848—50 Stadtverordnetenvorsteher, dann Stellvertreter; Guillemot war Destillateur, Holfelder Kaufmann. 68 Franz Christian N a u n y n , geb. '29.9. 1798 in Drengfurt i. Pr., gest. 3 0 . 4 . 1860 in Berlin; studiert Jura, 1831 Justiziar bei der Generalkommission in Gumbinnen, 1838 bei der Niederschles.-Märk. Eisenbahn; Bürgermeister 1844—60. Für seine Persönlichkeit vgl. B. N a u n y n , Erinnerungen, Gedanken und Meinungen, München 1925, S. 25 u. 28 ff. 69 Hermann Carl Rud. Duncker, geb. 5. 1. 1817 in Berlin als Sohn des bekannten Buchhändlers Karl D., Abiturium und Studium in Berlin, 1839 Referendar, 1841 Assessor, 1842 bei der Generalkommission, dann bei der Regierung in Posen; 1846—60 besoldeter Stadtrat, 1860—72 Stadtsyndikus, 1872—91 Bürgermeister von Berlin; gest. 1 2 . 1 2 . 1 8 9 3 .

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Holfelder und Krebs. Das einzugemeindende Gebiet sollte die schon städtisch bebaute oder in nächster Zukunft der städtischen Bebauung zu erschließende Umgebung Berlins umfassen. Nach einem Zusatz von Langerhans zu dem Protokoll bedeutete dies den „ganzen Tractus zwischen der Oberspree und der Unterspree", einschließlich der Hasenheide, der Schöneberger Ländereien bis an die Grenze von Neuschöneberg und des Tiergartens. Die Herausnahme nur eines der vorgeschlagenen Gebiete wurde abgelehnt. Für die Eingemeindung sollten folgende Grundsätze maßgebend sein: 1. An die Stelle der ländlichen Klassensteuer tritt die städtische Mahlund Schlachtsteuer. Die Abgaben der Einwohner an Kreis oder Provinz fallen fort; an ihre Stelle treten die städtischen Steuern. 2. Abgesehen von der Armenpflege nehmen die neuen Stadtteile in einer Ubergangszeit nur in beschränktem, ihren finanziellen Leistungen entsprechendem Maße an den städtischen Einrichtungen wie Pflasterung und Beleuchtung der Straßen teil, ohne daß eine freiwillige, darüber hinausgehende Fürsorge der Stadt ausgeschlossen sein soll. 3. Die ersten Pflasterungskosten haben die Anlieger, auf dem fiskalischen Exerzierplatzterrain der Staat zu tragen. Sache des Fiskus bleibt die Anlage und Unterhaltung der Spreebrücken und Uferschälungen sowie, nach einem Zusatz von Langerhans, der Entwässerungsanlagen. 4. Die Jurisdiktion geht überall auf das Berliner Stadtgericht über. 5. Bei der Anlage neuer Parochien kann die Stadt nach ihrem Belieben das Patronat übernehmen oder ablehnen70. Mit dieser Marschroute gingen die städtischen Deputierten in eine Besprechung mit Vertretern der Regierung, des Polizeipräsidenten, der staatlichen Bau- und Domänenverwaltung und des Kreises Teltow. Da die Konferenz sich nur mit den Ansiedlungen vor dem Halleschen und Kottbusischen Tore beschäftigen sollte, erklärten die Vertreter Berlins, daß für sie nur eine allgemeine Eingemeindung in Frage käme. Uber ihre Grundsätze, denen der Magistrat am 7. Juli zustimmte, wurde zwar nur eine teilweise Verständigung erzielt, doch bedeutete das Ergebnis der 70

Diese Bedingungen wurden in einer erneuten Besprechung zwischen Magistratsmitgliedern u n d Stadtverordneten am 8. 5. 1847 in allen wesentlichen Punkten bestätigt. Hinzugefügt wurde: Gas- oder ölbeleuchtung nach Wahl der Stadt; sofortige A u f n a h m e der Gebäude in die städtische Feuersozietät; freies Bürgerrecht f ü r die Einwohner der eingemeindeten Bezirke; Berücksichtigung des Bedarfs an Plätzen für Kirchen, Schulen, J a h r m ä r k t e usw. bei Aufstellung des Bebauungsplans f ü r das Pulvermühlenterrain. Dagegen wurden die Wünsche auf Regelung der Patronatsverhältnisse und auf verstärkte Vertretung der Stadt im Provinziallandtag ausdrücklich als Wünsche, nicht als Bedingungen bezeichnet. 18

Kaeber

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Sitzung eine brauchbare Grundlage für weitere Verhandlungen. Die wichtigste Vorbedingung — keine Vorwegnahme einzelner Gebiete — nahm die Regierung an. Ein späterer Versuch, das Pulvermühlengebiet doch zunächst allein einzugemeinden, fand nur beim Magistrat, nicht bei den Stadtverordneten Gegenliebe. Die erste zu regelnde Frage war die der Einführung der Mahl- und Schlachtsteuer in dem einzugemeindenden Gebiete. Die Regierung beantragte bei dem Minister des Innern, er möge deswegen mit dem Finanzminister in Verbindung treten. Darüber verging längere Zeit, weil Verhandlungen über eine völlige Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer und die Einführung einer Einkommensteuer schwebten71. Die Weigerung der Fürst-Schönbergschen Erben, auf ihre Jurisdiktion über das Tempelhofer Unterland zu verzichten, wollte der Minister im äußersten Falle durch Zwangsmaßnahmen brechen. Eine Pause von zwei Jahren trat durch die Märzrevolution ein. An ihrem Ende stand die Aufhebung der Steinschen Städteordnung durch die Gemeindeordnung vom 11. März 1850. Sie hatte noch nicht die königliche Genehmigung gefunden, als der Bürgermeister Naunyn — er führte seit dem Rücktritt von Krausnick die Geschäfte des Oberbürgermeisters — auf Grund einer Rücksprache dem Geheimrat Delius vom Ministerium des Innern eine umfangreiche Liste der Ansiedlungen überreichte, deren Einverleibung in das Stadtgebiet in Betracht käme72. Allein nach näherer Auslegung mußte Delius erwidern, eine Erweiterung des Berliner Stadtbezirks sei nach der Kreisordnung vom 11. 3. 1850 nur im Wege der Gesetzgebung möglich, da sie die Grenzen der Kreise Teltow und Niederbarnim verändern würde73. Es bliebe also dem Magistrat nur übrig, die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes bei der Regierung zu beantragen. Die gleiche Antwort erhielt der Polizeipräsident v. Hinckeldey auf seinen Antrag, noch vor der Einführung der Gemeindeordnung den Berliner Stadtbezirk anders abzugrenzen. Schon am 19. März hatte die Regierung den Magistrat ersucht, ihr Vorschläge für eine bessere Gestaltung des Weichbildes zu machen, und zu ihrem Kommissar für die in Aussicht genommenen Verhandlungen 71

Geh. St. A., Pr. Br. Rep. 30, Berlin, C. Pol. Präsidium, Tit. 28 N r . 28, „Aa. betr. die Angelegenheit wegen Einverleibung der vor den Toren Berlins belegenen, zum platten Lande gehörigen Etablissements in den städtischen Kommunal verband 1846". 72 73

Min. d. I. St. B. N r . 49 Bd. I.

Die Auskunft stützte sich auf den § 3 der Kreisordnung, in dem es heißt: „Veränderungen der Kreisgrenzen können nur durch ein Gesetz erfolgen" (Gesetzsammlung 1850, S. 252).

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Regierungsrat v. Diederichs ernannt. Dieser stellte Anfang Juli mit Duncker und Stadtrat Steinmeyer74 einen neuen Grenzzug auf, der auf dem rechten Ufer Boxhagen und Rummelsburg, auf dem linken Treptow in das Stadtgebiet einbezog. Nach einer durch die Einführung der Gemeindeordnung und die mit ihr verbundenen Wahlen bedingten Unterbrechung fand eine Aussprache aller beteiligten Behörden über die Art und Weise des Vorgehens in der Weichbildfrage am 12. 3.1851 auf dem Berliner Rathause statt. Die Stadt wurde beauftragt, an alle Interessenten formulierte Anträge gelangen zu lassen, die mit den von diesen daran geknüpften Bemerkungen der Regierung weitergegeben werden sollten. Schon jetzt wurde es deutlich, daß der Kreis Teltow mit seinem Landrat v. Albrecht dem Plane ablehnend gegenüberstand. Für den Magistrat verfaßte Risch am 18. April eine ausführliche Denkschrift. Er sah die Rechtslage als günstig an, da zwar Berlin auf Grund der Gemeindeordnung der geplanten Änderung zustimmen müsse, die Gemeindeverbände in seiner Umgebung aber erst reguliert werden sollten und daher hier auch ohne ihre Zustimmung durch die Regierung aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen Grenzänderungen vorgenommen werden könnten75. Scharf wurden die dafür sprechenden Motive hervorgehoben: die Notwendigkeit, die „geistigen und materiellen Kräfte" eines innerlich zusammengehörigen Bezirks zu gemeinsamem Wirken zu vereinen und die durch die bisherige künstliche Abgrenzung bedingte Störung eines „organischen Gemeindewesens" zu beseitigen. Eine solche sah Risch darin, daß zwar im Norden die ausgedehnte Feldmark zur Stadt gehörte, im Südosten aber der städtische Bezirk schon an den Stadtmauern endete. Daraus folgten Verwaltungsschwierigkeiten auf dem Gebiete der Armenpflege, des Schulwesens und der gewerblichen Verhältnisse. Die verschiedene Besteuerung der ihrem Lebenszuschnitt nach gleichmäßig städtischen Bewohner diesseits und jenseits des Landwehrgrabens krankte an einem inneren Widerspruch. Die früher beabsichtigte Bildung selbständiger Gemeinden rings um Berlin war nach Rischs Ansicht inzwischen aufgegeben worden, da diese Gemeindeverbände nicht die erforderlichen Kräfte zur Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben besitzen würden. Die Denkschrift erörterte dann eingehend die recht74

Johann Gottfried Steinmeyer, geb. 13.11.1780 in Friedrichsfelde, H o f - und Ratszimmermeister, unbesoldeter Stadtrat seit 1843. 75 Diese Auffassung wurde, wenigstens soweit die Änderung von Grenzen der bestehenden Gemeinden Rixdorf, Tempelhof und Schöneberg in Frage kam, weder von der Regierung noch vom Ministerium des Innern geteilt. Beide hielten dazu die Einwilligung der Gemeinden für erforderlich: Min. d. I. St. B. Nr. 49, Bd. I. 18»

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liehen und wirtschaftlichen Zustände in den für die Eingemeindung vorgeschlagenen Gebieten und schloß mit den bekannten Bedingungen Berlins. Risch leugnete nicht, daß auch bei Erfüllung dieser Bedingungen für lange Zeit nicht an Oberschüsse, ja nicht einmal an die Deckung der Verwaltungskosten in den neuen Stadtteilen zu denken sei. Aber ein gewisses Opfer sei kein Unglück und werde durch andere Vorteile aufgehoben. Er hoffte übrigens auf Ersparnisse an persönlichen Verwaltungsausgaben und warf damit ein noch heute beliebtes Argument für die verwaltungsmäßige Zusammenschweißung kommunaler und staatlicher Verbände in die Debatte. Für den Fortgang der Verhandlungen mußte die Stellung der städtischen Behörden ausschlaggebend sein. Der Magistrat erklärte sich am 6. Mai mit der Denkschrift einverstanden. Die alte Stadtverordnetenversammlung war durch den Gemeinderat ersetzt worden, der im Sommer 1850 zum ersten Male nach dem Dreiklassensystem gewählt worden war. In ihn waren nur etwa ein Drittel der bisherigen Stadtverordneten hineingekommen. In dem Charakter der Versammlung als Vertretung vor allem des Gewerbe- und des Rentnerstandes hatte sich nichts geändert76. Würde die neue Versammlung auch in der Weichbildfrage nur ein Echo ihrer Vorgängerin sein? Sie ließ es jedenfalls an einer genauen Prüfung der Magistratsvorlage nicht fehlen. Ein vielgliedriger Ausschuß des Gemeinderats unter dem Vorsitz des früheren Stadtverordnetenvorstehers Seydel besichtigte an zwei Tagen die vorgeschlagene Grenze und beriet über sie am 8. und 21. Juli 1851. Er lehnte einmütig die Aufnahme der Cöllnischen Heide und Cöllnischen Wiesen ab, die damit für alle Zeiten aus dem Eingemeindungsplan verschwanden, nahm die der Hasenheide mit 6 zu 3 Stimmen an und folgte auch weiterhin auf dem linken Ufer dem Vorschlage des Magistrats. Die Eingemeindungen auf dem rechten Spreeufer wurden mit Ausnahme des Pulvermühlengebiets in der zweiten, schwächer besuchten Sitzung mit 5 zu 2 Stimmen verworfen. Es war ein Beschluß von weitreichender Bedeutung. Die Majorität hielt die Bildung einer leistungsfähigen Gemeinde aus den beiden Moabit und dem Wedding für möglich, während die Minorität eine Verpflichtung Berlins anerkennen wollte, die in diesen Bezirken wohnende Berliner Arbeiterschaft in das Stadtgebiet aufzunehmen. Die Einbeziehung von Boxhagen und Rummelsburg fand nirgends Beifall und schied seitdem aus der Diskussion aus. Der Beschluß des Gemeinderats folgte dem Votum seines Ausschusses. ,e

Clauswitz, Städteordnung, S. 242 f.

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Ein neues Moment brachte in die Verhandlungen die Teilnahme der Presse. Die konservativere Spenersche Zeitung 7 ' nahm in ihrem Artikel vom 26. Juli im einzelnen nicht Stellung, billigte aber augenscheinlich die Auffassung der Deputierten des Gemeinderats. Die Vossische Zeitung trat am 30. Juli, dem Tage vor der entscheidenden Gemeinderatssitzung, zwar dafür ein, die Grenzen so weit zu ziehen, daß für ein halbes Jahrhundert vorgesorgt würde, verschwieg aber nicht die Bedenken wegen der bevorstehenden hohen Kosten und die dadurch bedingten „geteilten Ansichten". Eine Parteifrage war die Eingemeindungsangelegenheit sicher nicht. Am Tage nach der Abstimmung brachten beide Blätter Berichte, den ausführlicheren die Spenersche Zeitung. Der Beschluß des Gemeinderats war nach kurzer Debatte mit großer Majorität gefaßt worden. Naunyn hatte den Standpunkt des Magistrats vertreten und als ein für die Eingemeindung Treptows und der Cöllnischen Heide sprechendes Argument die Eignung des Spreeufers für die Anlage von Fabriken angeführt. Die Gemeinderäte Hegel und Devaranne 78 hatten sich ihm angeschlossen. Aber gerade diese industrielle Entwicklung mit ihren Arbeitermassen wünschten die anderen, wie Veit und Kantian, die alten Gegner jeder größeren Eingemeindung, nicht. Wenigstens nicht innerhalb der Stadtgrenzen. Kantian meinte sogar, Fabriken wären besser auf dem Lande als in der Stadt untergebracht. Diese Auffassung fand nach der Entscheidung einen lebhaften Gegner in der Vossischen Zeitung. Die Oberspree oder das linke Spreeufer außerhalb des Weichbildes zu lassen, hieße, sich selbst industrielle Rivalen großziehen; die Kostenfrage sei nichts als ein Vorwand für die Ablehnung79. Dabei blieb das Blatt auch gegenüber den Einwendungen des Schönebergers Ortsvorstehers, dem es Gelegenheit gegeben hatte, die Interessen des Kreises Teltow und der durch die Eingemeindung bedrohten Gemeinden zu verteidigen80. Der Gemeindevorstand des vor kurzem zu einem kommunalen Verband vereinigten Alt- und Neu-Schöneberg verwahrte sich am 16. September gegen jede Gebietsabtretung. Eine durch den Landrat v. dem Knesebeck am 5. November einberufene Versammlung der Grundbesitzer von 77 Vgl. für ihr Einschwenken nach dem Einzüge Wrangeis in Berlin: Erich Widdecke, Geschichte der Haude- und Spenerschen Zeitung 1734—1874, Berlin 192'5, S. 280 ff. Das Buch ist freilich nicht besonders wertvoll und geht auf kommunalpolitische Fragen überhaupt nicht ein. 78 Hegel war Regierungsrat, Devaranne Fabrikbesitzer; beide waren nidit Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung gewesen. n Voss. Ztg. Nr. 193 vom 20. 8. 1851. 80 Voss. Ztg. vom 25. 8., 28. 8. und 4. 9. 1851.

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Schöneberg stellte sich mit überwältigender Mehrheit auf den gleichen Standpunkt, während eine Anzahl von Einwohnern der Hasenheide und zahlreiche Bewohner des Karlsbad 81 , der Potsdamerstraße und der Lützowstraße den Anschluß an Berlin wünschten. Der Ortsvorstand des Etablissements vor dem Halleschen Tore schließlich begründete seine Ablehnung der Eingemeindung in einer Eingabe an den Ministerpräsidenten mit den „in Berlin im J. 1848 stattgehabten Umtrieben" 82 ! Was aber nicht hinderte, daß sich am 16. Oktober 1853 zahlreiche Grundbesitzer vor dem Halleschen Tor, darunter der Stadtarchivar Fidicin als Besitzer des Johannestisches, für die Eingemeindung erklärten. Ein allgemeines Durcheinander der Meinungen und Wünsche war den ersten Verhandlungen entsprungen. Lag nun ein dringendes öffentliches Interesse vor, von Staats wegen einzugreifen? Die Regierung verneinte das in einem ausführlichen Bericht an den Minister des Innern vom 23. 5. 1852. Sie fürchtete, nach einer Weichbilderweiterung werde die „jetzt schon kolossale" Berliner Verwaltung noch unbeholfener werden. Dazu war die Ausübung eines Zwanges gegenüber der Stadt, Moabit und Wedding einzugemeinden, gesetzlich nicht möglich. Die Forderung des Polizeipräsidenten, wonach in den an Berlin angrenzenden Straßen f ü r Pflasterung, Entwässerung und Beleuchtung wie in der Stadt selbst gesorgt werden sollte, ging der Regierung zu weit. Der Minister schloß sich dem an, behielt sich jedoch eine endgültige Entscheidung vor. Denn wieder stand eine Änderung der gesetzlichen Voraussetzungen f ü r eine Weichbildänderung in Aussicht: die Städteordnung vom 24. 5. 1853, durch die die Gemeindeordnung außer K r a f t gesetzt wurde. Für den Magistrat war dies ein Anlaß, auf den endlichen Abschluß der Verhandlungen zu dringen. Die Rechtslage war dadurch einfacher geworden, daß nach § 2 der Städteordnung Änderungen der Grenzen von Kommunalbezirken, auch gegen den Willen der Beteiligten, mit Genehmigung des Königs durchgeführt werden konnten, falls ein öffentliches Interesse sie verlangte. Aber die Regierung hatte am 23. 5. 1852 dies geleugnet, und der Minister des Innern berief sich in einer Verfügung vom 29. 3.1854 auf diese auch von ihm geteilte Ansicht. Der Handelsminister hatte sich allerdings für die Ausdehnung des städtischen Weichbilds auf das gesamte Gelände ausgesprochen, f ü r das ein Bebauungsplan aufgestellt wurde, um dadurch die einheitliche Zuständigkeit des Polizeipräsidenten für 81 82

Zwischen der Potsdamer- und Flottwellstraße am Kanalufer. Min. d. I. St. B. Nr. 49 Bd. I.

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die baupolizeilichen Maßnahmen auf dem ganzen Gebiete zu erreichen. In diesem für Berlin kritischen Augenblick ging die Bearbeitung der Weichbildfragen auf die stärkste Persönlichkeit über, die dem Magistrat in jenen Jahren zur Verfügung stand, auf Stadtrat Pohle, einen Mann von gleicher Willens- wie Arbeitskraft, unbedenklich in der Wahl der Mittel für die Durchsetzung des als richtig Erkannten 83 . Der Minister hatte nur die Eingemeindung des Tiergartens und des Pulvermühlenterrains in Aussicht genommen, die von Moabit und Wedding dagegen abgelehnt, weil der Gemeinderat ihr nicht zugestimmt hatte, und ebenso die von Teilen Schönebergs und Tempelhofs, weil diese Gemeinden ihr widerstrebten. Sofort erklärte Pohle, die Verfügung des Ministers läge gar nicht im Interesse Berlins. Er brachte deshalb den Magistrat zu dem Beschluß, sich im Augenblick auf das vielleicht Erreichbare, den Komplex auf dem rechten Spreeufer, zu beschränken, auf dem Berlin alle Pflichten der Gutsherrschaft, aber keine Rechte hatte. Den Gemeinden auf der anderen Seite wollte er inzwischen die Benutzung der städtischen Einrichtungen Berlins sperren, um sie dadurch umzustimmen oder durch die vorauszusehenden Unzuträglichkeiten ein „öffentliches Interesse" an der Eingemeindung künstlich hervorzurufen. Nachdem er die starke Mehrheit einer aus Magistratsmitgliedern und Stadtverordneten bestehenden Gemischten Deputation für seine Pläne gewonnen hatte, ließ er den Magistrat eine enge Verbindung mit Hinckeldey anknüpfen, dessen Interessen ganz mit den seinen übereinstimmten. Denn eine Erweiterung des Berliner Weichbildes bedeutete eine Ausdehnung des engeren Berliner Polizeibezirks und damit eine Machterweiterung für den Polizeipräsidenten. In den vorangegangenen Jahrzehnten hatte das Polizeipräsidium mehrfach einen Anlauf genommen, den engeren Polizeibezirk unabhängig von den Weichbildsgrenzen zu erweitern. Seit 1850 hatte es sich dagegen entschlossen, die Vergrößerung des Berliner Weichbildes energisch zu betreiben. Sein Ziel war die Identität der Grenzen eines ausgedehnteren Stadtgebietes mit denen des engeren Polizeibezirks 84 . Im Gegensatz zur Regierung erklärte der Polizeipräsident am 13. 4 . 1 8 5 4 83

Julius Rudolph Pohle, geb. 6 . 4 . 1 8 1 4 in Sonnenburg/NM, gest. in Berlin am

15. 2 . 1 8 8 6 ; Gymnasium in Frankfurt a. O., Universitätsstudium in Berlin; 1834 Auskultator, 1837 Referendar, 1 8 4 2 Assessor, 1 8 4 8 — 5 1 Bürgermeister in Eberswalde; Stadtrat in Berlin 1 8 5 1 — 7 2 ; sein Ausscheiden erfolgte nach einem Konflikt mit den Stadtverordneten und nachdem der neue Oberbürgermeister Hobrecht ihn seiner einflußreichen Dezernate enthoben hatte. 84

A a des Pol. Präs., Bes. Bd. IV, Schreiben vom 27. 6. 1851 an den Kreisgerichts-

direktor Odebre&t. Übrigens gehen daneben auch noch die Verhandlungen über den Polizeibezirk allein weiter; vgl. die Konferenz v o m 2 9 . 1 1 . 1851.

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die Eingemeindungen auf beiden Spreeufern für im öffentlichen Interesse dringend notwendig. Der Magistrat wandte sich deshalb an Hinckeldey unter Hinweis auf die gemeinsamen Interessen mit der Bitte, „unter wohlgeneigter persönlicher Einwirkung" die Gemeinden Tempelhof, Schöneberg und Charlottenburg den Wünschen Berlins gefügig zu machen und Allerhöchsten Ortes „die Uberzeugung von der Notwendigkeit dieser Arrondierung des städtischen Weichbilds im öffentlichen Interesse herbeiführen zu wollen". Der Polizeipräsident antwortete am 3 . 1 2 . 1 8 5 4 in ausgesucht höflichem Tone, versprach seine Unterstützung und erbat Material für die Begründung des öffentlichen Interesses an der Eingemeindung. Der Magistrat lieferte es sofort; es sah freilich mehr nach Material für die Interessen Berlins an dem Gewinn der Ansiedlungen vor seinen Toren aus, die von der großen Stadt lebten, ihre Einrichtungen benutzten und den Wert ihrer Grundstücke in gleichem Maße wie den der benachbarten Berliner Grundstücke steigen sahen, ohne Berlin einen Pfennig Steuern zahlen zu brauchen. Der Magistrat wiederholte sein Ersuchen um Ausübung eines polizeilichen Druckes auf die Gemeinden im Süden Berlins, da bei deren Zustimmung zur Eingemeindung der Nachweis des öffentlichen Interesses nicht nötig wäre. Sehr bald zeigten sich die Folgen des polizeilichen Nachdrucks. In den Vorstädten wurde die Stimmung für Berlin günstiger. Schon eine Versammlung der Tempelhofer Grundbesitzer am 26. 1. 1855 eröffnete gewisse Aussichten, und im Mai und Juni dieses Jahres war in AltSchöneberg die Stimmung völlig umgeschlagen. Der Magistrat hielt auf die Kunde davon dem Polizeipräsidenten vor, daß er ein ähnliches Resultat doch wohl auch gegenüber Tempelhof und Charlottenburg hätte erreichen können. Im August meldete dann auch bereits der Polizeipräsident, daß nunmehr der Bezirk vor dem Halleschen Tore zu Berlin kommen wolle, und daß Tempelhof damit einverstanden sei. Inzwischen hatten die Stadtverordneten dem Magistrat einen Stridi durch seine Rechnung gemacht. Im Plenum, der Pohleschen Einwirkung entrückter als im kleinen Kreise der Gemischten Deputation, hatte sich am 2 3 . 1 1 . 1854 eine überwiegende Majorität gegen die Einbeziehung von Moabit und Wedding ausgesprochen. Die „in sehr lichtvoller Weise" 85 vorgetragenen Einwände des referierenden Stadtverordneten Lehnert waren durch Seydel, Schäffer und Dr. Veit unterstrichen worden. Der Magistrat ließ sich durch die Gründe der Stadtverordneten nicht überzeugen. Er wollte keineswegs die Bildung selbständiger Gemeinden 85

Spenersche Zeitung vom 2 4 . 1 1 . 1 8 5 4 .

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abwarten, weil diese durch die Stadt mit einem ihren bisherigen Leistungen entsprechenden Kapital ausgestattet werden mußten. Er erreichte den erneuten Zusammentritt einer Gemischten Deputation. In diese wurden die gleichen Stadtverordneten wie in die frühere Deputation gewählt: Seydel, Schaff er, Kantian, Regierungsrat Nietze, Haßlinger, Krebs I, Barrand, Prof. Dr. Troschel und Geheimer Justizrat Prof. v. Keller. Wenn der Magistrat noch einer Rückenstärkung bedurft hätte, würde sie ihm durch eine Eingabe der drei Bezirksvorsteher und zahlreicher Einwohner des Weddings vom 18. 12. 1854 zuteil geworden sein. Sie ging davon aus, daß der Wedding ein Pertinenzstüdk Berlins geworden war. Bei der Abholzung und Parzellierung der Kämmereiheide hatte die Stadt das ihr zufallende Land zu günstigen Bedingungen in Erbpacht ausgetan und dadurch selbst eine Abwanderung ärmerer städtischer Schichten veranlaßt, die als Arbeiter in den Dienst der Grundbesitzer traten. Es waren bald Bezirke gebildet und alle Verwaltungseinrichtungen wie in der Stadt selbst getroffen worden. Der König hatte 1831 und 1835 die Nazareth- und die Paulskirche erbauen lassen. Die Bevölkerung war auf rund 7000, bis auf die Grundbesitzer wenig steuerkräftige Einwohner gestiegen86. Eben das hatte die Stadtverordneten zu Gegnern des von ihnen als Armen- oder gar Verbrecherkolonie bezeichneten Gebietes gemacht, für das aber seiner mißlichen finanziellen Lage wegen die Eingemeindung zu einer Lebensfrage geworden war. Auch das Stadtgericht trat jetzt auf die Seite des Magistrats, wenn es die Identität von Gerichts- und Weichbildgrenzen für wünschenswert erklärte. Die von ihm aufgestellte Ansicht, daß deshalb auch die Cöllnische Heide zum Weichbilde gehören sollte, erkannte der Magistrat als berechtigt an, wollte indessen aus praktischen Gründen seinen Eingemeindungsplan nicht auf sie ausdehnen. Mitte Mai 1855 erst trat die im Dezember des vergangenen Jahres beschlossene Gemischte Deputation zusammen. Die Eingemeindung des Urban, die ihr als neue Angelegenheit zugewiesen worden war, wurde einstimmig angenommen; über seine Zugehörigkeit zum Stadtgericht hatte sich dieses soeben mit dem Kreisgericht geeinigt. Aber Wedding und Neu-Moabit fanden bei den meisten Stadtverordneten keine Gnade, obgleich ihnen Pohle vorrechnete, daß die Verwaltungskosten sich von 9113 Talern, die sie jetzt betrugen, nach der Eingemeindung auf höchstens 86

Ein von der Forst- und Ökonomiedeputation aufgestelltes Verzeichnis führte

auf dem Wedding 411, in Neu-Moabit 79 Grundbesitzer auf: St. A. „Stadtgrenzen" ad Nr. 1.

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14 000 Talern erhöhen würden, denen eine Steuereinnahme von 16 000 Talern gegenüberstehen würde. Die Angst vor den Ausgaben für Pflasterung, Reinigung und Beleuchtung der Straßen war durch keine Zahlen zu beseitigen, auch nicht durch den Hinweis, daß der Polizeipräsident sicher keine besonders hohen baupolizeilichen Anforderungen stellen werde. Diese Hoffnung wurde gleich darauf durch ein Schreiben des Polizeipräsidenten vom 19. Mai ausdrücklich bestätigt. Es führte,in einer erneuten Sitzung der Deputation eine Wendung herbei, die nur dadurch sehr an Bedeutung verlor, daß an ihr nicht mehr als 3 Stadtverordnete teilnahmen. In der Tat verlangte die Versammlung am 12. Juli, daß zunächst die Eingemeindungspläne auf dem linken Ufer durchgeführt würden; erst dann wolle sie über weitere Vorschläge beraten. Natürlich hieß das weiter nichts, als das gute Geschäft abschließen wollen, um dann das schlechte dankend abzulehnen. Der Beschluß der Versammlung beruhte auf den Vorschlägen ihrer Geldbewilligungsdeputation, jenes wichtigsten Ausschusses der Stadtverordneten, in den alle Vorlagen gelangten, die Geld kosteten 87 . Immer hatten sich die Stadtverordneten gesträubt, die Berechtigung des wichtigsten Argumentes Pohles für die Eingemeindung von Neu-Moabit und Wedding anzuerkennen, die rechtliche Verpflichtung Berlins zur Tragung der Polizei-, Schul- und Armenlasten in diesem Gebiet. Am Ende hatten sie darüber ein Gutachten der beiden Stadtsyndici Hedemann 88 und Le Brun 89 gewünscht. Wie bezeichnend für Pohles Energie, daß er diese Gutachten nicht abwartete, sondern durch eingehende „Bemerkungen" vorbereitete! Die Gutachten fielen denn auch in seinem Sinne aus, d. h. die aus dem ursprünglichen Jurisdiktionsrecht abgeleitete Verpflichtung Berlins, auch auf der parzellierten und zu einem erheblichen Teile als Abfindung für Hütungs87

Aa. d. Stadtverordneten, Bd. I. Durch einen schwer begreiflichen Mißgriff sind

im J a h r e 1859 die Akten der Geldbewilligungsdeputation sämtlich kassiert worden, als diese Deputation aufgehoben wurde; es ist dadurch eine besonders wertvolle Quelle für die innere Geschichte Berlins verloren gegangen. Abschriften

einzelner

Protokolle der Dep. befinden sich allerdings in Spezialaktenstücken der Stadtverordnetenversammlung. 89

Heinr. Aug. Carl Philipp Hedemann, geb. 1 6 . 8 . 1 8 0 0 in Treptow a. R . ; stu-

diert 1 8 1 9 — 2 3 in Berlin, Greifwald und Göttingen Jura, 1825 Referendar in Stettin, dann beim Kammergericht, 1831 Assessor; 1 8 3 2 Stadtrat, 1833 zum 2. Syndikus, 1837 zum Stadtsyndikus von Berlin gewählt; 1 8 6 0 — 7 2 Bürgermeister; gest. 24. 3 . 1 8 7 2 . 88

Erneste Adolphe L e Brun, geb. in Berlin 17. 3 . 1 8 1 0 als Sohn eines Kaufmanns;

1828 Abitur auf d. Franz. Gymn.; Studium der Rechte in Berlin, 1833 Referendar, 1 8 3 9 Assessor, 1841

Hilfsrichter beim Stadtgericht Berlin, 1 8 5 0

Stadtsyndikus 1 8 5 2 — 7 6 ; gest. 2 2 . 9 . 1 8 8 7 .

Stadtgerichtsrat,

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berechtigungen in Privatbesitz übergegangenen Kämmereiheide in ihrem ganzen Umfange alle Verwaltungskosten zu tragen, wurde bejaht und nun audhi von der Geldbewilligungsdeputation anerkannt 90 . Das Vorwerk Wedding hatte Berlin 1817 erworben und war dadurch auch hier Gutsherrschaft geworden. Seinen Versuch, die Einwohner der ehemaligen Heide durch Bildung besonderer Armenverbände zu den Verwaltungskosten heranzuziehen, hatte die Regierung 1834 für unzulässig erklärt. Das Ergebnis der Separation war für Berlin wirklich, wie Pohle schrieb: „Fortdauer der onera unter Wegnahme der korrelaten commoda"90". Und auch damit mochte er recht haben, daß der Staat seinen Plan, hier selbständige Gemeinden entstehen zu lassen, für nicht sehr dringlich hielt, da Berlin ja so gut wie für alles zahlte. Das Gutachten Le Bruns trug das Datum des 22.10.1855. Es hatte die Eingemeindung auch deshalb empfohlen, weil sie sonst ohne Berlins Zustimmung kommen könnte. Das war keine bloße Vermutung; die Potsdamer Regierung hatte nämlich die Geduld verloren. Sie hatte am 7. Juni, nachdem Schöneberg seinen Widerstand gegen die Abtretung des Gebietes zwischen dem Botanischen Garten und der Stadt aufgegeben hatte, die städtischen Behörden zu einer Erklärung darüber aufgefordert und, gemäß dem Stadtverordnetenbeschluß vom 12. Juni, nur die Antwort erhalten, sie möge jetzt schnell die Zustimmung des Fiskus zur Eingemeindung der Hasenheide und Alt-Moabits einholen. Ärgerlich über diese Schwierigkeiten schrieb sie, daß es bei solchem Vorgehen der Stadt kein Wunder sei, wenn die Sache sich jahrzehntelang hinzögere; sie drohte, die Eingemeindung über den Kopf der Beteiligten hinweg durch königliche Kabinettsorder zu bewirken. Dem Magistrat war das nur angenehm. Er gab die Verfügung mit zustimmenden Bemerkungen der Stadtverordnetenversammlung weiter; erfahrungsgemäß führten „sukzessive Inkorporationen einzelner Teile eines Territorii am ehesten zur Inkorporation des ganzen Territorii". Die Geldbewilligungsdeputation stimmte dem in ihrer Majorität zu, ebenso am 3.1. 1856 die Stadtverordnetenversammlung. Sie dehnte zwar ihren Beschluß auch auf den Urban aus, hatte ihn aber nur mit einer einzigen Stimme Majorität gegen die starke, von Cantian, Lüttich, Schäffer, Tondeur und Vollgold geführte Minderheit gefaßt. Die Mehrheit hatte sich durch Pohle als Magistratskommissar, die beiden Referenten Seydel und Lehnert und ihre Kollegen Esse, Engels und Dr. Veit überzeugen lassen, ,0

Aa. der Stadtverordneten, Bd. I, Sitzung vom 13.11.1855. ®°a D. h. Fortdauer der Lasten unter Wegnahme der ihnen entsprechenden Vorteile.

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„daß die Stadt Berlin eine höhere Aufgabe habe, als nur überall und lediglich den Geldpunkt ins Auge zu fassen" 91 . An ihre Zustimmung hatten die Stadtverordneten die üblichen Bedingungen geknüpft 82 , die der Magistrat, froh seines Erfolges, der Regierung weitergab. Sie lagen ja ganz im Rahmen der bisherigen Verhandlungen. Aber schon am 24. 1. 1857 erklärte die Regierung dem Magistrat, sie sei entschlossen, das ganze Eingemeindungsprojekt ohne Rücksicht auf die Beteiligten mittels Allerhöchster Genehmigung durchzuführen. Die für die Eingemeindung vorzuschlagende Grenze werde am besten durch den Regierungskommissar v. Diederichs, Regierungsrat v. Mörner vom Polizeipräsidium und einen Kommissar des Magistrats festgesetzt werden. In einer besonderen Antwort auf den Bericht des Magistrats vom 10. Januar erwiderte sie scharf und bestimmt, es handle sich jetzt „um eine zwangsweise Durchführung der fraglichen Erweiterung", bei der niemand mehr Bedingungen stellen könne; gerade die teilweise unannehmbaren Forderungen Berlins wegen der Straßenkosten, der Ausdehnung des Steuerbezirks und der Übernahme des Patronats zeigten, „wie wenig auf eine schnelle Förderung dieser Angelegenheit von Seiten der dortigen Stadt zu rechnen wäre, wenn auch die übrigen Beteiligten keine Einwendungen machten". Die Verfügung gab sich den Anschein, als ob sie mit Blitz und Donnerschlag in eine stickige Atmosphäre führe. Aber es war ein wenig Theaterdonner dabei. Theatergrollen klang auch aus der Antwort des Magistrats heraus. Er verwahrte sich gegen den Vorwurf der Saumseligkeit, er rechtfertigte seine Bedingungen, aber er schloß mit Schalmeientönen: „Wir bescheiden uns jedoch . . . , wenn die pp. die Überzeugung teilt, daß die Inkorporation des ganzen Gebietes auf anderem Wege — nämlich nicht mit der Zustimmung der Beteiligten — schneller zu bewirken ist". Und die Regierung versicherte dem Magistrat am 18. April, sie habe ihm gar keinen Vorwurf machen wollen, und sie würde billige Wünsche der Stadt gern höheren Orts unterstützen. Die nur in ihrer juristischen Form veränderte Politik der Regierung war sachlich auf vertrauensvolles Zusammenarbeiten mit dem Magistrat aufgebaut. Schon im Februar hatten sich Diederichs, Mörner und der Magistratskommissar Pohle über die neuen Grenzen geeinigt. Gegen schwache, kaum ernst gemeinte Einwendungen Pohles — auch der Magistrat hatte ja vor einem Jahre darauf zunächst verzichten wollen93 — waren die Cöllnische Heide und " Voss. Ztg. vom 4.1. 1856. Vgl. o. S. 273. 9 3 Vgl. o. S. 281 den Schriftwechsel mit dem Stadtgericht.

92

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Treptow ausgeschieden worden. Die Grenze sollte demnach vom Landwehrkanal bis zum Rixdorfer Damm gehen, ihm unter Einschluß der Hasenheide und des Kreuzbergs folgen und sich von da zum Botanischen Garten und zur Charlottenburger Feldmark hinziehen. Der Berücksichtigung wert gehalten wurde außerdem die Einbeziehung des Charlottenburger Terrains zwischen dem Neuen See und dem Zoologischen Garten, der Friedrichsvorstadt 94 und eines Teiles von Alt-Schöneberg neben der Potsdamerstraße. Der von Pohle geforderten Ausdehnung des Steuerbezirks stand Diederichs nunmehr wohlwollend gegenüber. Im April und Anfang Mai wurde der in Aussicht genommene Grenzzug von Pohle, dem Stadtbaurat Spott 95 , dem Oberregierungsrat Lüdemann vom Polizeipräsidium und dem Steuerrat Bamiehl befahren und im Anschluß daran ein von Mörner vorgelegter Grenzentwurf besprochen. Während das Polizeipräsidium die ganze Hasenheide und einen großen Teil der unbebauten Tempelhofer Feldmark einzugemeinden wünschte, trat Pohle für eine engere Grenzführung ein. Der Protest der Stadt Charlottenburg gegen die Abtretung des Birkenwäldchens 96 und des Gebietes zwischen Schiffahrtskanal und Spree wurde von allen Seiten zurückgewiesen. Im Oktober wurde die neue Grenze unter Führung von Pohle und Spott durch den Oberbürgermeister Krausnick, den Stadtverordnetenvorsteher Fähndrichs und den Stadtverordneten Major Schütze besichtigt. Noch einmal versuchte der Magistrat nach einer entgegenkommenden Verfügung der Regierung auf der so gegebenen Grundlage die Zustimmung der Stadtverordneten zu dem Gesamtplan zu erreichen. Ein Erfolg blieb ihm, wie bisher, versagt. Mit einem gewissen Recht beriefen sich die Vertreter der Berliner Bürgerschaft darauf, daß vor zwei Jahren das Ministerium selbst ein öffentliches Interesse an der Eingemeindung von Moabit und Wedding nicht anerkannt hatte 97 . Damals hatte die Regie94

D. h. der Straßenzüge jenseits der Stadtmauer zwischen dem Potsdamer T o r und

dem Anhalter Bahnhof. Zum friedrichstädtisdien Vorstadtrevier gehörten nach der Eingemeindung u. a. die Victoria-, Schulgarten- (jetzt Friedrich-Ebert-), Schöneberger-, Bernburger-, Hallische- und ein Teil der Potsdamer Straße. 95

Gustav Spott, geb. am 13. 3. 1806 in Bremen, 1825 Feldmesserexamen, Besuch

der Akademien und Universitäten von Berlin, Paris und Wien, 1836 L a n d - und Wasserbauinspektor, 1845 Landbaumeister, 1846 Bauinspektor beim Polizeipräsidium, 1852 in Königsberg, 1853 Mitglied des Direktoriums der Ostbahn in Bromberg, 1856 Stadtbaurat in Berlin, gest. als solcher am 19. 10. 1864. 86

Es lag zwischen der Lützowstraße und dem Kanal.

97

Sitzung der Geldbewilligungsdeputation vom 9. 9. 1856: Aa. d. St. V., Bd. II.

Die von den Stadtverordneten gemeinte Verfügung des Ministeriums des Innern ist die vom 29. 3. 1854, s. o. S. 278.

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rung auf dem gleichen Standpunkte gestanden, jetzt mußte sie es als ihre Aufgabe betrachten, den Minister für ihre veränderte Stellungnahme zu gewinnen. Schon im Dezember 1855 hatte sie angekündigt, daß sie die Frage des öffentlichen Interesses an der Weichbilderweiterung gemeinsam mit dem Polizeipräsidenten prüfen wolle. Ende Juli des nächsten Jahres meldete sie, daß beide Behörden zu einer Bejahung der Frage gekommen seien und daß sie die zwangsweise Durchführung des Projektes beantragen werde. Das geschah in ihrem „erschöpfenden" Bericht vom 27. 6.1857. Die Regierung verhehlte nicht, daß sie 1852 die Eingemeindung der Gegenden, deren zwangsweise Verbindung mit Berlin sie jetzt vorschlug, nicht für notwendig gehalten hatte. Sie hätte damals angenommen, die Polizeibehörde würde „auf die Verhältnisse der betreifenden ländlichen Gemeinden und Ortschaften Rücksicht nehmen" und an sie nicht Ansprüche wie an eine Stadt stellen. In dieser Annahme hatte sie sich getäuscht. Der Polizeipräsident hatte es durchgesetzt, daß die Ansiedlungen vor dem Potsdamer und dem Halleschen Tor mit Gas beleuchtet wurden; er hatte von Schöneberg die auf 10 000 Taler veranschlagte Pflasterung und Entwässerung der Lützowstraße und ähnliche Straßenanlagen vor dem Halleschen Tor von Tempelhof verlangt. Das waren offenbar — was die Regierung freilich nicht sagte — jene „Einwirkungen" des Polizeipräsidenten auf die Gemeinden Schöneberg und Tempelhof, um die der Magistrat immer wieder gebeten, und deren Erfolg sich so prompt eingestellt hatte! Denn nun war die Lage die, daß den beiden Gemeinden aus ihrem Besitz vor den Toren Berlins unerträgliche finanzielle Lasten erwuchsen, die sie je eher je lieber loswerden wollten. Die Regierung kleidete das in die Form, daß die Forderungen des Polizeipräsidenten zwar sachlich gerechtfertigt seien, aber den ländlichen Muttergemeinden dieser Vororte unmöglich zugemutet werden könnten98. Ganz ähnlich lagen die Dinge auf dem zu Charlottenburg gehörigen Lützower Feld zwischen Potsdamerstraße und Zoologischem Garten, um das sich die entfernte Mutterstadt nicht kümmern konnte. Daß der Teltower Kreistag sich am 30.10.1856 fast einstimmig gegen die Abtretung von Teilen des Kreises an Berlin und für die Bildung einer selb98

Das Pol.-Präsidium selbst hatte seine Einwirkungsmöglichkeiten nicht übermäßig hoch eingeschätzt und hatte noch am 1 9 . 5 . 1 8 5 5 die Initiative bei den Eingemeindungsverhandlungen ausdrücklich dem Magistrat überlassen. D a ß es seine Anforderungen an die Vorortgemeinden überspannt habe, bestritt es der Regierung gegenüber am 4 . 4 . 1 8 5 7 sehr energisch, schrieb sich vielmehr „Rücksicht und Indulgenz" zu: Aa. des Pol.-Präs., Bd. IV u. V.

