Being Versus Word in Paul Tillich's Theology/Sein Versus Wort in Paul Tillichs Theologie: Proceedings of the VII. International Paul-Tillich-Symposium held in Frankfurt/Main 1998 / Beiträge des VII. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main 1998 [Reprint 2011 ed.] 3110165244, 9783110165241, 9783110809916

10 of the 25 essays are in English, the rest being in German. They consider various aspects of theologian Tillich's

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English, German Pages 362 [360] Year 1999

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Being Versus Word in Paul Tillich's Theology/Sein Versus Wort in Paul Tillichs Theologie: Proceedings of the VII. International Paul-Tillich-Symposium held in Frankfurt/Main 1998 / Beiträge des VII. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main 1998 [Reprint 2011 ed.]
 3110165244, 9783110165241, 9783110809916

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Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von O. Bayer · W Härle · H.-P. Müller

Band 101

W _G_ DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Being Versus Word in Paul Tillich's Theology? Sein versus Wort in Paul Tillichs Theologie? Proceedings of the VII. International Paul-Tillich-Symposium held in Frankfurt/Main 1998 Beiträge des VII. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main 1998

Edited by

Gert Hummel and Doris Lax

w DE

G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York

1999

Library of Congress Catakgngin-Publication Data

International Paul Tillich Symposium (7th : 1998 : Frankfurt am Main, Germany) Being versus Word in Paul Tillich's theology? : proceedings of the VII. international Paul-Tillich-symposium, held in Frankfurt/ Main, 1998 / edited by Gert Hummel and Doris Lax = Sein versus Wort in Paul Tillichs Theologie? : Beiträge des VII. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main 1998 / herausgegeben von Gert Hummel und Doris Lax. p. cm. — (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 101) English and German. Includes bibliographical references. ISBN 3-11-016524-4 1. Tillich, Paul, 1886-1965 - Contibutions in ontology Congresses. 2. Ontology Congresses. I.Hummel, Gert, 1933 — II. Lax, Doris. III. Tide. IV. Tide: Sein versus Wort in Paul Tillichs Theologie? V. Series: Theologische Bibliothek Töpelmann ; 101. Bd. BX4827.T53I68 1998 230'.092-dc21 99-25794 CIP

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Die Deutsche Bibliothek — Cataloging-in-Publication Data

Being versus word in Paul Tillich's theology? : proceedings of the VII. International Paul Tillich Symposium, held in Frankfurt/Main 1998 - Sein versus Wort in Paul Tillichs Theologie? / ed. by Gert Hummel and Doris Lax. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 101) ISBN 3-11-016524-4

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin AU rights reserved, including those of translation into foreign languages. No part of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopy, recording or any information storage and retrieval system, without permission in writing from the publisher. Printed in Germany Printing: Werner Hildebrand, Berlin Binding: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Inhalt Zur Einführung

Fundamentaltheologische Überlegungen OSWALD BAYER

Wort und Sein E R D M A N N STURM

Sein oder Wort? Zu Oswald Bayers Tillich-Interpretation GUNTHER W E N Z

Tillichs letztes Blatt: Über Kant, Hamann und Oswald Bayers Kritik an der Tillichschen Ontotheologie HANS-CHRISTOPH A S K A N I

Tillichs Offenbarungsverständnis als Stein des Anstoßes und Prüfstein seiner Theologie: Eine Auseinandersetzung mit Oswald Bayers Tillich-Kritik J E A N - C L A U D E PETIT

Wort oder Sein? Eine fragwürdige Alternative

1

YORICK SPIEGEL

Was ist Sein, was ist Wort?

Philosophische Annäherungen TEIJE BRATTINGA

Erkenntnis als Abstand und Nähe CHARLES E . WINQUIST

Epistemological Incorrigibility in the Theology of Tillich

1

VI

Inhalt

D O N A L D F . DREISBACH

Being and Symbol, Symbol and Word

150

ANJUTA HORSTMANN-SCHNEIDER

Erfahrung und Sprache: Die Mittlerfunktion des Wortes

161

JOACHIM RINGLEBEN

Sätze über Gott und spekulativer Satz

178

A . JAMES REIMER

Metaphysics and Communication: The Logos-Ontology of Paul Tillich and Habermas' Theory of Communicative Practice

194

W E S S E L STOKER

Can the God of the Philosophers and the God of Abraham be Reconciled? On God the Almighty

206

A A D S . L . WOUDENBERG

Sein non adversus Wort. Überlegungen zu »Biblische Religion und die Frage nach dem Sein'

225

Prüfende Anwendungen ROBISON B . JAMES

Revising Tillich's Model of Reality by Adding Buber's I-Thou

237

BERTRAM SCHMITZ

Das Personalpronomen Gottes

249

JAMES GRIT

The "Caesarea Philippi Story" in Systematic Theology. Identity and Difference in Personal Encounter

257

M . D E JONG

Über die Grenze von Sein und Wort: Tillichs,,Neues Sein" und die paulinische Denkart

269

H A N S SCHWARZ

Is It All Words?

277

Inhalt

VII

M A R Y A N N STENGER

Being and Word in Tillich's Doctrine of Spiritual Presence: Issues of Subjectivity and Relationality

285

A N N E - M A R I E REIJNEN

Wort und Sein in der Begegnung von Paul Tillich und Martin Buber

298

JEAN R I C H A R D

Religious Consciousness Versus Word of God: The Answers of Troeltsch, Barth and Tillich

306

REINHOLD M O K R O S C H

Paul Tillichs Gewissensverständnis - ein Beispiel für eine ausgewogene Seins-und Wortorientierung?

319

GABRIEL VAHANIAN

The Holy and the Secular Versus the Sacred and the Profane

330

W O L F REINHARD W R E G E

Führt die Identitätsprämisse zur Bedeutungslosigkeit des Wortes bei Tillich?

342

Verzeichnis der Autoren

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Zur Einführung Vom 22.-24. Mai 1998 fand im Philipp-Jakob-Spener-Haus in Frankfurt/ Main das VII. Internationale Paul-Tillich-Symposion statt. Wieder hatten sich über 50 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen neben einigen Gästen eingefunden, die aus neun verschiedenen Ländern - Belgien, Canada, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Tschechien und den USA - angereist waren. Die Tagung begann wie in den vergangenen Jahren mit der Verleihung des Paul-Tillich-Preises. Die aus den Herausgebern der Hauptwerke/Main Works bestehende Jury hatte dieses Mal zwei Dissertationen als gleichermaßen preiswürdig erkannt und die Teilung des Preisgeldes von DM 3.000,- vorgeschlagen. Es handelte sich um die Arbeiten von Jörg Eickhoff mit dem Thema „Theodizee. Die theologische Antwort Paul Tillichs im Kontext der philosophischen Fragestellung" (Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main u.a.) und von Peter Haigis: „Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur" (Verlag N.G. Elwert, Marburg). Beide Preisträger stellten sich und die wesentlichen Ergebnisse ihrer Studien kurz vor. Das Thema des Symposions - „Sein versus Wort in Paul Tillichs Theologie?/Being Versus Word in Paul Tillich's Theology?" - war angeregt worden durch die Tillich-Interpretation von Oswald Bayer im Band „Theologie" des Handbuchs Systematischer Theologie (HST 1, Gütersloh 1994, S. 185-280), wo er Tillich eine „Entgegenständlichung des Gegenstandes der Theologie" vorwirft, weil er Gott und Wort - und damit letztlich Gott und Mensch - „zu einer seinsmystischen Unmittelbarkeit" oder Identität verabsolutiere (cf. 280). Die 25 Vorträge des Symposions, denen stets ausführliche Diskussionen folgten, beschäftigten sich naturgemäß auf unterschiedliche Weise mit dieser These. Eine erste Gruppe kann als „Fundamentaltheologische Überlegungen" beschrieben werden, insofern sie sich unmittelbar mit dem Kern der Position Bayers auseinandersetzt; dessen eigener Beitrag auf der Tagung steht deshalb am Anfang der Sammlung. Eine zweite Gruppe hinterfragt in „Philosophischen Annäherungen" die theologische Argumentation auf ihre begrifflichen Voraussetzungen. Schließlich beschäftigt sich eine dritte Gruppe mit „Prüfenden Anwendungen" sowohl innerhalb der Theologie Tillichs selbst als auch in komparativer Hinsicht.

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„Fundamentaltheologische Überlegungen" stehen im Mittelpunkt der historisch-systematisch angelegten Darstellung protestantischer Theologie von O. Bayer und bilden darum auch den Kern des Tillich-Kapitels. Dabei werden alle vorgestellten Vertreter von einer strikt lutherischen Warte aus gemessen und beurteilt. Dies pointiert auch der Ausgang in Bayers Vortrag noch einmal, indem er bei der rein verbalen Selbstmitteilung Gottes in Exodus 3, 14 ansetzt, die für ihn das Maß aller Theologie zu sein hat, wiewohl er auch von einer Spannung zwischen göttlich-weltlicher „Seinspartizipation" und göttlich-menschlichem „Wortwechsel" weiß. Aber er wirft Tillich vor, jene zu verabsolutieren und diesen, also die Differenz von Schöpfer und Geschöpf, zu vergessen. Damit nehme Tillich das personale Element der Konstitution des Menschen im Wort Gottes nicht mehr wahr und tendiere - im Gefolge Schleiermachers - zu einer Mystik absoluter, unvermittelter GottesErfahrung. Im Gegensatz zu Luther, für den das eindeutige und präzise Heilswort die Gewißheit der Gottesgemeinschaft verheißt und erfüllt, versinke bei Tillich die Gewißheit der Gottesgemeinschaft ins Wesenlose oder Überwesentliche. Von daher sei bei ihm nicht mehr auszumachen, wo und wie Gott dem Menschen begegnet. Dies bestreitet nun E. Sturm in seinem Beitrag mit aller Entschiedenheit. Zwar nennt er es das Verdienst Bayers, auf die mystische Komponente von Tillichs Theologie aufmerksam gemacht zu haben, aber jener übersehe, daß Tillich nicht von absoluter Mystik spreche, sondern von einer „Mystik des Paradox" oder einer „Mystik der Gnade". Diese gründet in dem, was Sturm theonome Ontologie nennt, das heißt ein worthaftes, zukommendes Begegnen von Gott und Mensch, das sich nicht im Wort erschöpft, sondern Seins-Mitteilung ist, weil es im Sein Gottes gründet. „Das Sein geht dem Reden voraus", auch in Exodus 3, wo Bayer übersieht, daß Mose nicht von Jahwes Rede, sondern vom Offenbarsein Jahwes im brennenden Dornbusch „gerufen" wird, ehe Jahwe spricht. Daraus folgt, daß die von Tillich postulierte Gott-Welt-Mensch-Identität keine absolute genannt werden kann, sondern zugleich „Wesen und Widerspruch" in sich birgt. Dieses Paradox durchzuhalten begründe die glaubende wie die theologische Existenz. In seinem geistesgeschichtlich weit ausgreifenden Beitrag erörtert auch G. Wenz genau diesen Kernpunkt des Problems. Er weist nach, daß von Kants Erkenntniskritik her das Prinzip der Identität immer nur im Gegensatz zur Grunddifferenz von Subjekt und Objekt begriffen werde, was sich theologisch auf die Gott-Mensch-Beziehung, das Problem von Gesetz und Evangelium, von Sein oder Wort u.a. auswirke, wie die Diskussion um Bayers Tillichkritik einmal mehr beweise. Dem ist nach Wenz' Darlegungen nur zu begegnen, indem eine Aufarbeitung der Geschichte dieses Gegensatzes zu der Einsicht führt, daß der Begriff der Identität so stets abstrakt und leer, die

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Subjekt-Objekt-Relation nur hinsichtlich einer begrenzten Individualität konkret wird. Es gehe deshalb darum, das Prinzip der Identität als ein „von Differenz an sich selbst betroffenes" zu erkennen und von daher zugleich die Konkretion des aus der Begegnung sich konstituierenden Menschen nicht nur durch einen leeren Seinsbegriff, sondern durch den des „Glaubenslebens" zu füllen. Freilich sei hinsichtlich dieser Füllung auch Tillichs Position zu kritisieren; seine Favorisierung des Seinsbegriffs könne nur als „Wort in seiner Zeit" akzeptiert werden. Bayers Position überziehe aber die geforderte Komplementarität von der andern Seite her; seine Wort-Favorisierung verenge dieses in gesprochene Rede. Mit einem etwas anderen Akzent zielt auch das Referat von H.-C. Askani auf die notwendige Bewährung der bleibenden Spannung oder Komplementarität von Identität und Differenz im GottMensch-Verhältnis. Er macht dies am Offenbarungsverständnis Tillichs fest, dessen Unterscheidung von Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung ebenfalls eine Rolle in Bayers Kritik spielt, konsequenterweise in Gestalt der Behauptung einer Vernachlässigung der letzteren. Askani zeigt im Dialog mit P. Ricceurs Unterscheidung von „manifestation" und „proclamation", die dieser mit der Erfahrung des Heiligen und mit dem Verstehen des Worts konkretisiert, daß beide Seiten voneinander abhängig bleiben und keine allein für sich wirkmächtig wird. Auf das Offenbarungsgeschehen übertragen bedeutet dies, daß Grund- und Heilsoffenbarung einander bedürfen. Askani sieht diese Korrelation bei Tillich gewahrt, nicht zuletzt in der Spannung von Durchbruch und Realisation der Offenbarung als zukommendes Ereignis. Hier setzt auch die Kritik von J.-C. Petit an Bayers Interpretation ein, der letzterem vorwirft, Tillichs Hermeneutik einseitig „von oben", d.h. von der göttlich-weltlichen „Seinspartizipation" auszulegen und dabei zu übersehen, daß jede hermeneutische Vorgehensweise notwendig auch die Differenz zwischen dem Verstehenden und dem zu Verstehenden wahre, also auch die einer für theologisches Verstehen vorauszusetzenden Identität von Gott und Welt. Daß Tillichs (existenziale) Hermeneutik dem nicht gerecht werde, sei darum ein ungerechter Vorwurf. Jedes zugesprochene Wort treffe nie nur ein isoliertes, bewußtes Ich-Subjekt, sondern immer auch die Lebenssituation des Angesprochenen, wenn es verstanden werden soll, d.h. es muß seins-geladen und seins-mächtig sein. Deshalb lasse der Sinn oder Glauben vermittelnde Anspruch Gottes die Seinspartizipation nie hinter sich, sondern eigne sie als „Helle des Seins" (B. Welte) im Wortgeschehen dem Menschen zu. Mehr mit Tillichs eigenen Worten, weniger in kritischer Auseinandersetzung mit Bayer, unterstreicht auch Y. Spiegel die bleibende Seinsmächtigkeit des Wortes, wenn er ausführlich dem „sechsfachen Wortgebrauch" des Begriffs „Wort Gottes" in Tillichs Lebenswerk nachgeht. Gleiche Weite der Entfaltung wünschte man sich bei Tillich allerdings auch hinsichtlich der Begrün-

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Einführung

dung des Satzes, daß „das Sein dem Reden vorausgeht". Von daher mag in der Tat die ontologische Begründung der Paradoxie von Sein und Wort als „fragwürdig" bezeichnet werden. Vielleicht aber, so Spiegel mit W. Pannenberg, ist am Ende des 20. Jahrhunderts der Einsatz einer Theologie beim Denken des Seins überhaupt obsolet geworden und sollte sich ganz auf die Seite des Daseins schlagen? Diese Frage bejahen bedeutet, radikal genommen, an die Stelle des Denkens des Seins zuerst das Denken des Denkens zu setzen und damit das Problem von Sein und Wort durch philosophische Annäherungen" einer Lösung zuzuführen. Damit soll nicht gesagt werden, daß den fundamentaltheologischen Erwägungen ein philosophisches Fundament abgeht; es ist nur weniger explizit, insbesondere im Blick auf die beiden thematischen Kernbegriffe. So ist es denn das Anliegen des Vortrags von T. Brattinga, die Abstraktheit der Begriffe Sein und Wort durch einen erkenntnistheoretischen Zugang „auf den Boden herunter zu bringen". Erkennen von etwas, so sein Ausgangspunkt, schließt immer Abstand und Teilhabe ein. Dabei kann - mit Tillich - zwischen kontrollierender und existentieller Erkenntnis unterschieden werden. In jener hat der Abstand, in dieser die Teilhabe ein Übergewicht, aber immer geschieht das Erkennen, welches zum Ziel kommt, auf beide Weisen. Ein Musterbeispiel dieses Zusammen ist der Begriff des Glaubens, der im Sinne der , f i d e s quae creditur" (belief) eher Abstand, im Sinne der , fides qua creditur" (faith) eher Teilhabe bedeutet, aber nie dieses oder jenes allein ist. Was die Begriffe Wort und Sein angeht, so begründet Brattinga seine Ansicht, daß im Erkennen des Worts die Teilhabe einen Vorrang besitzt, also ontische Qualität hat, vor allem wenn hier ein betroffen machendes Wort gemeint ist. Gerade im Wortgeschehen ereignet sich also so etwas wie eine „seinsmystische Identifikation", ein Überwältigtwerden und Hingeben. Der Begriff des Seins dagegen verbleibt eher in der Vorrangigkeit des Abstands, weil er zu allgemein ist. Auch Gottes Sein zu verstehen, ändert daran nichts. Von daher muß gefragt werden, ob Bayers Kritik einem Vorurteil aufsitzt, aber auch, ob Tillich mit seinem ontotheologischen Zugang zum Paradox der Gott-Mensch-Beziehung erreicht, was er eigentlich erreichen will. Auch der Beitrag von C.E. Winquist setzt bei der Differenzierung des Erkennens ein, wenn er - wie Tillich an anderer Stelle - vom Unterschied zwischen der ontologischen und technischen Vernunft spricht. Anders als Brattinga sieht er die Problematik der erkenntnistheoretischen Voraussetzung von Tillichs Theologie jedoch darin, daß dieser mit dem Begriff des Seins-selbst für Gott ein Absolutes begreifbar machen will, zugleich jedoch die Endlichkeit der Vernunft auch in ihrer ontologisch-technischen Komplementarität nicht überholen kann. Was bedeutet aber dann die Rede vom Unbedingten, Absoluten oder Sein-selbst angesichts der Diastase von Anspruch und Erkennbar-

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keit? Winquists Antwort lautet: Nur als Frage oder Forderung hat das Seinselbst erkennbare Bedeutung. Oder, mit einem Terminus von J. Kristeva ausgedrückt: Unbedingtes, Sein-selbst, Gott müssen erkenntnistheoretisch als ,j>rotodoxa" bewährt werden, die dem endlichen Denken nicht assimilierbar werden, auch keine Ableitungen ermöglichen. Nur eine ekstatische Vernunft mag ergriffen werden von dem, was diese Worte bedeuten, aber eine solche Erfahrung ereignet sich als Schock; sie wird nur fragmentarisch sprachlich. Gehen die Theologen also, so fragt Winquist, zu „selbst-verständlich" mit dem um, was sie Sein Gottes und Wort Gottes nennen? Den umgekehrten Zugang wählt D.F. Dreisbach, wenn er nicht nach der Kompetenz des menschlichen Erkennens für die Wirklichkeit des Worts oder gar so zentraler Worte wie „das Absolute" oder „das Sein-selbst" fragt, sondern in sprachphilosophischer Wendung bedenkt, ob Sprache oder Worte überhaupt Seinsqualität gewinnen, unbedingt angehen, zum Personzentrum des Menschen werden können. Mit kritischem Blick auf Tillich bemerkt er, daß dieser nirgendwo sage, wie das eigentlich geschieht. Ungleich verständlicher sei dagegen dessen Rede von der Partizipation des Seienden am Sein. Deshalb sei seine Sakramentstheologie, die von einer analogia entis lebt, wirksam und hilfreich. Aber wie steht es damit beim Wort? Noch unklarer als bei Piaton legten Tillichs Ausführungen hierzu nahe, daß er lediglich an eine Relation denke. Doch eine analogia relationis habe keinen Seinscharakter. Fehlt es bei Tillich also an einer wirklichen Theologie des Worts? Das könnte der Kritik Bayers recht geben, insbesondere dort, wo dieser die Seinsqualität des Worts an dessen „Leiblichkeit", das heißt am sakramentalen Handeln festmacht. In diese Kerbe schlägt, ohne daß dies angesprochen wäre, das Referat von A. Horstmann-Schneider, wenn sie der menschlichen Sprache, auch in ihrer endlichen Gestalt, allein dann Sinnträgerschaft und damit Seinsqualität zuspricht, wenn diese nicht einfach vernehmbar, sondern in einem konkreten Kontext zur Handlung wird. Im Zusammen von Wort und Situation wird Sprache existentiell, deckt sie die Fraglichkeit der Existenz auf und vermittelt Antwort. In solcher Mittlerfunktion kann das endliche Wort dann auch auf das Unendliche verweisen, wird die Subjekt-Objekt-Differenz momenthaft aufgehoben, mag vom Symbolcharakter der Worte für das Absolute die Rede sein. Aber alles liegt hier am Ereignischarakter. Insofern bleibt auch die seinsmächtigste Antwort stets ein Betroffensein von der Bedrohung der Existenz durch das Nichtsein. Noch radikaler stellt J. Ringleben die Seinsmächtigkeit des allgemeinen Redens in Frage, wenn er - Gottfried Benns Gedicht vom „Satzbau" (1955) als Leitmotiv nutzend - die Syntax ein prinzipielles Hindernis dafür nennt, Gott als das Absolute oder als das absolute Subjekt wirklich zur Sprache zu bringen. Denn die syntaktische Abfolge von Subjekt, Prädikat und Objekt usurpiere die Subjektivität immer schon für

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den Redenden und mache sie damit im Endlichen zuständlich. Mit Hegel wäre das absolute Subjekt aber „als die Bewegung des sich in sich selbst Reflektierens" zu beschreiben, welches seiend stets in ein „Sichanderswerden" übergeht. Wie aber läßt sich derlei sagend bewähren? Die Antwort lautet: durch den spekulativen Satz, der Gottes Sein in seinen Prädikaten „entstehen" läßt - und vice versa, in ständiger Bewegung. Spekulatives Reden ist somit eminent dialogisches Reden und hat jedes formallogische Urteilen hinter sich zu lassen. Auch Tillichs Rede von Gott als Sein-selbst bleibe in der Formallogik des Satzbaus gefangen; er müßte Gott „als das Selbst des Seins" denken und aussagen, wenn er ihr entgehen wolle. Eine andere als die linguistisch geprägte sprachphilosophische Annäherung an das theologische Verstehen von Sein und Wort verdankt sich ontologischen Bemühungen, gewiß in postmetaphysischer Gestalt. Hier knüpft z.B. A. J. Reimer an die späte Phase der von Habermas oder K.O. Apel ausgearbeiteten Position einer apriorischen Kommunikationsgemeinschaft an, die die traditionelle kognitiv-semantische Sprachtheorie durch pragmatisch-intersubjektive Sprachhandlungen überholt. Was Sätze und Worte wirkmächtig besagen, ist an ihrer kommunikativen „Tätigkeit" abzulesen, die so lange in den Diskurs führt, bis sie in den Konsens mündet. Von dieser Warte aus prüft Reimer das, was er Tillichs „Logos-Ontologie" nennt und deckt auf, daß sie zwischen den traditionellen Konzepten einer Bewußtseinsphilosophie und einer klassischen Metaphysik verharrt. Das bedeutet, daß ihre Kernaussagen zu abstrakt bleiben, um handlungstheoretisch relevant zu werden. Jesu praxis-orientierte Diskurssprache - z.B. in den Gleichnissen - sei dem weit überlegen. Von hier müßte, was Sein und Wort bedeutet, in ein völlig neues Licht gestellt werden. Nicht ganz so kritisch beurteilt W. Stoker in seinem Vortrag den ontologischen Gehalt dieser Begriffe bei Tillich. Denn aus Sicht einer traditionell metaphysischen Ontologie würde das Sein des göttlichen Sein-selbst als ein selbstbezügliches begriffen werden müssen, dem das Wortsein Gottes - im Sinne von Bayers Kritik an Tillich - als zukommendes gegenübersteht. Doch Tillich lege - so Stoker - das göttliche Sein-selbst bekanntlich als Macht des Seins aus, dessen Mächtigkeit einerseits als Widerstand gegen das Nichtsein, andererseits als Liebe zur Sprache kommt, kraft der das vom Sein-selbst entfremdete Sein mit diesem wiedervereinigt wird. Dies erweise das Sein-selbst und das Wortsein Gottes als gleichermaßen lebendig. Nicht abstrakte Logos-Ontologie, sondern erfahrbare personale Ontologie vereinige das Verstehen von Sein und Wort bei Tillich. Dieselbe Pointe kennzeichnet auch die Darlegungen von A.S.L. Woudenberg, in denen er sich vor allem auf Tillichs Studie über „Biblische Religion und die Frage nach dem Sein" (1955) bezieht. Darin unterscheidet Tillich strikt zwischen einer apersonalen Ontologie philosophischer Provenienz und dem biblischen

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Personalismus, der seiner theologischen Ontologie zugrunde liegt. Von daher hat das Verstehen des göttlichen Sein-selbst vom personalen Wortsein Gottes auszugehen, ohne daß deshalb zwischen beiden ein Unterschied behauptet werden kann. Im Gegenteil, Wort und Sein verbinden eine strukturelle Identität. Aus dieser Sicht leuchte Bayers Kritik an Tillich nicht recht ein. Wenn es stimmt, daß Sein und Wort für Tillichs theologische Position einander viel näher stehen, als es die Themenformulierung des Symposions insinuiert und insbesondere Bayers Kritik markiert, müßte sich dies vor allem dort spiegeln, wo das Offenbarwerden Gottes die menschliche Existenz im Ereignis eines „unbedingten Angehens" (ultimate concern) trifft. Der „Ort" dieses Betreffens hat vielerlei Gesichter; jedes von ihnen vermag als eine „Prüfende Anwendung" der Sein-Wort-Relation bezeichnet zu werden. So greift zunächst R. B. James den personalen theologischen Ansatz auf und bildet im Gefolge des Sprachdenkens von M. Buber die unbedingte Erfahrung als Erfahrung des Du-Seins Gottes im Du-Werden des Menschen ab. Anstelle von Bubers unendlichem Du-Sein Gottes, das im Menschen ebenbildlich, d.h. apriorisch-ontologisch, angelegt ist und begegnend aufgedeckt wird, sieht James in Tillichs Konzeption eine existenziale Akzentsetzung am Werk: Gottes Du-Sein „wird" erst im Du-Werden des Menschen und ist deshalb nicht Gottes Sein, sondern Gottes offenbarendem Da-Sein zuzurechnen. Auch wenn James seine Neigung für Bubers „inborn Thou" nicht verleugnen kann und will, erweist sich Tillichs Position hier als Bewährung der wirklichen Dialektik von Sein und Wort. B. Schmitz unterstreicht dies durch eine Zusammenstellung der Personalpronomen Gottes in der religiösen Sprache und ihrer trinitarischen Beziehungen „ad intra" und „ad extra", die deutlich machen, daß Gegenüber und Einswerden von Gott und Mensch ständig miteinander korrelieren, sofern religiöse Sprache Wirklichkeit bezeichnet. Kaum zufällig sind es gleich drei Beiträge, die die „prüfende Anwendung" der Sein-Wort-Zusammengehörigkeit christologisch zu bewähren versuchen. Von diesen wählt J. Grit einen synoptischen Zugang, indem er die „Caesarea-Philippi-Story" (Mk 8, 27ff par.) archetypisch auslegt: Wie in dem Christus Gottes Sein und Gottes Wort sowohl eins als auch unterschieden sind, so vermittelt die Gott-Mensch-Begegnung in Christus beides in Einheit und Unterschied, wie der Jünger-Glaube bezeugt. Auf analoge Weise nimmt sich M. de Jong einen Kernsatz paulinischen Denkens (2. Kor 5, 17) vor, um in einer zunächst überraschenden Exegese die „neue Schöpfung" zuerst auf den Christus selbst zu beziehen, ehe sie auf das „In-Christus-Sein" des Menschen als der „neuen Kreatur" übertragen wird, wobei er den Einsatzpunkt bei Paulus im Wort sieht, welches Seinscharakter im kreativen Akt gewinnt, während er bei Tillich eher eine umgekehrte Abfolge sieht, wenn dieser vom Neuen Sein handelt. Auch H. Schwarz geht in seinem systematischen Referat

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vom Wort aus und fragt, was dem Menschen eigentlich begegnet, wenn ihn das Wort als Wort Gottes betrifft. Seine Antwort lautet, daß dies nicht phänomenologisch gefaßt werden kann, sondern allein dort, wo das Offenbarwerden der Wortlichkeit Gottes in Jesus ununterscheidbar eins geworden ist. Die Wort-Seins-Einheit Jesu als des Christus stelle von daher den Maßstab aller Erörterungen über die endliche Unterscheidung von Sein und Wort in ihm dar, zumindest für eine christliche Theologie, die im Sinne des , f i d e s quaerens intellectum" den Glauben zum Grund hat. Eine andere Spiegelung der Manifestation des seinsmächtigen Wortes Gottes kann in der Geist-Gegenwart erkannt werden, wie Μ. A. Stenger ausführt. Als Geist wird das begegnende Wort erfahrbar in Gestalt unzweideutiger Wahrheit, Liebe, Macht oder Schönheit, also eminent seinsmächtig im Sinne einer aktuellen Überwindung der Spaltung von essenziellem und existentiellem Sein. Stenger zögert nicht, diese Erfahrungen mystisch zu nennen, nicht als eine Auflösung des Selbstseins in ein wesen- und konturloses Etwas, sondern als konkrete Konstitution des Selbst in Raum und Zeit. Für dessen „relationale Ontologie" lassen sich vier Merkmale ausmachen: wachsendes Selbst-Gewahrwerden, wachsende Freiheit vom Gesetz, wachsende Gemeinschaftsfähigkeit und wachsende Offenheit für letztgültige Erfahrungen. Auch A.-M. Reijnen wählt die mystisch genannte Erfahrung des unbedingten Betroffenseins durch das Wort Gottes als Bewährung der Zusammengehörigkeit von Wort und Sein. Sie verweist für Tillich auf dessen „schöpferisches Mißverständnis", mit dem er sich die chassidische Mystik Bubers angeeignet hat, der von einer Gott-Welt-Mensch-Einheit „im Atemraum des Göttlichen" spricht, zu dem das Gott-Welt-Mensch-Gegenüber in der Geschichte kontrastiert. Erfahrungen der Gott-Mensch-Begegnung geschehen so stets im „Zwischen" beider Dimensionen der Wirklichkeit; sie machen die Unterscheidung von Glauben und Handeln, Sein und Wort nötig, aber ebenso deren gegenseitige Abhängigkeit um der Wahrheit des Zwischen willen offenbar. Was bei Stenger oder Reijnen mystische Erfahrung heißt, nennt J. Richard in eher traditioneller Terminologie Glauben, versteht die Glaubenserfahrung aber - im Gegensatz zu den vom bewußten Denken eng geprägten Auslegungen bei Troeltsch oder Barth - mit Tillich als ein alle Aspekte menschlichen Wahrnehmens, Denkens oder Fühlens umgreifendes Tiefenverstehen, das nicht nur in der realen, soziokulturellen Situation des Menschen stattfindet bzw. in dieses einbricht, sondern es aufnimmt und integriert. Darum, wenn das Wort Gottes Glauben wirkt, steht es nicht im Gegensatz, sondern in der Offenheit des Seins. Glauben ist „wortvermitteltes Sein", oder es ist nicht Glauben, was sich da ereignet. Für R. Mokrosch befindet sich die Ortschaft der Bewährung einer ausgewogen im Sein und Wort Gottes gründenden Theologie Tillichs im Gewissen

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des Menschen. Dabei macht er zunächst die erstaunliche Feststellung, daß Tillich über den Gewissensbegriff nur in einem Aufsatz über das „transmoralische Gewissen" (1945/48) und noch einmal in den Ziskind-Lectures (1959) handelt, ihn vermutlich um seiner verhängnisvollen Perversion willen im Nazi-Deutschland später vermeidet. Mokrosch weist jedoch nach, daß Tillichs Gewissensverständnis eindeutig der lutherischen Wort- und Rechtfertigungslehre entstammt, zugleich jedoch um der damit konstituierten existentiellen Geltung willen darüber hinausstrebt zu dem, was er „die Stimme der essenziellen Natur des Menschen" nennt. Daß das Gewissen den Menschen derart zwischen Sein und Sollen stellt, erweist dessen Bestimmtheit sowohl aus dem fordernden göttlichen Gebotswort als auch aus dem vom Gesetz befreienden göttlichen Sein als Liebe. Während jenes in der Wirklichkeit verbleibt, ist dieses voller Seinsmacht und „richtet" jenes sogar, wie Tillich am Ende der Ziskind-Lectures vermerkt. Diese Paradoxie ist nicht überholbar. Es ist die Paradoxie von Heiligkeit und Profanität, die G. Vahanian aufgreift, um auch hier Tillichs durchgängig dialektisches Denken nachzuweisen. Allein ein solches dialektisches Vorgehen kann der Paradoxie von Ewigkeit und Zeit, Unendlichkeit und Endlichkeit gerecht werden, deren ständige gegenseitige Durchdringung und Unterscheidung weder als Identität noch als Gegenüber einseitig festzumachen ist. Dies gilt darum auch für die Thematik von Sein und Wort; jedes Entweder-Oder müßte sich ebenso wie eine Identifikation „vor Ort" bei Tillich niederschlagen, aber sein Verständnis der Beziehung von Heiligkeit und Profanität beweise das Gegenteil. Bewiesen wird schließlich das paradoxale Sowohl-als-auch von Identität und Differenz durch eine genaue Analyse von Tillichs theologischer „Methode der Korrelation", der sich W. R. Wrege in seinem Vortrag widmet. Dem Vorwurf Bayers, eben diese Methode verführe Tillich zum Identitätsüberschuß, begegnet Wrege zunächst mit dem Hinweis, daß Bayer selbst den Vorrang des Identitätsgedankens nur bei Tillichs theologischen Inhalten feststellt, aber methodisch einen solchen bei der Existenzanalyse behauptet. Wie andere Kritiker z.B. J. Clayton - übersehe Bayer dabei zwei differente Kontexte, die hier walten und miteinander korrelieren, den inhaltlichen und den formalen, die nicht auf eine gemeinsame Ebene geholt werden dürfen. Auf diese Weise verbleibt die Existenzanalyse im Horizont der Fraglichkeit, welcher der Zugriff auf die Essenz nie gelingt, während diese sich offenbaren muß und immer nur kontingent begreifbar wird. Weder vermag so das Sein das Wort zu absorbieren, noch ist das Wort aus sich selbst seinsmächtig. Beide sind, wie Tillich - oft überlesen! - sagt, voneinander abhängig und unabhängig zugleich. Unbestreitbar waren die Tage dieses Symposions voller geistiger Spannung, wenn nicht Brisanz. Es ist Oswald Bayer zu danken, daß seine poin-

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tierte Tillich-Interpretation dazu im guten Sinn des Wortes provoziert hat. Es gibt nichts Schlimmeres als ein Wissenschaftlertreffen, bei dem alle Teilnehmer im voraus wissen, wer was sagt und was am Ende herauskommt. Die Auseinandersetzung mit Bayers Vorwurf einer „seinsmystischen Unmittelbarkeit" und „Entgegenständlichung des Gegenstandes der Theologie" durch Tillich hat so im Für und Wider wichtige Impulse für die Beschäftigung mit Tillichs Theologie gebracht, der es einem bekanntlich nicht immer leicht macht mit deren Verständnis. Darin waren alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich einig. Und gewiß auch darin, daß diese Anstöße aufgegriffen und weiter entwickelt werden müssen. Die Herausgeber möchten nicht versäumen, den Herausgebern der „Theologischen Bibliothek Töpelmann" für die Aufnahme in die Reihe und damit für den konzertierenden Verbleib der wissenschaftlichen Arbeit am Lebenswerk Paul Tillichs im Verlag Walter de Gruyter (Berlin / New York) herzlich zu danken. Tbilisi / Bruchmühlbach, im März 1999

Gert Hummel, Doris Lax

·· Fundamentaltheologische Überlegungen

OSWALD BAYER

Wort und Sein I. εγω ειμι ο ov. So lautet die griechische Fassung des hebräischen Gottesnamens in der Septuaginta (Ex 3, 14). Der lebendige, verbal sich mitteilende Gottesname - als Zusage mitgehender Verläßlichkeit in freier, ungeschuldeter Gegenwart - gerinnt im Griechischen zur Selbstprädikation dessen, der schlechthin ist, zum Sein-Selbst. Damit ist in prägnanter Kürze der Konflikt benannt, auf den ich mit der kritischen Darstellung der Theologie Paul Tillichs in meinem ,,Theologie"-Buch' aufmerksam machen wollte. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist keineswegs umstandslos identisch mit dem Gott der Philosophen und Gelehrten.2 Hat die Theologie ihr Maß im verbalen Gottesnamen und in der mit ihm identischen Selbstvorstellung: „Ich bin der Herr, dein Gott!" (Ex 20, 2), dann ist die Frage, wie sie das Verhältnis von Wort und Sein bzw. von Sein und Wort zu bestimmen hat, am entscheidenden Punkt schon beantwortet: Gott ist bestimmter, weil sich selbst bestimmt habender Logos. Er ist der Logos, der Sein setzt, der dem ruft, was nicht ist, daß es sei (Rom 4, 17). „So er spricht, so geschieht's; so er gebietet, so steht's da" (Ps 33, 9). Gott als Anrufender und Anredender - auf diese Weise als Logos - ist vor dem Sein, das ja durch ihn erst ins Leben gerufen worden ist und durch das machtvolle Wort seines Schöpfungsmittlers beständig getragen wird (Hebr 1, 3). Gottes eigenes „Sein" - wenn es denn überhaupt sinnvoll oder gar notwendig ist, Gott analog 1 Oswald Bayer, Theologie (HST 1), Gütersloh 1994, 185-280. 2 Tillich betont zwar die Spannung, identifiziert dann aber doch zu schnell. Vgl. Biblische Religion und die Frage nach dem Sein, in: Gesammelte Werke (= GW) V (138-184), 184: „Gegen Pascal sage ich: der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Gott der Philosophen ist der gleiche Gott, Er ist Person und die Negation seiner selbst als Person. - DoGlaube umschließt beides: sich selbst und den Zweifel an sich selbst. Der Christus ist Jesus und die Negation Jesu. Biblische Religion ist die Verneinung und die Bejahung der Ontologie. Gelassen und tapfer in diesen Spannungen zu leben und schließlich ihre letzte Einheit in der Tiefe der eigenen Seele und der Tiefe des göttlichen Lebens zu finden, ist Aufgabe und Würde menschlichen Denkens."