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ständigen Stadtgemeinde ausgesprochen hatte, fiel demgegenüber kaum ins Gewicht. Wie hätte sich auch hier unmittelbar vor den Toren der Hauptstadt des Staates selbständiges städtisches Leben entwickeln sollen? Mit besonderer Schärfe hatte sich noch im April 1857 das Polizeipräsidium gegen die Gründung selbständiger Gemeinden ausgesprochen. Der Landrat von Niederbarnim dagegen war selbst davon überzeugt, daß aus den armen Ansiedlungen auf dem rechten Spreeufer keine leistungsfähige Gemeinde entstehen konnte. Er hatte daher nichts gegen ihren Ubergang an Berlin einzuwenden". Hier ging der Widerstand von den Stadtverordneten aus. Da indessen nach dem Gesetz vom 14. 4. 1856100 die kommunalen Verhältnisse von Moabit und Wedding geordnet werden mußten, blieb nur ihre Vereinigung mit der Residenz übrig, der dies durch möglichstes Entgegenkommen gegen ihre Wünsche erleichtert werden konnte. Abweichend von ihrem früheren Standpunkt hatte sich die Regierung inzwischen fast alle „Bedingungen" Berlins zu eigen gemacht. Es war eben der Faden zwischen ihr und dem Magistrat nie zerrissen. Am Ende der langen Verhandlungen kam es noch zu einem offenen Konflikt zwischen den beiden städtischen Behörden. Der Magistrat hatte Anfang 1857 wieder eine Gemischte Deputation beantragt, an deren Beratungen neben Pohle, Spott, Duncker die Stadträte Bock101, Franke102, sowie die Stadtverordneten Seydel, Veit, Cantian, Krebs I, Haßlinger, Nietz, Schäffer, Troschel, Major Schultze und Engels teilnahmen. Wie üblich, nahm die Deputation mit 9 zu 4 Stimmen die Magistratsvorlage an, während die Stadtverordneten sie am 5. März 1857 ablehnten, soweit das rechte Spreeufer in Frage stand. Noch einmal hatte Pohle seine Berechnungen über die zu erwartenden Steuereinnahmen begründet, hatte er die Angst vor übertriebenen Forderungen des Polizeipräsidiums 99 A m 26. Juni 1857 faßte auch der Niederbarnimer Kreistag einen entsprechenden Beschluß. 100

Ges. betr. die Landgemeinde-Verfassungen Sammig. S. 359). Nach § 1 sollen Grundstücke, die selbständigen Gutsbezirk angehören, mit einem änderungen können im öffentl. Interesse auch •werden.

in den sechs östl. Provinzen (Ges. bisher noch keinem Gemeinde- oder solchen vereinigt werden. Grenzdurch Kabinettsorder angeordnet

101 Friedrich Bock, geb. 4. 3 . 1 8 0 6 in Soest. Abitur ebendort; Kabinettssekretär der Prinzessin Albrecht von Preußen; 1845 Erwerb des Berliner Bürgerrechts als Hausbesitzer, 1848 Stadtverordneter, 1849—61 unbesoldeter Stadtrat; gest. 14. 7. 1861. 108 Martin Franke, geb. 22. 2. 1810 in Magdeburg; dort Besuch des Domgymnasiums; zieht 1831 nadi Berlin, wird 1832' Bürger; Stadtverordneter 1845—48, unbesoldeter Stadtrat 1850—65 und kommissarisch 1866—67; gest. 6. 8. 1869.

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bei dessen wohlwollender Gesinnung als „Gespenst" und die Besorgnis vor Schwierigkeiten der Verwaltung als unbegründet bekämpft. Duncker hatte ihm mit dem Hinweis sekundiert, daß doch nicht über Nacht eine fertige Stadt aus dem Nichts entstehen solle. Nietz und Engels, der auf eigenen Wunsch in die Gemischte Deputation gewählt worden war, hatten sich auf die Seite des Magistrats gestellt, Schäffer hatte gegen die Vorlage polemisiert, Dr. Veit war für die Bildung einer selbständigen Gemeinde im Osten eingetreten. Einen neuen fruchtbaren Gedanken hatte nur Dr. Schulz103 mit dem Antrage vorgebracht, bei Annahme der Vorlage sofort eine Gemischte Deputation zur Beratung über eine Verwaltungsdezentralisation einzusetzen104. Nachdem sein letzter Verständigungsversuch gescheitert war, berichtete der Magistrat der Regierung über die Beschlüsse der Stadtverordneten und über die eigenen abweichenden Ansichten. Glänzend zeigte sich wieder Pohles weiter Blick, wenn in dem Schreiben von dem „weltgeschichtlichen Zug alles Verkehrs und aller Stadterweiterung von Osten nach Westen an den Strömen entlang" gesprochen wurde. Nicht ewig dürfe der Unterbaum die Grenze sein. Der Magistrat wolle „jenes zukunfstreiche Territorium, das wir mit unseren Mitteln zu dem gemacht, was es jetzt schon ist, nicht zur Begründung einer neuen mit uns rivalisierenden Stadt verwendet sehen".'Über diesen Bericht war die Stadtverordnetenversammlung, der er nach Absendung zur Kenntnis mitgeteilt wurde, sehr verärgert. Sie nannte ihn in öffentlicher Sitzung vorzeitig und unrichtig und reichte der Regierung einen Gegenbericht ein, in dem sie ihre Motive darlegte und in dem sie sich darüber beschwerte, daß der Magistrat nicht vorher den im § 36 der Städteordnung vorgeschriebenen Verständigungsversuch gemacht habe. Die Verteidigung gegen diesen nach allem Vorangegangenen etwas merkwürdigen Vorwurf fiel dem Magistrat nicht schwer. Die Regierung stellte sich ganz auf seine Seite und wies die Vorwürfe als grundlos zurück. Es kam dann noch zu einem kleinen prinzipiellen Streit. Der Magistrat lehnte ausdrücklich eine Verpflichtung ab, bei abweichenden Ansichten der beiden Körperschaften vor Absendung seines Berichts an die Regierung der Versammlung Gelegenheit zu Gegenbemerkungen zu geben. Die Stadtverordneten erklärten nun, auf eine prinzipielle Auseinandersetzung verzichten zu wollen und sprachen nur die Erwartung aus, daß der Magistrat ihnen auf ihren Wunsch einen solchen Bericht vorher 103 104

Praktischer Arzt. Voss. Ztg. vom 6. 3. 1857.

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mitteilen werde. Pohle hatte, als Mann des praktischen Lebens, in Übereinstimmung mit dem Stadtsyndikus Hedemann, die Betonung des prinzipiellen Standpunktes für überflüssig gehalten, war aber in dieser Formfrage bei seinen Kollegen nicht durchgedrungen. Die Sache selbst ging ihrem Ende entgegen. Das Polizeipräsidium schloß sich in einem Bericht vom 31. 10. 1857 an den Minister des Innern dem Antrage der Regierung unter Hervorhebung der polizeilichen Gesichtspunkte an. Seinen Wunsch, den ganzen Tiergarten, nicht nur den bebauten Teil, und die ganze Hasenheide zur Vereinfachung des polizeilichen Geschäftsverkehrs in das neue Weichbild einzubeziehen, hielt es zwar aufrecht, wollte sich aber auch die Bildung selbständiger fiskalischer Gutsbezirke gefallen lassen. Nur betonte es, daß die Hasenheide als Erholungsstätte für die Großsstädter nicht bebaut werden dürfe. Der Minister, der im März noch bezweifelt hatte, ob „eine gerechte, die allgemeinen Interessen möglichst berücksichtigende und die Verletzung von Sonderinteressen vermeidende Entscheidung" zu finden sein werde, war doch nicht gewillt, dieser Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Nur wollte er sie nicht allein fällen, sondern in Zusammenarbeit mit Handels-, Finanz- und Kultusminister. In seinem für alle drei Minister bestimmten Schreiben vom 3 0 . 1 1 . 1 8 5 7 , dem er den Bericht der Regierung vom 18. Juni und den des Polizeipräsidenten vom 14. August beifügte, skizzierte er einleitend die Rechtslage und die großen allgemeinen Gesichtspunkte. Bei der Eingemeindung der in Berlins Nähe entstandenen Ansiedlungen städtischen Charakters „tut man", so hieß es, „nichts anderes, als das man dem natürlichen Entwicklungsgang . . . folgt, und daß man Verhältnissen, welche sich von selbst gebildet haben, durch obrigkeitlichen Anspruch die gesetzliche Grundlage gibt. Man verbindet dadurch mit der Stadt, was dieser seinen Ursprung verdankt und innerlich bereits zu ihr gehört, man trennt vom Lande, was ganz ohne Zutun desselben entstanden und demselben völlig heterogen entgegengesetzt ist, und man beseitigt formelle Hindernisse einer weiteren gedeihlichen Entwicklung". Die Zweifelsfragen, über die der Minister die Ansicht seiner Kollegen erbat, betrafen die von ihm im Gegensatz zum Polizeipräsidenten nicht für notwendig gehaltene Einbeziehung des zu Charlottenburg gehörenden Tiergartenfeldes 105 , der Hasenheide und 105

Es lag zwischen der Charlottenburger Chaussee, dem Kanal und dem Spree-

lauf. Der Polizeipräsident erwartete hier eine ähnliche industrielle Entwicklung wie im gegenüberliegenden Moabit, durch die erhebliche sicherheits- und straßenbaupolizeiliche Bedürfnisse erwachsen mußten, denen Charlottenburg nicht gewachsen sein konnte. 19

Kaeber

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des Tiergartens. Auch über Berlins „Bedingungen" wünschte er die Ansicht der zuständigen Ministerien zu hören. Die Voten der drei Minister gingen bis zum August 1858 ein. Sie wurden vom Ministerium des Innern dem Oberpräsidenten mitgeteilt zwecks Anhörung der Regierung über die Grenzführung. Der Bericht des Oberpräsidenten vom 8. 2. 1859 setzte sich gegenüber Polizeipräsidenten und Handelsminister für die Forderung Berlins ein, daß auch für die neuen Stadtteile der § 4 der Kabinettsorder vom 31. 12. 1838 106 Geltung erhalten müsse, nach dem bei neuen Anlagen von Straßen die Kosten der ersten Pflasterung Unternehmer oder Anlieger zufielen. Das Handelsministerium hatte zwar die Eingemeindung des Tiergartenfeldes und der unbewohnten Teile des Tiergartens gewünscht, verzichtete indessen darauf wegen des dagegen vom Finanzminister im Einklang mit der Ministerialbaukommission und der Tiergartenverwaltung erhobenen Widerspruchs. Dann konnte endlich am 2 . 1 2 . 1 8 5 9 der große Bericht des Staatsministeriums über die Weichbildänderung an den Prinzregenten abgehen. Noch in allerletzter Stunde suchte der Landrat des Kreises Teltow, v. dem Knesebeck, das seinem Kreis drohende Schicksal durch eine Eingabe an den Prinzregenten abzuwenden. Sie konnte natürlich in dieser Stunde keinen Erfolg mehr haben, obwohl der Oberpräsident plötzlich wieder die Bildung einer selbständigen Stadt vor Berlins Toren für „sehr wohl angängig" erklärte. Am 28. Januar 1860 erging die entscheidende Kabinettsorder, durch die das Gebiet Berlins von 3511 auf 5923 ha vergrößert wurde107. Die Erweiterungen lagen im Westen und Süden der Stadt; im Osten und Norden besaß sie ja bereits das umfangreiche Gelände der zur ehemaligen Feldmark gehörigen Gärten, Wiesen und Äcker, das ihrem Ausdehnungsdrang nach diesen Richtungen hin jede Bewegungsfreiheit bot. Nur westlich der Panke und südlich des Landwehrkanals hatte so lange ein künstlicher Unterschied zwischen den natürlich gewachsenen und den öffentlich-rechtlichen Grenzen bestanden. Dem Gewinn an Land entsprach der an Einwohnern keineswegs. Zu 493 000 Bewohnern Berlins los Y g j

über diese für das Verhältnis zwischen Staat und Stadt grundlegende

Kabinettsorder: Clauswitz, Städteordnung, S. 159—163, und den Abdruck in dem Verw. Bericht für 1829—40 (Berlin 1842), S. 55—59. 107

Vgl. hierfür und für die folgenden Angaben: Bericht über die Gemeindever-

waltung der Stadt Berlin in den Jahren 1861—1876, Heft 1, Berlin 1879, S. 38 ff. Auf Seite 40 ist infolge eines Druckfehlers die verhältnismäßige Weichbildvergrößerung mit 59 statt mit 69 v. H . angegeben worden; die richtige Zahl steht auf S. 57.

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traten 35 500 hinzu, d. h. ein Mehr von 7 % gegenüber einer Gebietsvergrößerung von 69 %. Wieder anders lagen die Verhältniszahlen für Wohngebäude mit einer Zunahme um 15, für Fabriken, Mühlen und Magazine um 17 und für Ställe und Schuppen um 15 %. Das Mißverhältnis zwischen den weiten, städtischer Einrichtungen meist noch entbehrenden Flächen Moabits und Weddings und ihrer dünnen, wenig leistungsfähigen Bevölkerung war der immer wieder betonte Grund für die Abneigung der Stadtverordneten gegen diese Erweiterung des Weichbildes gewesen. Daß sie auf Unterschätzung der Entwicklungsmöglichkeiten beruhte, bewiesen die nächsten Jahrzehnte. Von 1860 bis 1875 stieg die Bevölkerung des „neuen Weichbilds", wie man damals gern sagte, von 35 500 auf 152 774, um rund 330 %, während in dem gleichen Zeitraum die Einwohnerschaft der alten Stadtteile sich nur um 65 % hob. Mehr als ausgeglichen hatte sich der Unterschied in der Steuerkraft: von dem Aufkommen an Gemeinde- und Einkommensteuer fielen 1875 auf die neuen Stadtteile fast 20 %, während sie nur 16 % der Gesamtbevölkerung beherbergten. Allerdings waren die Aufwendungen, die das neue Gebiet erforderte, um es dem alten entsprechend mit städtischen Einrichtungen auszustatten, zweifellos lange erheblich höher, als die aus ihm erzielten Einnahmen. Durch die Kabinettsorder war der Kampf um die Berliner Weichbildänderung und gleichzeitig die wichtigste der mit dieser zusammenhängenden Spezialfragen entschieden worden: die Ausdehnung des § 4 der Kabinettsorder vom 31.12. 1838 auf das neue Weichbild. Erst durch die Erfüllung dieser von Anfang an erhobenen Forderung der städtischen Behörden wurde die Übernahme von Moabit und Wedding finanziell tragbar. Anderes blieb späteren Verhandlungen vorbehalten. So vor allem die Entscheidung, ob der Mahl- und Schlachtsteuerbezirk den neuen Stadtgrenzen angepaßt werden solle. Berlin hatte das stets verlangt, der Finanzminister aber entschiedenen Widerstand geleistet. Auch der Passus in dem Bericht des Staatsministers an den Prinzregenten vom 2. 12. 1859, der die Frage berührte, bedeutete kaum mehr als eine verklausulierte Ablehnung. Die nach der Entscheidung über das Weichbild zwischen dem Steuerrat Villaret und Pohle gepflogenen Verhandlungen führten zunächst zu keinem günstigeren Erfolge. Der Magistrat versuchte daher den Minister an der Stelle zu packen, an der Finanzminister verwundbar zu sein pflegen: er rechnete ihm vor, daß die Mahl- und Schlachtsteuer viel mehr einbringen werde als die bisher im „neuen Weichbild" erhobene Klassensteuer. Im Ministerium machte man zwar eine Gegenrechnung auf, am Ende aber stimmte der Minister 19*

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am 21. 3. 1861 dem Wunsche Berlins zu. Auch die übrigen Verwaltungsbezirke, so der engere Polizeibezirk und die Militärverwaltungsbezirke, wurden den neuen Stadtgrenzen angepaßt; ebenso ging die Jurisdiktion über die eingemeindeten Stadtteile auf das Berliner Stadtgericht über. Als Ausführungstermin für die Kabinettsorder wurde durch den Oberpräsidenten der 1.1.1861, als Kommissar für die Auseinandersetzungsverhandlungen zwischen Stadt, Kreisen und Nachbargemeinden Oberregierungsrat Schultze bestimmt. Die Verhandlungen, die für die Stadt im wesentlichen durch Pohle geführt wurden — der zu seinem Mitkommissar ernannte Stadtrat Hesselbarth108 war im Juli 1860 gestorben —, begannen am 19. Mai mit einer Sitzung der Vertreter der Stadt, der beteiligten staatlichen Behörden und der beiden Landräte. Es folgten Verhandlungen mit den Gemeinden Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg, Tempelhof und Rixdorf über die von ihnen erhobenen Entschädigungsforderungen und die von Berlin wohl nur aus taktischen Gründen aufgestellten Gegenforderungen. Lange hatte sich die Stadtverordnetenversammlung demonstrativ gegen jede Beratung über Eingemeindungsfragen vor der endgültigen Vollziehung der Kabinettsorder vom 28. 1. 1860 gesträubt. Schließlich hatte sie im Oktober d. J. doch die Einsetzung einer Gemischten Deputation beantragt. Die erste Sitzung der Deputation wurde durch ausführliche Darlegungen Pohles, ihres Vorsitzenden, ausgefüllt. Am 24. und 28. November und am 6. Dezember 1860 folgten eingehende sachliche Beratungen. Die Deputation sprach Pohle „für umsichtige Wahrung der Interessen der Kommune bei den Auseinandersetzungsverhandlungen sowie für die Vorsorge gehöriger Vorbereitung derselben ihre Anerkennung aus". Diesen Dank wiederholte die Stadtverordnetenversammlung, als sie am 14.12. alle Anträge der Deputation ohne Debatte genehmigte. Alles, was zwischen den beiden städtischen Körperschaften in den letzten Jahren gestanden hatte, war damit ausgelöscht. Es blieb der Dank auch der bisherigen sachlichen Gegner für den Mann, dessen Voraussicht, Energie und Verhandlungskunst für seine Stadt herausgeholt hatte, was nur irgend erwartet werden konnte. Ihren formellen Abschluß fanden die Auseinandersetzungsverhandlungen durch eine Verfügung des Ministers des Innern vom 12. 6. 1861, deren Inhalt sich im wesentlichen mit den Vorschlägen deckte, die am 108 Carl Ulrich Hesselbarth, geb. am 2 . 5 . 1825 in Potsdam, Abiturium dort, Studium der Rechts- und Staatswissenschaft in Berlin und Halle, Regierungsref. 1851, Reg.-Ass. 1855, betraut mit der Verwaltung des Landratsamts Teltow; Stadtrat 1857; gest. schon am 24. 7.1860.

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6. März die Regierung dem Minister unterbreitet hatte109. Die Entschädigungsansprüche des Kreises Teltow und der Gemeinden Charlottenburg und Rixdorf wegen ihres durch den Gebietsverlust erlittenen Steuerausfalles wurden ebenso abgelehnt, wie die Ansprüche Berlins an Charlottenburg, Schöneberg, und Tempelhof wegen des schlechten Zustandes der Straßen in den abgetretenen Bezirken. Audi das Verlangen Berlins, daß die Unterhaltung des unmittelbar vor der Stadtmauer liegenden Straßenzuges zwischen Potsdamer Tor, Brandenburger Tor und der Straße In den Zelten der Tiergartenverwaltung obliegen solle, verfiel der Ablehnung. Der finanziell wichtigste Anspruch, der Schönebergs auf Eintritt Berlins in den zwischen Schöneberg und der Englischen Gasgesellschaft abgeschlossenen Vertrag, wurde den Gerichten zur Entscheidung überlassen. In dem folgenden Prozesse unterlag die Stadt 110 . Das entschädigungslose Ausscheiden des neuen Weichbildes aus dem Kurmärkischen Armenverband fand am 23. 11. 1860 die Zustimmung des Landtags. Sein Verlangen, daß Berlin die Provinz für den auf 122 776 Taler insgesamt bezifferten Ausfall an Kriegsschuldensteuer entschädigen solle, wurde vom Minister zwar als billig anerkannt, die Entschädigung aber wiederum als Sache der Gerichte bezeichnet. Pohle bemerkte zu der Verfügung, daß der Kurmärkische Schuldenverband auf dem Rechtswege kein Glück haben werde; in der Tat hat Berlin keinerlei Zahlungen an ihn geleistet.

4. Die Eingemeindungen

der Jahre 1878 und 1880/81

Nur ein halbes Jahrzehnt dauerte es bis zum Auftauchen weiterer Eingemeindungspläne. Den Anstoß gab die Regierung mit einer Anfrage vom 2. 11. 1866 über die kommunalen Verhältnisse Treptows, der Lohmühlen und Marienthals. Diese Etablissements gehörten, wie Pohle bemerkte, zum Gutsbezirk Treptow, in dem Berlin, wie ehemals auf dem Weddingland, die polizeilichen Pflichten ausübte, ohne daß diesen obrigkeitliche Rechte gegenüberstanden. Pohle hatte nichts gegen die Eingemeindung Treptows und damit zugleich der anschließenden Cöllnischen Wiesen einzuwenden, hielt sie aber nicht für dringlich. Ein Gutachten der Forst- und Ökonomiedeputation sprach sich aus finanziellen Gründen dagegen aus und für die Bildung eines Gutsbezirks im 108 110

Min. d. I. St. B. Nr. 49, Bd. II. Verwaltungsberidu f ü r die Jahre 1 8 7 1 — 1 8 7 6 , H e f t 2, S. 100 f.

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gesetzlichen Sinne111. Der Magistrat, für den jetzt Duncker, seit 1860 Stadtsyndikus, die Feder führte, gab sich damit nicht zufrieden. Er verlangte eine eingehende Äußerung über alle Verhältnisse des Gebiets und eine darauf gegründete Untersuchung über die zweckmäßigste Gestaltung seiner kommunalen Organisation. Er machte auf die für eine Eingemeindung sprechende Anlegung einer Uferstraße an der Oberspree aufmerksam und warf gegenüber den augenblicklichen finanziellen Vor- oder Nachteilen die zukünftige Entwicklung in die Waagschale. Das von Pohle unterzeichnete Gutachten der Deputation vom 20. 4. 1867 lehnte die Eingemeindung ab, weil sie sehr bedeutende Kosten und den Ubergang der Polizeigewalt an das Polizeipräsidium zur Folge haben würde. Da für die Bildung einer Dorfgemeinde alle Voraussetzungen fehlten, wünschte die Deputation keine Änderung des augenblicklichen Zustandes auf diesem Gebiete, auf dem Berlin als Gutsherrschaft die Wahrung seiner Interessen in seiner Hand hatte. Diesem Votum hatte die Deputation eine ausführliche historisch-topographische Schilderung des Gebietes vorausgeschickt112. In seinem im Konzept von Dunckers Hand stark korrigierten Bericht an die Regierung wiederholte der Magistrat die Angaben der Deputation über die tatsächlichen, trug aber über die rechtlichen Verhältnisse eine abweichende Auffassung vor. Die Deputation hatte das Treptower Heide- und Wiesengebiet als einen selbständigen Gutsverband und die Stadt Berlin als Gutsherrschaft mit allen Rechten und Pflichten im Sinne des Privilegs von 1508 angesehen, das Berlin die volle Gerichtsbarkeit über sein Stadtgebiet übertrug113. Der Magistrat vermißte die rechtlichen Voraussetzungen, um Treptow als einen der Stadt gehörenden Gutsbezirk zu betrachten, wollte es vielmehr zur „Feldmark der Stadt" rechnen, die zwar nicht zum engeren Weichbilde, wohl aber zum Stadtbezirk im Sinne der Städteordnung gehöre. Daraus folgerte er die Zugehörigkeit der Be-

111

Das Konzept hatte der Dezernent, der Stadtverordnete Seydel, entworfen:

St. A., Stadtgrenzen, ad Nr. 1. 112

Da die für diese Schilderung benutzten Akten in die kleine Geschichte Treptows

von Richard Lohmann: Aus Treptows Vergangenheit, wissenschaftl. Beilage d. Treptower Realgymnasiums 1914, übergegangen sind, seien hier nur einige ergänzende Daten nachgetragen: Die eigentliche Kolonie Treptow bestand 1867 aus 19 Grundstücken mit 92 Einwohnern; die Kolonie Lohmühlen, zuerst 1752 erwähnt gelegentlich der Verpachtung von 8 Morgen an zwei Gerber, zählte zwar nur 8 bebaute Grundstücke, aber 107 Einwohner, da zu ihr die Dr.-Jordansche Anilinfabrik und mehrere Gärtnereien gehörten; das Gut Marienthal besaß der Gärtner Laspeyres; es hatte nur 5 Einwohner. 113 Vgl. übrigens über die Vorgeschichte Treptows auch Clauswitz, Pläne, S. 8 2 — 8 5 .

Das Weichbild der Stadt Berlin seit der Steinschen

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295

wohner zur Stadtgemeinde und deren Verpflichtung, in dem Gebiet die seiner landwirtschaftlichen Benutzung entsprechenden Einrichtungen zu treffen. Diesen Deduktionen vermochte sich die Regierung nicht anzuschließen. Sie leugnete, sicher mit Recht, die Unterscheidung zwischen Weichbild und Stadtbezirk und führte ferner an, daß die Bewohner dieser Kolonien bisher als Kreisangehörige zu den Kreisabgaben herangezogen worden waren. Sie empfahl daher, durch Vernehmung der Interessenten die einleitenden Schritte für eine Eingemeindung zu tun. Der Magistrat mußte in seinem, nun wieder von Pohles Hand niedergeschriebenen Beschluß vom 17.2. 1868 anerkennen, daß im geltenden Recht kein Platz für den Begriff der städtischen Feldmark, sondern nur für den des Weichbildes war, und daß dieses die Cöllnische Heide und die Cöllnischen Wiesen nicht einschloß, die allerdings auch keinen Gutsbezirk im Sinne des Gesetzes bildeten. Die Deputation wurde deshalb zu einem erneuten Gutachten über die kommunalen Verhältnisse des rechtlich in der Luft schwebenden Gebietes aufgefordert, schon vorher aber die Regierung davon verständigt, daß bei der durch die Eingemeindungen von 1860 angespannten Finanzlage der Stadt ein Eingemeindungsbeschluß kaum durchzubringen sein werde. Die Deputation ließ sich trotz energischer, bis zur Verhängung von Ordnungsstrafen gehender Mahnungen der Regierung reichlich Zeit. Erst nach über zwei Jahren beantwortete sie am 24. 5. 1870 die Verfügung des Magistrats; sie entschuldigte sich damit, daß in der Zwischenzeit das Dezernat von dem Stadtrat Wilkens114 auf den Stadtrat Ulimann115 übergegangen war. Noch immer war Pohle Mitglied der Deputation, deren Gutachten sachlich ganz dem vom 20.4. 1867 entsprach. Noch weit energischer wurde „als Moment von ganz unabsehbarer Tragweite" betont, „daß, bei der Verwaltung des Distrikts als Gutsbezirk, die künftige Entwicklung jenes Territorii nach gewissen Normen im vollen und alleinigen städtischen Interesse zu regeln . . . der Kommune ausschließlich überlassen bleibt, daß letztere also eintretenden Falles die Wahrung ihrer Interessen in der Hand behält und nicht von der Bestimmung Dritter abhängig zu machen braucht". Ein der Deputation gleichzeitig zur Äußerung überwiesener Antrag des Fabrikanten Ebert und mehrerer anderer Bewohner des Kottbuser Dammes 1,4 Friedr. Aug. Ferdinand Wilkens, Geh. O.-Finanzrat a. D., unbesoldeter Stadtrat 1867—72. Mitglied des Herrenhauses 1868—72. 115 Paul Hermann Ulimann, Stadtrichter a. D., unbesoldeter Stadtrat 1869—74.

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auf Einbeziehung des Dreiecks zwischen Kottbuser Damm und Maybachufer in das Stadtgebiet wurde mit der Begründung abgelehnt, daß eine abermalige Veränderung des Weichbildes nicht im Interesse Berlins wäre, zumal es „im Prinzip der Kommunalbehörden läge", Änderungen an der gegenwärtigen Gestalt des Weichbildes nicht ohne zwingende Notwendigkeit vorzunehmen. Es war das erstemal, daß dieser Grundsatz, der von nun an in den Äußerungen des Magistrats und seiner vornehmsten Mitglieder immer wiederkehrt, so scharf ausgesprochen wurde. Berlin war saturiert; auch Pohle, der in den fünfziger Jahren mit dem Polizeipräsidenten sich so eng verbunden hatte, war jetzt nicht gewillt, um einer Erweiterung des Stadtgebiets und damit der städtischen Steuerhoheit willen den Einfluß des Polizeipräsidiums auf ein Gebiet auszudehnen, das bei seiner dünnen Bevölkerung keine besonderen finanziellen Aufwendungen erforderte. Das positive Ziel des Magistrats ging noch über die Absichten der Deputation hinaus. Er wollte zwar bis auf weiteres in Treptow die Verwaltung durch die Forst- und Ökonomiedeputation führen lassen, begründete aber die Ablehnung des Antrags Ebert damit, daß er das „Erstehen lebensfähiger Kolonien um Berlin als ersprießlicher erachte, als die Erweiterung des Weichbildes""®. Die Deputation wurde angewiesen, künftig die Entstehung solcher Gemeinden in mittelbarer Nähe Berlins und daher nach der Vereinigung von Deutsch- und BöhmischRixdorf zu einer politischen Gemeinde" 7 die Zuweisung der Cöllnischen Wiesen an diese Gemeinde zu befördern. Nur für Treptow und Umgebung wurde das Interesse der Stadt an der Fortdauer ihrer eigenen Verwaltung anerkannt. Als auf Grund der Kreisordnung von 1872 eine Änderung der Verwaltungsorganisation notwendig wurde, entschloß sich der Magistrat, auch die bisherige Verbindung zwischen Treptow und der Stadt zu lösen, da er auf keinen Fall eine Eingemeindung wünschte. Treptow wurde daher selbständige Gemeinde" 8 . Das 1870 aufgestellte neue Prinzip der städtischen Behörden, Berlin mit selbständigen Landgemeinden zu umgeben, war damit hier zur Wirklichkeit geworden. Selbst die in unmittelbarer Nähe Berlins auf Charlottenburger Gebiet entstehenden Häuser in der Kurfürstenstraße konnten ebensowenig wie 116

Bericht v o m 24. 6. 1870 auf

Grund eines von Pohle

niedergeschriebenen

Magistratsbeschlusses v o m 17. 6. 1870. 117

Sie erfolgte im Juli 1873 auf Grund eines Gesetzes v o m Jahre 1872.

118

Sie wurde durdi Erlaß v o m 2 2 . 1 . 1 8 7 6 als solche bestätigt.

Das Weichbild, der Stadt Berlin seit der Steinseben Städteordnung

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das Kielgansche Villenviertel zwischen Kurfürstenstraße, Motzstraße und Nollendorfplatz die Stadt verlocken119. Noch weniger Eindruck machte ein Artikel des Charlottenburger Wochenblattes (1867, Nr. 17 bis 24), der für eine Verschmelzung Charlottenburgs mit Berlin eintrat. Er wurde ohne weiteres zu den Akten geschrieben. Es war ein völliger Stimmungsumschwung innerhalb des Magistrats erfolgt. Eine grundlegende Änderung der kommunalen Organisation Berlins und seiner Umgebung suchte der Gesetzentwurf über die Bildung einer Provinz Berlin herbeizuführen. Er war in gewissem Sinne eine Folge des Gesetzentwurfes über die Provinzialordnung für die Provinzen Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen, da in ihm das Ausscheiden Berlins aus dem Provinzialverbande in Aussicht genommen wurde. Der großzügige Plan, der schon 1874 die Form eines vorläufigen Gesetzentwurfes annahm, ist über Ausschußberatungen im Landtage nicht hinausgekommen. Wir können hier auf den interessanten Versuch, Eingemeindungen größeren Stils durch eine übergemeindliche Organisation überflüssig zu machen, nicht näher eingehen. Die Stadtverordnetenversammlung ließ sich übrigens durch diese Aussicht nicht abhalten, Eingemeindungen an den Stellen zu befürworten, an denen die Stadt von innen heraus ihre Grenzen überschritten hatte, an denen also die neuen Ansiedlungen mit städtischen Grundstücken im Gemenge lagen. Sie dachte dabei an das Kielgansche Villenviertel, dessen Einwohner jahrelang eine lebhafte Propaganda für ihre Eingemeindung entfalteten. Der Magistrat aber verhielt sich gerade mit Rücksicht auf die beabsichtigte Bildung eines höheren Kommunalverbandes und die dabei ohne Schwierigkeit vorzunehmende Ausgleichung von Weichbildgrenzen ablehnend; die Majorität der Stadtverordnetenversammlung gab sich damit zufrieden. Die seit der großen Eingemeindung von 1860 gewandelte prinzipielle Einstellung der Berliner Kommunalverwaltung kam scharf gerade in dem Augenblick zum Ausdruck, in dem die Stadt sich doch zu einer Erweiterung ihres Gebiets entschließen mußte. Nach langen, vergeblichen Verhandlungen mit der Berliner Viehmarktaktiengesellschaft, die einen von Strousberg begründeten, 27 ha großen Viehmarkt mit Schlachthäusern im Norden Berlins besaß, hatte die Stadt am 28.10. 1876 auf unmittelbar an ihr Weichbild angrenzendem Lichtenberger Gebiet ein Terrain für die Anlage eines städtischen Vieh- und Schlacht"» Magistratsbeschluß vom 17. 11. 1868.

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Das Weìdhbild der Stadt Berlin seit der Steinseben

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hofes angekauft 120 . Schon unmittelbar nach dem grundsätzlich dem Ankauf zustimmenden Beschluß der Stadtverordneten hatte der Magistrat die Eingemeindung dieses Gebietes beantragt 121 . Uber seine Abgrenzung konnten sich zunächst der Magistrat, der nicht über die Frankfurter Chaussee nach Süden hinausgehen wollte, und der Polizeipräsident nidit einigen. Doch gab dieser seinen Widerspruch auf, als sich Berlin erbot, die Kosten für die veterinärpolizeiliche Überwachung der weiteren Umgebung des Viehhofes und insbesondere der Viehabladestelle bei Rummelsburg zu übernehmen. Dieses Angebot war das Ergebnis persönlicher Verhandlungen zwischen Unterstaatssekretär Bitter vom Ministerium des Innern und Oberbürgermeister Hobrecht, der glänzendsten Persönlichkeit, die seit der Steinschen Städteordnung an der Spitze der Berliner Verwaltung gestanden hat 122 . Hobrecht erklärte nun in diesem Zusammenhang trotz des Scheiterns des von ihm betriebenen Planes einer Provinz Berlin in einem Brief an Bitter, daß Berlin es als sein eigenes Interesse anerkenne, von lebensfähigen, kräftigen Gemeinden umgeben zu sein. Fast in der nämlichen Form hatte vier Wochen vorher der Magistrat den gleichen Gedanken in einem Bericht an den Minister ausgedrückt. Eben deshalb wollte Berlin nur das unbedingt für den Viehhof erforderliche Stück von Lichtenberg eingemeinden, während der Kreistag von Niederbarnim auch das südlich der Frankfurter Chaussee gelegene Friedrichsberg und am liebsten auch Boxhagen und Rummelsburg eingemeindet wissen wollte 123 . Der Minister des Innern stimmte mit dem Magistrat und seinem Oberbürgermeister überein. Er trat in einer Verfügung vom 2 0 . 1 1 . 1 8 7 7 dem Streben des Polizeipräsidenten entgegen, das Weichbild Berlins auf alle angrenzenden Be120

Verwaltungsberidit 1861—1876, H e f t 2, S. 147. Die Rechtsgrundlage bot das

Gesetz vom 18. 3. 1868 betr. die Errichtung öffentlicher ausschließlich zu benutzender Schlachthäuser: ebenda, S. 145. Für die Verhandlungen mit der Viehmarkts-A. G. und die Ausführung des Projekts vgl. Verwaltungsbericht 1877—1881, T. I, Berlin 1883, S. 106 f. 121

Bericht der Regierung an den M. d. I. vom 19. 5 . 1 8 7 6 : Min. d. I. St. B. N r . 36

Bd. I. Hier auch die weiteren Verhandlungen. [122

V

gi Kaeber, Die Oberbürgermeister Berlins seit der Steinschen Städteordnung.

In: Jahrbuch 1952 V. G. Blns., S. 76 ff., sowie Fritz Schmidt-Clausing, Berlins R e gierende' seit 1809. In: Berliner Blätter, Jg. 1961.] 123

Clauswitz, Pläne, S. 103, läßt die Eingemeindung durch Kabinettsorder infolge

des Widerspruchs des Polizeipräsidenten nötig werden. Dieser war aber durch das Entgegenkommen Berlins in den veterinärpolizeilichen Fragen erledigt worden. Nach dem Bericht der Regierung an den Minister des Innern vom 2 6 . 1 . 1878 erhoben nur noch der Kreis Niederbarnim und die Direktion der Niederschlesisdi-Märkischen Eisenbahn Einspruch.

Das Weichbild

der Stadt Berlin seit der Steinschen

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299

zirke auszudehnen, „in welchen das Bedürfnis einer kräftigen, mit der Polizeiverwaltung Berlins in Verbindung stehenden Verwaltung der Sicherheitspolizei sich geltend machte", weil dadurch „eine unberechenbare Vergrößerung Berlins" entspringen müßte, die weder im Interesse des Staates noch in dem der Stadt läge. Zum ersten Male wurde gegen eine Vergrößerung Berlins das Staatsinteresse angerufen. In diesem Augenblicke deckte es sich mit der Auffassung, die Berlin von seinem eigenen Interesse hatte 124 ; es sollte der Augenblick kommen, wo beide in Gegensatz gerieten. Während die Eingemeindung des Viehhofs sich rasch vollzog (Kabinettsorder vom 30. 3.1878), dauerte es länger, bis die letzte bedeutendere Erweiterung des Stadtgebietes vor dem Gesetz vom 23. 4.1920 zustande kam. Auch in diesem Falle handelte es sich nicht darum, städtisch bebautes und innerlich zu Berlin gehöriges Gebiet an seinen Grenzen mit ihm zu verbinden, sondern um Ausführung eines alten, schon bei den Verhandlungen der fünfziger Jahre erwogenen Planes. Damals war die vom Polizeipräsidenten und vom Handelsminister gewünschte Eingemeindung des Tiergartens und der Hasenheide an dem Widerstand des Finanzministers gescheitert. Nach dem sie 1873 durch die Regierung ohne Erfolg beim Magistrat angeregt worden war 125 , kam sie gelegentlich der Beratungen über die Provinz Berlin in der Kommission des Abgeordnetenhauses zur Sprache und wurde vom Ministerium alsbald aufgegriffen. Der Magistrat ließ seine anfangs erhobenen Einwendungen fallen. Er überzeugte sich von der Notwendigkeit, daß der eigentlichen Tiergarten, der Seepark — heute die Umgebung des Neuen Sees — und der Park Bellevue zu irgendeinem Gemeindeverband gehören mußten und daß dies nur Berlin sein konnte. Die Stadtverordneten waren damit einverstanden. Der Beschluß verzögerte sich, weil das Kriegsministerium die Artillerie- und Ingenieurschule in der Hardenbergstraße und weil das Handelsministerium den Hippodrom mit der Technischen Hochschule, die beide auf Charlottenburger Gebiet lagen, einzugemeinden wünschten. Der Handelsminister war der Ansicht, daß zwischen der Hochschule als einer der hervorragendsten Lehranstalten des Staates und der Stadt Berlin eine geistige Gemeinschaft bestände, die auch in der öffentlich-rechtlichen Zusammengehörigkeit Ausdruck finden müsse. 1 2 4 So hatte der Magistrat in seinem Bericht an den Minister vom 17. 1 0 . 1 8 7 7 selbst gesagt, daß die „höheren" allgemeinen Interessen die Bildung selbsttätiger, selbständiger Gemeinden in der nächsten Umgebung der Großstadt erforderten. 1 2 5 Verwaltungsbericht 1877—1881, T. I, S. 47.

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Die Bestrebungen der beiden Minister, bei denen natürlich ein wenig Prestigepolitik im Spiel war — sie fanden es etwas degradierend, daß ihre schönen Anstalten in dem kleinen Charlottenburg und nicht in dem großen Berlin liegen sollten —, trafen schon bei der Regierung auf kein Verständnis128. Da man den Bahnhof Zoologischer Garten nicht gut von Charlottenburg trennen konnte, weil auf dessen Gebiet seine Zufahrtsstraßen lagen, mußten auch die in der gleichen Straße liegenden Anstalten, die Artillerie- und Ingenieurschule und die königliche Baumschule, innerhalb Charlottenburgs bleiben. Die Technische Hochschule, die ebenfalls in einer Straße Charlottenburgs lag, von diesem zu trennen, hätte Charlottenburg finanziell empfindlich geschädigt, ohne daß man diese Schädigung durch ein öffentliches Interesse hätte bemänteln können. Denn die Kanalisation der Hochschule ließ sich bei gutem Willen der Beteiligten auch ohne Weichbildänderung durchführen. Stimmte die Regierung darin der Stadt Charlottenburg zu, so ging sie doch nicht soweit, auch den Zoologischen Garten selbst, den Seepark und den Hippodrom von dem eigentlichen Tiergartenterrain trennen zu wollen. Die Rechtsverhältnisse waren hier nicht ganz klare. Das Gelände des Zoologischen Gartens gehörte ursprünglich zur Feldmark Charlottenburg, war 1742 von Friedrich II. für die Anlage einer Fasanerie angekauft worden127 und gehörte auch nach seiner Umwandlung in einen Zoologischen Garten zum Gutsbezirk Tiergarten. Das war durch Verfügung des Finanzministers vom 23. 6.1872 festgestellt worden. Seine Bewohner aber wurden trotzdem nach Personenstands- und Steuerverhältnissen zu Charlottenburg gerechnet. Für seine Zuteilung zu Berlin führte die Regierung an, daß die polizeiliche Überwachung nicht der schwachen Charlottenburger Polizei überlassen werden dürfte. Schon jetzt unterstand er, wie der Tiergarten, dem Berliner Polizeipräsidenten; kam der Tiergarten zu Berlin, durfte der Zoologische Garten nicht von ihm getrennt werden. Auch der Hippodrom lag auf Charlottenburger Grund und Boden, der erst 1842 von der Tiergartenverwaltung angekauft worden war, ohne dem Tiergarten ausdrücklich angegliedert worden zu sein. Seine Grundstücke standen noch im Charlottenburger Grundbuch. Trotzdem war der Hippodrom nicht gut vom Tiergarten zu lösen, dessen Zwecken er diente. Der Seepark schließlich bildete einen Teil des Gutsbezirks Tiergarten. 128

Bericht v o m 28. 2. 1879 an den Min. d. I.

127

V g l . B o g d a n Krieger, Berlin i m Wandel der Zeiten, Berlin o. J. (1923), S. 397 ff.

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der Stadt Berlin seit der Steinschen

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Der Magistrat von Charlottenburg hatte schon am 22. 5.1877 bei der Regierung gegen die Abtretung des Zoologischen Gartens und des Hippodroms Einspruch erhoben. In einem Bericht an den Minister des Innern vom 3. 9. 1879 nahm er mindestens gewohnheitsrechtlich eine Zugehörigkeit des Zoologischen Gartens und des Seeparks zu Charlottenburg an. Er konnte sich für den Seepark auf den klaren Wortlaut der Kabinettsorder vom 28. 1. 1860 berufen. Aber wenn es in dieser Kabinettsorder hieß, daß von der Eingemeindung nach Berlin der „zur Charlottenburger Feldmark gehörige Seepark" ausgeschlossen sein sollte, so lag hier ein recht merkwürdiger Irrtum vor, der aus einem älteren Bericht der Regierung und einem Votum des Finanzministers vom 15. 6. 1858 in den Text der Kabinettsorder geraten war. Daß es sich tatsächlich um einen Irrtum handelte, erkannte der Finanzminister unter dem 5.5. 1879 an. Er fügte hinzu, daß der Seepark, das ehemalige „Eisbruch", seit der Erweiterung der Fasanerie durch die Kabinettsorder vom 17. 1. 1832 vorübergehend zur Fasanerie gehört hätte, bis er 1841 infolge der Gründung des Zoologischen Gartens an die Tiergartenverwaltung zurückfiel. Der Gutsbezirk Tiergarten gehörte dem Kreise Teltow an. Kreisgrenzen durften nach der Kreisordnung von 1872 nur durch Gesetz geändert werden. Die Regierung arbeitete deshalb auf Grund ihres von den Ministern des Innern und der Finanzen gebilligten Berichtes einen Gesetzentwurf aus, der unverändert am 15.1. 1881 in Kraft trat. Die Eingemeindung des Hippodroms und des kleinen, jenseits des alten Landwehrgrabens auf der Charlottenburger Feldmark liegenden Teils des Seeparks erfolgte, da zwischen den Beteiligten kein Einverständnis erzielt worden war, durch Kabinettsorder vom 2. 2. 1881, und die des bisher zu keinem Kommunalverband gehörenden Schloßbezirks Bellevue durch Verfügung des Ministers des Inneren vom 7. 2.1881 128 . Gleichzeitig mit dem Tiergarten hatte die Hasenheide, die ebenfalls fiskalischer Besitz war, an Berlin angeschlossen werden sollen. Der Magistrat und besonders die Stadtverordnetenversammlung hatten lebhaftes Interesse daran, die Hasenheide zu erwerben, um sie zu einem öffentlichen Park auszugestalten. Voraussetzung dafür war, daß für die dort befindlichen Schießstände an anderer Stelle Ersatz gefunden werden konnte. Daran war indessen nicht zu denken, vielmehr kaufte 1878 die Reichsmilitärverwaltung die Hasenheide an. Damit schied sie für absehbare Zeit aus allen Eingemeindungsplänen aus. 128

Clauswitz, Pläne, S. 104 ff.