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zu dem von ihm geschaffenen Sein „Sein" zuzuschreiben - ist Wort (Joh 1): Kommunikationsmacht und zur Kommunikation ermächtigend. Als „Herr" und „Schöpfer" stiftet und bewahrt er, der dreieine Gott, Gemeinschaft. „Gemeinschaft" dürfte im eingangs bezeichneten Konflikt der entscheidende Mittelbegriff sein. Fraglich jedoch ist, ob sie - um das Problem in einer idealtypischen Gegenüberstellung zu exponieren - als Seinspartizipation zu verstehen ist, wie Tillich behauptet, oder in einem Wortwechsel3 besteht, wie ich gegen Tillich geltend machen möchte. Ich riskiere aus heuristischen Gründen diese idealtypische Gegenüberstellung - wohl wissend, daß sie äußerst künstlich ist und von Vermittlungsversuchen, wie sie sich auch bei Tillich4 durchaus finden, abstrahiert; Ich bin also auf den Einwand gefaßt, daß es sich um eine falsche Alternative handle. Mit ihr zunächst jedoch zu arbeiten, dürfte das Problembewußtsein steigern. Ich beginne die Disputation mit folgender These: In der Schöpfung als der von Gott gestifteten und bewahrten Gemeinschaft verbinden sich zwei Momente unauflöslich miteinander: Gottes ungeschuldetes zur Welt Kommen und seine ebenso ungeschuldete Weltimmanenz, in der er immer schon gegenwärtig und seinen Geschöpfen näher ist, als sie sich selbst nahe sind. Anders gesagt: Gott kommt - im Wort - zu mir samt allen Kreaturen als der, der mir samt allen Kreaturen - im Wort - immer schon zuvorgekommen ist. Tillich nun, so behaupte ich, verselbständigt das zweite Moment: Gottes Weltimmanenz.5 Ja, er verabsolutiert es so sehr, daß er das erste verkennt,6 auf jeden Fall aber dahin tendiert, es zu verkennen. 3

Vgl. Oswald Bayer, Erhörte Klage, in: ders., Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen, 1992, (334-348) 337-341: „Wortwechsel". - In größerem Zusammenhang ist mein Verständnis dieses im Sinne einer ontologischen Hermeneutik oder hermeneutischen Ontologie verstandenen „Wortwechsels" zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen sowie der Geschöpfe untereinander in dem Artikel „Schöpfung. VIII. Systematisch-theologisch" (TRE, im Druck) dargestellt. Vgl. weiter meinen Aufsatz: Religionsphilosophie zwischen Ethik und Ontologie als Sprachphilosophie, in: Philosophie de la religion entre ithique et ontologie (Bibliotheca dell' Archivio di Filosofia 14), hg. v. Marco M. Olivetti, Padova 1996, 387-401.

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Vgl. dazu Anm. 6. Als Grund und Abgrund aller Wirklichkeit ist Gott der Welt ebenso immanent wie transzendent. Meine kritische Frage richtet sich darauf, ob und wie Tillich den worttheologischen Charakter der Differenz zwischen göttlicher Transzendenz und Immanenz wahrnimmt. Vgl. unten Anm. 6. In Frage gestellt wird diese These durch Tillichs Reden vom „Durchbruch" (auffallend oft in: Rechtfertigung und Zweifel [1924]: GW VIII, 85-100), von dem, was uns unbedingt „angeht", schlechthin und total „betrifft" (z.B. Systematische Theologie I, Stuttgart s 1956, 190, was in mein Leben „einbricht" und mir mit unbedingtem Anspruch „begegnet" (z.B. Das Ewige im Jetzt. Religiöse Reden, 3. Folge, Stuttgart 1964, 103). Nach Tillich partizipiere ich also nicht selbstverständlich, ruhig und kontinuierlich am Sein-

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Im Blick auf Tillichs Verabsolutierung des bezeichneten zweiten Moments spreche ich von „seinsmystischer Unmittelbarkeit"7 und schließe folgende kritische Frage an: Wie wird, wenn „seinsmystische Unmittelbarkeit" die beherrschende Grundannahme ist, die durch das Wort der Anrede gesetzte Differenz und damit das Verhältnis zwischen dem Schöpfer und seinen Geschöpfen wahrgenommen? Schärfer gefragt: Wird diese durch das anredende Wort geschaffene Differenz in ihrer konstitutiven, nämlich Gemeinschaft stiftenden Bedeutung überhaupt wahrgenommen?

II. Tillichs Theologie ist in einer entscheidenden Hinsicht Polemik gegen den philosophischen und theologischen Personalismus dieses Jahrhunderts - gegen die Rede von „Ich und Du", von der ,3egegnung" von Gott und Mensch.8 Doch Tillich trifft nicht nur, was theologisch zu Recht geschähe, die im Personalismus implizierte Weltlosigkeit und Unvermitteltheit des Gottesverhältnisses; er relativiert mit dem Personalistischen vielmehr auch das Personale und schüttet damit das Kind mit dem Bade aus. Er relativiert das Personale, wie bei Meister Eckhart, auf das Einssein des Menschen mit Gott hin, der oberhalb des Seienden, oberhalb jeder Differenzierung und Bestimmung ist. Das Einssein des Menschen ist ein Einssein, in dem kein Verhältnis zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf waltet. In dem „Gott über Gott", von dem Tillich als Pendant zum „absoluten Glauben" redet, ist jedes Verhältnis und damit jede Bestimmung Gottes, die ja immer auch Verendlichung und Einschränkung ist, aufgehoben und abgetan. Mit seiner Rede eines nicht relativen, sondern absoluten Glaubens stellt sich Tillich in die Tradition Schleiermachers, der auf den um Fichte entstandenen „Atheismusstreit" mit der These vom ungegenständlichen Glauben antwortete: Es sei nicht nötig, mit der Religion ein göttliches Gegenüber zu verbinden; „mit dem [gegenständlich] seienden und gebietenden Gott hat sie nichts zu schaf-

Selbst. Dieses hat vielmehr seine Dynamik; es ist auf mich zu in Bewegung, so daß ich „ergriffen" werde (aaO, 106-109). Fraglich ist freilich, in welcher Weise dies worthaft geschieht - so, daß ich dabei angeredet werde und antworten darf, aber auch antworten muß. 7 Theologie (s.o. Anm. 1), passim, besonders 237-252 und 276-280. 8 Tillich meint damit nicht zuletzt Emil Brunner, besonders dessen Buch: Wahrheit als Begegnung, Berlin 1938. Vgl. Einige Fragen an Emil Brunners Erkenntnistheorie (GW XII, 346-354): Gegen Brunner müsse man „die Frage aufwerfen, ob es möglich ist, der Göttlichkeit des Göttlichen gerecht zu werden, wenn man es nur in personalistischen Begriffen zu erfassen sucht" (347).

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fen." 9 In der Aufnahme dieser Tradition sucht Tillich den „modernen" Menschen in seinem grundsätzlichen Zweifel an der Existenz und Personalität Gottes zu erreichen. Er verkennt dabei freilich, daß der Mensch in seinem Glauben und Unglauben auch dann in einem Verhältnis bzw. MißVerhältnis zu Gott bleibt, wenn dieser als Gegenüber, als das angeredete Du entschwunden ist, wenn er sich verbirgt, nicht hört und dem, der zu ihm ruft, nicht antwortet. Schon 1917 schreibt Tillich an Maria Klein: „Ich bin durch konsequentes Durchdenken des Rechtfertigungsgedankens schon lange zu der Paradoxie des »Glaubens ohne Gott' gekommen [...]."10 Gemeint ist ein Glaube ohne gegenständliches, ohne anredendes und in diesem Sinne personales Gegenüber. Tillich versucht, diesen absoluten Glauben mit dem Hinweis auf das Gebet plausibel zu machen. Dessen „paradoxer" Charakter bestehe darin, zu jemandem zu sprechen, „mit dem man nicht sprechen kann, weil es kein jemand ist: in dem an jemanden eine Bitte gerichtet wird, von dem man nichts erbitten kann, weil er gibt oder nicht gibt, ehe man ihn bittet; in dem man ,Du' zu jemandem sagt, der dem Ich näher ist als das Ich sich selbst. Jedes von diesen Paradoxen treibt das religiöse Bewußtsein zu einem Gott, der über dem Gott des Theismus ist."11 Dabei ist für Tillich auch der im Wort zum Menschen kommende Gott der Bibel und der reformatorischen Theologie als der dem Menschen begegnende und ihn anredende ein im Ernstfall der Anfechtung des Zweifels zu verabschiedender Gott. Die beiden unauflöslich zusammengehörenden Momente, die sich in die besagte These fassen lassen: Gott kommt - im Wort - zu mir samt allen Kreaturen als der, der mir samt allen Kreaturen - im Wort - immer schon zuvorgekommen ist, dürfen nicht auseinandergerissen werden. Tillich konzentriert sich ausschließlich auf das zweite Moment: daß Gott immer schon beim Menschen und der Mensch immer schon bei Gott ist;12 er verabsolutiert es. Entsprechend redet er von der Sünde als Entfremdung. Deren Aufhebung führt zurück zur essentiellen Einheit, zur differenzlosen ursprünglichen Einheit von Gott und Mensch, Gott und Welt. Daß Gott im Wort zum Menschen kommt und dies die

9 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (Ph 255), hg. v. H.-J. Rothert, Hamburg 1961, 72. 10 GW Erg. V, 121 (Brief vom 5.12.1917). 11 Der Mut zum Sein, GW XI, 138.Vgl. die religiöse Rede über Rom 8, 26f (Das Paradox des Gebets) in: Das Neue Sein, Stuttgart, 3. A. 1959, (128-131) 129: „Wir sprechen mit jemandem, der nicht irgendein anderer ist, sondern der uns näher ist, als wir uns selbst sind. Wir wenden uns an jemanden, der niemals Objekt unserer Hinwendung werden kann, weil er immer Subjekt ist, immer der Handelnde, immer der Schaffende. Wir sagen ihm etwas, obwohl er nicht nur schon weiß, was wir ihm sagen, sondern auch all die unbewußten Antriebe kennt, aus denen unsere bewußten Worte stammen". 12 Vgl. jedoch oben Anm. 6.

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wahre essentielle Bestimmung des Menschen ist: ungeschuldet angeredet, geschaffen zu sein, kommt bei Tillich nicht zur Geltung. In letzter Zuspitzung denkt Tillich den Glauben als „absoluten" Glauben. Er ist das, was in der Situation des radikalen Zweifels, der Sinnlosigkeit, der Absurdität, wie sie besonders im Existentialismus philosophisch und dichterisch artikuliert wurde, allein noch bleibt - das, was der Angst vor Leere und Sinnlosigkeit allein noch standhält.„Der Mut zum Sein in seiner radikalen Form ist der Schlüssel zu einer Gottesidee, die beide transzendiert, die Mystik wie die göttlich-menschliche Begegnung." 13 Der „höchste Punkt, zu dem unsere Analyse uns führen kann", ist der „Gott über Gott". Er „transzendiert sowohl Mystik wie persönliche Begegnung, ebenso wie der absolute Glaube sowohl den Mut, [in der Partizipation] Teil eines Ganzen zu sein, wie den Mut, [in der Individuation] man selbst zu sein, transzendiert". 14 Redet Tillich von einer „Mystik", die in ihrer Positivität von dem „absoluten" Glauben hinter sich gelassen wird, dann ist „Mystik" nicht in dem Sinn gebraucht, in dem sie das Fundament auch jeder konkret geschichtlichen Form von Mystik meint. Diese fundamentale „Mystik i s t mehr als ein besonderes Verhältnis zum Seinsgrund; sie ist ein Element in jedem derartigen Verhältnis. Da alles, was ist, an der Macht des Seins partizipiert, kann das Element der Identität, auf dem die Mystik beruht, in keiner religiösen Erfahrung fehlen". 15 Man versteht Tillich nur, wenn man darauf achtet, daß er das Wort „Mystik" in diesen beiden genau voneinander zu unterscheidenden Bedeutungen verwendet. 16 Einmal ist „Mystik" für Tillich etwas ganz Grundsätzliches und Unaufgebbares: daß nämlich alles und jedes am Sein-Selbst, an Gott, als dem Grund und Abgrund des Seins „partizipiert". Mystik meint Partizipation (methexis) am Sein-Selbst. Den Charakter der in grundsätzlicher Bedeutung verstandenen „Mystik" verbindet Tillich mit dem Wort „Partizipation" - im Unterschied und polaren Gegensatz zur „Individuation"17 oder „Individualisation". „Individualisation manifestiert sich in der Funktion der Selbst-Integration durch das Prinzip der Zentriertheit."18 Solche „Individuation" bzw. „Individualisation" ist für Tillich in jeder „personalen" Beziehung, in jeder ,3egegnung", vorausgesetzt; sie betrifft das Selbst des Menschen, das in jeder personalen Beziehung und 13 14 15 16

Der Mut zum Sein, G W XI, 132. AaO, 137. AaO, 120. Vgl. auch Martin Repp, Die Transzendierung des Theismus in der Religionsphilosophie Paul Tillichs, Frankfurt (Main)/Bern/New York 1986: „Tillichs Verständnis von Mystik" (210-225). 17 AaO (s.o. Anm. 13), 118. 18 Systematische Theologie III, Stuttgart 1966, 45.

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Begegnung mitgemeint ist. Die Individuation bestimmt also den Begriff der „Person". Insgesamt gilt, „daß die Polarität von Partizipation und Individuation den besonderen Charakter" des Verhältnisses „des Menschen zu dem Grund seines Seins" bestimme.19 Auf diese Weise versucht Tillich einen Kontrapunkt zur seinsmystischen Unmittelbarkeit zu setzen;20 ein worthaftes Moment kommt damit freilich nicht ins Spiel. Von der grundsätzlichen Bedeutung streng zu unterscheiden ist die andere Bedeutung des Wortes ,Mystik". Damit sind die in der Religionsgeschichte auftretenden konkreten Formen gemeint, die ebenso transzendiert werden wie der (personalistische) Theismus und der Atheismus. Die mystische Erfahrung scheint dem absoluten Glauben näher zu sein [als die personale Begegnung von Gott und Mensch], ist es aber nicht. Der absolute Glaube schließt ein Element der Skepsis ein, das in der mystischen Erfahrung nicht vorhanden ist. Zwar transzendiert auch die Mystik alle besonderen Inhalte, aber nicht, weil sie diese bezweifelt oder sinnlos gefunden hat, sondern weil sie sie als vorläufige betrachtet. Die Mystik verwendet die besonderen Inhalte als Stufen, über die sie hinwegschreitet, nachdem sie sich auf ihnen emporgehoben hat. Die Erfahrung der Sinnlosigkeit jedoch leugnet diese Inhalte, ohne sie sich nutzbar gemacht zu haben.21

Mit dem „absoluten Glauben" meint Tillich eine Seinspartizipation, die jenseits konkreter Formen der Mystik wie konkreter Formen einerseits des (personalistischen) Theismus und andererseits des Atheismus liegt.22 In allen drei Typen - im Atheismus, Theismus und in den konkreten Formen der Mystik - findet eine jeweils verschiedene Form der Partizipation am Sein-Selbst, gleichsam an einem ,Gott unter Gott' - diesseits jeder Differenzierung statt. Alle drei Formen werden transzendiert im absoluten Glauben, im „Gott über Gott". Dabei fallen das Jenseits des „Gott über Gott" und das Dies19 AaO (s.o. Anm. 13), 118. Die systematischen Zusammenhänge sind aaO, 70-72 („Sein, Individuation und Partizipation"), dargelegt. 20 Ebd. (118): „Wenn Partizipation vorherrscht, hat das Verhältnis zum Sein-Selbst mystischen Charakter, wenn Individuation vorherrscht, hat es personhaften Charakter, worthaften Charakter, und wenn beide Pole akzeptiert und transzendiert werden, hat es den Charakter des Glaubens." 21 AaO, 131. 22 Tillich täuscht sich aber über den engen Zusammenhang, der nicht nur zwischen den konkreten Formen der Mystik und dem Atheismus, sondern durchaus auch zwischen diesem und jener fundamentalen Mystik besteht, die das letzte Fundament von Tillichs gesamter Theologie bildet. Tillich sucht dem Atheismus mit Hilfe gerade jener Tradition - der Mystik - zu begegnen, die ihn wesentlich hervorgebracht hat. Zu dieser Herkunft des Atheismus: Gerald Hanratty, The Origin and Development of Mystical Atheism; in: NZSTh 30, 1987, 1-17.

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seits des „Gott unter Gott", die Differenzlosigkeit in der Höhe und die Differenzlosigkeit in der Tiefe ineinander. Durch die drei genannten Formen hindurch gelangt Tillich zu dem Ziel, von dem er ausgeht; es ist der Ursprung im „Gott über Gott". Mit dem „absoluten" Glauben ist nur noch einmal bezeichnet, was Partizipation am Sein-Selbst bedeutet. ,»Mystik" - in der grundsätzlichen Bedeutung verstanden - wird von Tillich als „die Erfahrung der Einheit von Subjekt und Objekt definiert."23 Im Sinne dieser Definition vertritt Tillich selbst eine Seinsmystik. Dazu beruft er sich auf ein Wort von Meister Eckhart: „Zwischen Gott und der Seele gibt es weder Fremdheit noch Entfernung, die Seele ist nicht nur gleich mit Gott, sondern sie ist dasselbe, was er ist."24 Das unmittelbare Verbundensein mit dem Ursprung allen Seins, mit dem Sein-Selbst, nennt Tillich „das unmittelbare Gewahrwerden des Absoluten",25 „des Unbedingten", 26 der ,,Macht des Seins in allem, was am Sein teilhat."27 Dieses Gewahrwerden hat „den Charakter [...] der unmittelbaren Gewißheit."28 Dieser unmittelbaren Gewißheit stellt Tillich den Glauben gegenüber: „Das unmittelbare Gewahrwerden des Unbedingten hat nicht den Charakter des Glaubens, sondern den der unmittelbaren Gewißheit. Glaube enthält ein zufälliges Element und erfordert ein Wagnis. Er verbindet die ontologische Gewißheit des Unbedingten mit der Ungewißheit über alles Bedingte und Konkrete."29 Tillich weiß also durchaus, daß unmittelbare Gewißheit als solche nicht einfach vorhanden ist, daß sie vielmehr, wenn sie sich überhaupt einstellt, am Bedingten und Konkreten aufblitzt und plötzlich durchbricht; in diesem Sinne

23 Zwei Wege der Religionsphilosophie, GW V, 125. 24 Ebd. In diesem Wortlaut läßt sich das Zitat bei Eckhart nicht nachweisen. Vgl. jedoch: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, hg. von Josef Quint, Bd. 1, Stuttgart 1958, 173, 1 lf: „da von, swä got ist, da ist diu sele, und swä diu sele ist, da ist got." Vgl. aaO, 345, 1-5: , A l s o wirt alle wis daz vünkeltn in der sele ufgetragen in dem lichte und in dem heiligen geiste und also üfgetragen in den ersten ursprune und wirt so gar ein mit gote und suochet so gar in ein und ist eigentlicher ein mit gote dan diu sptse si mit minem lTbe, ja, verre me, als vil als ez luterer und edeler ist." Zum Verhältnis von Gott und Seele bei Eckhart vgl. Konrad Weiß, Meister Eckhart der Mystiker. Bemerkungen zur Eigenart der Eckhartschen Mystik, in: Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, hg. v. U. Kern, München/Mainz 1980, 103-120. 25 26 27 28 29

AaO (s.o. Anm. 23). 133. AaO, 135. AaO, 133. AaO, 135. Ebd.

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kennt Tillich also durchaus ein Kommen Gottes. Das konkrete Kommen aber ist immer das empirisch Zufällige. Nur in ihm kann die unmittelbare Gewißheit erscheinen. Doch ist für Tillich eine solche konkrete Verleiblichung30 in ihrer Kontingenz immer schon ein Zeichen der Entfremdung, nicht seinsnotwendig. Darin zeigt sich der große Unterschied der Theologie Tillichs zu einer vollen Bejahung des Geschichtlichen und Kontingenten, die den Sachverhalt der Verleiblichung nicht bedauert, sondern in ihm das Sein selbst sieht (Joh 1, 14). Wir sehen: Den konkreten Pol übergeht Tillich keineswegs, bringt ihn aber nicht wirklich zur Geltung. Zwar betont er: „Glaube umfaßt beides, mystische Partizipation und persönliches Vertrauen."31 Doch erhält die differenzlose Einheit das Übergewicht über das persönliche Vertrauen des relativen - auf die konkrete, gestalthafte Zusage bezogenen - Glaubens. Im scharfen Gegensatz zu solcher fides ad promissionem relata32 hat nach Tillich der Glaube keinen besonderen Inhalt. „Er ist einfach Glaube - ohne auf etwas Bestimmtes gerichtet zu sein, absoluter Glaube." 33 Das Gleichgewicht zwischen Konkretem und Universalem, zwischen Gestalt und Prinzip, zwischen Differenz und Einheit, Vermitteltem und Unmittelbarem sucht Tillich durchaus zu wahren. Doch landet er zuletzt immer wieder auf der Seite des Universalen, des Prinzips, der Einheit, der Unmittelbarkeit. Der „absolute" Glaube stellt dabei die tiefste Seinspartizipation dar. Er ist keine Form, er hat keine Form, keinen Gegenstand, kein Gegenüber - wie der „persönliche" Glaube. Er hat keine worthafte Struktur, es sei denn im Sinne eines universalen Logos, der aber mit der viva vox eines leiblichen Wortes nichts oder nur ganz entfernt34 zu tun hat.35 Dem, dessen ich immer schon inne, mit dem ich immer schon identisch bin, kann ich nicht aufmerksam hörend begegnen; es kann mich höchstens diffus und neutrisch „angehen" oder „ergreifen".36 Mit dem Worthaften ist jede bestimmte und gewisse „Begegnung" mit Gott verschwunden. Jedes „Verhältnis" zu Gott ist ins Überwesentliche bzw., was auf dasselbe hinausläuft, ins Wesenlose des „Gott-über-Gott" versunken - in, „um eine mystische Formel zu gebrauchen, das Überseiende, was zugleich das Nichts und das Etwas schlechthin ist."37 30 Vgl. bes. die in GW VII (Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung) zusammengestellten Texte. 31 AaO (s.o. Anm. 13), 120. 32 Vgl. Melanchthons Capita: „fides proprie relata ad promissionem est fides iustificans" (CR 21, 35f [18 b]). 33 AaO (s.o. Anm. 13), 130. 34 Vgl. „Wort Gottes", GW XIII, 70-81. 35 Vgl. auch Martin Seils, Zur Problematik des Verhältnisses von Sein und Wort in der Theologie Tillichs, in: ThLZ 85, 1960, 867-870. 36 Vgl. o. Anm. 6. 37 Über die Idee einer Theologie der Kultur, GW IX, 18.

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Mit seiner Rede von „Gott über Gott" und vom „absoluten" Glauben versinkt Tillich ganz und gar im Unbestimmten und Unbestimmbaren - und damit im Nichts, von dem Tillich behauptet, es sei vom Sein-Selbst verschlungen, von dessen Macht überwunden, in das Sein-Selbst hineingenommen. Tillich behauptet dies, ohne die Frage zu beantworten, wo und wie eine solche Überwindung - eindeutig und gewißmachend - konkret geschieht. Diese Frage, auf die Luther in der reformatorischen Wende seiner selbst und seiner Theologie die Antwort fand, interessiert Tillich im springenden Punkt seiner Theologie nicht. Kann aber gerade dort, wo es um die Gewißheit, um Tod oder Leben, Sein oder Nichtsein geht, die Eindeutigkeit fehlen? Nach der Theologie Luthers jedenfalls ist ohne Eindeutigkeit des Wortes keine Gewißheit des Glaubens möglich. Es ist erstaunlich und für seine Theologie bezeichnend, daß Tillich an diesem nervus rerum Luthers Theologie buchstäblich umkehrt. Liegt nach Luther, etwa seiner Auslegung von Jona 1, 5 zufolge, 38 die Grundgewißheit darin, dessen gewiß zu sein, wer Gott ist, wer er mir - in konkretester, eindeutiger Zuspitzung worthafter Begegnung - ist, so liegt nach Tillich die seinsmystische Grundgewißheit eben darin, daß jede Bestimmung ins Wesenlose bzw. Überwesentliche versunken und verschwunden ist. Für Luther ist gerade dies der Zustand größter Heillosigkeit. Erst die Eindeutigkeit und Präzision des Heilswortes, der Heilszusage, schafft die Gewißheit der Verbundenheit mit Gott, der Gemeinschaft mit ihm. Der Glaube gründet in solchem Heilswort. Er ist immer Glaube an ...; er ist per definitionem bezogener, relativer Glaube - niemals absolut. Tillich aber reißt „unmittelbare Gewißheit" und „Glauben", die bei Luther unauflöslich zusammengehören, auseinander; er statuiert eine Disjunktion: „Das unmittelbare Gewahrwerden des Unbedingten hat nicht den Charakter des Glaubens, sondern den der unmittelbaren Gewißheit." 39 Der Glaube sei dadurch charakterisiert, daß er „die ontologische Gewißheit des Unbedingten mit der Ungewißheit über alles Bedingte und Konkrete" verbinde.40 Es zeigt sich darin eine für Tillich bestimmende Prämisse: die prinzipielle Unterscheidung von Unbedingtem und Bedingtem, mit der er auf philosophische Weise die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf wahrzunehmen sucht. Doch kann das Bedingte das Unbedingte höchstens repräsentieren, aber niemals selbst sein. Beanspruchte ein Bedingtes, das Unbedingte selbst zu sein, würde es zum Götzen:

38 WA 19, 208, 21 f. Vgl. als Ausführung dieses zusammenfassenden Satzes: aaO 206, 31 207, 13. 39 AaO (s.o. Anm. 23), 135. 40 Ebd.

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Von hier aus fragt sich, ob und wie Tillich den Satz: „Gott ist Mensch" zur Geltung bringen kann.41 Eine bestimmte Heilszusage führte nach Tillich als solche, in ihrer Konkretion, in „Ungewißheit"42 - weil sie zufallig, geschichtlich bedingt ist. Bedingtes bringe Ungewißheit mit sich; nur das Unbedingte bringe Gewißheit. So reißt Tillich Grundgewißheit und Glaubensgewißheit, Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung auseinander. Zwar sieht er die Zweideutigkeit der Grundoffenbarung, die ja Offenbarung des Grundes und des Abgrundes ist, hält aber an ihrer Unmittelbarkeit fest. Andererseits bringt die Heilsoffenbarung ihre Eindeutigkeit nur um den Preis der Verknüpfung mit Partikularem und Bedingtem: mit diesem Land Palästina, dieser Stadt Jerusalem, diesem Menschen Jesus von Nazareth. Die Wendung der „zweideutigen Grundoffenbarung zur eindeutigen göttlichen Heilsoffenbarung"43 erfolgt nur durch die Verknüpfung des Unbedingten mit Bedingtem. Dies ist für Tillich letztlich ein Mangel. Zwar kann das Unbedingte sich nur im Bedingten manifestieren; es muß konkret Gestalt gewinnen, um faßbar zu sein. Aber dies bleibt für Tillich letztlich eine Minderung und Herabwürdigung des Unbedingten. Den Modus der Begegnung sucht er prinzipiell zugunsten des unbedingten Selbst aufzuheben. Er transzendiert alles Partikulare immer wieder auf die Unmittelbarkeit des Durchbruchs der Grundoffenbarung hin; er führt die Heilsoffenbarung auf die Grundoffenbarung zurück, um sie im namenlosen Allgemeinen des Seins-Selbst untergehen zu lassen. Ja, er sieht in diesem allem Bedingten gegenüber kritischen, relativierenden Rückgang geradezu das protestantische Prinzip. Dieses fordert nach Tillich, daß der Kampf gegen die neben dem einen Gott Geltung beanspruchenden Götter auch die Negation der Konkretion und Personalität dieses einen Gottes einschließt. Tillich wendet das Erste Gebot auch auf die Evangeliumspräambel des Dekalogs an und negiert die Positivität der Selbstvorstellung Gottes; selbst auf sie wird das Bilderverbot bezogen, das er damit methodisch zu philosophischer Allgemeingültigkeit erhebt. Verkannt ist dabei aber, daß Gott selbst sich ein Bild gemacht und sich definitiv festgelegt hat: im Wort, das Fleisch wurde. Tillichs philosophische Versuche, die theologischen Sachverhalte zu erfassen, scheitern also am Geheimnis von Gottes Kondeszendenz, seiner Demut, die sich nicht erst in seiner Menschwerdung, sondern schon in der Schöpfung bekundet und die er nicht minder als Heiliger Geist erweist, indem er seine 41 Dort, wo der christliche Glaube zwischen Unbedingtem und Bedingtem gerade nicht unterscheidet, unterscheidet, ja, trennt Tillich. Dort, wo der christliche Glaube strikt unterscheidet - zwischen Schöpfer und Geschöpf - dort identifiziert Tillich. 42 AaO (s.o. Anm. 23), 135. 43 AaO (s.o. Anm. 6), 98.

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Gemeinschaft in solch unansehnlichen, partikularen, anstößigen Geschichten mitteilt, wie sie im Alten und im Neuen Testament erzählt werden. Daß der Kondeszendenzgedanke und die mit ihm zusammenhängende Bestimmtheit des Wortes bei Tillich keine entscheidende Rolle spielt, zeigt sich zugespitzt in seiner Christologie, die lediglich eine Manifestationschristologie ist.44

III. Tillich folgt jener Gotteslehre, nach der „Gott" durch die transzendentale Frage erschlossen und als „Grund", „Urgrund" oder , Abgrund" prädiziert wird. Als solcher ist er vor aller Welt und in aller Welt; er ist überall gegenwärtig und damit nirgends zu greifen. So ist der durch die transzendentale Frage erschlossene Gottesbegriff zwar universal: Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit, zugleich aber ungeheuer abstrakt. Seine Abstraktheit und der in ihr liegende Nihilismus werden weithin gar nicht mehr als Problem empfunden. Da „Gott" als der eine Grund aller Wirklichkeit mich immer und überall unbedingt angeht oder angehen kann, wird nicht mehr gefragt, wie und wo er mir so begegnet, daß ich gewiß sein darf, daß er mir begegnet, ja mir, ohne ins Nichts zu verschwinden oder mich zunichte zu machen und zu verzehren, überhaupt begegnet. Daß Tillich in seiner Systematischen Theologie von Taufe und Herrenmahl, weil alles Weltliche zum Symbol und Sakrament werden kann, konsequenterweise - fast45 - schweigt, beleuchtet die besagte Abstraktheit nur besonders grell. Es bedarf der Besinnung auf den konkreten Ort der Gotteserfahrung und ihr bleibendes Kriterium. Sonst treibt man in eine diffuse Weite oder wendet sich auf die in sich differenzlose Einheit eines durch die transzendentale Frage erschlossenen Grundes zurück. Beidesmal wird man Gottes nicht gewiß.

44 Vgl. Theologie (s.o. Anm. 1), 252-254. Vgl. Oswald Bayer, Paradox. Eine Skizze, in: Das theologische Paradox. Beiträge des V. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main 1994, hg. v. Gert Hummel (TBT 74), Berlin/New York 1995, (3-8) 7f. 45 Vgl. Systematische Theologie III (s.o. Anm. 18), 144-153.

ERDMANN STURM

Sein oder Wort? Zu Oswald Bayers Tillich-Interpretation1 In der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Handbuch Systematischer Theologie stellt Carl Heinz Ratschow die Frage, „ob das vielberufene ,reformatorische Erbe' heute mehr ist als eine verbale Kennzeichnung, der kein Inhalt mehr entspricht"2. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die 4. Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Helsinki 1963 über die Rechtfertigungslehre. Die historische Bedeutung dieses Lehrstücks könne man, so Ratschow, „gut begreifen", aber der Glaube evangelischer Christen sei „aus der Glaubens-Frage und Glaubens-Antwort offenbar ausgewandert, die hinter der Rechtfertigungslehre steht"3. Vier Jahrhunderte nach der Reformation stelle sich der christliche Glaube „im Widerschein der eigentümlich neuzeitlichen Beleuchtung ebenso andersartig [dar] ... , wie sich der denkerische Ausdruck des Glaubens unter den Bedingungen, die das moderne Denken setzte, verändert hat"4. Der geistige Aufschwung, der sich mit der Aufklärung vollzogen habe und sich in die Gegenwart fortsetze, habe die theologische Reflexion besonders stark betroffen, weil die denkerische Selbst- und Weltvergewisserung seit der Reformation „radikalen Veränderungen" unterliege. Aber auch der evangelische Glaube habe sich den Wandlungen dieser vier Jahrhunderte nicht entziehen können. Anhand wichtiger systematischtheologischer Fragestellungen sollen die Beiträge des Handbuchs feststellen, ob und wie sich vom 16. zum 20. Jahrhundert die evangelische Theologie

1 In: Theologie (Handbuch Systematischer Theologie. Hg. v. Carl Heinz Ratschow. Band 1), Gütersloh 1994, S. 185-280. 297-299. Die Seitenzahlen der Zitate werden im Text jeweils in Klammern angegeben. Abkürzungen: GW = Paul Tillich, Gesammelte Werke, hg. von Renate Albrecht, 14 Bde.; Stuttgart 1959ff. ST = Systematic Theology I-III, Chicago 1951-63/Systematische Theologie I-III, Stuttgart 1956-66. Seitenangaben der engl, und deutschen Ausgabe, z.B. ST I 125/150. MW/HW = Paul Tillich, Main Works/ Hauptwerke (ed./Hg. Carl Heinz Ratschow), Berlin/New York 1987ff. 2 Albrecht Peters, Gesetz und Evangelium (Handbuch Systematischer Theologie. Hg. von Carl Heinz Ratschow. Band 2), Gütersloh 1981, S. 17. Die Einleitung fehlt in Band 1. 3 Ebd., S. 17. 4 Ebd., S. 18.

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verändert hat und mit ihr möglicherweise auch der Glaube. So werden einerseits die reformatorischen Positionen (Luther, Melanchthon, Calvin) erhoben, andererseits drei repräsentative Positionen der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts dargestellt und mit den reformatorischen Positionen verglichen: Paul Althaus, Paul Tillich und Karl Barth. Damit stellt sich das Thema: Reformation und Neuzeit in ihrem Verhältnis zueinander. Hier wird allerdings die Theologie des 16. Jahrhunderts unmittelbar mit der des 20. Jahrhunderts konfrontiert, als ob zwischen Luther und Tillich ζ. B. nicht auch Kant oder Schleiermacher stehen. Die tiefen Veränderungen im Verhältnis zwischen reformatorischer und moderner Theologie, von denen Ratschow spricht, treten in Tillichs Denken gewiß zutage, sie gehen aber nicht auf Tillich selbst zurück. Tillich war, im Unterschied ζ. B. zu Karl Holl oder Rudolf Hermann, kein Lutherforscher und wollte es nicht sein. Er war ein universaler Geist, ein mit der griechischen Philosophie, der altkirchlichen und mittelalterlichen (franziskanischen) Theologie, auch der Mystik, vertrauter und eklektisch-schöpferisch umgehender Systematiker, zweifellos ein lutherischer Theologe, früh und nachhaltig beeinflußt durch „lutherische" Philosophen wie Böhme, Kant, Fichte, Baader, Hegel, Schelling und Kierkegaard, ebenso aber auch durch Nietzsche. Tillich war gleichwohl alles andere als ein „konfessioneller" Lutheraner. In seinem Denken verbinden sich „katholische Substanz" und „protestantisches Prinzip", ohne sich gegenseitig aufzuheben. Der Satz gratia naturam non tollit, sed perficit, den er bejaht, steht neben seiner Theologie vom konkreten Paradox. So gesehen, steht er Leibniz näher als Luther. Dies ist immer zu bedenken, wenn man seine Theologie mit der Luthers konfrontiert. Hinzu kommt ein weiterer und wichtiger Gesichtspunkt. Wir können Tillichs Theologie nur verstehen, wenn wir sie als Theologie angesichts der Krise der Moderne begreifen, d.h. angesichts des neuzeitlichen Nihilismus, der Erfahrung des Nichts und der Sinnlosigkeit, des Versinkens der Aufklärung in Barbarei und Heteronomie. Die moderne Kultur enthüllt sich ihm auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges in ihrer ganzen Abgründigkeit als unter einem schlechthinnigen Nein stehend. Freilich, was diese Unbedingtheitserfahrung vom Nihilismus unterscheidet, ist die Erfahrung des unbedingten Ja in diesem Nein, des Tragenden, des unbedingten Sinnes. Diese paradoxe Unbedingtheitserfahrung ist sozusagen das Urerlebnis, das in seiner Übertragung der lutherischen Rechtfertigungslehre auf das Gebiet des Erkennens, deren Deutung als Rechtfertigung des radikalen Zweifels und damit auch der von Oswald Bayer Tillich zum Vorwurf gemachten Entgegenständlichung Gottes bzw. seiner Ontologie zugrundeliegt. Denn der Gottesgedanke wird mit hineingerissen in diese Erfahrung des radikalen Ja auf Grund der Erfahrung der Nichtigkeit. Es ist bezeichnend, daß Tillich diesen in die Krise

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hineingerissenen Gottesgedanken mit Hilfe der mystischen Tradition mit dem plotinischen Begriff des Überseienden umdeutet (GW IX 18).5 Eine für den Leser der Bände des Handbuchs Systematischer Theologie wichtige Frage ist diese: Wie werden die von C. H. Ratschow angedeuteten tiefgreifenden Veränderungen des theologischen Denkens ihrerseits theologisch bewertet? Werden sie ausschließlich an Luther, Melanchthon, Calvin gemessen und dann als unreformatorisch abgelehnt oder werden sie an der Frage gemessen, ob sie (mit Ratschow zu sprechen) „denkerischer Ausdruck des Glaubens unter den Bedingungen [sind], die das moderne Denken setzte"? Wie kein anderer der bisher erschienenen Tillich gewidmeten Beiträge des Handbuchs Systematischer Theologie zeigt der Beitrag von Oswald Bayer den Abstand Tillichs von Luthers Theologie. Für ihn lassen sich Luthers und Tillichs Theologie „dem Grundtypus nach nicht vereinbaren" (273). Tillichs mit dem Sinnbegriff argumentierende Rechtfertigungslehre sei „keine Neuinterpretation der biblisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre, die vom Wort bestimmt ist und nicht vom Sinn". Es hätte allerdings der Anregung Carl Heinz Ratschows entsprochen, nicht nur den Wandlungen der theologischen Reflexion seit dem 16. Jahrhundert nachzugehen, sondern auch zu fragen, ob und wie - aufgrund der Veränderungen im Selbst- und Weltverständnis seit dem 16. Jahrhundert und in der theologischen Reflexion - sich auch der Glaube evangelischer Christen geändert hat. Sind, so muß man doch fragen, die von Luther und Tillich formulierten Reflexionsgestalten der Rechtfertigung auch für den heutigen Glauben evangelischer Christen miteinander unvereinbar? Wird Rechtfertigung - ich rede mit Carl Heinz Ratschow vom Glauben heutiger Christen und nicht von der theologischen Reflexion professioneller Theologen - heute wirklich mit Luther ausschließlich in einer „vom Wort" her bestimmten Weise und nicht - mit Tillich - „vom göttlichen Geist" oder „vom Sinn" her verstanden? Ich behaupte, daß die von Carl Heinz Ratschow angedeuteten „tiefgreifenden Veränderungen" im Glauben von Christen sich gerade an diesem für den Protestantismus zentralen Punkt gut aufzeigen lassen. Rechtfertigungsglaube und Rechtfertigungsbotschaft können heute durchaus mit der Sinnfrage in Zusammenhang gebracht werden.6 5 Vgl. dazu: Martin Repp, Die Transzendierung des Theismus in der Religionsphilosophie Paul Tillichs. Frankfurt am Main u.a. 1986. Zu beachten ist die im Titel angedeutete Unterscheidung von Religionsphilosophie und (Systematischer) Theologie. 6 Vgl. auch: Rechtfertigung heute. Studien und Berichte. Herausgegeben von der Theologischen Kommission und Abteilung des Lutherischen Weltbundes. Beiheft zur Lutherischen Rundschau, Stuttgart 1965. Das Vollversammlungsdokument beginnt mit folgenden Feststellungen: „Das reformatorische Zeugnis von der Rechtfertigung aus Glauben allein war die Antwort auf die existentielle Frage: ,Wie kriege ich einen gnädigen Gott?'

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I. Theologie des Wortes und Logos-Theologie Tillich habe den Anspruch erhoben, so Bayer, Luthers Rechtfertigungslehre im neuzeitlichen Kontext zur Geltung zu bringen. Für Bayer ist „zur Explikation und zur Prüfung" dieses Anspruchs auf dasjenige Medium zu achten, „durch das und in dem nach reformatorischem Verständnis der rechtfertigende Glaube nicht nur mitgeteilt und erlangt wird, sondern auch entsteht: auf das Wort" (236). Bei der Behandlung der Methode der Korrelation zeigt Bayer, daß Tillich Luthers Korrelation von promissio und fides ersetzt habe durch die Korrelation von Frage und Antwort. Bayer gelangt zu dem Ergebnis: „Eine auf Wort und Glaube und damit auf die Unterscheidung, Beziehung und Begegnung von Gott und Mensch, des homo peccator und des deus iustificans, konzentrierte und sich konzentrierende Theologie wie die Luthers einerseits und eine seinsmystisch-identitätsphilosophische Theologie wie die Tillichs andererseits lassen sich dem Grundtypus nach nicht vereinbaren. Tillichs der Kategorie des ,Sinns' verpflichtete Rechtfertigungslehre ist keine Neuinterpretation der biblisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre, die vom Wort bestimmt ist und nicht vom Sinn" (273). Bayers These, mit der er Tillichs Theologie prüft, lautet: „Gott kommt, im Wort, zum Menschen als der, der ihm, im Wort, immer schon zuvorgekommen ist" (242). Beide Elemente dieses Satzes, so Bayer, dürfen nicht auseinandergerissen werden. Tillich aber konzentriere sich „in seinem Essentialismus" ausschließlich auf das zweite Element, wonach Gott immer schon beim Menschen und der Mensch immer schon bei Gott sei und zwar seinsmystisch und im Sinne der Identitätsphilosophie. Am Ende seines Beitrages modifiziert Bayer sein Kriterium ein wenig, indem er ein mystisches Element in es aufnimmt: „Gott [kommt] im Wort zu mir als der ..., der mir im Wort immer schon zuvorgekommen und in mir ist" (280). Diesem Kriterium könnte Tillich m.E. zweifellos zustimmen, vorausgesetzt, daß dies eine symbolische Rede ist und daß sie nicht die einzige Möglichkeit darstellt, vom Verhältnis Gott und Mensch zu sprechen. Entscheidend aber ist für Bayer, daß Gott „im Wort" zu mir gekommen ist bzw. kommt, und zwar exklusiv „im Wort". InIn der Welt, in der wir heute leben, ist diese Frage fast verstummt. Geblieben ist die Frage: ,Wie bekommt mein Leben einen Sinn?' Indem der Mensch nach dem Sinn seines Lebens sucht, steht er auch unter dem Zwang, seine eigene Existenz vor sich und seinen Mitmenschen zu rechtfertigen. Nach den Maßstäben, die er sich selbst setzt, beurteilt er auch seine Mitmenschen. Daher ist die Menschheit voll von Vertrauen auf die eigene Leistung. Sie ist voll von dem Verlangen nach Anerkennung und Ruhm. Sie ist aber auch voll von gegenseitiger Anklage und Verurteilung. Leben nicht alle unter dem Zwang, Zukunftsbildern nachzujagen, von denen sie die Bestätigung ihres Lebens erwarten?" (ebd., S. 7).

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dem Tillich, so fährt Bayer fort, „das Moment der Immanenz", also das „Gott-in-mir" isoliere, verabsolutiere er es zu „einer seinsmystischen Unmittelbarkeit" (280). In der Tat, Tillich ist kein Vertreter einer Theologie des Wortes Gottes bzw. einer Worttheologie, wie er sie in der Gestalt der Theologie Karl Barths, Rudolf Bultmanns und auch Gerhard Ebelings kennengelernt hatte. Er hat auch Luthers Theologie nicht im Sinne der Worttheologie (wie z.B. Ernst Bizer und Oswald Bayer) gedeutet. Er steht Karl Holls Luther-Deutung näher als der Gerhard Ebelings. Freilich geht er in dem Versuch, Luthers Rechtfertigungslehre heute zur Geltung zu bringen, bewußt andere Wege als Karl Holl. Bayer ordnet Tillichs Theologie „dem Typus nach" nicht in die reformatorische Theologie Luthers ein, sondern in dessen vorreformatorische (269 Anm. 261). Der vorreformatorischen Theologie Luthers fehlt, wie Bayer in seinem Buch Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie7 gezeigt hat, die „promissionale Dimension", die ein konstitutives Element der reformatorischen Wende in Luthers Theologie ist. Die Gotteslehre der vorreformatorischen Theologie Luthers sei „durch und durch philosophische Theologie", sie hat „als Existenzmetaphysik" zu gelten, in der Gott sich nur via negationis definieren lasse. Was Gott und der Mensch sei, liege „im Ungewissen" und spreche sich nicht „in der Eindeutigkeit des mündlichen Vergebungswortes zu, um so den Menschen in heilsame Gewißheit zu sammeln, sondern legt sich in der Bewegung ständiger exinanitio aus, in der man des Heils nicht gewiß ist, ja, um ihrer Dauer willen, nicht gewiß sein darf' 8 . Es fehlt also das äußere, mündliche, eindeutige Vergebungswort, „die Autorität eines Wortes als des gewißmachenden Zuspruchs der Vergebung der Sünde und der Überwindung des Todes, für den sich Christus verbürgt"9. Bezeichnend für Luthers vorreformatorische Theologie ist die Tatsache, daß bei ihm die Gnade nicht als Gnadenwort begegnet, sondern „im Gericht, das in sich in Gnade umschlägt bzw. gleitend in sie übergeht"10 Für die reformatorische Theologie Luthers aber gelte, „daß dem Gesetz - selbst in seiner schärfsten Zuspitzung - nicht das Evangelium erwächst, daß aus sich heraus der Tod nicht in Leben, das Kreuz nicht in Heil, das Sündenbekenntnis nicht in Sündenvergebung, die Bitte nicht in Erhörung, Not nicht in Errettung, radikale Fraglichkeit nicht in Gewißheit, die Negation nicht in die Position umschlägt"11. Damit wendet sich Bayer gegen Friedrich Gogarten, in seiner Til7 8 9 10 11

Göttingen 1971, 2. Aufl. Darmstadt 1989. Ebd., S. 340. Ebd., S. 341. Ebd., S. 339. Ebd., S. 344.

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lich-Darstellung entsprechend gegen Tillich. Treffe es denn wirklich zu, fragt Bayer, daß „Gottes Freispruch in den nirgends zu greifenden immanenten ,Umschlag' der Sinnleere in Sinnfülle ausgewandert ist?" (269) In der Tat kann Tillich, wenn er von der Unbedingtheitserfahrung spricht, die Metapher „umschlagen" verwenden (das radikale Nein schlägt um in das radikale Ja, GW IX 18). Immerhin erinnert die Metapher Ja bzw. Bejahung an die promissio. Andere Metaphern im Kontext der Unbedingtheitserfahrung sind: sich aufzwingen, erschüttern, „neu aufbauen", durchbrechen. Freilich: Das Ja, das sich nach Tillich „durch die Dinge hindurch aufzwingt", ist kein äußeres, mündliches Ja im Sinne des Vergebungswortes, für das sich Jesus Christus verbürgt. Dieser für Luther konstitutive Kontext fehlt bei Tillich. Das Ja ist „die letzte, tiefste, alles erschütternde und alles neu bauende Sinnwirklichkeit" (GW IX 18). Tillich denkt nicht, wie der reformatorische Luther, worttheologisch und promissional, sondern onto-soteriologisch. Die Gründe, weshalb Tillich nicht mehr wie Luther im Schema von promissio und fides denkt, liegen auf der Hand: Theologie, wenn sie apologetisch im Sinne des Angriffs sein will (es geht ihm nicht um bloße Verständlichkeit der Sprache und schon gar nicht um Ausweisbarkeit 12 ), kann religiöse Sprache, wie sie im Begriff „mündliches, äußeres Vergebungswort" vorliegt, nicht einfach wiederholen, sondern muß sie interpretieren. Tillich konzipiert seine Theologie für Menschen, die wie er selbst 400 Jahre nach Luther nicht mehr wie Luther denken und sprechen. Wo wie bei Tillich die promissio als äußerliches, mündliches Wort fehlt und an ihre Stelle seinsmystische Unmittelbarkeit tritt, bleiben wir nach Bayer ganz und gar im Bereich des Unbestimmten und Unbestimmbaren. Tillich behaupte einfach, das Nichts sei „von dem Sein-Selbst verschlungen, von dessen Macht überwunden, in das Sein-Selbst hineingenommen" (250). Tillich beantworte aber nicht die Frage, „wo und wie eine solche Überwindung konkret geschieht" (250). Die Antwort, die Luther auf diese Frage „in der reformatorischen Wende seiner selbst" in der Abkehr von der vorreformatorischen Existenzmetaphysik und mit seiner Entdeckung der promissiofides-Relation gegeben habe, interessiere Tillich „im springenden Punkt sei-

12 Bayers Behauptung, die Gemeinsamkeit Tiilichs mit Schleiermacher drücke sich in dem Postulat aus, „daß das Paradox ,als Antwort verstanden werden können' [ST I, S. 17] muß", trifft sicher zu. Doch was heißt - für Schleiermacher und für Tillich - „verstehen"? Tillich formuliert immerhin im engl. Text: „in terms which are felt to be an answer" (ST I, S. 7). Auch hier zeigt sich die Nähe zu Schleiermacher. Doch Bayer fährt fort: „Es [sc.: das Paradox] muß verständlich sein und in seiner Verständlichkeit jedem von vornherein ausgewiesen werden können und einleuchten" (210). Ein solches Postulat im Sinne von allgemeiner Ausweisbarkeit würde Tillich als flach und „naturalistisch" zurückweisen.

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ner Theologie" nicht (250). Für Luther aber sei die Gewißheit des Glaubens „ohne Eindeutigkeit des Wortes" nicht möglich (250). Daß nach Luther die Grundgewißheit darin liegt, „dessen gewiß zu sein, wer Gott ist, wer er mir - in konkretester, eindeutiger Zuspitzung worthafter Begegnung - ist" (200), soll nach Bayer Luthers Auslegung von Jona 1, 15 von 1526 zeigen (200)13. Während für Tillich die Grundgewißheit eben darin bestehe, „daß jede Bestimmung ins Wesenlose bzw. Überwesentliche versunken und verschwunden ist" (250f), sei für Luther gerade dieses Versinken ins Wesenlose „der Zustand größter Heillosigkeit" (251). „Erst die Eindeutigkeit und Präzision des Heilswortes" (251) schaffe nach Luther die Gewißheit der Verbundenheit mit Gott. Es fällt auf, daß Bayer in diesem Zusammenhang die an Tillichs Begriff „Teilhabe" erinnernden Begriffe „Verbundenheit mit Gott" und „Gemeinschaft mit ihm" verwendet und sich also der Terminologie der Mystik bedient, aber er erinnert an Luthers Auffassung, daß solche „Gewißheit der Verbundenheit mit Gott" durch die Eindeutigkeit des Heilswortes zustandekommt, die er bei Tillich vermißt. Blicken wir nun auf Luthers Auslegung der Stelle Jona 1, 15, auf die Bayer in diesem Zusammenhang verweist, so stellen wir fest: Luther unterscheidet zwischen dem rechten, wahren Gott (es ist der Gott, den Jona anruft) und dem Gott des Eigendünkels, den die Leute im Schiff anrufen; diese wissen alle irgendwie von Gott, „sie haben aber keynen gewissen Gott. Denn ,ein iglicher', spricht er, ,rieff seynen Gott an', das ist seynen dunckel [= Dünkel] odder das das er fur Gott hielt ynn seynem synn. Darumb feylen sie alle des eynigen rechten Gotts und haben eytel abegotter unter Gottis namen und ehre". 14 Der Abgott läßt die Menschen in der Not verzweifeln, während der wahre Gott denen hilft, die ihn anrufen, und also mit Recht Gott heißt. Die Unterscheidung zwischen Gott und den Götzen ist allerdings auch für Tillich eine zentrale Thematik. Luther biegt sie nun sofort um in die Rechtfertigungsthematik. Der rechte, wahre Gott ist nicht der, den die Papisten als Gott verehren, sondern der, „dem man nicht mit wercken, sondern mit rechtem glauben von reynem hertzen dienet, der seyne gnade und güter lauter umbsonst on wercke und verdienst gibt und schenckt; das gleuben sie nicht." 15 Für Luther ist also das Kriterium von Gott und Abgott die Rechtfertigung durch den Glauben. Die von Bayer als Kriterium herangezogene promissio-Thematik taucht in dem von ihm angezeigten Text Luthers nicht auf.

13 Vgl. Luther, Der Prophet Jona ausgelegt (1526), WA 19, 169-251. 14 WA 19,208,22-25. 15 WA 19,207,27-29.

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Tillich sieht in der „Theologie des gesprochenen oder geschriebenen Wortes" eine Schwäche des Protestantismus 16 . Unter „Wort Gottes" werde im Protestantismus „oft halb wörtlich, halb symbolisch" ein gesprochenes Wort verstanden. Theologie des Wortes werde im Protestantismus als Theologie des gesprochenen Wortes dargeboten. Gleichwohl vertritt Tillich eine Theologie des Wortes bzw. eine Logos-Theologie im Anschluß an die klassische Logoslehre. „Wort Gottes" hat für ihn, wie er in ST I 157-159/187-189 ausführlich darlegt, sechs Grundbedeutungen: 1. Wort Gottes ist Prinzip der göttlichen Selbstoffenbarung im Grunde des Seins selbst. Der Grund des Seins ist nicht stumm, er teilt sich dem Menschen mit. Gott ist nicht nur Abgrund, sondern auch Grund, „Quelle, aus der jede Form entspringt" (ST I 158/187). Diese Erkenntnis ist nicht auf die christliche Theologie beschränkt. Auch die Philosophie weiß, daß das Sein sich mitteilt, sich entbirgt, daß Sein immer zugleich auch seinen Logos hat (Parmenides). 2. Diese Selbstmitteilung des Seinsgrundes hat geistigen, nicht mechanischen Charakter. Das Schaffen durch das Wort deutet symbolisch auf die Freiheit des Schöpfers und die Freiheit des Geschöpfes hin - im Unterschied zum Emanationsprozeß bei Plotin oder zu Spinoza. 3. Gottes Wort ist Manifestation des göttlichen Lebens in der Geschichte der Offenbarung. Der Logos, durch den die Welt erschaffen ist, erscheint geschichtlich und wird empfangen von allen, die in der Offenbarungskorrelation stehen, also nicht nur von Mose und den Propheten. Wort Gottes wird diese Offenbarung genannt, weil sie sich an den Menschen als an ein zentriertes Selbst wendet und darum Logos-Charakter haben muß, um von ihm empfangen werden zu können. In der Manifestation des Seinsgeheimnisses oder des göttlichen Lebens ist der Abgrund des Seins mit dem Grund des Seins und also auch mit den Logos-Elementen geeint. Offenbarung ist also nicht alogos. 4. Wort ist die Manifestation des göttlichen Lebens in der letztgültigen Offenbarung in einem personhaften Leben im Sinne von Joh 1, 14. Darum wird Jesus der Christus auch „das Wort" genannt. Das Symbol „Wort Gottes" wird aber auch angewandt (5.) auf die Bibel und (6.) auf die Verkündigung der Kirche in Lehre und Predigt. Aber Bibel, Predigt, Lehre sind nicht Wort Gottes, sondern können es werden, wenn Gott in ihnen als Logos offenbar wird in einer Offenbarungskonstellation. Dies ist auch Tillichs Haupteinwand gegen eine promissio-Theologie. Die ontologische Struktur seiner Logos-Theologie wird deutlich, wenn er zusammenfassend schreibt: „Das Sein geht dem Reden voraus. Und die Offenbarungswirklichkeit geht dem Offenbarungswort voraus und bestimmt es" 16 ST I 157 („which is the Protestant pitfall")/! 87.

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(ST I 125/150). Träger und Bringer des Neuen Seins ist Jesus der Christus, das Wort. Sein Sein geht allen Manifestationen voraus, also seinen Worten, seinem Handeln und seinem Leiden. „Wir müssen sein Sein als das Neue Sein verstehen und seine Äußerungen als Manifestationen seines Charakters als des Christus" (ST II 124/135). In diesem Sinne - als das Neue Sein - ist er „das Wort" oder „Gottes Wort" an uns. Und nur unter dieser Voraussetzung können wir sagen, daß die Predigt - das mündliche, äußere Wort -, sofern es sich auf Jesus den Christus, „das Wort", gründet, Macht hat, in uns das Neue Sein, den Glauben, zu schaffen. All diese unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffes „Wort Gottes" haben für Tillich einen einzigen Sinn: Gott manifest, Gott offenbar, „offenbar in ihm selbst, in der Schöpfung, in der Offenbarungsgeschichte, in der letztgültigen Offenbarung, in der Bibel, in den Worten der Kirche und ihrer Glieder" (ST I 159/189). „God manifest - this is the meaning of the symbol the ,Word of God'" (ebd.). Mir scheint, daß wegen der Fixierung auf die Alternative promissio (bei Luther) und seinsmystische Unmittelbarkeit (bei Tillich) diese Aussagen Tillichs zum Begriff des Wortes Gottes in der Tillich-Interpretation Bayers nicht zur Geltung kommen. Doch Tillich ist kein Vertreter einer Wort-Gottes-Theologie oder Worttheologie und will es nicht sein.

II. Biblische Religion und Ontologie Aber man kann fragen mit Blick auf die differenzierte Logos-Theologie Tillichs: Wird hier nicht ontologischer Wein in christliche Schläuche geschüttet? Oder: Wird hier nicht das Wasser der Ontologie mit dem Wein christlicher Theologie vermischt? Anders gefragt: Dient Tillich zwei Herren? 17 Seine Schrift Biblische Religion und die Frage nach dem Sein (GW V 138184) ist der Versuch einer Antwort auf Fragen und Einwände dieser Art. Biblische Religion und Ontologie bilden für ihn eine von ungeheuren Spannungen zwischen beiden erfüllte letzte Einheit. Denn einerseits ist Offenbarung des Göttlichen immer Offenbarung „im Fleisch", d.h. Offenbarung, die in einer konkreten Situation von konkreten Menschen empfangen und interpretiert wird. Dies gilt auch für die biblische Religion. Andererseits ist der Mensch von Natur aus Philosoph, einer, der unausweichlich die Frage nach dem Sein stellt, nicht nur in Mythos und Dichtung, sondern auch schon „im Bau und Wortschatz jeder Sprache" (GW V 142). An einer Reihe von Themen zeigt Tillich die Unterschiede auf. In der biblischen Religion wird Gott Person. Zwischen Gott und Mensch besteht eine lebendige Wechselbeziehung, und 17 Vgl. G. Kaufman, Can a Man Serve Two Masters?, in: Theology Today XV, S. 59-77.

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sie vollzieht sich durch das Wort. Gott gebietet, der Mensch gehorcht oder gehorcht nicht, Gott verheißt, droht, zürnt, vergibt etc., der Mensch bittet, dankt, haßt, liebt etc. Zerstört die Ontologie nicht diese Wechselseitigkeit? Kann denn ein Seiendes auf das Sein-Selbst einwirken? In der biblischen Religion spricht Gott zu Menschen, in der Ontologie haben wir teil am SeinSelbst; dort herrscht Trennung vor in der Wechselwirkung, hier Teilhabe am Sein. An einigen Elementen der biblischen Religion spielt Tillich diesen Gegensatz durch, an der Schöpfungslehre, in der das Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf betont wird, also eine Partizipation aufgrund von Emanation verneint wird, an der Christologie, der Geschichte und Eschatologie, der theologischen Anthropologie und Ethik und an dem Verhältnis von Glaube und Zweifel. Tillich verschleiert die Gegensätze nicht, er treibt sie sogar auf die Spitze, um dann in einer überraschenden Wende nach Möglichkeiten einer Koinzidenz zu suchen. Bezeichnenderweise vollzieht er die Wende zur Zusammenschau an dem Punkt, an den er sich seit seinem Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel von 1919 gestellt hat, um den biblischen Personalismus zu transzendieren: es ist die Problematik von Glaube und Zweifel. Tillich wendet sich also von der objektiven der subjektiv-existentiellen Seite der Religion zu. Es ist dies eine Bewegung, die Tillich zweifellos nicht als erster vollzieht. Gunther Wenz hat die diesbezüglichen theologie- und geistesgeschichtlichen Linien verfolgt (die erweckungstheologische Tradition, Julius Müller, Martin Kähler, vor allem Schellings Hamartiologie, die zum Fundament seines späten Systems wird)18. Natürlich muß Tillich zu diesem Zweck auch die Ontologie in die Subjektivität zwingen. Denn es muß ja eine dem unüberwindlichen Glaubenszweifel strukturell analoge Haltung auch dem Philosophen unterstellt werden. Der Philosoph nimmt die Haltung des Glaubenszweiflers an und fragt nach dem Grunde des Seins und Sinnes angesichts des Nichts und der von ihm ausgehenden Bedrohung. Beim späten Schelling war es die Erfahrung der Subjektivität, daß die Vernunft ohnmächtig und die Welt unheilbar ist und daß nur ein Gott, der handelt, ein „selbst Tatsächlicher" dem Tatsächlichen des Falls entgegentreten kann, „der Herr des Seins"19. Die Welt kann sich selber nicht heilen, sie ist erlösungsbedürftig. Auf die Anfrage Kö18 Gunther Wenz, Die reformatorische Perspektive: Der Einfluß Martin Kählers auf Tillich, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne. Frankfurt am Main 1989, S. 62-89. Vgl. auch Horst Fuhrmans, Schellings Lehre vom Sündenfall als der .Urtatsache' der Geschichte, in: Ludwig Hasler (Hg.), Schelling. Seine Bedeutung für eine Philosophie der Natur und der Geschichte. Referate und Kolloquien der Internationalen Schelling-Tagung Zürich 1979. Problemata frommann-holzboog 91, Stuttgart-Bad Canstatt 1981, S. 227-231. 19 Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung WS 1832/33 und SS 1833, Band 1, hrsg. von Horst Fuhrmans, Torino 1972, S. 100.