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T E I L II

Der Kampf um Groß-Berlin

1890—1920

1. DasVorspiel: Die Eingemeindungsverhandlungen

mit Charlottenburg

Vier Jahrzehnte trennen die Schaffung der neuen Stadtgemeinde Berlin durch Gesetz vom 27. April 1920 von der 1881 erfolgten Eingemeindung des Tiergartens, des Zoologischen Gartens und des Schloßbezirks Bellevue; sechs Jahrzehnte gar liegen zwischen ihr und der letzten großen Eingemeindung von 1860. Sie sind erfüllt von auf einander folgenden Versuchen, das zu eng werdende Gewand der Reichshauptstadt ihrem Wachstum anzupassen. Keiner dieser Versuche führte bis an das Ende des großen Krieges zum Ziele. Trotzdem wird die Geschichtsschreibung aus ihrem Verlauf wertvolle Erkenntnisse gewinnen für die Zustände des sich bildenden Großberlin, für seine lebendigen Kräfte und für die Willens- und Gedankenrichtung der maßgebenden Männer in Staat und Gemeinde zu diesem immer mehr in den Mittelpunkt der Entwicklung rückenden Fragenkreis. Das erste Glied in der Kette bilden die Verhandlungen über eine Eingemeindung der Stadt Charlottenburg. Sie setzten schon 1868 ein, als zuerst innerhalb des 18. Charlottenburger Stadtbezirks eine Bewegung für eine Vereinigung mit Berlin erwachte129. Der Charlottenburger Magistrat schloß seinen an den Polizeipräsidenten gerichteten Protest gegen die Abtrennung dieses zwischen Kurfürsten-, Motz-, Kleist- und Tauentzienstraße liegenden, von dem Mittelpunkt Charlottenburgs weit entfernten, an Berlin angrenzenden Bezirks damit, daß er eine Gesamteingemeindung Charlottenburgs anheimstellte, wenn „höhere landespolizeiliche Rücksichten" für die Abtrennung geltend gemacht werden sollten. Noch ging die Gefahr schnell vorüber, weil zwar der Polizeipräsident die Vereinigung der beiden Städte für die beste Lösung hielt, die Regierung aber den Antrag des Bezirks ablehnte. Sieben Jahre später nahm der Gesetzesentwurf über die Bildung einer Provinz Berlin in Aussicht, den 18. Charlottenburger Stadtbezirk mit Berlin zu verbinden; das Ministerium trat im Sommer 1876 gerade deshalb dafür ein, 1 2 9 Denkschrift über die Vereinigung des Stadtkreises Charlottenburg mit der Haupt- und Residenzstadt Berlin, verf. i. A u f t r . d. H. Ministers d. Inn. vom Magistrat Charlottenburg im Sept. 1882, S. 3. Die Denkschrift umfaßt 69 Druckseiten, nicht im Buchhandel.

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weil das Gesetz nicht zustande gekommen war130. Die von der Regierung eingeleiteten Verhandlungen stießen nirgends auf Gegenliebe. Eine Audienz der städtischen Behörden Charlottenburgs beim Könige stärkte sie in ihrem Widerstand, konnte jedoch den Verlust des Tiergartens und der anstoßenden unbebauten Gebiete nicht vermeiden. Im Zusammenhang mit der Eingemeindung des Hippodroms erklärten sich die Charlottenburger Stadtverordneten gegen die Abtrennung irgendeines Gebietsteiles und baten, „einerseits zur Beseitigung der aus der Lage beider Städte resultierenden nicht wegzuleugnenden Übelstände . . . , andererseits zur Beseitigung der die wirtschaftliche Existenz und Entwicklung der Stadt Charlottenburg auf das tiefste schädigenden unablässigen Abtrennungsverhandlungen" entweder Charlottenburg ganz in Berlin einzugemeinden oder die Unversehrtheit seines Stadtgebietes anzuerkennen. Der Magistrat teilte ihre Ansicht, doch waren Regierung und Ministerium dieser Lösung nicht geneigt131. In Berlin standen sich der Magistrat, der unter Hobrechts Einfluß die Gemeinden um Berlin lebensfähig erhalten wollte, und die Stadtverordneten, die eine Herausschiebung der Grenze nach Westen auf Kosten Charlottenburgs und Schönebergs wünschten, zunächst gegenüber. Ende 1880 aber erklärten sich die Stadtverordneten mit einer bloßen Grenzberichtigung gegenüber Charlottenburg einverstanden. Ein neuer Anstoß kam vom Ministerium des Innern, das sich überraschend entschieden hatte, der Eingemeindung von ganz Charlottenburg näher zu treten132. Im Landtag war bei Beratung des Gesetzentwurfs über die allgemeine Landesverwaltung fast von allen Seiten die durch die Berliner Abgeordneten Schelle und Straßmann wiederum befürwortete Bildung einer Provinz Berlin abgelehnt worden, weil durch sie ein lebensfähiger Kommunalverband nicht entstehen würde. Es blieben daher nach Meinung des Ministers, der sicher durch den Referenten, Geh. Oberregierungsrat Herrfurth, den späteren Minister, beeinflußt war, nur Eingemeindungen übrig, in erster Linie die von Char130

Min. d. I., Archiv IV „Stadt Berlin" Nr. 36, Bd. I. Diese Akten auch für das Folgende, soweit nicht andere Quellen, bes. die S. 309 Anm. 143 genannten in Frage kommen. 181

Denkschrift S. 5 und Bericht vom 28. 2. 1879. 132 v f g . an die Regierung vom 15. 3.1880 nach Lokalbesichtigung am 13. 3., bei der sich der Vertreter Charlottenburgs auf eine Bemerkung des Vertreters des Innenministeriums, wohl Herrfurths, bereit erklärte, eine Denkschrift über die Vorteile einer Vereinigung der Stadt mit Berlin zu verfassen. So behauptet wenigstens der Berliner Magistrat in seinem w. u. zu erwähnenden Bericht vom 16. 7.1884.

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lottenburg. Durch diese sollte Berlin im Westen und Nordwesten dauernde natürliche Grenzen erhalten, den Grunewald, die Spree, den Spandauer Schiffahrtskanal und den Tegeler Forst. Die Potsdamer Regierung wurde beauftragt, durch den Charlottenburger Magistrat eine ausführliche Denkschrift über die Vorteile des Planes ausarbeiten zu lassen, den Charlottenburg selbst ja zuerst zur Erörterung gestellt hatte. Zwar hatte dessen Magistrat damit wohl nur die Lostrennung einzelner Gebiete vermeiden wollen, doch konnte er jetzt nicht mehr zurück. Die Öffentlichkeit geriet in Erregung. In Charlottenburg gab es die kleine nach Berlin schielende „Doktorenpartei" und die lokalpatriotische Mehrheit, deren Wahlspruch, „alles oder nichts" von der Minderheit aus taktischen Gründen unterstützt wurde. Eine durch den Verein der Stadtbezirke von Charlottenburg einberufene Versammlung stellte sich auf denselben Standpunkt. Dann wurde es wieder stiller. Die Behörden arbeiteten. In Charlottenburg war zur Vorbereitung eine Weichbildkommission gebildet worden, die im März 1881 zusammentrat133. In ihr saßen so angesehene Stadtverordnete wie der große Statistiker Prof. Dieterici, Kommerzienrat Damcke, der Stadtverordnetenvorsteher und Reichstagsabgeordnete Wolmer und als Protokollführer der Oberprediger Kollaz. Der Bürgermeister Fritsche beteiligte sich trotz mehrfacher Bitten an den Beratungen nicht134. Sie standen ganz im Zeichen freudigen Aufgehens in das große Berlin. Immerhin wollte man nach außen hin jene Sprödigkeit zur Schau tragen, die einer Verlobten ziemt. Unter diesen Gesichtspunkten wurde die Ausarbeitung einer Denkschrift beschlossen, für die ein Promemoria Dietericis die Grundlage bilden sollte. Widerspruch gegen die Aufgabe der Selbständigkeit seiner Stadt hatte allein Stadtrat Häsel erhoben. Er sah darin ein überflüssiges Opfer, das man bald bereuen werde. Ehe die Kommission ihre Gedankengänge festlegen konnte, nahm Fritsche selbst die Abfassung einer weit ausführlicher angelegten Denkschrift 133

Akten des Magistrats Charlottenburg betr. Vereinigung von Charlottenburg mit Berlin: Abt. A Fach 1 Nr. 4 Bd. I. 134 Hans Fritsche, geb. 4. 9 . 1 8 3 2 in Stendal als Sohn eines Oberförsters, 1860—70 Kreisrichter, 1870 Bürgermeister von Bernburg, 1872 von Guben und seit Januar 1877 von Charlottenburg. Durch Kabinettsorder vom 18. 5. 1887 erhielt er den Titel Oberbürgermeister; gest. 16. 3. 98. Unter Fritsche, einem ebenso tüchtigen wie gewandten Verwaltungsbeamten erfolgte der erstaunliche Aufstieg Charlottenburgs zu einem auf allen Gebieten der Kommunalwirtschaft mustergültigen städtischen Gemeinwesen. Die Einwohnerzahl, die zwischen 1855 und 1875 nur von 10 000 auf 25 000 gestiegen war, hatte 1895 schon 132 000 erreicht. Vgl. Wilh. Gundlach, Geschichte der Stadt Charlottenburg, Berlin 1905, I, 482, II, 478 sowie I, 481.

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in die Hand. Kurz bevor sie fertig war, ging dem Ministerium, in dessen Bereich sich solange nichts gerührt hatte, eine Eingabe des Vorstandes des Vereins der Stadtbezirke zu, die sich lebhaft für die Einverleibung Charlottenburgs in Berlin einsetzte. Die Befürchtungen, daß durch sie die Verwaltung Berlins zu unübersichtlich werden würde, entkräftigte sie durch eingehende Vorschläge für eine Dezentralisation der Verwaltung. Gleich darauf, am 8.7.1882, trug Fritsche die Grundgedanken seiner Denkschrift der Weichbildkommission vor, die diese „mit eisernem Fleiß und größter Gründlichkeit" durchgeführte Arbeit dankend anerkannte. Fritsches Schrift gliederte sich in vier Teile. Der erste gab einen geschichtlichen Überblick; der zweite behandelte die durch die Trennung Berlins und Charlottenburgs bedingten Übelstände und ihre Beseitigung durch Vereinigung beider Städte; daß daraus Berlin besondere Lasten nicht erwachsen würden, bewies der dritte Teil durch Schilderung der finanziellen und wirtschaftlichen Lage Charlottenburgs. Ein Schlußkapitel machte Vorschläge für eine Sonderverwaltung Charlottenburgs durch eine ständige Gemischte Deputation und betonte, daß die Eingemeindung nur mit Übereinstimmung beider Städte durchgeführt werden dürfe. Der wichtigste zweite Teil macht einen sehr überzeugenden Eindruck nicht, es kommt darin wohl ein gewisses inneres Widerstreben zum Ausdruck, mit dem der Charlottenburger Bürgermeister an die Arbeit gegangen war. Aber spürte denn auch der andere Partner, spürte Berlin Neigung zu der ihm angetragenen Vernunftehe? Es überlegte sich die Sache reiflich. Aus den sechs Monaten, die sich der Magistrat für eine Antwort ausbedungen hatte, wurden eineinhalb Jahre. Erst Mitte 1884 ging der Bericht an den Oberpräsidenten ab, der durch das Organisationsgesetz die bisherige Stellung der Potsdamer Regierung als kommunale Aufsichtsinstanz Berlins angetreten hatte. Der Bericht, 28 Druckspalten lang, war eine einzige, mitunter ironische Polemik gegen die kleinere Schwesterstadt, die immer die Notwendigkeit ihrer engen Verbindung mit Berlin behaupte, ohne sie zu beweisen. Vorteile für irgend eine der beiden Städte wurden geleugnet, die Nachteile für Berlin unterstrichen. Seine Verwaltung würde trotz der Dezentralisation schwieriger werden. Es müßte sein Geld in Straßenpflaster, Kanalisation und Feuerschutz stecken, müßte seine höheren Unterstützungssätze auch den Charlottenburger Armen zuteil werden lassen und — der unbebaute Grundbesitz Berlins würde entwertet werden. Hier packen wir den Punkt des stärksten Widerstandes, die Besorgnis der Berliner Hausund Grundbesitzer, daß sich die Bauspekulation auf das Charlotten20

Kaeber

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burger Gelände stürzen, daß dort die Grundstückspreise steigen, in Berlin dagegen fallen würden! Wenn der Magistrat gleichzeitig den später so oft hervorgehobenen „Zug nach dem Westen" leugnete und Berlins Ausdehnung nach Norden und Osten hervorhob, um die Notwendigkeit der Eingemeindung gerade des westlichen Charlottenburgs zu bekämpfen, so wirkt diese Beweisführung nicht gerade überzeugend. Das wichtigste war, daß Berlin überhaupt keine Eingemeindung wollte. Nur für den Fall, daß der 18. Bezirk durchaus nicht bei Charlottenburg bleiben sollte, wurden die Kleist- und die Tauentzienstraße als praktische Grenze vorgeschlagen. Das war das Ende der Verhandlungen, bei denen die Hauptbeteiligten nicht mit dem Herzen bei der Sache waren oder sie innerlich ablehnten. Die Regierung, die geglaubt hatte, sie nach Belieben lenken zu können, sah ihren Irrtum ein. Der Oberpräsident machte sich die Ausführungen des Berliner Magistrats zu eigen und bestand auch nicht mehr auf Abtrennung des 18. Charlottenburger Bezirks. Der Minister aber ließ auf den Bericht die Worte setzen: „bis auf weitere Anregung z. d. A.". Eine solche Anregung war um so weniger zu erwarten, als durch einen im November 1885 abgeschlossenen Vertrag über die Entwässerung verschiedener mit Berlin in Verbindung stehender Teile Charlottenburgs der wichtigste Grund für eine Verschmelzung der Städte weggefallen war. Damit war die einzige Eingemeindungsfrage, die, abgesehen von der ganz anderen Beweggründen entsprungenen Einbeziehung des Tiergartens, die Stadt Berlin ernsthaft in den siebziger und achtziger Jahren beschäftigt hatte, erledigt. Ein Gesuch des Bürgervereins und einer Anzahl von Grundbesitzern von Reinickendorf (1881), R. ganz oder doch bis zum Reinickendorfer See einzugemeinden, verfiel einer „motivierten und bestimmten Ablehnung" des Magistrats135. Er begründete seine Gegnerschaft gegen jede Vergrößerung des Weichbildes damit, daß die neuen Stadtteile Berlins an der Grenze Reinickendorfs immer noch sehr hohe Kosten erforderten, und daß im Norden und Nordwesten nicht einmal ein Bebauungsplan, die Vorbedingung jeder Eingemeindung, vorhanden war. Die „Berliner Zeitung"136 war damit sehr unzufrieden, sie hätte in einer Eingemeindung Reinickendorfs den Anfang einer umfassenden Vergrößerung Berlins als der Grundlage stärkeren politischen und wirtschaftlichen Einflusses der Reichshauptstadt begrüßt. 135

St. A., Tiefbau, „Stadtgrenzen" Nr. 1, Bd. 9. Nr. 195 vom 23. 8.1881: „Betrachtungen zur Inkommunalisierung Reinickendorfs". 138

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Paris als der Ausdruck ganz Frankreichs — das war das Vorbild, das ihr für die Hauptstadt des deutschen Reiches vorschwebte. Auf den Dezernenten des Magistrats, es war jetzt Friedel137, blieb diese Phantasie ohne jeden Eindruck. 1889 angebahnte Verhandlungen über die Einbeziehung des außerhalb des Weichbildes liegenden Stückes der Seestraße und im Zusammenhang damit der zum Forstbezirk Tegel gehörenden Kolonie Plötzensee, auf die sich Berlin nur bei gleichzeitiger Eingemeindung von Martinickenfelde einlassen wollte, blieben wegen der einseitig finanziellen Gesichtspunkte beider Parteien, des Magistrats und des Fiskus, in den Anfängen stecken. Als der Magistrat im April 1892 auf sie zurückkam, lehnte die Regierung weitere Verhandlungen mit Rücksicht auf die inzwischen eingeleiteten umfassenden Erörterungen über die Ausdehnung des Berliner Weichbildes ab. 2. Die verpaßte

Gelegenheit:

Herrfurths

Eingemeindungsplan

Am 14. Januar 1889 legte die Regierung dem Landtage einen Gesetzentwurf vor „betr. die Übertragung polizeilicher Befugnisse in den Kreisen Teltow und Niederbarnim sowie im Stadtkreise Charlottenburg an den Polizeipräsidenten zu Berlin". Der Entwurf war schon 1888 eingebracht worden, damals aber in der Kommission des Abgeordnetenhauses stecken geblieben. Er sollte einen Ersatz dafür bieten, daß infolge der Kreisordnung von 1872 und der Einführung der Amtsbezirksverfassung der bisherige weitere Polizeibezirk Berlin aufgehoben worden war, und daß die Bildung einer Provinz Berlin Mitte der siebziger Jahre gescheitert war. Inzwischen hatten sich durch den Mangel einer einheitlichen Leitung der Kriminal- und Sittenpolizei für Berlin und seine nähere Umgebung, in die sich das großstädtische Verbrechertum und Gesindel mit Vorliebe zurückzog, trotz tüchtiger Amtsvorsteher unhaltbare Zustände entwickelt. Ihnen sollte durch die Vorlage ein Ende bereitet werden. Ihre Notwendigkeit wurde allgemein anerkannt; die Kommission nahm sie mit einigen Änderungen einstimmig an138. 137 Ernst August F.; geb. 23. 6. 1837 in Berlin, Sohn des Dr. phil. Carl Gottlob F., Gymnasium, Universität und jurist. Vorbereitungsdienst in Berlin. Assessor 1865. Richter 1869, Geriditskommissar des Berliner Stadtgerichts in Köpenick. Als Nachfolger Pohles zum Stadtrat gewählt, Amtsantritt 13. "1. 73. Ruhestand 1 . 2 . 0 9 , gest. 10. 3. 18. Sein bleibendes Verdienst ist die Schaffung des Märkischen Museums und die Belebung der märkischen Heimatkunde. Als Verwaltungsbeamter war F. unbedeutend. 138 Das Gesetz wurde unter dem 12. 6 . 1 8 8 9 veröffentlicht.

20*

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Bei der zweiten Beratung des Entwurfs im Plenum aber ergriffen die Vertreter der Vorortkreise die Gelegenheit, auf die allgemeinen Beziehungen zwischen Berlin und seiner Umgebung einzugehen. Unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit erblickten sie eine befriedigende Lösung nur in einer Eingemeindung mindestens der völlig mit Berlin verwachsenen Ortschaften. Der nationalliberale Rittergutsbesitzer und Amtsvorsteher v. Benda auf Rudow erkannte daher das Gesetz nur als ein Provisorium an. Minister des Innern war soeben Herrfurth geworden, der schon früher die Eingemeindungsfragen im Ministerium bearbeitet hatte 139 . Er gab v. Benda darin Recht, daß für das Gesetz keine „überaus lange Dauer in Aussicht zu nehmen sein dürfte", allein an eine so nahe bevorstehende Eingemeindung der Vororte glaubte er nicht. Die Verhältnisse seien noch nicht derart, daß „gegen den Widerspruch der Stadt Berlin mit einer solchen Maßregel vorgegangen werden" könne. Und alsbald erhob sich auch der Berliner Stadtsyndikus Zelle 140 , um sich gegen solche „Zumutungen" im Namen seiner Stadt zu wehren. E r war zwar der Ansicht, daß „der riesige Körper der Hauptstadt nicht ohne Atmosphäre sein" könne, daß ihm die Vororte nicht den Weg ins Freie versperren dürften, aber er wollte das durch eine Provinz Berlin erreichen. Das Polizeigesetz erschien ihm als ein Anfang dazu. Wie ein Wetterleuchten hatte die Aussprache die Lage erhellt, die das fast über Nacht erfolgte Anwachsen der Bevölkerungszahlen in den Dörfern rings um die Reichshauptstadt hervorgerufen hatte. Für dieses Wachsen nur einige Zahlen: Charlottenburg hatte 1880 rund 30 000, 1890 rd. 77 000 Einwohner „ 11 000, „ „ 29 000 Schöneberg „ „ Rixdorf „ „ „ 19 000, „ „ 36 000 Lichtenberg „ „ „ 13 000, „ „ 23 000 Weißenssee hatte durch das im Westen seines Gebietes entstandene Neuweißensee fast 22 000 Einwohner erreicht, Boxhagen-Rummelsburg 11 000, Reinickendorf 10 000. Im Umkreis von einer Meile um Berlin wohnten 1890 im Kreise Teltow 103 000, im Niederbarnim 88 000 Menschen. 139

Sein N a m e lebt in der preußischen Verwaltungsgeschichte als der des Schöpfers

der Landgemeindeordnung v o m 3. 7. 1891 fort. 140

Robert Zelle, geb. 19. 9. 1829 in Berlin als Sohn eines Professors am Grauen

Klostergymnasium, 1857 Assessor, 1861 besoldeter Stadtrat, 1872 Syndikus als Nachfolger Dunckers, dem er im November 1891 als Bürgermeister folgte. Am 2 8 . 9 . 9 2 nach Forckcnbecks T o d zum Oberbürgermeister gewählt, Rücktritt 1. 1 0 . 9 8 , 24.1.01.

gest.

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Würde sich in Berlin ein Mann finden, der wie einst der Stadtrat Pohle gewillt war, die Folgerungen aus dieser Entwicklung zu ziehen und klare Erkenntnis in schöpferische Tat umzuwandeln? Der Magistrat zählte mindestens ein Mitglied in seinen Reihen, das ein feines Gefühl für das Kommende besaß: den Bürgermeister Duncker 141 . Er war der älteste unter seinen Kollegen, seit 1845 als Stadtrat, dann als Syndikus und zuletzt als Bürgermeister die Verkörperung sowohl der überlieferten Grundsätze der Verwaltung wie ihres Fortschrittes zu neuen Zielen. Dem Oberbürgermeister von Forckenbeck stand er als Berater und Helfer nahe142. Als in der Stadtverwaltung kaum jemand die Anzeichen dessen spürte, was bevorstand, legte er am 10. Juli 1890 Forckenbeck den soeben erschienenen Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig vor, der die jüngste Erweiterung des Leipziger Stadtgebietes durch Gesetz vom 1. Januar 1890 behandelte. Duncker bemerkte dazu, es sei besonders interessant, daß der Rat der Stadt den anfänglichen Widerstand der Stadtverordneten vollkommen überwunden habe. In Berlin werde, wenn auch erst in Jahren, etwas Ähnliches kommen müssen. Doch schon heute müsse man sich darauf durch statistische Erhebungen über die Folgen der Eingemeindung von 1860 vorbereiten. Die finanziellen Lasten, die diese mit sich gebracht habe, würden vielfach überschätzt, während der ideelle Gewinn für Berlin und die wohltätigen Folgen für die eingemeindeten Gebiete unterschätzt würden 143 . Und schon regten sich auch die Vororte selbst. Am 11. August 1890 richtete der Gemeindevorsteher von Schöneberg ein Schreiben an den Berliner Oberbürgermeister mit der Bitte um eine grundsätzliche Stellungnahme des Magistrats zu einer Eingemeindung Schönebergs. Die Gemeindevertretung sei dieser ebenso geneigt wie der daneben erwogenen Erlangung der Stadtrechte für den Ort, für dessen Verwaltung die Landgemeindeverfassung nicht mehr passe. Er fügte hinzu, daß Ber141

Vgl. Anm. 69. Max von F., geb. 21. 10. 1821 in Münster als Sohn des damaligen Obergerichtsrats Franz v. F.; 1847 Stadtrichter in Glogau, 1849 Rechtsanwalt, seit 1858 Mitglied des Abgeordnetenhauses, 1866 Mitbegründer der nationalliberalen Partei, 1874—79 Reidistagspräsident, 1881 Trennung von den Nationalliberalen, 1884 Übertritt zur Deutsch-freisinnigen Partei. Seit 1872 Oberbürgermeister von Breslau, im November 1878 zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt. Gest. 26. 5.1892. Vgl. M. Philippson, Max v. F., Dresden 1898. [Erich Angermann: Forckenbeck. In: Neue Deutsche Biographie 5, 1961, S. 296 ff.] 142

143 St. A. Generalbüro, Eingemeindungen Nr. 1, Bd. I. Die fünf Bände dieser Akten bilden die wichtigste Quelle für das Folgende; sie werden im einzelnen künftig nicht angeführt werden.

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lins Verwaltung in Schöneberg schon jetzt als Vorbild angesehen werde, dem man bewußt nachstrebe. Forckcnbeck bat darauf den Gemeindevorsteher Schmock zur mündlichen Aussprache ins Rathaus. Ehe aber die notwendigen Vorarbeiten eingeleitet werden konnten, war das Gesamtproblem in einem Umfange aufgerollt worden, gegenüber dem alle Einzelpläne bedeutungslos erschienen. Der Anlaß dazu war eine Vorlage der Regierung, die ein ganz anderes Ziel verfolgte. Der Kreis Niederbarnim war mit seinen 190 000 Einwohnern so stark über die übliche Bevölkerungszahl der preußischen Kreise hinausgewachsen, daß die Staatsregierung seine Teilung in zwei Kreise für notwendig hielt. Der Niederbarnimer Kreisausschuß lehnte diese Anregung indessen am 5 . 1 . 91 schroff ab. Der Quell des Übels liege nicht in der großen Einwohnerzahl des Kreises, sondern darin, daß Berlin die Unterbringung seiner Arbeitermassen den armen Vororten überlasse, deren Steuerfähigkeit kaum ein Sechstel der Steuerkraft Berlins betrage. Berlin müsse, wie dies Wien, Köln und Leipzig getan hätten, aus eigenem Antriebe eingemeinden. Allenfalls könne man an die Bildung eines Vorortkreises aus den sechs Nachbargemeinden Berlins von Stralau im Süden bis Reinickendorf im Norden denken. Der Provinziallandtag, der im Februar eine gleiche, durch den Oberpräsidenten v. Achenbach verteidigte Vorlage beriet, sprach sich mit ähnlichen Gründen gegen sie aus. Auch er trat für die Eingemeindung der Vororte von überwiegend städtischem Charakter ein, für die bisher die Provinz auf dem Gebiete des Armen- und Irrenwesens habe sorgen müssen. Bei den Beratungen ergriff auch Oberbürgermeister Fritsche das Wort und wies auf die vorangegangenen Verhandlungen zwischen Berlin und Charlottenburg hin. Viel schneller als er angenommen hatte, sah sich der Minister Herrfurth einer Entscheidung gegenüber gestellt. Er war gewillt, ihr nicht auszuweichen. Zum 30. Juni 1891 lud er den Oberpräsidenten, die Oberbürgermeister von Berlin und Charlottenburg, die Landräte Scharnweber von Niederbarnim und Stubenrauch von Teltow und den Grafen Hue de Grais (Verfasser des bekannten „Handbuchs der Verfassung und Verwaltung in Preußen und im Deutschen Reich") zu einer vertraulichen Besprechung ein. An ihr nahmen von Seiten Berlins noch Stadtsyndikus Zelle und Stadtrat Dr. Weber teil144. 144

M a x Weber, geb. 31. 5 . 1 8 3 6 in Bielefeld, gest. 1 0 . 8 . 9 7 in Riga. Jurist, 1862

Stadtrat in Erfurt, 1868 in Berlin. Seit 1870 Mitglied des Abgeordnetenhauses. Anfangs im Armenwesen tätig, führte er später den Vorsitz in der Baudeputation; 1892 trat er auf eigenen Wunsch in den Ruhestand.

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Die Berliner Herren gingen nicht ganz unvorbereitet in das Ministerium. Schon am 18. Januar hatte der Stadtbaurat Hobrecht 145 , der Schöpfer der Berliner Stadtentwässerung und Bruder des 1878 wegen seiner Ernennung zum preußischen Finanzminister zurückgetretenen Oberbürgermeisters Artur Hobrecht, dem Magistrat eine ausführliche Denkschrift über die Eingemeindungsfrage überreicht. E r hatte darin festgestellt, daß die Vororte selbst die Vereinigung mit Berlin lebhaft wünschten, und daß die Regierung ihr geneigt sei. Den Gefahren einer Verwaltung vom grünen Tisch aus wollte er durch eine gesetzlich festzulegende Dezentralisation der künftigen Einheitsgemeinde begegnen. Er empfahl ferner das Studium der Verfassung von Wien, Paris und London, die Beschaffung von statistischen Unterlagen über die Zustände in den Vororten und die Einsetzung eines Arbeitsausschusses. Geschehen war darauf freilich nichts. Forckenbeck vermerkte nur auf der Denkschrift, seines Wissens bestände schon seit dem Sommer 1890 eine Kommission wegen des Verhältnisses zu den Vororten. In den Akten findet sich kein Zeugnis ihres Daseins. Anscheinend hat der Oberbürgermeister an die damals noch schwebenden Sonderverhandlungen über die Erweiterung des Weichbildes im Nordwesten Berlins gedacht14". Jedenfalls konnte Anfang März 1891 der Dezernent der Tiefbaudeputation, Stadtrat Meubrink 147 , auf einer Anfrage Pankows, wie sich Berlin zu seiner Eingemeindung stellen würde, vermerken, daß darüber beim Magistrat überhaupt keine Erwägungen schwebten. Ein förmlicher Antrag Lichtenbergs auf Eingemeindung wurde erst nach Wochen im gleichen Sinne beantwortet. Die Beratung im Innenministerium am 30. Juni endete mit dem Entschluß des Ministers, der Eingemeindung näher zu treten 148 . Er beauf145

James H., geb. 3 1 . 1 2 . 1 8 2 5 in Memel. 1873 Chefingenieur der Berliner Kanali-

sation, 1885 Stadtbaurat. 1897 Ruhesetand; gest. 8. 9 . 1 9 0 2 146

Vgl. S. 307.

147

Friedrich M., geb. 1 3 . 7 . 1 8 4 4 als Sohn eines Seidenfabrikanten. Jurist, 1871

Assessor am Stadtgericht Berlin, 1883 besoldeter Stadtrat. Scheidet 1901 aus dem Magistrat aus, weil er bei der Bürgermeisterwahl übergangen wird, und wird zum Oberverwaltungsgerichtsrat ernannt; gest. 1908. 148

Es erscheint mir recht fraglich, ob Herrfurth dabei wirklich die ihm von Zelle

in der Stadtverordnetensitzung am 2 4 . 1 0 . 95 in den Mund gelegten Worte zu den Berliner Herren gesagt hat: „Wissen Sie denn nicht, wie die Sache liegt? Zeigt sich Berlin den Plänen der Staatsregierung entgegenkommend, so wird es audi Bedingungen stellen können, die ihm angenehm sind; machen wir aber ein Gesetz gegen den Willen Berlins, so werden Sie auch wissen, daß im Abgeordnetenhaus ein solcher Vorschlag mit Pauken und Trompeten angenommen wird." Bei der Beratung des Abgeordneten-

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tragte den Oberpräsidenten, ihm Notwendigkeit, Umfang, Zeitpunkt ihres Inkrafttretens und die bei der Durchführung zu beobachtenden Umstände darzulegen. Die Potsdamer Regierung forderte darauf die einzelnen Gemeinden auf, ihre kommunalen Verhältnisse und ihre Beziehungen zu Berlin an Hand eines 21 Punkte aufführenden Fragebogens klar zu stellen149. Einen Augenblick schienen die Dinge eine andere Wendung nehmen zu sollen. Der „Petitionsausschuß von Berlin", der während der Beratungen über die Landgemeindeordnung gewählt worden war, behauptete nämlich in einer von fünf Vertretern der westlichen und südlichen Vororte unterzeichneten Eingabe an den Minister, daß bei der Mehrzahl der Vororte immer mehr der Wunsch laut geworden sei, Stadtrechte zu erhalten. Bei der ihm gewährten Rücksprache erklärte aber sein Vorsitzender, der Schöneberger Schöffe und Teltower Kreistagsabgeordnete Kaufmann Gustav Müller150, die Berlin unmittelbar benachbarten Vororte hielten einstimmig ihren Anschluß an Berlin für notwendig151. Sie müßten 300 v. H. Steuerzuschläge erheben, weil Berlin, das selbst im Überfluß schwimme, seine Arbeiter und sein Proletariat zu ihnen abschöbe. Anderseits zöge der Kreis aus ihnen hohe Steuern, baue damit aber nicht in ihrem Gebiete Straßen, sondern weit draußen Chausseen. hauses über das Polizeiverwaltungsgesetz hatte Herrfurth vielmehr am 24. 1. 89 es bezweifelt, daß das Haus eine Eingemeindungsvorlage der Regierung annehmen würde! 149 y f g v o m 3 9 9i ; n J e n Charlottenburger Akten, Bd. I. Der darauf erstattete, 27 große Druckseiten starke Bericht Charlottenburgs kommt trotz allen Stolzes auf die in der Tat „einzig in ihrer Art dastehende Entwicklung" der Stadt während des letzten Jahrzehnts doch zu dem Ergebnis, daß ihre vollständige Eingemeindung mehr denn je dem allgemeinen Interesse entspräche. Denn ihre Entwicklung sei erfolgt „nicht weil, sondern obgleich Charlottenburg bis jetzt eine selbständige politische Gemeinde gewesen ist". Die Auslieferung der Wasserversorgung an eine private Gesellschaft hätte nicht zu erfolgen brauchen, wenn die Stadt schon 1882 mit Berlin vereinigt worden wäre. 1 5 0 Müller, der 1897 ein Grundstück an der alten Dorfaue erwarb und der erste Stadtverordnetenvorsteher wurde, entwickelte sich in den kommunalpolitischen Kämpfen Schönebergs zu einem „Volksmann bester Art". Ein Platz und eine Straße in Schöneberg halten sein Andenken noch heut lebendig: Wilh. Feige, Rings um die Dorfaue. Ein Beitrag zur Geschichte Schönebergs, Berlin-Leipzig 1937. Nachtrag 1938. 1 5 1 Bericht der Nationalzeitung vom 4. 8., der Vossischen Ztg. vom 6. 8. 91. St. A., a. a. O. Bd. I. Außer Schöneberg, das Anfang Juli einen förmlichen Eingemeindungsantrag an Berlin gerichtet hatte, waren Steglitz und Rixdorf bei der Besprechung vertreten. Die Eingabe vom 27. Juli hatten dazu Vertreter von Wilmersdorf und Großlichterfelde unterzeichnet.

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Nur wenn eine Eingemeindung nicht durchführbar sei, wäre die Erhebung der Vororte zu Städten angebracht. Herrfurth erklärte demgegenüber die Eingemeindung der an Berlin angrenzenden Ortschaften für unabwendbar; allerdings dürfe sie sich keineswegs auf die wohlhabenden Bezirke beschränken. Bis zu der vom Magistrat für notwendig gehaltenen Dezentralisation der Verwaltung aber könnten 4—5 Jahre vergehen, so daß für die Zwischenzeit vielleicht an einen Zweckverband zur Aufbringung der Schul-, Straßen- und ähnlicher Lasten zu denken sei. Der Oberpräsident teilte die Ansicht des Ministers über die voraussichtlich lange Dauer der Verhandlungen (Bericht vom 7. 10. 91). Diese Anschauung der in jener Zeit die Eingemeindung vorzüglich betreibenden staatlichen Stellen ist insofern bemerkenswert, als sie die später gegen die städtischen Körperschaften erhobenen Vorwürfe allzu langen Zögerns auf das richtige Maß zurückführt. Achenbach sah sogar noch Ende Mai 1892 ein gewisses Hinhalten der Verhandlungen für vorteilhaft an, weil die öffentliche Meinung durch die sachlichen Erörterungen der Presse in der Zwischenzeit immer stärker zu Gunsten der Eingemeindung beeinflußt werden würde. Die Artikel der Zeitungen können hier im einzelnen nicht verfolgt werden. Doch verdient ein am 7. 12. 91 im Architektenverein gehaltener Vortrag des Stadtbaurats Köhn von Charlottenburg 152 Erwähnung, den die Charlottenburger Zeitung in den Nummern 287—291 veröffentlichte. Köhn wollte das Gebiet Berlins von rund 6300 auf 21 000 ha erweitern. Unter Ablehnung des Vorbildes von Wien, London oder Paris schlug er für die Verwaltung der nördlichen und südlichen Gemeinden zwei große Deputationen aus Magistratsmitgliedern, Stadtverordneten und Bürgerdeputierten vor, unter denen Bezirkskommissionen stehen sollten. Den Nachdruck legte er auf die großen Vorteile, die von der Einheitsgemeinde für die Zusammenfassung der wirtschaftlichen Betriebe, für ein großzügiges Verkehrsnetz, für den Ausbau der Wasserstraßen und für eine Verbesserung des Wohnungswesens durch eine abgestufte Bauordnung zu erwarten waren. Audi die Umgestaltung des Grunewalds zu einem Stadtpark nahm er in Aussicht. Es waren fruchtbare Gedanken eines erfahrenen Technikers und Verwaltungsfachmannes, die später immer wieder mit ähnlicher Begründung aufgenommen wurden. 152

Theodor Köhn, Regierungsbaumeister, 1888—93 Stadtbaurat, dann Generaldirektor der Ludwig Löwe A. G.; vgl. Gundlach a. a. O. I, 484 f.

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Den Ankauf des Grunewalds hatte freilich Marggraff schon am 2. 11. 91 verlangt. Es fanden auch mehrjährige Beratungen darüber innerhalb der Ministerien statt, jedoch ohne Ergebnis. Beim Magistrat kamen die Dinge dadurch in Fluß, daß der Oberpräsident am 9. September um Äußerung ersuchte: 1. welche Ortschaften kommen in Betracht; 2. und 3. welchen Einfluß wird deren Eingemeindung besonders auf die städtische Verfassung und Verwaltung ausüben, und wie werden diese, gegebenenfalls durch Gesetz, zu ändern sein; 4. wie steht es um die Kostenfrage; 5. welche städtischen Anlagen Berlins sind bereits in den Vororten vorhanden, und wie können sie zugleich deren Bedürfnissen nutzbar gemacht werden? Außerdem wünschte er eine geschichtliche Darstellung der bisherigen Erweiterungen des Berliner Weichbildes. Forckenbeck übernahm selbst die Führung in dieser bedeutungsvollen Angelegenheit. Eigenhändig entwarf er mit seinen großen, etwas schwerfälligen Schriftzügen, die so gut das Wesen des westfälischen Edelmannes widerspiegeln, die Vorlage an die Stadtverordneten über Einsetzung einer „Gemischten Deputation" und die Einladung zu deren erster Sitzung. Ihr gehörten 15 Stadtverordnete, darunter der Vorsteher Stryck und sein Stellvertreter Dr. Langerhans153 sowie 8 Magistratsmitglieder an: Forckenbeck als Vorsitzender, die beiden SyndiciZelle und Eberty154, der Kämmerer Maaß155, Hobrecht und die Stadträte Weber, Krause und Marggraff156. 153 Stryck war Arzt, im Rheinland geboren, noch als Student strenger Katholik, später zum entschiedenen religiösen und politischen Freisinn übergegangen. Vgl. Cardauns, Fünfzig Jahre Kartellverband, Kempten u. München 1913, S. 10. Als Stadtverordnetenvorsteher 1886 bis Anfang Januar 1893 übte er maßgebenden Einfluß auf die Versammlung aus. — Paul Langerhans, am 25. 2.1820 als Sohn des Stadtbaurats Friedr. Wilh. L. geboren, 1874 Stadtverordneter, 1886 Vorsteher-Stellvertreter, ebenfalls Arzt und politisch Strycks Gesinnungsgenosse, war vom 5. 1.1893 bis 1908 Vorsteher. Sein Tätigkeitsgebiet lag besonders in der Waisen-, der Gesundheits- und der Kanalisationsdeputation. Er war mit Virchow und Zelle eng befreundet, eine gute Erscheinung und menschlich sympathischer als Stryck. 1900 wurde er Ehrenbürger Berlins. Gest. 21. 6.1909. 154 Eduard Gustav E., geb. 12. 6. 1840 in Görlitz als Sohn des Stadtgerichtsrats Dr. Gustav E., 1868 Assessor, 1872 Stadtrat, 1876 Syndikus in Berlin; 1893 Rücktritt aus Gesundheitsgründen, gest. 23. 7. 94. 155 Albrecht M., geb. 4 . 8 . 1 8 4 2 in Landsberg a. W. als Sohn eines Regierungsrats. Jurist, zunächst im staatlichen Eisenbahndienst beim Bau der Stadtbahn und den damit zusammenhängenden Enteignungsverhandlungen geschickter Gegner der Stadtverwaltung, die ihn 1887 als Kämmerer in ihre Dienste zog. Ein echter Märker mit scharfem Verstand, Menschenkenntnis, urwüchsigem H u m o r und starkem Willen. Wegen schwerer Erkrankung 1905 im Ruhestand; gest. 24. 3.1912.

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Mit der Auswahl der Magistratsmitglieder hatte der Oberbürgermeister zweifellos das Richtige getroffen. Für die Beratung der organisatorischen und rechtlichen Fragen waren die Syndici die gegebenen Männer. Zelle stand seit dreißig Jahren im Dienste der Stadt, er kannte ihre Verwaltung aus langer Erfahrung. Auch Eberty war kein Neuling und hatte sich bei dem Erwerb und der Anlage des Vieh- und Schlachthofes sowie als Vorsitzender des Kuratoriums für die Markthallen bewährt. Auf seinen Rat gab Forckenbeck neben dem Dunckers besonders viel. Maaß war der Sachverständige für die finanzielle, Hobrecht für die technische Seite der Angelegenheit. Marggraff, mit Hobrecht und Virchow Begründer der Berliner Stadtentwässerung, hatte in ihrem Ausbau und in der Verwaltung der Rieselgüter seine Lebensarbeit gefunden. Er war das Vorbild eines unbesoldeten Stadtrats, wie es Stein bei der Schaffung der Städteordnung vorgeschwebt hatte. Eine hohe Patriziergestalt, liebenswürdig, aber von starker Willenskraft bei der Durchsetzung seiner Absichten157. Weber kannte das Wohlfahrts- und das Bauwesen, deren Verwaltung er als Vorsitzender der Armendirektion und der Baudeputation geleitet hatte. Dr. Krause war am 1 . 1 . 1890 als unbesoldeter Stadtrat in den Magistrat eingetreten. Als Rechtsanwalt brachte er Kenntnisse mit, die er bei den organisatorischen Fragen der Eingemeindung verwerten konnte 158 . In der Eröffnungssitzung der Gemischten Deputation am 1 4 . 1 1 . 9 1 ging Forckenbeck davon aus, daß Berlin sich nicht „rein negativ und kritisch" verhalten dürfe, sondern eine Regelung vorbereiten müsse, die seinen Wünschen Rechnung trage. Die Beschaffung der statistischen Unterlagen für die einzelnen Ortschaften wurde vier Lokalkommissionen übertragen, die ihre Anweisungen von der Hand des Vorsitzenden erhielten. Sie sollten die Vermögens-, Haushalts- und Steuerverhältnisse, die Armen-, Schul- und Baulasten der ihnen zugewiesenen Vororte sorgfältig prüfen, den Umfang ihres Weichbildes und ihre öffentlichen An-

156

Karl M., geb. 17. 5 . 1 8 3 4 als Sproß einer alten Berliner Familie, gest. 5. 6 . 1 9 1 5

in Lichterfelde. Apotheker; 1867 Stadtverordneter, 1872 unbesoldeter Stadtrat. Vorsitzender der Hochbau-, Kanalisations- und Stiftungsdeputation, seit 1887 ganz seinem Ehrenamt lebend. 1911 Ehrenbürger, 1913 Rücktritt vom Amt. 157

So hat ihn noch zwanzig Jahre später Wermuth als Oberbürgermeister kennen

gelernt. Vgl. Adolf W., Ein Beamtenleben, Berlin 1922, S. 346 f. 158

aus.

Geb. 1 6 . 8 . 1837 in Dresden. Im Sept. 1895 schied er aus Gesundheitsgründen

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stalten und Einrichtungen feststellen. Auch die nach einer Eingemeindung „mehr oder weniger dringend werdenden" Bedürfnisse der einzelnen Gemeinden waren wegen ihrer Auswirkung auf die Finanzen Berlins zu untersuchen. Schließlich wünschte Forckenbeck noch die etwaigen Wünsche der verschiedenen Gemeinden nach Teilnahme an der Verwaltung Berlins kennen zu lernen. Auf diesen Punkt sind, wie hier vorweggenommen sei, die Kommissionen in ihren Berichten nicht eingegangen. Nur eine von ihnen erklärte, daß ihr solche Wünsche nicht bekannt geworden seien. Den Termin für die Ablieferung der Berichte setzte Forckenbeck mit zwei Monaten äußerst knapp an, um die große Aufgabe so schnell wie möglich zu lösen. Eine Denkschrift über die Ausdehnung der Gas- und Wasserversorgung sowie der Kanalisation auf die Vororte wurde Hobrecht aufgetragen. Am 3. 2. 92 erging ein ausführlicher, in seinem zweiten Teile durch Forckenbeck ganz neu entworfener Bericht an den Oberpräsidenten. E r betonte die Notwendigkeit umfangreicher Erhebungen und regte ein Verbot an die Außengemeinden an, öffentliche Anstalten zu errichten und neue Beamte einzustellen. Die Schwierigkeiten, die der Ausdehnung der Kanalisation durch die auf 100 Millionen zu schätzenden Kosten gegenüberstanden, wurden nicht verschwiegen. Eine gewisse Verzögerung ergab sich durch die Beurlaubung Hobrechts, der im Februar 1892 die internationale Konferenz über die gesundheitlichen und die Entwässerungsverhältnisse Kairos leitete. Zunächst ging am 1 3 . 4 . die Übersicht über die früheren Eingemeindungen unter Hinweis auf die eingehenden Ausführungen im 1. Teil des Verwaltungsberichts für die Jahre 1861—76 ab. Die Umbildung der städtischen Verfassung für das vergrößerte Stadtgebiet beriet Ende März und Anfang April eine Unterkommission unter dem Vorsitz des Stadtrats Voigt 159 . Die allgemeine Ansicht ging dahin, mehrere Bezirke unter Bürgermeistern mit je einer nach den Vorschriften der Städteordnung gewählten Bezirksvertretung zu bilden. Ähnlich wie in der rheinischen Stadtverfassung sollten jedem Bürgermeister einige Fachbeamte beigegeben, auf die Einsetzung von Bezirksmagistraten aber verzichtet werden. Der Zentrale wurden vorbehalten: Aufstellung des Haushaltsplans, Rechnungsprüfung, Ausschreibung der Steuern, Be159 Ferdinand V., geb. 21. 10. 1836 in Berlin als Sohn eines Schuhmachermeisters. Tüchtiger Jurist, 1872 zum Stadtrat gewählt. 1903 Direktor des Pfandbriefamts; gest. 19. 5. 05.