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nig Maximilians von Bayern, ob es nicht die Aufgabe der Regierungen sein müsse, eine „ideale" Ordnung herbeizuführen, hatte Schelling ihm geantwortet: „Die Gestalt dieser Welt vergeht... woraus mit Notwendigkeit folgt, daß wir innerhalb dieser Welt nichts Ewiges, kein wirklich erreichtes Ideal ... erwarten können. Der wahre Schluß der Geschichte ... ist das Jenseits, ist die kommende Welt, er kann also nicht in die Gegenwart versetzt werden, deren wahres Ziel und Ende nur sein kann, aufgehoben zu werden."20 Auch für Tillich ist das Reich Gottes keine innerweltliche Größe, die politisch in irgendeiner Weise herbeizuführen wäre. Die Geschichte und ihre Zweideutigkeiten lassen uns nach dem Ziel, nach dem „wahren Schluß" der Geschichte fragen, also nach dem Reich Gottes. Die Erfahrung des Unheils und mit ihr das Verlangen nach Heil gibt der Methode der Korrelation das Element des Existentiellen, ohne welches sie leicht zu einem „Mechanismus" von Frage und Antwort würde, sei es auf Kosten der Frage, sei es auf Kosten der Antwort. Tillich setzt also auch bei der Unheilserfahrung an, geht aber einen anderen Weg als Schelling. Den radikalen Zweifel bzw. die Frage nach der letzten Wirklichkeit interpretiert er wegen des in ihm mitschwingenden Unbedingtheitselements als eine Sache unendlicher Leidenschaft. Tillich postuliert, daß es nicht zwei letzte Anliegen neben- oder gar gegeneinander geben kann. Wenn Religion und Philosophie durch den Zweifel bzw. durch die ontologische Frage in die Haltung unendlicher Leidenschaft getrieben werden, wird ihre strukturelle Identität offenbar. Philosophie bzw. Ontologie werden also durch eine Soteriologie in die Enge getrieben. In seinem Vortrag Philosophy and Theology von 1940 spricht Tillich daher auch vom „kerygmatischen und daher theologischen Charakter" der Philosophie21, denn sie frage nach dem Sinn des Seins. Die Theologie fragt nach dem Sinn des Seins „insoweit, als es mein Sein ist und ... mich trägt"22, „sie fragt nach der drohenden und verheißenden Macht über meine Existenz, nach der fordernden und richtenden Norm meiner Existenz, nach dem erfüllenden und verwerfenden Ziel meiner Existenz. Mit anderen Worten: Fragt die Theologie nach dem Sinn des Seins, so fragt sie nach Gott".23 Tillich spricht, wenn er vom Sinn des Seins spricht, von einer Macht und zwar von einer drohenden und verheißenden Macht, von einer fordernden und richtenden Norm usw. Dies ist religiöse Sprache, die sogar an das erinnert, was Bayer promissio nennt. Und so kommt Tillich zu dem Schluß, daß die Frage nach dem Sinn des Seins die Frage nach Gott ist. Wie die Theologie 20 Schelling, Brief an König Maximilian von Bayern, zit. bei Fuhrman, ebd., S. 231. 21 MW/HW 4, 282, zit. nach der Übersetzung: Philosophie und Theologie, S. 129, in: Paul Tillich, Der Protestantismus. Prinzip und Wirklichkeit. Stuttgart 1950, S. 124-136. 22 Der Protestantismus, S. 129. 23 Ebd., S. 129f.

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immer ein philosophisches Element in sich hat (impliziert), so die Philosophie immer ein theologisches. Schöpferische Philosophie ist immer auch theologisch24. Damit scheinen, wie Wilhelm Weischedel formuliert, Philosophie und Theologie „in eines zu verschmelzen"25. Aber genügt schon das Verhältnis gegenseitiger Implikation zweier Größen, um die Identität beider zu behaupten? Tillichs eigenartiges Interesse gilt nicht der Ontologie als solcher, sondern einer theonomen oder theologischen Ontologie. (Aus diesem Grunde kann er auch mit der Metaphysik Whiteheads so wenig anfangen, obwohl er doch eigentlich, wenn man an ST III denkt, für sie aufgeschlossen sein sollte. 26 ) Dies muß, wenn man Theologie und Philosophie, biblische Religion und die Frage nach dem Sein, Wort und Sein, gegenüberstellt, m.E. immer bedacht werden. Man kann fragen: Ist die theonome Ontologie Tillichs geeignet, das spezifisch religiöse Verständnis der Wirklichkeit, z.B. den biblischen Wahrheitsbegriff im Unterschied zum griechischen, adäquat zu erfassen? So schreibt Reinhold Niebuhr in seinem Aufsatz Biblical Thought and Ontological Speculation in Tillich's Theology21: Das Drama des Lebens ist nicht identisch mit der Bühne von Zeit und Ewigkeit, auf der es sich abspielt. In diesem Drama gibt es Schicksal ebenso wie Freiheit. Aber dieses Schicksal besteht aus Handlungen, Ereignissen, Beziehungen und Verknüpfungen, die nur durch die Poesie erfaßt werden können, weil sie eben nicht durch eine ontologische Struktur bestimmt sind. Vielleicht kann das Ich, der Wille, die Sünde des Ich und die Gnade der Liebe, durch die das Selbst erlöst wird von seiner Sünde, vielleicht können alle diese Realitäten nur in dramatisch-poetischer Form ausgesagt werden. Dies tut Tillich auch immer wieder. Aber das Drama ist in seinem Denken ontologisch bestimmt2*.

Niebuhr bezieht sich auf die biblische Geschichte vom Sündenfall. Tillichs Antwort ist bezeichnend: Er erinnert an den mythologischen Charakter der Erzählung, an die kosmischen Mächte, die Schlange, das Tier aus dem Ab24 Ebd., S. 131. 25 Paul Tillichs philosophische Theologie. Ein ehrerbietiger Widerspruch, S. 33, in: Der Spannungsbogen. Festgabe für Paul Tillich zum 75. Geburtstag. Hg. v. Kurt Hennig. Stuttgart 1961, S. 25-47. 26 Vgl. vom Verf., Sein oder Werden? Paul Tillich und die Prozeßphilosophie, in: Gert Hummel (Hg.), Natural Theology versus Theology of Nature?/Natürliche Theologie versus Theologie der Natur? Paul Tillich's Thinking as Impetus for a Discourse among Theology, Philosophy and Natural Sciences/Tillichs Denken als Anstoß zum Gespräch zwischen Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft. Berlin 1994, S. 184-211. 27 In: Charles W. Kegley & Robert W. Bretall, The Theology of Paul Tillich (LLT 1), New York 1961, S. 216-227. 28 Ebd., S. 226 (eigene Übersetzung).

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grund, den Satan, die Dämonen und Engel, die irrationalen Mächte der Natur, die für die menschliche Lage, den Fall, teilweise verantwortlich sind. Ich denke, die Theologie sollte die Tatsache ernstnehmen, daß einige der größten Philosophen (Plato, Origenes, Kant, Schelling) trotz ihres Glaubens an die Macht der Vernunft hingetrieben wurden zu dem Mythos eines transzendenten Falles. Nicht .Spekulation', sondern ihre Überzeugung von der radikalen und universalen Natur des Bösen hat sie dazu getrieben, einen Mythos, in dem die menschliche Freiheit und Tragik der Existenz behauptet werden ..., in Gestalt struktureller Notwendigkeit zu konzipieren. Die Theologie sollte dies besonders ernstnehmen, wenn sie eine buchstäbliche Auslegung der Genesisgeschichte ablehnt. Die Theologie sollte auch keine Angst davor haben, durch solche Vorstellungen ihre dramatische Konkretheit und ihre sittliche Kraft zu verlieren. Wenn Worte wie .universale Sünde' eine Bedeutung haben, verweisen sie auf etwas in der endlichen Freiheit, welches den Sündenfall unvermeidlich macht, wenngleich auch auf etwas, für das wir gleichzeitig verantwortlich sind. Die ,supralapsarischen' Calvinisten hatten keine Bedenken zu behaupten, daß Gott Adams Fall vorherbestimmt hat. Das heißt: Wenn Gott schafft, schafft er etwas, was sich gegen ihn richten wird. Das ist dramatische Sprache, aber sie verlangt eine theologische Interpretation, die ihrerseits nicht dramatisch, sondern ontologisch ist29.

Ontologische Sprache soll also die mythologisch-poetische Sprache interpretieren. Der kritischen Anfrage Niebuhrs können wir die Kritik Weischedels entgegensetzen. Er fragt, ob Tillichs Ontologie in Wahrheit nicht Theologie ist. Es gibt für diese Behauptung, wie wir gesehen haben, Gründe. Er wirft Tillich vor, er kenne offenbar nur eine einzige Alternative: Sein als logische Kategorie oder als Macht oder Mächtigkeit. Er erwäge nicht ernstlich „die Möglichkeit einer Ontologie, die zwar über die bloß logische Bedeutung des Seinsbegriffes hinausgeht, sich aber damit begnügt, es als Sein des Seienden, als das Sein ,in allem, was ist', zu fassen, ohne darüber hinaus ein ,SeinSelbst' oder eine ,Seinsmächtigkeit' anzunehmen"30. In der metaphysischen Überhöhung des Seinsbegriffes zur Macht des Seins trete etwas von den augustinisch-antithomistischen Voraussetzungen zutage, zu denen Tillich sich bekenne. So erhalte der ontologische Seinsbegriff durch seine Gleichsetzung mit dem Gottesbegriff eine eigentümliche Wendung. Tillichs Ontologie sei nicht ontologischen, sondern soteriologischen Ursprungs. Weischedels Kritik ist m.E. zutreffend.

29 Ebd., S. 343 (eigene Übersetzung). 30 Ebd. S. 34f.

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Tillichs Ontologie ist theonome Ontologie, die er im Modus von Divergenz und Konvergenz der Theologie zuordnet. Diese Einsicht ist wichtig für eine sachgemäße Interpretation seiner Methode der Korrelation. Dirk-Martin Grube hatte in seinem Vortrag vor zwei Jahren auf diesem Symposium darauf aufmerksam gemacht, daß Tillich in seinem Aufsatz The Problem of Theological Method von 1947, anders als in ST I, die Korrelationsmethode als ganze der Theologie zuschlägt, also auch die Frageseite.31 Diese Einsicht ist wichtig auch für Tillichs Lehre von der Sünde und der Vergebung. Tillichs Methode der Korrelation macht Sünde und Vergebung nicht „denknotwendig und sinnvoll", setzt sie vielmehr voraus. 32 Gewiß gilt, daß Sünde nicht nach Vergebung „fragt". Schuld ist nicht identisch mit Schuldbewußtsein oder Schuldgefühl. Doch gibt Tillich keine Erklärung oder Rechtfertigung der Sünde, wenn er den Übergang von der Essenz zur Existenz als eine persönliche Schuld beschreibt, die in persönlicher Tragik endet, also auch die selbstzerstörerischen Merkmale und Folgen der Sünde, des Unglaubens, der Hybris und Konkupiszenz beschreibt (ST II 44-62/52-71). Aus seiner These, daß es niemals essentielle Vollkommenheit als einen historischen Zustand gegeben hat und daß darum Schöpfung und Fall „koinzidieren", läßt sich eine Denknotwendigkeit des Falls nicht ableiten. Koinzidenz ist auch nicht logische Koinzidenz. Tillich besteht ausdrücklich darauf, daß „der Sprung von der Essenz zur Existenz den Charakter des Sprunges und nicht der strukturellen Notwendigkeit hat" und daß die Existenz „trotz ihrer tragischen Universalität" nicht aus der Essenz abgeleitet werden kann (ST II 44/52). „Die Sünde gehört nicht zur Schöpfung; der Übergang von der Essenz zur Existenz ist ein Faktum, nicht eine ableitbare dialektische Notwendigkeit" (ST II 29/36). 33 Der Fall ist ein

31 Dirk-Martin Grube, Kontextinvariante Wahrheit in geschichtlicher Vermittlung? Eine Analyse von Tillichs Methode der Korrelation, in: Gert Hummel (Hg.), Truth and History - a Dialogue with Paul Tillich/Wahrheit und Geschichte - ein Dialog mit Paul Tillich. Berlin/New York 1998, S. 49-68. 32 Gegen Gunda Schneider-Flume, „Entsprechungsdenken" und Sündenerkenntnis. Die Auswirkung der Methode der Korrelation auf das Sündenverständnis in der Systematischen Theologie, in: ZThK 76, 1979, S. 489-513, hier: S. 51 Of. Bayer zitiert SchneiderFlume zustimmend, S. 227. 33 In einer Diskussion in Hofgeismar (11.-13.5.1961) über die Frage: unde malum? antwortete Tillich mit dem Satz aus Kierkegaard, Der Begriff Angst: „Die Sünde kam durch die Sünde in die Welt". Den Einwand, dies sei ein sacrificium intellectus, ließ er nicht gelten: „Nein, das nicht, weil der Intellekt ja anerkennen muß, daß in dem Moment, w o Sünde abgeleitet wäre, sie nicht mehr Sünde wäre. Die Vernunft, wenn sie sich selber voll bejaht, muß anerkennen, daß hier etwas ist, was die Vernunft transzendiert, genau wie das Faktum des Seins. Es ist ja nicht nur im Faktum des Bösen so, sondern genauso im Faktum des Seins ...". Wenn die ontologische Angst bei Kierkegaard und Tillich zum kreatürlichen Sein des Menschen gehört, ist freilich das Böse, wenn nicht abgeleitet, so doch

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Akt menschlicher Freiheit, wenngleich er eingebettet ist in ein universales Schicksal. Persönliche Verantwortung und tragische Universalität bleiben in unaufgelöster Spannung. Freilich macht Tillich keine Aussagen über den supralapsarischen Status des Menschen im Verhältnis zu Gott. Bayer behauptet in diesem Zusammenhang, für Tillich sei die Identität von Gott und Mensch von größerem Gewicht als die Differenz. „Letztlich" seien „Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf, Gott und Welt nicht voneinander unterschieden, sondern eines und dasselbe" (220). „Dort, wo der christliche Glaube strikt unterscheidet zwischen Schöpfer und Geschöpf - dort identifiziert Tillich" (251 Anm. 201). Doch Identität meint nicht unterschiedslose Gleichheit. Was Tillich allerdings vermeiden will, ist ein absolutes Nicht-Verhältnis von Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf. Sie sind einander nicht absolut fremd. Gott ist nicht „der ganz andere". Identität schließt Differenz nicht aus, sondern ein. Daß es einen Punkt gibt, der es erlaubt, von einer Beziehung zwischen Gott und Mensch zu sprechen, einen „Identitätspunkt", bedeutet aber nun nicht, daß - sei es infra-, sei es supralapsarisch gesehen - Gott und Welt „letztlich ... ein und dasselbe" seien, daß das Geschöpf mit dem Schöpfer identifiziert werden könnte, wenn Tillichs durchgängige Unterscheidung von Unbedingtem und Bedingtem, Grund des Seins und Seiendem überhaupt einen logischen, theologischen und religiösen Sinn haben soll. Freilich macht Tillich keine Aussagen über den supralapsarischen Status des Menschen. Allenfalls spricht er im Anschluß an Schelling symbolisch-poetisch von der träumenden Unschuld des paradiesischen Menschen (ST II 33-36/39-43).

III. Seinsmystik und Identität Damit sind wir bei dem Thema Seinsmystik und Identität. Bayer faßt seine Ausführungen zum Thema „Seinsidentität von Gott und Mensch?" wie folgt zusammen: „Gegen Tillich ist in aller Schärfe geltend zu machen, daß das Verhältnis Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott (bzw. sein Mißimmerhin erklärt (vgl. dazu Gunther Wenz, De causa peccati. Die Lehre vom Urfaktum der Sünde in Paul Tillichs Systematischer Theologie, in: Matthias Viertel [Hg.], Gott und das Böse. Hofgeismarer Protokolle 313, Hofgeismar 1997, S. 9-32). Gleiches gilt für die Behauptung auch des Faktums (nicht nur der essentiellen Notwendigkeit) des Auseinanderfallens der ursprünglich miteinander verbundenen Potenzen in Gott. Tillich führt (ebenso in Hofgeismar 1961) Kierkegaards Deutung der Angst auf Schellings Potenzenlehre zurück, betont aber den Charakter der Faktizität, des Sprunges, der Freiheit, Er unterscheidet zwar zwischen Ableitung (Erklärung) und Statuierung (Beschreibung), unterscheidet aber nicht zwischen supra- und infralapsarischen Bedingungen.

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Verhältnis zu Gott, die ,Sünde') logisch und sachlich einen Unterschied einschließt; ist von einem .Verhältnis' die Rede, so ist ein Unterschied immer mitgemeint. Eine in sich unterschiedslose Einheit von Gott und Mensch wäre zugleich eine beziehungs- und verhältnislose Einheit - eine tote und starre Einheit und keineswegs etwa höchste Lebendigkeit, auf die es Tillich doch gerade ankommt" (239). Eine unterschiedslose, in sich beziehungs- und verhältnislose Einheit von Gott und Mensch gibt es aber bei Tillich nicht. Tillich ist nicht Spinoza. Er hat sich hinreichend oft und deutlich gegen eine solche Deutung des Identitätsprinzips ausgesprochen. Identität heißt nicht unterschiedslose, beziehungslose, verhältnislose Einheit. Identität schließt, auch für Schelling, Differenz und Widerspruch ein. Tillich referiert Schelling und stimmt ihm zu: „Das Wesen existiert nur durch den Widerspruch" (GW 177). Und umgekehrt gilt: „Der Widerspruch ohne das Wesen ist ein völliges Nichts. Die Identität von Wesen und Widerspruch ist das Höchste" (GW I 78). Identität, wenn sie nicht bloße Vernunftnotwendigkeit, d.h. nur Resultat und Zustand, sondern lebendige Identität sein soll, und darum geht es Tillich, ist Identität von Identität und Nicht-Identität. Tillich weist nach - und dies ist die These seiner theologischen Dissertation -, daß „die radikale Durchführung des Identitätsprinzips durch sich selbst vor die Notwendigkeit einer totalen Bejahung des Schuldbegriffs [führt]" (GW I 42). Diesen Weg habe Schelling beschritten und verfolgt. Eine „totale Mystik", deren Ziel „absolute Identität" ist, so stellt Tillich fest, entspreche in seiner „prinzipiellen Lösung" dem Wesen, aber ohne Widerspruch. In Schellings Lehre von der intellektuellen Anschauung lägen „Ansätze zu dieser Art von Mystik" zweifellos vor. Sie habe sich aber nicht durchsetzen können, weil sie „etwas spezifisch Heidnisches" sei (GW 1104 Anm. 47). Im Vorwort zu seiner Habilitationsschrift Der Begriff des Übernatürlichen von 1915 heißt es, hinter seiner Kritik des Begriffs des Übernatürlichen stehe das Prinzip der Identität. Er verstehe darunter „das in der kritisch-idealistischen Philosophie von Kant bis zu Schellings zweiter Periode erfaßte erkenntnistheoretische Grundprinzip der lebendigen Einheit von Subjekt und Objekt, Begriff und Anschauung, Absolutem und Relativem ... Daß die Bejahung des Identitätsprincips die Annahme einer Identitätsphilosophie nicht ein-, sondern vielmehr ausschließt, glaube ich in meiner Arbeit über »Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung' gezeigt zu haben." 34 Absolute Identität wäre Identität ohne Widerspruch. Aber Tillich

34 Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Princip der Identität dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher. Königsberg in der Neumark 1915, S. III.

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vertritt keine absolute Identität, wie er auch keine absolute Mystik vertritt. Der religiös-theologische Begriff für Identität ist der Begriff Geist. In Mystik und Schuldbewußtsein zeigt Tillich, wie in Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft der Gedanke des Geistes Gottes und damit die Realität des religiösen Verhältnisses, die Gemeinschaft mit Gott, zurücktritt. Wilhelm Lütgerts Forderung der Behandlung des Geistproblems, so Tillich, bedeute „eine Rückkehr zum Identitätsprinzip und zur Mystik" und richte sich damit gegen Kant, den Neukantianismus und gegen „die Antimystik Ritschis" (GW 131). Kants Religion innerhalb sei „ein fortlaufender Beweis, daß ohne Identitätsprinzip sämtliche Wirklichkeiten des religiösen Lebens unverstanden bleiben" (GW I 32). Kant habe sich so die Möglichkeit genommen, „auf irgendeine Weise die Gewißheit eines Gottes zu begründen". In diesem Kontext begegnen wir dem Begriff der Paradoxie bereits in Mystik und Schuldbewußtsein (GW I 32) und vollends dann in der Systematischen Theologie von 1913 (besonders in der Apologetik, § 22). Auch die vollkommene Gemeinschaft des Bekehrten mit Gott vollziehe sich „in der Welt der Sündhaftigkeit ... durch das Paradox des Glaubens". Die Mystik sei darum keine unmittelbare, „wie im absoluten System", sondern „eine Mystik der Gnade, die das Paradox der Einheit mit Gott ständig vor Augen hat." Ohne diese Mystik aber könne die Religion nicht sein, und durch diese Mystik sei sie „die Vorwegnahme des ewigen Lebens mitten in der Zeit" (Systematische Theologie von 1913, 3. Teil: Ethik, § 5). Mystik als „Mystik der Gnade" steht in der Spannung von gefallener Welt und ewigem Leben. Also: Kants und Ritschis Antimystik sind der negative Hintergrund für Tillichs Mystik. In diesem Sinne sind das Identitätsprinzip, die Idee der Mystik, das Prinzip des Paradox, der Gedanke der coincidentia oppositorum konstitutive Elemente des Tillichschen Denkens von Anfang an. Sie stehen für die dialektische Spannung und Komplexität seines Denkens. Bayer konstruiert eine Synthese von Meister Eckharts Mystik und Schellings Identitätssystem, worin jeweils die Differenz zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf verschwinde, und überträgt diese dann auf Tillich. Er macht allerdings mit Recht auf die Mystik Tillichs aufmerksam. Darin sehe ich das Hauptverdienst von Bayers Tillich-Interpretation. Doch was heißt „Mystik"? Insbesondere: Wie deutet Tillich die mystischen Traditionen des Buddhismus, des Hellenismus, des Neuplatonismus, des Augustinismus, die franziskanische Mystik, die Mystik Meister Eckharts, der Renaissance, Böhmes, des deutschen Idealismus, die außerkirchliche Mystik der Moderne etc.? In welchem Sinne vertritt Tillich schließlich selbst eine mystische Theologie bzw. Ontologie? Welche Bedeutung hat die Theologie des (konkreten) Paradox für eine mystische Theologie, wie Tillich sie

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vertritt?35 In welchem Sinne vertritt er eine Seinsmystik, in welchem Sinne lehnt er sie ab? Wie und warum grenzt er sich gegen eine absolute Mystik ab? W i e argumentiert Tillich in Mut zum Sein, wie in der Systematischen

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gie, wie in seinen Predigten? In der Klärung dieser und ähnlicher Fragen sehe ich eine wichtige Aufgabe künftiger Tillichforschung. Bayers Ausführungen über die „Seinsmystik" Tillichs sollten einen Anstoß geben, diese Fragen gründlich zu untersuchen, bevor wir Tillichs Theologie einseitig der Seinsmystik zuordnen. Ich kann hier nur in aller Kürze auf Tillichs Mystikkritik eingehen und hebe fünf Apekte hervor.36 (1) In der Tat unterstellt Tillich in den Prolegomena seiner ST ein „mystisches Apriori", einen „Identitätspunkt" zwischen dem Subjekt und dem Unbedingten in jeder religiösen Erfahrung. Religiöse Erfahrung komme ohne diesen Identitätspunkt auch nicht zustande. Tillich macht aber ausdrücklich auf den Unterschied zwischen Religionsphilosophie/Philosophie und Theologie/christlicher Botschaft aufmerksam. Wenn dieser Unterschied kein absoluter ist, so ist dies darin begründet, daß jede Religionsphilosophie bzw. Philosophie, auch die Mystik, immer schon durch eine konkrete Religion bzw. Kultur bestimmt ist. „The philosopher as philosopher tries to abstract from these elements and to create valid concepts concerning religion. The theologian, on the other hand, claims the universal validity of the Christian message in spite of its concrete and special character" (ST I 9f/17). Tillich fügt hinzu: „He [sc.: the theologian] does not justify this claim by abstracting from the concreteness of the message but by stressing its unrepeatable uniqueness. He enters the theological circle with a concrete commitment" (ebd.).37 Diese wichtige fundamentaltheologische Unterscheidung Tillichs hat

35 In der (bisher unveröffentlichten) Berliner Vorlesung „Geistesgeschichte der altchristlichen und mittelalterlichen Philosophie" (WS 1923/24) deutet er ζ. B. die Mystik Meister Eckharts u.a. so: „Es ist ... nicht die neuplatonische Stufenlehre, die bei Bonaventura da war im Anschluß an Augustin; es ist vielmehr das .konkrete Paradox' völlig durchgedrungen und in die Seele des einzelnen eingegangen. Es ist also eine Mystik des Paradox gegenüber einer Mystik der Selbstaufhebung." - Ob dieses Urteil zutrifft, vermag ich nicht zu entscheiden. Die Eckhart-Forschung ist ohnehin sich nicht einig. Doch wird man Tillichs Mystik als „Mystik des Paradox" und nicht als „Mystik der Selbstaufhebung" oder gar Verschmelzung mit Gott zu verstehen haben. 36 Zur ästhetischen und theologischen Mystik in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl.: Fritz-Dieter Maaß, Mystik im Gespräch. Materialien zur Mystik-Diskussion in der katholischen und evangelischen Theologie nach dem Ersten Weltkrieg. Wiirzburg 1972; speziell zu Tillich: Repp, a.a.O. (Anm. 5), S. 210-225; James R. Hörne, Tillich's Rejection of Absolute Mysticism, in: JR 58, 1978, S. 130-139. 37 Vgl. auch Tillichs Ausführungen zur „zweideutigen Macht" der Mystik (ST I 140/167). In der Mystik geschehe „Offenbarung in der Tiefe der Seele". Die objektive Seite der Offenbarung sei dabei nebensächlich. Tillich wertet diese Fähigkeit der Mystik als antidä-

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Bayer nicht berücksichtigt. Tillich erscheint darum bei ihm als Vertreter absoluter Mystik. (2) Für Tillich unterscheidet sich die „ästhetische Mystik" der Gegenwart (vor und nach dem 1. Weltkrieg) von der alten, echten Mystik „im innersten Kern" dadurch, daß sie die positive Religion völlig beiseite schiebt. So hoch die Leistung der modernen Mystik für das Wiederfinden der Gottesgewißheit in der Moderne auch gewertet werden müsse, so gering sei „ihre religiös gestaltende Kraft" einzuschätzen. 38 Eben darin komme ihr fundamentaler Unterschied zu der alten Mystik zum Ausdruck. (3) In Dynamics of Faith (1957) macht Tillich auf eine weitere Zweideutigkeit der Mystik aufmerksam. Der mystische Glaubenstyp betone das Element der Teilhabe an dem, worauf der Glaube sich richtet. Glaube ohne Teilhabe ist kein Glaube. Aber ohne das entgegengesetzte Element, die Trennung, wäre Glaube ebenso nicht Glaube, sondern ein Besitz („a matter of immediate certainty"). Das „Dennoch" des Glaubens fehlte dann. Die Situation des Menschen, seine Endlichkeit und Entfremdung, schließt die Teilhabe an dem, was ihn unbedingt angeht, „without both the separation and the promise of faith" 39 aus. „Here the limit of mysticism becomes visible: it neglects the human predicament and the separation of man from the ultimate. There is no faith without separation". 40 Ähnlich differenziert sind Tillichs Ausführungen zur unio mystica in ST III: Protestantische Mystik unterscheide sich von östlicher Mystik durch das „Grunderlebnis von Schuld und Vergebung" und das „Paradox der Rechtfertigung" (ST III -1219). (4) Mystik als Erfahrung der Gegenwart Gottes in jeder religiösen Erfahrung ist nicht Selbsterlösung. Die klassische Mystik verneint sogar diese Möglichkeit (ST II 83/93). Aber es gibt - in der östlichen, aber auch in der westlichen Mystik - Versuche der Selbsterlösung. Doch in solchen Versuchen wird wegen der Endlichkeit und Entfremdung menschlicher Existenz eine Vereinigung mit Gott in Wahrheit nicht erreicht (ST II 83/92f). (5) Mystik verbindet sich schließlich für Tillich mit ungeschichtlichem Denken, in dem Zeit und Geschichte dem Raum untergeordnet werden. Die Zeit ist für die Mystik nur ein Gekräusel auf der Meeresoberfläche. Sie bedeutet nichts. Mystik ist vertikales Denken. Das horizontale Denken ist ohne monisch. Immerhin diene sie so in der Offenbarungsgeschichte der Vorbereitung der letztgültigen Offenbarung. Aber sie zahle dafür „einen zu hohen Preis": „Sie zerstört den konkreten Charakter der Offenbarung und macht die Offenbarung dadurch irrelevant für die menschliche Situation. Sie erhebt den Menschen über alles, was ihn aktuell betrifft und sie verneint sein Dasein in Raum und Zeit" (ST I 140/167f). 38 Die religiöse Lage der Gegenwart. Berlin 1926, S. 109. 39 Dynamics of Faith. N e w York 1957, S. 100. 40 Ebd.

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Bedeutung. 41 Doch dem Wesen des Menschen entspricht nach Tillich die Bindung an Zeit und Geschichte. Tillichs Denken, zumal seine Geschichtsphilosophie, ist alles andere als ungeschichtlich. Aber er spielt das horizontale Denken nicht gegen das vertikale Denken aus, den prophetischen Kampf für Gerechtigkeit nicht gegen die Erfahrung des Unbedingten als Seins- und Sinngrund des Lebens. Beide Elemente gehören für ihn zusammen und verbinden sich miteinander, ohne daß wir „letztlich" doch der Mystik und der Vertikalen das Übergewicht zuerkennen dürften. Das prophetische Element spielt in Tillichs Denken eine entscheidende Rolle (dies unterscheidet ihn von Schleiermacher!), wie er auch in der Reformation die Wiederentdeckung der prophetischen Tradition gesehen hat.42 Tillichs politische und sozialphilosophische Schriften, inbesondere Die sozialistische Entscheidung von 1933, bekommen durch das prophetische Element und die Kategorie der Erwartung ihr besonderes Profil. Das prophetische Element ist dem Element der Seinsmystik auf keinen Fall untergeordnet. Bayer hat 1994 auf diesem Symposium die These aufgestellt, daß Tillich das Paradox „entschärft" und es „in seinsmystischer Unmittelbarkeit untergehen" läßt43. Paradox heißt für Bayer: „statt einer Horizontverschmelzung geschieht ein Riß, ein Bruch. Statt lückenloser Ableitung ... ein Sprung" 44 . Der Unterschied zu Tillich wird klar, wenn Bayer formuliert: „Das Paradox ist... zunächst keine Kategorie theologischen Denkens, sondern das Wort, mit dem das Wunder, die Unableitbarkeit und Unvorhersehbarkeit des Heilswiderfahrnisses (vgl. Lk 19, 9) benannt wird". 45 Für Tillich ist das Paradox sowohl eine Figur der biblischen Erzählung (z.B. der Wundergeschichte Lk 5, 17-26, von der Bayer ausgeht) als auch ein theologisches Prinzip. Als theologisches Prinzip hat es die Aufgabe, das, was im Mythos als ein einzelnes kontingentes Widerfahrnis erzählt wird, als Logos von Gott, als theo-logia, auszudrücken, nicht als ein credo quia absurdum, sondern als logikon, als logisch im Sinne von a = a und gewiß auch als antilogisch-paradox im Sinne von a = b, aber nicht a-logisch oder absurd oder sinnlos. Damit wird das Paradox nicht aufgelöst zugunsten seinsmystischer Unmittelbarkeit, sondern als theologisches

41 Vgl. Tillichs Vortrag: Politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker (1951), in: MW/HW 3, S. 546. 4 2 Vgl. z.B. The Recovery of the Prophetic Tradition in the Reformation, in: Faith and Thought, Vol. 2, Number One, Spring 1984, S. 3-38. 43 Oswald Bayer, Paradox. Eine Skizze, in: Gert Hummel (ed./Hg.), The Theological Paradox/Das theologische Paradox. Interdisciplinary Reflections on the Centre of Paul Tillich's Thought/Interdisziplinäre Reflexionen zur Mitte von Paul Tillich Denken. Berlin/New York 1995, S. 3-8. 44 Ebd., S. 5. 45 Ebd., S. 4.