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bauungsplan, Ämterorganisation, Erwerb und Veräußerung von Grundstücken, Bewilligung größerer Neubauten und die Anstellung der von den Bezirken vorgeschlagenen Beamten. Dann jedoch trat infolge der Erkrankung des Oberbürgermeisters, der seit dem März 1892 nur noch einmal im Magistrat erscheinen konnte, bis zu seinem Tode am 26. Mai eine Stockung ein. Sie nötigte am 6. Juni zu einem Zwischenbericht an den Oberpräsidenten. In den Entwurf fügte Zelle, der seit dem November 1891 das Amt des Bürgermeisters bekleidete, einen Satz ein, der von der schwierigen und „bei näherem Eindringen immer noch schwieriger erscheinenden Arbeit" in der Eingemeindungsfrage sprach. Ende Juni beschäftigte sich auch der Magistrat mit der Dezentralisation der Verwaltung. Abweichend von den Beschlüssen der Unterkommission hielt er ein Berliner Sondergesetz nicht für wünschenswert. Er erwartete, daß in die geplante neue Städteordnung — die indessen nie zustande kam — allgemein für die Großstädte passende Bestimmungen eingearbeitet werden würden. Bis dahin dachte er, mit einer Erweiterung des statuarischen Rechts oder mit Verwaltungseinrichtungen neben dem Gesetz, „praeter legem", auskommen zu können. Gleichzeitig trat nach langer Pause die Gemischte Deputation mit Zelle als Vorsitzenden und Dr. "Weber als Generaldezernenten wieder zusammen. Ihr legte Langerhans, der schärfste Gegner der Eingemeindung, den Antrag vor, in Anlehnung an die in der neuen Landgemeindeordnung zugelassenen Zweckverbände nur Vereinigungen zwischen Berlin und den Vororten für bestimmte kommunale Aufgaben in Aussicht zu nehmen. Ein führender Berliner Stadtverordneter hatte damit den Zweckverbandsgedanken in dieDebatte geworfen, dessen Verwirklichung später den städtischen Behörden Berlins so viel Kummer bereiten sollte. Die Deputation freilich lehnte diesen Vorschlag ebenso wie einen zweiten Antrag Langerhans auf Bildung einer Provinz Berlin mit großer Mehrheit ab. Damit stimmte sie dem Magistratsbeschlusse in der Verfassungsfrage zu. Dementsprechend führte am 7. Juli der längst fällige Bericht an den Oberpräsidenten aus, daß um der zu erwartenden 2—300 000 neuen Einwohner willen eine Änderung der Stadtverwaltung nicht notwendig sei. Das Beispiel Kölns, dessen Umfang nach den jüngsten Eingemeindungen mit 11 105 ha das gegenwärtige Gebiet Berlins mit 6337 ha weit übertreffe, zeige ferner, daß auch ein großes Stadtgebiet ohne Verfassungsänderungen sich verwalten lasse. Es würden Übergangsbestimmungen des Eingemeindungsgesetzes genügen. Durch sie müßte einerseits das Fortarbeiten der bisherigen Gemeindevorstände, anderseits die unentbehr-

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liehe Einheitlichkeit durch gleichmäßige Rechtsnormen auf dem Gebiete der Polizeiverordnungen wie auf dem des städtischen Steuer- und Statuarrechts ermöglicht werden. In Beantwortung einer Anfrage des O. P. erklärte der Magistrat am 25. 7. noch, daß er an keine Vergrößerung seines Kollegiums denke, sondern mit Assessoren auskommen werde. Eine Verstärkung der Stadtverordnetenversammlung könne durch Ortsstatut erfolgen. Für eine längere Übergangszeit hielt der Magistrat die Erhebung besonderer Abgaben in solchen Stadtteilen für gerechtfertigt, deren Bodenpreise durch hohe Aufwendungen der Gesamtheit, z. B. für Kanalisation, bedeutende Wertsteigerung erfahren würden. Kaum war der Bericht abgegangen, als Hobrecht am 13. 7. die ihm aufgetragene Denkschrift über die Ausdehnung der großen städtischen Betriebe auf die Vororte einreichte, die allerdings schon vom 12.4. datiert war. Er schätzte die Kosten für ihre Versorgung mit Gas auf 60, mit Wasser auf 69, die Aufwendungen für die Kanalisation einschließlich des Erwerbs der Rieselfelder auf 230 Millionen Mark. Bei seiner Berechnung war Hobrecht davon ausgegangen, daß die in Berlin je Hektar für diese Zwecke bereits aufgewandten und noch aufzuwendenden Kosten — die Kanalisation war noch nicht vollendet — in gleicher Höhe je Hektar der Vororte dereinst aufzubringen sein würden. Dabei war vorausgesetzt, daß diese allmählich eine annähernd gleich dichte Bebauung und die gleiche Einwohnerzahl erreichen würden, wie sie Berlin jetzt aufwies. Die Höhe der alsbald nach Einverleibung der Vororte bereit zu stellenden Summen hing, wie Hobrecht hervorhob, davon ab, wo und in welchem Umfange die städtischen Behörden ein Bedürfnis nach diesen Einrichtungen anerkennen würden. Er wies ferner darauf hin, daß für die Gas- und Wasserversorgung als zweifellos rentierende Betriebe ohne Schwierigkeiten privates Kapital herangezogen werden könne, falls die Stadt Bedenken tragen sollte, diese Anlagen ganz oder teilweise selbst zu finanzieren. Dem stand freilich, worauf er als wesentlich technisch denkender Beamter nicht einging, der Gesichtspunkt gegenüber, daß viele deutsche Großstädte und unter ihnen Berlin die Versorgungsbetriebe nur sehr ungern in der Hand des Privatkapitals sahen. So viel war gewiß, daß die Reichshauptstadt vor eine gewaltige Zukunftsaufgabe gestellt wurde. Diese wurde dadurch nicht leichter, daß für ihre Durchführung ein völlig neuer Bebauungsplan erforderlich war. Zunächst aber mußte, entsprechend der schon am 3. Februar gegebenen Anregung des Magistrats, verhindert werden, daß einzelne Vororte die künftige Entwicklung durch eigene Unternehmungen beeinträchtigten. Eine solche Beeinträchtigung erblickte Berlin in dem am

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27. 2. 92 zwischen dem Ingenieur Smreker und der Gemeinde BoxhagenRummelsburg abgeschlossenen Vertrag über Anlage eines Wasserwerks160. Die Stadt ersuchte daher alle in Betracht kommenden Gemeinden, äußerste Zurückhaltung bei Aufnahme von Anleihen, Kauf und Verkauf von Grundstücken, Errichtung größerer Anstalten und Schaffung lebenslänglicher Beamtenstellen zu üben. Die staatlichen Behörden wurden um Unterstützung gebeten. Der Oberpräsident sagte sie bereitwilligst zu. Den Vertrag Boxhagen-Rummelsburg allerdings rechtfertigte er damit, daß er einem dringenden Bedürfnis entspreche, und daß die Verhandlungen über ihn schon in eine frühere Zeit zurückreichten. Auch unter seinem neuen Oberhaupt schien Berlin entschlossen, auf dem durch Forckenbeck gewiesenen Wege fortzuschreiten. Bis Ende Juni 1892 waren die vier Lokalkommissionen der Gemischten Deputation mit ihren Aufstellungen über die Verhältnisse der Vororte fertig geworden. Ubersichtlich lag für jeden von diesen das statistische Material vor. Es zeigte sich, daß die westlichen Gemeinden, auch die noch wenig entwickelten wie Schmargendorf, erheblich günstiger dastanden als die östlichen und nördlichen. Die 2. Kommission unter Krauses Vorsitz hatte die kommenden Beratungen dadurch erleichtert, daß sie bei jedem Orte die für eine Eingemeindung günstigen bzw. ungünstigen Tatsachen einander gegenüber gestellt hatte. Am 13. 9. traten nun die Vorsitzenden der vier Kommissionen in Anwesenheit Zelles und Hobrechts zusammen. Sie stimmten darin überein, daß Berlin nicht die Maßnahmen der Regierung abwarten, sondern die Angelegenheit in seiner Hand behalten und möglichst nach seinen Wünschen lenken solle. Der Magistrat rechnete daher mit einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt, dem 1. 4. 1894, für das Inkrafttreten des Gesetzes161. Doch nun mußte die Grundfrage: nach dem Umfang der Eingemeindung geklärt werden. Die Vorschläge der Lokalkommissionen, denen in der Sitzung vom 13. 9. allgemein zugestimmt worden war, wurden am 13. 10. der Gemischten Deputation nach einem einleitenden Bericht Dr. Webers unterbreitet. Ein Antrag Marggraffs, die Grenze durch die Ringbahn vom Schnittpunkt der Hamburger und Lehrter Bahn bis zum Bahnhof Rixdorf bilden zu lassen, wurde abgelehnt und nach den Kom160

Monographien der deutschen Landgemeinden, herausgeg. von Erwin Stein. I. Boxhagen-Rummelsburg. Oldenburg 1912, S. 130. Einen ähnlichen Vertrag hatte Lichtenberg schon am 30. 9. 91 mit Smreker geschlossen; seine Ausführung erfolgte vom Mai bis Sept. 1892: E. Unger, Geschichte Lichtenbergs bis zur Erlangung der Stadtrechte, Berlin 1910, S. 138 f. 161 Schreiben vom 16.11. 92 an den Amtsvorsteher von Weißensee.

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missionsvorschlägen als einzugemeinden in Aussicht genommen162: auf dem linken Spreeufer Charlottenburg, Kolonie Grunewald, Schmargendorf, Wilmersdorf, Friedenau, Schöneberg, Tempelhof mit der Hasenheide, Rixdorf und Treptow; auf der rechten Spreeseite Stralau, Boxhagen-Rummelsburg, Lichtenberg, Hohenschönhausen, Weißensee, Heinersdorf, Pankow, Niederschönhausen, Reinickendorf, Dalldorf (heut Wittenau) und Tegel einschl. des Anteils des Gutsbezirks an der Jungfernheide. Für Hohenschönhausen, Heinersdorf und Tegel gab die durch Hobrecht begründete Rücksicht auf die Stadtentwässerung den Ausschlag. Der Umfang Berlins hätte danach 16 304 ha betragen, der Bevölkerungszuwachs etwa 240 000 Einwohner. Der Magistratsassessor Kremski, der bei allen Sitzungen als Protokollführer wirkte und auch eine Anzahl von Berichten entworfen hat, erhielt durch Zelle den Auftrag, einen Entwurf für das Eingemeindungsgesetz abzufassen. Durch Syndikus Weise163 und Stadtrat Weber beraten, brachte er ihn bis Anfang Dezember zustande. Auf seine Bitte überprüfte ihn noch Stadtrat Voigt, der die Stelle Webers als Generaldezernent übernahm. Voigt fügte eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen hinzu und legte den Entwurf am 9 . 1 . 9 3 der Gemischten Deputation vor. Aber inzwischen trat ein Ereignis ein, das der Angelegenheit ein anderes Gesicht geben konnte: Graf Eulenburg wurde am 6. 8 . 1 8 9 2 Minister des Innern, Herrfurth war wegen seines Widerstandes gegen die Miquelsche Steuerreform zurückgetreten. Damit war die treibende Kraft in der Eingemeindungsfrage aus dem Staatsministerium ausgeschieden. Herrfurth war das freilich nicht aus liberaler Zuneigung zu Berlin gewesen, wie es die spätere freisinnige Legende auffaßte, sondern aus Erwägungen des allgemeinen Staatsinteresses. Dieses deckte sich seiner Auffassung nach mit den Forderungen der Kreise und der Vororte, nicht mit denen der städtischen Behörden und der Bürgerschaft Berlins, die nur unter seinem Antrieb auf die Verhandlungen eingegangen waren. Herrfurth war nicht davor zurückgeschreckt, wenn nötig, auch gegen Berlin die Eingemeindung durchzusetzen. Es war eine völlig andere Lage als zehn Jahr später! Graf Eulenburg teilte nicht seines Vorgängers leidenschaftlichen Eifer, vor allem brauchte er Zeit, sich in die Frage einzuarbeiten. Es verbreitete 162 y g i 163

Kartenskizze unten S. 349.

Geb. 9. 4. 1839 in Königsberg i. Pr., 1865 Assessor, 1870 Stadtrichter, 1875 R e -

gierungsrat in K . ; 1884 in Berlin Stadtrat, seit 1 8 . 2 . 9 2 Syndikus, 1894 Vorsitzender der Grundeigentumsdeputation. Ruhestand 1907. Gest. 8. 1. 1910. E r galt als tüditiger Jurist.

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sich sogar die Anschauung, daß er den Plan ganz fallen lassen würde, wenn er auf zu starke Widerstände stieße. Nur so ist der Verlauf der Sitzung der Gemischten Deputation vom 9. 1. 93 zu verstehen. Zunächst bezweifelte in ihr Langerhans, jetzt als Stadtverordnetenvorsteher eine höchst gewichtige Persönlichkeit, die Notwendigkeit der Eingemeindung, und der Kämmerer Maaß sprach sich mit Rüdssicht auf die Kosten offen gegen sie aus! Daher wurde der Gesetzentwurf nur vorläufig durchberaten und auf Voigts Antrag ein Unterausschuß aus 3 Magistratsmitgliedern (Zelle, Voigt, Hobrecht) und 4 Stadtverordneten zur weiteren Klärung eingesetzt. Seine Beratungen wurden dadurch erleichtert, daß der Oberpräsident im Einverständnis mit dem neuen Innenminister am 17. Januar mitteilte, die von ihm geforderte Äußerung des Magistrats brauche nur „informatorischen Charakter", nicht den bindender Erklärungen zu tragen. Sie konnte sich also darauf beschränken, Bedingungen für eine „eventuelle" Eingemeindung aufzustellen. Die anfängliche Einmütigkeit innerhalb der städtischen Behörden wich von diesem Augenblick an einem völligen Durcheinander. In der Gemischten Deputation wurde am 15. 3. 93 ein Antrag Hobrecht-Langerhans, die Möglichkeit der Bildung eines größeren Kommunalverbandes in der Art des ehemaligen Gesetzentwurfes betr. eine Provinz Berlin ins Auge zu fassen, nur mit 8 : 8 Stimmen durch den Stichentscheid Zelles als des Vorsitzenden abgelehnt. Aber auch Zelles eigener Antrag, den Umfang „auf die dringendste Notwendigkeit zu beschränken", drang mit 5 : 9 Stimmen nicht durch. Zelle besaß feine Bildung, künstlerisches Verständnis, Liebenswürdigkeit und eine schöne, ihm selbst wohl bewußte Erscheinung — Eigenschaften, die ihn zu einem repräsentativen Auftreten als Oberhaupt der Reichshauptstadt befähigten. Er stand auch auf bestem Fuße mit den Stadtverordneten. Aber es fehlte ihm die Autorität Forckenbecks, der sich am Ende stets gegen Widerstände durchgesetzt hatte. Dazu kam, daß er selbst keine sichere Bahn verfolgte, sondern einem Kompromiß zusteuerte. Angenommen wurde schließlich mit 9 : 7 Stimmen der Antrag Voigt, den städtischen Behörden die Eingemeindung im vollen vorgesehenen Umfang unter den festgestellten Bedingungen zu empfehlen. Der darauf am 21. 3. erstattete Bericht des Magistrats verhehlte nicht, daß die Beschlüsse der Deputation mit teilweise sehr geringer Mehrheit zustande gekommen waren. Eigenhändig fügte Zelle dem Entwurf hinzu: „Schritt für Schritt sind die Erörterungen auf neue Schwierigkeiten gestoßen, auch stellte sich immer deutlicher heraus, welch unübersehbare, jedenfalls außerordentlich große finanzielle Opfer unserer Stadt zu21

Kaeber

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gemutet würden, während ein eigenes Interesse derselben nur in geringem Maße nachweisbar bleibt." Sicher hat Zelle diese Zusätze schon in der Überzeugung gemacht, die Regierung werde bei energischem Sträuben Berlins selbst ihren Plan aufgeben. Denn drei Tage später sprach er in der Magistratssitzung offen von einer veränderten Stellungnahme der Minister des Innern und der Finanzen zu der Eingemeindungsfrage. Unter dem Druck dieser Eröffnung beschloß der Magistrat, die ganze Angelegenheit noch einmal der Gemischten Deputation zu überweisen, die nach dem Ausscheiden Forckenbecks und Ebertys durch Kirschner und Friedel ergänzt wurde. Das Berliner Tageblatt teilte seinen Lesern mit, daß die Sitzung des Magistrats keine Entscheidung gebracht hatte, und fügte dem hinzu: „Die Ermattung, welche die Regierungsinstanz in der ganzen Angelegenheit der Eingemeindung zeigt, wirkt auf die beteiligten Gemeinden, insbesondere auf die Reichshauptstadt, nicht gerade fördernd und ermutigend. Es tauchen Vorschläge auf, die immer mehr Konsistenz zu gewinnen scheinen, daß „Groß-Berlin" nicht durch einfache Annektion zu gewinnen, sondern durch eine Art von FöderativVerfassung, d. h. eine verbesserte Auflage der früher vorgeschlagenen Provinz Berlin"164. Der Ausdruck Groß-Berlin, der schon in einem Beschluß des Grundbesitzervereins der Stadtteile um das Schönhauser Tor vom 30. 11. 1892 gebraucht worden war, bürgerte sich damals ein, ohne allerdings in den amtlichen Schriftverkehr überzugehen. Die breitere Öffentlichkeit erfuhr von der neuen Lage durch eine Äußerung des Oberbürgermeisters in der Stadtverordnetensitzung vom 20. April, die über die Umgestaltung des Schloßplatzes und der Königstraße beriet. Gegen diese war eingewandt worden, daß die Mittel der Stadt bereits durch die kommende Eingemeindung stark in Anspruch genommen werden würden. Zelle ergriff die Gelegenheit, um vom Magistratstisch aus zu erklären: „Wenn in dem Protokoll des Ausschusses auf die großen Kosten hingewiesen wird, die uns durch die uns zugemutete große Einverleibung der Vororte bevorstehen, so wissen Sie ja wohl alle, daß diese Zumutung nicht mehr in so drängender Weise, 164

B. T. N r . 155 v o m 25. 3. 93 in den A k t e n des St. A., Stadtverordn. Yersamml.

Sect. I, Fach 20 N r . 1, Bd. I V „Das Weichbild der Stadt." Diese A k t e n neben den Magistratsakten auch für das Folgende besonders wegen der in ihnen enthaltenen Ausschnitte des B. T., das w o h l als das Sprachrohr des Stadtverordnetenvorstehers gelten darf. Jedenfalls sind nur die Artikel des B. T. für würdig gehalten worden, in die Stadtverordnetenakten aufgenommen zu werden.

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vielleicht gar nicht mehr an uns herantritt." Und als ihm aus der Versammlung der Zuruf „bedauerlich" entgegenklang, setzte er überlegen ironisch hinzu: „Vielleicht bedauerlich, aber vielfach ist doch eine ganz andere Meinung geltend gemacht worden. Wenn von einer solchen Einverleibung weiterhin die Rede ist, so wird sie vielleicht nur in ganz bescheidenen Grenzen eintreten." Diese Erklärung nannte das B. T. (Nr. 215 vom 28. 4.) zwar „höchst überraschend", aber es konnte sie bestätigen: „Von der geplanten Einverleibung der Vororte sans phrase, von einem Groß-Berlin nach Analogie von Groß-Wien ist keine Rede mehr". Miquel habe „den Fafnirtöter" gespielt. Die große Mehrzahl der Berliner werde dem toten Riesen Groß-Berlin keine Träne nachweinen. Der Oberpräsident, der offenbar keine Sympathie für einen „Wasserkopf Berlin" habe, werde glücklich sein, aus seiner unangenehmen Rolle zwischen Berlin und den Vororten befreit zu werden. Und der Kaiser, der von Anfang an eine kühle und abwartende Rolle eingenommen habe, werde höchstens dem Abschluß von Verträgen zwischen Berlin und seinen nächsten Vororten zustimmen. Verhandlungen über solche Verträge hatte die Stadt übrigens trotz der Eingemeindungspläne auch in diesen Jahren mit mehreren Gemeinden geführt. Sie waren wie der über den Anschluß Reinickendorfs an die Berliner Gasversorgung — nach dem Vorbild des Vertrages mit Pankow vom 1.5. 1890 — soeben zum Ziele gelangt oder wurden in den nächsten Monaten fertig165. Während die Berliner über die Wendung der Dinge nach der Ansicht des B. T. befriedigt waren, wandte sich die „Charlottenburger Zeitung" (Nr. 103 vom 28. 4.) alsbald gegen die so aufs neue brennend werdende Gefahr, daß Charlottenburg seinen reichsten, an Berlin grenzenden Bezirk verlieren würde. Zweifellos im Sinne aller ihrer Leser verlangte sie eine weitgehende Eingemeindung oder gar keine. Prophetisch rief sie den Berlinern, die sich hinter einer „angeblichen Abneigung des Kaisers gegen die Einverleibung der Vororte verschanzten", zu, diese kurzsichtige Politik werde sich noch einmal an Berlin selbst rächen. So geradlinig, wie es nach diesen Stimmen scheinen könnte, verliefen die weiteren Verhandlungen indessen nicht. Zwar der Unterstützung des Finanzministers Miquel glaubte Zelle sicher zu sein. Den Vorortvertretern, die ihn am 13. Mai aufsuchten, erzählte er, Miquel habe sich 165

Zustimmung der Stadtverordneten z u m Reinickendorfer Vertrag am 1. 3. 93, zu

Kanalisationsverträgen mit Charlottenburg und Lichtenberg am 26. 6. 93, zu Gas- und Wasserversorgungsverträgen mit T r e p t o w am 10. 5. und 11. 10. 94. Uber die Stellung des Kaisers ließ sich nichts ermitteln. 21*

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ihm gegenüber „gewissermaßen gerühmt", als Oberbürgermeister von Frankfurt a. M. die Wünsche Bockenheims auf Eingemeindung in Frankfurt erfolgreich abgewehrt zu haben166. Doch der Innenminister Graf Eulenburg war keineswegs gewillt, den Plan fallen zu lassen. Gewiß war er von ihm nicht, wie Herrfurth, „förmlich begeistert" (Berl. Tagebl. Nr. 215 v. 28. 4. 93). Aber dem Wortführer des Vorortkomitees, Gustav Müller, versicherte er am 15. Mai, er wünsche die Eingemeindung je eher, je lieber durchzuführen. Berichte über die Unterredung erschienen in den Zeitungen167. Auch innerhalb der städtischen Behörden drang Zelle zunächst nicht durch. Eine auf Hobrechts Antrag eingesetzte neue Unterkommission, der außer ihm Voigt und Marggraff vom Magistrat, Langerhans, Stryck und Spinola von den Stadtverordneten angehörten, entschied sich mit Hobrecht trotz Anwesenheit Zelles und Kirschners „als Gästen" für einen ziemlich weiten Umfang des neuen Stadtgebiets. Die Gemischte Deputation dagegen lehnte am 6. Juni fast alle östlichen und nördlichen Vororte ab. Der Magistrat verschärfte noch die Ablehnung. Er schlug dem Oberpräsidenten am 29. 6. 93 im Grunde nur eine Grenzberichtigung auf Kosten Charlottenburgs, Wilmersdorfs, Schönebergs und Rixdorfs vor. Im Süden sollte die Ringbahn, die nach Zelles Zusatz zu dem Entwurf des Berichtes „wie eine neue Stadtmauer wirkte", die Grenze bilden. Gegen diese Absichten erhob sich heftiger Unwille in den durch sie zur Verstümmelung bedrohten Ortschaften. Sie verlangten die ungeteilte Vereinigung der an Berlin grenzenden Gemeinden mit der Hauptstadt, weil sonst nicht der Entwicklung der nächsten Jahrzehnte, sondern höchstens der weniger Jahre Rechnung getragen würde. Durch seine unannehmbaren Vorschläge hatte sich Berlin selbst ausgeschaltet. Das wurde deutlich, als Eulenburg zum 11.9. 93 eine Besprechung anberaumte, zu der er den Ober-, den Regierungs- und den Polizeipräsidenten sowie die beiden Landräte, aber nicht den Magistrat einlud. Er selbst betrachtete die Eingemeindung als eine an sich nicht 166

N a c h den offenbar zutreffenden Mitteilungen des späteren Rixdorfer Stadtrats'

Bürkner (Rixd. Tageblatt v. 22. 9. 05). Im übrigen hat sich Zelle über den U m f a n g der v o n ihm beabsichtigten Eingemeindung so unklar ausgesprochen, daß die Vorortvertreter nach gleichzeitigen Berichten ihr Einverständnis mit ihm erklärten. Tatsächlidi bestanden zwischen ihnen unüberbrückbare Gegensätze. 167

D e r Bericht der Voss. Ztg. in den Magistratsakten. D e r Stadtverordnete Meyer I.

w u ß t e sogar, daß Eulenburg eine Vorlage für die nächste Session des Landtags in Aussicht gestellt hatte (Stadtv. Sitzung v o m 1. 6. 93).

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besonders wünschenswerte Maßregel und hatte Bedenken, Berlin allzu große Lasten zuzumuten. Allein die anderen Behörden wußten die Notwendigkeit der Eingemeindung, wenn nicht schon jetzt, so doch für die Zukunft, so wohl zu begründen, daß sich Eulenburg überzeugen ließ. Einen neuen Grund für sie hatte der Teltower Landrat Stubenrauch vorgebracht168. Er sah den Hauptübelstand darin, daß die reichen Hauseigentümer der Vororte die Großgrundbesitzer aus dem Kreistage verdrängten. Im Teltow war das bereits geschehen, im Niederbarnim mindestens künftig möglich. Das Ergebnis der Besprechung war: 1. trotz der vorauszusehenden Belastung Berlins wird der Plan weiter verfolgt. 2. er ist trotz etwaigen Widerspruchs Berlins dadurch gerechtfertigt, daß die Nachteile des gegenwärtigen Zustandes durch Berlin hervorgerufen sind. Einstimmigkeit herrschte darüber, daß die Form eines Gesetzes zu wählen, und daß Verhandlungen mit den Beteiligten zu eröffnen seien. Als Umfang des einzuverleibenden Gebiets wurde in Aussicht genommen: ganz Charlottenburg, falls dies nicht überhaupt auszulassen sei; Wilmersdorf, Schöneberg, Tempelhof, die Hasenheide, dazu Rixdorf innerhalb der Ringbahn; ganz Treptow, Stralau, Boxhagen-Rummelsburg und Lichtenberg. Vorbehalten blieben Weißensee, das der Polizeipräsident einzubeziehen wünschte, Reinickendorf und Plötzensee, an dessen Eingemeindung der Forstverwaltung lag. Ausgeschlossen wurden Schmargendorf und Friedenau auf dem linken, die beiden Schönhausen, Pankow, Heinersdorf und Schönholz auf dem rechten Spreeufer. An diesem Umfange hielt im Gegensatz zu den Vorschlägen der Gemischten Deputation und des Magistrats der Minister in seiner Anweisung an den Oberpräsidenten vom 28. 9. 1893 fest. Eulenburg bekundete sein Interesse an der Angelegenheit durch mehrfache Verbesserungen des Entwurfs dieser Verfügung. Außerdem forderte er von den Oberpräsidenten über die Erfahrungen mit den neuerlichen Eingemeindungen in Hannover, Altona, Magdeburg und Köln Berichte an. Diese gingen schnell ein für Hannover und Köln, wo die Eingemeindungen ebenfalls vor allem einer planmäßigen Bebauung sowie der Wasserversorgung und Entwässerung der Vororte hatten dienen sollen. Sie lauteten durchaus günstig. 168 Ernst St., geb. 1 9 . 7 . 1 8 5 3 ; seit 1885 Landrat des Kreises Teltow, 7 . 1 . 1 9 0 8 Polizeipräsident von Berlin, gest. 4. 9. 09. St. war einer der hervorragendsten Landräte Preußens, seine bekannteste Schöpfung ist der Teltowkanal.

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Den Weisungen des Ministers entsprach die Verfügung des Oberpräsidenten vom 9.11. 1893. Sie verwarf sowohl die Vorschläge der Gemischten Deputation wie die des Magistrats und setzte als einzuverleibende Fläche das in der Besprechung vom 11. September beschlossene Gebiet fest. Ausschließlich Weißensees und Reinickendorfs, deren ganze oder teilweise Einbeziehung vorbehalten wurde, hätte Berlin danach 13 200 ha umfaßt. Über diese Vorschläge sollte sich der Magistrat nach Anhörung der Stadtverordneten äußern. Die Regierung hatte gesprochen, nun war es Sache der Stadt, eindeutig Stellung zu nehmen. Aber der Magistrat war dazu wenig geneigt. Er ließ zunächst einen Monat verstreichen und stellte dann die ausweichende Anfrage, warum gerade die Eingemeindung dieser Orte notwendig sei. Charlottenburg etwa sei eine wohlorganisierte, einen Stadtkreis bildende Gemeinde, die alle Aufgaben selbst erfüllen könne. Mit dieser Ansicht stimmte jetzt die des Charlottenburger Oberbürgermeisters Fritsdie überein, der am 3. 1. 94 in der Stadtverordnetenversammlung erklärte, die Gemeindebehörden ständen der Eingemeindung „kühl bis ans Herz hinan" gegenüber und rechneten mit ihr bei ihren wirtschaftlichen und organisatorischen Entschließungen überhaupt nicht. Den zurückhaltenden Standpunkt des Magistrats verteidigte Marggraff am 9 . 1 . 94 in einer Versammlung des nationalliberalen Vereins mit der Rücksicht auf die städtischen Finanzen und auf die Einheit der Verwaltung, die durch eine Dezentralisation in Gefahr geraten würde. Gegenüber der Agitation für die Einverleibung, die in stärkstem Ausmaße durch die Grundbesitzer in Berlins Umgebung betrieben würde, werde sich der Magistrat nur durch das öffentliche Interesse leiten lassen. Dafür, daß in der Tat auch persönliche Beweggründe im Spiele waren, zeugen die Eingaben der Grundbesitzervereine in den westlichen und nördlichen Vororten, die beim Magistrat einliefen. Doch auch die Gemeindevorstände von Schöneberg, Friedenau, Rixdorf, Britz, Treptow, Lichtenberg und Pankow hatten die Eingliederung ihrer Gemeinden nach Berlin beantragt! Die Stimmung weiterer Kreise der Berliner Bürgerschaft kam am 16. 2. 1894 in einer Sitzung des „Hausbesitzervereins im Norden Berlins" zum Ausdruck169. In ihr sprach der Verwaltungsdirektor der Charité, Geheimrat Spinola, ein einflußreiches Mitglied der Stadtverordnetenversammlung. Aus Besorgnis vor der Regierung und dem Berlin „nicht sonderlich geneigten" Abgeordnetenhaus, das sehr leicht 18

» Bericht des B. T. vom 1 7 . 2 . 9 4 , Nr. 88.

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ein Eingemeindungsgesetz ohne Rücksicht auf Berlins Wünsche beschließen könne, trat er für die Eingemeindung, und zwar für eine erheblichen Umfangs ein, um Wiederholungen vorzubeugen. Mit gutem Grunde bekämpfte er die Ringbahngrenze und die Zerreißung lebendiger Gemeindekörper. Der Stadtverordnete Hellriegel170 schloß sich ihm an, gleichfalls betonend, daß Berlin „der Not gehorchend" an die Sache herangegangen sei. Er führte aber noch ein weiteres, vorher und nachher von den Vertretern dieser Stadtgegenden in die Waagschale geworfenes Argument für die Einbeziehung der an sie grenzenden Ortschaften an: eine Eingemeindung nur im Westen und Süden würde den Schwerpunkt Berlins nach dem Potsdamer Tore verschieben und die Entwicklung der nördlichen und östlichen Stadtteile lahm legen. So verschmolzen sich hier allgemeine Gesichtspunkte und persönliche Interessen. Schon am 12. 1. 94 hatte der Oberpräsident die Vertreter der „Ständigen Eingemeindungskommission der Vororte", wie sich das Komite jetzt nannte, empfangen. Er gab ihnen die beruhigende Versicherung, daß auch Graf Eulenburg der Frage so wohlwollend gegenüberstehe wie früher Herrfurth. Allerdings wären noch längere Verhandlungen zu erwarten. Die Regierung müsse davon ausgehen, daß die Interessen Berlins und die der Vororte gleichwertig seien. Das Ausweichen des Magistrats fand bei den Staatsbehörden kein Verständnis. Ironisch erinnerte Eulenburg daran, daß Zelle selbst an jener ersten Besprechung im Juni 1891 teilgenommen hatte, in der die Motive für die Eingemeindung dargelegt worden waren. Er begründete noch einmal knapp die durch ihn vorgesehene Grenzführung, die nach Möglichkeit eine Teilung von Ortschaften vermied, um nicht leistungsunfähige Reste übrig zu lassen. Nun wußte Zelle keinen anderen Rat, als den Minister um eine Unterredung zu bitten. Dem Magistrat war noch immer manches nicht klar, zumal von der Konferenz des 30. 6. 91 keine amtliche Niederschrift angefertigt worden war. Am 16. März 1894 war der Oberbürgermeister bei dem Minister und konnte von ihm lernen, daß die Vororte tatsächlich schon Teile Berlins, weder wirkliche Landgemeinden, noch brauchbare Glieder ihres Kreises und teilweise nicht leistungsfähig waren. Er mußte sich sagen lassen, daß die Berliner Verhältnisse durchaus denen der anderen Großstädte glichen, die in den letzten Jahren eingemeindet hatten, und daß Berlins Vorschläge unzureichend seien. Rentier und Besitzer des Hauses Invalidenstr. 1.

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Man mußte diesen Richtlinien Rechnung tragen. Auf Kirschners Vorschlag beriet ein Ausschuß der Gemischten Deputation unter Zelles Vorsitz über die Vorschläge der Regierung, ein zweiter unter Kirschner über die vielleicht doch notwendige Dezentralisation. Die von diesem geforderten Gutachten sämtlicher Berliner Verwaltungsdeputationen lassen sich in drei Gruppen einteilen. 1. Vier Deputationen, die für das Armen-, Schul- und Hochbauwesen sowie die für das städtische Grundeigentum sprachen sich in jedem Falle für die Schaffung von örtlichen Zwischenbehörden aus ohne Rücksicht darauf, ob eingemeindet würde oder nicht. 2. Nur im Falle einer Eingemeindung wurde eine größere Selbständigkeit der örtlichen Stellen für die Waisen-, die soziale Versicherungs- und die Schlacht- und Viehhofsverwaltung gewünscht. 3. Die anderen Deputationen hielten grundsätzliche Änderungen oder eine Erweiterung ihrer Machtbefugnisse nicht für erforderlich. Als Ergebnis stellte der Ausschuß nach Voigts Vortrag fest, daß auch für ein erweitertes Weichbild die Städteordnung genüge. Doch sei es „wünschenswert, daß für die verschiedenen Verwaltungszweige umfangreiche, möglichst einander deckende örtliche Abteilungen des Stadtgebiets eingerichtet würden, und daß alsdann ein höherer Beamter für jede solche Abteilung als die nächste Aufsichtsstelle für die gesamte Verwaltung derselben" bestellt würde. Damit kam er zwar nicht der Rechtsform, jedoch der Sache nach auf den alten Gedanken zurück, Bezirksbürgermeister einzusetzen. Seine Vorschläge wurden am 24. Oktober — so lange hatten die Vorarbeiten gedauert — durch die Gemischte Deputation ohne Widerspruch entgegen genommen. Während in dieser Frage Einmütigkeit herrschte, war das in der anderen noch weniger als vorher der Fall. Sieben verschiedene Anträge wurden der Deputation unterbreitet. Sie entschied sich für den Antrag Marggraff-Wohlgemut, der im wesentlichen auf den Vorschlägen der Regierung beruhte, aber Westend und den jenseits der Berlin—Hamburger Bahn gelegenen Teil Charlottenburgs sowie ganz Lichtenberg ausschloß. Das bedeutete eine Teilung des Gebietes von Charlottenburg, zu dem Westend gehörte, und den Ausschluß des wichtigsten östlichen Vorortes. Zelle, der hartnäckig an dem eng umgrenzten Plan festhielt, drang nicht durch. Nunmehr hielt es der Magistrat für geboten, der Deputation beizutreten und noch den vom Oberpräsidenten empfohlenen größeren Teil Wilmersdorfs nördlich der Ringbahn hinzuzufügen. In der Vorlage, die er am 27. 11. 94 den Stadtverordneten unterbreitete, begründete er seine Abwendung von der bisherigen „grundsätzlich ab-

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lehnenden Stellung". Es ließe sich nicht verkennen, „daß die von der Gemischten Deputation zur Eingemeindung vorgeschlagenen Bezirke teils tatsächlich in engen baulichen und wirtschaftlichen Zusammenhang mit Berlin getreten seien, teils jährlich und in steigendem Maße eine bedeutende Anzahl steuerfähiger Einwohner dem jetzigen Stadtgebiet entzögen". Dazu besäße die Stadt in Treptow, Stralau und Rummelsburg umfangreichen Grundbesitz und käme mit diesen Ortschaften in den Besitz der Oberspree. Der Magistrat hatte plötzlich ein Interesse Berlins an der Eingemeindung entdeckt oder richtiger wieder entdeckt! Noch immer hatte sich an der Anschauung der Regierung nichts geändert, ja ihre Stellung war dadurch verstärkt worden, daß die Gemeindekommission des Abgeordnetenhauses am 22. 5. 94 einstimmig beschlossen hatte, die Staatsregierung aufzufordern, baldigst eine gesetzliche Neuregelung der kommunalen und polizeilichen Verhältnisse der Umgebung Berlins herbeizuführen. Graf Eulenburg hatte dem im März zum Dezernenten bestimmten, kommissarisch ins Innenministerium berufenen Landrat von Windheim — er wurde 1895 Polizeipräsident von Berlin — die Ausarbeitung einer Denkschrift über die Notwendigkeit der Einverleibung der Vororte in die Hauptstadt übertragen, die im Mai fertig wurde. Sie hob zunächst die allgemeinen Gründe hervor: die Verdreifachung der Einwohnerzahl Berlins seit 1860 hatte die Bodenpreise in die Höhe getrieben und zu einer Abwanderung in die Vororte geführt. Diese blühten im Westen und Süden auf, da die Wohlhabenden dorthin zogen, während im Osten und Norden durch die einwandernden Arbeitermassen Notstände eintraten. Alle Vororte waren in ihrer Entwicklung von Berlin abhängig, mit dem sie durch gute Verkehrsverbindungen verknüpft waren; sie bildeten wirtschaftlich mit ihm ein Ganzes. Ihre Einwohner fühlten sich meist als Berliner. Im einzelnen führte v. Windheim dann folgende Ubelstände an: die Polizei entbehrte auf ihren verschiedenen Tätigkeitsgebieten der Einheitlichkeit. Die Vororte verfolgten ihre Sonderinteressen ohne Rücksicht aufeinander. Die für ihre Entwässerung bisher getroffenen Vereinbarungen waren nur Notbehelfe. In der Wasserversorgung und im Beleuchtungswesen hatten sich private Gesellschaften die Vorteile gesichert, die den Gemeinden gebührt hätten. Das Verhältnis zum Kreisverband war ungesund. Zu der Bemerkung Windheims, daß die Landgemeindeverfassung immerhin nicht so ungünstig wie die in einigen Vororten geltende Gutsbezirksverfassung sei, schrieb der Minister an den Rand, daß auch sie für größere Gemeinden nicht genüge. Hatten doch Schöneberg und Rixdorf, an die der Minister dabei dachte, 1892

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schon 37 600 bezw. 44 000 Einwohner. Aber auch die anderen Vororte hatten, wenn auch nicht im gleichen Ausmaße, eine ähnliche Entwicklung ihrer Bevölkerung in den letzten zwei Jahren zu verzeichnen171. Die Gründe für eine noch weiter gehende, etwa den Beschlüssen der Gemischten Deputation vom 13.10.92 entsprechende Eingemeindung wurden in einer von den Vorortvertretern ausgehenden Denkschrift an die Staatsregierung vom Sommer 1894 ausführlich erörtert172. In ihr wurden die finanziellen Befürchtungen Berlins auf ihr berechtigtes Maß zurückgeführt. Ein Vortrag des Professors Büsing von der Technischen Hochschule („Hygienische Rundschau" Heft 2, 1895) behandelte die Eingemeindungsfrage vom gesundheitlichen Standpunkte aus. Büsing geißelte darin das Übergreifen der Mietskasernen auf die Vororte, der die Bauordnung für das platte Land vom 15. 3. 1872 keinen Widerstand hatte entgegensetzen können. Noch schlimmer hatte die Übertragung der Berliner Bauordnung von 1887 auf 18 Gemeinden in Berlins Nachbarschaft gewirkt, durch die der Sieg der Mietskaserne entschieden wurde. Selbst die in ihren Grundgedanken brauchbare Bauordnung für die Vororte vom 5. 12. 92 hatte zwar einzelne Bezirke dem Landhausbau vorbehalten, im übrigen aber die geschlossene Bauweise zugelassen. Dadurch waren manche Vororte „Zerrbilder von Großstädten" geworden, während sie „weiträumig bebaute Landstädte" hätten werden können. Diese Verhältnisse, sowie die für größere Ortschaften ungeeignete, bürokratisch-absolutistische Gemeindeverfassung machten nach Büsings Ansicht eine einheitliche Organisation Berlins und seiner Umgebung notwendig173. Hätte Berlin im Frühjahr 1894 der Regierung einen annehmbaren Vorschlag unterbreitet, so wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach noch zur rechten Zeit gekommen. Selbst der Rücktritt Eulenburgs und die Ernennung von Kollers zum Innenminister im Oktober 1894 bedeutete 171

In einem nach Eulenburgs Rücktritt geschriebenen Artikel (Nr. 580 vom 14.11. 94) ließ übrigens auch das B. T. dem Gedankengange des Ministers Gerechtigkeit widerfahren. Obgleich es erneut betonte, daß Berlin „an und für sich eine Vergrößerung seines Gebietes nicht notwendig" habe, stimmte es am Ende sogar den noch umfassenderen Plänen Herrfurths zu. An dieser Ansicht hielt es nun fest (vgl. den Aufsatz „Die Grenzen von Groß-Berlin", N r . 1'22 v. 8. 3. 95). 172

Ein Abdruck in den Charlottenburger Akten. Auf den schärfsten Angriff dieser Jahre gegen das Wohnungswesen Berlins von Rud. Eberstadt, Berliner Communalreform (Preuß. Jahrb. 1892, S. 577 ff.) kann hier nur hingewiesen werden. 173

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keine entscheidende Änderung in der Haltung der Regierung. Koller empfing im Dezember den Vorortausschuß, und noch Ende März 1895 reichte ihm der Oberpräsident eine gedruckte „Tabellarische Übersicht" über Umfang, Bevölkerung, Finanzen, Schulen, Krankenhäuser und sonstige öffentliche Anstalten der 9 zur Eingemeindung bestimmten Vororte ein. Die Regierung hatte das Ihre getan. Die Stadtverordneten hatten zunächst noch genauere Angaben über die einzelnen Vororte und die Mitteilung der Protokolle der Gemischten Deputation verlangt. Dann traten sie am 21. 2. 95 in die Beratung der Magistratsvorlage ein. Der Verlauf der Sitzung spiegelte deutlich die verfahrene Lage wieder, der die Stadtverordneten gegenüber standen. Auch ihnen fehlte es an zielbewußter Führung. „Lebhafter Beifall" wurde zwar den Rednern zuteil, die wie der ehemalige Staatsminister Dr. Hentig und Geheimrat Spinola sich für einen großzügigen Plan einsetzten. Aber das Gleiche widerfuhr dem f ü r die Bildung von Zweckverbänden eintretenden, die finanziellen Gefahren schwarz in schwarz malenden Vorsteher Langerhans. Und Rechtsanwalt Cassel, der später als Landtagsabgeordneter immer wieder der Regierung die Schuld an dem Scheitern der Eingemeindungspläne in die Schuhe schob, sagte spöttisch: „Auf die Gefahr hin, eines Mangels an Voraussicht und Mangels an weitsichtigen Gedanken bezichtigt zu werden", wolle er nur deshalb eingemeinden, „weil ich in den sauren Apfel beißen muß". Zelle verfehlte nicht, auch an dieser Stelle „Beweise" für die N o t wendigkeit der Eingemeindung zu verlangen und die Wohltaten zu unterstreichen, die Berlin einzelnen Gemeinden durch Anschluß an seine Gas-, Wasser- und Entwässerungsanlagen bereits erwiesen hatte. Man beschloß die Einsetzung eines Ausschusses, der glücklich am 29. 4. seine erste Sitzung abhielt. Wer aber gehofft hatte, daß sich in ihm eine klare Mehrheit bilden würde, wurde enttäuscht. N u r mit 8 : 7 Stimmen wurde die Grundfrage bejaht, daß eingemeindet werden sollte, und mit der gleichen geringen Mehrheit wurden Reinickendorf, Pankow und Weißensee, f ü r die sich die nördlichen Grundbesitzer- und Bezirksvereine aufs neue eingesetzt hatten, in die Liste aufgenommen. Von Friedrichsberg-Lichtenberg sollte entsprechend der Magistratsvorlage nur der westliche, städtisch bebaute Teil mit Berlin verbunden werden. War es ein Wunder, daß man nach diesem unbefriedigenden Ergebnis fast ein halbes Jahr verstreichen ließ, ehe man sich erneut an das heiße Eisen heranwagte, um es in einer Plenarsitzung zu schmieden174? 174

Es lagen allerdings auch die Sommerpause der Stadtverordneten und ein längerer Herbsturlaub des Oberbürgermeisters dazwischen.