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Prinzip ernstgenommen. Hier zeigt sich allerdings die Grundspannung von Wort und Sein, biblischer Religion und philosophischer Theologie, Besonderem und Allgemeinem. Gerade der Gedanke der Einheit und des Gegensatzes von Wesen und Widerspruch, von Identität und Differenz, von Rationalem und Irrationalem, von Absolutem und Relativem ist für Tillich ein Paradox, mit dem er ζ. B. in der Gotteslehre und in der Christologie denkt, gegen, wie er gern sagt, „Denkaskese". Aber Tillich würde sofort einräumen, daß das Paradox nicht alle theologischen Probleme lösen kann und daß die Berufung auf das Paradox auch das Zeichen von Denkfaulheit sein kann und daß sie, wie er in Rechtfertigung und Zweifel von 1919 schreibt, nicht zum „Ruhebett der faulen Vernunft" werden darf. „Seinsmystische Unmittelbarkeit" liegt für Bayer in Tillichs Konzept der Grundoffenbarung, des absoluten Glaubens und des „Gott über Gott" vor. Man kann in der Tat in diesem Zusammenhang von „seinsmystischer Unmittelbarkeit" sprechen. Freilich sollte man die Differenzierungen, die Tillich vornimmt, nicht übersehen. Tillich seinerseits hat den Begriff „Mystik" bzw. „Seinsmystik" zur Kennzeichnung seines Konzepts der Grundoffenbarung bzw. der Transzendierung des Theismus expressis verbis abgelehnt. Aus welchem Grunde? In Rechtfertigung und Zweifel von 1924 schreibt er: „Der Durchbruch dieser göttlichen Grundoffenbarung, die vor allem Zweifeln und Suchen steht, bringt die Befreiung, daß sie jedes Tun der Erkenntnis in die zweite Linie rückt und die Gegenwärtigkeit Gottes vor der Gotteserkenntnis und [die Gegenwärtigkeit; ergänzt vom Verf., E. St.] des Sinnes vor der Sinneserkenntnis offenbart. Was hier offenbar wird, ist der Gott der Gottlosen, die Wahrheit der Wahrheitslosen, die Sinnfülle der Sinnentleerten" (GW VIII 91f). Der Moment dieses Durchbruchs ist „in bezug auf Inhalte völlig indifferent", d.h.: „Der Mensch hat kein Werk des Erkennens, keinen Gedankeninhalt vorzuweisen" (GW VIII 92). In das Verständnis des Geschehens der Grundoffenbarung wird von Tillich also die Rechtfertigungslehre eingetragen. Grundoffenbarung ist eben „Gegenwärtigkeit Gottes" vor aller Gotteserkenntnis, und die Gotteserkenntnis selbst ist ein Werk, ein Tun. Aber in der Grundoffenbarung muß Gott nicht als Gott erkannt oder benannt werden. „Mystik" heißt für Tillich in diesem Zusammenhang „Festhalten an der Subjektivität und damit am Werk" (GW VIII 90). Er meint damit das „mystische Erlebnis" (ebd.), das Erlebnis einer Wahrheit, die „bloß wärmende Glut" ist und nicht „verzehrendes Feuer". „Soll aber die Wahrheit die Unbedingtheit des Göttlichen erreichen, so muß sie die Form der Gnade annehmen, die Form des Durchbruchs" (ebd.). Darum also: „Nicht von Mystik, sondern von Grundoffenbarung sprechen wir". Es sei die Größe der Mystik, daß sie die Grundoffenbarung, „diese Geburtsstunde der Wahrheit", immer wieder in Erinnerung rufe, aber es sei

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ihre Grenze, „daß sie aus Furcht vor der Welt der Wahrheiten, Namen, Sinnformen in Schweigen versinken will". Sie wolle nichts tun, nichts erkennen, sie wolle schweigen, sie zwinge sich zu dem „Werk des absoluten Schweigens". Eben dies ist für Tillich Werkgerechtigkeit. Nehmen wir Tillichs Unterscheidung von Gehalt und Form auf, so können wir auch sagen: Mystik ist reine Gehaltserfassung und Furcht vor der Form, Flucht in den reinen Gehalt. „Mystik ist Ende", sagt Tillich, aber der Moment des Durchbruchs der unbedingten Gewißheit, diese „Geburtsstunde der Religion in jedem Menschen", wie Tillich im Anschluß an Schleiermacher sagt,46 ist nicht Ende, wie in der Mystik, sondern Anfang, Wiedergeburt, „die Basis für jeden Durchbruch zur Objektivität, zu Name und Form" (ebd.). Die Grundoffenbarung ist der Anfang und die Voraussetzung der Heilsoffenbarung, nicht ihr Widerpart oder Ausschluß. So unterscheidet er Grundoffenbarung von Mystik. Mit seinem Begriff der Grundoffenbarung grenzt sich Tillich sogar gegen Schleiermacher ab, genauer: gegen Schleiermacher, wie Emil Brunner ihn in seinem Buch Die Mystik und das Wort*1 sieht. Schleiermachers Fassung des Identitätsprinzips fehle, so Tillich, „das Element des Abgrundes im Grunde des Vernichtenden, Zerstörenden, alles Endliche Aufhebenden des Sinngrundes". Sein Identitätsprinzip sei zu einem „Ruhenden, Selbstverständlichen" geworden (GW VIII95). „Seinsmystische Unmittelbarkeit" liegt nach Bayer vor allem in Tillichs Idee der Transzendierung des Theismus vor. Die Voraussetzung dieser Transzendierung des Theismus und damit der von Tillich gewollten Entgegenständlichung Gottes ist ein an die Subjekt-Objekt-Struktur der Realität gebundener Gott. Ein solcher Gott kann dem Menschen in der Situation der Verzweiflung und in seiner Angst vor der Sinnleere nicht wirklich helfen. Helfen kann in solcher Situation, dies ist Tillichs Überzeugung, nur ein Gott, der den Menschen „unbedingt" transzendiert. Tillich unterstellt also, daß in der Verzweiflung nur unbedingte Gewißheit, nicht aber das „Werk", auch nicht das Werk der Überwindung des Zweifels helfen kann. Hier ist also die Gewißheitsthematik ausschlaggebend. Sie ist verbunden mit der Thematik der Rechtfertigung. In dem Ausatz The Problem of Theological Method von 194748 unterscheidet Tillich - in Analogie zur Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung - zwischen dem Punkt der unmittelbaren Wahrnehmung des Unbeding46 „Dieser Moment ist die höchste Blüte der Religion. Könnt ich ihn euch schaffen, so wäre ich ein Gott ... Er ist die Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion" (Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Neu hrsg. von Rudolf Otto. Göttingen 6. Aufl. 1967, S. 65). 47 Tübingen 1924. 48 MW/HW 4, 301-312.

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ten, die leer, ohne Inhalt, aber unbedingt gewiß ist, einerseits und der Breite eines konkreten Anliegens, das inhaltsvoll, aber von der bedingten Gewißheit des wagenden Glaubens ist, also zwischen unbedingter und bedingter Gewißheit. Die unbedingte Gewißheit ist ein Punkt, sie verkörpert und vergegenständlicht sich in konkreter Religion und ihren Symbolen. Es gibt allerdings nicht den Punkt als solchen und isoliert, sondern immer nur verkörpert in Symbolen. Beide Elemente sind untrennbar. Die Theologie beschäftigt sich allerdings, wie Tillich betont, mit dem zweiten Element, der Breite des konkreten Anliegens, der Verkörperung des Punktes, und setzt insofern den Punkt voraus. In der Einleitung zur ST II geht Tillich auf dieses sich auch in Courage to Be findende „mystische Apriori" ein, „the point of immediate awareness of the Unconditional", die Rede von Gott über dem Gott des Theismus. Diese Formulierung sei „im Sinne einer pantheistischen oder mystischen Aussage" mißverstanden worden (ST II 12/18f)· Sie sei aber keine dogmatische, sondern eine apologetische Aussage. Sie nehme den radikalen Zweifel ernst, den viele Menschen erleben, und sie soll ihnen den Mut der Selbstbejahung geben. Tillich weiß: In einem solchen Zustande schwindet der Gott der Kirchensprache. Die Quelle der Sinnbejahung in der Form der Sinnlosigkeit sei nicht der Gott des Theismus, sondern „Gott über Gott", „die Macht des Seins, die auch noch in denen wirkt, die keinen Namen für sie haben, nicht einmal den Namen Gott". Das sei eine Antwort für die Menschen, „die nach einer Botschaft inmitten ihrer Erfahrung des Nichts und im Zusammenbruch ihres Mutes zum Sein verlangen" (ST II 12/19). Und Tillich fügt hinzu: „Aber solch ein extremer Punkt ist kein Raum, in dem man leben kann". Auch hier begegnen wir also der Unterscheidung zwischen absolutem Glauben und dem Glauben in einer konkreten Religion.49 49 In einem Diskussionsbeitrag in Hofgeismar (11.-13.5.1961) führte Tillich (laut Tonbandprotokoll) aus: „Ich habe in meinem Buch ,Der Mut zum Sein' einen Satz geschrieben, der im Englischen heißt: ,God beyond God'. Genau heißt es: ,The God beyond the God of theism.' Also: Der Gott jenseits des Gottes des Theismus. Zitiert wird es aber immer ohne diesen Zusatz, nämlich: ,Der Gott über Gott'. Und da werde ich dauernd gefragt: Was ist das eigentlich? Was hat das für eine theologisch-systematische Stellung? Meine erste Antwort darauf ist sehr simpel: Lest mal das Ganze! Und nehmt das nicht heraus! Das Ganze ist ein Dialog zwischen dem Menschen, der im absoluten Zweifel steht, und dem Christen oder Seelsorger, der mit ihm spricht. Und in dieser Aussprache findet der Freund, Berater und Helfer, daß in dem absoluten Zweifel, wo Worte wie .Christus' und ,Gott' vollkommen sinnlos sind, wie sie im Abgrund des Zweifels verschwunden sind und keine Bedeutung mehr haben, daß da noch etwas geblieben ist, was der Rechtfertigung durch Glauben oder der Annahme des Unannehmbaren entspricht, nämlich die unbedingte Ernsthaftigkeit des Zweifels. Das ist die augustinische Antwort im Grunde, nur moderner formuliert, nämlich daß, solange der radikale Zweifel ernsthaft ist, auch der

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Auch Bayer sieht den Unterschied zwischen dem unmittelbaren Gewahrwerden des Unbedingten und seiner Realisierung, der Verkörperung, aber er behauptet: „Doch ist für Tillich eine solche konkrete Verkörperung in ihrer Kontingenz immer schon ein Zeichen der Entfremdung, nicht seinsnotwendig" (249). Gewiß ist die konkrete Religion für Tillich nicht seinsnotwendig, gewiß gehört sie der „Welt des Bedingten an" (GW I 369). Die Religion ist qua Religion eine Funktion des menschlichen Geistes und steht immer in der Versuchung, sich des Unbedingten zu bemächtigen, Gott zu einem Korrelat der Welt zu machen, Gott zum „Gott unter Gott" zu machen, wie Tillich sagt (GW I 369). Was diese religionskritische Haltung angeht, so unterscheidet sich Tillich nicht von Barth, vielleicht auch nicht von Luther und Calvin. Aber für Tillich ist jede Religion als Religion relativ, weil sie Vergegenständlichung des Absoluten ist, aber sie kann absolut sein, „insoweit als das Unbedingte in ihr als Unbedingtes heraustritt im Gegensatz zu allem Relativen, was ihr als Religion zukommt" (GW I 382). In diesem Sinne hat sich Tillich als dialektischen Theologen verstanden. Martin Seils hat in seinem Tillich-Kapitel des Bandes 13 (Glaube) des Handbuchs Systematischer Theologie50 das Verhältnis von unmittelbarem Gewahrwerden des Unbedingten und konkretem Glauben bei Tillich richtig erfaßt. In Tillichs Mut zum Sein vernehmen wir, so Martin Seils, „in einer bislang so nicht hervorgetretenen Weise, daß man zwischen dem unmittelbaren Gewahrwerden des Unbedingten' und dem glaubenden Vollzug dieses Gewahrwerdens unterscheiden kann und muß", und er fährt fort, indem er das Verhältnis zwischen dem unmittelbaren Gewahrwerden des Unbedingten und dessen „glaubendem Vollzug" (Tillich spricht auch von „Verkörperung") mit Hilfe des lutherischen „in, mit und unter" beschreibt: „In, mit und unter dem mittels Symbolen sich vollziehenden Glaubensergreifen des Unbedingten geschieht offenbar ein noch unmittelbareres Sichauftun des ontischen Einsseins mit dem Unbedingten, das Grundlage und Kriterium auch des glaubenden Gottesgedanke (jedenfalls der Gottesgedanke in irgendeiner theistischen oder traditionellen Form) völlig verschwinden kann und daß trotzdem die Gegenwart Gottes, nämlich die Gegenwart des abwesenden Gottes, sich bemerkbar macht, die unendliche Ernsthaftigkeit, Kierkegaard würde sagen: die Leidenschaft des Fragens, des Zweifeins. Und den Menschen, der in dieser Situation ist, hinzuweisen auf diesen Punkt, ist der ganze existentielle Sinn dieses Redens, dieses einen Satzes vom ,Gott jenseits von Gott'. Als ich das niederschrieb - das ist meine ganz deutliche persönliche Erinnerung sagte ich mir: Das wird ein Stein des Anstoßes. Soll ich nachher noch etwas Glättendes, wie ich es gerade unternommen habe, noch etwas ausführlicher Verständlichmachendes dazuschreiben? Und da sagte entweder der göttliche oder der dämonische Geist zu mir: Tu es nicht, laß den Anstoß stehen! Trotz allen Angriffen, die dauernd eintreten, bin ich froh, daß ich diesem Ruf gefolgt bin. Ich will nicht beurteilen, wo er herkam." 50 Gütersloh 1996, S. 241-295.

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Vollzuges der Hinwendung zum Unbedingten ist".51 Diese Unterscheidung von „Gewahrwerden" und „Glauben" sei keine „Unebenheit des Tillichschen Glaubensdenkens", obwohl auch „manches Undurchdachte" dabei mitschwinge. Vielmehr habe er hier noch einmal unterschieden, „was er sonst als eine gewisse innere Dialektik des Glaubensvorganges immer innerhalb des Glaubensbegriffes zu halten und auszusagen" versuche.52 Sein oder Wort? - so lautete die Fragestellung des Themas. Tillichs Antwort lautet: Sein und Wort; aber Sein und Wort sind letztlich eins. Doch dieses „und" zwischen „Sein" und „Wort" steht für Spannungen und Gegensätze. Ich glaube nicht, daß es Tillich gelungen ist, diese Spannungen und Gegensätze zwischen dem Sein und dem Wort so auszugleichen und aufzuheben, daß sein trotziger Satz: „Gegen Pascal sage ich: der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Gott der Philosophen ist der gleiche Gott" (GW V 184), Theologen und Philosophen überzeugt. Am Ende seines Aufsatzes Biblische Religion und die Frage nach dem

Sein deutet er auch eine andere Lösung des Problems an, die wie eine Verschiebung in die Subjektivität anmutet und wie eine der Existenz gestellte unendliche Aufgabe, wenn er mit folgenden Worten schließt: „Gelassen und tapfer in diesen Spannungen zu leben und schließlich ihre letzte Einheit in der Tiefe der eigenen Seele und der Tiefe des göttlichen Lebens zu finden, ist Aufgabe und Würde menschlichen Denkens" (GW V 184). Daß der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und der Gott der Philosophen ein und derselbe Gott ist, ist für Tillich ein theologisches und philosophisches Ideal, das nur in unendlicher Annäherung zu suchen ist.53

51 Ebd., S. 252. 52 Ebd., S. 253. 53 Immerhin hält Tillich in seiner Antrittsvorlesung als Professor für Philosophische Theologie am Union Theological Seminary New York (von 1940) die „vollkommene Einheit" von kerygmatischer und philosophischer Theologie für ein Ideal, das nur von den größten Theologen erreicht worden sei - „and even by them only approximately" (MW/HW 4, S. 280).

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Tillichs letztes Blatt: Über Kant, Hamann und Oswald Bayers Kritik der Tillichschen Ontotheologie Wer in Tillichs Schriften nach letzten Blättern sucht, muß mit Fehlanzeigen rechnen. Zumindest für seine Habilitationsschrift trifft dies zu: „die Schlußseite", so der lakonische Herausgeberkommentar, „ist leider unauffindbar". 1 Tillichs Abhandlung zum Thema „Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität - dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher" endet abrupt, nämlich mitten im Satze. Ich zitiere: „Damit aber sind wir an der tiefsten Wurzel der supranaturalistischen Methode angekommen: Das Supra zwingt sie, jede Ineinssetzung von objektiver Offenbarung und fragendem Subjekt zu bestreiten. Diese Ineinssetzung hatte die Orthodoxie in der Lehre vom testimonium spiritus sancti, durch welche die ganze historische Fragestellung ...". 2 Der Rest ist Schweigen. Nun kann man im Fehlen eines letzten Blattes einerseits einen bloßen Zufall sehen, man kann dieses Fehlen aber andererseits auch als einen gleichsam providentiellen Hinweis auf ein Defizit deuten, das in der Sache selbst begründet liegt. Im Falle von Tillichs Supranaturalismusschrift hätte diese Deutung nach meinem Urteil durchaus ein sachliches Recht. Denn einen überzeugenden Schluß bleibt diese m. E. nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht schuldig. Auf entsprechende inhaltliche - durch Veränderung der ursprünglich geplanten Überschrift nur äußerlich behobene - Mängel wurde übrigens schon beizeiten hingewiesen, etwa von Wilhelm Lütgert, der am 8. Juli 1915 an den Feldprediger Tillich bezüglich seiner Habilitationsarbeit schrieb: „Sie ist nicht eine Entwicklung des Begriffs des Übernatürlichen im älteren Supranaturalismus. Wie dieser Begriff entstanden ist, wie er begründet ist, wie er sich zu dem entsprechenden Begriff des Supranaturalismus verhält und wie zur Orthodoxie, dies alles wird gar nicht berührt. Der Begriff wird nicht einmal 1 P. Tillich, Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität - dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher (1915), in: ders., Frühe Werke, hg. v. G. Hummel u. D. Lax, Berlin/New York 1998 (Erg.- und Nachlassbde. zu GW, Bd. IX), 437. 2 A.a.O., 588.

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für sich dargestellt. Am eigentümlichsten wirkt dies in den christologischen Partien. Die Arbeit ist nicht historisch, sondern rein logisch, rein dialektisch. Und zwar geht sie von der Voraussetzung der Identitätsphilosophie wie von einer selbstverständlichen Sache aus. Von der Dialektik aus, die mit ihr gegeben ist, wird der Supranaturalismus geprüft und bekommt selbstverständlich immer Unrecht" (EW V, 101 f)· Diese präzise Beschreibung hat, wie ich finde, auch heute noch ihre Gültigkeit und das umso mehr, als Tillich die Anlässe von Lütgerts Kritik m. E. auch in seinem an die Habilitationsschrift anschließenden Gesamtwerk nicht wirklich beseitigt hat.3 Mit der Kritik des Supranaturalismus hat er es sich von Anfang bis Ende zu leicht gemacht. Oswald Bayer hat recht: Wo es um den Supranaturalismus geht, redet Tillich ,glicht nur schematisch, sondern bietet in vielen Zügen Karikaturen".4 Fragt man nach den Gründen von Tillichs eilfertiger Erledigung des Supranaturalismus, so wird man von Bayer, wie schon von Lütgert, auf das allzu selbstverständlich vorausgesetzte Prinzip der Identität verwiesen, zu dem sich Tillich gleich zu Beginn seiner Supranaturalismusschrift bekannt habe, wenn er sage: „Hinter der Kritik aber als stillschweigende Voraussetzung und als angedeutetes Ziel steht die Position: Das Prinzip der Identität. Ich verstehe darunter das in der kritisch-idealistischen Philosophie von Kant bis zu Schellings zweiter Periode erfaßte erkenntnistheoretische Grundprinzip der lebendigen Einheit von Subjekt und Objekt, Begriff und Anschauung, Absolutem und Relativem".5 Gemäß der Sicht Bayers hat Tillich damit selbst in dankenswerter Offenheit Einblick gegeben in den sich durchhaltenden Grundfehler seiner Gesamtkonzeption. Die Metakritik des in Tillichs Supranaturalismuskritik in stillschweigender Selbstverständlichkeit vorausgesetzten Prinzips der Identität ist es zugleich, welche Bayers Tillichkritik nicht nur ihre innere Einheit gibt, sondern zugleich ihren Anspruch auf Exemplarität begründet. Soll durch sie doch nicht nur das System Tillichs, sondern die strukturelle Grundbestimmung des Geistes der Neuzeit insgesamt getroffen werden, dessen Beginnen im Namen Kants ursprünglich Inbegriffen ist, um von dessen Transzendentalphilosophie seinen Ausgang und weiteren Verlauf zu nehmen. Kurzum: Das an Tillich statuierte Exempel ist paradigmatisch insofern zu nennen, als es dabei in der Sicht Bayers beispielhaft um die theologisch geforderte Auseinandersetzung mit dem Geist bzw. Ungeist der Moderne überhaupt geht. So betrachtet, wiederholt sich in der Auseinandersetzung Bayers mit Tillich in strukturanalo3 Zur Begründung dieser Annahme vgl. im einzelnen meinen Beitrag: Tillichs Kritik des Supranaturalismus, in: G. Hummel (Hg.), God and Being/Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich/Das Problem der Ontologie in der philosophischen Theologie Paul Tillichs, Berlin/New York 1989, 3-29. 4 Ο. Bayer, Theologie, Gütersloh 1994, 224. 5 P. Tillich, a.a.O., 442.

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ger Weise der Konflikt Hamanns mit Kant, wobei Tillich der Part von Kant und Konsorten zuzudenken ist, während Bayer denjenigen Hamanns übernimmt. Damit ist der Aufriß nachfolgender Erwägungen bereits umschrieben: Zunächst (1.) wird Kants transzendentaldialektische Ideenlehre in anthropologischer, kosmologischer und theologischer Hinsicht skizziert, um der zu erörternden Thematik ein neuzeitspezifisches Format zu geben und in Grundzügen zu erfassen, welchen kritischen Begriff der Philosoph, der die Aufklärung über sich selbst aufzuklären beanspruchte, vom Übernatürlichen und einer supranaturalen Metaphysik hatte. Sodann (2.) werden Grundmotive von Johann Georg Hamanns Metakritik am Kantschen Kritizismus benannt und in Beziehung gesetzt zu Oswald Bayers Tillichkritik, die ein dritter Abschnitt (3.) in einer der Leitfrage des Kongresses „Sein versus Wort?" entsprechenden Weise entfaltet. Wie aus der bezeichneten Argumentationsfolge unschwer ersichtlich wird, ist es das wesentliche Ziel der Erörterungen, die internen, für Bayers eigene Gedankenentwicklung bestimmenden Motive seiner Tillichkritik kenntlich zu machen.6 Eine eigene Interpretation Tillichscher Theontologie zu geben, wird hingegen nicht beabsichtigt.7 Dennoch kann die Frage, ob bzw. inwieweit Bayer als Hermeneut des leibhaften Wortes dem Seinsdenker Tillich gerecht geworden ist, nicht gänzlich ausgespart werden. In der durch die Dioskurenpaarung Identität und Differenz angedeuteten Perspektive soll diese Frage abschließend (4.) in Form einiger Problemanzeigen angesprochen werden. Daß damit längst nicht alles zum Thema gesagt ist, steht auf einem anderen Blatt.

1. Ich, Welt und Gott: das Vernunftproblem der transzendentalen Ideen bei Kant Das Land des Verstandes, sagt Kant gegen Ende der den Begriffen und Grundsätzen reiner Verstandeserkenntnis gewidmeten transzendentalen Analytik seiner „Critic der reinen Vernunft" (Riga 1781 [= A]; 2 1787 [= B]; Kursivdruck und Sperrungen werden nicht übernommen), ist eine Insel der Wahrheit 6 Dabei ist nur an solche Motive gedacht, die auch dann noch bestehen, wenn sich das Urteil als unzutreffend erweisen sollte: „Herr Bayer mag Paul Tillich nicht" (Y. Spiegel, Rez. v. O. Bayer, Theologie [vgl. Anm. 4], in: Dialog. Mitteilungsblatt der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft e.V., NF 24 (1997), 14-18, hier: 14). 7 Vgl. hierzu meine Einführung in Paul Tillichs philosophische Schriften, in: P. Tillich, Philosophical Writings/Philosophische Schriften, hg. v. G. Wenz (Main Works/ Hauptwerke, hg. v. C.H. Ratschow, Bd. 1), Berlin/New York 1989, 1-10 (in englischer Übersetzung: 11-20) sowie meine Dissertation: Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979.

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„umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann" (Β 295/A 235f). Die Rede ist von metaphysischen Exkursionen. Bevor sich Kant an ihnen beteiligt, scheint es ihm nützlich, „zuvor noch einen Blick auf die Karte des Landes zu werfen, das wir eben verlassen wollen" (B 295/A 236). Deren Bemessungsprinzip liegt in der Einsicht begründet, daß der Verstand von allen seinen Grundsätzen α priori, ja von allen seinen Begriffen überhaupt sinnvollerweise stets nur empirischen Gebrauch machen kann. Der Verstand kann sonach niemals die Zusammenhänge der Erfahrungswelt verlassen, um über erfahrungstranszendente Dinge an sich ontologisch-noumenale Aussagen zu machen. Gleichwohl wäre es nach Kant verfehlt, den Begriff des Noumenalen als in sich unsinnig und widersprüchlich abzutun. Es handelt sich bei ihm freilich um einen bloßen Grenzbegriff des Phänomenalen; gleichwohl ist dieser, wie Kant hinzufügt, ,glicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können" (Β 311/A 255). Kann sonach zwar von einem bloß intelligiblen Gegenstand nicht die Rede sein, so bleibt der Begriff des Noumenalen, problematisch genommen, dennoch nicht nur ein zulässiger, sondern ein unvermeidlicher Begriff. In dreifacher Hinsicht macht die Vernunft, die Kant als „das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien" (Β 359/A 302) umschreibt, vom Begriff des Noumenalen ideellen Gebrauch: in psychologischer, in kosmologischer und in theologischer Hinsicht. Menschenseele, Weltganzes und Gott das sind jene Grenzbegriffe, welche die rein mit sich selbst beschäftigte Vernunft nach Maßgabe kategorischer, hypothetischer und disjunktiver Schlußverfahren ausbildet. Mit transzendenten Wesenheiten indes haben, um es zu wiederholen, die transzendentalen Vernunftideen Kant zufolge schlechterdings nichts zu tun; was sie markieren, ist die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Hingegen gleicht der Ontologe, der Seinsaussagen über Transzendent-Noumenales zu treffen beansprucht, nach Kants spöttischem Hinweis einer Taube, die meint, im luftleeren Raum höher fliegen zu können als im Bereich irdischer Atmosphäre. Daß der Schluß der Vernunft, um bei der Idee der Menschenseele zu beginnen, vom transzendentalen Begriff des Subjekts als des reinen „Ich denke", das alle meine Vorstellungen muß begleiten können, ohne Mannigfaltiges in sich zu enthalten, auf die absolute Einheit dieses denkenden Subjekts bzw. auf ein Unbedingtes der kategorischen Synthesis in ihm auf einen Paralogismus, also auf einen Trugschluß hinausläuft, durch welchen die Vernunft sich selbst

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hintergeht, gilt Kant als ausgemacht. Die traditionelle Seelenmetaphysik als die Lehre von einer immateriellen, in ihrer Einfachheit inkorruptiven Substanz von selbstidentisch-personaler Spiritualität, welche nicht nur als Lebensprinzip alles Materiellen fungieren, sondern in ihrer Immortalität das unbedingte Prinzip zeitlos-überzeitlicher Ewigkeit in sich tragen soll, gilt ihm daher als obsolet. Läßt sich doch nach seinem Urteil in allen seelenmetaphysischen Theorien ein und derselbe Grundfehler nachweisen, welcher darin besteht, die Einheit des Bewußtseins im Sinne einer Objektanschauung vorstellig zu machen und mit der Kategorie der Substanz bzw. analogen Verstandesbestimmungen in Verbindung zu bringen, obwohl das die Einheit des Bewußtseins identifizierende „Ich denke" nichts weiter als bloße Einheit im Denken bezeichnet, ohne jede gegebene Anschauung, auf welche Verstandesbegriffe Anwendung finden können. Ist sonach nach Maßgabe der Erkenntnistheorie Kants eine über die Grenzen der Erfahrung hinausführende rationale Seelenmetaphysik nicht möglich, so soll dadurch für die eigentlichen Interessen der Vernunft gleichwohl „nicht das mindeste verloren" (B 424) sein. Denn auch wenn ein spekulativer Erweis der Unsterblichkeit der Menschenseele unmöglich sei, so schließe das doch nicht aus, daß die Vernunft bezüglich der Ordnung der Zwecke als ihrem eigentümlichen Gebiet sich selbst und mit sich die vernünftige Menschenseele „über die Grenzen der Erfahrung und des Lebens hinaus zu erweitern berechtigt ist" (B 425). Indes falle solche Erweiterung nicht in die Kompetenz der theoretischen, sondern allein der praktischen Philosophie. Mit Kant zu reden: „Gesetzt aber, es fände sich in der Folge, nicht in der Erfahrung, sondern in gewissen (nicht bloß logischen Regeln, sondern) a priori feststehenden, unsere Existenz betreffenden Gesetzen des reinen Vernunftgebrauchs, Veranlassung, uns völlig a priori in Ansehung unseres eigenen Daseins als gesetzgebend und diese Existenz auch selbst bestimmend vorauszusetzen, so würde sich dadurch eine Spontaneität entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit bestimmbar wäre, ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen; und hier würden wir inne werden, daß im Bewußtsein unseres Daseins a priori etwas enthalten sei, was unsere nur sinnlich durchgängig bestimmbare Existenz, doch in Ansehung eines gewissen inneren Vermögens in Beziehung auf eine intelligibele (freilich nur gedachte) Welt zu bestimmen dienen kann" (B 430). Wie die Paralogismen der reinen Vernunft bezüglich ihrer psychologischen Ideen, so verweisen nach Kant auch die Antinomien der reinen Vernunft bezüglich ihrer kosmologischen Ideen auf den gebotenen Übergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie. Inhalt der kosmologischen Ideen der reinen Vernunft ist die unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen der Erscheinung und damit der Begriff der Welt insofern, als er die absolute Totalität

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in der Synthesis der Bedingungen aller möglichen Dinge bezeichnet. Bei der Ausbildung der Weltidee gerät die Vernunft in eine vierfache Antithetik: Der erste Widerstreit der den Kosmos betreffenden transzendentalen Ideen besteht zwischen der Behauptung eines zeitlichen Anfangs und einer räumlichen Begrenzung der Welt und ihrer behaupteten Anfangslosigkeit und räumlichen Unendlichkeit. Die zweite Antinomie ergibt sich bezüglich der These, alle zusammengesetzten Dinge in der Welt bestünden aus Teilen und überall bestehe nichts als das Einfache oder das aus Einfachem Zusammengesetzte, sowie der antithetischen Verneinung derselben. Die dritte Antinomie als die in bestimmter Hinsicht bedenklichste bzw. bedenkenswerteste besteht in dem Widerstreit zwischen der kosmologischen Annahme einer den Kausalitätsgesetzen der Natur entnommenen Kausalität durch Freiheit im Sinne einer „absolute(n) Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen" (Β 474/A 446), und der gegenteiligen These eines naturkausalen Determinismus. Die vierte kosmologische Vernunftantinomie schließlich leitet bereits zur transzendentalen Theologie über, sofern in der Thesis behauptet wird, zur Welt gehöre etwas, das - entweder als ihr Teil oder als ihre Ursache - ein schlechthin notwendiges Wesen ist, wohingegen die Antithesis die Existenz eines schlechterdings notwendigen Wesens generell bestreitet. Da die Vernunft sich mit dem Widerstreit ihrer selbst vernünftigerweise nicht abfinden kann, drängt sie notwendig auf eine Auflösung der besagten kosmologischen Antinomien, welche freilich nach Kant nur eine kritische sein kann, da sie in der Erfahrung niemals vorkommen kann. Als Schlüssel kritischer Lösung dient dabei insonderheit die Verabschiedung der Annahme, „daß die Welt (der Inbegriff aller Erscheinungen) ein an sich existierendes Ganzes sei" (Β 535/A 506f). Ohne diese auf bloßem transzendentalen Schein beruhende Voraussetzung lösen sich die kosmologischen Antinomien gleichsam von selbst auf, um der Einsicht zu weichen, daß die Welt nur die regressive Synthesis in der Reihe der Erscheinungen bezeichnet und nicht ein Ding an sich selbst, welches in der Erscheinung bzw. vor allem im indefinitum verlaufenden empirischen Regreß anzutreffen ist. Kann sonach die Vernunftidee der Welt vernünftigerweise nur im Sinne eines regulativen Prinzips Verwendung finden, so ist damit nicht zuletzt der kosmologischen Vorstellung der Welt als eines geschlossenen naturkausal determinierten Systems die scheinbare Zwangsläufigkeit bestritten und der Kausalität aus Freiheit, will heißen: aus dem „Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen" (Β 561/A 533) ihre Irreduzibilität gegenüber der Naturkausalität gesichert. Zwar ist die Idee der Freiheit als einer Spontaneität, welche ohne externe Ursache ihr Beginnen von sich aus ins Werk zu setzen vermag, ihrerseits kein Gegenstand möglicher Erfahrung; gleichwohl ist die Vernunft trotz ihrer theoretisch zu wahrenden

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Grenzen in praktischer Hinsicht berechtigt, die Idee spontaner Freiheit auszubilden und die Möglichkeit eines Zusammenbestehens, ja eines schließlichen Zusammenstimmens menschlichen Freiheitsvermögens mit dem allgemeinen Gesetz der Naturnotwendigkeit zu erweisen. Haben als die Leitideen transzendentaler Psychologie und Kosmologie Ich und Welt zu gelten, so verweist der Gottesbegriff auf das Ideal der reinen Vernunft als den Inbegriff ihrer Ideen, kurzum: auf die reine, schlechterdings ideelle Idee. Als regulatives Richtmaß der Vernunft ist das transzendentale Ideal der absoluten synthetischen Einheit aller Bedingungen der Möglichkeit der Dinge als der omnitudo realitatis ebenso unentbehrlich, wie seine quasiempirisch-vergegenständlichte Vorstellung in einem transzendenten Wesen aller Wesen nach Kant auf einen Ungedanken hinausläuft. „Das Ideal aber in einem Beispiele, d.i. in der Erscheinung, realisieren wollen, wie etwa den Weisen in einem Roman, ist untunlich und hat überdem etwas Widersinnisches und wenig Erbauliches an sich, indem die natürlichen Schranken, welche der Vollständigkeit in der Idee kontinuierlich Abbruch tun, alle Illusion in solchem Versuche unmöglich und dadurch das Gute, das in der Idee liegt, selbst verdächtig und einer bloßen Erdichtung ähnlich machen" (Β 598/A 570). Der damit ausgesprochene prinzipielle Antisupranaturalismus findet in Kants Kritik der klassischen Gottesbeweise, die er ihrer ontologischen, kosmologischen bzw. physikotheologischen Beweisart gemäß unterteilt, seine Bestätigung, um in der Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft sich zu vollenden. Dabei ist die Behauptung schlicht und ergreifend die, „daß alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind; daß aber die Prinzipien ihres Naturgebrauchs ganz und gar auf keine Theologie führen, folglich, wenn man nicht moralische Gesetze zum Grunde legt, oder zum Leitfaden braucht, es überall keine Theologie der Vernunft geben könne. Denn alle synthetischen Grundsätze des Verstandes sind von immanentem Gebrauch; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transzendenter Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet ist" (Β 664/A 636). Summa summarum: „Das höchste Wesen bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönet, dessen objektive Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann, und, wenn es eine Moraltheologie geben sollte, die diesen Mangel ergänzen kann, so beweiset alsdenn die vorher nur problematische transzendentale Theologie ihre Unentbehrlichkeit, durch Bestimmung ihres Begriffs und unaufhörliche Zensur einer durch Sinnlichkeit oft genug getäuschten und mit ihren eigenen Ideen nicht immer einstimmigen Vernunft" (Β 669/A 644).