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Nachdem der unermüdliche Gustav Müller mit seinem Vorortausschuß noch einmal in der großen Versammlung vom 23. 9. 95 für den alten Herrfurthschen Plan eine Lanze gebrochen hatte, — die einstimmig gefaßte Resolution wurde der Regierung und den städtischen Behörden übersandt — fiel am 24. Oktober 1895 die Entscheidung in der Stadtverordnetenversammlung. Drei Anträge lagen ihr außer dem des Ausschusses vor. Der Antrag Mommsen schloß sich mit einigen Abweichungen der Magistratsvorlage an, die nur großstädtisch bebautes Gelände umfaßte; der Antrag Wallach lehnte sie ab und wollte durch Verhandlungen mit der Regierung und den Vororten einen weiteren Kommunal verband zustande bringen; der Antrag Singer schließlich verlangte die völlige Einbeziehung von sieben Gemeinden auf dem linken und von sechs auf dem rechten Spreeufer. Spinola trat mit schlagenden Gründen für ihn ein: „Wo steht es denn geschrieben, daß eine große Stadt von der Bevölkerung Berlins ein Weichbild haben muß, das in allen seinen Teilen mit hohen Mietskasernen dicht besetzt ist? Gerade darum will ich so viel einverleiben, um aus hygienischen Rücksichten eine gedeihliche Entwicklung des zukünftigen Berlin zu ermöglichen". Um ihrer willen wollte er „große Strecken Landes von der Bebauung frei halten". Die Angst vor den Kosten bekämpfte er mit dem Hinweis, das sie sich auf viele Jahre verteilen würden. Er schloß seine Rede mit dem temperamentvollen Wort: „en avant Magistrat!" Mit der knappen Mehrheit von 58 gegen 56 Stimmen wurde in namentlicher Abstimmung dieser am weitesten gehende Antrag abgelehnt und darauf mit 71 gegen 43 Stimmen der Ausschußantrag angenommen. Endlich war eine klare Mehrheit für einen Plan gewonnen, der zwar immer noch nicht genügte, aber allenfalls eine Grundlage für Verhandlungen mit der Regierung bieten konnte. Doch der Magistrat war nicht zu überzeugen. In seinem Bericht vom 30. 1. 96 zog er sich auf seine unannehmbaren Vorschläge vom 29. 6. 93 zurück. Die Folge war, daß der Oberpräsident im März dem Minister — seit dem Dezember von der Recke — bekannte, daß Ergebnis der Verhandlungen sei „als ein rein negatives anzusehen", da eine Einigung zwischen Magistrat und Stadtverordneten nicht zustande gekommen sei. Außerdem sei die Teilung des Charlottenburger Stadtbezirks, die beide Vorschläge enthielten, nicht annehmbar. Das Staatsministerium habe daher wieder freie Hand und sei nicht mehr an die Vorschläge seines Erlasses vom 28. 9. 93 gebunden. Eine wirksame Beseitigung der Ubelstände versprach er sich nur durch sein „weiteres Projekt", das über die Ringbahn hinausgriff und keine Gemeindegrenzen zerriß, also dem so knapp durch die Stadt-

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verordneten verworfenen Antrage Singer entsprach. Da dies kaum erreichbar war, empfahl er, zunächst die Entwicklung abzuwarten. Dem Vorortausschuß, der seine Bemühungen fortsetzte, erwiderte daher der Minister am 20. 9., es ließe sich zur Zeit ein Abschluß der Verhandlungen nicht absehen. In Wirklichkeit waren sie zu Ende. Wenn der Magistrat im Oktober dem Oberbürgermeister von Kassel auf eine Anfrage erwiderte, „die Inkommunalisierungsbestrebungen befinden sich zur Zeit noch in den Anfangsstadien", dann war das kaum der treffende Ausdruck für die Tatsachen. Richtiger drückte sich der im September 1897 abgeschlossene Verwaltungsbericht aus: „allem Anschein nach wird diese wichtigste Gestaltungsfrage Berlins als eine ungelöste noch in das neue Jahrhundert übergehen" 175 . So war es in der Tat. Der Oberpräsident beantwortete den letzten Bericht des Magistrats überhaupt nicht, und dieser verzichtete darauf, eine Antwort zu erbitten. Die Auffassung der Regierung spiegelt sich in einem Artikel der offiziösen „Post" vom 27. 9. 96"'. In der Presse sei verschiedentlich geäußert worden, der Landtag werde sich in der nächsten Session mit der Eingemeindung beschäftigen. Eine solche Umgestaltung sei indessen, darin sei dem Berliner Tageblatt zuzustimmen, wenigstens in der nächsten Z u k u n f t nicht zu erwarten. Die daran geknüpften Vorwürfe gegen die Regierung seien höchst ungerechtfertigt. Einerseits habe Berlin die Frage „Jahr und Tag verschleppt", anderseits habe die Regierung keine Veranlassung, der Stadt Berlin oder den Vororten Wohltaten aufzuzwingen, über deren Wert die Beteiligten selbst sich nicht einig seien. Berlin sträube sich dagegen, alle in Betracht kommenden Vororte mit sich zu verschmelzen, und die größeren Vororte wie Charlottenburg wollten nicht zu Berlin kommen. Außerdem sei Berlins räumliche Ausdehnung so weit gediehen, daß es nicht geraten sei, seine Grenzen weiter hinaus zu schieben. Eine ganz andere Frage sei die Herstellung eines engeren Verbandes f ü r gewisse gemeinsame Angelegenheiten, sobald die Vororte in Städte und Stadtkreise verwandelt seien. Das Ministerium habe die notwendigen Schritte dazu eingeleitet. Zunächst werde Schöneberg, für dessen 55 000 Einwohner die Landgemeindeordnung „geradezu eine Unmöglichkeit" geworden sei, Stadtrechte erhalten. Die Erfahrungen damit würden für die weitere Verleihung von Stadtrechten maßgebend sein. Ein Hindernis f ü r eine künftige Eingemeindung läge darin nicht. 175 Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Berlin in den J a h r e n 1889 bis 1895. 1. Teil, Berlin 1898, S. 43. 176 N r . 266. Ein Exemplar in der P r e u ß . Staatsbibliothek.

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Einige Jahre später erfuhr die Öffentlichkeit durch eine Bemerkung des Justizministers in der Justizreorganisationskommission des Abgeordnetenhauses, daß die Regierung den Plan einer Eingemeindung endgültig aufgegeben habe. Aber Stadtrat Kauffmann, der dies am 6. 7. 1899 in den Akten vermerkte, fügte hinzu, daß es auch für Berlin aus verschiedenen Gründen nicht angezeigt sei, jetzt die Frage wieder anzurühren. Die Verantwortung dafür, daß dieser erste Versuch zur Schaffung eines Großberlin scheiterte, tragen verfassungsrechtlich Magistrat und Stadtverordnete gemeinsam. Vor der Geschichte aber trägt die Verantwortung der Oberbürgermeister Zelle, der dazu berufen gewesen wäre, mutig zu Ende zu führen, was sein Vorgänger Forckenbeck eingeleitet hatte. Statt dessen schlug er sich auf die Seite der Bedenklichen, die vor den Sorgen des Augenblicks die Zukunft nicht zu sehen vermochten. Der ihm nahestehende Vorsteher der Stadtverordneten, Langerhans, hegte die gleiche Furcht vor einem kühnen Entschluß. Keiner der beiden besaß die Eigenschaften, die von den Leitern eines großen Gemeinwesens gefordert werden müssen. Nur wenige Jahre später hatte sich die Stimmung der Gemeindebehörden Berlins gründlich gewandelt. Nun erhob sich in ihren Reihen die Frage nach den „Schuldigen". Während die Mehrzahl der Stadtverordneten immer wieder die Verantwortung ausschließlich der Regierung zuschob, die plötzlich die Verhandlungen abgebrochen habe, sah Kirschner schon im September 1903 darin zwar das Haupthindernis, aber er fügte hinzu: „Ich gebe zu, es ist von unserer Seite auch vielleicht der richtige Moment verpaßt worden". Etwas später bekannte er sogar, daß die Verhandlungen vielleicht zu einem Abschluß gekommen wären, wenn Berlin „gleich zugegriffen hätte"177. Freilich erklärte er trotzdem die Stadt für „schuldlos", weil am Ende doch die Regierung die Eingemeindung verhindert hatte. Damit verschob er die Frage! Wenn, wie es damals allgemeine Überzeugung war, die Eingemeindung weit mehr im Interesse Berlins lag als in dem des Staates, dann hatte die Stadt die geschichtliche Schuld daran, daß sie die Chance ausschlug, als sie ihr geboten wurde. Dem Magistrat und den Stadtverordneten ist höchstens die dürftige Entschuldigung zuzubilligen, daß die Bürgerschaft noch kurzsichtiger war als sie178. 177

St. A., Akten der Stadtv. Vers. betr. das Weichbild der Stadt. Sect. I, Fach 20 Nr. 1, Bd. V: Sitzungen vom 24. 9. 03 u. 14. 9. 05. 178 In einem gut unterrichteten Aufsatz des Lehrers und Hausbesitzers H . Lieverenz in „Das Grundeigentum", Jg. 1904, N r . 6 u. 7, heißt es, daß „sämtliche Vereine Ber-

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Schon der Verwaltungsbericht hatte abschließend bemerkt, die Behörden von Charlottenburg und Schöneberg hätten sich mit Entschiedenheit gegen die Einverleibung ausgesprochen, während die übrigen Vororte ihr anscheinend geneigt wären. Wie sehr dies der Fall war und es in weiteren Kreisen auch blieb, zeigte eine im Februar 1897 dem Abgeordnetenhause eingereichte Petition des Vorortausschusses. Zahlreiche im öffentlichen Leben stehende Männer, darunter die Gemeindevorsteher von Lichtenberg und Reinickendorf, hatten sie unterschrieben179. Aber die Entwicklung ging einen anderen Weg. Schöneberg erhielt wirklich am 1. 4. 1898 Stadtrechte, und Rixdorf folgte ihm nach einem Jahre. Beide schieden 1899 aus dem Kreise Teltow aus. Die Steglitzer Kreistagsabgeordneten Kirchner und Maucke überreichten Ende des Jahres dem Ministerpräsidenten Fürst Hohenlohe eine Denkschrift über die Erhebung von Vororten zu Städten. Die „Vereinigung der Vororte zur Wahrung gemeinsamer Interessen" — ein neuer Name für eine alte Einrichtung — war freilich anderer Ansicht. Durch Gustav Müller, der jetzt Stadtverordnetenvorsteher in Schöneberg und Abgeordneter des Provinziallandtages war, richtete sie in den gleichen Tagen eine Eingabe an den Innenminister von Rheinbaben, in der die Stadtrechtsverleihung nicht als eine befriedigende Lösung anerkannt wurde. Der Gedanke Großberlin lebe fort, die Gründe dafür seien die gleichen geblieben. Rheinbaben antwortete kurz, eine Eingemeindung käme nicht in Betracht. Die erbetene Unterredung lehnte er ab, da zur Zeit ein Antrag auf Vereinigung Friedenaus mit Schöneberg, dagegen keine Anträge auf die Einführung der Städteordnung in einzelnen größeren Gemeinden vorlägen. Friedenaus Antrag wurde allerdings nicht genehmigt, da der Kreis Teltow zunächst nicht weiter geschwächt werden, sondern eine gewisse Schonzeit erhalten sollte180. 3.

Kirschners

Kämpfe

Am 23. 6. 98 war Kirschner zum Oberbürgermeister als Nachfolger des am 1. Oktober in den Ruhestand tretenden Zelle gewählt worden. lins — voran die Grundbesitzervereine und die Bezirksvereine — eine viel abwehrendere H a l t u n g zeigten" als die städtischen Behörden. 179 180

Abdruck in den Charlottenburger Akten.

Erklärung Rheinbabens in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 13. 2. 1900. Erst 1907 sdiieden Wilmersdorf und Lichtenberg, nachdem sie Stadtrecht erhalten hatten, aus dem Kreise aus. Steglitz erreichte trotz J a h r f ü r J a h r wiederholter, vom Abgeordnetenhause befürworteter Eingaben dies Ziel nicht.

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Die Bestätigung durch den Kaiser, der durch die Beschlüsse der städtischen Behörden über die Verschönerung des Friedhofs der Märzgefallenen verstimmt war, zog sich ungewöhnlich lange hin181. Der Ausspruch des Oberbürgermeisters „ich kann warten" wurde geflügeltes Wort 182 . Er kennzeichnet die geduldige, zäh an dem für richtig Erkannten festhaltende Art des gewiß nicht genialen, aber klaren Mannes, der sich durch strenges Pflichtbewußtsein und Gerechtigkeit die Verehrung der städtischen Beamtenschaft errang, die seinem Vorgänger nicht zuteil geworden war. Am 23. 1 2 . 1 8 9 9 war Kirschner bestätigt worden, am 2 0 . 1 2 . 1900 erhielt er durch den Magistratsassessor Pietsch die diesem aufgegebene geschichtliche Darstellung über die Eingemeindungsverhandlungen der Jahre 1890—96. Er hatte an ihnen selbst teilgenommen, jedoch als eben erst aus Breslau nach Berlin berufener Bürgermeister sich in der Beurteilung des Umfangs der Eingemeindung gegenüber so viel erfahreneren Kollegen zurückgehalten. Doch wird er die reibungslose Erledigung des Verfassungsproblems als Vorsitzender des Ausschusses vorteilhaft beeinflußt haben. Die Akten verraten nicht den Anlaß für Kirschners wohl mündlich dem Assessor Pietsch erteilten Auftrag. Man wird ihn indessen in den Beratungen des Abgeordnetenhauses über das Gesetz vom 13. 6 . 1 9 0 0 betr. die Polizeiverwaltung in den Stadtkreisen Charlottenburg, Schöneberg und Rixdorf und in dem damit zusammenhängenden Gesetzentwurf über die allgemeine Landesverwaltung in diesen Städten sehen dürfen. Das Polizeigesetz war die notwendige Folgerung des Ausscheidens Schönebergs und Rixdorfs aus dem Kreise Teltow, durch das die Bestimmungen des Gesetzes vom 12. 6. 89 für diese Orte hinfällig geworden waren. Die Regierung hatte anfangs ein die gesamten Berliner Vororte betreffendes Gesetz vorgelegt, sich aber auf Wunsch des Abgeordnetenhauses zu einem neuen, nur die drei Städte einbeziehenden Entwürfe bereit gefunden183. Schon bei den Beratungen über den ursprünglichen Entwurf hatte Eugen Richter erklärt, eine Eingemeindung könne nur zustande kommen, wenn alle Beteiligten damit gleichmäßig einverstanden seien. Berlin scheine ihr jetzt etwas mehr geneigt zu sein 181

D a ß die Friedhofsangelegenheit mindestens der Hauptanlaß für die Stellung des

Kaisers war, ergeben m. E. die Personalakten über Kirschner. St. A., Stadtv. Vers. Sect. I, Fach 15, Spez. N r . 67. 182

Noch in der Abschiedssitzung der Stadtverordneten für den aus dem Amte

Scheidenden erinnerte der Vorsteher Michelet an Kirschners erstes „Ich kann warten". iss Drucks, u. Verhandl. des Abg.-hauses der J a h r e 1899 u. 1900.

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als früher, während sich in den aufblühenden Vororten die Stimmung abgekühlt habe. Der ehemalige Berliner Oberbürgermeister Hobrecht, der jetzt im Landtag saß, billigte die Absicht der Regierung, von einer Provinz Berlin oder von weitergehenden Eingemeindungen abzusehen und zunächst nur einem bestimmt erkannten Bedürfnis — eben dem polizeilichen — „in den notwendigen Grenzen" abzuhelfen. Der Innenminister v. d. Recke hatte noch erklärt, daß die Staatsregierung keinen Grund habe, den Wünschen auf Bildung städtischer Gemeinwesen rings um Berlin entgegen zu treten, wie sie von Seiten Weißensees laut geworden waren. Audi andere Redner hatten die Frage der kommunalen Verwaltungsorganisation Großberlins gestreift. Noch weit enger hing mit dieser der zweite Gesetzentwurf zusammen. Er sah die Einsetzung eines eigenen Oberpräsidenten von Berlin vor, zu dessen Verwaltungsbezirk auch die drei Vorortstädte gehören sollten, ohne indessen aus dem Kommunalverband der Provinz Brandenburg auszuscheiden184. Schon das erste Auftauchen dieses Planes löste die stärksten Besorgnisse in der Öffentlichkeit aus. Der Innenminister — jetzt Freiherr von Rheinbaben — ergriff deshalb bei der Haushaltsberatung am 13. 2 . 1 9 0 0 die Gelegenheit, die Absicht der Regierung zu begründen. Den Gedanken, den Regierungsbezirk Potsdam zu teilen und einen besonderen Regierungsbezirk Charlottenburg zu bilden, hielt Rheinbaben nicht für glücklich; er zog eine einheitliche kommunale Aufsichtsinstanz für die vier Städte vor. „Die Entwicklung von Berlin und seinen Vororten", führte er aus, „ist so rapide, daß nur derjenige dieser Bewegung ausreichend folgen und sie in die richtige Bahn lenken kann, der mitten in dieser Bewegung steht." Das sei dem Oberpräsidenten in Potsdam, der gleichzeitig die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt betreue, nicht möglich. In der Presse, auch der ernsthaften, seien an diese Idee „die abenteuerlichsten Gerüchte" geknüpft worden. Es hieß, man wolle der Stadt Berlin die Selbstverwaltung nehmen, und man ginge damit um, sie in verschiedene Gemeinden zu zerschlagen. „Einen solchen Grad von Geschmacklosigkeit hätte man uns doch nicht zutrauen sollen!" Der konservative Herr v. Arnim begrüßte eine solche aus den vier Städten gebildete „vollständige lebensfähige Provinz Berlin", da durch sie die Provinz Brandenburg von dem „Wasserkopf Berlin" getrennt 184

Der Entwurf in Drucks, des Abg.-hauses 1901, Bd. I I I , S. 1486 ff. Für die Be-

ratungen über beide Gesetzentwürfe vgl. die Ubersichten über die Verhandlungen des Landtages. 22

Kaeber

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würde 185 . Die Besorgnis des Freisinnigen Kreitling vor einer Vereinigung der Befugnisse des Oberpräsidenten und des Polizeipräsidenten von Berlin wies der Minister als gegenstandslos zurück. Und als Richter bei der Haushaltsberatung des nächsten Jahres am 14. 1. von dem künftigen Berliner Oberpräsidenten als einem „Spreepräfekten" sprach, meinte Rheinbaben ironisch, Richter habe diesen Ausdruck nicht erfunden, sondern schon andere vor ihm; es handle sich aber gar nicht darum, vielmehr werde ein sachkundiger Oberpräsident von Berlin mit den städtischen Behörden sehr gut auskommen und Konflikte durch die Möglidikeit täglicher Rücksprachen ausschließen. Bei der ersten Beratung des Entwurfs am 23. 3. Ol entwickelte Rheinbaben dessen vom gesamten Staatsministerium „nach reiflichen Erwägungen" gebilligte Grundgedanken. Eine Verschmelzung der drei Vorstädte mit Berlin komme nicht in Frage; die früher davon erwarteten Vorteile wären durch die Nachteile sicher weit aufgehoben worden. In einem so großen Gebilde könne sich im Gegensatz zu den einzelnen Städten kein kommunales Leben entwickeln. Eine Provinz Berlin sei wenigstens für absehbare Zeit nicht durchführbar, da sie ungefähr gleichartige Interessen, nicht aber das Übergewicht eines Teiles — der Stadt Berlin — voraussetze. Das gab der freisinnige Charlottenburger Rechtsanwalt Dr. Crüger nicht zu. Hatte er auch für eine Eingemeindung nichts übrig, so hielt er doch statt des „Flickwerks" des Polizeigesetzes von 1900 und des vorliegenden Entwurfs eine Provinz Berlin für möglich. Sie hätte zugleich den drei Städten die ersehnte Freiheit von der Aufsicht der Potsdamer Regierung gebracht. Eine „organische Reform" forderte Richter durch Verleihung des Stadtrechtes an alle größeren Vororte, wie sie schon v. d. Recke beabsichtigt hatte. Dann könne man aus ihnen und der Stadt Berlin einen Kommunalverband für die üblichen Aufgaben einer Provinz bilden. „In einer späteren Zeit, die nur wenige von uns erleben werden", werde man doch zu einer Eingemeindung kommen; denn Ber1 8 5 Das bis in die Gegenwart o f t gebrauchte W o r t vom Wasserkopf Berlin hat wohl der Zentrumsabgeordnete Julius Bachem aufgebracht, der am 6. 12. 1882 im Abg.Hause erklärte: „Wir haben alle Veranlassung zu verhüten, daß Berlin sich nidit zum Wasserkopf der Monardiie ausbilde; das mag ein drastischer Ausdruck sein, er ist aber in der Entwidmung der Verhältnisse begründet" (Mitt. v o n H. Kügler, der midi auch darauf hinwies, daß schon fast 1 0 0 Jahre früher Tobias Smollet v o n London als dropsical head gesprochen hatte). Im deutlichen Gegensatz dazu sagte am 24. 1. 89 der Abgeordnete Cremer ( K r . T e l t o w ) : „Ich bin weit davon entfernt, Berlin f ü r einen „Wasserkopf" zu halten. Nein, meine Herren, ich halte Berlin f ü r die Hauptstadt des deutschen Reiches, f ü r die politische Hauptstadt aller deutschen Stämme . . , die hier ihr zentrales Leben audi in Kunst und Wissenschaft dereinst entfalten werden".

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lin schiebe seine arme Bevölkerung nach den billigen Wohngegenden ab, die auf die Dauer ihre Schul- und Armenlasten nicht würden tragen können. Nachdem der Minister noch in Ubereinstimmung mit dem Vorredner die Frage für unpolitisch erklärt, und nachdem Dr. Langerhans die nicht gerade begeisterte Aufnahme des Planes bei den städtischen Behörden hervorgehoben hatte, ging der Entwurf an eine Kommission, in der er verschwand. Wir sind damit etwas dem Zeitpunkte vorangeeilt, in dem Kirschner sich die Geschichte der früheren Eingemeindungsverhandlungen ausarbeiten ließ. Er gewann aus ihnen wie aus den Beratungen des Abg.Hauses den Eindruck, daß der damals beschrittene Weg für die Gegenwart nicht gangbar war. Er plante deshalb schrittweises Vorgehen180. Sicher auf seine Anregung setzte der Magistrat am 8. 2. 02 eine Kommission von neun Mitgliedern ein, deren Dezernenten Verhandlungen mit Lichtenberg, Boxhagen-Rummelsburg, Stralau und Treptow eröffnen sollten. Eine allgemeine Eingemeindung wurde ausdrücklich abgelehnt. Die Gemeindevertretung von Stralau beschloß darauf einstimmig, den Magistrat um Einverleibung ihres Gebietes zu ersuchen. Lichtenberg, das unter seinem tatkräftigen Gemeindevorsteher Ziethen, dem späteren Oberbürgermeister, um die Jahrhundertwende an die Erringung der Stadtrechte gedacht hatte, griff Berlins Angebot freudig auf. Es hatte stets die Vereinigung mit der großen Nachbarstadt für das in erster Linie zu erstrebende Ziel gehalten und schloß im Juni mit ihr einen vorläufigen Vertrag ab. In diese Vorbereitungen platzte das Verbot der Landräte von Teltow und Niederbarnim an Treptow und Rummelsburg, Eingemeindungsverhandlungen mit Berlin zu führen. Der Oberbürgermeister schlug demgegenüber den richtigen Weg ein: er ging am 22. Oktober zum Minister des Innern. Man darf zweifeln, ob Kirschner sich von seinem Schritt Erfolg versprach. Denn nicht lange zuvor hatte die Regierung wiederholt ihre eigenen Pläne im Abgeordnetenhaus zu erkennen gegeben. Am 24. 2. 02 hatte Minister v. Hammerstein187 auf eine Beschwerde des freisinnigen Abgeordneten Dr. Crüger über die Verzögerung der Verleihung von Stadtrechten an die größeren Vororte erwidert: „Die Zukunft dieser Vororte von Berlin wird jedenfalls die sein, daß sie . . . die Städteordnung bekommen, die einen früher, die anderen später." In der Sitzung vom 29. April sprach er von dem nunmehr in Ausführung begriffenen

22*

188

K. hat dies in der Stadtverordnetensitzung v o m 14. 9. 05 begründet.

187

Min. d. Innern seit 6. 5. 1901 als Nachfolger d. Frhr. v. Rheinbaben.

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gesunden Gedanken, um Berlin herum einen Kranz größerer selbständiger Städte zu legen. Es ist bemerkenswert, daß damit auch die Freisinnigen, für die Dr. Crüger und Richter sprachen, durchaus einverstanden waren. An Eingemeindungen dachten sie nicht. Dementsprechend unterrichtete der Minister den Oberbürgermeister, daß die Regierung die Vororte zu größeren, leistungsfähigen Gemeinden zusammenlegen wolle, etwa Treptow mit Rixdorf, um diesem einen Zugang zur Spree für industrielle Anlagen zu sichern, und Lichtenberg mit Boxhagen-Rummelsburg188. Damit wäre die Einbeziehung ganzer Ortschaften oder größerer Teile von ihnen in das Weichbild Berlins nicht vereinbar. In Betracht kämen dafür nur das zum Forstgutsbezirk Tegel gehörige Plötzensee, das der Landwirtschaftsminister wegen des in ihm liegenden Instituts für Gärungsgewerbe und der staatlichen Lehrbrauerei mit Berlin verbinden wollte189, und die innerhalb der Ringbahn liegenden Teile von Lichtenberg, Rummelsburg und Stralau. Kirschner machte seine Bedenken gegen den Gesamtplan geltend und wandte im besonderen gegen die Vereinigung Rixdorfs mit Treptow ein, daß Berlin hier über umfangreichen Grundbesitz verfüge und mit Rücksicht auf den ihm gehörigen Treptower Park und zum Schutz der Oberspree vor Verunreinigung industrielle Anlagen verhindern könne. Die Gemeinde Treptow wünsche selbst die Vereinigung mit der Stadt; das Verbot des Landrats, darüber zu verhandeln, sei ungesetzlich. Der Minister ließ sich nicht von seiner Ansicht abbringen. Er schloß damit, daß selbständige Verhandlungen der Gemeinden ohne Hinzuziehung des Kreises und der Staatsregierung nicht zweckmäßig seien, da durch sie ein Ergebnis doch nicht erreicht werden könne. Hatte Kirschner den Minister nicht überzeugen können, so dieser nicht den Oberbürgermeister. Unter seinem Vorsitz stellte die Magistratskommission fest, daß der Plan der Regierung weder den Interessen Berlins noch denen der Vororte entspreche. Die Einzelverhandlungen sollten zwar zunächst ruhen, das Gesamtproblem dagegen durch eine Denkschrift geklärt werden, deren Bearbeitung dem bald darauf zum Magistratsrat beförderten Assessor Hamburger190 übertragen wurde. Sie war Anfang Juni 1903 fertig. Deutlich ließ sie den ihr zu Grunde liegen188

Dies geschah 1911, nachdem Lichtenberg 1907 Stadtrechte erhalten hatte. Die Besprechungen darüber dauerten lange Jahre fort, bis sie 1915 zum Ziele führten. 190 Ludwig H., geb. 7. 4. 67 in Breslau. Jurist, 1894 Hilfsarbeiter beim Magistrat Berlin, 1896 Magistratsassessor, Sept. 1903 Magistratsrat, 1911 besoldeter Stadtrat. Ausgeschieden 1920, f 10. 4. 23. 189

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den Gesichtspunkt erkennen: die Einzwängung Berlins durch einen Gürtel großer Gemeinden muß jede berechtigte Ausdehnung der H a u p t stadt verhindern und einen ungesunden Wettbewerb zwischen den so entstehenden Großstädten züchten. Eingehend wurden die durch den gegenwärtigen Zustand hervorgerufenen ungünstigen Verhältnisse auf dem Gebiete des Wohnungs-, Steuer- und Wohlfahrtswesens und auf dem der Versorgungsbetriebe geschildert. Tabellen erläuterten die enge Verbundenheit zwischen Berlin und den umgebenden Gemeinden. Die ungerechte Behandlung Berlins durch die Regierung wurde durch eine Liste der zahlreichen, noch bis auf die jüngste Gegenwart hinein erfolgten umfangreichen Eingemeindungen anderer deutscher Großstädte begründet 191 . Den Vorschlag, der Denkschrift die Form einer Eingabe an die Regierung zu geben, lehnte Kirschner ab. Ohne selbst Stellung zu nehmen, sollte sie Material für die öffentliche Meinung darbieten. Nach seinen Weisungen gründlich umgearbeitet, enthielt sie in ihrer endgültigen Form als Einleitung einen Überblick über die vergeblichen Verhandlungen der neunziger Jahre, der die gleiche sachliche Kühle, ja Nüchternheit wie die folgenden Abschnitte atmete, die neben einigen guten Plänen vor allem endlose Statistiken enthielten 192 . Hier zeigen sich die Grenzen von Kirschners Wesen: Leidenschaft lag nicht in seiner Art. Eine starke, auch den Widerstrebenden zwingende Wirkung konnte von seiner Denkschrift nicht ausgehen. Dies erreichte weit mehr die kleine Schrift des damaligen Berliner Stadtverordneten Georg Haberland, die Ende Oktober 1903 unter dem Titel „Groß-Berlin. Ein Beitrag zur Eingemeindungsfrage" erschien198. Auch sie streifte einleitend die Vorgänge der neunziger Jahre und enthielt eine aufschlußreiche Tabelle über die Steuerverhältnisse Berlins und der Vororte. Der Hauptunterschied zwischen ihr und der amtlichen Denkschrift beruht darin, daß Haberland in einprägsamer Art den Gegensatz zwischen Berlin einerseits und den reichen westlichen sowie den armen östlichen und nördlichen Vororten anderseits herausarbeitete. Das in jeder dieser Gemeinden auf den Kopf entfallende Steuersoll und die von ihnen f ü r Armenpflege und Schulwesen auf191 Unter den preußischen Städten vor allem Köln mit einer Erweiterung von rd. 10 000, F r a n k f u r t a. M., Posen und Breslau mit über 2000 ha. 182 Denkschrift über die Beziehungen zwischen Berlin und seinen Nachbarorten. Im A u f t r . d. Magistrats zu Berlin verf. von Hamburger, im Dezember 1903. 112 S. 193 Auf dem Titelblatt wird 1904 als Erscheinungsjahr angegeben, aber schon in einer Ausschußsitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 3 . 1 1 . 0 3 wird sie als „jüngst erschienen" angeführt.

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gewandten Beträge zeigten die höchst ungleichmäßige Verteilung von Reichtum und sozialen Leistungen in dem einheitlichen Wirtschaftsgebiet Berlin. Aus Gründen der Gerechtigkeit wurde ein Ausgleich gefordert. Für seine Verwirklichung empfahl Haberland nicht einen höheren Kommunalverband über selbständigen Gemeinden nach dem Beispiele Groß-Londons, sondern eine Eingemeindung „im allergrößten Umfange". Durch sie würde am besten „die Verschmelzung aller Interessen auf allen Gebieten" erreicht. Sie würde zugleich durch einheitliche Einrichtungen erhebliche Vorteile für die Gesamtheit bieten. Der Widerhall der lebendig geschriebenen Broschüre in der Presse bewog den Regierungspräsidenten von der Schulenburg, sich näher über die Frage zu unterrichten. Am 24. 11. 03 bat er den Charlottenburger Oberbürgermeister Schustehrus um vertrauliche Äußerung, ob Charlottenburgs Standpunkt noch der gleiche sei wie zu Beginn der neunziger Jahre194. Schon nach drei Tagen antwortete Schustehrus, dies sei nicht der Fall. Magistrat und Stadtverordnete wären jetzt für die Erhaltung der Selbständigkeit Charlottenburgs, das gerade dieser seine außerordentliche Entwicklung verdanke. Die „schon wegen ihrer Größe und Kompliziertheit schwerfällig arbeitende Verwaltung Berlins" könne es weder an Willen, noch an Interesse oder Wagemut mit der wegen ihrer leichteren Beweglichkeit schneller entschlossenen Verwaltung Charlottenburgs aufnehmen. Eine Vergrößerung Berlins würde dessen Verwaltung noch unübersehbarer machen und die auch für Berlin segensreiche gegenseitige Konkurrenz der Städte unterbinden. Die Ausführungen Haberlands waren nach dem Urteile Schustehrus einseitig auf das Interesse Berlins eingestellt, dessen Steuerkraft in Wirklichkeit gar nicht bedroht sei. Für diese „schleunige und eingehende" Antwort dankte Schulenburg, für ihn und die Staatsregierung war die Sache erledigt. Zu den durch Haberland Bekehrten gehörte dagegen der „Bund Berliner Grundbesitzervereine", die in den neunziger Jahren die Eingemeindung höchstens als ein notwendiges Übel betrachtet hatten. Sehr unfreundlich wurden Hamburgers und Haberlands Veröffentlichungen in Schöneberg aufgenommen. Der Oberbürgermeister Wilde (seit 1898, vorher vier Jahre Stadtrat in Berlin) hielt am 15. 2. 04 bei Einbringung des Haushalts eine Rede, in der er Berlin beschuldigte, für die durch die allgemeine wirtschaftliche Depression in seinen Finanzen eingetretene Dürre einen „Prügelknaben" gesucht und ihn in den Vor194

Bd. I der Charlottenburger Akten.

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orten gefunden zu haben195. Den Beweis dafür sah er durch die freilich keineswegs diesen Beweggründen entsprungenen beiden Schriften als erbracht an, vor allem durch Haberlands Worte, daß die wohlhabende Bevölkerung das Weichbild Berlins verlasse, was für dessen Gedeihen und für die Erfüllung seiner stetig wachsenden sozialen Aufgaben zu der größten Gefahr werden würde. „Gegen diese Behauptung Stellung zu nehmen", erklärte Wilde, „werde ich mich hüten. Ich wünsche vielmehr von Herzen, daß sie sich in vollem Umfange bewahrheiten möge, und zwar von Jahr zu Jahr mehr. Erst dann, wenn es allgemeine Geltung erlangt, daß jeder, der etwas auf sich hält und es sich leisten kann, aus Berlin heraus und in die Vororte zieht, erst dann, wenn die wohlhabenden Bürger der reichen Vororte beneidet werden, wenn die Bürger der armen Stadt Berlin dagegen in jedem Jahr neue Steuererhöhungen befürchten müssen, erst dann werden wir in der Lage sein, für den schönsten Teil Berlins, den wir verwalten, so zu sorgen, wie es unser Wunsch ist." Noch in seiner ersten Rede vor den Stadtverordneten am 1. 4. 1898 habe er von einer Eingemeindung die Lösung der den Vororten obliegenden großen Aufgaben erhofft. Heute sei das anders, heute „will Berlin nicht die Vororte, sondern ihre Steuereinnahmen Ich meine daher: zur Zeit ist die Eingemeindungsfrage tot, und die besprochenen Broschüren sind . . . gleichsam Nekrologe, die die Vorzüge eines Entschlafenen rühmen". Dieser werde erst wieder in wirtschaftlich günstigen Zeiten aufleben, die bei den im Grunde gesunden Finanzen Berlins leicht kommen könnten. Aber dann werde niemand in Berlin etwas von Eingemeindungen wissen wollen. Rücksichtsloser konnte der Partikularismus der westlichen Vororte nicht vertreten werden. Völlig einverstanden war mit seinem Oberbürgermeister der stellvertr. Stadtverordnetenvorsteher v. Gordon, der auf Grund seiner guten Beziehungen hinzuzufügen wußte, daß die gleiche Ansicht in den anderen „gutsituierten Vororten" herrsche196. In der Stadtverordnetenversammlung Berlins fanden am 18.2. diese Worte durch Kirschner eine ruhige Zurückweisung in der Hoffnung, daß die Bevölkerung der Vorortgemeinden mit ihnen nicht einverstanden sei. Schon im September 1903 hatte ein Antrag Preuß angeregt, eine freiwillige Verbindung der Großberliner Gemeinden „für die Wahrnehmung und den Ausgleich kommunaler Interessen " vorzubereiten. In den Sitzungen des 185

Die Rede im Wortlaut in Schöneberger Tagebl. N r . 4 1 — 4 5 vom 18.—23. 2. 04.

Die gedruckten Sitzungsberichte der Stadtv. Vers, zu Schöneberg beginnen erst 1905. JM

B. T. Nr. 84 vom 16. 2 . 0 4 .

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Stadtverordnetenausschusses, die mit Rücksicht auf das bevorstehende Erscheinen der Denkschrift Hamburgers längere Zeit unterbrochen wurden, fanden dieser Antrag in der ihm am 12. 4. 04 gegebenen neuen Fassung und ein auf einen Zweckverband abzielender Antrag Singer wenig Gegenliebe, etwas größere der Vorschlag Haberlands, Eingemeindungsverhandlungen mit dem Staat zu eröffnen. Die Stadtverordneten lehnten am 21.4.04 den Antrag Singer, zu Gunsten dessen Preuß den seinen zurückgezogen hatte, mit 68 gegen 19 Stimmen ab. Maßgebend für diese Entscheidung waren die Ausführungen Kirschners, der die Widerstände gegen die von allen Seiten als beste Lösung betrachtete Eingemeindung „auf die Dauer nicht für unüberwindlich" hielt. Er vertraute darauf, daß sich die Regierung von ihrer Notwendigkeit im staatlichen Interesse überzeugen lassen werde. Freilich hatte der Minister Anfang 1905 in der Haushaltskommission den Zeitpunkt für die Schaffung eines Großberlin durch Eingemeindung als verpaßt bezeichnet197. Doch Kirschner war dessen sicher, daß, wie er in seiner großen Rede am 14. 9. 05 sagte, die Macht der „Tatsache Großberlin" stärker sein werde als die Macht einzelner Personen. Als Ziel müsse die Eingemeindung im großem Umfange im Auge behalten werden. Die Regierung selbst erkenne, daß sie eine organisatorische Form für die tatsächlichen Verhältnisse finden müsse. Diesen Eindruck habe er durch mehrere Rücksprachen mit dem Minister gewonnen, der im Vorjahre deshalb eine Studienreise nach England unternommen habe. Große Ergebnisse seien allerdings von dieser anscheinend nicht zu erwarten. Der Anlaß zu der Rede war die Vorlage, durch die der Magistrat von den Stadtverordneten die Mittel anforderte, um die der Gemeinde NeuWeißensee durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts zugesprochenen Zuschüsse zu ihren Schullasten zu leisten. Dieses Urteil beruhte auf dem § 53 des Kommunalabgabengesetzes, nach dem unter Umständen die Betriebsgemeinde zu den Schulausgaben der Wohngemeinde herangezogen werden konnte. Es war der erste in der Reihe von Schullastenprozessen, mit denen Berlin von seinen ärmeren Nachbargemeinden bedacht wurde. Sie haben trotz ihrer die Finanzen Berlins niemals gefährdenden Ergebnisse doch in besonderem Maße die Öffentlichkeit erregt und auf die Unhaltbarkeit der Zersplitterung Großberlins aufmerksam gemacht. 197

Sitzung des Abg.-hauses v o m 13. 2. 05. In der Sitzung v o m 15.2. lehnte es daher Cassel ab, auf die Möglichkeit einer Eingemeindung einzugehen und bat nur um Zuziehung Berlins zu den vom Minister geplanten Besprechungen mit den Vorortvertretern.

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Es kann hier auch erwähnt werden, daß die Regierung es gern gesehen hätte, wenn Berlin den bebauten Streifen der Hasenheide eingemeindet hätte, der 1898 durch Beschluß des Kreisausschusses zu Tempelhof gelegt wurde, von dessen Gebiet aber durch den sog. Gutsbezirk Hasenheide völlig getrennt war 198 . Da Berlin nicht besondere Neigung zu diesem Erwerb hatte, wurde der Straßenzug 1904 mit Rixdorf vereint. Die Umgemeindung des Tempelhofer Feldes nach Berlin dagegen lehnte die Regierung ab, weil dafür solange kein Anlaß vorliege, als es seiner militärischen Bestimmung diene. Ob es später gerade zu Berlin gelegt werden würde, hänge von der Zukunft ab1"9. Die Rede Kirschners vom 14. Sept. 1905 hatte eine Wirkung, die ihm vielleicht nicht ganz unerwartet kam 200 . Der neue Herr im Ministerium, v. Bethmann-Hollweg, der aus seiner Tätigkeit als Oberpräsident den Berliner Fragen näher stand als seine Vorgänger, ersuchte am 21. 11 den Oberbürgermeister unter Bezugnahme auf seine Äußerungen in der Stadtverordnetenversammlung um vertrauliche ausführliche Darstellung der Mängel, die nach seiner persönlichen Ansicht das Fehlen einer verwaltungsrechtlichen Verbindung zwischen Berlin und seinen Vororten für Berlin habe, und wie ihnen abzuhelfen sei. Er bemerkte freilich sogleich, daß er „im Einklang mit der etwa während des letzten Jahrzehnts von der kgl. Staatsregierung eingenommenen Stellung" gegen eine Eingemeindung und gegen eine Provinz Berlin sei. Die Ausarbeitung des Berichts, für den Kirschner Anfang April 1906 Äußerungen aller städtischen Stellen einforderte, verzögerte sich durch seine Teilnahme als städtischer Vertreter an den Beratungen des Herrenhauses. In der Zwischenzeit hatte Bethmann-Hollweg seine Ansicht in der Haushaltskommission des Abgeordnetenhauses, in der die Frage „Provinz Großberlin" oder „Eingemeindung" berührt worden war, und im Plenum am 5. 2. 06 dargelegt. Hier hatte Cassel zugegeben, daß die Eingemeindung eine schwierige Angelegenheit sei, da zwar die ärmeren Gemeinden wahrscheinlich dafür, die westlichen aber dagegen seien. Mindestens seien Zweckverbände notwendig, um einen Lastenausgleich und gemeinschaftliche Einrichtungen für den Verkehr und dergl. zu er198

Auf die Auseinandersetzungen über die rechtliche N a t u r dieses Gutsbezirks, der

den Charakter als solcher nur durch Herkommen und Verwaltungsübung besaß, kann hier nicht eingegangen werden. 199

Magistratsvorlage vom 17. 3. 05. Die Stadtverordneten verlangten Fortsetzung

der Bemühungen des Magistrats. Uber ihren Erfolg vgl. u. S. 355 f. 200

Dafür spricht, daß er am 1 4 . 9 . 05 die Anlegung eines Handaktenstücks für die

Eingemeindungsfrage befahl. St. A., Gen.büro, Eingemeindung N r . 1, Beiheft 5.

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möglichen. Bethmann erwiderte, daß er die Eingemeindung auch wegen des Widerstandes der Vororte ablehne. Er denke an eine Ausgleichssteuer wie in London, wohin er den Minister von Hammerstein begleitet hatte, und lasse zur Zeit die Zweckmäßigkeitsfrage prüfen. Allerdings sei deren Verwirklichung schwierig und bei der glänzenden Entwicklung Berlins und der Vororte auch kaum dringend. Cassels Fraktionskollege Goldschmidt wehrte sich gegen die für Berlin nur ungünstige Ausgleichssteuer, wünschte Zweckverbände nicht durch staatlichen Zwang, sondern durch freiwillige Vereinbarungen und verlangte von der Regierung nur Aufgabe des Widerstandes gegen freundschaftliche Eingemeindungsverträge zwischen Berlin und einzelnen Gemeinden. „Denn darüber sind wir uns vollkommen klar, daß wir heute nicht daran denken können, alle Vorortgemeinden mit Berlin zu vereinigen; das hat auf absehbare Zeit keine Aussicht auf Erfüllung". Unbeirrt durch die Äußerungen von Gegnern und Freunden Berlins setzte Kirschner die ihm übertragene Arbeit fort. Noch aus dem Urlaub erbat er weitere Auskünfte für den Bericht, dessen Entwurf er eigenhändig aufsetzte201. Die Reinschrift mit Datum des 3. 9. 1906 ging am 12. 9. ab. Da der Minister seine Aufforderung an Kirschner im Landtage bekannt gegeben hatte, nahm dieser an, daß gegen Mitteilung des Berichtes an die Magistratsmitglieder und Stadtverordneten keine Bedenken beständen, Mitte November erhielt jeder von diesen eins der inzwischen gedruckten Exemplare (41 Seiten). Kirschner begann mit einer Darlegung über den Begriff Vorort. Er bezeichne Gemeinden, die sich „ohne erkennbare Scheidegrenzen äußerlich als zu Berlin gehörig darstellen und innerlich, namentlich in wirtschaftlicher Beziehung, als mit Berlin zu einer höheren Einheit verbundene Teile, als Vororte von Berlin, anzusehen sind". Als Beispiele dafür gab er u. a. an: Berlins Weichbildgrenze lag in einer Länge von 20 km in Straßen, die es mit den Vororten gemeinsam hatte; 48 Berliner Straßen setzten sich in die Vororte fort, auf 35 von ihnen verkehrten Straßenbahnen. Berlin versorgte 6 Vororte mit Gas, 4 mit Wasser; 15 waren an die privaten Berliner Elektrizitätswerke angeschlossen, die von der Stadt nach dem Konzessionsvertrag 1915 übernommen werden konnten; in 6 Gemeinden besaß Berlin Grundbesitz von zusammen 878 ha. Die Post kannte ein größeres Berlin, in dem das Ortsporto galt; bei der Festsetzung der Zuständigkeit der drei Berliner Landgerichte war auf die Gemeindegrenzen keine Rücksicht genommen worden. 201

ebda. Beiheft 6.

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Der gegenwärtige Zustand verschuldete vor allem den sozialen Gegensatz zwischen dem armen Osten und dem reichen Westen, da Berlin keinen Einfluß auf die Bebauung seiner Umgebung besaß. Bei Ausnutzung seines Grundbesitzes in den Vororten für öffentliche Zwecke und bei Anlage von Gas- und Kanalisationsleitungen stieß Berlin dauernd auf Schwierigkeiten. Es fehlte eine planmäßige Wassergewinnung in dem ganzen Gebiet, in dem, als kommunale Einheit, alle Versorgungsanlagen billiger und zweckmäßiger ausgeführt werden könnten. Auch eine einheitliche Verkehrspolitik und eine Übernahme der privaten Verkehrsunternehmungen durch die Stadt blieb unmöglich. Im Armen- und Schulwesen bestanden die größten Ungleichheiten, die Schullastenprozesse führten zu unerträglichen Zuständen. Große Gegensätze zeigte das Steuerwesen. Das staatliche Steuersoll je Kopf betrug etwa in BoxhagenRummelsburg 2,87 M., in Berlin 13,42 M., in Charlottenburg 25,94 M. und in der Kolonie Grunewald 135,21 M. Fast alle Polizeiverordnungen, da sie ganz Groß-Berlin betrafen, mußten als Landes- statt Ortspolizeiverordnungen ergehen. Dadurch wurde die Mitwirkung der kommunalen Behörden bei ihrem Erlaß ausgeschaltet, so daß Berlin hier weniger Einfluß besaß als die kleinste Gemeinde. Als Abhilfe boten sich entsprechend der Weisung des Ministers nur ein oder mehrere, durch Gesetz zu schaffende Zweckverbände für die wichtigsten kommunalen Aufgaben mit einem „Verbandstag" und einem „Verbandsvorstand" als Organen. Zu einem solchen Weg wollte sich Kirschner nur gezwungen entschließen zur Beseitigung unhaltbarer Zustände. Zwei grundsätzliche Erwägungen sprachen dagegen. 1. Es war dadurch nur ein Flick- und Stückwerk zu erreichen, kein lebens- und entwicklungsfähiges Glied des staatlichen Gemeinwesens, 2. wurden durch solche Verbände die beteiligten Gemeinden und besonders Berlin in ihrer natürlichen Entfaltung geschädigt. „Eine Gemeinde und namentlich eine so bedeutende Stadtgemeinde wie Berlin ist kein zufällig Gewordenes, willkürlich gestaltetes Gebilde, sondern ein mit geschichtlicher Notwendigkeit entstandener und fortentwickelter Organismus", den man nicht durch Zweckverbände beeinträchtigen darf. Eine innere Erregung strömt spürbar aus diesen Sätzen des Oberbürgermeisters und erfüllt sie mit einem ihrem Verfasser sonst nicht eigenen Schwung. Sie verlieh ihm auch in Verbindung mit seinem hohen Pflichtgefühl die Kraft, entgegen der deutlich bekannt gegebenen Ansicht des Ministers nicht mit seiner Uberzeugung zurückzuhalten, „daß das einzig mögliche, sachgemäße und wirkungsvolle Mittel" zur Überwindung der Ubelstände die Eingemeindung der dafür geeigneten Vor-

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orte sei. Berlin würde durch sie, wenn dafür der präsidiale Erlaß vom 9. 11.1893 zu Grunde gelegt würde, ein Gebiet von nicht mehr als 13 200 ha erhalten, kleiner als das von fünf anderen deutschen Städten202. Die Einwohnerzahl würde nur von 2 auf 2% Millionen wachsen und damit Paris gleichkommen, hinter London und New York zurückbleiben. Eine umfassende Dezentralisation war durch die Städteordnung möglich und bestand bereits für mehrere Verwaltungszweige. Nur zwei Gründe ließen sich nach Kirschners Meinung gegen die Eingemeindung anführen. Der erste war der, daß sie den unerwünschten Zuzug in die Großstadt förderte. Aber dieser war unabwendbare Folge des Ubergangs Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat und hätte auch vor einem verwaltungsmäßig getrennten Großberlin nicht Halt gemacht. Der zweite Einwand, daß Berlin „nicht noch größer und mächtiger werden" sollte, war kaum verständlich, denn in allen Ländern wurde die Entwicklung der Hauptstadt gefördert. So blieb nur „die parteipolitische Haltung der Berliner Bevölkerung" als Ursache der unfreundlichen Stellung weiterer Kreise gegen Berlin. Demgegenüber betonte Kirschner, daß Gemeindeverfassung und Selbstverwaltung nicht Sache der Parteipolitik seien, und daß die Regierung wirklichen politischen Übergriffen am leichtesten begegnen könne, wenn sie es mit einer Einheitsgemeinde zu tun habe. Freimütig erkannte Kirschner an, daß mehrere Vororte durchaus lebensfähige Gemeinwesen geworden waren und der Eingemeindung heftig widerstrebten. Aber er erhoffte eine Überwindung dieses Widerstandes durch Aufklärung und die von einem Zusammenschluß zu erwartenden Vorteile. Bis dahin wären die zustimmenden Gemeinden mit Berlin zu verbinden und mit den anderen Zweckverbände abzuschließen. Er hielt es überhaupt nicht für zweckmäßig — und damit kam er auf seinen uns bekannten Leitgedanken zurück — „die Organisation von Großberlin in einem einzigen Akte in Aussicht zu nehmen". Sobald die grundsätzliche Gegnerschaft gegen jede Eingemeindung aufhöre, werde „eine naturgemäße organische Entwicklung beginnen, die nur damit enden kann, daß die tatsächlich bereits vorhandene Einheit Großberlin auch ihre rechtliche Gestaltung als Stadtgemeinde Großberlin erhält". Den stärksten Widerhall fand der Bericht des Oberbürgermeisters bei den Stadtverordneten. Ihr Vorsteher, Dr. Langerhans, der einstige unentwegte Kämpfer gegen jede Eingemeindung, sprach ihm am 22. November in der Versammlung öffentlichen Dank dafür aus, „daß er sich 202

Köln, Frankfurt, Hamburg, München, Mannheim.

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Kartenskizze zu den Weichbild Verhandlungen angef. v. Zentralvermessungsamt d. Stadt Berlin

in dieser schwierigen Angelegenheit so frei und frank geäußert" habe. Aber auch in Schöneberg schlug die Stimmung um. Als am 18. Dezember der ehemalige Stadtbaurat von Charlottenburg, Köhn, im Architektenverein einen Vortrag hielt, in dem er entgegen seiner früheren Ansicht eine Eingemeindung im großen Stile jetzt f ü r undurchführbar erklärte und statt dessen einen Lastenausgleich und Zweckverbände zur Regelung einzelner großer Aufgaben forderte, trat ihm als einziger Redner der Schöneberger Bürgermeister Blankenstein entgegen203. H a t t e Köhn den „ideellen Wettbewerb der Gemeinden untereinander auf allen Gebieten der kommunalen Tätigkeit" als segensreich und die Stimmung in den meisten westlichen Vororten als einer Eingemeindung abgeneigt bezeichnet, so erwiderte ihm Blankenstein, daß sich die Ansichten eines Mannes wie Kirschner nicht so leicht abtun ließen. „Wenn man mich vor acht Tagen gefragt hätte, wie man in Schöneberg über die Eingemein203

Voss. Ztg. N r . 592 v. 19. 12., N a t . Ztg. N r . 700 v. 20. 12. — ohne Hinweis auf Blankensteins Worte! —, „Neueste Nachr." N r . 5 v. 4. 1. 07.

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dung denke, so hätte ich geantwortet: kein Mensch denkt daran. Inzwischen habe ich bei unsern Verhandlungen erfahren204, daß sehr einflußreiche und beachtenswerte Männer in der Schöneberger Verwaltung für die Eingemeindung sind." Den lobenden Hinweis Köhns auf den Be- und Entwässerungsverband zwischen Schöneberg, Wilmersdorf und Friedenau entkräftete er durch die Tatsache, daß dieser Verband aufgelöst worden war, und daß alle über dieses Ende froh waren. — Die Gemeindevertretung von Boxhagen-Rummelsburg beschloß am 7.11., einer Eingemeindung nach Berlin nicht zu widerstreben. Der dortige Bürgermeister teilte dies in einer mit 7150 Unterschriften versehenen Petition am 18. 2. 07 den Berliner Stadtverordneten mit. Das preußische Herrenhaus, dem die Petition gleichfalls zugegangen war, überwies sie der Regierung als Material. In Charlottenburg allerdings überwog Ablehnung. Der Vorsteher der Stadtverordneten, Justizrat Rosenberg, sprach sich in einer Versammlung zu Gunsten eines gesetzlichen Zweckverbandes aus205. Kirschner hielt an dem Wunsche des Ministers, den Bericht vertraulich zu behandeln, streng fest. Die Zeitungen erhielten keinen Abdruck, konnten daher nur kurze Auszüge bringen, die nicht immer das Richtige trafen206. Dagegen wurde der Bericht den höheren städtischen Beamten Berlins zur vertraulichen Kenntnisnahme mitgeteilt. Auch der zwanglose Verband der Gemeindevorsteher der westlichen und südlichen Vororte, dessen Bildung wohl auf die Wirkung von Kirschners Bericht zurückgeht, bekam auf Bitte einen Abdruck. v. Bethmann-Hollweg gab auf den Bericht, der seinen Ansichten so wenig entsprach, keine Antwort. Die Regierung hüllte sich in Schweigen über ihre Pläne. Daher gewannen die bis 1905 zurückgehenden Bestrebungen auf freiwillige Vereinbarungen innerhalb Großberlins erhöhte Bedeutung. Am 14. Oktober hatte eine erste Konferenz der Armenverbände Berlins und der Vororte stattgefunden, am 28. Oktober 204 In Schöneberg war in der Stadtverordnetensitzung vom 9 . 1 0 . 06 die Einsetzung einer Gemischten Deputation zur Erörterung der Großberliner Frage beschlossen worden: B. T. Nr. 627 vom 10. 12. 06. 205 B. T. N r . 7 vom 5 . 1 . 07. Über die allgemeine Stimmung in den Vororten wußte die „Freie Deutsche Presse" N r . 441 v. 12. 12. 06 zu melden, daß die amtlichen Kreise nicht gerade für die Eingemeindung schwärmten, daß aber in der Bevölkerung eine andere Stimmung herrsche. 206 Eine völlige Verkennung des Berichts verrät der anmaßende Artikel des B. T. vom 10. 12. 06, der Kirschner als konfliktssdieuen „Kommunal-Bülow" bezeichnete.

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eine durch den Magistrat Rixdorf angeregte Sitzung zur Vorbereitung eines Verkehrsverbandes207. Den Anlaß dazu bot das Bestreben der mächtigen Großen Berliner Straßenbahn, sich durch Verlängerung ihrer Konzession für unabsehbare Zeit zur Herrin des Verkehrs innerhalb Großberlins zu machen, nachdem sie bereits die Aktienmehrheit der drei ehemals selbständigen Vorortstraßenbahnen erworben hatte. Die Konzessionsverlängerung, verbunden mit Tariferhöhung, verlangte sie als Gegenleistung für die durch das Eisenbahnministerium begünstigte Untertunnelung der Leipziger Straße. Diese Absichten berührten Berlin um so empfindlicher, als die Stadt nach dem 1897 abgeschlossenen Vertrage das Recht besaß, zum 1.1. 1920 die Anlagen der Straßenbahn zu übernehmen. Aber auch die Vororte waren durch die rein kapitalistisch eingestellte, über vertragliche Bindungen sich hinwegsetzende Gesellschaft bedroht208. Daher forderte selbst der Charlottenburger Oberbürgermeister Sdiustehrus alle Vororte, auch die kleinsten, auf, „nur in Gemeinschaft mit Berlin an die unaufschiebbar gewordene Lösung der Verkehrsfrage" im Kampf gegen die „Große Berliner" heranzugehen. Mit allgemeiner Übereinstimmung wurde ein Ausschuß eingesetzt, in den auch die zum Beitritt eingeladenen Kreise Teltow und Niederbarnim und der Provinzialverband Vertreter entsenden sollten. Nach eingehenden Verhandlungen konnte der Magistrat am 12. 12. 07 den Stadtverordneten den Vertragsentwurf über die Begründung eines Verkehrsverbandes zuleiten. Als Rechtsform war nicht ein Zweckverband im Sinne der Landgemeindeordnung, sondern ein Verein nach § 22 BGB gewählt worden209. Die Organe des Vereins sollten nach dem Beispiel der Aktiengesellschaften die Verbandsversammlung, der Ausschuß und der Vorstand sein. Sorgfältig war das Stimmenverhältnis abgewogen. Kein Mitglied durfte mehr als ein Drittel der grundsätzlich nach dem Anteil am Bruttoertrag des Vereins berechneten Stimmen führen, so daß ein Ubergewicht Berlins ausgeschlossen war. Dafür wurde zu seinem Schutze in besonders wichtigen Fällen eine Zweidrittelmehrheit verlangt. Im Stadtverordneten-Ausschuß gab Kirschner am 3. 2. 08 ein Schreiben des Landrats v. Achenbach bekannt, nach dem die Vertreter aller Vor207

Beiheft 6 der Eingemeindungsakten. D a z u die Stadtverordnetenakten. Die mangelnde Vertragstreue der „Großen Berliner" wies Kirschner in einer durch Offenheit und Entschiedenheit bemerkenswerten Rede in der Stadtv. Vers, vom 7. 5. 08 nach. 509 „Ein Verein, dessen Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, erlangt in Ermangelung besonderer reichsgesetzlicher Vorschriften Rechtsfähigkeit durch staatliche Verleihung." 208

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orte im Teltow und Niederbarnim dem Statut vorbehaltlich einiger nicht erheblicher Änderungen zugestimmt hatten. Auch Berlins Stadtverordnete nahmen mit großer Mehrheit die nur unwesentlich veränderte Vorlage an. Seit langer Zeit hatte, wie der Berichterstatter feststellte, keine Vorlage von ähnlicher Bedeutung die Versammlung beschäftigt. Und doch scheiterte das so hoffnungsvoll begonnene Werk an der Uneinigkeit der beteiligten Gemeinden210. In eben jenen Jahren, in denen dieser erste Versuch eines Zusammenschlusses spielte, drangen andere, nicht minder bedeutsame Probleme, die Kirschners Denkschrift nicht berührt hatte, in den Vordergrund. Das eine war die Schaffung eines Wald- und Wiesengürtels rings um Berlin, die Österreichs Hauptstadt schon bewunderungswert geleistet hatte. Sie wurde brennend durch die Verkäufe, die der Forstfiskus seit 1901 im Grunewald getätigt hatte, um dadurch die Mittel für großzügige Aufforstungen in verschiedenen preußischen Provinzen zu gewinnen. Das Abgeordnetenhaus war übereinstimmend der Ansicht, daß es sich dabei nur um Parzellen von geringer Ausdehnung, aber hohem Werte handeln dürfe211. Da die Besorgnisse aber immer stärker wurden, regte am 13. 3. 09 der freikonservative Abgeordnete Lüdicke einen Waldzweckverband für Großberlin an. Der Konservative v. Brandenstein war zwar mit dem Verkauf wertvoller Waldstücke in der Nähe von Großstädten einverstanden, doch unter der Voraussetzung, daß diese Flächen von den Städten erworben würden, und daß ihnen dabei der Forstfiskus Entgegenkommen zeige. Welche Gefahr dem Grunewald drohte, bewies die beschwichtigende Erklärung des Landwirtschaftsministers v. Arnim, daß von den 16 000 Morgen nur 4000 verkauft werden sollten. Der unmittelbare Erfolg der Debatte war die Annahme einer Resolution Brandenstein, die Regierung möge bei Veräußerung von Grundstücken zwischen Berlin und Potsdam die Ufer von Flüssen und Seen nicht verkaufen, damit diese als Spazier- und Fahrwege erhalten blieben. Die Waldfrage, so wichtig sie war, bildete nur einen Teil des umfassenden städtebaulichen Problems Großberlin. Die schon durch die preußische Akademie für Bauwesen in einem Gutachten vom 18. 2. 1898 angeregten Verhandlungen zwischen Reich, Staat, Krone, Stadt Berlin und Vororten über eine planvolle Gestaltung des Gesamtgebietes des 210 Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Berlin 1906—1910, 1. Bd., S. 228. 211 Sitzung vom 13. 2. 07.

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künftigen Großberlin waren nicht zustande gekommen212. Die Zeit für sie war noch nicht reif. Nun waren es nicht der Staat und nicht die Gemeinden, die die Initiative ergriffen, sondern die beiden großen Berliner Architekten vereine. Im Dez. 1905 hatte die Vereinigung Berliner Architekten beschlossen, aus ihren Mitgliedern und denen des Architektenvereins zu Berlin einen Ausschuß „zur Beschaffung eines Grundplans für die bauliche Entwicklung von Groß-Berlin" einzusetzen. Den Vorsitz übernahm Geh. Baurat Otto March, der später als Erbauer des Stadion bekannt wurde, unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner (u. a. Genzmer, Goecke, Jansen, Schwechten, Stübben und der Berliner Stadtbaurat für Tiefbau Friedrich Krause). Die beiden Vereine stellten im Januar 1907 Leitsätze für einen technisch-künstlerischen Wettbewerb auf, dessen Ziel die Erlangung von Entwürfen für die Gestaltung der Umgebung Berlins bis zu einem Umkreis von 25 km im Halbmesser war. Eine Programmskizze für den Wettbewerb war der Schrift beigefügt, die daneben noch drei richtungweisende Aufsätze enthielt. Die Geschichte dieses Wettbewerbs, der weit über Berlin hinaus Aufsehen erregte, kann hier nicht verfolgt werden. Seine Kosten wurden durch die beteiligten Gemeinden aufgebracht; Berlin übernahm mit 82 000 Mark die Hälfte 218 . Das Preisgericht fällte am 19. 3.1910 seine Entscheidung. Von 27 Entwürfen wurden nur 4 als preiswürdig anerkannt. Der 1. und 2. Preis wurden zusammengelegt und je zur Hälfte Hermann Jansen und gemeinsam Prof. Brix, Prof. Genzmer und der Hochbahngesellschaft zuerkannt. Den 3. Preis erhielten der schon genannte Vorkämpfer der Wohnungsreform, Prof. Rud. Eberstadt, Prof. Bruno Möhring und Oberingenieur Petersen, sämtlich Berliner; auch der vierte Preis fiel an eine Gemeinschaftsarbeit. An die Spitze des Berliner Städtebaus, der so spät erwacht war, hatte sich Jansen gestellt, dessen Plan der unermüdliche Befürworter eines gesunden Wohnungswesens, der nationalliberale v. Bülow-Homburg, im April 1910 im Abg.hause erörterte214. Schon vorher hatte er hier die Grundsätze des 212 Dies und das Folgende nach der im Frühjahr 1907 erschienenen Denkschrift: Groß-Berlin. Anregungen zur Erlangung eines Grundplanes für die städtebauliche Entwicklung von Groß-Berlin. Berlin, E. Wasmuth, o. J. Das Gutachten der Akademie in dem Aufsatz von Alb. H o f m a n n S. 25 f. 213

Beschl. d. Stadtv. Vers, v o m 9. 4. gem. Magistratsvorlage vom 19. 3. 08.

214

Auf die „sozialpolitische Welt Großberlins" machte dagegen der mit dem 3. Preis gekrönte Entwurf den größten Eindruck; vgl. den Aufsatz des Neuköllner Stadtrats Dr. Glücksmann, Die Kommunalverbände als Bodeninteressenten (Schriften der Gesellschaft für soziale Reform, Ortsgruppe Berlin, 2. H e f t . Jena 1912) S. 31. 23

Kaeber

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neuzeitlichen Städtebaus — weiträumige Bebauungsweise mit Gartenstädten, Spielplätzen und Volksparks, Bruch mit dem Mietskasernensystem durch völlig neue Bauordnungen — erläutert (Sitzung vom 26. 2.1910). Er hatte darauf hinweisen müssen, daß die Stubenrauchsche Bauordnung für die Vororte von 1892 ihr Ziel, die offene Bauweise, wegen der außerordentlich gestiegenen Bodenwerte in den Bauklassen I und II nicht erreichen könne. Es war in Deutschland soweit gekommen, daß ein englischer Fachmann seine Reiseeindrücke dahin zusammenfaßte, die Deutschen verständen es, Straßen, aber nicht Wohnungen zu bauen. Und nun kam die Internationale Städtebauausstellung in Berlin, auf der das in der Welt Erreichte und Versäumte sich vor aller Augen darstellte. Zugleich aber zeigten die Pläne f ü r den Wettbewerb Großberlin, was die Zukunft erstreben mußte. In dieser von großen und fruchtbaren Gedanken erfüllten Zeit verfolgte Kirschner unbeirrt die eigenen Gedanken weiter. Am gleichen 12. März 1908, an dem der Magistrat den Oberpräsidenten um Mitteilung der Absichten der Regierung über die Organisation Großberlins und um Aufhebung des an die Vororte erlassenen Verbotes von Eingemeindungsverhandlungen bat, richtete Kirschner ein Schreiben an Bethmanns Nachfolger im Innenministerium, v. Moltke. Da die Frage Großberlin trotz ihres anscheinend völligen Ruhens dringend sei, halte er sich für verpflichtet, alle beteiligten Stellen auf sie hinzuweisen. Er wünschte daher, seinen Bericht vom 3. 9. 06 den parlamentarischen Kreisen und der Presse zugänglich zu machen. Der Minister ließ ein halbes Jahr verstreichen, ehe er Kirschners Wunsch gewährte, aber er ging dafür auf die Sache selbst ein. Von den damals noch schwebenden Verhandlungen über einen freiwilligen Zweckverband erwartete er „wichtige Unterlagen für die Entscheidung der Frage, ob ein freiwilliger Zusammenschluß von Berlin mit den Vororten zu Zweckverbänden für einzelne Verwaltungszweige möglich ist, und wie er auf das Interesse einzelner der beteiligten Kommunen an einer völligen Vereinigung von Berlin mit den Vororten einwirken wird". Er bat um Mitteilung über den Stand der Verkehrsangelegenheit. Noch vor diesem Schreiben hatte v. Moltke am 5. Oktober gelegentlich des Städtetages in Königsberg eine Äußerung getan, die Kirschner auf größeres Entgegenkommen gegenüber seinem nächsten Ziele, der Eingemeindung einzelner, dazu geneigter Ortschaften, insbesondere Treptows, rechnen ließ. Der Magistrat beschloß daher, die Verhandlungen mit Tempelhof, Rummelsburg-Boxhagen und Treptow wieder aufzunehmen. Aber die daran geknüpften Hoffnungen zerrannen schnell.

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Kirschner hatte geglaubt, mit seinem Bericht über den immer noch nicht zum Abschluß gelangten Verkehrsverband eine doch wohl günstige Stellungnahme des Ministers zu dem Gesamtproblem, wie es sich seit 1896 gestaltet hatte, herauszulocken. N u n mußte er erfahren, d a ß Moltke sich ganz in die Anschauungen seiner Vorgänger eingelebt hatte. Audi er wollte nicht die aus eigener K r a f t zu blühenden Gemeinwesen erwachsenen Gemeinden Berlin einverleiben. Das Heil sah er in Zweckverbänden 215 . Auch von anderer Seite erhob sich Widerstand. Bei der H u n d e r t j a h r feier der Städteordnung war Bürgermeister Reicke in Gegenwart des Kaisers f ü r Berlins Wunsch auf Eingemeindung des Tempelhofer Feldes eingetreten. Dadurch beunruhigt, erhoben Provinzialausschuß und -landtag kräftigen Einspruch gegen jede Verkleinerung des Gebiets der Provinz Brandenburg. Der Oberpräsident beruhigte den Landtag: eine Verbindung des Kranzes leistungsfähiger Städte mit Berlin käme f ü r das Ministerium nicht in Frage216. Trotzdem blieb die Eingemeindungskommission dabei, mit Treptow, Rummelsburg und Tempelhof weiter zu verhandeln. Aber Kirschner fühlte, daß es jetzt um mehr ging. In der ihm am 23. 11. 09 gewährten Unterredung trug er dem Minister nicht nur seine Eingemeindungswünsche vor, sondern unabhängig davon regte er kommissarische Verhandlungen aller Beteiligten mit dem Ziel der Bildung einer Provinz oder eines Zweckverbandes Berlin an. Den Eingemeindungswünschen versagte sich der Minister mit dem Hinweis auf den Widerspruch beider Häuser des preußischen Landtags, aber er teilte mit, daß die Staatsregierung ein allgemeines Gesetz über Zweckverbände, „doch nur im Interesse Berlins", ausgearbeitet habe; dieses habe aber keinen Beifall gefunden 217 ; die Regierung sei jetzt mit dem Entwürfe f ü r ein besonderes Berliner Gesetz beschäftigt. Sobald er vorliege, werde er ihn mit Kirschner und Schustehrus besprechen. Dies bedeutete den endgültigen Entschluß der Regierung über den einzuschlagenden Weg. Die Eingemeindungskommission fuhr noch fort, die Treptower Angelegenheit zu erörtern. Einen Erfolg hatte sie nicht zu verzeichnen. Und bei den von Reicke berührten, seit 1907 schwebenden Verhandlungen über den Ankauf des westlichen Teiles des Tempelhofer Feldes, den das Kriegsministerium f ü r militärische Zwecke nicht mehr verwenden wollte, erfuhr Berlin schwere Enttäuschung. Das zur Bebauung be215 218 217

13*

Schreiben vom '27. 1. bzw. 10. 2. 09 in Kirschners Handakten. Sitzung des Provinziallandtages vom 26. 2. 1909. Wohl bei den um Stellungnahme ersuchten Oberpräsidenten.

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stimmte Gelände wurde der vom Kreis Teltow begünstigten Gemeinde Tempelhof überlassen. Nicht nur Berlin, auch der Städtebau hatte eine Niederlage erlitten. Zwar hätte auch Berlin schwerlich den durch Jansen ausgearbeiteten Bebauungsplan, der endlich auch der Kleinwohnung ihr Recht gewährte, bei dem hohen Ankaufspreis durchführen können218. Aber es hätte voraussichtlich mehr für Freiflächen gesorgt als die von den Großbanken finanzierte Tempelhofer Feld A.-G. Das durch diese errichtete Wohnviertel enthielt allerdings keine Hinterhäuser, kam aber doch nur den bemittelteren Schichten zu Gute. Die Leitung der Gesellschaft übernahm der geschäftstüchtige Georg Haberland, der seine Tätigkeit von Schöneberg nach Tempelhof verlegte. Sein Mandat in der Berliner Stadtverordnetenversammlung legte er nieder. An die Eingemeindung Tempelhofs und des Tempelhofer Feldes nach Berlin war nicht mehr zu denken. 4. Der Zweckverband

Groß-Berlin

Am 14. Januar 1908 hatte der Freisinnige Dr. Wiemer im Abgeordnetenhause die Äußerungen der Presse erwähnt, daß der neue Polizeipräsident v. Stubenrauch berufen sei, als „Spreepräfekt" die Großberliner Frage zu lösen. Die Besserung der Beziehungen zwischen Berlin und seinen Vororten hielt auch Wiemer für „eine schwierige und wichtige Aufgabe"; er glaubte, daß sie durch Zweckverbände, wie sie BethmannHollweg gefördert hatte, verwirklicht werden konnte. Sein nationalliberaler Kollege Fritsch stimmte mit ihm überein und führte eine Äußerung v. Arnims in der Budgetkommission an, daß Stubenrauchs Persönlichkeit dafür die beste Aussicht eröffne (Sitzung vom 27.2. 08). Bei der Haushaltsberatung der Berliner Polizeiverwaltung im nächsten Jahre wurde die Großberliner Frage eingehend erörtert, nachdem der Minister in der Kommission mitgeteilt hatte, es würde voraussichtlich nur ein Verkehrsverband, jedoch keine Bildung eines Großberlin und keine Eingemeindung in Betracht kommen (Sitzung vom 3. 3.1909). Der Lichtenberger Bürgermeister Ziethen (freikons. Fraktion), der sich aus einem Fürsprecher zum Gegner der Eingemeindung entwickelt hatte, ergriff dazu das Wort: schon jetzt zähle Großberlin, je nachdem man es begrenze, 3—4 Millionen Einwohner, die bei dem zu erwartenden weiteren Bevölkerungszustrom bald auf 5—6 Millionen anwachsen würden. Es sei unmöglich, sie durch eine einzige Gemeinde verwalten zu lassen. 218

Glücksmann a. a. O. S. 19 f.

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Dazu kämen die nur durch riesige Entschädigungen auszugleichenden Rüdewirkungen auf die Finanzen der Kreise und der Provinz, deren kommunale Einrichtungen zudem auf ihren jetzigen Umfang zugeschnitten seien2". Außer berechtigten und unter Umständen auch notwendigen Eingemeindungen geringeren Umfangs wären daher für gewisse Verwaltungszweige Zweckverbände zu schaffen. Die steuerlichen Verschiedenheiten — hier sprach das Haupt einer der ärmeren östlichen Gemeinden — wären durch eine Ausgleichskasse zu mildern. Sehr begreiflich, daß die freisinnigen Berliner Abgeordneten darin einen „Weg zum Kommunismus" sahen. Hätte doch Berlin bei einer solchen Kasse nur verlieren können. Der Minister brachte seinen Standpunkt nun auch der Öffentlichkeit zur Kenntnis. Er sprach von den zu Hammersteins Zeiten im Anschluß an dessen Londoner Reise gepflogenen Erwägungen, „ein Großberlin durch besondere administrative Einrichtungen zu schaffen", als einem seitdem weiter ausgebauten Gedanken und bekämpfte die Eingemeindung mit dem Hinweis, daß man selbständige Gemeinden nicht vernichten solle „in einem Zeitalter der Dezentralisation", in dem man sich doch befände. Käme der freiwillige Verkehrsverband nicht zustande, müßten die gesetzlichen Voraussetzungen für Zweckverbände geschaffen werden. Nachdem Fritsch für die radikale Lösung durch eine Provinz Großberlin eingetreten war, von der sich die Regierung leider wegen des Widerstandes der Kreise und der Provinz Brandenburg abschrecken lasse, und nachdem v. Bülow die Gefahren der schon genehmigten Bebauungspläne der Vororte mit ihren vierstöckigen Häusern für 12 Millionen Einwohner aufgezeigt hatte, schloß die Debatte. Sie hatte bei aller Verschiedenheit der Ansichten ergeben, daß sich das Haus bewußt war, daß die Großberliner Zustände eine Regelung verlangten. Eine Verstärkung erfuhr dies Bewußtsein durch die Erörterungen am 3. 2. 1910 über den Antrag v. Brandenstein, nach dem die Regierung bei Waldverkäufen in der Nähe großer Städte einen möglichst großen Teil den interessierten Städten oder zu bildenden Zweckverbänden verkaufen solle unter Sicherstellung der dauernden Erhaltung als Wald und entsprechender Bemessung des Kaufpreises. Brandenstein wies dabei besonders auf Berlin und seine Nachbargemeinden hin. Damit war die Stimmung für die entscheidenden Anträge LinzGraf v. Spee und Freiherr v. Zedlitz und Neukirch-Vorster vorbereitet, 210

Insbesondere der Teltowkanal und die Niederbarnimer Kreisbahn. D a z u Krankenhäuser, Chausseen usw.

358

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die am 13. 6 . 1 9 1 0 das Abgeordnetenhaus beschäftigten. Der erste, vom Zentrum eingebracht, verlangte die Ausdehnung der Zweckverbandsbestimmungen der Landgemeindeordnung von 1892 auf die Rheinprovinz und Westfalen 220 und für ganz Preußen die Ermöglichung von Zweckverbänden zwischen Städten. Es war das Gleiche, was der Minister am 3. März 1909 angedeutet hatte. Der Antrag der Freikonservativen aber forderte ein Gesetz, „durch welches zum Zwecke einheitlicher Regelung des Verkehrs, des Bebauungsplans, der baupolizeilichen Vorschriften und der Waldfrage ein Zweckverband Groß-Berlin und aus diesem ein besonderer Verwaltungsbezirk nach Art der Regierungsbezirke gebildet wird". Der Regierungskommissar konnte dazu erklären, daß der Antrag Linz sich mit einem Gesetzentwurf decke, der bereits den Oberpräsidenten zur Begutachtung zugegangen sei und freiwillige Verbände als Regel, Zwangsverbände nur als Ausnahme vorsehe. Gegen den Antrag Zedlitz wandte er ein, daß für die darin genannten Aufgaben ganz verschiedene Gebiete in Frage kämen, und daß die Verbindung des Zweckverbandes mit einem Verwaltungsbezirk höchst bedenklich sei. Die Redner der liberalen Parteien erhoben weitere Einwendungen, vor allem wegen des gegenüber Großberlin auszuübenden Zwanges. Immerhin gab Cassel zu, daß der Weg der Eingemeindung nicht leicht sei, und daß er kein Urteil darüber abgeben wolle, ob der seit 1896 eingetretene Wandel in der Anschauung der Regierung berechtigt sei oder nicht. Einen „Spreepräfekten" aber, den ein Verwaltungsbezirk Großberlin bringen müsse, wolle Berlin nicht. Die Sozialdemokraten waren in diesem Punkte gleicher Ansicht, im übrigen dem Antrag Zedlitz geneigt, falls das Aufgabengebiet des Verbandes noch erweitert würde. Der Antrag wurde der verstärkten Gemeindekommission überwiesen, während der Antrag Linz sofort angenommen wurde. Etwas verspätet, aber für die Öffentlichkeit immerhin noch rechtzeitig, erschien im Spätherbst des Jahres eine Denkschrift der Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin, in der die Folgen der kommunalen Zerrissenheit Großberlins besonders vom wirtschaftlichen Standpunkte aus behandelt wurden221. Das wichtigste Neue, das sie brachte, war die Nennung der 58 Gemeinden und 13 Gutsbezirke, die nach Ansicht der 220

Es waren in den §§ 128—138 Verbände von benachbarten Landgemeinden unter

sidi oder zwischen einer Landgemeinde und ihrer Nachbarstadt, gegebenenfalls auch Zwangsverbände, vorgesehen. Sie hatten geringe praktische Bedeutung erlangt. 221

51 S.

„Die Zersplitterung des Wirtschaftsgebietes von Groß-Berlin", Berlin

1910,

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Ältesten eine wirtschaftliche Einheit bildeten. Spandau wurde nicht dazu gerechnet. Die Regierung machte sich schleunigst an die Arbeit. Am 20. Januar 1911 konnte sie zwei Gesetzentwürfe dem Landtage vorlegen. Der erste war die Ausführung des vom Abgeordnetenhause „mit überwältigender Mehrheit"222 angenommenen Antrages Linz. Der grundlegende § 1 besagte, daß Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke — das endgültige Gesetz vom 19. 7. 11 fügte noch Bürgermeistereien, Ämter und Landkreise hinzu — zur Wahrnehmung einzelner Angelegenheiten jeder Art zu Zweckverbänden miteinander verbunden werden können, wenn die Beteiligten damit einverstanden sind. Ist dies nicht der Fall, so kann bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses die mangelnde Zustimmung auf Grund eines besonderen Verfahrens ergänzt werden. Die weiteren Paragraphen enthielten Bestimmungen über Satzung, Verbandsorgane, Beiträge und Beamte. Sicher hatte die Regierung schnelle Annahme dieses Entwurfs erwartet, der gewissermaßen die allgemeine Rechtsgrundlage des Berliner Sondergesetzes bildete. Sie wurde aber in dieser Erwartung gründlich getäuscht. Es kann hier nicht auf Einzelheiten der Auseinandersetzungen eingegangen werden. Doch muß ein Wort über die grundsätzliche Gegnerschaft aller städtischen Vertreter des Herrenhauses gegen das Gesetz gesagt werden. Das Abgeordnetenhaus hatte den Entwurf u. a. insofern erheblich geändert, als es Zwangsverbände nur für solche Verwaltungsaufgaben zuließ, deren Erfüllung den Gemeinden kraft Gesetzes oblag. Das genügte aber den im Herrenhause in stattlicher Zahl vertretenen Oberbürgermeistern der preußischen Großstädte nicht. Sie betrachteten die Möglichkeit von Zwangsverbänden trotz der an sie geknüpften erschwerenden Bedingungen als unerträglichen Eingriff in die städtische Selbstverwaltung. Sie fürchteten außerdem, daß solche Verbände dazu benutzt werden würden, Eingemeindungen zu hintertreiben. Diese Befürchtung war nicht unbegründet. Im Abgeordnetenhause hatte Linz am 7.2. 11 davon gesprochen, daß durch Zweckverbände den unerwünschten „mehr und mehr zunehmenden Eingemeindungen in etwa ein Damm vorgeschoben werden" könne. Die Fortschrittspartei aber hatte darin gerade Bedenken gegen das Gesetz erblickt und ebenso wie eine Minderheit der Nationalliberalen jeden Zwang zur Errichtung von Zweckverbänden als einen Eingriff in die Selbstverwaltung bekämpft. Demgegenüber hatte v. Zedlitz scharf erklärt: „Die Selbstverwaltung ist doch 882

Minister v. Dallwitz im Herrenhaus am 21. 6. 1911.

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nicht ein Palladium, ein Heiligtum, das nicht dem öffentlichen Interesse, dem gemeinsamen Interesse aller zu weichen hätte". Wenn nun auch der Minister in beiden Häusern des Landtags jede Voreingenommenheit der Regierung gegen die Städte bestritt und versprach, daß „verständige Eingemeindungen" auch in Zunkunft nicht verhindert werden würden, so gelang es ihm nicht, das Mißtrauen der Oberbürgermeister zu überwinden. Der Aachener Veitmann sah die Vernichtung der großartigen städtischen Entwicklung Deutschlands in unmittelbarer Nähe, er ermahnte das Herrenhaus, „die historisch gewordenen Rechte der Städte zu verteidigen". Der Hallenser Professor Loening stimmte mit ihm wenigstens insoweit überein, als er für jeden Zwangsverband ein besonderes Gesetz forderte. Demgegenüber wies der Minister v. Dallwitz 223 darauf hin, daß „aller menschlichen Voraussicht nach" größere Gemeinden mit Landgemeinden nur in Ausnahmefällen verbunden werden würden, wie das auch unter der Landgemeindeordnung bisher der Fall gewesen sei. Die Mehrheit, die sich an den Auseinandersetzungen kaum beteiligte, lehnte den Antrag Loening ab, nahm dagegen einen Antrag an, der die selbständigen Glieder, d. h. die größeren Gemeinden des Zweckverbandes Großberlin, von den Zwangsverbänden des § 2 ausschloß. Darauf wurde in namentlicher Abstimmung das ganze Gesetz mit 59 gegen 45 Stimmen angenommen224. Diese Stimmung der berufenen Vertreter der städtischen Selbstverwaltung, die uns heute überspitzt individualistisch erscheint, gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Werdegang des Berliner Gesetzes in beiden Häusern des Landtags verstehen will. Die Regierung hatte den Entwurf des allgemeinen Zweckverbandsgesetzes zur Begutachtung auch an Kirschner gesandt225. Dieser bat den neuen Innenminister zunächst um eingehende Prüfung seiner Denkschrift von 1906 und dann um eine Unterredung, in der er ihn über die Eingemeindungsfrage im allgemeinen unterrichtete 228 . Natürlich konnte 223

War, ehe er 1910 preuß. Innenminister wurde, 7 Jahre anhalt. Staatsminister

und hatte sich nach Loenings Zeugnis durch seine Verwaltung allgemeines Vertrauen erworben. 224

Eine sehr große Anzahl von Mitgliedern war abwesend. Das Abgeordnetenhaus

nahm darauf das Gesetz in der ihm vom Herrenhause gegebenen Fassung mit starker Mehrheit an. Audi die Linke gab zu, daß die Änderungen des Herrenhauses fast sämtlich Verbesserungen waren. 225

Notiz in den Eingemeindungsakten Bd. V I . Die eigentlichen Zweckverbands-

akten des Magistrats sind leider z. Zt. nicht zu ermitteln. Ihr wichtigster Inhalt geht aus den Landtagsverhandlungen hervor. 226

v. Dallwitz im Abg.hause am 8 . 2 . 1 1 ; dazu die in voriger Anm. genannte

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diese Unterredung den Gang der Dinge nicht beeinflussen, wohl aber schien dies möglich durch die Verhandlungen der kreisfreien Städte Großberlins und der Landräte von Teltow und Niederbarnim über die Waldfrage. Sie wurden miteinander so weit einig, daß sie den Landwirtschaftsminister um Bekanntgabe der Bedingungen bitten konnten entweder für Ankauf oder Pachtung der in Betracht kommenden Wälder oder für die Höhe der jährlichen Rente, die dem Staate gegen Verpflichtung zur Erhaltung des Gebietes als Wald zu zahlen sein würde. Der Minister erklärte im Juli 1910, er würde in kurzer Zeit Zeichnungen der in Betracht kommenden Flächen und Unterlagen für ein Angebot erhalten. Dabei blieb es aber, nach Kirschners späteren Behauptungen deswegen, weil der Innenminister einen geeigneten Kontrahenten für den Abschluß vermißte 227 , v. Dallwitz war aber schon entschlossen, einen Zweckverband Großberlin zu schaffen, dem er nicht gut eine seiner Hauptaufgaben entziehen konnte. Um Verzögerungen zu vermeiden, lud er seit Ende Oktober nur einen ausgewählten Kreis führender Persönlichkeiten des kommunalen Großberlin zu Vorbereitungen ein228 und hörte die Wünsche der Erschienenen an. Diese „waren sehr verschieden und liefen zum großen Teile aus in einen Kampf verschiedener Vororte und deren Vertreter gegen die Stadtgemeinde Berlin 229 ". Der Minister, der zum Schluß ein „Resume" der Beratungen zog, konnte durch ihren Verlauf nur in seiner Ansicht über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung bestärkt werden, obgleich ihm Kirschner einen in 14 Tagen fertigen freiwilligen Verband für den Waldankauf anbot unter Voraussetzung eines angemessenen Preises230. Kurz bevor der Entwurf dem Abgeordnetenhause zuging, beschlossen die städtischen Körperschaften Berlins die Einsetzung einer Gemischten Deputation. Aus ihren Beratungen ging wohl die Petition des Magistrats an den Landtag hervor, eine der zahllosen Petitionen der beteiligten Körperschaften, aber auch eine der wenigen, die zum Teil Erfolg hatten. Notiz. Noch im Frühjahr 1 9 1 0 hatte die Eingemeindungskommission über T r e p t o w verhandelt. Alle -weitergehenden Absichten waren nach einem Beschluß vom 3. 1 . 1 0 aufgegeben worden. 227

Rede Kirschners vom 17. 6 . 1 9 1 1 im Herrenhause.

228

v. Dallwitz am 8. 2. und 13. 5. 1911 im Abg.hause. Es spielte auch die Besorg-

nis mit, einzelne Gemeinden könnten schnell noch einige später für den Zweckverband ungünstige Verträge abschließen. 22'

Cassel in Sitzung d. Abg.hauses 8. 2. 11, dazu s. Rede in Stadtv.-vers. 5 . 1 . 1 1 .

250

Cassel am 13. 5. 11.