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2. Hamanns Metakritik des Kantschen Vernunftpurismus Johann Georg Hamann (1730-1788) war Zeitgenosse Immanuel Kants (17241804). Trotz mancher biographischer Gemeinsamkeiten und persönlicher Berührungspunkte markieren Leben und Werk beider einen Kontrast.8 Oswald Bayer hat diesen Kontrast als „Grundkonflikt zwischen Aufklärung und Christentum"9 zu bestimmen gesucht. Nachdem Hamann vom konfusen Leser vieler Bücher zum konzentrierten Leser des einen Buches, des Buches der Bücher, der Bibel geworden sei, habe er erfahren, „daß er im Lesen gelesen, daß er im Verstehen verstanden wird"10. Der im Wort biblischer Geschichte zuvorkommend begegnende Gott legt den, welcher hört, „so aus, daß er ein neuer Mensch wird"11. In folgsamem Gehorsam zieht Hamann daraus die - vom transzendentalphilosophischen Vernunftschluß Kants grundlegend unterschiedene, in einem Briefgespräch mit Friedrich Heinrich Jacobi auf folgenden Nenner gebrachte - Konsequenz: „Mit allem Kopf(zer)brechen geht es mir wie dem Sancho Pancha, daß ich mich endlich mit seinem Epiphonem beruhigen muß: Gott versteht mich!"12 Erst wo dieses in gläubiger Wahrnehmung vernommen ist, kommt das Ich in rechter Weise zu sich selbst und zum Bewußtsein seiner geschöpflichen Bestimmung, aus welchem gottgewissen Selbstbewußtsein ein vom vermittlungslosen Beginnen unmittelbar selbstbestimmter Vernunft wesentlich unterschiedenes Verhältnis sowohl zur Leibhaftigkeit eigener Individualität als auch zur individuellen Leibhaftigkeit der Mitmenschen, ja der gesamten kreatürlichen Welt folgt. Während die auf ihrer autonomen Selbstursprünglichkeit bestehende Vernunft - des unvordenklichen Zuvorkommens der in der Hl. Schrift beurkundeten Selbstzusage Gottes uneingedenk - zwingend zu begründen, zu folgern und zu schließen beansprucht, entspricht die das Wort Gottes vernehmende Vernunft diesem auf gehorsame Weise dadurch, daß sie nicht durch sprachlosen Zwang, sondern sprechend und nach Art des Gesprächs sich ins Werk zu setzen gedenkt. „Die sich mitteilende Wahrheit nötigt nicht; deshalb will ihr Zeuge sie nicht erzwingen. Sie geschieht frei und ist das Majestätsrecht des Autors, der endgültig auslegt und urteilt" (Hervorhebung von mir).13

8 Vgl. etwa K. Rosenkranz, Kant und Hamann. Eine Parallele (1858/1875), in: R. Wild (Hg.), Johann Georg Hamann, Darmstadt 1978, 16-43. 9 O. Bayer, Hamann, Johann Georg, in: TRE 14, 395-403, hier: 396. 10 A.a.O., 395. 11 A.a.O., 396. 12 Johann Georg Hamann, Briefwechsel Iff, hg. v. A. Henkel (W. Ziesemer), Wiesbaden (Frankfurt) 1955ff, hier: VII, 135; bei Bayer zit. a.a.O., 402. 13 O. Bayer, a.a.O., 402.

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Das Grundmotiv sowohl für Hamanns Kritik am politischen System des aufgeklärten Absolutismus, wie Friedrich der Große ihn repräsentierte, als auch für seine Metakritik von Kants Kritik der reinen Vernunft ist damit benannt. Zugleich ist klar, aus welchem Grund heraus, kaum daß Kants Revolution der Denkungsart ihren Anfang genommen hatte, eine zweite, auf die erste reagierende, aber keineswegs in Reaktion sich erschöpfende Wende des Geistes sich anbahnte, jene nämlich, welche man in der Regel die hermeneutische nennt und als deren Kennzeichen der von Hamann paradigmatisch ausgefochtene Kampf „gegen die Sprachvergessenheit transzendentaler Vernunftkritik"14 gelten kann. Dieser Grund ist ein im strikten Sinne theologischer; und in der Tat wird Hermeneutik nur dann eine ernstzunehmende Gegenposition gegen die tatsächliche oder vermeintliche „Anthropologisierung der metaphysischen Funktionen Gottes in Kants Kritik der reinen Vernunft"15 einzunehmen und zu behaupten in der Lage sein, wenn sie nicht aufhört, sich im strikten Sinne als Theologie zu begreifen. Trifft es nämlich zu, was nach Hamanns und nicht nur nach Hamanns Urteil der Fall ist, daß nämlich Kants Vernunftkritik „in allen ihren Teilen als Auflösung und Umsetzung der theistisch begründeten Metaphysik der Aufklärung in eine anthropozentrische Beschreibung des Erfahrungsbewußtseins zu verstehen ist"16, dann läßt sich einem solchen Anthropozentrismus, welcher „das Ganze der Erfahrung auf die Einheit des cogito zu begründen versucht statt auf den Gedanken Gottes"17, nur auf gewissermaßen radikalhermeneutische Weise, will heißen: dadurch begegnen, daß man die Wahrnehmung der vernehmbar offenbaren Wirklichkeit Gottes als „konstitutiv für das menschliche Bewußtsein in seinem Verhältnis zu sich selbst und zur Welt"18 erweist. Hamann hat genau dies zu tun beabsichtigt. In diesem Sinne war er dezidierter Theologe und zwar ein Theologe, welcher seine theologische Aufgabe entschiedenermaßen nicht darin sah, die religiöse Form der Wahrnehmung der offenbaren Wirklichkeit Gottes, welcher diese als transzendente, Selbst und Welt transzendierende Wirklichkeit vorstellig wird, durch spekulative bzw. moralphilosophische Aufhebungsversuche zum Verschwinden zu bringen. Daß die Religion in Metaphysik und Moral nicht aufzulösen, sondern - obwohl in untrennbarer Beziehung zu beiden stehend - ihnen zugleich und beständig jenseitig sei, ist eine These, die sich nicht erst bei Schleiermacher

14 A.a.O., 400. 15 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, Göttingen 1996, 184 unter Verweis auf F. Delekat, Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften, 1962. 16 W. Pannenberg, a.a.O., 194. 17 A.a.O., 202. 18 A.a.O., 195.

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findet, sondern die bereits Hamann vertrat19. Oswald Bayer zufolge hat Hamann das dem universalisierenden Zugriff theoretischer und praktischer Vernunft entzogene individuelle Allgemeine der Religion, welche die Chiffren der Natur und der Geschichte als Sprache der in Jesus Christus in der Kraft des Hl. Geistes offenbaren Transzendenz Gottes zu lesen vermag20, sogar konsequenter und angemessener zur Geltung gebracht als Schleiermacher, sofern dessen Religionsbegriff auf den Erweis einer - mit der Wendung von der schlechthinnigen Abhängigkeit umschriebenen - fundamentalanthropologischen Struktur hin angelegt ist, „um durch deren Allgemeingültigkeit die Universalität des Evangeliums plausibel zu machen".21 Im Gegensatz etwa zu H. Stephan, der in Schleiermacher den Vollender Hamanns sah22, betont daher Bayer: „Die Romantik und mit ihr Schleiermacher haben Hamanns Hermeneutik mißverstanden". 23 Um zu Hamanns kritischer Auseinandersetzung mit Kant zurückzukehren, so ist, was die einschlägigen Texte betrifft, als erstes zu erinnern an seinen Brief vom 18. Dezember 1784 an Christian Jacob Kraus, „den Königsberger Professor der praktischen Philosophie und Staatswissenschaft, Schüler und Freund sowohl Kants als auch Hamanns". 24 Veranlaßt ist dieser Brief durch Kants berühmte Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", die geraume Zeit vorher in der Berlinischen Monatsschrift" erschienen war. Ihr Grundsatz lautete: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" (A 481; bei K. gesperrt). Damit ist der „entscheidende Satz der Nachschrift" 25 des erwähnten Hamannbriefes zu vergleichen, wo es

19 Mit Wilhelm Dilthey zu reden: „Hamann (erfaßte) die Religion als eine Tatsächlichkeit, deren Ursprung jenseits des abstrakten Denkens liegt und deren Wert und Geltung seiner Kontrolle nicht unterliegt, und indem er tiefsinnig und wahr dem inneren Zusammenhang derselben mit Sprache und Dichtung nachging, erhob er die Seelenverfassung in das Bewußtsein, welche dem abstrakten Denken voraufliegt, zugleich aber diesem gegenüber Wert und Berechtigung behauptet." (W. Dilthey, Johann Georg Hamann [1858/1936], in: R. Wild [Hg.], a.a.O., 44-90, hier: 46). 20 Vgl. I. Piske, Offenbarung - Sprache - Vernunft. Zur Auseinandersetzung Hamanns mit Kant, Frankfurt am Main 1989, bes. 234ff. 21 O. Bayer, Gegen System und Struktur. Die theologische Aktualität Johann Georg Hamanns, in: B. Gajek (Hg.), Johann Georg Hamann. Acta des Internationalen HamannColloquiums, Frankfurt am Main 1979, 40-50, hier: 48f. 22 H. Stephan, Hamanns Christentum und Theologie. Eine Studie zur neueren Kirchengeschichte, in: ZThK 12 (1902), 345-427. 23 O. Bayer, Vernunft ist Sprache, in: KuD 32 (1986), 278-292, hier: 281. 24 Ders., Selbstverschuldete Vormundschaft. Hamanns Kontroverse mit Kant um wahre Aufklärung, in: ders., Umstrittene Freiheit. Theologisch-philosophische Kontroversen, Tübingen 1981, 66-96, hier: 66. 25 A.a.O., 73.

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zusammenfassend heißt: ,Meine Verklärung der Kantschen Erklärung läuft also darauf hinaus, daß wahre Aufklärung in einem Ausgange des unmündigen Menschen aus einer allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft bestehe". 26 Was damit näherhin gemeint ist, hatte Hamann bereits in zwei Schlüsseltexten seiner Kontroverse mit Kant klargelegt, nämlich in seiner Rezension der „Kritik der reinen Vernunft" von 178 127 sowie in seiner „Metakritik über den Purismus der Vernunft" von 178428, die man nicht ohne Recht den „konzentrierteste(n) Angriff' genannt hat, „den Kants Philosophie erfahren hat". 29 Worum es geht, ist nicht, wie es vordergründig erscheinen mag, die Antithese von Rationalismus und Irrationalismus; Hamanns Vorwurf gegen Kant ist im Gegenteil der, daß sich dieser einer irrationalen Erschleichung schuldig mache, insofern die Sprachhandlung, welche die Vernunftkonstruktion hintergründig leite, durch diese nicht nur nicht aufgeklärt, sondern verdeckt werde: „Das Kantische Bewußtsein", so die Quintessenz des Einwands, „spricht, wenn es seine absolute Vollendung anstrebt, in der Sprache der Religion, aber ohne sich wie die Religion zu einem rezeptiven Verhältnis zu seinen Grundsätzen als anfänglichen Topoi zu bekennen. Es versteht seine Grundsätze als Sätze aus reiner Vernunft, ohne damit auch die Vernunft in ihrem zugrundegelegten besonderen, nämlich Kantischen Begriff, den die Autorhandlung der ,Kritik' präsentiert, als gesetzt, d.h. als zum Zwecke philosophischer Orientierung und Problemlösung nur vorausgesetzt zu begreifen. Darin ist es das säkularisierte (nämlich um den Begriff seiner Selbsttranszendenz verkürzte), in einem säkularen Begriff seiner selbst sich fixierende Bewußtsein." 30 Zielt sonach Hamanns Metakritik darauf, das Dogmatische in Kants vermeintlichem Vernunftpurismus aufzuweisen und die Annahme universaler Allgemeinheit als die Beschränktheit eines seiner - sprachlichen - Bedingtheit uneingedenken Standpunkts zu kennzeichnen, so ist es näherhin das sich unreflektiert und darin dogmatisch als Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung setzende Ichsubjekt, dessen von Tradition, Sinnlichkeit und Sprache sich emanzipierender Überheblichkeit der „Magus aus Norden" (dessen Werkedition kein Geringerer als Goethe „entweder selbst zu besorgen, oder wenigstens zu befördern" 31 gedachte) den Kampf ansagte. Exemplarisch ist dieser Kampf 26 J. G. Hamann, Briefwechsel, hg. v. W. Ziesemer/A. Henkel, Bd. V, 289-292, hier: 291. 27 J. G. Hamann, Sämtliche Werke, hg. v. J. Nadler, Bd. III: Schriften über Sprache/Mysterien/Vernunft (1772-1788), Wien 1951, 275-280. 28 A.a.O., 281-289. 29 E. Metzke, Kant und Hamann (1955/1961), in: R. Wild, a.a.O., 233-263, hier: 239f. 30 J. Simon, Vernunftkritik und Autorschaft. Reflexionen über Hamanns Kantkritik, in: B. Gajek (Hg.), a.a.O., 135-164, hier: 148. 31 J. W. v. Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Dritter Teil. Zwölftes Buch, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 10, Zürich 1950 (Artemis-Gedenkausgabe), 563.

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darin zu nennen, daß er dem recht eigentlich nicht schon durch Descartes, sondern erst durch Kant zum Prinzip der Modernität erklärten Grundsatz des „cogito ergo sum" seine Grenzen aufzuweisen sucht. Als heilsames Gegenmittel gegen den, mit Oswald Bayer zu reden, „unleugbaren puristischen Zug neuzeitlichen Wollens und Denkens, wie er sich in den Formen der Beherrschung der Natur und des Menschen zeigt, aber auch im Abstraktions- und Reduktionsverfahren der Vertreter einer natürlichen Religion"32, wird zuletzt das eine Wort zur Sprache gebracht, welches allein zu helfen vermag: das Wort vom Kreuz, in welchem Wissen und Tun, Metaphysik und Moral Gericht und Rettung erfahren. „Hamann wollte nichts anderes sein als Kreuzesphilologe, philologus cruris: Liebhaber des Wortes vom Kreuz." 33 Was nach 1. Kor 1, 23 den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit ist, gilt Hamann als Inbegriff göttlicher Wahrheit und Kraft. In einem knappen Text, seinem von J. Nadler34 so genannten „Letzten Blatt", hat er dies kurz vor seinem Tode Marianne von Gallitzin ins Stammbuch geschrieben. Oswald Bayer war es, der diesem Text im Anschluß an Forschungen namentlich von Nadler, W. Koepp35 und M. Seils36 zusammen mit Christian Knudsen eine ebenso historisch präzise wie gedanklich eindringliche Deutung zuteil werden ließ. Unter den Aspekten Metaphysik und Offenbarung, alte und neue Welt, Offenbarung und Passion sowie Kritik und Politik interpretiert er Hamanns „Letztes Blatt" als theologia in nuce und als - in seiner Bedeutung dem ,Memorial" Pascals vergleichbares - Testament eines Mannes, der als ,»Zeitgenosse im Widerspruch"37 seinem Jahrhundert, „das sich selbst als Zeitalter der 32 O. Bayer, Vernunftautorität und Bibelkritik in der Kontroverse zwischen Johann Georg Hamann und Immanuel Kant, in: NZSThuRPh 28 (1986), 179-197, hier: 181. 33 Ders., Kreuzesphilologie, in: ders., Leibliches Wort, Tübingen 1992, 105-124, hier: 105. Vgl. ferner a.a.O., 125-148: Sokratische Katechetik? Ein Streit um den Kleinen Katechismus in der Aufklärung. 34 Vgl. J. G. Hamann, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von J. Nadler, 6 Bde., Wien 1949-1957, hier: III, 409; vgl. auch J. Nadler, Johann Georg Hamann. 17301788. Der Zeuge des Corpus mysticum, Salzburg 1949, 446-448. 35 O. Koepp, Das wirkliche „Letzte Blatt" Johann Georg Hamanns, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock 3 (1953/54), Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 1,71 -79; ders., Johann Georg Hamanns „Letztes Blatt" im Verhältnis zu seinem Schrifttum, in: Forschungen und Fortschritte. Nachrichtenblatt der deutschen Wissenschaft und Technik 28 (1954), 312-315; ders., Der Magier unter Masken. Versuch eines neuen Hamannbildes, Göttingen 1965. 36 M. Seils, Theologische Aspekte zur gegenwärtigen Hamann-Deutung, Göttingen 1957; ders., Die Grundlage von J. G. Hamanns „Letztem Blatt" im Stammbuch der Fürstin Gallitzin, in: Forschungen und Fortschritte. Nachrichtenblatt der deutschen Wissenschaft und Technik 29(1955), 178-184. 37 Vgl. O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München/Zürich 1988, hier bes. 138-150 sowie 179-192.

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Kritik und der Aufklärung sah"38, metakritisch das Kreuz vorhielt. Bayers Kommentar schließt nach Auslegungen der vom Autor des ,fetzten Blattes" für seine Unterschrift angenommenen Selbstbezeichnungen mit Erörterungen zur Datumsangabe des Stammbucheintrags, mit der Hamann „seiner eschatologischen Existenz zwischen den Zeiten"39 symbolischen Ausdruck verlieh: „a Munster ce 17 May la veille du Dimanche de la S. Trinite 88". Noch herrscht trotz behaupteter Aufklärung das Zwielicht der Dämmerung. Doch läßt es sich Hamann, „wie er bezeugt, gesagt sein, daß das Zwielicht der Gegenwart sich nicht zur ewigen Nacht, sondern zum ewigen Tag wendet. ,La veille' ist der Vorabend des Tages, auf den keine Nacht mehr folgen wird; ,1a veille du Dimanche de la Sainte Trinite' ist der Vorabend des ewigen Sonntags, der von dem dreieinigen, definitiv menschlichen Gott ohne Anfechtung und Versuchung erfüllten Zeit."40

3. Die Ontologie menschlicher Vernunft und der offenbare Logos Gottes: Zu Oswald Bayers Tillich-Kritik Daß Hamann für Oswald Bayers Denken zunehmend deutlicher „die Rolle eines organisierenden Prinzips" übernimmt, ist für jeden Kenner von dessen reichem Schrifttum offenkundig und in Dietrich Korschs vorzüglicher Studie zu Gehalt und Entwicklung der Theologie Bayers mit vollem Recht namhaft gemacht worden. 41 Zutreffend gibt Korsch zugleich den Grund für die bezeichnete Vorzugsstellung an: „... bei Hamann findet B(ayer) zum einen eine authentische Aufnahme der Lutherischen Grundeinsicht im Horizont neuzeitlicher Bedingungen vor; er stellt damit einen Brückenpfeiler für die gegenwärtige Aneignung dieser Gedankenfigur dar. Hamann repräsentiert zum anderen die Position einer anspruchsvollen und umfassenden Kritik seiner aufklärerischen und frühidealistischen Zeitgenossen; er steht damit ein für den Widerspruch gegen eine als dominant gedeutete Traditionslinie neuzeitlicher Subjektivität."42 Sieht man genauer zu, um was es sich bei jener lutherischen Theologie handelt, welche Hamann nach Bayers Urteil unter neuzeitlichen Bedingungen repräsentativ und metakritisch vertrat, so gilt folgendes: „Lutherische Theologie ist, 38 39 40 41

O. Bayer/Chr. Knudsen, Kreuz und Kritik, Tübingen 1983, III. A.a.O., 153f. A.a.O., 154. D. Korsch, Das rettende Wort. Zu Gestalt und Entwicklung der Theologie Oswald Bayers, in: ThR 60 (1995), 192-203, hier: 199. 42 A.a.O., 199f.

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in allen ihren Zweigen, stets Theologie des leiblichen Wortes Gottes, durch das Gott den Menschen zu dessen Sein als Sünder in Differenz versetzt und ihn in unverbrüchliche Gemeinschaft mit sich selbst bringt. Leiblich wird dieses Wort genannt, weil es seinen Realgrund in der Geschichte Jesu Christi besitzt, der als sinnlich-empirischer Mensch zugleich Gott und Mensch ist; und diese Geschichte vergegenwärtigt sich selbst im Herrenmahl als einem zugleich leiblichen und geistlichen Geschehen. Dieses leibliche Wort ist und bleibt eine Herausforderung der Moderne, wenn es gilt, daß sie sich nur in Widereinander von Idealismus und Materialismus, Spiritualismus und Sensualismus zu begreifen vermag."43 Mit dieser Beschreibung sind zugleich die Grundzüge von Bayers eigener Theologie gekennzeichnet, deren Gedankenentwicklungen ihr identisches Ziel darin haben, „daß sich am Ort endlichen menschlichen Lebens eine letzte Überzeugungsgewißheit, Glaube, einstellt - und zwar dadurch, daß der Glaube als durch Gottes Gegenwart selbst gewirkt verstanden wird".44 Mit Dietrich Korsch zur reden: „Indem (1) mit dem Ausdruck »leibliches Wort' grundsätzlich und ursprünglich die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus bezeichnet wird, wird die unhintergehbare Geltung dieser Struktur unmittelbarer Differenzeinheit behauptet. Diese Behauptung läßt sich nur dann vertreten, wenn die Einheit als aktuell vollzogen, nicht als begrifflich-strukturell gegeben verstanden wird. Die Unterscheidung von Begriffsstruktur und Akt setzt aber die implizite Annahme voraus, daß das strukturell verschieden Bleibende jedenfalls aktual koexistieren kann. In dogmatischer Rede: In der Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus findet Gott den letzten, der Mensch den ersten Ausdruck seiner wahren Lebendigkeit. Insofern (2) das wahre menschliche Leben nur eben in dieser Koexistenz mit Gott besteht, kann die Einheit des immer nur durch (,duale') Differenzen zu beschreibenden menschlichen Lebens überhaupt nicht an sich hergestellt werden. Menschen können sich nicht selbst verwirklichen. Menschliches Leben findet allein im Glauben, also durch die Beziehung Gottes (in seiner Einheit mit dem Menschen Jesus) auf die humanen Differenzen(,) zu relativer Einheit, also zu sich selbst. Das setzt aber voraus, daß auch die irreduziblen Differenzmomente menschlichen Daseins (Seele - Leib) füreinander beziehungsoffen sind; ja, sie können - aufgrund der absoluten Geltung der unter (1) bedachten Differenzeinheit - allein im Modus einer aktualen Verknüpfung miteinander bestehen. Fragt man (3), wie sich jene Gott-Mensch-Einheit in die menschliche Differenz-Einheit übersetzt, dann lautet die Antwort: Es ist der aktuale Selbstvollzug des Seins Jesu Christi selbst (sein durch den Tod hindurchgegangenes Leben), das sich ins Leben der Men43 A.a.O., 192. 44 A.a.O., 195.

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sehen hinein als dessen Grund präsent macht. Und dies durch den sozialen Vollzug des Herrenmahles, der unhintergehbar Materiales mit Worthaftem vereint, seine Pointe aber in der Koinzidenz von Göttlichem und Menschlichem im Akt der Feier besitzt. .Leibliches Wort 4 meint genau diese aktuale, aber referenzbezogene Selbstvermittlung der Gott-Mensch-Einheit in den Ort individuell-sozialen humanen Lebens durch Wort und Sakrament. Wort und Sakrament sind die Akte im endlich-menschlichen Leben, an denen die Gegenwart Gottes in diesem Leben gewiß wird." 45 Durch die Annahme des im leiblichen Wort statthabenden aktualen Selbstvollzuges der unmittelbaren Differenzeinheit von Gott und Mensch für Mensch und Welt ist schließlich auch der Begriff bestimmt, den die Theologie Bayers und nach Maßgabe Bayers jede rechte Theologie von sich selbst hat. Das läßt sich bereits dem Büchlein „Was ist das: Theologie?" von 197346 entnehmen, in welchem unter Kritik einer Signifikationshermeneutik, welche platonisch Wesen und Erscheinung trenne, das performative, will heißen: wirklichkeitskonstituierende Wort zur Sache der Theologie erklärt wird. Nicht minder deutlich geht es aus dem die Skizze ausführenden großen Theologie-Buch Bayers hervor, das gut zwanzig Jahre später als erster Band der Reihe „Handbuch für Systematische Theologie" erschienen ist und u.a. jene weitausgreifende Auseinandersetzung mit Paul Tillich enthält47, die einen Anlaß dieser Tagung bildete. Was also ist Theologie? Nach Bayers bündiger Antwort eine „Konfliktwissenschaft" 48 , welche ausgehend und beständig bezogen auf die göttliche „Promissio" als ihre Matrix49 einen Zusammenhang nichtsynthetisierbarer Differenz bedenkt, um ihn in den Kategorien von Gesetz und Evangelium, mortificatio und vivificatio etc. so zu beschreiben, daß eine Indifferenzierung besagter konflikthafter Gegensätze durch ihre synthetisierende Vereinigung in einer transzendental vorausgesetzten Einheit des Selbstbewußtseins vermieden wird. Nachgerade eine solche indifferente und indifferenzierte Einheit nach Maßgabe des von Kant vorgegebenen erkenntnistheoretischen Prinzips der Identität seiner Gesamttheologie zugrundegelegt zu haben, ist der entscheidende Vorwurf Bayers gegen Tillichs Theologiekonzept, auf das sich alle Einzelvorwürfe zurückfuhren lassen. Zwar gesteht Bayer Tillich zu, daß dessen systembestimmende Methode der Korrelation es gestatte, „aus einem rein Identischen, in dem alles zusammenfällt, differenzlos in eins fällt, herauszutreten und eine Dif-

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A.a.O., 195f. O. Bayer, Was ist das: Theologie? Eine Skizze, Stuttgart 1973. Vgl. O. Bayer, Theologie (vgl. Anm. 4), 185-280. A.a.O., 115; vgl. ferner 236 Anm. 172. Vgl. O. Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, 2 1989.

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ferenz wahrzunehmen"50. Doch werde jedwede wahrgenommene Differenz zuletzt doch wieder auf eine unproblematisch zugrunde gelegte Einheit hin restringiert. Als signifikanter Beleg hierfür wird Tillichs Lehre vom Übergang von der geschaffenen zur gefallenen Schöpfung angeführt. In negativer Entsprechung zu dem soteriologischen Transitus von der gefallenen zur erlösten Schöpfung wird der Übergang vom status integretatis zum status corruptionis nach Bayer durch Tillich als von einem anthropologisch faßbaren Identischen umgriffen vorstellig gemacht, so daß trotz aller Betonung der Diskontinuität, welche der Fall der Sünde in bezug auf die Ursprungsgüte der Schöpfung bedeutet, zuletzt doch die Vorstellung eines kontinuierlichen und darin verständlichen und erklärbaren Sachverhalts dominiert. Das Gewicht dieser Feststellung wird durch Bayers Bemerkung unterstrichen: „Ein theologisches Urteil über Tillichs Denken muß im entscheidenden Punkt hamartiologisch sein."51 Dies ist nach Bayer deshalb der Fall, weil die Hamartiologie nicht nur die gewissermaßen differenteste Differenz markiert, mit welcher die Theologie konfrontiert ist, sondern weil es sich bei der Sünde um ein dergestalt in sich Widriges und Verkehrtes handelt, welches jedweden sinnvollen Erklärungszusammenhang sprengt. Dessen, so Bayer, wird Tillichs am Entfremdungsbegriff orientierte Sündenlehre nicht gewahr, weil sie, wie der Entfremdungsbegriff an sich selbst belegt, auch in Bezug auf die widrige Verkehrung des Verhältnisses zu Gott, Mitmensch und Welt, welche das Unwesen der Sünde ausmacht, noch vom Prinzip der Identität bestimmt ist. Man mag Bayer vorhalten, daß seine skizzierte Kritik Tillichscher Hamartiologie ihrerseits gelegentlich wenn nicht undifferenziert, so doch differenzierungsbedürftig sei, etwa wenn gesagt wird, Tillich treffe „keine Unterscheidung zwischen der sündigen Getrenntheit und der gottgewollten Unterschiedenheit von Gott und Mensch"52. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß Bayer in der Perspektive reformatorischer Theologie treffsicher auf einen der heikelsten Punkte in Tillichs Systemkonzeption aufmerksam gemacht hat. Auch ich habe mir bei Gelegenheit zu fragen erlaubt, ob Tillichs Lehre vom peccatum originale nicht eine Tendenz zur Verharmlosung der Sünde im Sinne ihrer Fatalisierung zu einem Entfremdungsübel aufweise. 53 Bleibt sonach die Frage weiterer Erörterung wert, ob Tillich seiner eigenen Promotionsthese, wonach jede Deduktion der Sünde deren theologischen Be-

50 O. Bayer, Theologie, 218; bei B. kursiv. Vgl. auch 236: „Im Denken Tillichs verbindet sich der Typus der Komplementarität mit dem der Identität." 51 A.a.O., 226; bei B. kursiv. 52 A.a.O., 219; bei B. kursiv. 53 Vgl. G. Wenz, De causa peccati. Die Lehre vom Urfaktum der Sünde in Paul Tillichs Systematischer Theologie, in: M. Viertel (Hg.), Gott und das Böse, Hofgeismar 1996, 9-32.

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griff aufhebe54, wirklich gerecht geworden ist, so gilt das nicht minder für die Formel vom „mystischen Apriori", mit welcher er nach eigenem Bekunden den „Identitätspunkt zwischen dem erfahrenden Subjekt und dem Unbedingten, das im religiösen Erlebnis oder im Welterlebnis erfahren wird" (ST I, 16), bezeichnet, um es schließlich als das zu umschreiben, „was uns unmittelbar angeht" (ST I, 16, 18). Oswald Bayer gibt dazu folgenden Kommentar: „Dieses unbedingte Betroffensein' (ST I, 18f) ist etwas, was jenseits aller Unterscheidungen liegt; es betrifft Wissen und Handeln in gleicher Weise. Im Hinblick auf die Grundbefindlichkeit, das ,mystische Apriori', können keine Unterscheidungen mehr getroffen werden. Damit ist durch Abstraktion von allem Konkreten und Geschichtlichen eine religionsphilosophische Allgemeinheit gewonnen, die es dem Theologen zu erlauben scheint, ,die christliche Botschaft unter einen Religionsbegriff (zu) subsumieren' (ST 1,17). Tillich erkennt die Gefahr eines solchen Verfahrens durchaus, mit dem der Theologe den »konkreten und speziellen' Charakter der christlichen Botschaft zu verkennen und sich in ,unbestimmten Horizonten' zu verlieren droht; er weiß, daß der Theologe ,die Allgemeingültigkeit der christlichen Botschaft' zugleich mit ihrem ,konkreten und speziellen' Charakter zu vertreten hat (ebd.). Doch will Tillich, wenn ihm zufolge der Theologe ,dem »mystischen Apriori« das Kriterium der christlichen Botschaft' lediglich ,hinzufügt' (ebd.), in ein genus proximum offenbar nur noch eine differentia specifica christiana einzeichnen. Damit wäre der Konflikt unterlaufen, der nicht vermieden werden darf: Die , letzte Identität von Religion und Philosophie"(GW V, 104), von Philosophie und Theologie, die Tillich gegeben sieht, besteht jedoch jetzt, solange wir noch - in der theologia viatorum - unterwegs sind, noch nicht. Sie ist allein Gegenstand des Glaubens und der Hoffnung". 55 Mit diesem Kommentar ist der für die Problemstellung dieser Tagung entscheidende Ort in der Tillichkritik Bayers erreicht, nämlich der Punkt, wo unter der Überschrift „Seinsidentität von Gott und Mensch?" gefragt wird: „Ist das Urwort für Gott das Wort oder das Sein? Oder ist solche Alternative aufzuheben und zu überholen?"56 Im Hintergrund dieser Fragen steht Bayers Überzeugung, daß nur unter den Bedingungen von Wort und Sprache der personale Charakter des Gott-Mensch-Verhältnisses und dessen eigentümliche Relationalität begründet und erhalten werden können. Tillich hingegen neige zu einer seinsmystischen Unmittelbarkeit, die auf eine unterschiedslose und damit auch

54 Vgl. P. Tillich, Main Works/Hauptwerke (hg. v. C. H. Ratschow), Vol./Bd. 1: Philosophical Writings/Philosophische Schriften (hg. v. G. Wenz), Berlin/New York 1989, 25 (These 5). 55 O. Bayer, Theologie, 235f. 56 A.a.O., 237.

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beziehungs- und verhältnislose, kurzum auf eine apersonale Einheit hintendiere. In Tillichs Rede vom „absoluten Glauben" findet Bayer dies in letzter Zuspitzung bestätigt. Um als Beleg ein weiteres längeres Zitat anzuführen: „Das proton pseudos der Frage nach Identität, Selbstfindung, Selbstverwirklichung ist die Prämisse, daß Gott und der Mensch, daß Gott und Welt ursprünglich eins sind. Diese idealistische Identitätsprämisse teilt Tillich. Es dient der Klarheit der Darstellung, wenn gleich hier der theologisch notwendige Widerspruch eingelegt wird: Gott will den Menschen als sein ihm antwortendes Gegenüber und damit nicht als den, der mit sich identisch ist. Der mit sich selbst identisch sein wollende Mensch ist gerade der Mensch der Sünde - der nicht im Hören und Antworten und in der Verantwortung coram deo leben will. Daß der Mensch samt allen Kreaturen Gott ursprünglich zu-gehört, meint gerade keine ursprüngliche Einheit von Gott und Mensch, von Gott und Welt, wie Tillich mit seinem Begriff der Essenz annimmt. In seiner Voraussetzung einer in sich differenzlosen Ureinheit ist impliziert, daß jede Unterscheidung von Gott und Mensch bereits Trennung, jedes Verhältnis von Gott und Mensch bereits Sünde - als Entfremdung - ist. Tillich differenziert also nicht zwischen dem wahren Verhältnis und der Lüge als dem Mißverhältnis, der Sünde. Vielmehr ist jedes Verhältnis als Verhältnis Entfremdung. Das unentfremdete Sein des Menschen ist gerade nicht die Beziehung zu Gott, sondern die Aufhebung jeder Beziehung, ein unmittelbares und unvermitteltes Einssein." 57 Damit ist der entscheidende Einwand noch einmal pointiert benannt und zugleich evident, daß Tillichs Theologie und namentlich auch seine Ontologisierung der Rechtfertigung im Horizont neuzeitlichen Selbstverständnisses58 nach Bayers Urteil auf eine Verfehlung der ursprünglichen Einsicht der Reformation und auf eine unstatthafte Entgegenständlichung des Gegenstandes der Theologie59 hinausläuft. Kurzum: „Eine auf Wort und Glaube und damit auf die Unterscheidung, Beziehung und Begegnung von Gott und Mensch, des homo peccator und des deus iustificans, konzentrierte und sich konzentrierende Theologie wie die Luthers einerseits und eine seinsmystisch-identitätsphilosophische Theologie wie die Tillichs andererseits lassen sich dem Grundtypus nach nicht vereinbaren."60

57 58 59 60

A.a.O., 238. Vgl. a.a.O., 260ff. Vgl. a.a.O., 276ff. A.a.O., 273; bei B. kursiv.

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4. Identität und Differenz oder: Die theologische Kunst des Unterscheidens Isaiah Berlin hat J. G. Hamann zu einer Ursprungsgestalt des modernen Irrationalismus erklärt, für welche die dezidierte „Gegnerschaft zur gesamten rationalistischen Strömung der europäischen Philosophie von den Griechen bis zur mittelalterlichen Scholastik, zur Renaissance und vor allem zu den französischen philosophes seiner Zeit und damit auch ihren Nachfolgern in den beiden folgenden Jahrhunderten"61 kennzeichnend sei. Als entschiedener „Enemy of the Enlightenment"62 war Hamann nach Auffassung Berlins „der leidenschaftlichste, konsequenteste, radikalste und unerbittlichste Gegner der Aufklärung und aller Formen des Rationalismus seiner Zeit, des achtzehnten Jahrhunderts. Sein mittelbarer und unmittelbarer Einfluß auf die romantische Revolte gegen den Universalismus und die wissenschaftliche Methode in all ihren Spielarten war beträchtlich - vielleicht wäre es ohne ihn nicht zu diesem Aufbegehren gekommen". 63 In tiefsitzender Aversion gegen die Despotie des Aufklärungsabsolutismus eine Art von reaktionärem Demokratismus vertretend, in welchem sich Antiintellektualismus mit sensibler Identifikation mit den Belangen der bedürftigen Massen verband64, habe Hamann sein schöpferisches Genie65 ganz in den Dienst eines ebenso antiaufklärerischen wie romantizistischen Kampfes für das Anschauliche, Konkrete und Individuelle, kurzum: für das auf keinen universalen Begriff zu Bringende gestellt: „Kein Allgemeines, nur das Besondere ist wirklich. Unmittelbare Offenbarung, nicht Analyse - das ist das Herzstück seiner Vision".66 Dabei kann dahingestellt bleiben, ob es statt Vision nicht besser Audition hieße: denn so unerträglich Hamann jede Emanzipation des Denkens von der Sprache ist, so eng sind ihm verbum audibile und verbum visibile verbunden. Wenn, wie im Falle des Ungeistes rationaler Abstraktion, Hören und Sehen vergehen, dann geschieht das

61 I. Berlin, Der Magus in Norden. J. G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Hg. v. H. Hardy, Berlin 1995, 9. Auf Berlins Hamannbuch wird im folgenden nicht in der Annahme Bezug genommen, es repräsentiere zusammenfassend den gegenwärtigen Forschungsstand, was augenscheinlich schon aufgrund des Alters der Textgnindlage nicht der Fall sein kann. Berlins Darstellung soll vielmehr als ein - nach meinem Urteil durchaus kritikbedürftiges - Beispiel für eine tendenziell ahistorische ideenpolitische Funktionalisierung des Hamannschen Werkes im Sinne einer Aufrichtung geistesgeschichtlicher Großalternativen in Betracht kommen. 62 63 64 65 66

Vgl. a.a.O., 15. A.a.O., 23. Vgl. a.a.O., 145ff. Vgl. a.a.O., 129ff. A.a.O., 21.

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stets zugleich und in einem. Umgekehrt erwartet Hamann von jenem Geschehen, in welchem sich der Grund allen Denkens im leibhaften Wort zur Sprache bringt, daß es mit den Ohren auch die Augen öffnet. Augen, Ohren und alle Sinne sollten seinem Zeitalter aufgehen, das über dem Cogito „das edle S«m" 67 vergessen hatte. Dazu bedurfte es des Kampfes, des Streits, mehr noch der Erweckung. Mit Isaiah Berlin zu reden: „In der Schlacht der romantischen Individualisten gegen Rationalismus und Totalitarismus gab er [sc. Hamann] den ersten mächtigen Schuß ab." 68 Genug damit! Was klar werden sollte, dürfte klar geworden sein: An Hamann schieden und scheiden sich nicht nur die Geister, sein Dichten und Trachten gibt offenbar auch Anlaß und Gelegenheit, große geistesgeschichtliche Scheidungen vorzunehmen und entsprechende Alternativen zu exponieren: Irrationalismus versus Rationalismus, Romantik versus Aufklärung, Besonderes versus Allgemeines - so stellt sich bei allen gegebenen Differenzierungen der Sachverhalt bei Berlin dar: „Hamann ist der Pionier des Antirationalismus auf jedwedem Gebiet."69 Nicht minder umfassend und großflächig fallen die Kontrastierungen Oswald Bayers aus mit dem Unterschied freilich, daß Hamann nicht, wie bei Berlin, mit kritischer Reserve behandelt, sondern in höchstem Grade affirmativ gewürdigt und gewertet wird, nämlich als authentischer Repräsentant ursprünglicher Einsicht der Reformation im Horizont der Neuzeit, welcher in einsamer Größe einer maßlosen Moderne früh schon den nötigen Einhalt gebot. Große Gegensätze also, unvermittelte Alternativen, konfliktträchtige Antagonismen! Sie helfen sortieren, Freund und Feind zu unterscheiden, schaffen Überblick, gewiß! Doch liegt darin auch eine unübersehbare Gefahr, die fragen läßt, worin das konstruktive Interesse kritischer Kontrastierungen besteht. Um bei Bayer zu bleiben und noch einmal die von Dietrich Korsch gegebene Analyse von dessen Theologie zu zitieren: „Es entsteht", so heißt es, „durch diese Entgegensetzung von Reformation und Neuzeit der Anschein, als sei reformatorische Theologie nur im Bündnis mit antineuzeitlicher Philosophie möglich - eine Koalition, die in der späten Moderne bereits wieder eine gewisse Zeitgeistaffinität besitzt. Mir scheint, daß damit die Gefahr einer Positivierung und Positionalität heraufzieht, die mit der vorzüglichen Bestimmung des reformatorischen Grundimpulses [sc. wie Bayer sie gibt] keineswegs notwendig verbunden ist." 70 Und weiter: Bayers „durchaus auf fundamentale Differenzen hin angelegtes Theologieverständnis scheint mir in letzter Konsequenz noch vom Streben nach problematischer Einheitlichkeit geprägt zu

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J. G. Hamann, Briefwechsel, hg. v. W. Ziesemer/A. Henkel, Bd. VI, 230. I. Berlin, a.a.O., 104. A.a.O., 26. D. Korsch, a.a.O., 201.

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sein. Statt dessen dürfte es konsequenter und plausibler sein, die angelegten Differenzen zu vertiefen. Denn es könnte sein, daß gerade das Zusammenspiel der nicht noch einmal theologisch kategorialisierten Unterschiede von Theologie und Wort/Glaube sowie von Theologie und Philosophie/Kultur befreiend und klärend dem wirklichen Leben dient, dessen Rettung wir Christen durch das leibliche Wort erfahren haben." 71 Ich nehme die beiden zitierten Bemerkungen zum Anlaß einiger zusammenfassender Erwägungen, die ich, wie angekündigt, nicht in strenger Systematik, sondern lediglich in Form von Problemanzeigen vortrage: 1. Wird, um der Reihe nach vorzugehen und mit Kant und Hamann zu beginnen, der differenzierte Zusammenhang beider lediglich im Sinne exemplarischen Kontrastes von Modernismus und Antimodemismus wahrgenommen, dann führt das zwangsläufig zu Verallgemeinerungen, denen das Besondere der damaligen und der heutigen Situation ebenso entgehen muß wie die Tatsache, daß Hamanns Metakritik der kritischen Philosophie Kants keineswegs abstrakt begegnet. Sie bleibt dieser vielmehr insofern verbunden, als es auch ihr nicht um die Restauration vorneuzeitlicher Metaphysik im Sinne der Behauptung empirietranszendenter Erfahrungen von der Art zu tun ist, welche eine metaphysische Hinterwelt zu erschließen beanspruchen jenseits der einen Erfahrungswelt, die unter der Bedingung steht, gewußt werden zu können. Insofern kann m. E. auch Hamann in bestimmtem Sinne als ein Antisupranaturalist und als ein Repräsentant der - durch den Epochenindex Subjektivität gekennzeichneten - Moderne gelten. Er widerspricht Kant allerdings dort, wo dieser das Ganze der Erfahrung auf die transzendental vorausgesetzte Einheit des cogito statt auf den Gedanken Gottes zu gründen scheint, welcher nach Hamann die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, vernünftig, nämlich so von der Einheit des Selbstbewußtseins zu sprechen, daß der - sich in den Gegensätzen von Idealismus und Materialismus, Spiritualismus und Sensualismus abschattende - Antagonismus von Transzendentalsubjekt und empirischem Subjekt samt seiner leibhaften Welt nicht zwangsläufig eintritt. 2. Daß das Ichsubjekt als jenes cogito, das all meine Vorstellungen begleiten muß, sich nicht unmittelbar aus sich selbst heraus zu begründen vermag, sondern nur dann seiner Wirklichkeit gewahr wird, wenn es sich als von Gott sich gegebenes Selbstbewußtsein weiß, ist eine Erkenntnis, die Tillich ebensowenig fremd ist wie die Einsicht, daß das Unwesen der Sünde etwas mit der bewußten Verkennung und willentlichen Ignoranz dieses kreatürlichen Urfaktums zu tun hat. Der Gedanke der Konstitution menschlicher Subjektivität aus der Gottesbeziehung ist bei Tillich nicht nur präsent, sondern bestimmend für seine Theonomiekonzeption und sein 71 A.a.O., 203.

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theologisches System insgesamt. Sein erklärter Antisupranaturalismus beschränkt sich im Grunde nur darauf, Heteronomie und in diesem Zusammenhang die Vorstellung abstrakter Jenseitigkeit Gottes zu vermeiden. Unbeschadet dessen und unbeschadet der Tatsache, daß Tillichs Theologie vom Erleben einer elementaren Autonomiekrise des neuzeitlichen Menschen geprägt ist, dürfte Bayers These nicht gänzlich unberechtigt sein, daß das Prinzip der Identität im Sinne einer kontinuierlich in Anschlag gebrachten Einheit von Subjektivität und Selbstbewußtsein das Tillichsche System in seiner Organisationsstruktur dergestalt bestimmt, daß es alle - auch die äußersten, nämlich hamartiologischen - Differenzen zu umgreifen scheint. Man wird hierin freilich nicht bloß ein Defizit Tillichscher Theoriebildung zu entdecken haben. Denn daß Gottes Gottheit für das Subjekt offenbar sein will, so daß der Für-Bezug dem Wesen Gottes nicht äußerlich sein kann, ist theologisch ebenso zutreffend wie die Annahme, daß der Mensch auch unter postlapsarischen Bedingungen nicht aufhört, ein Geschöpf Gottes zu sein. Die Frage ist lediglich, ob Tillich diesen zutreffenden Sachverhalt begrifflich angemessen, nämlich so zur Darstellung gebracht hat, daß das Prinzip der Identität nicht länger als ein abstrakt vorausgesetztes, sondern als ein von „Differenz" an sich selbst betroffenes erkennbar wird. In dieser Hinsicht sind m.E. nicht nur hamartiologische, sondern auch trinitätstheologische Anfragen berechtigt, insofern die Ausführungen Tillichs zur Thematik der Trinitätslehre „mehr metaphorisch als begrifflich durchsichtig"72 sind. 3. Gegenüber der bei Tillich auch nach meinem Urteil zu beobachtenden Tendenz zu einer abstrakten, weil „Differenz" nicht hinreichend berücksichtigenden Prädominanz des Identitätsprinzips und einer damit einhergehenden Indifferenzierungstendenz, als deren Beleg man die systematische Favorisierung des Seinsbegriffs als des leersten und unbestimmtesten aller Begriffe deuten mag, ist unter Berufung auf die Bestimmtheit des Wortes, dessen Erfüllung der leibhafte göttliche Logos ist, in Erinnerung zu bringen, daß rechtes theologisches Denken sich in Unterscheidungen vollzieht, um durch Unterscheidungsvollzüge hindurch zu innerer Einheit zu gelangen. Luthers Theologie ist dafür exemplarisch. Ihn zu verstehen suchen, heißt daher, sich in die Kunst zu unterscheiden einzuüben: „Zwischen Gott und Mensch, zwischen mir selbst als Subjekt des Glaubens und Subjekt des Lebens, zwischen mir und den anderen. Solche Differenzierung zu lernen ist fruchtbar für das eigene Selbstverständnis, für das Begreifen des Christentums, für die Gestaltung einer humanen Kultur."73 72 W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997, 343. 73 D. Korsch, Martin Luther zur Einführung, Hamburg 1997, 7.

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4. Besteht die wesentliche Aufgabe reformatorischer Theologie sonach darin, Zusammenhänge nichtsynthetisierbarer Differenz zu bedenken, so folgt daraus u.a. die Verpflichtung zu theologischen Unterscheidungsleistungen, die es ermöglichen, zwischen Gott und Mensch sowie zwischen theologischem Gehalt und der Gestalt, die der Theologe seiner Theologie gibt, zu differenzieren. Eine notwendige Folge solcher Selbstunterscheidung eines Theologen und seines theologischen Systems vom Grund und Inbegriff der Theologie, welcher niemand anders als Gott selbst ist, besteht in der bewußten Historisierung der eigenen theologischen Unternehmung. Solche Historisierung bedeutet, weil und sofern sie aus theologischen Geltungsgründen prinzipieller Art erfolgt, keine unstatthafte Relativierung oder Preisgabe der Wahrheit an Beliebigkeit; im Gegenteil: sie ist systematisch, will heißen: um des Theologischen der Theologie willen gefordert, sofern die theologische Grundunterscheidung von Gott und Mensch, wie gesagt, mit der Unterscheidung meiner selbst in Glaubenssubjekt und Lebenssubjekt sowie mit der Unterscheidung zwischen mir und anderen elementar verbunden ist. Der Vollzug dieser Unterscheidung hinwiederum koinzidiert mit der Konstitution geschichtlicher Existenz in einer gemeinsam gegebenen Lebenswelt, in welche der Theologe nicht aus theologieexternen, sondern aus theologieinternen Gründen strikt gewiesen ist. 5. Tillichs Kairostheologie verstand sich als Denken für ihre Zeit und ist es gewiß auch gewesen. Dennoch hat, wie ich meine, ein verbleibender antihistorischer Affekt die intendierte geschichtliche Prägnanz nicht selten behindert, und „an die Stelle des historisch Konkreten die gedankliche Konstruktion treten"74 lassen. Dies zeigt sich, was die materialen Themenbestände der Dogmatik angeht, etwa an der weitgehenden Ablösung der Christologie von der Rückfrage nach dem historischen Jesus 75 ; dies wird aber auch durch die Art und Weise Tillichscher Zeitdiagnose belegt76, bei der nicht nur gelegentlich ein Mangel an historischer Präzision und geschichtlicher Differenziertheit zu beklagen ist. Dieser Mangel ist unter gegenwärtigen Bedingungen am besten dadurch zu kompensieren, daß die Tillichinterpretation in konsequent historischer Perspektive erfolgt. Denn die Aktualität Tillichschen Denkens ist nicht unmit74 W. Pannenberg, a.a.O., 348. 75 Vgl. meine Studie: Theologie ohne Jesus? Anmerkungen zu Paul Tillich, in: KuD 26 (1980), 128-139. 76 Vgl. meinen Beitrag: Eschatologie als Zeitdiagnostik. Paul Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 im Kontext ausgewählter Krisenliteratur der Weimarer Ära, in: G. Hummel (Hg.), N e w Creation or Eternal Now/Neue Schöpfung oder ewiges Jetzt. Is there an Eschatology in Paul Tillich's Work?/Hat Paul Tillich eine Eschatologie? Contributions made to the III. International Paul-Tillich-Symposium held in Frankfurt/Main 1990/Beiträge des III. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt/Main 1990, Berlin/New York 1991, 57-126.

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telbar, sondern nur im Durchgang durch seine konkrete Geschichtsgestalt zu gewinnen, die man in gewisser Weise vergangen sein lassen muß, um sie sich angemessen zu vergegenwärtigen. Nicht als zeitinvariantes System ewigen Seins, sondern als Wort für seine Zeit kann Tillichs Denken aktuelles Gehör beanspruchen. Was Tillich zu sagen hatte, hat er gesagt, als Zeit dazu war. Möchten wir es ihm in unseren Tagen nach Vermögen gleichtun, fehlende Textblätter Tillichs bzw. Seiten seines Werkes, die möglicherweise noch nicht aufgeschlagen wurden, zum Anlaß zeitgenössischer Lektüre und Fortschreibung nehmen und bei allem dessen eingedenk sein, was Luthers „Letzter Zettel" testamentarisch bezeugt: „Wir sind Bettler: hoc est verum."71

77 Vgl. O. Bayer, Vom Wunderwerk, Gottes Wort recht zu verstehen. Luthers Letzter Zettel, in: KuD 37 (1991), 258-279.

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Tillichs Offenbarungsverständnis als Stein des Anstoßes und Prüfstein seiner Theologie: Eine Auseinandersetzung mit Oswald Bayers Tillich-Kritik Einleitende Bemerkungen: Über die Schwierigkeit, Tillich zu lesen Das Tillichsche Denken, die Tillichschen Texte setzen dem Verständnis eine eigentümliche Schwierigkeit entgegen, oder genauer gesagt: sie setzen sie ihm nicht entgegen - und eben darin besteht ihre besondere Schwierigkeit. Die Tillichschen Sätze sind einfach und klar. Die Tillichschen Begriffe - so hochphilosophisch, hochtheologisch sie sein mögen - gehen ein, klingen an an existentielle, nachvollziehbare Erfahrung. Der Gang des Tillichschen Denkens verfolgt eine bestimmte Richtung.2 Dies alles macht das Tillichsche Denken einfach, eindeutig. Aber dies alles stimmt so nicht. Die Tillichschen Sätze sind zwar einfach, aber keineswegs klar. Die Tillichschen Begriffe werden zwar vom unvoreingenommenen, existentiell betroffenen Leser verstanden, aber er bemerkt ihre philosophische und theologische Abgründigkeit, ihre Fragwürdigkeit nicht; der philosophisch und theologisch gebildete Leser hingegen weiß um die letztere, aber die existentielle Betroffenheit kommt bei ihm nicht mehr, kommt bei ihm nur noch mit erheblichen Störungen an. Und die Methode der Korrelation läßt sich weder auf eine noch auf

1

2

Der ursprüngliche Titel des beim Tillich-Symposion gehaltenen Vortrage lautete: „Das Verständnis der Offenbarung bei Paul Tillich und Paul Ricoeur". Er wurde für die Publikation ersetzt, da er nur einen Teilaspekt des Vortrags unterstreicht. Die Methode der Korrelation, die von zwei Richtungen spricht: einer von den philosophischen Fragen auf die theologischen Antworten und einer von den theologischen Antworten auf die philosophischen Fragen, unterstreicht dies nur: Fragen und Antworten sind gegeben und nun werden sie in Beziehung gesetzt - die philosophischen Fragen zu den theologischen Antworten.

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zwei Richtungen reduzieren, und vielleicht ist sie überhaupt, längst bevor sie eine Methode ist, etwas ganz anderes. Die Schwierigkeit, die das Tillichsche Denken dem Leser bietet, ist also die, daß seine Schwierigkeit überhaupt erst zu entdecken ist. Um ihrer gewahr zu werden, soll versucht werden, das Anliegen des Tillichschen Denkens - in Abstand zu den konkreten Texten und auch in Abstand zu seinen konkreten Inhalten - in aller Oberflächlichkeit in Erinnerung zu rufen. Ganz umrißhaft läßt sich von Tillichs Denkanliegen folgendes sagen: 1. Tillich will verstehen; er will die christliche Botschaft in ihrem reformatorischen Verständnis begreifen. 2. Tillich will nicht nur selber verstehen, er will verständlich machen; er will die christliche Botschaft in seine Zeit, für seine Zeit übersetzen. 3. Tillich will falsche Alternativen überwinden. (In bezug auf das hier verhandelte Thema etwa die Alternativen von Vernunft und Offenbarung [cf. u.a. GW VIII, 46], natürlicher und übernatürlicher Offenbarung [aaO. 37, 44], Offenbarungsgeschichte und Religionsgeschichte [aaO. 45], christozentrischer Fassung der Offenbarung und universaler Fassung der Offenbarung [aaO. 96]). Die drei Punkte scheinen banal; sie haben aber erhebliche Auswirkungen auf die je konkrete Interpretation: Ad 1. Tillich will selber verstehen, d.h. er hat nicht schon verstanden3 und jeder Interpret, der schon verstanden hat, muß wissen: er vergleicht nicht Gleiches mit Gleichem, sondern schon Verstandenes mit erst zu Verstehendem, mit selber erst Verstehendem. Ad 2. Tillichs Theologie ist Übersetzung der christlichen Botschaft in die Gegenwart. Man kann diese Übersetzung entweder als Endgestalt, d.h. als fertigen Text, oder man kann sie als Vorgang lesen, in dem in der Übersetzung auch das zu Übersetzende erst gefunden, erst mehr und mehr entdeckt wird. Im zweiten, wie mir scheint angemessenen, Fall ist die unter anderem von der idealistischen Philosophie und dem Existenzialismus geprägte Begrifflichkeit des Tillichschen Denkens rückbezogen auf eine Sprachgestalt, die sie nicht ersetzt, sondern durch die sie in Gang gesetzt wird und von der sie abhängig bleibt. Ad 3. Wer Tillich kritisiert und sein Denken auf Alternativen festlegt, wird sich nicht nur fragen lassen müssen, ob er der Tillichschen Denkbewegung gerecht wird, die im ständigen Überschreiten solcher Alternativen sich vollzieht, sondern auch, ob der Standpunkt der Kritik nicht in einem der beiden von Tillich herausgestellten Gegensatzpole schon benannt und begriffen ist. 3

.Apologetische Theologie" ist eine Theologie, die selber eine Antwort sucht und nicht eine, die sie nur erläutert.

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Im folgenden soll am Beispiel zweier Tillichscher Begriffe: der „Grundoffenbarung" und der „Heilsoffenbarung", gezeigt werden, wie Tillich reformatorisches Erbe aufnimmt, sich an ihm abarbeitet, und wie er mit Hilfe dieser Begriffe sich bemüht, vereinfachenden Alternativen, wie ich sie etwa oben benannt habe, zu entgehen.

I. „Durchbruch" und „Realisierung" als Pole der inneren Spannung von Religion bei Paul Tillich In seinem 1924 veröffentlichten Vortrag Rechtfertigung und Zweifel4 versucht Tillich die Rechtfertigung als „Durchbruchsprinzip des Protestantismus" gegenüber dem Zweifel als Charakteristikum der aktuellen Situation herauszuarbeiten. Er zeigt, daß Rechtfertigung nicht nur als Rechtfertigung des Sünders, sondern in der Moderne ebenso grundsätzlich als Rechtfertigung des Zweiflers verstanden werden kann und verstanden werden muß. Um auf diesen Gedanken hinzuführen erläutert Tillich zunächst, was es mit dem Begriff des„Durchbruchs" auf sich hat. „Rechtfertigung, Gnade und Offenbarung sind Durchbruchsbegriffe" (86). Die Rechtfertigung des Sünders durchbricht den Versuch des Menschen, sich durch Werke des Gesetzes selber zu rechtfertigen. So leuchtet es ein, daß hier von Durchbruch die Rede ist, ebenso wie auch in bezug auf Gnade (etwa im Verhältnis zum natürlichen Streben des Menschen) oder in bezug auf Offenbarung (im Verhältnis zur autonomen Gotteserkenntnis) von Durchbruch zu reden ist. Es gab immer wieder in der Kirchen- und in der Religionsgeschichte Phasen, in denen die Erkenntnis der Unwiderruflichkeit solcher Durchbrüche bestimmend wurde. Der Protestantismus selber hat sich auf den Durchbruch als das Entscheidende des christlichen Glaubens berufen; darum redet Tillich vom Durchbruch als „protestantischem Prinzip", und der Ausdruck „Protestantismus" selber bezeichnet ja weniger eine pure Negation, als vielmehr das Entscheidende des Durchbruchs, des Paradoxes, des nie Einhol-, des nie Domestizierbaren. Tillich zeigt nun, daß dies Prinzip des Durchbruchs, das unablässige Pochen auf das Ereignis der Gnade, das Festhalten, Nichtnachgeben in bezug auf dies Heils-Entscheidende eben geschichtlich wieder sich verfestigen mußte: der Durchbruch wird selber gesetzlich, die Rechtfertigung wird zur Lehre, die Offenbarung zur Autorität der Schrift. Das ist nicht eine Schwäche des Nichtdurchhaltenkönnens des Überraschungsmomentes, des Ereignischarakters, 4

P. Tillich, Offenbarung und Glaube. Schriften zur Theologie II, GW VIII, Stuttgart 1970, 85-100.

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Tillich macht vielmehr deutlich, daß diese Verobjektivierung des Durchbruchs damit zusammenhängt, daß der Gegenpol zum Durchbruch nicht festgehalten war. Nicht das bloße Nichtdurchhaltenkönnen des Durchbruchs war das Problem, sondern die Preisgabe der dialektischen Spannung zu seinem Gegenpol: der Realisierung, des Gesetzes im Verhältnis zum Evangelium, der Religion im Verhältnis zur Offenbarung. Wo diese dialektische Beziehung fehlt, wird das Durchbruchsprinzip zum alleinigen Prinzip und verliert seinen Charakter als Durchbruch, als Korrektiv, und sein Charakter als Prinzip wird eben darin fragwürdig. Das „protestantische Prinzip des Durchbruchs" bedarf der „katholischen Wirklichkeit" (cf. 87) - um des Durchbruchs selber willen; das katholische Prinzip der Realisierung bedarf des Durchbruchs - um der Realisierung willen. Keins kann auf das andere verzichten, und beide lassen sich nicht ineinander überführen. Es fragt sich, ob eine Kritik an Tillich, die die Spannung zwischen den beiden „Polen" des Durchbruchs und der Realisierung, der Diskontinuität und der Kontinuität bei ihm selber aufgehoben sieht zum Pol der Realisierung, der Kontinuität hin, wie dies die Bayersche Kritik tut,5 nicht selber jener Vergegenständlichung und Verfestigung verfällt, die Tillich mit seinem Bedenken der dialektischen Spannung erkannte und bekämpfte. Es könnte freilich auch sein - und gerade dies ist vielleicht der Zielpunkt der Bay ersehen Kritik -, daß das, was eben als dialektische Spannung vorgeführt wurde, im Grunde ein Gleichgewicht, eine Ausgeglichenheit ist zwischen Stabilität und Korrektiv, in der immer die Stabilität über das Korrektiv die Oberhand behält, und der Durchbruch, das Paradox letztlich verschwindet.6 Dann wäre gerade in der Beziehung zwischen „protestantischem Prinzip" und „katholischer Wirklichkeit" und der vermittelnden Reflexion des Philosophen (denn Philosoph wäre er dann und nicht mehr Theologe) das Protestantische: die Rechtfertigung, die Gnade, das Paradox, das Wort, verlorengegangen. In bezug auf die Offenbarungsproblematik müßte sich diese Denkhaltung der Ausgeglichenheit, die dann doch zur Unausgeglichenheit wird, leicht abbilden lassen auf die Begriffe „Grundoffenbarung" und „Heilsoffenbarung", die das eigentliche Thema dieses Vortrags ausmachen. Sie stünden dann in einer Beziehung der Addition, der Ergänzung: Die Grundoffenbarung wäre die Offenbarung des Seins, des Grundes des Seins, des Seinssinnes, die in erster 5 6

O. Bayer, Theologie, Gütersloh 1994, 207, 225f u.ö. „Das Gleichgewicht zwischen Konkretem und Universalem, zwischen Gestalt und Prinzip, zwischen Differenz und Einheit, Vermitteltem und Unmittelbarem sucht Tillich durchaus zu wahren. Doch landet er zuletzt immer wieder auf der Seite des Universalen, der Seite des Prinzips, auf der Seite der Einheit, der Unmittelbarkeit" (aaO. 249).

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Linie affirmativ wäre und in der alles Widersprechende, Anklagende, Richtende (dann auch Aufrichtende) zurückträte hiner dem Manifestwerden des Seins, an dem jeder ohnehin schon teilhat. Die Heilsoffenbarung in Christus träte zu dieser Grundoffenbarung nur sekundär hinzu. Sie kann an Anklage, Diskontinuität, Wort, promissio nicht mehr bringen, was ihr Eigenstes als Offenbarung wäre, weil die Grundoffenbarung, die Offenbarung des Seins ja ihrerseits schon als Offenbarung begriffen wurde und auf sich gezogen hat, was eigentlich der Heilsoffenbarung zugehört. In dem so verstandenen Verhältnis von Offenbarung, als Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung, wäre jede innere Spannung gewichen, wäre jede dialektische Beziehung verschwunden. - Eben dies ist Bayers Deutung des Tillichschen Offenbarungsverständnisses. 7 Ist es aber wahr, daß in Tillichs Offenbarungsbegriff jede dialektische Spannung fehlt? An dieser Frage scheint sich mir die Kritik Bayers verifizieren oder falsifizieren lassen zu können. Sie auszuarbeiten und auf sie eine Antwort zu geben ist das Ziel dieses Vortrags. In der Tat hat man in bezug auf Tillichs Offenbarungsverständnis ganz allgemein - auch ohne Rücksichtnahme auf die im frühen Aufsatz vorgeführte Entfaltung in Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung - die eben angesprochene Spannung immer wieder vermißt. „Offenbarung ist das Sichtbarwerden des Seinsgrundes für die menschliche Erkenntnis." 8 Oder: „Offenbarung ist die Manifestation dessen, was uns unbedingt angeht" (aaO. 134). Oder: „Offenbarung ist die Gegebenheitsart des Unbedingt-Transzendenten für die Erkenntnis" (GW VIII, 42). Das sind klassische Formulierungen des Tillichschen Offenbarungsverständnisses, in denen der Begriff des Unbedingten (dessen, „was uns unbedingt angeht") oder des Seins, des Seinsgrundes - an anderer Stelle spricht Tillich vom „Sein-Selbst" - den ganzen Raum ausfüllen und keinerlei Raum mehr lassen für ein Ereignis der Offenbarung, wie es etwa im „Wort Gottes", in Jesus Christus ein für allemal zur Welt gekommen ist. Tillich selber allerdings begreift sein Offenbarungsverständnis anders; er will nicht die Offenbarung in Christus durch die Offenbarung des Seinsgrundes ersetzen, sondern die eine zur andern in Beziehung setzen. Im Offenbarungsartikel von 1930 für die 2. Auflage der RGG schreibt er einleitend: Der Begriff der Offenbarung entstammt einer doppelten Quelle. Erstens der orientalisch-jüdischen Apokalyptik: Hier ist Offenbarung Enthüllung des göttlichen Weltplanes, nament7 8

Cf. etwaaaO. 251 f. P. Tillich, Systematische Theologie I, Stuttgart 8. Aufl. 1984, 114.

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Hans-Christoph Askani lieh in bezug auf die kommende Endkatastrophe. [... Zweitens dem] Bedürfnis der spätgriechischen Philosophie nach einer Wahrheit, die der Unsicherheit der philosophischen Diskussion entzogen ist. [...] Enthüllung des verborgenen Geschehens oder Aufdeckung des verhüllten Seins sind die beiden maßgebenden Offenbarungsinhalte; sie entsprechen dem semitischen und dem griechischen Wahrheitsgedanken. Auf christlichem Boden werden beide Elemente vereinigt und durch ein drittes bereichert: die Offenbarung ist in einem personhaften Leben verwirklicht. Die Enthüllung des Weltplanes in Jesus Christus ist zugleich seine Erfüllung; und in dieser Erfüllung ist die Wahrheit gegeben, die die Griechen vergeblich gesucht haben (GW VIII, 40).