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Die Regierung schlug vor: Bildung eines Zweckverbandes aus den sieben Stadtkreisen Berlin, Charlottenburg, Schöneberg, Rixdorf, Wilmersdorf, Lichtenberg und Spandau sowie den Landkreisen Teltow und Niederbarnim; der Beitritt des Kreises Osthavelland oder von Teilen des Kreises wurde ermöglicht. Aufgaben: 1. Verkehrswesen; 2. Beteiligung bzw. gutachtliche Mitwirkung bei der Feststellung von Fluchtlinien und beim Erlaß von Bauordnungen; 3. Erwerb und Erhaltung größerer Freiflächen. Organe: Verbandsversammlung, -ausschuß und -direktor. Wahl der 99 Mitglieder der Versammlung (Vorsitz Oberbürgermeister von Berlin), durch die kommunalen Körperschaften der Städte bzw. Kreise nach Maßstab der Einwohnerzahl; keine Gemeinde erhält mehr als 1/s aller Stimmen. Im Verbandsausschuß sitzen: die ersten Bürgermeister der sieben Städte, die Vorsitzenden der beiden Kreisausschüsse, ein weiteres Magistratsmitglied Berlins und 8 von der Versammlung gewählte Mitglieder, davon 2 Berliner und und je einer aus den 6 größten Gemeinden bezw. Kreisen. Der auf mindestens 6 Jahre gewählte Verbandsdirektor führt die laufenden Geschäfte, bereitet die Beschlüsse des Ausschusses vor und sorgt für ihre Ausführung. Die Beiträge werden auf die Mitglieder nach Steuersoll umgelegt. Nur bei den Kosten für Verkehrsmittel wird auch das Interesse der einzelnen Mitglieder an ihnen berücksichtigt. v. Dallwitz führte seine Schöpfung im Abgeordnetenhause selbst ein. Er war sich bewußt, daß sie in „zarte und schwierige kommunale Fragen" eingriff, daß „Vorsicht und zögerndes Vorgehen" geboten sei, daher die Beschränkung auf die dafür reifen und für das Wohl der Bevölkerung notwendigen Aufgaben, aber er verwahrte sich dagegen, daß in der Presse von einer Knechtung der Selbstverwaltung gesprochen worden war. Der Zweckverband solle nicht dem Staate, sondern den Einwohnern dieses so eng verbundenen Gebietes dienen. Die erste Aufnahme des Entwurfs war durchaus freundlich, keine Partei war grundsätzlich ablehnend gegen ihn eingestellt. Cassel erklärte, da eine Eingemeindung oder ein Gebilde wie die Grafschaft London nicht erreichbar sei, sei „auch vom Standpunkt Berlins aus die Bildung eines Zweckverbandes an sich durchaus ersprießlich, ja sogar zum Teil notwendig". Sein Charlottenburger Fraktionskollege Dr. Crüger freilich hätte lieber auf freiwillige Zusammenschlüsse gewartet; für ihn war der Entwurf mit „allen Schatten eines Notbehelfs" behaftet. Die Berechtigung der in der Petition des Berliner Magistrats erhobenen Be-

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schwerde gegen die zu geringe Vertretung der Stadt in Versammlung und Ausschuß erkannten auch die rechtsstehenden Parteien an. Der Entwurf wurde in 13 Sitzungen der Kommission des Abg.-Hauses, der 132 Abänderungsanträge außer der Fülle von Petitionen vorlagen, gründlichst durchberaten. Die wichtigste Änderung war Zufügung einer vierten Aufgabe, der Erwerbung von Flächen für den Bau von Kleinwohnungen. Wesentlich verbessert wurde Berlins Stimmenverhältnis. Seine Vertretung in der Versammlung wurde von 33 auf 40 Sitze verstärkt, auf die der Sitz des Oberbürgermeisters nicht angerechnet wurde; im Ausschuß erhielt es 4 statt 2 der gewählten Vertreter. Damit war eine annehmbare Lösung gefunden worden, hatte sich doch Berlin in dem geplanten freiwilligen Verkehrsverbande selbst mit 1 / 3 der Stimmen begnügt. Es war Unaufrichtigkeit oder Theaterdonner, wenn später der Berliner Stadtverordnete Rosenow im Abg.-Hause von einem Gewaltakt gegen Berlin sprach. Ferner wurden 8 größere Gemeinden der beiden Kreise selbständige Mitglieder des Verbandes, so daß die Zahl der von den Kreisausschüssen zu wählenden Vertreter der Versammlung merklich verringert wurde. Der Oberpräsident erhielt die Befugnis, mit Zustimmung des Ausschusses Baupolizeiordnungen für das ganze Gebiet oder Teile zu erlassen, um dadurch hier eine Einheitlichkeit zu erreichen, die bei den verschiedenen polizeilichen Zuständigkeiten sonst nicht durchführbar war. Aus wichtigen Gründen des Verkehrs, der Gesundheit und der Wohnungspolitik konnte der Ausschuß die Abänderung von bisher nicht ausgeführten Bebauungsplänen verlangen. Durch eine mit Zweidrittel-Mehrheit zu beschließende Satzung konnte der Verband seine Rechtsverhältnisse im Rahmen des Gesetzes ordnen. Für die Verbandslasten wurde allgemein der Maßstab des Interesses neben dem starren Steuermaßstab berücksichtigt; gegen Mehr- oder Minderbelastung einzelner Mitglieder wurde die Einlegung von Rechtsmitteln ermöglicht. In drei wichtigen Fragen lehnte die Kommission eine Änderung des Entwurfs ab: die durch Berlin bekämpfte Einbeziehung der ganzen Kreise Teltow und Niederbarnim blieb bestehen, obgleich dadurch das Verbandsgebiet eine unförmige, von Süd nach Nord sehr lange, von Ost nach West schmale Gestalt erhielt, und obgleich dadurch rein ländliche Gemeinden in den Verband gelangten, die mit dem Wirtschaftsgebiet Großberlin in keinen Beziehungen standen. Allein eine Zerreißung der beiden Kreise schien der Regierung wie der Mehrheit des Abg.-Hauses das größere Übel, zumal die Kreise bedeutende eigene wirtschaftliche Unternehmungen entwickelt hatten. Es blieb auch die indirekte Wahl der Mitglieder der Versammlung durch die kommunalen Körperschaften

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der Mitglieder; die Linke des Hauses sah darin eine Verstärkung der partikularistischen Strömungen und einen Verstoß gegen die Grundsätze der Selbstverwaltung. Schließlich drang Spandau mit seinem Einspruch gegen seine Einbeziehung in den Verband nicht durch. Die 2. und 3. Lesung im Plenum brachte wenig Neues. Nur schienen gelegentlich die Fronten des parlamentarischen Kampfes vertauscht zu sein, wenn die Konservativen den Kleinwohnungsbau mit Rücksicht auf die Selbstverwaltung der Einzelgemeinden aus dem Gesetz streichen wollten, während die Sozialdemokraten dem Verband nicht genug weitere Aufgaben zuweisen konnten. Die den Sonderinteressen der ärmeren Vororte entsprungenen, durch ihre Vertreter Ziethen (freikons.) und v. Treskow (kons.) begründeten Anträge, die von der Regierung die baldige Vorlage eines Gesetzes über einen Schullastenausgleich forderten, wurden trotz des Eintretens des Zentrums und der Sozialdemokraten für sie abgelehnt. Hier fanden sich Regierung und Mehrzahl der Konservativen mit Nationalliberalen und Freisinnigen zusammen. Der mit starker Mehrheit im wesentlichen nach den Kommissionsbeschlüssen am 16. Mai angenommene Entwurf ging nun an das Herrenhaus. Sollte das Gesetz noch in dieser Session erledigt werden, war Eile geboten. Wie aber würden die hier durch ihre besten Köpfe vertretenen Leiter der großen preußischen Städte das Werk beurteilen? Sie machten sich ihre Aufgabe nicht leicht. Ehe noch die Kommission des Hauses zusammentrat, berieten sie in ihrem engeren Kreise sechs Tage lang, um sich über die Bestimmungen des Entwurfs „auch nur einigermaßen klar zu werden". Und doch gelang das nach einem Worte des Oberbürgermeisters von Halle, Dr. Rive, eines fast überscharfsinnigen Juristen, nicht einem von ihnen völlig231. Dann hielt die Kommission während einer Woche täglich acht- bis neunstündige Sitzungen ab, in denen die Bürgermeister ziemlich allein das Wort führten. Aber mit dem Ergebnis waren sie so wenig zufrieden, daß Rive bekannte, er habe „noch niemals ein so unruhiges, so schlechtes Gewissen gehabt wie bei diesem Gesetzentwurf". Nicht nur die trotz alles Mühens rechtlich so dehnbare, ungenügende Fassung einzelner Bestimmungen bereitete den Bürgermeistern Sorge. Viel Größeres stand für sie auf dem Spiel. Die Reden, die ihre Sprecher in der entscheidenden Sitzung des 17. Juni 1911 hielten, rührten an Grundfragen der städtischen Selbstverwaltung. Sie waren getragen von einem hohen Verantwortungsbewußtsein und erhoben sich nach Form und Inhalt weit über die Verhandlungen des Abg.-Hauses. Das so oft 531

Sitzung des Herrenhauses vom 17. 6. 1911.

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in der freisinnigen und gar erst in der sozialdemokratischen Presse als Gespenst aus urgroßväterlicher Zeit verhöhnte Herrenhaus bewies, daß es Männer in seinen Reihen hatte, die sich weder von dem Gesichtspunkt augenblicklidier Nützlichkeit, noch von dem derParteipolitik leiten ließen. Die Kommission hatte sich von der Regierung den Kirschnerschen Bericht von 1906 erbeten, dessen „objektive Mitteilungen" ihr guten Einblick in die tatsächlichen Verhältnisse gewährten232. Auf Betreibender städtischen Minderheit, nicht aus reaktionärer Beschränktheit, strich sie den Kleinwohnungsbau aus dem Aufgabenkreis des Verbandes, um ihn den Einzelgemeinden zu überlassen, und beschnitt aus gleichem Grunde die Rechte des Verbandes im Fluchtlinienwesen. Diese Verbesserungen genügten indessen den Bürgermeistern nicht. Das für die Minderheit durch den Königsberger Oberbürgermeister Körte erstattete Korreferat lehnte das Gesetz als einen im Ganzen und in seinen Teilen ungeeigneten Versuch ab. Es verwarf den durch seinen Aufbau von wahrer Selbstverwaltung sich entfernenden Zweckverband zu Gunsten einer Eingemeindung, für die sich Petitionen Schönebergs, Boxhagen-Rummelsburgs, Rixdorfs, Köpenicks und zt. auch Lichtenbergs ausgesprochen hatten; auch ein in Anlehnung an die Städteordnung durch Gesetz zu schaffendes neues städtisches Gebilde mit einheitlicher Verwaltung und einheitlichen Organen sei ein brauchbarer Weg. Mit Kirschner kam dann die eine Seite der unmittelbar durch das Gesetz Betroffenen zu Wort. Er war unter einer Voraussetzung kein grundsätzlicher Gegner eines Zweckverbandes: wenn er „als Etappe auf dem Wege zur Lösung überhaupt" gelten könnte. Aber dem widersprachen seine räumliche Abgrenzung und seine sachliche Zuständigkeit, in der gerade die nach seiner Ansicht wichtigste fehlte, die Einheit im Kanalisations-, Wasser- und Beleuchtungswesen. Von diesem Standpunkt aus war die Nichtbeachtung des innerlich zusammenhängenden Wirtschaftsgebietes wie die Beschränkung des Wirkungskreises ein Grundfehler. Sofort trat ihm der Charlottenburger Schustehrus entgegen. Der klügste;und erfolgreichste Vertreter des Vorort-Partikularismus bekannte sich in geschickt aufgebauter Rede als Feind der Eingemeindung, als Freund des Zweckverbandes. Er zerpflückte Kirschners Beweise für die wirtschaftliche Einheit Großberlins, dieser „Vokabel ohne eigentlichen inneren Gehalt". Auf den höchsten Standpunkt erhob sich die Auseinandersetzung nach diesem Zweikampf durch den Frankfurter Adickes, eine der glänzendsten 232

Oberbürgermeister Körte in seinem Korreferat.

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Gestalten der an hervorragenden Bürgermeistern gewiß nicht armen Zeit. Das Problem der Verwaltung von Millionenstädten erstand eindringlich vor seinen Zuhörern. Die Frage, ob die Eingemeindung der einzige Weg für Großberlin sei, beleuchtete er durch einen Vergleich zwischen dem Bismarckschen Reich und dem Treitschkeschen Ideal des Einheitsstaates. Aber Bismarck hatte, wenn er die Bundesstaaten bestehen ließ, für sein Reich unmittelbare Wahlen des deutschen Volkes durchgesetzt, der Zweckverband kannte sie nicht. Gewiß war die ungleichmäßige steuerliche Belastung innerhalb Großberlins sehr bedenklich. Aber war die Eingemeindung das einzige Auskunftsmittel? London hatte einen anderen Weg beschritten. Als die brennendste Angelegenheit aller deutschen Großstädte betrachtete Adickes die Stadterweiterung. Die Reichshauptstadt hatte die Verpflichtung, hier das Beste zu leisten. Doch dafür und für die Wohnungsreform brachte das Gesetz fast garnichts. Adickes wollte deshalb die Wiederherstellung der von der Herrenhauskommission gestrichenen Möglichkeit der Änderung bestehender Bebauungspläne für denVerband beantragen. Er stand darin wie in der Frage der Wohnungsfürsorge im Gegensatz zu der Mehrzahl seiner Freunde, die dem Verbandsausschuß keine allzu große Macht geben wollten. Aber wie sollte ohne den Verband überhaupt etwas für Arbeiterwohnungen geschehen, solange jede Einzelgemeinde in begreiflichem Interesse für ihr Wohlergehen sich gegen den Bau von Arbeiterwohnungen sträubte? Nur ein Lastenausgleich konnte hier helfen, doch dessen Gestaltung war eine ebenso ungelöste Frage wie die der Zuweisung eigener Einnahmen und damit eine gesteigerte Verantwortlichkeit des Verbandes. Die im Entwurf vorgesehene Begründung des Verbandes auf Matrikularbeiträge der Gemeinden mußte das Verantwortungsbewußtsein lähmen. Zweifelsfragen über Zweifelsfragen! Adickes verkannte nicht die Gefahr für die Selbstverwaltung der Gemeinden durch Erweiterung des Pflichtenkreises des Verbandes. Er bedauerte die Verkoppelung dieses Gesetzes mit dem allgemeinen Zweckverbandsgesetz, das auch nach seinem Urteil unerträgliche Eingriffe enthielt, deren Tragweite noch gar nicht zu übersehen war. Aber er war mit einigen seiner Freunde bereit, für das Gesetz als für einen Versuch zu stimmen, falls es eine ihren Forderungen entsprechende Gestalt erhielt. Der Breslauer Oberbürgermeister Dr. Bender hätte für den Verband stimmen können, wenn er eine aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Versammlung erhalten hätte. Denn dann wäre eine Gemeinde entstanden, frei von dem „Kampf der Interessenten", den die vorgeschlagene Zusam-

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mensetzung der Versammlung entfesseln mußte. Mit dem Oberhaupt Altonas, Schnackenberg, kam ein Mann zu Wort, der als Bürgermeister von Friedenau die Zustände Großberlins kennen gelernt hatte, ohne in seiner jetzigen Stellung in das Für und Wider verwickelt zu sein. Er hielt es „für ganz ungeheuerlich", daß das Gesetz an den wirklichen inneren Schwierigkeiten Großberlins, den wirtschaftlichen, vorüberging und nur einige Aufgaben herausgriff. Nur nochmalige Überlegung und Anhörung der Öffentlichkeit könne ein besseres Ergebnis zeitigen. An seine und an Adickes Ausführungen knüpfte Körte in seinem Schlußwort an, in dem er mit innerer Wärme die Selbstverwaltung pries, in der ein zartes Band des Vertrauens die Bürgerschaft und die durch sie an die Spitze ihrer Stadt berufenen Männer verbinde. Den Standpunkt der Mehrheit vertrat nur der ehemalige Hausminister v. Wedel-Pieskow, der in der Kommission verständnisvoll auf die Besorgnisse der Minderheit eingegangen war. Kirschners Denkschrift von 1906 hatte starken Eindruck auf ihn gemacht, aber er bezweifelte, daß die Formen der Steinschen Städteordnung für Millionenstädte noch anwendbar waren. Er begriff den Widerstand der Bürgermeister gegen die neue Form des Zweckverbandes, die nur das Notwendigste zentralisierte, alles andere kleineren Verbänden, in Großberlin also den Einzelgemeinden, überließ. Doch er erinnerte daran, daß vor einem Jahrhundert auch Steins Ideen durch die großen Städte bekämpft worden waren. Offen gab er zu, daß niemand glaube, die Zweckverbandsvorlage sei etwas Vollkommenes, das mit Sicherheit das erstrebte Ziel erreichen ließe. Aber besser als theoretische Erörterungen werde die Erfahrung die notwendigen Verbesserungen erkennen lassen. Mit leichter Ironie führte er den Verzicht der Mehrheit auf die auch ihm erwünschte ausgedehntere Zuständigkeit des Verbandes im Bebauungswesen auf die „äußerst energische und umsichtige Opposition" der städtischen Vertreter zurück. Er schloß mit einem Ausblick auf die „elenden Wohnungszustände" in Berlin, deren Heilung er an eine Voraussetzung knüpfte, die liberalen Ohren unerträglich erscheinen mochte: erst müsse man den Zuzug nach Großberlin sperren, dann mit eisernem Besen in die Wohnungsverhältnisse eingreifen, den Arbeitgebern große Opfer auferlegen und endlich durch den Zweckverband kleine Wohnungen bauen lassen. — Krieg und Nachkriegszeit haben, ohne es zu wollen, zur Wirklichkeit werden lassen, was in einer Zeit undurchführbar war, der die „Freizügigkeit" als unantastbares Heiligtum galt. Das Herrenhaus nahm den Entwurf in der ihm durch seine Kommission gegebenen Fassung an. Dem Abg.-Haus blieb, wollte es das Gesetz nicht

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unerledigt bis zur nächsten Session liegen lassen, nur unveränderte Zustimmung übrig. Die auch dem Minister schmerzliche Streichung der Wohnungsfürsorge aus dem Aufgabenkreis des Verbandes suchte ein konservativer Antrag erträglicher zu machen, durch den die Regierung aufgefordert wurde, baldigst den Entwurf eines Gesetzes zur Besserung der Wohnungsverhältnisse, zunächst wenigstens in den Großstädten und Industriegegenden, vorzulegen. Mit diesem Antrag wurde das Zweckverbandsgesetz am 27.6.1911 angenommen. Unter dem Datum des 19. Juli 1911 erschien es in der Gesetzsammlung, am 1. April 1912 trat es in Kraft. Der 1912 erschienene 1. Band des Berliner Verwaltungsberichtes widmete dem so schwer umkämpften Gesetz Ausführungen, die sicher Kirschners Urteil wiedergeben, wenn sie nicht überhaupt auf ihn zurückgehen233. Sie enthielten das Eingeständnis, daß die „den realen Bedürfnissen entsprechende" Lösung der schwierigen Einzelprobleme der Organisation Großberlins durch Eingemeindung schwer durchführbar sei ohne gleichzeitige Lösung des „bisher noch kaum in Angriff genommenen Problems einer kommunalen Dezentralisation großstädtischer Selbstverwaltung". Anderseits wurden die Bedenken der Kirschnerschen Denkschrift gegen Zweckverbände auch gegenüber dem Gesetz von 1911 mit den aus den Erörterungen im Landtage bekannten Begründungen aufrecht erhalten. Doch klangen diese kritischen Zeilen in die Genugtuung darüber aus, daß der Gesetzgeber „die Unhaltbarkeit der kommunalen Zersplitterung Großberlins anerkannt hatte, ein Anerkenntnis, daß sich niemals widerrufen läßt". Bestehen blieb die Forderung nach „einer städtischen Großgemeinde mit kommunaler Dezentralisation234, nicht die einer Provinzialgemeinde". Die von ihm als persönliche Kränkung empfundene Wahl des bisherigen Berliner Stadtkämmerers Steininger statt des von ihm empfohlenen Oberbürgermeisters Voigt aus Barmen hat Kirschner noch erlebt. Er sah dadurch Kämpfe voraus, denen er sich nicht mehr gewachsen fühlte, hatte er doch schon vor einem Jahre ernsthaft seinen Rücktritt erwogen233. Am 9. März 1912 teilte Bürgermeister Reicke dem Magistrat die Absicht des Oberbürgermeisters mit, demnächst von seinem Amte zurück zu treten239. Einstimmig sprach ihm das Kollegium das Vertrauen 233 234 235 238

S. 36 und 44. Im Text gesperrt! B. T. Nr. 128 vom 10. 3. 1912. Das förmliche Entlassungsgesuch K.'s trägt das Datum 3. 3.1912.

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aus und bat ihn „inständig", zu bleiben; der Stadtverordnetenvorsteher und sein Stellvertreter wirkten in gleicher Richtung. Kirschner schob darauf seine Entscheidung hinaus, wiederholte aber am 8. Mai sein Entlassungsgesuch. Ende Juni hielten Magistrat und Stadtverordnete die Abschiedssitzungen für den Scheidenden ab; wenige Tage nach seinem förmlichen Übertritt in den Ruhestand starb Kirschner in seinem geliebten Ehrwald an Herzschwädie. Kirschner hat den Zweckverband, dessen Geschichte hier nur angedeutet werden kann 237 , noch auf seinen ersten Schritten begleitet. Dann löste ihn Wermuth ab, der am 15. Mai 1912 zum Oberbürgermeister gewählt worden war. Wermuth war eine Kampfnatur, die in seinen sonst sehr vorsichtig gehaltenen Erinnerungen da durchbricht, wo er auf den Zweckverband zu sprechen kommt 238 . Sein Ziel war die Erringung der führenden Stellung innerhalb des Verbandes für die Stadt Berlin 830 . Der von ihm eingeschlagene Weg des passiven Widerstandes ließ sich freilich bei den Verhandlungen über die staatlichen Wälder nicht durchführen. Die Öffentlichkeit hätte es nicht verstanden, wenn der Ankauf an den Reibungen innerhalb des Verbandes gescheitert wäre. So kam am 24. 6. 1914 der entscheidende Beschluß der Versammlung und am 27. 3 . 1 5 der Vertrag zustande, durch den der Zweckverband 10 000 ha Wald für 50 Millionen Mark unter günstigen Zahlungsbedingungen erwarb. Wermuth durfte es sich später immerhin als Erfolg anrechnen, mittelbar durch sein Zögern zu der niedrigen Preisforderung des Staates beigetragen zu haben. In der Tat betrug der Preis je Quadratmeter nur t / i von dem, den Charlottenburg seinerzeit für einen Teil der Jungfernheide hatte anlegen müssen. Audi auf dem Gebiete des Verkehrswesens erfüllte der Verband unter der Leitung Steinigers und des ausgezeichneten Fachmanns Dr. Ing. Giese überraschend schnell die wichtigste ihm gestellte Aufgabe. Er hatte 1912 als Rechtsnachfolger der einzelnen Gemeinden die Erbschaft von etwa 150 Verträgen zwischen diesen und den Verkehrs237

Die folgenden Angaben nach „Verwaltungsbericht des Verbandes für Groß-

Berlin für 1912—1920". Die an den Zweckverband geknüpften Erwartungen behandelten die Vorträge der Ortsgruppe Berlin der Gesellschaft für soziale Reform, die 1912 in dem schon genannten '2. Heft ihrer Schriften erschienen. Die 1911 als Heft 1 veröffentlichten 3 Vorträge über kommunale Sozialpolitik in Großberlin

waren

während der Verhandlungen über den Zweckverband im Februar bis Mai 1911 gehalten worden.

24

238

a. a. O. S. 340 ff.; dazu für die Kriegszeit S. 382 ff.

239

a. a. O. S. 344.

Kaeber

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gesellschaften, in erster Linie der Großen Berliner Straßenbahn und ihren Tochtergesellschaften, übernommen. Es war „ein wahres Labyrinth von Vertragsbestimmungen", die vielfach miteinander nicht zu vereinbaren waren. Der Verband stellte daher in seiner Denkschrift vom 17. 7.1916 Richtlinien für ihre Vereinheitlichung auf; ein Erwerb der Unternehmungen oder die Einführung eines Einheitstarifs sollte folgen. Die Verbandsversammlung aber lehnte auf Betreiben Berlins für die Zeit des Krieges sowohl den Ankauf wie jede Tariferhöhung ab240. Diese wurde indessen unvermeidlich als Folge des Verkehrssteuergesetzes vom 8.4.1917, das die Abwälzung der Steuer auf die Fahrgäste erlaubte. Die anschließenden Verhandlungen endeten durch den Einheitsvertrag vom 28.5.1918 zwischen dem Verband und fünf Verkehrsgesellschaften, der auch den Einheitstarif und günstige Voraussetzungen für den Ankauf brachte. Der Vertrag war „ein Markstein in Berlins Verkehrsentwicklung". Es folgten Abmachungen zwischen dem Verband und den Gemeinden, bei denen diese, in erster Reihe Berlin, erhebliche Opfer auf sich nahmen. Als dann nach dem Kriege Lohnforderungen der Straßenbahner und in ihrem Gefolge Tariferhöhungen neue Verhandlungen nötig machten, beschloß die Versammlung am 4. 6.19 den Ankauf der Straßenbahnen. Jetzt hatte auch Berlin dafür eintreten können. Mit der Großen Berliner Straßenbahn ging der Besitz von mehr als einem Drittel der Aktien der Berliner Omnibusgesellschaft und das Recht zur Besetzung der Hälfte ihrer Aufsichtsratsstellen auf den Verband über. Es war der Auftakt zu der später erfolgten Erwerbung des ganzen Unternehmens. Für die Schnellbahnen hatte der Verband schon 1916 eine planmäßige Ausgestaltung ins Auge gefaßt, die 1919 in einer Denkschrift Gieses gipfelte. Die durch Krieg und Inflation schwer betroffene Ausführung dieser Pläne und der Übergang der privaten Hoch- und Untergrundbahn auf die Stadt Berlin fällt erst in die Folgezeit. Auf seinem dritten Tätigkeitsfelde, dem des Städtebaus — Leitung Stadtbaurat Beuster —, konnte der Verband trotz umfangreicher Tätigkeit nur Grundlagen für die Zukunft schaffen. Einer durchgreifenden Neugestaltung des Bebauungswesens standen seine zu geringen Befugnisse im Wege. Der seine Arbeit beherrschende Gesichtspunkt war Verdrängung des Hochbaus, Ersatz der Mietskasernen durch gesundheitlich einwandfreie Randbebauung und Ablenkung der Industrie aus den Wohngegenden. 240

Wermuth a. a. O. S. 383 f.

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Der offen oder versteckt zwischen dem Verband und seinem mächtigsten Mitgliede geführte Kampf, der durch den Gegensatz WermuthSteiniger verkörpert wurde, endete damit, daß Steiniger im März 1918 bei Ablauf seiner Wahlzeit nicht wiedergewählt wurde. Sein Nachfolger, der Berliner Stadtrat Fischbeck, nahm bald Urlaub und nach Ernennung zum preußischen Handelsminister den Abschied. Seit November 1918 führte Giese als Stellvertreter die Geschäfte des Verbandes, der so „in den Übergang glitt, welcher ihn zur neuen Stadtgemeinde Berlin begleitete"241. 5. Der Weltkrieg und das Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin vom 27. April 1920 Wenn der Zweckverband die Sicherung gleichmäßiger Ernährung und Bekleidung der Bevölkerung während des Krieges hätte durchführen können, hätte er vermutlich auf die Dauer Daseinsberechtigung erwiesen842. Aber eine solche Leistung wäre ihm selbst dann nicht möglich gewesen, wenn unter seinen Mitgliedern Einigkeit geherrscht hätte. Ihm fehlte jede unmittelbare Berührung mit der Bürgerschaft, aus der die Zehntausende ehrenamtlicher Kräfte genommen werden mußten, ohne die keine der neuen Organisationen Leben gewinnen konnte. So mußten andere Verbände geschaffen werden, um das sonst unvermeidliche Durcheinander innerhalb des einheitlichen Wirtschaftsgebiets zu vermeiden. Aber trotz guten Willens ließ sich der Mangel einer alle kommunalen Aufgaben Großberlins einheitlich regelnden Verwaltung nicht ersetzen. Der Geltungsbereich der Brotkartengemeinschaft, die als erster und wichtigster Verband entstand, deckte sich keineswegs mit dem der anderen Kriegswirtschaftsstellen Großberlins, die für Fleisch, Kartoffeln, Fett usw. sorgten; auch sachlich war die durch diese Verbände geschaffene Einheit fast nirgends die gleiche. Erst der Ende 1917 gegründete Lebensmittelverband bedeutete trotz seiner Beschränkung auf bestimmte Aufgaben einen Fortschritt. Fast überall aber wurde die schöpferische und verwaltende Arbeit durch Berlin geleistet, dessen Einfluß dadurch wuchs, obgleich Hemmungen und Reibungen nicht ausblieben. Zersplitterung herrschte auf dem Gebiet des Arbeitsnachweises und der Arbeitslosenfürsorge, während die Versorgung mit Kleidung durch i41

Wermuth a. a. O. S. 385. Für das Folgende E. Kaeber, Berlin im Weltkriege. Fünf Jahre städtischer Kriegsarbeit, Berlin 1921, S. 20 ff. l a

24»

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die Arbeitsgemeinsdiaft und den durch die größten Gemeinden geschaffenen Wirtschaftsbezirk Großberlin, die Versorgung mit Brennstoffen durch den Kohlenverband und die Kohlenstelle einigermaßen straff geregelt werden konnten. Eine größere Geneigtheit der Regierung, den Wünschen Berlins entgegen zu kommen, ließ sich während der ersten Kriegsjahre kaum spüren. Der Staat überließ sogar die durch ihn liquidierte „Englische Gasgesellschaft", die einen Teil der südlichen und westlichen Vororte versorgte, den beiden Kreisen, nicht der Reichshauptstadt. Allerdings kamen Anfang 1915 die Verhandlungen über Eingemeindung von 220 ha des Gutsbezirks Plötzensee zum Abschluß. Aber hierbei handelte es sich um eine reine Zweckmäßigkeitsfrage, die das grundsätzliche Verhältnis Berlins zu den Vororten unberührt ließ. Dieser Teil der Tegeler Forst war so gut wie unbewohnt und gehörte zu einem Drittel als Dauerwald dem Zweckverband; 60 ha des Geländes waren für den Westhafen bestimmt. Die maßgebenden Männer in der Verwaltung Berlins blieben sicher der Überzeugung treu, daß es gegen alle Nöte innerhalb Großberlins „nur ein Heilmittel, die Eingemeindung", gebe243. Trotzdem war der Magistrat bereit, auch einen anderen Versuch zu wagen. Anfang 1917 w a r im Abg.-Hause wieder von einem Lastenausgleich in Berlin gesprochen worden 244 . Berlin und eine größere Anzahl der westlichen Vororte hatten gegen diesen Plan eine Eingabe an den Oberpräsidenten gerichtet245. Aber mit Abwehr allein war es nicht getan, Berlin mußte einen gangbaren, der Regierung annehmbaren Weg aus den Schwierigkeiten zeigen. Der Magistrat änderte daher seine Taktik gegenüber dem Zweckverband. Er war mit dessen Leitung 1916 in heftigen Streit geraten, der aus dem kurz vor Inkrafttreten des Zweckverbandsgesetzes geschlossenen Vertrag herrührte, durch den der Zwist zwischen der Stadt und der Großen Berliner Straßenbahn beigelegt worden war. Jetzt dachte der Magistrat an Umwandlung und Ausgestaltung des Verbandes zu einem wirklichen kommunalen Gemeinwesen. Er schlug dem Minister vor, die Verbandsversammlung aus allgemeinen Wahlen hervorgehen und den Verbandsausschuß ohne Rücksicht auf die einzelnen Mitgliedsgemeinden wählen zu lassen; die Leitung sollte ein kollegialer Magistrat statt des Direktors erhalten. Die Stadtverordneten sahen in ihrer Mehrzahl dem Versuche nicht gerade begeistert entgegen, ließen ihn sich aber 243 244 245

Rede des Stadtkämmerers in d. Stadtv. Vers. 15. 3 . 1 9 1 7 . In der Gemeindekommission; angeführt in hiervor genannter Rede. Eingemeindungsakten Bd. V I I . Gemeindevorstand Lankwitz vom 17. 3. 1917.

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gefallen. Der neue Innenminister war dem Gedanken nicht abgeneigt, duldete es jedoch, daß die Provinz Brandenburg von sich aus am 27. 2. 1918 einen Lastenausgleich beschloß, um den ärmeren Gemeinden das Verbleiben in der Provinz schmackhaft zu machen. Der Oberpräsident erklärte bei dieser Gelegenheit auf dem Provinziallandtag, daß nunmehr weder eine Reform des Zweckverbandes noch eine Provinz Berlin notwendig sei; Eingemeindungen kämen für die Staatsregierung nach wie vor nicht in Betracht. Der Beschluß der Provinz, der ohne Fühlungnahme mit Berlin vorbereitet worden war, verriet eine Großzügigkeit, die auch der Minister anerkannte. Der Widerhall bei den Großberliner Gemeinden war nicht so günstig246. Denn in der Zwischenzeit hatten Krieg und seine wirtschaftlichen Folgen eine aufrüttelnde Wirkung auf die Kommunalpolitiker ausgeübt. Der Gemeindevorsteher von Lichtenrade, D r . Raeth, veröffentlichte am 24. 2. 1916 im „Tag" einen Aufsatz, der als Einleitung zu einer schon 1915 verfaßten Aufsatzreihe dienen sollte, die ihr Verfasser allerdings mit Rücksicht auf den Burgfrieden fürs erste wieder in seinen Schreibtisch verschloß247. Raeth ging davon aus, daß auch die westlichen Vororte sich jetzt mit einem Zusammenschluß befreundeten, für den die Bürgerschaft und die Presse schon gewonnen waren. Da der Zweckverband die auf ihn gesetzten weitgehenden Hoffnungen nicht erfüllt hatte, ja gar nicht hatte erfüllen können, schlug Raeth eine über den Einzelgemeinden stehende Gesamtgemeinde vor. Dieser Begriff einer „Gesamtgemeinde", der sich praktisch nahe mit einer gründlichen Umwandlung des Zweckverbandes, jedoch unter Ausschluß des größeren Teiles der beiden Nachbarkreise, berührte, war geeignet, auch die bisher einer Vereinigung mit Berlin widerstrebenden Vororte zu gewinnen. Doch die unmittelbaren Verhandlungen zwischen den Beteiligten, die der Gemeindevorstand von Lankwitz März 1917 vorschlug, blieben schon im Anfange stecken. Nicht von Berlin, das immer im Verdachte herrschsüchtiger Angliederungswünsche stand, sondern von den Vororten selbst mußte die Bewegung ausgehen. Der Mann, der neben der klaren, auf Erfahrung gegründeten Erkenntnis die erforderliche werbende K r a f t besaß, war der Schöneberger 246

Nachstehendes folgt z. T. der nach den Stadtakten und Verhandl. des Abg.-

Hauses gearbeiteten Darstellung in dem „Ersten Verwaltungsberitht der neuen Stadtgemeinde Berlin für die Zeit v o m 1 . 1 0 . 1 9 2 0 bis 3 1 . 3 . 1 9 2 4 , H e f t 1", Berlin o. J. (1926) S. 11 ff. 247

D i e zehn kleinen Abhandlungen erschienen, „im wesentlichen unverändert",

N o v . 1918 mit Titel „Zur Eingemeindungsfrage Großberlin".

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Oberbürgermeister Dominicus. Er hatte schon 1916 ein Programm für die Neugestaltung Großberlins entworfen — im Oktober 1917 gründete er den Bürgerausschuß Groß-Berlin. Im Vorstand und im engeren Ausschuß saßen ohne Rüdssicht auf parteipolitische Zugehörigkeit Männer der sozial gesinnten Rechten, wie der Herausgeber der „Täglichen Rundschau" Heinrich Rippler, neben Freisinnigen und Sozialdemokraten, Stadträte und Stadtverordnete aus Berlin neben einigen ihrer Kollegen aus den Vororten. Als Schriftführer wirkte der Schöneberger Stadtrat Dr. Licht, seit Jahren eifriges Mitglied der Berliner Ortsgruppe der Gesellschaft für soziale Reform. In ihr hielt er am 19. Okt. 1917 einen Vortrag „Gemeindeaufgaben von Groß-Berlin", gedruckt als l . H e f t der Schriften des Bürgerausschusses248. Als Aufgabe des Ausschusses bezeichnete Licht die Belebung eines Großberliner Bürgerbewußtseins, das in einer Gesamtgemeinde seine Wirkungsstätte finden könne. Die „einfachste Lösung", die Einheitsgemeinde, stoße auf zu starke Widerstände, verlange auch ihrerseits wieder Gliederung in Bezirke, für die am besten von den bestehenden Gemeinden auszugehen sei. „Wer weitergehende Ziele verfolgt, kann wenigstens ein weites Stück des Weges mit dem Bürgerausschuß gehen." Als Umfang der Gesamtgemeinde forderte Licht unter Berufung auf die Erfahrungen der Kriegswirtschaft „das im täglichen wirtschaftlichen Wechselverkehr stehende, baulich zusammenhängende Gebiet und das für die Entwicklung der nächsten Jahrzehnte noch erforderliche Siedlungsland". Die Grenzen dafür seien leicht bestimmbar, wenn man von sachlichen Gesichtspunkten und nicht „von sogenannten historischen Rücksichten" ausgehe. Das hieß, daß Großberlin aus den Kreisen und aus der Provinz ausscheiden müsse. Eine Hauptaufgabe erblickte der Bürgerausschuß in der praktischen, mit Hilfe von Fachausschüssen zu leistenden Vorarbeit für den Gesetzgeber. Ihr Ergebnis waren die „Grundzüge zu einem Gesetz betreffend die Bildung einer Gesamtgemeinde Groß-Berlin", die Dominicus und der Schöneberger Stadtrat, späterer Königsberger Oberbürgermeister Lohmeyer Juni 1918 veröffentlichten. Von den in den 14 Paragraphen niedergelegten Bestimmungen müssen zwei hervorgehoben werden: die Gesamtgemeinde erhält das Recht, außer den ihr ausdrücklich zugewiesenen Aufgaben alle die an sich zu ziehen, „deren Befriedigung im Ge249 Leitsätze, Aufgaben u. Satzungen des Ausschusses wurden beigefügt. Ähnliche Gedanken verfolgte der auf Veranlassung des Bürgeraussdiusses gehaltene Vortrag des Geh. Justizrats und M. d. R. Dr. Rießer „Groß-Berlin, ein Beitrag zur Geschichte der Selbstverwaltung". Er erschien in Deutsche Revue, Jan. 1918, und auch als Sonderdruck.

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meinschaftsinteresse liegt", also die viel umstrittene „Kompetenz-Kompetenz", der Gesamtgemeinde, die sie der Einheitsgemeinde stark annäherte. Gewissermaßen zum Ausgleich dafür wurde nicht nur ihr, sondern auch ihren Einzelgliedern ein eigenes Besteuerungsrecht zugesprochen. Gleichzeitig mit dem Bürgerausschuß entstand unter Vorsitz des Gemeindevorstehers von Friedenau, Bürgermeister Walger, die „Berliner Vorortgemeinschaft im Kreise Teltow". In ihr trafen sich die Vertreter der Gemeinden, die möglichst viel von dem Bestehenden zu erhalten wünschten. Aber auch sie wollten bei der Gestaltung Großberlins mitwirken und gaben damit Zeugnis von der Stärke des Einheitswillens innerhalb der Bevölkerung, der sie sich nicht entziehen konnten oder wollten. Daher sprach sich die Vorortgemeinsdiaft gerade in den Tagen, in denen der Provinziallandtag dem Lastenausgleich zustimmte, für Zusammengehen mit Berlin in Fragen des Verkehrs und der großen Versorgungsbetriebe aus. Niemand vermag zu sagen, welche Form sich für den Zusammenschluß Berlins und seiner Vororte durchgesetzt haben würde, wenn der Weltkrieg ein anderes Ende genommen hätte. Nur soviel ist sicher, daß die öffentliche Meinung unabhängig von der politischen Stellung des einzelnen mindestens eine gründliche Reform des Zweckverbandes in der Richtung auf einen kommunalen Überbau über den Gemeinden verlangte. Keine Regierung hätte sich dem entziehen können. Daß durch Gesetz vom 27. April 1920 die Einheitsgemeinde Berlin geschaffen wurde, entspricht der zentralistischen Gesamtrichtung der Zeit249. Eine Unterteilung der Riesen gemeinde in Bezirke war selbstverständlich, parteipolitisch bedingt dagegen der Verzicht auf genaue Trennung zwischen den Befugnissen der Zentrale und der Bezirke sowie die Übertragung des parlamentarischen Schemas auf die Bezirksverwaltungen. Die Grenzen des der neuen Stadt zugewiesenen Gebietes hatte der erste Regierungsentwurf, den Vorschlägen des Berliner Magistrats folgend, erheblich enger ziehen wollen, als es das Gesetz im Einklang mit den fast von allen Seiten laut werdenden Wünschen tat. Die neue Stadt249 Für die Einzelheiten der dem Gesetz vorangehenden Verhandlungen und den Inhalt des Gesetzes wird auf den sdion genannten 1. Verwaltungsbericht verwiesen. Ergänzend sei der im März 1919 durch die Vorortgemeinsdiaft veröffentlichte „Entwurf eines Gesetzes über die Gemeindeverfassung von Berlin" genannt, der die Gesamtgemeinde in 9 Stadtkreise gliederte, denen die eigentliche Verwaltung überlassen blieb. Eine Denkschrift des Kreises Teltow vom Dez. 1919 erklärte lediglich eine Erweiterung der Aufgaben des Zweiverbandes für tragbar.

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gemeinde Berlin umfaßte 87 800 ha und übertraf damit sogar die 84 600 ha New Yorks. Die größte Stadt Europas, London, blieb mit 30 200 ha weit hinter Berlin zurück. Knapp die Hälfte des Gebietes entfiel auf Bauland, von dem aber erst weniger als ein Drittel bebaut war. Je Ys des gesamten Gebietes etwa wurde landwirtschaftlich genutzt oder war mit Wald bestanden; 8000 ha nahmen Straßen und Plätze ein, rund 5200 ha Flüsse und Seen, 1900 ha öffentliche Parkanlagen250. Die Einwohnerzahl betrug 3,8 Millionen gegenüber London mit 4,5, New York mit 5,6 Millionen. Das Weichbild Berlins hatte nach den Mühen eines Menschenalters den Umfang erreicht, dessen es nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für eine lange Zukunft bedurfte. Die erste Voraussetzung für Verwirklichung der in langen Kämpfen errungenen sozialen Erkenntnisse auf dem Gebiete des Städtebaues, der Verkehrs-, Freiflächen-, Wohnungsund Siedlungspolitik war geschaffen worden.

250

Die Angaben des Verwaltungsberidites 1920—24 ergänzt durch die des „Kleinen Berliner Taschenbuchs", hrsgg. vom Statist. Amt d. St. Berlin, Ausg. 1934/35, S. 33.