Noch deutlicher wird Tillichs Standpunkt in der Systematischen Theologie, im Kapitel „Aktuelle Offenbarung": Das Christentum erhebt den Anspruch, daß die Offenbarung in Jesus als dem Christus letztgültig sei. Diese Offenbarung begründet die christliche Kirche, und wo dieser Anspruch fehlt, hört das Christentum auf zu existieren [...]. Das Wort ,letztgültig' in dem Ausdruck ,letztgültige Offenbarung' bedeutet mehr als letzte. [...] Sie bedeutet die entscheidende, erfüllende, unüberholbare Offenbarung, das, was das Kriterium aller anderen Offenbarungen ist, daher sie auch normgebende Offenbarung genannt werden kann. In der Geschichte der christlichen Kirche kann es keine Offenbarung geben, deren Bezugspunkt nicht Jesus der Christus ist. Das ist der christliche Anspruch, und das ist die Grundlage einer christlichen Theologie.

Es scheint mir unzweideutig, daß es Tillichs Ziel ist, das, was er als Manifestation des Seinsgrundes, und das, was er als letztgültige Offenbarung in Jesus Christus bezeichnet, in Beziehung zueinander zu setzen, und zwar so, daß nicht das eine vom anderen verschlungen, sondern das eine durch das andere interpretiert wird. Das heißt nicht, daß die Frage nicht erlaubt wäre, ob eine solche gegenseitige Interpretation der christlichen Botschaft angemessen ist, oder anders gesagt, ob nicht immer in ihr das besondere Ereignis, die „personhafte" Offenbarung von dem universalen Begriff auf der anderen Seite, dem des Seins, aufgesogen wird. Eine Kritik, die diesen Einwand vorbringt, wird sich allerdings ihrerseits fragen lassen müssen, wie von ihrem Standpunkt aus verständlich werden kann, was es heißt: „Offenbarung in Christus"; was in diesem Fall „Offenbarung" bedeutet; inwiefern in einer Person, die nicht wir sind, etwas über uns gesagt werden kann; inwiefern Offenbarung - rein als auf uns zukommendes, uns gesagtes Wort verstanden - die Macht hat, uns anzugehen,

9

Systematische Theologie I, 159.

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uns zu betreffen, m.a.W. inwiefern dem Wort, dem konkreten Wort Kraft, „Macht" zukommt? Um diese Frage zu stellen, oder anders und auf Tillich bezogen gesagt, um zu fragen, wie in seinem Offenbarungsverständnis das Element des Seins und das Element des Wortes in ihrer Beziehung zueinander gedacht sein könnten, möchte ich einen Umweg machen über einen anderen Denker, P. Ricoeur, und dessen Unterscheidung von manifestation und proclamation, wie er sie beim Colloquium Ε. Castelli im Jahr 1974 vorgestellt hat.

II. Die Unterschiedenheit und bleibende Aufeinanderbezogenheit von manifestation und proclamation bei Paul Ricoeur In seinem Vortrag Manifestation et proclamation10 stellt Ricoeur einander gegenüber: eine „Hermeneutik der Proklamation" (bzw. der „religiösen Sprache") und eine „Phänomenologie der Manifestation" (bzw. des ,»Heiligen") (cf. 57). Das Ziel der Untersuchung Ricoeurs ist, über eine bloße Gegenüberstellung hinaus die beiden in ihrer inneren Beziehung zu verstehen, d.h. die Alternative zwischen Wort und Heiligem, zwischen der Offenbarung des Wortes und dem Erscheinen des Heiligen (noch vor allem Wort) zu begreifen und in Frage zu stellen. Als die die Untersuchung leitende Frage möchte ich formulieren: kann eine Hermeneutik der .proclamation' sich einer Phänomenologie des Heiligen entledigen? Oder, um es noch deutlicher zu sagen: Kann [darf] das Kerygma das Heilige zunichte machen? Kann sich die Bedeutung der Sprache konstituieren, ohne die Zeichen des Heiligen aufzunehmen? 11

a) Um diese Fragen zu beantworten, entwickelt Ricoeur zunächst verschiedene Züge einer „Phänomenologie des Heiligen", die jeweils dessen vorsprachlichen Charakter zur Geltung, zu Bewußtsein bringen. 10 P. Ricoeur, Manifestation et proclamation, in: Archivio di Filosofia (II Sacro. Studi e ricerce). Atti del Colloquio intemazionale, Roma 1974, 44, no. 2-3, 57-76. Wiederabgedruckt in: Le Sacrt;. Etudes et recherches. Actes du colloque international, Rome, 1974, Paris, 57-76. 11 Die Übersetzung der Ricoeur-Zitate stammt jeweils von mir. Sie ist nur eine Hilfsübersetzung, weshalb der französische Text jeweils in den Anmerkungen angefügt ist: „... je voudrais poser la question qui constitue l'horizon de cette enquete: une hermöneutique cfe la proclamation peut-elle se debarasser d'une phenom^nologie du sacri? Ou, pour le dire plus brutalement, le kerygme peut-il aneantir le sacre? Le sens de la parole peut-il se constituer sans reprendre les signes du sacr£?" (570-

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Das Heilige als solches ist „Mächtigkeit, Macht, Kraft" („Le sacre est puissance, pouvoir, force" [58]). Ricceur verweist auf R. Otto und dessen Begriff des Numinosen: Das Element des .Numinosen' ist nicht in erster Linie Sprache, falls es überhaupt je völlig in Sprache aufgeht. .Mächtigkeit' bedeutet etwas anderes als ,Wort\ auch wenn die Mächtigkeit des Wortes darin mitgemeint ist. .Mächtigkeit' ist das, was in der Artikulation von Sinn nicht aufgeht, es ist .Wirkung' schlechthin.

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Die ,Mächtigkeit' ist ein Grundzug, der allem Heiligen, aller Erfahrung des Heiligen eigen ist. Ricoeur gibt dafür mehrere Beispiele. Zunächst die Hierophanien, das zur Erscheinungkommen des Heiligen. Das Heilige hebt Orte und Zeiten heraus, macht sie zu heiligen Orten, zu heiligen Zeiten - aber solches Hervortreten des Heiligen vollzieht sich unabhängig von der Sprache auf einer Ebene, die tiefer liegt als die Sprache.13 Ähnliches gilt für den Ritus, der an der Wirkung, der Wirkmächtigkeit des Heiligen teilgibt - auch er ohne daß solche Teilgabe sich auf Sprache zurückführen, sich vom sprachlichen Element her bestimmen ließe. Und wiederum dasselbe gilt für den Symbolismus der Natur: Symbolismus der Sonne, der Sterne, „Mutter Erde". Hier ist freilich Sprache präsent - wie sie übrigens auch im Mythos präsent ist, der den Ritus begleitet, und in den Festen, die bestimmte Zeiten und Orte vor anderen hervorhoben -, aber hier wie dort (in allen genannten Fällen) ist die Sprache nicht autonom, ist sie vielmehr gebunden, eingebunden in die Wirkungsmacht des Heiligen, das als seine Macht zur Erscheinung drängt, an ihr teilgibt, in sich einbezieht, Raum und Zeit organisiert, Rhythmus schafft, Korrespondenzen von oben und unten, menschlich göttlich, Himmel - Erde. Sprache ist hier mitbeteiligt, aber sie ist gebunden und auf solche Weise merkwürdig zu sagen - sekundär. Sekundär gerade auch für den Sinn, der in den genannten Beziehungen gestiftet wird. Ricoeur spricht darum in diesem Zusammenhang von einem „gebundenen Symbolismus", von einem „adhärenten", „anhängenden" Symbolismus - unter Verweis auf Kants Kritik der Urteilskraft § 16, wo Kant von der ,j>ulchritudo adhaerensder „anhängenden", „adhärierenden Schönheit" spricht. Dieser symbolisme Iii, symbolisme adherent ist einer der entscheidenden Begriffe im Gedankengang Ricceurs, 12 „L'element .numineux' n'est pas d'abord langage, si jamais il le devient tout ä fait. Dire .puissance', c'est dire autre chose que .parole', meme si c'est impliquer puissance de la parole. La puissance est ce qui ne passe pas dans l'articulation du sens, c'est l'Efficace par excellence" (58). 13 „Tous ces phenomenes [...] attestent I'inscription du sacre plus bas que le langage" (59).

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denn in ihm kommt die auch für unser Thema entscheidende „Dialektik von Manifestation und Proklamation" zum Ausdruck. Und eben darin liegt m.E. das entscheidende Faktum in Hinsicht auf die Dialektik von Manifestation und Proklamation. Die Symbole kommen nur in dem Maße zur Sprache [werden nur in dem Maße sprachlich], in dem die Elemente der Welt selbst transparent werden, d.h. das Transzendente erscheinen lassen.

Und Ricceur resümiert, was sich bei der Betrachtung der verschiedenenen Züge des „Heiligen" - der Dominanz der „Mächtigkeit" über den Sinn - heraus gestellt hat: Alle diese Züge bezeugen, daß in der Welt des Heiligen die Möglichkeit zur Sprache gegründet ist, in der „Fähigkeit" des Kosmos zu bedeuten. Die Logik des Sinns geht dementsprechend hervor aus der Struktur des „heiligen Universums" selber. Dessen Gesetz ist das der Entsprechungen.15

b) Im Gegenzug zu der bisher untersuchten Phänomenologie des Heiligen wendet sich Ricoeur in einem zweiten Schritt zur „Hermeneutik der Proklamation". Er zeigt, wie das Judentum und das Christentum mit dieser Welt des Heiligen, mit diesem heiligen Universum gebrochen haben. Der Manifestation des Heiligen tritt das Wort entgegen, das nicht erscheint, sondern gesprochen, verkündigt wird und alle Erscheinung des Heiligen durchbricht (cf. 64). Das Wort richtet sich gegen die Macht des Numinosen und ist stärker als es; die Hierophanien werden gegenüber dem Namen Gottes zum Idol; die Ritualisierung des Lebens wird durchbrochen und aufgehoben von der Geschichte Gottes mit seinem Volk; die Symbole, Symbolismen der Natur werden entlarvt und zuletzt und gewissermaßen alles zusammenfassend: Dem überall waltenden Spiel der Entsprechungen wird ein anderer Sinn entgegengesetzt, der nicht den Menschen einbezieht in Korrespondenzen, ihm innerhalb ihrer seinen Platz gibt, sondern ihn herausholt, herausreißt durch ein von außen an ihn gerichtetes Wort, das alle Entsprechungen sprengt. In der Predigt Jesu etwa, wie wir sie bei den Synoptikern berichtet finden, wird ein solches Durchbrechen eines vorgegebenen Sinnes laut und unüber14 „Orc'est lä, ä mon sens, le fait essentiel, pour la dialectique de la manifestation et de la proclamation. Les symboles ne viennent au langage que dans la mesure oü les elements du monde deviennent eux-memes transparents, c'est-ä-dire laissent transparaitre le transcendant" (62). 15 „Tous ces traits attestent que dans l'univers sacre la capacite de dire est fondee dans la capacite du cosmos de signifier. La logique du sens, des lors, procöde de la structure meme de l'univers sacre. Sa loi est celle des correspondances" (63).

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hörbar. Ricceur zeigt dies an den Gleichnissen, den „weisheitlichen" Sprüchen und den eschatologischen Reden Jesu. Sie alle sprengen ein bestehendes Vor-, ein bestehendes Existenzverständnis. Das Gleichnis tut dies, indem es in einer normalen, alltäglichen Situation das völlig Unerwartete, Unvernünftige, Inkommensurable zur Sprache bringt, und eben an dies Unvermutete, Uneinholbare die Verkündigung des „Reiches Gottes" knüpft. Der Hörer wird in seiner Erwartung, in seinem Verstehen, in seiner Welt grundsätzlich erschüttert - und ohne solche Erschütterung wäre die Predigt Jesu nicht diese Predigt und wäre sie nicht ihm, diesem Hörer, gesagt. Auf eine ganz andere Weise vollzieht sich eine solche Umkehrung, eine solche „Explosion des Sinnes"16 in den „Weisheitssprüchen" Jesu durch die sprachlichen „Mittel" der Hyperbel, des Paradoxes etc.: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird's erhalten" (Mk 8, 35, cf. Ricoeur, 68). Oder: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen ..." (Lk 6, 27).17 Und wiederum auf andere Weise vollzieht sich ein Sprengen des Vorverständnisses und überhaupt des Verständnisses in Jesu eschatologischer Predigt. Ricoeur verweist u.a. auf Lk 17, 20: „Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man's beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch", und erklärt, was hier passiert: Auch hier ist eine traditionelle Form sowohl gebraucht als auch ,mißbraucht': das Sprachspiel einer eschatologischen Predigt ist durchbrochen. Das ganze wörtlich verstandene zeitliche Schema, das einen Rahmen bildet für das Lesen der Zeichen, bricht zusammen. Die apokalyptische Praxis, die Zeichen zu suchen, ist ,ausgerenkt'; der Ausdruck: ,Das Reich 18 Gottes ist mitten unter euch' läßt alle klassischen Interpretationen hinter sich.

16 „Eclatement du sens" (67). 17 R. untersucht das sprachliche Geschehen, in dem diese Weisheitssprüche zu Grenzausdrücken werden, welche einen „inneren Umsturz" im Verstehen hervorrufen, ausführlich in seinem Aufsatz Biblical hermeneutics, Semeia 4 (1975), 27-148; auf deutsch: Biblische Hermeneutik, in: Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft, WDF 575, Darmstadt (WBG) 1982, 248-339, hier: 321-324. 18 „Ici encore une forme traditionelle est soumise ä l'us et ä Tabus: le jeu de langage du dit eschatologique est lui aussi porte ä son point de rupture. Tout scheme temporel littoral capable d'encadrer la lecture des signes s'effondre. La pratique apocalyptique de ,chercher les signes' est disloquie; l'expression: ,Le Royaume de Dieu est parmis vous' transcende toutes les interpretations classiques" (68f).

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In der ganzen proklamatorischen, kerygmatischen Rede in all ihren Formen und Gehalten vollzieht sich also ein prinzipieller Bruch mit dem, was Ricoeur die Logik (Ja logique du sens) des univers sacre genannt hat. Die Welt des Heiligen ist, wie wir sagten, innerlich .gebunden'; das Symbol des .Bandes' ist, fügten wir hinzu, das herausragende Symbol des Symbolismus überhaupt. Die paradoxe Welt des Gleichnisses, des Sprichwortes und der eschatologischen Predigt ist im Gegensatz dazu eine .auseinandergebrochene' Welt. [...] in all diesen Formen zerschlägt die religiöse Sprache - zumindest diese Art religiöser Sprache - den symbolischen Kreislauf, indem sie unablässig ein .Darüberhinaus' anvisiert. So steht die Logik der Grenz19 ausdrücke in polarem Gegensatz zu der der Entsprechungen im ,heiligen Universum'.

c) Man könnte sich vorstellen, daß mit dieser Gegenüberstellung, mit dieser radikalen Kritik der kerygmatischen Rede am Heiligen und seinen Erscheinungen der Konflikt ausgetragen und das Verhältnis zwischen beiden bestimmt sei. (Ricoeur hätte dann eine Phänomenologie des Heiligen in ihrem vorsprachlichen Bedeuten entwickelt; er hätte für das Judentum und Christentum gezeigt, daß sie damit Schluß gemacht, daß sie damit gebrochen, daß sie diese vorsprachliche Welt des Heiligen ein für allemal hinter sich gelassen haben.) Eben dies aber trifft nach Ricoeur nicht zu; statt sich mit der Polarität zwischen Heiligem und Offenbarung zu begnügen, interessiert er sich für ihre nicht beendete - und nie beendete - Beziehung, m.a.W. für ihre Vermittlung (cf. 72). Das Wort (die Proklamation, das Kerygma, der Name Gottes, die Thora) bekämpft und hinterfragt zwar das Heilige (die Hierophanien, die Elemente der Natur, als eigene Träger des ganzen Spiels der Verweisungen und Entsprechungen zwischen Himmel und Erde, Göttlichem und Menschlichem), - aber kann dies Wort auf das Heilige verzichten? Wäre es ohne dies? Woher hat es seine Macht, seine eigentümliche Mächtigkeit, uns etwas zu sagen, uns anzugehen, uns dies und das zu sagen? Woher nimmt das Wort diese Kraft? 20 Es nimmt sie nicht aus sich selber, sondern aus einer Dynamik, einer Erscheinung, einer Kraft und Wirkung des Heiligen, die durch dies Wort zwar 19 „L'univers du sacre, disions-nous, est intirieurement ,ΐίέ'; le Symbole du ,lieu', ajoutions-nous, est le Symbole particulier du symbolisme tout entier. L'univers paradoxal de la parabole, du proverbe et du dire eschatologique est, au contraire, un univers ,6clat£\ [...] de toutes ces manieres, le langage religieux - ou du moins cette sorte du langage religieux - met en pieces la circularite symbolique en visant toujous ,plus outre'. C'est ainsi que la logique des expressions limites s'oppose polairement ä Celles des correspondances dans l'univers sacre" (69, 70). 20 Zu den hier angesprochenen Fragen cf. vom Vf. Rite et langage vorgetragen beim Kolloquium La ritualite. Dimensions anthropologiques (Paris, 10. und 11. März 1997), abgedruckt in: Cahiers de l'IRP, Nr. 29, September 1997, 9-11.

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zutiefst in Frage gestellt und revolutioniert wird, aber umgekehrt dies Wort doch nicht aus seiner (des Heiligen) Abhängigkeit entläßt. Das Wort, hatten wir gesagt, hat sich vom Numinosen freigemacht. Das ist wahr. Aber geschah das nicht in eben dem Maß, in dem es seinerseits die Funktionen des Numinosen übernahm? Es gäbe keine Hermeneutik, wenn es keine Proklamation gäbe. Aber es gäbe keine Proklamation, wenn die Sprache nicht selber die Macht hätte, das ,neue Sein' auszuspannen, das sie verkündigt. Ein Wort, das an uns gerichtet ist, lange bevor wir es selber sprechen; ein Wort, das uns konstituiert, lange bevor wir es artikulieren - mit einem Wort: ein ,Wort, das spricht' - bestätigt es nicht ebensosehr das Heilige, wie es es aufhebt?21

d) Man kann die von Ricceur hier entwickelte Dialektik der Beziehung zwischen Sprache und Heiligem, zwischen Sprache und Nicht-Sprache, zwischen sprachlicher Äußerung, Sagen, Ansagen, Verkündigen einerseits und vorsprachlichem Bedeuten, zur Erscheinung-Kommen, Mächtigkeit des Seins, Sinn des Seins andererseits auf verschiedenen Ebenen erkennen und sich vor Augen führen. Ricoeur selber hat diese Ebenen nur angedeutet. Ich kann sie hier nur in Stichworten erwähnen. (1) Der Gegensatz zwischen Hierophanie und Thora, zwischen Idol und Name Gottes, Natur und Geschichte: Ist dieser Gegensatz ein bloßes Negieren oder nicht vielmehr im Verneinen ein Aufnehmen, Fortführen: ein Fortleben in der Sprache, ein Wirken der Zeichen! M.a.W., gäbe es Sprechen, Sagen, Bedeuten ohne diese Wirkung, die Macht des Erscheinens, die „Seinsmacht", wie Tillich es genannt hat? (2) Andererseits: gäbe es Hören und Glauben ohne solche Macht? Was macht es, daß die Worte nicht leere Worte sind, sondern Worte, die den Glauben verdienen - und die als einziges Gegenüber, als einziges Organ, das ihre Sprache, ihre Macht, ihre Wirkung, ihr Sagen versteht, den Glauben haben? Was macht dies? Ist es denkbar ohne eine Präsenz - wie immer revolutioniert der Zeichen, des Erscheinens, der Mächtigkeit im Wort? (,,La question est en effet de savoir si une foi sans signe est possible?" [74f])

21 „La parole, disions-nous d'abord, s'est affranchie du Numineux. Cela est vrai. Mais n'estce pas dans la mesure oü eile a assume pour elle-meme les fonctions du Numineux? II n'y aurait pas d'herm£neutique s'il n'y avait pas de proclamation. Mais il n'y aurait pas de proclamation si la parole n'etait elle-meme puissante, c'est-ä-dire si eile n'avait le pouvoir de deployer elle-meme l'etre nouveau qu'elle annonce. Une parole qui nous est adressee plutöt que nous ne la parlons, une parole qui nous constitue plutot que nous ne l'articulons - une .parole qui parle' - ne reaffime-t-elle pas le sacre autant qu'elle 1'abolit?" (74)

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(3) Schließlich die Fortdauer und Umwandlung archaischer Symbole in der Sprache der Proklamation, nicht zuletzt in der Verkündigung Jesu: Es ist nicht schwierig, bis in die profane Sprache des Gleichnisses eine Wiederbelebung einer primären Symbolik zu entdecken: Hirte, Vater, König usw. sind Figuren, die ausdrücklich gewählt sind nicht nur wegen ihrer vertrauten Konnotationen, sondern auch wegen der Dichte ihres Sinns in allen archaischen Kulturen. 22

Von dieser „Dichte des Sinns" lebt also auch immer die Sprache, die sich vom unmittelbaren Symbolismus frei gemacht hat, ja, die das Universum des Symbolischen sprengt auf ein ganz anderes Sagen hin. Und in der Tat: was heißt überhaupt ,Richte des Sinns", wo kommt überhaupt der Sinn her, den die Worte tragen und von dem sie getragen sind? Wie kommt es, daß Worte Sinn tragen? (4) Und zuletzt: Solcher „Dichte des Sinns" (densite du sens [75]) entspricht die Tiefendimension, die Dichte (epaisseur [76]) der existentiellen Entscheidung. In ihr spiegelt sich, in ihr ist lebendig der sprachliche Reichtum, die Bedeutungsschwere der Anrede, ohne die die Antwort nicht so bedeutungs-voll wäre. Ricoeur zeigt dies in bezug auf die Wiederaufnahme der Symbolik von Tod und Wiedergeburt, im Kerygma von der Umkehr. Die Umkehr kann in vielerlei Sprachformen ausgedrückt werden [...]. Sie hat ethische und politische Aspekte, die vollständig entfaltet werden können in der ,nicht-religiösen' Dimension, die Bonhoeffer herausgestellt hat. Aber die existentielle .Dichte' ist gegen alle Verwässerungen und Verharmlosungen, die die profane Übertragung hervorzubringen droht, nur dann geschützt, wenn zugleich der alte symbolische Grund von Tod und Auferstehung, von der Rückkehr zur mütterlichen Brust und von der neuen Geburt wiederbelebt wird. Würde denn das Wort ,Umkehr' überhaupt noch etwas bedeuten, wenn wir schlicht nichts mehr verstünden von dem, was in den Symbolen der Wiedergeburt, der neuen Schöpfung, der Ankunft eines neuen Seins und einer neuen Welt ausgedrückt ist?

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22 „II n'est pas non plus difficile de detecter, jusque dans le langage profane de la parabole, une reactivation d'un symbolisme primaire: berger, pere, roi etc. sont des Figures explicitement choisies en raison de leurs connotations famili£res; mais aussi de leur densite (fe sens dans toutes les cultures archai'ques" (75). 23 „La conversion peut [...] etre dite en plusieurs langages [... eile] a des aspects dthiques et politiques qui peuvent etre entiferement deployes dans la dimension ,a-religieuse' evoqu^e par Bonhoeffer. Mais l'epaisseur existentielle de cette decision n'est preservee contre tous les affadisements et toutes les banalisations que la transcription profane menace de produire que si, en meme temps, est reactualise le vieux fonds symbolique de la mort et de la resurrection, du retour au sein matemel et de la nouvelle naissance. Le mot conversion signifierait-il encore quelque chose si nous ne comprenions absolument plus ce qui a ete

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III. Die dialektische Spannung innerhalb des Tillichschen Offenbarungsbegriffs Es ist - nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Bayers kritischer Analyse interessant, in Ricoeurs Gegenüberstellung von „Proklamation" und „Manifestation" dieselbe Dialektik wiederzuerkennen, die bei Tillich zwischen „Durchbruch" und „Realisierung" besteht und bei ihm die „innere Spannung von Religion" zum Ausdruck bringt. Es handelt sich auch bei Ricoeur um eine Beziehung, in der jeweils der eine Pol ohne den anderen sich radikalisieren würde bis zum Selber-Leer-Werden: die durch kein Wort in Frage gestellte Erscheinung der Macht des Heiligen bis zum unmittelbaren Verehren der Elemente und Idole, bis zum Aberglauben; das von allem Heiligen, von aller Mächtigkeit losgelöste Wort bis zum Geschwätz, bis zur Leere der Wörter, der keiner mehr glaubt; der Durchbruch, der aufhört, Korrektiv zu sein bis zum Prinzip, das sich selber verfestigt und Norm, Autorität wird; die Realisierung ohne Durchbruch bis zur Institution und Hierarchie ohne Leben, ohne Frage, ohne Frömmigkeit. Dieselbe dialektische Zweipoligkeit ist nun, wenn ich recht sehe, auch in Tillichs Offenbarungsbegriff zu erkennen. Sie ist bei ihm viel weniger ausgearbeitet, viel weniger herausgehoben, aber es bestehen doch die beiden Pole eines dialektischen Verhältnisses zwischen der Offenbarung als „Sichtbarwerden des Seinsgrundes" (STh I, 114) und der ,Jetztgültige [n] Offenbarung" in Jesus dem Christus (STh I, 161ff). Immer, wenn man einem der beiden Pole nachgeht und in ihm das Ganze des Offenbarungsverständnisses Tillichs zu finden meint, muß man sich doch eingestehen, daß es dies Ganze nur ist, weil der andere Pol mitgemeint ist - nicht immer vielleicht als Spannung zum Ausdruck gebracht, aber insofern doch immer als Spannung vorhanden, als Tillich sich nie mit der einen Seite begnügt, als die andere immer mit präsent ist. Diese Nichtfestlegbarkeit Tillichs, die dem aufmerksamen und gerade kritischen Leser nicht entgehen kann, und die ihn verwirrt und manchmal zur Verzweiflung treibt, - diese Nichtfestlegbarkeit ist nicht eine Schwäche, sondern ist der Schwerpunkt und ist die eigentliche Stärke des Tillichschen Denkens. Sie ist die Bewegtheit, ja genauer die Bewegung, seiner Reflexion.24 Eben an exprime dans les symboles de la regeneration, de la creation nouvelle, de l'avönement d'un nouvel etre et d'un nouveau monde?" (76) 24 Wie ich am Anfang sagte: in aller Übersetzung ist das zu Übersetzende doch immer noch da - die Übersetzung ist nicht das fertige Werk, sondern der sich vollziehende Vorgang. Eine der beiden Seiten zu eliminieren, bedeutet darum nicht das endliche Erlangen von Entschiedenheit und Eindeutigkeit, sondern den Verlust der Spannung, um welche der Einsatz geht.

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dieser Nichtfestlegbarkeit muß sich darum der Zugang zu Tillichs Denken entscheiden: wird sie als Schwäche oder als Stärke dieses Denkens aufgefaßt und wird sie als Schwäche oder Stärke zum Leitfaden der Interpretation gemacht. Sie nicht als Movens, als ständige Unruhe des Tillichschen Denkens zu nehmen, sondern als Schwäche, Unentschiedenheit und Uneindeutigkeit, versperrt, wie ich meine, den Zugang zu diesem Denken noch vor der Erkenntnis dessen, was in ihm auf dem Spiel steht. Man könnte von Ricoeurs Gedanken her dazu geneigt sein, seine Unterscheidungen und seine Begriffe unmittelbar auf das Tillichsche Offenbarungsverständnis anzuwenden. Das ist umso verführerischer als einige (zentrale) Ricoeursche Begriffe bei Tillich sich ebenso finden: die „Macht", das „Heilige", das „Wort", das „neue Sein", die „Wiedergeburt", das „Symbol". Um aber tatsächlich die Dialektik, wie Ricoeur sie veranschaulicht hat, in dem ganz anders ausgeführten Denken Tillichs wiederzuerkennen, wäre es allzu banal und allzu statisch, einfach die jeweiligen Gegensatzpaare zu markieren. Es kommt, wie bereits angedeutet, nicht auf die beiden Pole an, sondern auf ihr Aufeinanderangewiesensein und darauf, wie dies begriffen, wie dies als theologisches Problem entfaltet wird. Dieses dialektische Aufeinanderbezogensein scheint mir bei Tillich in den Begriffen von „Grundoffenbarung" und „Heilsoffenbarung" in besonders mißverständlicher, aber auch in besonders aufschlußreicher Weise formuliert und als Aufgabe gesehen zu sein. Ich habe das Verhältnis dieser beiden Begriffe darum gewählt, um mich dem Interesse des Tillichschen Denkens anzunähern. Zugleich läßt sich der Ansatz der Bayerschen Tillich-Interpretation an diesem Verhältnis auf die Probe stellen, denn Bayer selbst hat eine Auslegung dieser beiden Begriffe und ihrer Beziehung gegeben, eine Auslegung, die in seiner Interpretation eine Schlüsselfunktion innehat.25 In welchem Verhältnis stehen also Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung zueinander? Stehen sie im Verhältnis einer puren Komplettierung, so daß die eine auf der anderen aufbauen würde: „Grundoffenbarung" als Seinsoffenbarung für jedermann, „Heilsoffenbarung" als Christusoffenbarung für den, der - um es salopp zu sagen - noch eins daraufsetzt? Oder stehen die beiden in einer lebendigeren Beziehung? Tillich kommt auf diese beiden Begriffe in seinem Vortrag Rechtfertigung und Zweifel, in dem er sich bemüht, die Botschaft von der Rechtfertigung, wie sie die Reformation erkannt hat, auf die Situation des modernen Zweiflers zu beziehen, dem alles Vertrauen nicht nur zu Gott, sondern in jedwedem Sinn abhanden gekommen ist. Das Besondere an Tillichs Ausführungen ist, daß er in bezug auf diesen Zweifler von Rechtfertigung spricht - und zwar in einem 25 Cf. Bayer, aaO. 247-252 und 267-270.

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durchaus ernst gemeinten und theologischen Sinn: als von Gnade, von Durchbruch, von Glaube. Dies alles faßt Tillich zusammen in dem Ausdruck der „Grundoffenbarung". 26 Diese „Grundoffenbarung" ist noch nicht die „Heilsoffenbarung" in Christus; die Heilsoffenbarung ist vielmehr im Verhältnis zur Grundoffenbarung noch einmal Offenbarung. Die Grundoffenbarung ist die Befreiung aus der Verzweiflung des Zweifels und der Sinnleere. Insofern ist sie der Anfang der Heilsoffenbarung. Und die Heilsoffenbarung ist Befreiung aus der Verzweiflung des Widerspruchs und der Gottferne (GW VIII, 97).

Man erkennt in der Heilsoffenbarung unmittelbar das reformatorische Verständnis der Rechtfertigung des Sünders wieder. Umso dringlicher stellt sich die Frage, in welcher Weise Tillich die reformatorische Lehre deutet, indem er „ihrem" Begriff der Heilsoffenbarung einen zweiten, anderen zur Seite stellt. Verfremdet er sie? Oder ergänzt er sie? Oder verfremdet, verwässert er sie, eben indem er sie ergänzt? (So wohl Bayer.) Mein Ansatz wäre zu zeigen, daß er sie überhaupt erst zu verstehen versucht. Um dies aufzuweisen, werde ich das Verhältnis von Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung genauer untersuchen. In welchem Verhältnis stehen die beiden bei Tillich zueinander? Meine These ist, daß bei Tillich Heilsoffenbarung und Grundoffenbarung in einer engen und für beide Seiten wesentlichen Beziehung zueinander stehen. Diese allgemeine Hauptthese läßt sich in drei „Unterthesen" entfalten: 1. Die Heilsoffenbarung bedarf der Grundoffenbarung. 2. Die Grundoffenbarung bedarf auch der Heilsoffenbarung. 3. Der wesentliche Zusammenhang beider bringt überhaupt erst zum Verständnis, was Offenbarung ist. Tillichs Text legt in der Tat zunächst ein Verständnis nahe, nach dem Grundoffenbarung und Heilsoffenbarung in einer nur äußerlichen, sekundären 26 „Die Rechtfertigung des Zweiflers ist nur möglich als Durchbruch der unbedingten Gewißheit durch die Sphäre der Ungewißheiten und Irrungen; es ist der Durchbruch der Gewißheit, daß die Wahrheit, die der Zweifler sucht, der Lebenssinn, um den der Verzweifelte ringt, nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung alles Zweifels bis zur Verzweiflung ist. Es ist das Erfassen der Wahrheit als Gericht an jeder Wahrheitserkenntnis. Es ist das Aufbrechen des Sinngrundes als unbedingter Gegenwärtigkeit und zugleich unbedingter Forderung, um ihn zu ringen, es ist die Gegenwart der lebendigen Wahrheit als unsagbarer und doch immer vom neuen zur Aussage drängenden Tiefe. [...] Der Durchbruch dieser göttlichen Grundoffenbarung, die vor allem Zweifeln und Suchen steht, bringt die Befreiung, daß sie jedes Tun der Erkenntnis in die zweite Linie rückt und die Gegenwärtigkeit Gottes vor der Gotteserkenntnis offenbart. Was hier offenbar wird, ist der Gott der Gottlosen, die Wahrheit der Wahrheitslosen, die Sinnfülle der Sinnentleerten. Das ist kein leeres Paradox, kein Gedankenkunststück, denn gerade auf das Denken als Werk ist ja verzichtet, sondern es ist der Durchbruch der Fülle und des Sinnes" (GW VIII, 91 f, cf. 99, cf. 100).

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Beziehung zueinander stehen. Die Grundoffenbarung ist eine Erfindung, die in irgendeiner Weise den modernen, vom Atheismus betroffenen, befallenen Menschen auch noch in einer Gottesbeziehung denkt. Sie hat mit der „Rechtfertigungslehre" der Reformation die entscheidende gemeinsame Basis verloren, indem sie sich vom Sündenbegriff völlig löst und indem sie überhaupt von „Grtmll i'i -II DE I ,t\ · i',1 ·. I>(I OS-ii I J m cm er. • www, di'Cruvi er • il c

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