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Dem Historiker wird gern nachgesagt, er sei ein „rückwärts gewandter Prophet". In ganz besonderem Maße gilt dies auch vom Archivar. So liegt es gleichsam im Wesen des Berufes wie der Persönlichkeit begründet, daß sich Ernst Kaeber gegen Ende seines Lebens Rechenschaft ablegte über seine Tätigkeit am Berliner Stadtarchiv, dem er jahrzehntelang vorgestanden hatte. Aus der Fülle der Erinnerungen erweiterte sich diese Rückschau unversehens zu einer Geschichte des Stadtarchivs überhaupt und gewann zugleich stark autobiographischen Charakter. Seinen eigenen Worten nach besaß er, der als Sohn des Direktors der Charlottenburger Wasserwerke AG, Friedrich Kaeber, und dessen Frau Josephine geb. van den Wyngaert am 5. Dezember 1882 in Charlottenburg seinen Lebensweg angetreten hatte, einen „eingeborenen, nicht näher erklärbaren Hang zur historischen Erkenntnis". Bereits als Zehnjähriger verschlang er die vielbändige Beckersche Weltgeschichte, die aus dem Besitz des früh verstorbenen Vaters stammte. Sogar die sonst recht trockenen Ploetzschen Geschichtstabellen vermochten seinen wachen Geist ebenso wie andere historische Darstellungen zu fesseln, während er Alexander von Humboldts damals vielgelesenen „Kosmos" achtlos beiseite ließ. Unter diesen Umständen konnte die von der Familie getroffene Entscheidung, er solle Mediziner werden, bei ihm kaum auf Gegenliebe stoßen. Doch beugte er sich diesem Beschluß und wechselte ab Untertertia vom Charlottenburger Realgymnasium auf das bekannte Joachimsthalsche Gymnasium über. Indes, gerade hier wurde sein Sinn auf die griechische Geisteswelt, auf die philologisch-historischen Fächer gelenkt und damit der Absicht der Familie entgegengewirkt. Nachdem Kaeber am 19. Februar 1901 das Abitur abgelegt hatte, begann er zunächst an der Friedrich-Wilhelms-Universität neuere Sprachen und Geschichte zu studieren. Zur Vertiefung seiner Sprachstudien hielt er sich 1904 fast ein dreiviertel Jahr in Frankreich und England auf. Für ein weiteres Jahr immatrikulierte er sich an der Albertina in Königsberg/Pr., wo soeben Otto Krauske Ordinarius für Geschichte geworden war. In ihm fand er einen väterlichen Freund und

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Ernst Kaeber. Leben und Werk

Förderer. Auf seine Empfehlung wandte er sich, nach Berlin zurückgekehrt, an Otto Hintze, den damals neben Friedrich Meinecke und Max Lehmann wohl bedeutendsten Historiker. Als Hintze-Schüler lernte er sorgfältige Quellenkritik und strenge Sachlichkeit. Der Historiograph der Hohenzollern lehrte ihn aber auch die Fülle und Weite des historischen Lebens kennen und vermittelte ihm entscheidende Einblicke in die Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte. Diese umfassende historische Einstellung spiegelt sich auch in Kaebers eigenen späteren Arbeiten wider. Sie ist jedoch zugleich kennzeichnend für seine Promotion mit einer Arbeit über die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (1906). Bezeichnend für die Nachwirkung der humanistischen Bildung, die er auf dem Joachimsthalschen Gymnasium empfangen hatte, ist seine Wahl des Korreferenten: des berühmten Althistorikers Eduard Meyer. So war der tragende Grund für die künftige archivarische Laufbahn gelegt, die im April 1907 am Preußischen Geheimen Staatsarchiv in der Klosterstraße begann, wohin ihn der Generaldirektor der preußischen Archivverwaltung, Reinhold Koser, auf Empfehlung Hintzes geholt hatte. Die Zeit bis zum Dienstantritt nutzte Kaeber, um sich mit den historischen Hilfswissenschaften, den Grundzügen der Germanistik und der Rechtswissenschaft vertraut zu machen. Ferner nahm er bei Michael Tangl an mehreren Seminaren und Übungen teil, deren Besuch im Rahmen der seit 1905 in das Geh. Staatsarchiv verlegten Ausbildungskurse für Anwärter des Archivdienstes Pflicht war. Am 19. Mai 1908 legte er das Staatsexamen „mit Auszeichnung" ab. Seine archivarische Ausbildung führte ihn dann von Berlin an die preußischen Staatsarchive in Aurich, Düsseldorf und Magdeburg. Besonders der ostfriesische Aufenthalt regte ihn zu einer Reihe spezieller Arbeiten an, die der ostfriesischen Geschichte gewidmet waren. Dagegen führte seine Stellung unter Ilgen in Düsseldorf ihn tiefer in die Probleme der mittelalterlichen Geschichte ein, die ihm bisher ferngelegen hatte. Die Herausgabe der Quellen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der kleinen rheinischen Stadt Blankenfelde war der Ertrag seiner Bemühungen. Dem Brauch der Zeit entsprechend, war er zum 1.4.1909 als ,Hilfsarbeiter' bei der Preuß. Archiwerwaltung eingestellt und ein Jahr später zum Archivassistenten befördert worden. Als solchem war ihm in Berlin die Herausgabe einer Aktenpublikation zur Geschichte der preußischen Politik gegen Ende des 18. Jahrhunderts zugedacht. Wenn Kaeber auch über Vorarbeiten hierzu nicht hinausgelangte, weil seine berufliche Laufbahn jetzt eine entscheidende Wende nahm, so findet

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diese Tätigkeit doch ihren Ausdruck in den zahlreichen Rezensionen von Büchern über preußische Geschichte in den „Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte". Oberbürgermeister Wermuth, der im Oktober 1912 sein Amt in Berlin angetreten hatte, berichtet in seinen Erinnerungen, wie „beinahe sein erster Weg" ihn in das städtische Archiv geführt habe. Bei der interessanten und wechselvollen Entwicklung Berlins erwartete er, ein reichhaltiges und repräsentatives Archiv vorzufinden. Aber seine Hoffnung wich einer „peinlichen Überraschung" angesichts des dürftigen Zimmers mit den paar Regalen und Schränken und den wenigen alten Büchern. Erst tieferes Versenken förderte dann doch einige Schätze zutage. Als nun gar in der Presse Klagen geäußert wurden, daß es Berlin noch immer an einer befriedigenden historischen Darstellung mangele, beschloß er, für eine bessere Sichtung des „kostbaren Materials" und für schnellstmögliches Erscheinen einer amtlichen Stadtgeschichte zu sorgen. Der Augenblick war günstig, denn im Sommer des Jahres hatte der bisherige angesehene Stadtarchivar Dr. Clauswitz um Pensionierung nachgesucht. Um die ausgeschriebene Stelle hatte sich auch Kaeber beworben. Wermuth und dessen Stellvertreter Reicke hielten Dr. Kaeber aufgrund seiner wissenschaftlichen, stilistisch glänzend geschriebenen Artikel für den geeigneten Nachfolger. Am 1. April 1913 wechselte der von Koser bestens empfohlene Ernst Kaeber aus dem Staats- in den Kommunaldienst über. Mit Elan widmete er sich seiner neuen Tätigkeit, wie kleinere Aufsätze und Rezensionen zeigen. Arbeiten zur Geschichte der Berliner Kommunalverwaltung und über das Verhältnis zwischen Stadt und Staat, die er später wieder aufgriff und ausbaute, zeigen, wie sehr sich Kaeber bemühte, unter Auswertung der Ergebnisse seiner bisherigen Arbeiten' den neuen Ansprüchen als Stadtarchivar gerecht zu werden. — Aus demselben Grunde fühlte er sich verpflichtet, noch 1913 dem „Verein für die Geschichte Berlins" beizutreten, dem er mit einer kurzen Unterbrechung wegen interner Zwistigkeiten anläßlich der ihm 1920 übertragenen Herausgabe der Mitteilungen des Vereins bis zum Lebensende die Treue hielt und dessen Ehrenmitgliedschaft ihm am 2. Mai 1961, wenige Wochen vor seinem Ableben, verliehen wurde. Bevor sich der neue Stadtarchivar einarbeiten und der Plan einer Stadtgeschichte feste Konturen annehmen konnte, brach der Weltkrieg aus. Kaeber wurde zum ErsatzBataillon des 2. Garde-Regiments zu Fuß einberufen. Wegen seiner schon damals starken Kurzsichtigkeit war er indes nur zum Garnisondienst verwendbar und wurde 1916 zur Kriegsrohstoffabteilung im

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Kriegsministerium abkommandiert. Am 30. April 1919 wurde er aus dem Heeresdienst entlassen. Damit beginnt erst seine nun kontinuierliche Tätigkeit im Berliner Stadtarchiv, worüber uns die lebendige Schilderung aus seiner Feder unterrichtet. Seine Aufgabe lag vor allem darin, das Stadtarchiv vollkommen neu aufzubauen, dem doch, von Clauswitz abgesehen, bisher nie Fachleute vorgestanden hatten. Personell und räumlich war das Archiv dadurch in den Hintergrund getreten. Die negative und verständnislose Einstellung der Berliner Stadtverwaltung zu ihrem Archiv veranlaßte Kaeber rückschauend zu dem bitteren Ausspruch, „die Geschichte des Stadtarchivs sei die Geschichte eines Leidensweges gewesen". Indes fand Kaeber in dem zuständigen Fachdezernenten während der Weimarer Republik, Stadtsyndikus Lange, einen verständnisvollen Förderer. Wenn auch nur in bescheidenem Maße, wurde doch Raum hinzu gewonnen, so daß Kaeber daran gehen konnte, wertvolles historisches und juristisches Material zur Berliner Geschichte, insbesondere die wichtige städtische Plankammer, bei den Behörden sicherzustellen und zu übernehmen. Die Aufstellung und Verzeichnung des Materials erfolgte erstmals nach dem Provenienzprinzip, wie es in den preußischen Staatsarchiven üblich geworden war. Außerdem gelang es ihm, die nicht mehr für den laufenden Geschäftsverkehr benötigten Aktenordner mit den sachlich wohlgeordneten Zeitungsausschnitten dem Leiter des Nachrichtenamtes abzunehmen und damit die Grundlage für die künftige Stadtchronistik zu schaffen. All dieses Bemühen richtete sich letztlich darauf, das Archiv „zum Zentrum der auf seinen Schätzen beruhenden Geschichtsschreibung in Berlin" (Kettig) werden zu lassen. Diese Arbeit stieß auch auf Verständnis bei den Berliner Behörden, die sich des Rates ihres Stadtarchivars (seit 1927 führte er den Titel „Archivdirektor") in zunehmendem Maße bedienten. So gab er in Ausführung des noch vom Oberbürgermeister Wermuth erteilten Auftrages 1921 „Berlin im Weltkriege" heraus, einen eindrucksvollen Bericht über die im Krieg geleistete Arbeit dieser Stadt. Anschließend verfaßte er in städtischem Auftrag die Skizze über die Entwicklung des Groß-Berliner Gedankens und die Bildung der neuen Stadt Berlin für die Einleitung des Ersten Verwaltungsberichts der neuen Stadtgemeinde (1920—24). Parallel zu dieser amtlichen Tätigkeit bemühte sich Kaeber mit erstaunlicher Arbeitskraft um größere Breitenwirkung. Es war ihm ein echtes Bedürfnis, das Heimatbewußtsein der Berliner zu wecken und zu vertiefen. Allen Versuchen, Berlin den eigenständigen Charakter

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abzusprechen, wie es Scheffler und Hegemann taten, trat er entschieden entgegen. Verschiedene angesehene Berliner Tageszeitungen und namhafte wissenschaftliche und politische Zeitschriften öffneten ihm ihre Spalten zu zahlreichen Publikationen, von denen nur eine kleine Auswahl in die Bibliographie aufgenommen werden konnte. Bei aller Sachlichkeit und historischen Strenge auch in diesen Zeitungsartikeln verband Kaeber eine brillante und lebendige Darstellungsweise, die zu fesseln wußte. So nimmt es nicht wunder, daß dieser von Tatkraft sprühende und von seiner Aufgabe besessene Wissenschaftler den Weg zur Volkshochschule fand. Das Motto seiner Vorträge spiegelt sich in dem Satz: „Die Vergangenheit vermag dem, der einige Stunden ihr Zuhörer wird, Glauben und Kraft eben auch für den Kampf des Tages zu schenken." Wer ihn einmal gehört hat, wird diese Worte bestätigen. Um die Berliner Geschichtsschreibung zu fördern, rief Kaeber 1927 die auf einen größeren Leserkreis berechnete Schriftenreihe „Berlinische Bücher" ins Leben, von denen infolge der Wirtschaftskrise im Jahre 1932 und der bald über Deutschland hereinbrechenden politischen und geistigen Katastrophe nur vier Bände erschienen sind. Als Schriftführer im Verein für die Geschichte Berlins (seit 1926) und als Herausgeber der Mitteilungen des Vereins (seit 1932) war es ihm möglich, einen größeren Kreis wissenschaftlicher Benutzer an das Stadtarchiv heranzuziehen. Auf seine Anregung und unter seiner Betreuung arbeiteten Peter von Gebhardt über die ältesten Bürgerbücher Berlins und Cöllns, Hans Jahn über die 1567 einsetzenden Schoßregister und die Berliner Feldmark sowie Jacob Jacobson über die Berliner Judenbürgerbücher. Letztere konnten infolge der widrigen Zeitumstände erst 1962 von der neubegründeten Berliner Historischen Kommission herausgebracht werden. Dieser neuen wie auch der seit 1925 bestehenden, von Johannes Schultze angeregten „Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin" gehörte Ernst Kaeber als Mitglied an; in letzterer war er von ihrer Begründung an als Schriftführer tätig. Sie eröffnete ihm 1934 auch die Möglichkeit, die Bürgerbücher und Bürgerprotokollbücher Berlins von 1701—1750 herauszubringen. Diese Ausgabe bedeutete nicht nur eine wertvolle Ergänzung der Gebhardtschen Ausgabe, an die sie zeitlich anschließt, sondern brachte durch die instruktive Einleitung erst recht den Wert des Materials zum Bewußtsein und zeigte die historische Bedeutung der Bürgerbücher als Quelle. Seit 1932 hielt Kaeber auch Vorlesungen über kommunales Archivwesen an dem kurz zuvor begründeten Institut für Archivwissen-

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sdiaft und geschi chtswissenschaftliche Fortbildung, das im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem untergebracht war. Trotz seiner subtilen wissenschaftlichen Forschungsarbeit entsprach Kaeber keineswegs dem Bild des in seinem Studierzimmer vergrabenen, weltfremden Gelehrten. Ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger Clauswitz, den er im Nachruf als einen Menschen zeichnet, der der Tagespolitik immer ferngestanden habe, wandte sich Kaeber auch den politischen Tagesfragen zu, womit er sich in die Tradition der großen deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts stellte, die — wie Ranke, Droysen, Treitschke u. a. — aus ihren Forschungen auch politische Konsequenzen gezogen hatten. Bereits 1918 trat er der Deutschen Demokratischen Partei bei, wo er zuletzt Vorsitzender der Ortsgruppe Hansa war. In seinem Wohnbezirk Tiergarten war er mehrere Jahre hindurch (1925—33) als Bezirksverordneter tätig. Seine politische Einstellung und einige Artikel über das mittelalterliche Berliner Judentum veranlaßten die Nationalsozialisten, bald nach der Machtergreifung gegen Kaeber vorzugehen. N u r durch eine Entscheidung des preußischen Ministers des Inneren blieb er damals noch in seiner Stellung. Man betraute ihn sogar mit der Vorbereitung der 700-Jahr-Feier Berlins für 1937, die er bereits 1930 selbst angeregt und mit Studien für eine umfassende Darstellung der Berliner Geschichte begonnen hatte. 1934 legte Oberbürgermeister Dr. Sahm ihm nahe, andere Mitarbeiter heranzuziehen, worauf er sich an die bekannten und mit ihm befreundeten Berliner Historiker Dr. Faden und Dr. Arendt wandte. 1936 wurde ihm schließlich bedeutet, daß seine Mitarbeit an der Festschrift unerwünscht sei (der bereits fertiggestellte Beitrag erschien z. T. 1962 in der Heimatchronik Berlin) und zum 1. 10. 1937 wurde der um die Erforschung der Berliner Geschichte so verdiente Stadtarchivar in den Ruhestand versetzt, weil er sich von seiner Gattin, einer Tochter des zu Berlin gebürtigen jüdisdien Fabrikanten Ludwig Cronheim, mit der er seit 1929 verheiratet war, nicht trennen wollte. Von den zahlreichen bis dahin veröffentlichten Abhandlungen Kaebers sei hier nur seine Arbeit über das Weichbild Berlins hervorgehoben. Der erste Teil war schon 1927 in den „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte" erschienen, der zweite folgte erst ein Jahrzehnt später (1937), gleichsam als Abschluß der bisherigen Tätigkeit. Der umfangreiche Aufsatz zeigt die Probleme einer künftigen Einheitsgemeinde, deren zu erwartende Spannungen zwischen Zentralverwaltung und bezirklicher Selbstverwaltung bereits im 19. Jahrhun-

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dert ihre Schatten vorauswarfen. Differenzen zwischen Stadt und Staat traten störend hinzu und die Auseinandersetzungen der Stadt mit den beteiligten Kreisverwaltungen hemmten das Zusammenwachsen von Stadt und Landgemeinden. Die Abhandlung gewinnt ihre Bedeutung aber nicht nur daher, daß das Thema weder zuvor noch danach so umfassend behandelt worden ist, sondern vor allem auch aus der Fülle des hier zusammengetragenen Materials, das heute weitgehend verloren ist. Trotz der großen seelischen Belastung infolge der ständigen Bedrohung des Lebens seiner Frau, deren Mutter 1942 verschleppt wurde, führte Kaeber seine Arbeiten zur Geschichte Berlins fort, auch wenn die Publikationsmöglichkeiten für ihn immer geringer wurden. Er verfaßte die Artikel über Berlin und seine Vororte für das große, 1940 von Erich Keyser herausgegebene „Deutsche Städtebuch", schrieb eine Reihe kleinerer Rezensionen in den „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte" und setzte seine wirtschaftsgeschichtlichen Studien fort mit einer Arbeit über die Papiermühle am Pankow-Fluß (1943). Im Auftrage Hermann Küglers ordnete er teilweise die Bibliothek des Berliner Geschichtsvereins nach modernen bibliothekarischen Grundsätzen. Von seinen Freunden geschützt, wurde er im August 1942 sogar noch wissenschaftlicher Mitarbeiter der Archivberatungsstelle im Geheimen Staatsarchiv in Dahlem. Seine letzte Arbeit jener Jahre galt den geistigen Strömungen in Berlin während des 18. Jahrhunderts. Johannes Schultze konnte sie 1943 noch in den „Forschungen" veröffentlichen. Damit griff Kaeber ein Thema auf, das 1956 in seinem großen Nicolai-Aufsatz wiederkehrt. Er bemüht sich in diesen Aufsätzen wie auch an anderer Stelle, das Verdikt über Nicolai und die Berliner Aufklärung durch eine gerechtere Würdigung der Leistung des NicolaiKreises zu ersetzen. Das Wesen des Berlinertums und seine Stellung in der preußisch-deutschen Geschichte wurde hier liebe- und verständnisvoll umrissen. Geistig und seelisch ungebrochen erlebte Kaeber das Ende der Tyrannei und stellte sich sofort den neuen demokratischen Kräften zur Verfügung. Im Juni 1945 wurde er mit der Leitung und dem Neuaufbau des Berliner Stadtarchivs beauftragt. E r schaffte die in die Ostzone verlagerten Akten zurück und holte die in einem Kellerraum des R a t hauses entdeckte wertvolle Karten- und Plansammlung hervor. Zugleich begründete er eine Zeitungsausschnittsammlung und eine Kartei für tägliche Aufzeichnung bemerkenswerter Geschehnisse. Die Verwaltung, wurde durch ein Rundschreiben aufgefordert, regelmäßig Berichte über

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ihre Tätigkeit für die Stadtchronik einzureichen. Im Auftrage des Magistrats verfaßte er zur Jahrhundertfeier der Revolution sein Buch „Berlin 1848". Dieses Thema, bei dem sich Staidt- und Staatsgeschichte aufs engste berühren, hatte ihn seit je bewegt. Bei der Abfassung der Festschrift konnte er sich daher auf ausführliche und detaillierte eigene Vorarbeiten stützen. Ein Mann seiner demokratischen Einstellung (seit 1945 gehörte er der neugegründeten CDU an) konnte der Entwicklung des Nachkriegsmagistrates seit 1948 nicht mehr folgen. Als im selben Jahr die Spaltung der Stadtverwaltung erfolgte, verlegte auch er daher seine Tätigkeit sofort nach Westberlin und begründete hier mit unendlichen Schwierigkeiten, insbesondere räumlicher, aber auch personeller und finanzieller Art, das Berliner Stadtarchiv im wahrsten Sinne des Wortes neu. Aus „wilder Wurzel" erwuchs es, ohne Bibliothek, ohne Akten. Erst langsam und allmählich füllten sich die Magazine durch die Abgaben Westberliner Verwaltungsdienststellen, wurde die Bibliothek durch Ankäufe, Schenkungen usw. ausgebaut. Durch seine nie erlahmende Tätigkeit als Direktor des Stadtarchivs, des jetzigen Landesarchivs, legte er den Grundstein zu dessen Aufblühen und Ansehen. Schon 1949 beauftragte ihn die Stadt (auf Anregung von Bürgermeister Dr. Friedensburg), eine Dokumentation über die städtischen Körperschaften in der Berliner Krise von 1948 vorzulegen. Für seine Arbeit erhielt er dann audh die volle Zustimmung und Unterstützung Ernst Reuters. — Von einer kurzen Unterbrechung abgesehen, leitete Kaeber das Landesarchiv bis 1955 und seit 1953 auch die Senatsbibliothek. Mit dem 1. September 1955 trat er im Alter von fast 73 Jahren in den längst verdienten Ruhestand. Bei der Abschiedsfeier im Landesarchiv würdigte der Senator für Inneres als damaliger Dienstherr, Joachim Lipschitz, die großen Verdienste Ernst Kaebers um das Berliner Archivwesen und die Erforschung der Geschichte der deutschen Hauptstadt. Bundespräsident Theodor Heuss nahm die Versetzung in den Ruhestand zum Anlaß, ihm zum Dank für seine Verdienste am 1. Dezember 1955 das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Am 5. Dezember 1957 veranstalteten die Berliner historischen Vereine (der Verein für die Geschichte Berlins, die Historische Gesellschaft zu Berlin und die Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg) im Bezirksverordnetensaal des Schöneberger Rathauses eine würdige Feierstunde zu Ehren Kaebers aus Anlaß seines 75. Geburtstages. Die Vorsitzenden dieser Vereine, Prof. Landsberg, Prof. Schultze

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und Martin Henning, würdigten besonders das wissenschaftliche Lebenswerk des Jubilars, während Dr. Walter Heynen, der langjährige vertraute Freund, die Persönlichkeit des als Mensch allseitig Geschätzten umriß. Es folgten noch wenige Jahre wissenschaftlicher Tätigkeit, bis ihm am 5. Juli 1961, kurz vor dem Eintritt in das 80. Lebensjahr, der Tod für immer die Feder aus der Hand nahm.

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Kaeber

Bibliographie Ernst Kaeber I. Selbständige

Schriften 1906/07

1. D i e Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Berlin. 153 S. T . 1 (S. 1 — 4 4 ) erschien als Berliner phil. Diss. v. 24. 11. 1906 1911 2.

Die Jugendzeit Fürst E n n o Ludwigs von Ostfriesland. Aurich. 6 0 S. ( = Abh. u.

3.

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V o r t r . z. Gesch. Ostfrieslands 15) Städte. 2. Blankenberg. — Bonn. 95 S. ( = Publikationen d. Gesellschaft f. rhein. Geschichtskunde 29, 2) 1912 4.

Bilder aus dem Leben ostfriesischer Fürstlichkeiten des 17. Jahrhunderts. Aurich. 73 S. ( = Abh. u. V o r t r . z. Gesch. Ostfrieslands 17) 1921

5.

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6.

Lichtenberg. Bausteine zur Geschichte eines Weltstadt-Bezirks. Hrsg. von E . K a e ber, unter Mitarb. von K . H . Wels und E . Krätschell. Berlin. 184 S. 1934

7.

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8.

Berlin 1848. Zur Jahrhundertfeier der Märzrevolution im Auftrage des Magistrats von G r o ß - B e r l i n . 208 S. 1949

9.

Die städtischen Körperschaften in der Berliner Krise. Tatsachen und Dokumente. Bearb. von E . K a e b e r u. Elis. Kleinmann. 79 S.

II. Aufsätze,

Beiträge

(ohne reine Buchrezensionen) 1911 10.

Friedrich Wilhelm I I I . bei seinem Regierungsantritt. — I n : Konservative M o natsschrift. S. 1 1 0 0 — 1 1 1 1

Bibliographie

Ernst

Kaeber

387

1912 11.

Ernst von Bergmann. — I n : Konservative Monatsschrift, S. 1 0 0 0 — 1 0 1 0

12.

J o u r n a l der Reise des Fürsten Christian Eberhard von Ostfriesland nach dem holländischen Schlosse Loo im J a h r e 1704. — I n : Archiv f. Kulturgeschichte 10, S. 3 1 9 — 3 2 6

13.

Gerhard Rohlfs, ein deutscher Reisender und Kolonialpolitiker. — I n : Vossische Zeitung N r . 341

14.

D e r P r o z e ß des Pastors Vieweg zu Ströbeck. — I n : Zs. d. Harzvereins f. Gesch. u. Altertumskunde, S. 1 2 7 — 1 5 8

15.

Eine gelehrte Schule der alten Zeit (Calbe a. S.). — I n : Geschichtsblätter f. Stadt u. L a n d Magdeburg, S. 1 — 1 4 1914

16.

Bodelschwingh und die Berliner Märzrevolution. — I n : Konservative Monatsschrift, S. 8 5 2 — 8 5 9

17.

Zur Entstehung von Wolfis Berliner Revolutionschronik. —

I n : F B P G 27,

S. 5 6 6 — 5 7 2 18.

Geschichtliche Entwicklung der Berliner Kommunalverwaltung. — I n : Berlin. Hrsg. von E. Stein ( = Monographien deutscher Städte 8), S. 1—11

19.

Vormärzlicher Liberalismus in Berlin. — I n : D e r G r e i f . Cottasche Monatsschrift, S. 4 6 8 — 4 7 9

20.

E . M . Arndt und der deutsche Idealismus. — I n : Vossisdie Zeitung v. 26. 4. 1914, Sonntagsbeilage N r . 17 1915

21.

Feldzugsbriefe eines Kriegsfreiwilligen vor hundert Jahren. — I n : Konservative Monatsschrift, S. 3 5 2 — 3 5 9

22.

Bismarck und Berlin. — I n : Vossische Zeitung v. 1. 4. 1915

23.

Die Stadt Berlin und der Staat. Eine hist.-polit. Betrachtung (Die ältere Zeit). —

1916 I n : Zs. f. Politik 9, S. 4 2 6 — 4 7 0 . Zugleich stark gekürzt i n : M i « . V . G . Berlins 33, S. 7 6 — 8 0 1917 24.

Das Ehrenbürgerrecht und die Ehrenbürger Berlins. — I n : Schriften V . G . Berlins 50, S. 1 1 — 2 8 (als Sonderdruck bereits 1915 erschienen) 1919

25.

Sozialismus und Arbeiterlöhne. — I n : Der T a g v. 9. 10. 1919, Ausgabe B

26.

Die geistigen Grundlagen des politischen Katholizismus in Deutschland. — I n :

1920 Konservative Monatsschrift, S. 7 0 1 — 7 0 9 27.

„Der S t a a t " , eine vormärzliche Berliner Monatsschrift. — I n : M i t t . V . G . Berlins 37, S. 1 2 — 1 7

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Zum Gedächtnis von Paul Langerhans. — I n : M i t t . V . G . Berlins 37, S. 2 4

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Die kommunalwissenschaftlichen

1923 Artikel. —

I n : Politisches

hrsg. v. P . Herre. 2 Bde., Leipzig, 1094 u. 1032 S. 25E

Kaeber

Handwörterbuch,

388

Bibliographie

Ernst

Kaeber

30. Groß- oder Klein-Berlin. Ein Blick auf 700 Jahre Geschichte. — I n : Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) v. 25. 12. 1923 31. Der Kommandeur des 18. März. General Prittwitz' verschollene Memoiren. — I n : Vossisdie Zeitung v. 18. 3. 1923 32. Der Groß-Berliner Gedanke in hundertjährigem Wandel. — I n : Germania, N r . 356 v. 30. 12. 1923 und N r . 7 v. 7. 1. 1924 33. Berlins Werdegang — ein Vorbild kommunalen Aufstiegs. — I n : Das Neue Deutschland, 1. Jg., H . 8—10, S. 163—165 1924 34. Die Amtsketten der Berliner Kommunalbehörden. — I n : Mitt. V.G. Berlins 41, S. 61—64 35. Die Epochen der Finanzpolitik Berlins 1808—1914. — I n : Berliner Wirtscbaftsberidite 1, S. 193—195; 201—204 36. Das Märkische Museum in seiner Bedeutung f ü r die Geschichte Berlins. — I n : Brandenburgia 33, S. 10—12 1925 37. Zur Entstehung des Cöllner Stadtbuches. — I n : F B P G 37, S. 124—129 38. Die Stadtältesten von Berlin. — I n : Mitt. V.G. Berlins 42, S. 105—110. Nachtrag 43, 1926, S. 49 f. 39. Das Tafelsilber der alten Stadt Berlin. — I n : D A Z v. 9. 7. 1925 40. Der Weg zur Großstadt. — I n : Kultur. Deutsche Zeitschrift, S. 21—25 1926 41. Die Gründung Berlins und Cöllns. — I n : F B P G 38, S. 30—35 42. Die Renaissancestadt Berlin. — I n : D A Z v. 7. 5. 1926 43. Die Weltstadt als Heimat. — I n : Probleme der neuen Stadt Berlin. Darstellungen der Zukunftsaufgaben einer Viermillionenstadt. Hrsg. v. H . B r e n n e n u. E. Stein ( = Monographien deutscher Städte 18), S. 194—208 44. Der 18. Deutsche Archivtag und die deutschen Städte. — I n : Zs. f. Kommunalwirtschaft, X V I . Jg. N r . 18 v. 25. 9. 1926 1927 45. Der Charakter Berlins in der Geschichte. — I n : D A Z v. 12. 9. 1927 46. Zum Gedächtnis von Paul Clauswitz (1839—1927). — I n : Mitt. V.G. Berlins 44, S. 137—146 47. Das Weichbild der Stadt Berlin seit der Steinschen Städteordnung. T . 1. — I n : FBPG 40, S. 267—335 (T. 2 s. N r . 73) 48. Max Liebermann, der Berliner. — I n : C.-V. Zeitung v. 15. 7. 1927, S. 398 49. Max Liebermanns Vorfahren. — I n : D A Z v. 19. 7. 1927 1928 50. Vom mittelalterlichen Judentum Berlins. — I n : C.-V. Zeitung. Blätter f. Deutschtum u. Judentum, S. 564 f. 51. Berlins Wirtschaftsleben zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. — I n : Berliner Wirtschaftsberichte 3, 4, S. 29—32, 43—45 1929 52. Die Berliner Juden im Mittelalter. — I n : C.-V. Zeitung, S. 395 f.

Bibliographie Ernst Kaeber

389

53. Die Beziehungen zwischen Berlin und Cölln im Mittelalter und der Konflikt der beiden Städte mit Kurfürst Friedrich II. — In: Hansische Geschichtsblätter 34, S. 19—88 54. Ein unbekannter Berliner Schuhmachergesellenbrief aus dem Jahre 1384. — In: FBPG 42, S. 135—144 1930 55. Werner Hegemanns Werk: „Das steinerne Berlin". Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt, oder: Der alte und der neue Hegemann. — In: Mitt. V.G. Berlins 47, S. 101—114 1931 56. Die Stadt Berlin zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Zugleich eine Besprechung d. Ausg. d. ältesten Kämmerei-Redinungen Berlins durch Joseph Girgensohn. — In: Mitt. V.G. Berlins 48, S. 1—11 1932 57. 700 Jahre Kreis Teltow. — In: Teltower Kreiskalender, S. 3—16 58. Noch ein unbekannter Schuhmachergesellenbrief vom Jahre 1538. — In: FBPG 45, S. 354—363 1933 59. Eine unbekannte Porträtbüste Friedrich Philipp Rosenstiels. — In: Mitt. V.G. Berlins 50, S. 51 60. Das Wirtschaftsleben Berlins im Zeitalter des Frühkapitalismus. — In: Brandenburgia 42, S. 1—5 61. Sieben Jahrhunderte Berliner Verfassungsgeschichte. — In: D A Z v. 31. 1. 1933 62. Der alte Dom zu Berlin. — In: D A Z v. 12. 11. 1933 63. Das Geheimnis der Grauen Klosterkirche. — In: Berliner Lokalanzeiger v. 7. 12. 1933 1934 64. Die Pfälzer und die Schweizer Kolonie in Berlin im Jahre 1711. — In: Zs. V.G. Berlins 51, S. 18—27 65. Schicksal und wirtschaftliche Bedeutung der Handelshäuser Berlins zur Zeit der Renaissance. — In: Zs. d. Ver. Berliner Kaufleute und Industrieller 15, Nr. 5, 5. 83—86 66. Vom Werden des Berlinertums. — In: DAZ v. 21. 10. 1934 1935 67. „Der Berlin". — In: Zs. V.G. Berlins 52, S. 57—59 68. Fünfzig Jahre „Mitteilungen (Zeitschrift) des Vereins f ü r die Geschichte Berlins". Ein Rückblick zum 70. Geburtstag des Vereins. — In: Zs. V.G. Berlins 52, S. 2—11 69. Des Johann Bernhard Schultz Perspektivplan von Berlin aus dem Jahre 1688. — In: Amtsblatt der Stadt Berlin 76, S. 428—429 70. Stadtgesdiichte und Kommunalbeamte. — In: Berliner kommunale Mitteilungen 6, S. 64 71. Rudolf Blanckertz und der Verein f ü r die Geschichte Berlins. — In: Die zeitgemäße Schrift. Studienhefte f. Schrift u. Formgestaltung. Sonderheft: Rud. Blanckertz zum Gedächtnis, S. 41 f. 25 E*

390

Bibliographie

Ernst

Kaeber

1937 72. Die Epochen der Wirtschaftsgeschichte Berlins. — I n : Zs. d. Ver. Berliner K a u f leute und Industrieller 18, S. 101—104 73. Das Weichbild der Stadt Berlin. T . 2: Der Kampf um Groß-Berlin 1890—1920. — I n : F B P G 49, S. 289—366 74. Über Wall und Graben wächst die Stadt. — I n : D A Z v. 22. 8. 1937 1940 75. Artikel über Berlin, Charlottenburg, Köpenick, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau, Wilmersdorf. — I n : Deutsches Städtebuch, hrsg. y. E. Keyser. Bd. 1, S. 484—499 1941 76. Vorboten deutscher Einheit. — I n : Die Woche 43, N r . 18, S. 26—29 1943 77. Die Papiermühle am Pankow-Fluß. Berlins ältestes Papierunternehmen. — I n : Die Feldmühle 17, N r . 2—8 78. Geistige Strömungen in Berlin zur Zeit Friedrichs des Großen. —• I n : FBPG 54, S. 257—303 1946 79. GeschiAte der Berliner Stadtverwaltung. — In: Neues Deutschland v. 21. u. 26. 9. 1946 1947 80. Vom Berliner Stadtwappen. Seine Wandlungen in alter und neuer Zeit — U m die künftige Gestaltung. — I n : Der Sozialdemokrat v. 12. 11. 1947 1951 81. Typisches und Individuelles in der Geschichte Berlins. — I n : Jb. V.G. Berlins 1, S. 7—51 1952 82. Die Oberbürgermeister Berlins seit der Steinschen Städteordnung. — I n : Jb. V.G. Berlins 2, S. 53—144 1953 83. Vier kritische Fragen zur mittelalterlichen Geschichte Berlins. — I n : Jb. V.G. Berlins 3, S. 143—183 84. Zu Mario Krammers Gedächtnis. — I n : Jb. V.G. Berlins 3, S. 9—18 85. (Mitarbeit an:) Neue Deutsche Biographie. Hrsg. v. d. Hist. Komm. b. d. Bayer. Akad. d. Wiss., Bd. 1 u. 2, Berlin 1953—55 1954 86. Willy H o p p e als märkischer Historiker (mit bibliograph. Anhang). — I n : Jb. f. brand. Landesgesch. 5, S. 7—12 1955 87. Vom Idyll zur Großstadt. Eine Rede zur 250-Jahr-Feier Charlottenburgs. — I n : Der Bär von Berlin. Jb. V.G. Berlins 5, S. 7—15

Bibliographie

Ernst

Kaeber

391

1956 88.

Das H a u s der Handels-Hochschule Berlin. — I n : Ein Halbjahrhundert Betriebswirtschaftliches Hochschulstudium. Festschrift zum 50. Gründungstag der H a n dels-Hodisdiule Berlin. S. 6 4 — 6 6

89.

Henriette Paalzow, die Lieblingsschriftstellerin Friedrich Wilhelms I V . —

In:

J b . f . d. Gesch. Mittel- und Ostdeutschlands 5, S. 2 5 1 — 2 7 1 90.

Friedrich Nicolais Reise durch Deutschland im J a h r e 1781. Ein Beitrag zu seiner Charakteristik. — I n : D e r Bär von Berlin 6, S. 2 9 — 7 6 1957

91.

D e r W e g zur Großstadt. — I n : 42. Deutscher Geodätentag Berlin, S. 1 6 — 2 0

92.

Erinnerungen an das Stadtarchiv Berlin. Zugleich eine Skizze der Geschichte des

1961 Archivs. — I n : D e r B ä r von Berlin 10, S. 7 — 5 1 1962 93.

Berlin im 17. und 18. Jahrhundert ( 1 6 1 8 — 1 8 0 6 ) . — I n : Heimatchronik Berlin, S. 1 8 1 — 3 4 6

III.

Rezensionen (in Auswahl)

94.

Kißling, J . : Geschichte des Kulturkampfes im Deutschen Reich. — I n : F B P G 26,

95.

Krause, F . : D e r Osthafen zu Berlin. — I n : F B P G 27, 1914, S. 364

96.

Meineckes Radowitz. Friedr. Meinecke: R a d o w i t z und die deutsche Revolution.

1913, S. 3 4 1 ; 27, 1914, S. 3 6 3 ; 32, 1920, S. 474

— I n : Vossische Zeitung v. 8. 5. 1914 97.

(v. Oelrichs), Die Flucht des Prinzen von Preußen, nachmaligen Kaiser W i l helms I. — I n : F B P G 27, 1914, S. 644

98.

H i n t z e , O . : Die Hohenzollern und ihr W e r k . — In M i t t . V . G . Berlins 33, 1916, S. 22 und Voss. Zeitung v. 23. 1. 1916

99.

Rosenkranz, K . : Politische Briefe und Aufsätze 1 8 4 8 — 1 8 5 6 . — I n : M i t t . V . G .

100.

Richthofen, G. Frh. v.: Die Politik Bismarcks und Manteuffels in den Jahren

101.

Kunau, H . : Die Stellung der preuß. Konservativen zur äußeren Politik während

Berlins 36, 1919, S. 67 1 8 5 1 — 1 8 5 8 ; und des Krimkrieges ( 1 8 5 3 — 5 6 ) . — I n : F B P G 31, 1919, S. 272 102.

Schmidt, H . : Friedrich Julius Stahl und die deutsche Nationalstaatsidee; und

103.

Michniewicz, B . : Stahl und Bismarck. — I n : F B P G 31, 1919, S. 454

104.

Kastan, J . : Berlin wie es war. — I n : Mitt. V . G . Berlins 37, 1920, S. 5

105.

Hoeft, B . : Berühmte Männer und Frauen Berlins und ihre Grabstätten. I : D e r Dreifaltigkeitsfriedhof in der Bergstraße. — I n : M i t t . V . G . Berlins 37, 1920, S. 8

106.

H o p p e , W . : Lenzen. — I n : F B P G 42, 1929, S. 3 9 9

107.

W e n d l a n d , W . : 7 0 0 J a h r e Kirchengeschichte Berlins. — I n : F B P G 4 3 , 1 9 3 0 , S . 4 2 9

108.

Rachel, H : Das Berliner Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus. —

109.

Scheffler, K . : Berlin. Wandlungen einer Stadt. — I n : ebda S. 93

I n : M i t t . V . G . Berlins 49, 1932, S. 93

392 110. 111. 112. 113. 114. 115. 116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123.

Bibliographie Ernst Kaeber Stammler, R.: Deutsches Rechtsleben während des 19. Jahrh. — In: ebda S. 95 Schultze, J.: Geschichte der Stadt Neuruppin. — In: ebda 1933, S. 27 Leyden, F.: Groß-Berlin. — In: ebda 1934, S. 53 Hinrichs, C.: Die Wollindustrie in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. — In: ebda 1935, S. 26 Lyncker, Alex, v.: Die Matrikel des preuß. Collegium medico chirurgicum in Berlin 1730—1768. — In: ebda 1935, S. 27 Rachel—Papritz—Wallich: Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, Bd. 1. — In: ebda 1935, S. 50 Ladendorf, H . : Der Bildhauer und Baumeister Andreas Schlüter. — In: ebda 1936, S. 54 75 Jahre Berliner Statistik. — In: ebda 1937, S. 112 Kittel, E.: Die Erbhöfe und Güter des Barnim 1608—52. — In: ebda 1938, S. 26 Peschke, W.: Das Mühlenwesen der Mark Brandenburg. — In: ebda Koenigswald, H . v.: Das verwandelte Antlitz. — In: ebda 1939, S. 87 Jahrbuch f. brandenburgische Kirchengeschichte, 1939. — In: ebda 1940, S. 45 Wendland, W.: Die Entwicklung der christl. Liebestätigkeit in Groß-Berlin vom Mittelalter bis zur Gegenwart. — In: ebda 1940, S. 87 Sdiultze, J.: Das Landbuch der Mark Brandenburg von 1375. — In: ebda 1941, S. 41

IV. Ernst Kaeber als Herausgeber Berlinische Bücher. Hrsg. vom Archiv der Stadt Berlin. Bd. 1—4, Berlin 1927—32 1. Faden, E.: Berlin im Dreißigjährigen Kriege. 1927 2. Herz, R.: Berliner Barock. 1928 3. Rachel, H . : Das Berliner Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus. 1931 4. Gläser, K.: Das Bildnis im Berliner Biedermeier. 1932 Mitteilungen des Vereins f ü r die Geschichte Berlins (1934 ff.: Zeitschrift des Vereins . . .) 37, Berlin 1920 (Jan.-Juli); 49—53, Berlin 1932—36 Jahrbuch des Vereins f ü r die Geschichte Berlins (1954 ff.: Der Bär von Berlin). Folge 1—11, 1951—1962, seit 1952 gemeinsam mit W. G. Oschilewski

V . Literatur über Ernst Kaeber Kettig, Konrad: Ernst Kaeber als berlinischer Historiker (mit Bibliographie). — In: Der Bär von Berlin, 1957/58, S. 7—18 Lachmann, Joachim: Ernst Kaeber f . — In: Jb. f. d. Gesch. Mittel- und Ostdeutschlands 9/10, 1961, S. 698—701 Lachmann, Joachim: Ernst Kaeber f . — In: Der Archivar 15, 1962, Sp. 187—190 Oschilewski, W. G.: Ernst Kaeber zum Gedächtnis. — In: Der Bär von Berlin 11, 1962, 5. 121 f.

HISTORISCHE KOMMISSION ZU

BERLIN

BEIM FRIEDRICH-MEINECKE-INSTITUT DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN Berlin-Lichterfelde

• Tietzenweg 79

Vorstand: HANS HERZFELD / WALTER SCHLESINGER WILHELM BERGES / WALTER BUSSMANN GEORG KOTOWSKI / JOHANNES SCHULTZE O T T O BUSCH / HENRYK SKRZYPCZAK

Das periodische

Publikationsorgan

der Historischen Kommission z« Berlin ist das JAHRBUCH FÜR DIE MITTEL- UND

GESCHICHTE

OSTDEUTSCHLANDS

Herausgegeben

von

WILHELM BERGES und HANS HERZFELD Redaktion: HENRYK

SKRZYPCZAK

VERÖFFENTLICHUNGEN DER HISTORISCHEN KOMMISSION ZU BERLIN Band 1

Otto Büsch, Geschichte der Berliner Kommunalwirtschaft in der Weimarer Epoche. Mit einem Vorwort von Hans Herzfeld. Geleitwort zur Publikationsreihe von Willy Brandt. Groß-Oktav. X I I , 230 Seiten. 1960. Ganzleinen DM 24,—.

Band 2

J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, Das Kloster Chorin und die askanische Architektur in der Mark Brandenburg 1260—1320. Groß-Oktav. Mit 48 Abbildungen auf 24 Tafeln, 32 Textabbildungen und 1 Karte. IX, 254 Seiten. 1961. Ganzleinen DM 28,—.

Band 3

Hans-Heinz Krill, Die Rankerenaissance — Max Lenz und Erich Mareks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880—1935. Mit einem Vorwort von Hans Herzfeld. Groß-Oktav. XIV, 271 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 38,—.

Band 4

Jacob Jacobson, Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin 1809—1851. Mit Ergänzungen für die Jahre 1791—1809. Groß-Oktav. Mit 29 Tafeln. IX, 725 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 58,—.

Band 5

Rudolf Lehmann, Geschichte der Niederlausitz. Groß-Oktav. Mit 26 Tafeln und 2 Kartenbeilagen. XII, 813 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 68,—.

Band 6

Die Brandenburgischen Kirchenvisitations-Abschiede und -Register des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Zweiter Band: Das Land Ruppin. Inspektionen Neuruppin, Wusterhausen, Gransee und Zehdenick. Aus dem Nachlaß von Victor Herold, herausgegeben von Gerhard Zimmermann. Bearbeitet von Gerd Heinrich. Groß-Oktav. X I I , 489 Seiten und eine Kartenbeilage. 1963. Ganzleinen DM 81,—.

Band 7

Otto Büsch, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713—1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutsdien Gesellschaft. Mit einer Einführung von Hans Herzfeld. Groß-Oktav. XV, 203 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 28,—.

Band 8

Günther Gieraths, Die Kampfhandlungen der Brandenburgisch-Preußischen Armee 1626—1807. Ein Quellenhandbuch. Groß-Oktav. X X , 630 Seiten. 1964. Ganzleinen D M 160,—.

Band 9

Kurt Hinze, Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Brandenburg-Preußen 1685—1806. Bibliographisch vermehrte und verbesserte, mit einem Register versehene zweite Auflage. Mit einer Einführung von Otto Büsch. Groß-Oktav. X X , 296 Seiten. 1963. Ganzleinen DM 36,—.

Band 10

Carl Hinrichs, Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen. Herausgegeben von Gerhard Oestreich. Groß-Oktav. VI, 430 Seiten. 1964. Ganzleinen DM 28,—.

Band 11

Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland 1933—1945. Religionsverfolgung und Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit. Mit einer Einleitung von Hans Herzfeld. Groß-Oktav. Etwa 600 Seiten. 1964. Ganzleinen etwa DM 38,—.

WALTER DE G R U Y T E R & C O • BERLIN 30

V E R Ö F F E N T L I C H U N G E N DER H I S T O R I S C H E N K O M M I S S I O N ZU BERLIN Band 12

Bernhard Hinz, Die Sdhöppenbücher der Mark Brandenburg, besonders des Kreises Züllichau-Schwiebus. Bearbeitet und eingeleitet von Gerd Heinrich. Groß-Oktav. Mit 10 Tafeln, X I I , 269 Seiten. 1964. Ganzleinen DM 42,—.

Band 13

Johannes Schultze, Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Ausgewählte Aufsätze. Mit einem Vorwort von Wilhelm Berges. Groß-Oktav. VIII, 312 Seiten. 1964. Ganzleinen DM 40,—.

H I S T O R I S C H E R H A N D A T L A S V O N BRANDENBURG U N D BERLIN Begründet von Archivrat Dr. Berthold Schulze f . Wissenschaftliche Leitung des Gesamtwerkes: Arbeitsgemeinschaft Historischer Handatlas, Wiss. Rat Dr. Heinz Quirin (Herausgeber), Dr. Gerd Heinrich, Akad. Rat Dr. Hans-Georg Schindler, Wiss. Oberrat Dr. Klaus Schroeder. Redaktion: Dr. Hans-Georg Schindler. Kartographie: Alfons Bury. Lfg. 1

Grundriß von Berlin mit nächster Umgegend 1850. Oberarbeitete Reproduktion eines von Boehm gezeichneten Originalplanes. Maßstab 1 : 12 500. 1 Karte, 4 Seiten Text. 1962. DM 18,—.

Lfg. 2

Die Niederlausitz um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Besitzstand der Herrschaften, des Stiftes Neuzelle, der Ritterschaft, der landtagsfähigen Städte und der landesherrlichen Ämter um 1750. Bearbeitet von Rudolf Lehmann. Maßstab 1 : 350 000. 1 Karte, 4 Seiten Text. 1963. DM 18,—.

Lfg. 3

Berlin 1920. Das Gebiet der 1920 zusammengefaßten Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke. Bearbeitet von der Arbeitsgemeinschaft Historischer H a n d atlas. Bebauung und Vorortverkehr im Räume Berlin bis 1945. Bearbeitet vom Senator für Bau-und Wohnungswesen, Abt. Landes- und Stadtplanung, und der Arbeitsgemeinschaft Atlas von Berlin. 1 Karte, 8 Seiten Text. 1963. DM 18,—.

Lfg. 4

Neue Siedlungen in Brandenburg 1500—1800. Bearbeitet von Berthold Schulze, für den Handatlas vereinfacht und um die Altmark ergänzt von Hans K. Schulze. Maßstab 1 : 6 5 0 000. 1 Karte, 4 Seiten Text. 1963. DM 18,—.

Lfg. 5/6

Zu- und Abnahme der Bevölkerung 1875—1939. Zu- und Abnahme der Bevölkerung 1939—1946. Bearbeitet vom Senator für Bau- und Wohnungswesen, Abt. Landes- und Stadtplanung. Maßstab 1 :650 000. 2 Karten, 32 Seiten Text. 1963. DM 36,—.

H I S T O R I S C H E R ATLAS V O N BRANDENBURG NF. Lfg. 1

Berthold Schulze, Brandenburgische Besitzstandskarte des 16. Jahrhunderts. Der ritterschaftliche, geistliche, städtische und landesherrliche Besitz um 1540. Eine siebenfarbige Karte in vier Teilen und ein Erläuterungsheft (28 Seiten). 1962. DM 28,—. WALTER DE G R U Y T E R & C O

• BERLIN 30

Berlin Neun Kapitel seiner Geschichte

Oktav. XII, 297 Seiten, 20 Tafeln, darunter 3 Ausfalttafeln, Textabbildungen.

1960. Mehrfarbiger Ganzleinenband

zahlreiche

DM 14,—

Schon immer vermissen Berliner und die Freunde Berlins in aller Welt eine moderne Geschichte Berlins. Diesem Umstand verdankt dieses Buch sein Entstehen, dessen mehr oder weniger locker aneinandergereihte Kapitel einen guten Gesamteindruck vom Werden und Wesen dieser Stadt geben. Die Verfasser sind hervorragende Kenner der jeweiligen Epoche Berliner Geschichte. Zuvor wurden diese „Kapitel" durch die Berliner Historische Gesellschaft zu Berlin in Form einer Vortragsreihe einem Kreis von Freunden Berlins vorgetragen und fanden dort einen starken Widerhall. Den Vortragscharakter hat man auch in dem Buch behutsam zu erhalten gewußt, und so bieten die Stücke jetzt eine reizvolle Lektüre. INHALT: Vor- und Frühgeschichte des Berliner Bodens (Otto Friedrich Gandert) • Entstehung der Mark Brandenburg und ihrer Städte (Johannes Schultze) • Berlins Gründung und erster Aufstieg. Sein Kampf mit der Territorialgewalt (Berthold Schulze) • Reformation und Renaissance in Berlin (Willy Hoppe) • Berlin und die Hohenzollern (Richard Dietrich) • Im Jahrhundert Goethes ( A l f r e d Zastrau) • Berlins Weg zur Industrieund Handelsstadt (Richard Dietrich) • Die städtebauliche Entwicklung Berlins seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Ernst Heinrich) • Berlin auf dem Wege zur Weltstadt (Hans Herzfeld)

WALTER

DE

G R U Y T E R

vorm. G. J . Göschen'sche Verlagshandlung

& CO

• B E R L I N

30

• J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung

Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp.